Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin. - Ich bitte Sie, verehrte Abgeordnete, zuerst Fragen zu dem angesprochenen Themenkomplex zu
stellen.
Erster Fragesteller ist der Kollege Lothar Binding.
Frau Staatssekretärin Niehuis, Sie haben schon sehr viel hinsichtlich
der Arbeitsergebnisse der Enquete-Kommission ausgeführt. Könnten Sie ein Resümee des Internationalen Jahres der Freiwilligen geben,
({0})
vielleicht unter Zusammenfassung der für Sie wichtigsten
Ergebnisse dieses Jahres?
Herr von Klaeden, das wird in der Tat ein kurzes Resümee
werden, weil ich dazu schon vieles ausgeführt habe.
Das wichtigste Ergebnis des Internationalen Jahres der
Freiwilligen war, dass es gelungen ist, die Organisationen,
die Möglichkeiten für freiwilliges Engagement anbieten,
in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu stellen und mit
ihnen in netzwerkartigen Strukturen zusammenzuarbeiParl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
ten. Herr Kollege Binding, wenn Sie sehen, dass das
im Nationalen Beirat entstandene Netzwerk über das
Jahr 2001 hinaus wirkt, dann werden Sie sicherlich mit
mir der Meinung sein, dass wir für die Zukunft des freiwilligen sozialen Engagements einiges geleistet haben.
Frau Kollegin Maria
Eichhorn, Ihre Frage, bitte.
Frau Staatssekretärin,
die Senioren fühlen sich in dem angesprochenen Bereich
etwas vernachlässigt. Das so genannte Internationale Jahr
der Freiwilligen stand ja überwiegend unter dem Motto
„Engagement von jungen Menschen“. Das wurde medienwirksam immer wieder zelebriert, wozu gerade die
jungen Menschen gesagt haben, sie seien benutzt worden.
Die Senioren kamen jedenfalls kaum vor. Welchen Grund
gab es dafür, dass Sie die Senioren außen vor gelassen haben? Schließlich sollte man bedenken, dass die Senioren
in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen und dass gerade auch die aktiven Senioren im Mittelpunkt unserer Politik stehen sollten.
An meine Ohren ist die Klage nicht gedrungen, dass sich
die Senioren außen vor gefühlt haben. Wenn es so gewesen wäre, würde ich das sehr bedauern.
Wenn man sich die im Internationalen Jahr der Freiwilligen geleistete Arbeit hinsichtlich der Senioren genau
anschaut, dann stellt man fest, dass mein Ministerium dieses Jahr dazu genutzt hat, das Erfahrungswissen der Senioren stärker in die Gesellschaft einfließen zu lassen. Sie
wissen, dass es momentan ein Modellprojekt gibt, bei
dem es um das Erfahrungswissen älterer Menschen geht.
Insofern denke ich, dass das, was Sie vorgetragen haben,
nur ein einzelner und kein allgemeiner Eindruck ist.
Nächste Fragestellerin
ist die Kollegin Ute Kumpf.
Frau Staatssekretärin, im Internationalen Jahr der Freiwilligen wurde nicht nur gefeiert;
die Bundesregierung und die Enquete-Kommission haben
ja auch gearbeitet. Mich interessiert Folgendes: Können
Sie eine kurze Zusammenfassung der gesetzlichen Regelungen geben, die vor allem in den letzten drei Jahren - im
Unterschied zu der Zeit, als noch die CDU/CSU regiert
hat - zu einer Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements geführt haben?
({0})
- Das muss man öfter hören. Ich finde, darauf kann gar
nicht genug hingewiesen werden. Die Auflistung der einzelnen Regelungen durch die Frau Staatssekretärin war
noch nicht detailliert genug und beinhaltete nicht alles,
was wir auf den Weg gebracht haben.
Frau Kollegin Kumpf, die Opposition hat gut zugehört und
zu Recht bemerkt, dass ich darauf schon stichwortartig
eingegangen bin. Wir haben - diese Forderung gab es
schon lange - die Übungsleiterpauschale von 2 400 DM
auf 1 848 Euro aufgestockt. Wir haben außerdem den Kreis
der Anspruchsberechtigten über den klassischen Übungsleiter hinaus unter anderem auf Erzieherinnen und Erzieher sowie auf Ausbilderinnen und Ausbilder ausgeweitet.
Deswegen profitieren mittlerweile sehr viel mehr Menschen, die sich in ehrenamtlich tätigen Organisationen engagieren, von der Übungsleiterpauschale.
Wir haben aber auch darüber hinaus die gesamten Rahmenbedingungen für freiwilliges Engagement verbessert.
Es ging unter anderem um die Frage, ob diejenigen, die
als Übungsleiter im Sport tätig sind, abhängig beschäftigt
sind. Wir haben dafür gesorgt, dass sie als Selbstständige
anerkannt werden. Damit stellt sich die Frage der Sozialversicherungspflicht für diese Gruppe nicht mehr. Wir haben ferner durch Änderung einer Lohnsteuerrichtlinie im
Jahr 2002 denjenigen ehrenamtlich Tätigen, die Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen beziehen,
eine erweiterte Steuerfreistellung ermöglicht. Das war
insbesondere ein Anliegen der Feuerwehrleute und der
Katastrophenschützer. Insofern haben wir ermöglicht,
dass im Rahmen dieser Neufassung auch geregelt wurde,
dass der Steuerfreibetrag für die aus öffentlichen Kassen
gezahlten Aufwandsentschädigungen auf 154 Euro, also
300 DM, angehoben und damit der neuen Übungsleiterpauschale gleichgestellt wird. Weiter haben wir das Stiftungsrecht verändert, sodass das Stiften nicht nur für
Reiche interessant ist und überhaupt unbürokratischer ablaufen kann. Und schließlich, worauf ich als Vertreterin
unseres Hauses besonders stolz bin: Wir haben die Einsatzfelder des freiwilligen sozialen Jahres für junge Leute
erheblich ausgeweitet: vom europäischen nun auch ins
außereuropäische Ausland und vom engeren sozialen Bereich auf Kulturpflege und Jugendhilfe.
Ich glaube, dass durch diese Ausweitung der Einsatzfelder des freiwilligen sozialen Jahres für junge Leute nun
gerade auch Bereiche angesprochen werden, in denen
klassisches bürgerschaftliches Engagement gefordert
wird. Insofern besteht die Hoffnung, jungen Leuten Impulse für die Zukunft zu geben, sich über das freiwillige
soziale Jahr hinaus weiterhin zu engagieren.
Die nächste Frage
kommt von der Kollegin Ina Lenke.
Frau Staatssekretärin, was haben
Sie getan, um die rechtlichen Grundlagen für einen allgemeinen freiwilligen Dienst für Menschen in Deutschland
zu schaffen?
Ich habe sehr wohl gehört, was Sie an Einzelmaßnahmen eingeleitet haben. Diese Maßnahmen sind wirklich
nur Einzelmaßnahmen. Ein Konzept für einen allgemeinen freiwilligen Dienst, das Sie zu Beginn Ihrer Legislaturperiode versprochen haben, ist von Ihnen nicht geschaffen worden.
Ich bitte Sie, mir darauf zu antworten.
Dazu stehe ich hier, Frau Lenke.
Das, was ich zum freiwilligen sozialen und zum freiwilligen ökologischen Jahr gerade erwähnt habe, ist ein
kleiner Baustein - das gebe ich Ihnen zu - zu einem umfassenden Freiwilligengesetz. Wir haben immer gesagt:
Wir warten ab, was die Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement“, die der Bundestag 1999 eingesetzt hat, zu diesem Thema hervorbringt. Ich meine, es
wird eine Aufgabe der nächsten Legislaturperiode sein,
die Anregungen und Empfehlungen der Enquete-Kommission hinsichtlich von Möglichkeiten eines Freiwilligengesetzes aufzugreifen. Es ist keine einfache Aufgabe,
ein Freiwilligengesetz in dieser Republik zu machen.
Sie haben so locker gesagt, das seien alles kleine Einzelmaßnahmen, die ich angeführt habe. Ich erinnere daran,
dass es nur durch das Job-AQTIV-Gesetz möglich wurde,
dass Arbeitslose wirklich ordentlich ehrenamtliche Arbeit
leisten können. Bevor es dieses Gesetz gab, wurde diese
Tätigkeit auf 15 Wochenstunden beschränkt, weil darüber
hinaus der Anspruch auf Arbeitslosengeld verloren ging.
Insofern meine ich: Wenn Sie die Addition dieser vielen
Maßnahmen betrachten, stellen Sie fest, dass die Rahmenbedingungen für die freiwilligen bürgerschaftlichen Tätigkeiten in dieser Gesellschaft erheblich verbessert wurden.
Noch eine kurze
Nachfrage von Frau Lenke.
Dieser Meinung, Frau Staatssekretärin, bin ich nicht.
Ich habe aber noch eine Frage. Sie haben als Pluspunkt
genannt, dass der freiwillige soziale Dienst auf das außereuropäische Ausland erweitert wurde. Sie kennen genauso wie ich die Ergebnisse der entsprechenden Anhörung.
Die Einrichtungen halten dies für zu teuer; es wird kaum
ein neuer Platz für freiwillige Dienste im außereuropäischen Ausland geschaffen. Was haben Sie in dieser Angelegenheit bis heute unternommen?
Sie wollen jetzt schon die Zukunft beurteilen. Dieses Gesetz ist am 1. Juni dieses Jahres in Kraft getreten. Nun
warten wir doch einmal ab! Sie können nicht die Befürchtungen einzelner Organisationen, dass eventuell
keine zusätzlichen Plätze geschaffen werden, bereits als
gegeben annehmen. In einem Jahr können wir nachsehen,
was sich daraus ergeben hat.
({0})
- Auch das meinetwegen.
Jetzt ist der Kollege
Peter Dreßen mit seiner Frage an der Reihe.
Frau Staatssekretärin, es wird bei
der Debatte um das bürgerschaftliche Engagement oft auch
gefordert, dass man finanzielle Förderungen einbauen
sollte. Welche Bedeutung messen Sie dieser Forderung zu?
Was hat die Bundesregierung dazu gegebenenfalls getan?
Und wie kann man zusätzliche Partner für die Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements finden? Ich denke hierbei
an die Wirtschaft, an Unternehmen, Kommunen usw.
Grundsätzlich muss man wohl sagen, dass finanzielle Anreize nicht unbedingt zu mehr freiwilligem Engagement in
einer Gesellschaft führen. Das hat auch unser Freiwilligensurvey ergeben. Auf der anderen Seite muss Aufwand, der
entsteht, wenn man sich freiwillig engagiert, natürlich steuerlich abgesetzt werden können. Dazu haben wir die richtigen Schritte schon eingeleitet. Ich weiß, dass die EnqueteKommission noch weiter gehende Vorschläge gemacht hat.
Man wird prüfen müssen, ob das der richtige Weg ist.
Darüber hinaus haben Sie gefragt, wie man Partner
finden kann. Das Bild vom aktivierenden Staat bedeutet ja
gerade, dass nicht der Staat allein für das freiwillige Engagement in der Gesellschaft zuständig ist, sondern dass
das immer eine Dreifach- oder Mehrfachbeziehung ist:
Staat, Gesellschaft, Wirtschaft usw. Das war ein großes
Thema im Internationalen Jahr der Freiwilligen.
Was Unternehmen anbetrifft, so lohnt es sich, hin und
wieder über die Grenzen zu schauen, weil es durchaus
hervorragende Beispiele von Unternehmen gibt, die sich
im Gemeinwesen engagieren. „Corporate Citizenship“ ist
das Stichwort. Das bedeutet mehrererlei: Unternehmen
ermöglichen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
sich zu engagieren, und sehen das auch als positiv für das
Image des Unternehmens. Aber auch das Unternehmen
selbst sieht sich als Teil des Gemeinwesens. Wenn man in
die Dörfer guckt, stellt man fest, dass sich der kleine
Handwerksmeister durchaus als Teil des Dorfes, des Gemeinwesens fühlt; er wird Sportvereinsvorsitzender oder
was auch immer.
({0})
Da lässt sich in dem Bereich der Großunternehmen in der
Bundesrepublik Deutschland durchaus noch etwas verbessern. Das wird auch noch die Aufgabe der Zukunft sein.
Danke schön.
Herr Kollege Dehnel,
ihre Frage, bitte.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich die Tatsache, dass gerade Ende
des vergangenen Jahres - das war das Internationale Jahr
der Freiwilligen - und Anfang dieses Jahres besonders
viele Schreiben in unseren Wahlkreisbüros eingegangen
sind, in denen sich Vereine und Verbände über die verschlechterten Rahmenbedingungen beklagen, wenn es um
diese Dienste geht? Das war nicht nur in den Wahlkreisbüros der Opposition so, sondern - das weiß ich - auch in
denen der Regierungskoalition. Wie erklären Sie sich
also, dass in diesen Briefen verschlechterte Rahmenbedingungen beklagt werden?
Herr Dehnel, das ist eine sehr allgemeine Frage. Ich habe
mir doch Mühe gegeben, Ihnen darzustellen, dass wir die
Rahmenbedingungen an vielen Stellen verbessert haben,
und zwar auch für die Vereine. Es hat steuerliche Verbesserungen gegeben. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie mir einmal so ein Schreiben geben. Ich gucke dann, was da zur
Klage geführt hat.
({0})
Nachfrage, bitte, Herr
Kollege.
Ich habe eine solche
Anfrage schon einmal an die Frau Kollegin Mascher gestellt. Sie hat auch gesagt, es gebe eigentlich keinen Anlass dafür.
Das ist ja gut.
Ich möchte deshalb
nachfragen: Meinen Sie nicht auch, dass zum Beispiel die
kommunalen Finanzen eine große Rolle spielen? Die haben sich in Ihrer Regierungszeit arg verschlechtert. Das
gilt auch für die Finanzen der mittelständischen Betriebe,
wobei gerade diese Betriebe die Freiwilligendienste sowie Vereine und Verbände stark unterstützen.
({0})
Jetzt machen Sie aber einen großen Bogen, um wieder
zum Thema des freiwilligen Engagements zu kommen.
({0})
- Aber Sie müssen mir trotzdem noch irgendwelche
Brücken bauen, damit ich eine Verbindung herstellen kann
zu Ihrer Unterstellung, die kommunalen Finanzen hätten
sich gerade während unserer Regierungszeit erheblich verschlechtert. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass
diese Klage bis 1998 sehr stark geführt wurde. Was die Situation der mittelständischen Unternehmen anbetrifft, so
sind wir völlig unterschiedlicher Meinung. Ich denke da
nur an die Steuerreform. Herr Dehnel, lassen Sie uns an dieser Stelle jetzt keine wirtschaftspolitische Debatte führen.
({1})
Jetzt ist die Kollegin Ilse
Aigner an der Reihe.
Frau Staatssekretärin, ich
will etwas konkreter werden. Es geht um die Auswirkungen des 630-DM-Gesetzes bzw. 325-Euro-Gesetzes auf
das Ehrenamt; in der Enquete-Kommission durften wir
darüber ja nicht diskutieren.
Ich beziehe mich jetzt nicht auf diejenigen, die die
Übungsleiterpauschale oder sogar noch etwas darüber hinaus bekommen, sondern ich beziehe mich auf den
Schatzmeister eines Vereins, der vielleicht 80 Übungsleiter betreut, die solche Zahlungen bekommen, und der
dann Kleinstbeträge an die Rentenversicherung und an
die Krankenversicherung abrechnen muss. Ich beziehe
mich auf ein Mütterzentrum, das Mütter vielleicht auch
nebenberuflich im Rahmen von 630-DM- respektive 325Euro-Verträgen beschäftigt, das einen Riesenbürokratieaufwand hat und keine Mark dafür bekommt; man ist ja
ehrenamtlich tätig. Sind Sie also der Ansicht, dass das
325-Euro-Gesetz ein Positivum war zugunsten des bürgerschaftlichen Engagements, zugunsten des Ehrenamtes,
oder meinen Sie nicht auch, dass das Gesetz sehr viel zerbrochen hat? Sind die Maßnahmen, die Sie im Bereich der
Feuerwehren, im Bereich der Erhöhung der Übungsleiterpauschalen durchgeführt haben, nicht sogar eine Reaktion
darauf gewesen, dass Sie festgestellt haben, dass das ein
Schritt in die falsche Richtung war?
Ich glaube, das sind zunächst einmal zwei Paar Schuhe.
Das eine Paar ist der Arbeitsmarkt; das sind die
Arbeitsverhältnisse geringfügig Beschäftigter, die Sie angesprochen haben. Da war es uns immer ganz wichtig,
dass auch diese sozialversicherungspflichtig sein können.
Das ist die gesetzliche Änderung. Ich denke, wir haben
durch diese Änderung auch sehr viele neue Arbeitsplätze
geschaffen, neue Jobs geschaffen. Das heißt, 3 Millionen
geringfügig Beschäftigte, die wir haben, sind jetzt auch
sozialversicherungspflichtig. Das wird sich für die nachher positiv auswirken, wenn Sie am Ende des Arbeitslebens die Rentenlaufbahn dieser Personengruppe betrachten. Das ist das eine, nämlich die geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse.
Bei dem anderen, was Sie gesagt haben, nämlich der Anhebung der Steuerfreistellung für Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen auf 154 Euro, geht es auch um
eine Reaktion auf die Ehrenamtlichen im Bereich der Feuerwehr. Nun muss ich Ihnen allerdings sagen, man kann
diese Entlastung finanziell auch nicht bis in jede Höhe treiben, sondern man muss schon weiterhin die Unterscheidung pflegen, ob das eine Aufwandsentschädigung für ein
Ehrenamt ist - und das kann man sich immer nur bis zu einer bestimmten Höhe vorstellen - oder ob das nicht langsam schon ein Einkommen für eine Nebentätigkeit wird.
Da unterscheiden wir uns vielleicht in der Einschätzung.
Auch hierzu gibt es
eine kurze Nachfrage.
Ich glaube, ich habe meine
Frage deutlich gestellt, aber frage Sie trotzdem noch einmal. Es geht mir nicht um diejenigen, die dies bekommen,
sondern es geht mir um den ehrenamtlich tätigen Schatzmeister eines Sportvereins, der vielleicht eine Vielzahl
von Übungsleitern abzurechnen hat, die über der Pauschale liegen. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel nicht aus Bayern, damit das nicht falsch verstanden wird,
sondern von einem Verband in Norddeutschland, in
Es ist gut, dass Sie darauf hinweisen.
Ich sage das, damit das einmal konkret wird. Denn die haben uns geschildert, dass
sie 80 Übungsleiter haben, die zum Teil auch schon nach
der alten Regelung steuerpflichtig gewesen sind, und dass
sie es damals mit einem Finanzamt und mit einer Krankenversicherung zu tun gehabt haben. Nach der neuen
Regelung waren es vier Finanzämter, 14 Krankenversicherungen und vier Rentenversicherungsträger, und es
waren Kleinstbeträge von 2,30 DM, von 5,30 DM abzurechnen und abzuführen.
Jetzt geht es mir nicht um diejenigen, die dies bekommen, sondern es geht mir um den ehrenamtlich tätigen
Schatzmeister, der diesen Verwaltungsbürokratismus zu
bewältigen hat. Nur darum geht es mir.
Das waren dann aber geringfügige Beschäftigungsverhältnisse; in dieser Kategorie waren die.
Ja, ja.
Meinen Sie, dass es für diesen ehrenamtlich Tätigen
sehr erfreulich war, diese Mehraufwendungen zu bewerkstelligen?
Nein, das glaube ich nicht.
Meinen Sie, dass er das
künftig auch weiterhin tun wird?
Nun, wir sind hier schon wieder genau in der Ecke, in der
man fragen muss: Was ist ehrenamtliche Tätigkeit? Was
sind geringfügige Beschäftigungsverhältnisse? Wir drehen uns hier im Moment im Kreis.
Ich sage Ihnen: Am Anfang, als das neue Gesetz für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse kam, gab es in der
Tat einen bürokratischen Aufwand.
Nach meiner Erfahrung glaube ich, dass sich das mittlerweile so eingespielt hat, dass die Leute nun auch wissen,
wie es geht.
({0})
Es läuft also besser.
({1})
Nächste Fragestellerin
ist die Kollegin Monika Balt.
Frau Staatssekretärin, ich habe
zwei Fragen. Zum einen: Gibt es in Ihrem Ministerium
Überlegungen, Pflichtdienste schrittweise abzuschaffen
und Freiwilligendienste noch intensiver als bisher zu fördern? Gibt es dazu in Ihrem Ministerium Überlegungen?
Zum anderen: Mir ist bekannt, dass die Ministerin für
Soziales und Generationen in Österreich jedes Jahr einen
Preis für Freiwilligenarbeit und Ehrenamt auslobt. Dieser
Preis heißt „Freiwilligen-Oscar“. Könnten Sie sich so etwas oder Gleiches für die Bundesrepublik vorstellen?
Ihre erste Frage habe ich nicht richtig verstanden, weil unser Ministerium keine Pflichtdienste hat. Insofern können
wir Pflichtdienste auch nicht abschaffen. Wenn Sie das
Zivildienstgesetz ansprechen, so ist in dem Gesetz der
Pflichtdienst bei der Wehrpflicht angesiedelt und der Zivildienst eine Folge der Wehrpflicht. Sie wissen, dass die
Frage, ob der Zivildienst weiter bestehen bleibt oder
nicht, von der Wehrpflicht abhängt und insofern keine
Frage ist, die originär unser Haus betrifft.
Darüber hinaus - das haben Sie ja als Mitglied des
Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend sicherlich intensiv verfolgt - ist das Änderungsgesetz zum freiwilligen sozialen und zum freiwilligen
ökologischen Jahr schon darauf angelegt, dass diejenigen,
die einen Pflichtdienst ableisten müssen, sich stattdessen
für ein freiwilliges soziales oder ein freiwilliges ökologisches Jahr melden und sich dieses dann statt eines abzuleistenden Zivildienstes anerkennen lassen können.
Zur zweiten Frage bezüglich des Oscars: Wir haben an
vielen Stellen kleinere Preise; zum Beispiel der HeinzWestphal-Preis beim Bundesjugendring ist ein Preis für
ehrenamtliche Tätigkeit in der Jugendarbeit. Wir haben
keinen allgemeinen Oscar wie in Österreich. Ich halte
aber sehr viel vom Ausloben von Preisen. Das machen wir
ja schon. Insofern halte ich es durchaus für überlegenswert, ob das ein Instrument sein könnte, um Engagement
in dieser Gesellschaft zu befördern. Konkrete Überlegungen gibt es dazu aber noch nicht.
Ich nehme jetzt erst
einmal die Kolleginnen und Kollegen dran, die noch keine
Fragemöglichkeit hatten.
Der nächste Fragesteller ist der Kollege Michael
Bürsch.
Frau Staatssekretärin,
zum Fragenkomplex von Frau Aigner.
Erstens. Stimmen Sie mir zu, dass die Enquete-Kommission ausdrücklich eine Definition des bürgerschaftlichen Engagements zugrunde gelegt hat, die es folgendermaßen charakterisiert: freiwillig, gemeinwohlorientiert
und unentgeltlich? Unter unentgeltlich versteht man bekanntlich etwas anderes als 630-Mark-Jobs oder andere geringfügige Beschäftigungen. Insofern gab es wahrscheinlich gute Gründe dafür, dass von der Kommission
zum Komplex der 630-Mark-Jobs nichts gesagt worden
ist. Selbstverständlich hatte natürlich jedes Mitglied der
Kommission während der zwei Jahre die Möglichkeit,
diese Frage zur Diskussion zu stellen.
Zweitens. Stimmen Sie mir zu, dass eine bürokratische
Entlastung bei den 630-Mark-Jobs überaus wünschenswert wäre? Darüber muss man reden. Dabei handelt es
sich aber um eine andere Baustelle.
Drittens. Stimmen Sie mir zu, dass die Mitglieder der
Enquete-Kommission - einschließlich der unionsnahen immerhin eine kleine Tür geöffnet haben, indem sie empfohlen haben, Aufwandsentschädigungen in Höhe von
300 Euro pro Jahr vorzusehen, die steuer- und sozialabgabenfrei zu stellen sind? Genau dadurch kann man solche Fälle, wie sie Frau Aigner vorhin geschildert hat, in
Zukunft vermeiden.
Können Sie diesen Feststellungen ausdrücklich zustimmen und insofern die Frage von Frau Aigner doppelt
und dreifach beantworten?
Herr Kollege, ich stimme Ihnen gerne zu. Ich möchte
diese Gelegenheit aber nutzen, hier zu unterscheiden.
Auch Sie haben ja gefordert, dass man unterscheiden
muss, auf welcher „Baustelle“ etwas stattfindet.
Bei der gesamten Diskussion über bürgerschaftliches
Engagement müssen wir immer im Auge behalten, dass es
sich hierbei nicht sozusagen um eine Spardose in Bezug
auf Tätigkeiten handelt, die auch ansonsten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wahrgenommen werden
könnten. Das wesentliche Element beim bürgerschaftlichen Engagement ist, dass soziales Verhalten in der Demokratie gefördert wird und ein Diskurs über unsere Demokratie stattfindet. Insofern stimme ich Ihnen zu. Wenn
die Enquete-Kommission das genau so gesagt hat, stimme
ich in dem Fall auch deren Empfehlungen zu.
Jetzt ist die Kollegin
Ute Kumpf dran.
Noch einmal abschließend zum
Stichwort Nachhaltigkeit, insbesondere was die Förderung
von Strukturen und Leitbildern anbelangt, die vonseiten
der Ministerien entwickelt werden sollen. Wie sieht es da
aus und was sind Ihre wichtigsten Beiträge, die sich auf die
Zukunft richten? Wir hatten ja das Jahr der Freiwilligen
und die Enquete-Kommission. Wie sehen Ihre Vorschläge
und Vorstellungen aus und was wird jetzt vonseiten des
Ministeriums getan, um die Strukturen dieses Netzwerks,
das ja schon gearbeitet hat, zu erhalten und auch die Vorschläge der Enquete-Kommission, etwa eine Kommission
ähnlich der Kinderkommission einzurichten, umzusetzen?
Frau Kollegin Kumpf, erst einmal ist es, wie ich glaube,
ganz wichtig, noch einmal festzustellen, dass nicht der
Staat im Zusammenhang mit freiwilligem Engagement
der Hauptakteur sein kann. Vor diesem Hintergrund haben
wir die Anregungen des Nationalen Beirats gerne aufgenommen. Anders als es bei anderen Internationalen Jahren der Fall war - insbesondere unter der Vorgängerregierung, als wir ein schönes Internationales Jahr hatten und
es einen Bericht gab, dann aber das Thema erledigt war -,
wollten wir in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Beirat diesmal sicherstellen, dass das Positive weiterlebt.
Dafür steht die heutige Gründungsversammlung eines
Netzwerkes bundesweiter Träger von Freiwilligenorganisationen, von Verbänden, von Wohlfahrtsverbänden, die
genau diese Arbeit aufnehmen.
Nun habe ich gesagt, es sei nicht Aufgabe des Staates,
das zu entwickeln. Aber für Rahmenbedingungen zu sorgen ist schon Aufgabe des Staates. Insofern wird unser
Haus dieses Netzwerk mit einem Koordinierungsbüro,
das über uns finanziert wird, begleiten, damit es die bundesweite Aufgabe, die ein Netzwerk auf Bundesebene hat,
verwirklichen kann.
Die Enquete-Kommission hat einen Strauß von Empfehlungen vorgelegt. Wir haben gerne und intensiv mit der
Enquete-Kommission zusammengearbeitet. Nun wird es
Aufgabe sein, die vielen Empfehlungen, zu denen die
300-Euro-Aufwandsentschädigung gehört, aber auch die
Frage, ob man im freiwilligen Engagement nicht für eine
Haftpflicht- und Unfallversicherung sorgen muss, einzeln
durchzugehen. Wir fühlen uns als Ministerium durchaus
zuständig, weiterhin begleitend tätig zu sein, wenn es darum geht, die eine oder andere Empfehlung der EnqueteKommission umzusetzen. Aber wer den Umfang des Buches kennt, wird sich vorstellen können, dass nicht alles
sofort umgesetzt werden kann.
({0})
Kollegin Lenke, Ihre
Frage, bitte, wenn es geht, kurz, weil für die Befragung
nicht mehr viel Zeit ist.
Frau Staatssekretärin, die tragende
Säule von freiwilligen Tätigkeiten sind die deutschen Vereine.
({0})
Wenn ein deutscher Verein recht groß ist - das kann in einem kleinen Ort sein -, dann braucht er für seine Verwaltung auch Freiwillige, die er nicht normal bezahlt; denn
dann wären das 630-Mark-Arbeitskräfte. Wenn ein Kollege hier in diesem Zusammenhang von 300 Euro im Jahr
spricht,
({1})
dann kann ich nur lachen. Das geht bei diesen Vereinen
nicht, weil so viel Verwaltungsarbeit zu erledigen ist, dass
der Aufwand erheblich ist.
({2})
Der Verwaltungsbedarf konnte nach dem alten 630-MarkGesetz einmal im Jahr mit einer Lohnsteuererklärung erledigt werden. Jetzt muss jeden Monat eine U-1- und eine
U-2-Umlage und eine Meldung an die Krankenkassen erfolgen. Das kann auch nicht mit 300 Euro im Jahr bzw.
25 Euro monatlich abgegolten werden.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Was ich mit einer
Haushaltshilfe erlebt habe und was Vereine dann erleben,
ist eine Katastrophe. Darum geht es. Es geht nicht um eine
billige Arbeitskraft, sondern darum, dass die Freiwilligkeit in den Vereinen unterstützt wird. Aber auf diese Weise
entsteht mehr Bürokratie und mehr Aufwand und dann hat
fast niemand mehr Lust.
({3})
Ich stelle fest, das war keine Frage, sondern ein Beitrag.
Ich bin anderer Meinung.
Die letzte Frage
kommt vom Kollegen Lothar Binding. - Bitte.
Ich soll es kurz
machen; das will ich tun. Zivilgesellschaft bedeutet Eigenverantwortung, Eigenverantwortung bedeutet mehr
Teilnahmemöglichkeiten. Welche konkreten Schritte wurden zur stärkeren Partizipation und Teilnahme von Organisationen und Menschen, die sich bürgerschaftlich engagieren, unternommen?
Das ist ein großer Strauß, Herr Kollege Binding. Ich
glaube, dass die Arbeitsgruppen - ich habe die sieben Arbeitsgruppen des Nationalen Beirats mit ihren Themen
hier nur kurz erwähnt; sie haben nicht nur Broschüren,
Empfehlungen usw. herausgebracht, sondern auch ihr
Know-how einfließen lassen - dazu beigetragen haben,
dass überall in der Republik gute Veranstaltungen stattgefunden haben. Ich zum Beispiel habe in Bonn bei der
Veranstaltung Corporate Citizenship mitgewirkt. Von daher weiß ich, dass sich nicht nur die Unternehmen engagieren, die das schon immer getan haben. Dort waren
im Publikum auch Unternehmen, die sich eventuell beteiligen würden oder sich dafür interessieren.
Ich glaube, dass mit dem Netzwerk viele Erfahrungen
in die Organisationen hineingetragen werden. Ich wünsche es mir, weil unsere Zivilgesellschaft bürgerschaftliches Engagement hervorragend gebrauchen kann.
Weitere Fragen an die
Bundesregierung liegen nicht vor. Ich bedanke mich, Frau
Parlamentarische Staatssekretärin.
Die Regierungsbefragung ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksache 14/9188 Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Hans Martin Bury zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Jürgen Koppelin auf:
Trifft es zu, dass der Bundeskanzler Gerhard Schröder am
13. Mai 2002 auf einer Funktionärskonferenz der SPD sagte: „Wir
werden es nicht zulassen, dass dieses Europa Leuten wie
Berlusconi, Haider, Le Pen oder sonst wem in die Hände fällt.“
({0})?
Herr Kollege Koppelin, Ihre Frage bezieht sich auf
eine interne Funktionärskonferenz der SPD. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
Bundeskanzler Gerhard Schröder, hat dort vor rechtspopulistischen und nationalistischen Strömungen in einigen
europäischen Ländern gewarnt und deutlich gemacht, dass
die Sozialdemokratie in guter Tradition und Verantwortung für unser Land solchen Bestrebungen entgegentritt.
Herr Kollege Koppelin
zu einer ersten Nachfrage, bitte.
Ich stelle erst einmal fest,
Herr Staatsminister, dass Sie meine Frage überhaupt nicht
beantwortet haben. Ich habe konkret gefragt, ob der Bundeskanzler dieses gesagt hat, und Sie haben sich hier in
Allgemeinplätze hineingesteigert. Lesen Sie bitte noch
einmal meine Frage! Ich habe konkret gefragt, ob der
Bundeskanzler einen bestimmten Satz gesagt hat, der
übrigens - vielleicht können Sie das auch bestätigen - sogar im Internet bei der SPD abrufbar war. Ist es auch
richtig, dass der Bundeskanzler für den Satz, den ich in
meiner Frage zitiert habe, auf dieser Funktionärsversammlung sehr viel Beifall bekommen hat?
Herr Kollege Koppelin, um Ihre Frage zu beantworten: Der Bundeskanzler stellt den italienischen Ministerpräsidenten nicht auf eine Stufe mit Herrn Haider oder
Herrn Le Pen. Bei der in Ihrer Frage nach Presseberichten
zitierten Aussage handelt es sich nicht um ein vom Bundeskanzler autorisiertes Zitat.
Herr Kollege Koppelin,
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Da Sie wieder ausweichen,
Herr Staatsminister, frage ich Sie noch einmal: Hat der Bundeskanzler diesen Satz auf der Funktionärskonferenz gesagt
und war dieser Satz im Internet bei der SPD abrufbar?
Herr Kollege Koppelin, ich habe bereits in meiner ersten Antwort darauf hingewiesen, dass sich Ihre Frage
auf eine nicht öffentliche Konferenz der SPD bezieht. Ich
darf in diesem Zusammenhang an die Fragestunde vom
24. April 2002 und die Erörterung im Ältestenrat am
25. April 2002 erinnern, wonach parteiinterne Vorgänge
grundsätzlich nicht Gegenstand der Befragung der Bundesregierung bzw. der Bewertung durch die Bundesregierung sind.
Da einzelne Veröffentlichungen ohne den erforderlichen Kontext ein unzutreffendes Bild ergeben könnten,
fragen Sie jedoch zu Recht nach. Ich betone nochmals,
dass der Bundeskanzler den italienischen Ministerpräsidenten nicht auf eine Stufe mit Herrn Haider oder Herrn Le
Pen stellt. Sehr wohl hat der Bundeskanzler jedoch heute
in der Sitzung des Bundeskabinetts darauf hingewiesen,
dass die aus Ihren Reihen ausgelöste Debatte offenkundig
bestimmte europäische Entwicklungen kopieren wolle.
Frage 2 des Kollegen
Koppelin wird schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht die Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie SonntagWolgast zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Ursula Lietz auf:
Wie funktioniert die Briefwahl für Soldaten, die sich zum Zeitpunkt der Bundestagswahl am 22. September 2002 oder auch zum
Zeitpunkt einer Landtagswahl im Auslandseinsatz befinden?
Frau Kollegin Lietz,
die Antwort lautet: Im Rahmen besonderer Auslandseinsätze in das Ausland kommandierte oder abgeordnete
Angehörige der Bundeswehr sind während ihres Einsatzes noch für eine Wohnung in der Bundesrepublik
Deutschland gemeldet und werden deswegen bei Bundestagswahlen und grundsätzlich auch bei Landtagswahlen nach den in die Zuständigkeit der Länder fallenden
landesrechtlichen Regelungen von Amts wegen in ein
Wählerverzeichnis ihrer Wohngemeinde eingetragen. Bei
Bundestagswahlen erhalten sie von dort spätestens am
21. Tag vor der Wahl eine Wahlbenachrichtigung. Wenn
der Auslandseinsatz vor diesem Zeitpunkt eingetreten ist
oder anzutreten ist, kann der Antrag auf Ausstellung eines
Wahlscheins und Zusendung von Briefwahlunterlagen
entsprechend früher gestellt werden.
Grundsätzlich werden die Wahlunterlagen durch die
zuständigen Gemeinden direkt in das Einsatzland übersandt. Durch organisatorische Maßnahmen der Einheiten
und Dienststellen kann jedoch auch sichergestellt werden,
dass sie jeweils zunächst an die Einheit oder Dienststelle
in Deutschland und von dort auf dem Feldpostwege gesammelt in das Einsatzland geschickt werden.
Das Bundesministerium der Verteidigung hat durch
Erlass vom 9. April dieses Jahres zur Durchführung der
Wahl zum 15. Deutschen Bundestag veranlasst, dass alle
Einheitsführer und Dienststellenleiter aufgefordert werden, ihre Soldaten über die Möglichkeit der Briefwahl zu
unterrichten und durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass die Soldaten ihr Wahlrecht ausüben können.
Wahlberechtigte Soldaten, die auf Anordnung des
Dienstherrn außerhalb der Bundesrepublik Deutschland leben und deshalb in der Bundesrepublik Deutschland keinen
Wohnsitz gemeldet haben, sowie Angehörige ihres Hausstandes können ihr Wahlrecht ebenfalls durch Briefwahl
ausüben. Diese Wahlberechtigten werden auf Antrag in ein
Wählerverzeichnis der Bundesstadt Bonn eingetragen und
erhalten die Briefwahlunterlagen von dort übersandt. Das
Bundesministerium der Verteidigung hat den entsprechenden Erlass vom 19. April 2002 zur Wahl des 15. Deutschen
Bundestages mit den notwendigen Erläuterungen zur
Durchführung der Briefwahl an alle Auslandsdienststellen
versandt. Die Teilnahme an Landtagswahlen setzt nach den
in die Zuständigkeit der Länder fallenden landesrechtlichen
Regelungen grundsätzlich einen Wohnsitz im jeweiligen
Bundesland voraus. - So weit die Antwort zu dieser Frage.
Jetzt gibt es die erste
Nachfrage. Bitte, Frau Kollegin Lietz.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Meine erste Frage lautet: Ist Ihnen bekannt,
wie lange Post im Rahmen der Feldpost nach Afghanistan
unterwegs ist, bzw. können Sie abschätzen, wie lange die
Versendung von Briefwahlunterlagen vom Eintreffen an
der Wohnortadresse bis zum Einsatzort und zurück dauert?
Das lässt sich nicht
exakt einschätzen. Aber es besteht natürlich das Risiko,
dass ein Transport nicht pünktlich ankommt. Es ist dafür
Vorsorge getragen, dass der Antrag zur Ausübung der
Briefwahl, der im Rahmen der Wahlbenachrichtigung, die
diesem Personenkreis eventuell zu spät zugestellt wird,
gestellt werden kann, nicht abgewartet wird. Dieser Fall
der Verzögerung wird mit einbezogen.
Zweite Nachfrage.
Vor meiner zweiten Nachfrage noch etwas zur Information: Ich habe gehört, dass
die Feldpost nach Afghanistan auf einer Strecke bis zu
drei Wochen benötigt. Insofern sollte man darauf wirklich
Rücksicht nehmen.
Ich finde es gut, dass
wir dieses Thema ansprechen. Wir alle wollen ja, dass
möglichst viele von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen
können.
Meine zweite Nachfrage
lautet: Haben Sie sich darüber informiert, wie das Wahlverfahren bei den Armeen, die traditionell in anderen Ländern
stationiert sind, zum Beispiel bei den Armeen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, gehandhabt wird?
Ich schlage vor, dass
wir diesen Punkt, der nicht Gegenstand der gestellten
Frage war, in einer nächsten Fragestunde noch einmal
aufgreifen. Ich biete Ihnen auch an, Ihnen diese Frage,
wenn Sie es wünschen, schriftlich zu beantworten.
Wir haben aber noch
die Frage 4. Hatten Sie die schon mit beantwortet?
Nein, die hatte ich
noch nicht beantwortet. Das kommt extra.
Wir bleiben aber bei
dem gleichen Thema. Deshalb habe ich nachgefragt.
Dann rufe ich jetzt die Frage 4 der Abgeordneten Lietz
auf:
Wie hoch war die Wahlbeteiligung von Soldaten bei der Bundestagswahl am 28. September 1998 oder auch bei diversen Landtagswahlen, die sich zum Zeitpunkt der Wahl im Auslandseinsatz
befanden?
Über die Höhe der
Beteiligung von Soldaten, die sich in besonderen Auslandseinsätzen befinden, bei der Wahl zum 14. Deutschen
Bundestag, also im September 1998, oder auch bei Landtagswahlen liegen dem Bundesministerium der Verteidigung keine Erkenntnisse vor.
Einen Anhaltspunkt will ich Ihnen aber nennen: Von
den circa 5 000 Beamten, Soldaten, Angestellten und Arbeitern der Bundeswehr und ihren circa 3 000 volljährigen
Angehörigen mit Wohnsitz im Ausland wurden für die
Wahl zum 14. Deutschen Bundestag 4 001 Anträge zur
Aufnahme in ein Wählerverzeichnis und zur Teilnahme
durch Briefwahl fristgerecht gestellt. Geht man davon
aus, dass diese Personen dann auch tatsächlich von ihrem
Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, dann lag die Wahlbeteiligung bei circa 50 Prozent.
Nächste Nachfrage,
bitte.
Frau Staatssekretärin, hat
die Bundesregierung Möglichkeiten der Gestaltung des
Wahlverfahrens in Betracht gezogen, um eine möglichst
hohe Wahlbeteiligung zu erzielen. - Frau Präsidentin,
vielleicht darf ich meine zweite Nachfrage gleich anschließen? - Haben Sie in Erwägung gezogen, Wahlhelfer in die Einsatzgebiete zu schicken, um die Briefwahlunterlagen dort einzusammeln? Denn fast täglich gehen ja
Transportflugzeuge zwischen den Einsatzgebieten und
Deutschland hin und her. Insofern gäbe es die Möglichkeit, derartiges Personal mitzuschicken.
Solche Überlegungen sollte es erst dann geben, wenn zunehmend Klagen
darüber auftauchen, dass das Ausüben des Wahlrechts
nicht klappt. Bisher liegen unserem Ministerium wenig
bzw. gar keine Klagen darüber vor. Wenn solche kämen,
dann würden sie wohl am ehesten bei unserer zuständigen
Abteilung eingehen, vielleicht auch beim Bundesministerium der Verteidigung. Ich habe mich erkundigt: Klagen
dieser Art sind bei uns nicht eingegangen.
Inwieweit in der jetzigen prekären Situation Wahlhelfer
eingesetzt werden können, ist zu überprüfen. Wir haben
- das möchte ich betonen - ein großes Interesse daran,
dass möglichst viele Menschen ihr Wahlrecht ausüben
können.
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin.
Wir kommen heute ziemlich schnell voran. Es sind relativ wenig Abgeordnete im Saal. Wir werden die Sitzung
auf jeden Fall unterbrechen und die Aktuelle Stunde
pünktlich um 15.35 Uhr aufrufen.
Die Frage 5 zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen, die Frage 6 zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie sowie die Fragen 7 und 8 zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Zur Beantwortung steht Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 des Kollegen Detlef Parr auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der
Regelung, dass ab 1. Januar 2003 bestimmte medizinische Leistungen - so genannte KO-Leistungen - wie Koloskopien, Gastroskopien, Sonographien usw. nur noch von nicht hausärztlich tätigen Gebietsfachärzten abgerechnet werden dürfen, nicht jedoch
von Hausärzten, und zwar selbst in den Fällen, in denen diese
Hausärzte solche Leistungen jahrelang erbracht haben, insbesondere im Hinblick auf die Kontinuität der gesundheitlichen Versorgung der Patientinnen und Patienten?
Sehr geehrter Herr
Kollege Parr, die Fragen 9 und 10 möchte ich gerne zusammen beantworten, weil sie in einem sehr engen Zusammenhang stehen.
Dann rufe ich auch die
Frage 10 des Kollegen Parr auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag einer Besitzstandsregelung, im Interesse der Patienten den Internisten, die
sich für die hausärztliche Tätigkeit entschieden haben, auch über
den 31. Dezember 2002 hinaus bis zum Ende ihrer Tätigkeit die
Möglichkeit zu geben, diese medizinischen Sonderleistungen zu
erbringen und abzurechnen?
Die angesprochene
Regelung ist eine Übergangsbestimmung zu der vom Gesetzgeber im Rahmen des am 21. Dezember 1992, also
während der christlich-demokratischen Regierungsverantwortung, verabschiedeten Gesundheitsstrukturgesetzes eingeführten Funktionsteilung der vertragsärztlichen
Versorgung in einen hausärztlichen und einen fachärztlichen Versorgungsbereich.
Die mit Wirkung zum 1. Januar 1993 in Kraft getretene
Regelung des § 73 Abs. 1 c SGB V schreibt vor, dass die
Spitzenverbände der Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung Inhalt und Umfang der hausärztlichen Versorgung gemeinsam und einheitlich zu bestimmen haben. Die Vertragspartner haben zu diesem
Zweck den so genannten Hausarztvertrag geschlossen und
dort unter anderem vereinbart, dass Vertragsärzte, die im
hausärztlichen Versorgungsbereich tätig sind, bestimmte
spezialärztliche Leistungen, zu denen die „KO-Leistungen“ Gastroskopie und Koloskopie gehören, nicht mehr
abrechnen können.
Die Vertragspartner des Hausarztvertrages haben damals allerdings für die bereits im Jahre 1993, also vor der
gesetzlichen Einführung der Funktionsteilung, tätigen
Vertragsärzte eine Übergangsregelung vereinbart. Sie
sieht vor, dass diese Vertragsärzte die Leistungen aus dem
„KO-Katalog“, die sie vor dem 1. Januar 1994 regelmäßig
abgerechnet haben, weiterhin - allerdings längstens bis
zum 31. Dezember 2002 - erbringen und abrechnen dürfen. Den Vertragsärzten wurde also eine achtjährige Übergangszeit zur Anpassung ihrer Praxis an den von ihnen
wahrgenommenen Versorgungsbereich eingeräumt.
Wenn diese Übergangsregelung nunmehr ausläuft,
wird lediglich der Zustand hergestellt, den der Gesetzgeber mit der Funktionsteilung in die hausärztliche und die
fachärztliche Versorgung im Rahmen des Gesundheitsstrukturgesetzes herbeiführen wollte.
Herr Kollege Parr,
bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie weisen zu
Recht auf den Ursprung dieses Gesetzes hin. Das macht die
Problematik, der sich die Bundesregierung heute stellen
muss, aber nicht geringer. Mir wird berichtet, dass durch die
Regelung, die wir damals getroffen haben, wegen der langen Übergangsfrist Versorgungslücken drohen. Es drohen
längere Wartezeiten für Patientinnen und Patienten, weil die
Kapazitäten in den Bereichen, in die diese Leistungen jetzt
einfließen, nicht ausreichen. Von Hausärzten werden jetzt
Überweisungen in Krankenhäuser vorgenommen. Es entstehen längere Fahrzeiten. Als Folge dieses Gesetzes werden die Patienten in erheblicher Weise zusätzlich belastet.
Meine Frage lautet: Wie beurteilen Sie diese Problematik angesichts der von der Bundesregierung zu Recht betonten Bedeutung der Präventionsmaßnahmen und des
Vorsorgeverhaltens der Menschen? Das wird jetzt sehr viel
schwieriger. Können Sie Wege aufzeigen, wie die drohenden Versorgungslücken geschlossen werden können?
Wir haben uns noch
einmal mit dem Gesetz, das unter Ihrer Regierungsverantwortung eingeführt worden ist, und seinen Folgen auseinander gesetzt. Wir haben bei der Überprüfung feststellen
können, dass wir gerade im internistischen und fachärztlichen Bereich eine sehr viel größere Arztdichte haben, als
das im hausärztlichen Bereich der Fall ist. Außerdem gibt
es die Möglichkeit, dass, wenn in einem Teilbereich Unterversorgungsprobleme auftreten, sich weiterhin Internisten und Kinderärzte an dieser Form der hausärztlichen
Versorgung beteiligen.
Sie haben mit der Prävention und der Qualität einen
zweiten Punkt angesprochen. Der Bundestag hatte vor einigen Wochen die Gelegenheit, sich die Möglichkeiten
neuer medizinischer Spezialgeräte anzuschauen. Es ist
unter Umständen lohnend, einen etwas längeren Weg in
Kauf zu nehmen, wenn dafür Sorge getragen wird, dass
komplizierte Untersuchungen mit einer sehr hohen Aussagekraft von erfahrenen Spezialisten, die eine hinreichende Anzahl von Untersuchungen durchführen, vorgenommen werden. Unter Qualitätsgesichtspunkten ist das
eigentlich wünschenswert.
Die apparative Ausstattung ist ein wichtiger Punkt. Es
handelt sich dabei um Geräte, die kompliziert zu bedienen
und sehr teuer sind. Wir haben ein Interesse daran, dass
diese Geräte entsprechend gut ausgelastet sind und diejenigen, die damit umgehen, erfahren sind. Das setzt eine
bestimmte Anzahl von Untersuchungen voraus.
Zweite Nachfrage,
bitte.
Frau Präsidentin, ich muss Sie bitten, zu prüfen, ob das, was ich jetzt sage, richtig ist. Die
Frau Staatssekretärin hat gesagt, dass beide Fragen zusammen beantwortet werden können. Das ist auch richtig,
aber die zweite Frage - akzeptieren Sie die Alternative,
dass die hausärztlich tätigen Internisten diese Untersuchungen durchführen, damit das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nicht unterbrochen wird und Warteund Fahrzeiten vermieden werden? - ist leider noch nicht
beantwortet worden.
Sie dürfen aber auch
vier Nachfragen stellen, das wissen Sie.
Das ist nett.
Ich hatte gesagt, dass die
Spezialisten durchaus die Möglichkeit haben, über einen
bestimmten Zeitraum an der hausärztlichen Versorgung
teilzunehmen, wenn tatsächlich ein Versorgungsdefizit besteht. Dieses Versorgungsdefizit wird nicht von der Bundesregierung festgestellt, sondern von der Selbstverwaltung. Diese hat im Rahmen des Zulassungsverfahrens die
Möglichkeit, eine Verlängerungsfrist zu gewähren.
Die dritte Nachfrage
bitte.
Genau diese Möglichkeit der Ermächtigungsentscheidung ist das Problem. Es gibt nämlich Beispiele, dass Anträge von hausärztlich tätigen
Internisten, die weiter behandeln wollen, von den zuständigen Krankenversicherungen mit dem Hinweis auf
anfechtbare Präzedenzfälle abgelehnt werden. Ich habe
die große Sorge, dass wir patientenunfreundliche Lösungen vorfinden, die ab dem 1. Januar zu einer erheblichen
Beunruhigung innerhalb der Bevölkerung führen werden.
Wie können wir diese Probleme in den Griff bekommen?
Herr Parr, ich habe
eine Bitte: Wenn Sie einen solchen Präzedenzfall kennen,
sollten Sie ihn uns zuleiten. Dann werden wir ihn der Aufsichtsbehörde des Landes zuleiten, damit sie prüft, ob sich
die KV gemäß Recht und Gesetz verhalten hat.
Jetzt gibt es noch eine
letzte Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, haben Sie
von den Krankenkassen Rückmeldungen bekommen,
dass sie sich dieser Probleme bewusst sind? Ihnen ent-
stehen ja durch längere Fahrzeiten und Ähnliches zusätz-
liche Kosten, die man durch die Kompromisslösung
vermeiden könnte, die ich in meiner zweiten Frage vor-
geschlagen habe. Ist Ihnen die Position der Krankenkas-
sen bekannt und wissen Sie, ob ihnen bewusst ist, was ab
1. Januar 2003 auf sie zukommt?
Ich gehe davon aus,
dass sich die Selbstverwaltung dessen bewusst ist, nehme
es aber gern als Anregung für ein Gespräch auf, um die
Krankenkassen und KVen für diese Frage zu sensibilisie-
ren. Gleichwohl bin ich nach wie vor der Überzeugung,
dass wir einen gewissen zusätzlichen Aufwand für den
Patienten in Relation zu dem angestrebten Ziel einer qua-
litativ hochwertigen Untersuchung sehen müssen. Fahrt-
kosten kommen auf die Krankenkassen nur dann zu, wenn
der Patient überhaupt nicht in der Lage ist, die ärztliche
Untersuchung ohne Unterstützung wahrzunehmen. Das
heißt, die Fahrtkosten müssen von dem Arzt, der die Un-
tersuchung angeordnet hat, verordnet werden. In der Re-
gel handelt es sich aber um Vorsorgemaßnahmen, wie Sie
selbst sagten. Hier sollte der Patient in der Lage sein, auch
einen etwas längeren Weg zurückzulegen. Das dient auch
dem Ziel, die technisch möglichen Ressourcen in unserem
Gesundheitssystem auszunutzen. Diese Güterabwägung
müssen wir den Selbstverwaltungspartnern, den Kassen-
ärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen, nach
wie vor überlassen. Dessen ungeachtet sichere ich Ihnen
zu, dass ich Sie noch einmal auf den Termin 31. Dezem-
ber 2002 hinweisen werde.
Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin.
Die Fragen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes und zum Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums der Verteidigung werden ebenfalls schriftlich be-
antwortet.
Ich rufe daher als letzten Geschäftsbereich den des
Bundesministeriums der Justiz auf. Zur Beantwortung der
Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Dr. Eckhart Pick zur Verfügung.
Da auch die Frage 14 schriftlich beantwortet wird1),
rufe ich die Frage 15 des Kollegen Dr. Ilja Seifert auf:
Welche Bedenken haben Verbände, Organisationen und Körperschaften des öffentlichen Rechts gegenüber der Bundesregierung dagegen geltend gemacht, dass die Bundesregierung noch
in dieser Legislaturperiode ein Zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz ({0}) auf der Grundlage eines Diskussionsentwurfs
des Bundesministeriums der Justiz vom Dezember 2001 in den
Deutschen Bundestag einbringt, und welche Bemühungen hat
die Bundesregierung unternommen, um diesen Bedenken zu begegnen?
Herr Kollege Dr. Seifert, bereits in
der Fragestunde am 17. April hatte ich Ihnen ausführlich
auf Ihre Fragen geantwortet. Der zentrale Punkt der aktuellen Diskussion ist, dass sich die Kirchen für eine Herausnahme der Merkmale Religion und Weltanschauung
aus dem Katalog der Diskriminierungsverbote des Entwurfs eines Gesetzes zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht ausgesprochen haben. Demgegenüber fordert der Zentralrat der Juden eine Beibehaltung
dieser Merkmale. Bislang sind verschiedene Lösungsmöglichkeiten entwickelt und den Beteiligten nahe gebracht
worden. Der gesellschaftliche Diskurs muss aber nach unserem Eindruck noch intensiv weitergeführt werden.
Herr Dr. Seifert, Ihre
erste Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, vielen Dank
für die Antwort. Lassen Sie mich vorausschicken, dass ich
Ihre Antwort auf meine damaligen Fragen anders verstan-
den hatte. Wenn ich mich recht entsinne, hatten Sie gesagt,
die Bundesregierung tue alles, um das Zivilrechtliche Ant-
idiskriminierungsgesetz noch in dieser Wahlperiode zu
verabschieden. Heute höre ich von Ihnen ebenso wie von
den Medien etwas anderes. Wenn ich das richtig verstan-
den habe, läuft es ausschließlich darauf hinaus, dass zwei
große Kirchen die Diskriminierung wegen religiöser Ori-
entierung nicht in das Gesetz aufgenommen haben wollen,
in dessen Entwurf es heute heißt, dass Menschen wegen ih-
rer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft
und ihrer Behinderung nicht diskriminiert werden dürfen.
Ist dies tatsächlich der einzige Grund, an dem dieses wich-
tige Gesetz in dieser Legislaturperiode scheitern soll?
Herr Kollege Dr. Seifert, dies ist ei-
ner der zentralen Punkte, die wir in dieser Diskussion zu
beachten haben. Wie Sie wissen, gibt es darüber hinaus
1) Antwort lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.
eine Reihe anderer Vorbehalte. Aber auf diesen Bereich
konzentriert sich im Moment die Problemlage ganz besonders. Richtig ist, dass wir uns eigentlich vorgestellt
hatten, dass das Projekt in dieser Legislaturperiode zu
Ende gebracht werden könne. Wir hoffen, dass wir dem
noch möglichst nahe kommen, indem wir den Diskurs mit
den Betroffenen - vor allen Dingen den Kirchen, aber
auch den Verbänden - weiterführen.
Wir haben sicher nicht resigniert. Eine ganze Reihe
von Punkten, deren Aufnahme in das Antidiskriminierungsgesetz wir vorgesehen hatten, haben wir bereits umgesetzt: Wir haben heute im Rechtsausschuss etliche
Punkte, die wir für wichtig halten, in das OLG-Vertretungsänderungsgesetz aufgenommen. Dabei geht es insbesondere darum, dass Menschen mit Behinderungen alle
mögliche Unterstützung erhalten müssen, um am Prozessgeschehen teilnehmen zu können, also Übersetzer, Artikulationshilfen usw. Wir haben heute außerdem beschlossen, eine neue Vorschrift ins BGB einzuführen, die
erwachsene Geschäftsunfähige in die Lage versetzt, Geschäfte des täglichen Lebens mit den ihnen zur Verfügung
stehenden Mitteln bewirken zu können. Auch das entspricht einer von den Behindertenverbänden seit vielen
Jahren erhobenen Forderung.
Wir sind hier auf dem richtigen Wege. Das, was wir noch
ohne größeren Diskussionsbedarf umsetzen können, realisieren wir ohne Rücksicht darauf, wie die große Lösung
- die wir auch lieber erzielten - letztlich aussehen wird.
Zweite Nachfrage,
Herr Kollege Seifert, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn ich
das richtig verstehe, haben Sie jetzt bereits auf meine
zweite Frage geantwortet. Ich möchte doch aber gern auf
die erste zurückkommen. Sie sagten, das Hauptargument
sei das Argument der beiden großen Kirchen. Ich habe
zunächst einmal danach gefragt, welche Gründe Sie davon abhalten, den Gesetzentwurf auch gegen den Widerstand bestimmter gesellschaftlicher Gruppen - in diesem
Fall also der beiden Kirchen - einzubringen, und welche
weiteren Argumente es von welchen Interessengruppen
auch immer gibt. Ich habe bis jetzt kein einziges gehört.
Auf die Dinge, die Sie gerade gesagt haben, würde ich
gern im Zusammenhang mit der Beantwortung der zweiten Frage eingehen wollen.
Herr Dr. Seifert, ich glaube, ich habe
Ihnen schon am 17. April auf Ihre Frage nach den Stellungnahmen einzelner Verbände, unter anderem der Arbeitgeber, eine Antwort gegeben. Es ist richtig, dass viele
Verbände - dazu gehören zum Beispiel die Vermieterverbände und die wohnungspolitischen Verbände - mit diesem Gesetz Probleme haben. Ein Gesetz, das in manchen
Bereichen so tief in die Vertragsfreiheit eingreift, kann
man nicht mit der Brechstange durchsetzen.
Vielleicht können Sie uns vorwerfen, wir hätten nicht
abgesehen, dass der Diskussionsbedarf - Sie können ihn
auch Widerstand nennen - so intensiv sein würde. Wir
wollen überzeugen; das dauert eine gewisse Zeit. Insofern
ist das ganze Verfahren natürlich nicht so schnell abgelaufen, wie wir es uns eigentlich vorgestellt hatten.
Jetzt rufe ich die
Frage 16 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert auf:
In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung, den nachdrücklichen Forderungen von Sozialverbänden - so zum Beispiel
am 15. Mai 2002 auf dem Bundesverbandstag des Sozialverbandes VdK gegenüber dem Bundeskanzler Gerhard Schröder - und
von Betroffenenorganisationen, zum Beispiel von Menschen mit
Behinderungen, von Migrantinnen und Migranten, von Lesben
und Schwulen und anderen, deren Diskriminierungen ja geächtet
und geahndet werden sollen, nach Verabschiedung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes noch in dieser Legislaturperiode Rechnung zu tragen?
Herr Dr. Seifert, die Bundesregierung hält es für sehr wichtig, dass ein breit angelegtes
Diskriminierungsverbot geschaffen wird, das neben den
Merkmalen der ethnischen Herkunft oder der sexuellen
Identität auch das Merkmal einer Behinderung umfasst,
damit den Belangen von Menschen mit Behinderungen
angemessen Rechnung getragen werden kann. Sie würde
dies gern in dieser Legislaturperiode verwirklichen.
Wie ich Ihnen sagte, haben wir schon begonnen, eine
ganze Reihe von Forderungen umzusetzen. Sie erkennen
daraus, dass der Bundesregierung dieses Anliegen wirklich wichtig ist. Die Punkte, die wir jetzt ohne großen Diskussionsbedarf in unsere Gesetzgebungsvorhaben aufgenommen haben, sind bereits ein wesentlicher Beitrag, mit
dem die Diskriminierung gerade der Behinderten verhindert werden kann.
Herr Kollege Seifert,
bitte stellen Sie auch hierzu Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, selbstverständlich liegen mir die Interessen von Menschen mit Behinderungen besonders am Herzen. Dafür engagiere ich
mich auch am meisten. Daher ist es mir auch so wichtig,
dass die Gruppen, die unter verschiedenen Diskriminierungen leiden, nicht länger auseinander dividiert werden.
Sie haben gerade gesagt, dass zum Beispiel Vermieterverbände gegen eine solche Regelung auftreten. Wollen sie
keine Menschen mit Behinderungen in ihren Wohnungen
haben? Und das Antidiskriminierungsgesetz wollen Sie,
die Regierung, nicht gegen die Interessen dieser Gruppen
durchsetzen? Es kann doch nicht sein, dass man, wenn
man ein Diskriminierungsverbot durchsetzen will, diejenigen, die diskriminieren, mit ins Boot hineinholt und
sagt: Wenn ihr einverstanden seid, machen wir mit, wenn
nicht, machen wir nicht mit.
Die Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen,
die Sie jetzt genannt haben, hätten Sie ohne weiteres bereits
im Rahmen des Gleichstellungsgesetzes vornehmen können. Das haben Sie aber bewusst und mit der Begründung
abgelehnt, dass Sie ja das ZAG machen wollen. Erklären Sie
mir bitte diesen Widerspruch! Das Gleichstellungsgesetz ist
jetzt seit genau einem Monat in Kraft. Dies muss man für
diejenigen, die sich nicht jeden Tag mit dem Thema befassen, vielleicht einmal sagen.
Herr Dr. Seifert, Sie wissen, dass wir
uns entschieden haben, neben dem Gleichstellungsgesetz
ein Zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz zu erarbeiten. Sie wissen, dass das Bundesministerium der Justiz
im Dezember letzten Jahres einen entsprechenden Entwurf vorgelegt hat und dieser Grundlage der Diskussion
sein soll und auch ist.
Dass die Diskussion so schwierig werden würde - das
habe ich vorhin schon ausgeführt -, konnten wir nicht
voraussehen. Deswegen haben wir uns für einen anderen
Weg entschieden, den Sie möglicherweise nicht mitgehen
wollen: Wir wollen die Teile aus diesem Antidiskriminierungsgesetz herauslösen, die wir jetzt auf die Schnelle und
sehr bald Gesetz werden lassen können. Ich denke, dies ist
ein zumindest plausibles Vorgehen. Wir wollen, dass insbesondere Menschen mit Behinderungen möglichst schnell
besser gestellt werden.
Eine letzte Nachfrage
des Kollegen Dr. Seifert. Bitte.
Wenn ich mich recht entsinne,
hat das BMJ im Dezember vergangenen Jahres keinen Gesetzentwurf, sondern nur ein Eckpunktepapier vorgelegt.
Wenn ich mich recht entsinne, besteht dazwischen doch
ein kleiner Unterschied; dies wollen wir aber dahingestellt sein lassen.
Trotzdem: Die Pünktchen, die Sie jetzt genannt haben,
sind für diejenigen, die sie betreffen, wichtig - das ist
keine Frage und ich bin selbstverständlich dafür, dass eine
entsprechende Regelung getroffen wird -, aber es sind
marginale Pünktchen im Verhältnis zu einem wirklichen
Diskriminierungsverbot, das mit Ahndungen für diejenigen verbunden wäre, die dieses Verbot brechen. Warum
haben Sie diese für Menschen mit Behinderungen wichtigen Punkte nicht gleich in das Bundesgleichstellungsgesetz aufgenommen? Jeder von Ihnen wusste genauso gut
wie ich, dass es erheblichen Widerstand geben würde, und
zwar genau von den Gruppen, die Sie genannt haben, und
dass die Punkte, die Sie jetzt ändern wollen, auch damals
schon regelbar waren.
Herr Dr. Seifert, es ist damals so entschieden worden. Die Bundesregierung hat diesen Weg
eingeschlagen. Die Bundesregierung - und nicht nur das
Bundesjustizministerium - ist nach wie vor der Meinung,
dass das Zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz kommen muss, insbesondere mit seinen allgemeinen Vorschriften und auch den Sanktionsmöglichkeiten, die wir
vorgesehen haben. Insoweit haben wir einen ausformulierten Entwurf vorgelegt.
Die Bundesregierung wird auf diesem Weg weitermachen. Wir hoffen, dass dieser Diskurs, von dem ich sprach
und der in unserer Gesellschaft offensichtlich notwendig
ist, stattfindet. Wir wollen das, was wir uns vorgenommen
haben, auch durchsetzen.
Vielen Dank, Herr
Staatssekretär. Damit ist die Fragestunde beendet und ich
unterbreche an dieser Stelle die Sitzung. Sie wird mit der
Aktuellen Stunde um 15.30 Uhr wieder eröffnet. Dies war
interfraktionell so abgesprochen.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist
wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen, als
antisemitisch bewerteten öffentlichen Äußerungen
Ich eröffne die Aussprache. Für eine der Antrag stellenden Fraktionen gebe ich zunächst dem Kollegen
Michael Müller, SPD, das Wort.
Meine Damen und
Herren! Ein Blick auf die Einfärbung der europäischen Parteienlandschaft zeigt, worum es bei dieser Debatte heute
geht. Die Kernfrage lautet: Wie reagieren die Demokratie
und die Politik in einer instabilen Situation auf wachsende
autoritäre und rechtspopulistische Strömungen, die sich in
Europa zeigen? Es geht gerade bei dieser Frage darum, ob
wir bereit sind, den Konsens in der Demokratie und den
Konsens in einer wertorientierten Politik zu suchen oder ob
wir mit dem Zeitgeist des Populismus mitschwimmen.
({0})
In den letzten Tagen haben wir von Herrn Westerwelle
gehört, dass die heutige Debatte purer Wahlkampf sei.
Meine Damen und Herren, hier wird Ursache mit Wirkung verwechselt.
({1})
Deshalb: Im engeren Sinne geht es uns nicht um
Möllemann gegen Friedman. Das ist zwar wichtig und in
diesem Zusammenhang auch besonders perfide, es geht
aber um sehr viel mehr. Es geht um die Frage, ob die FDP
auf das Kalkül setzt, den Rechtspopulismus hemmungslos als Wahlkampfmittel einzusetzen.
({2})
Ist Ihnen von der FDP in einer instabilen Zeit jedes
Mittel recht? Wir wissen, was in einer solchen Zeit aus
diesen Strömungen werden kann; das erkennt man, wenn
man den Blick auf andere europäische Länder richtet. Auf
diesen entscheidenden Punkt sind Sie bis heute nicht eingegangen. Auch Ihre wachsweiche „Berliner Erklärung“,
die die „Süddeutsche Zeitung“ als „Armseligkeitserklärung“ bezeichnet hat, reicht dafür nicht aus.
Noch einmal: Es geht um die Wirkung und nicht nur
um einen einzelnen Satz. Es geht um die Äußerungen und
die Strategie des stellvertretenden Vorsitzenden der FDP.
Ein Hinweis auf die ungeschickte Wortwahl reicht dabei
nicht aus.
({3})
Es geht darum, ob mit dem Populismus nicht Türen geöffnet und die Geister der Vergangenheit wieder gerufen
werden. Diese Frage muss gestellt werden, weil alle zentralen Fragen der nächsten Jahre nur mit einem Grundkonsens der Demokraten zu bewältigen sind. Sie alle, ob
Globalisierung, Europäisierung oder die Neuordnung der
Sozialsysteme, sind nicht mit der Beliebigkeit des Populismus zu bewältigen.
({4})
Uns ist bekannt, dass die FDP gute liberale Traditionen
besitzt. Dafür stehen Namen wie Ralf Dahrendorf, KarlHermann Flach, Burkhard Hirsch, Hildegard HammBrücher und andere. Und wir wissen, dass unser Land einen solchen liberalen Geist braucht. Deshalb stellen wir
die folgenden Fragen: Ist der heutigen FDP im Zweifelsfall jedes Mittel recht, um die „Strategie 18 %“ umzusetzen? Was bedeutet die Aussage von Jürgen Möllemann zu
dem gegenwärtigen Konflikt: „Der Gesamtvorgang war
notwendig, damit wir nach vorne kommen“?
Wir stellen die Frage, ob das, was bisher Konsens und
kollektive Vernunft in unserem Land war, nunmehr dem
taktischen Spiel um die Zahl 18 untergeordnet wird. Nicht
wir, sondern Herr Döring war es, der die Attacken des
stellvertretenden FDP-Vorsitzenden als strategische
Überlegungen im Hinblick auf den Wahlkampf gezeichnet hat.
({5})
Bis heute haben Sie sich von diesem Populismus nicht
distanziert, meine Damen und Herren von der FDP. Was
heißt es, wenn Herr Möllemann erklärt: „Jetzt war es das
Nahost-Thema; nun müssen wir in einem anderen Thema
popularisieren“?
Wird erstmalig eine Partei, die die vergangenen fünf
Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt hat, zu einer inhaltsleeren Stimmungspartei? Diese Frage stellen wir uns, weil
nämlich diese Veränderung fundamental an den Konstanten der Demokratie rüttelt.
({6})
Herr Spiegel hat Recht damit, dass Herr Möllemann
und Herr Westerwelle es sich zu leicht machen, wenn sie
dies als missverständliche Aussage hinstellen.
Wir können nicht verschweigen, dass Herr Goergen,
der Berater von Herrn Möllemann, auch der Berater von
Herrn Westerwelle ist. Sie müssen Klarheit darüber schaffen, welche Strategie sie vertreten. Ist es die Haiderisierung Deutschlands oder ist sie es nicht?
({7})
Herr Möllemann ist viel zu lange im politischen Geschäft, um die Wirkungen seiner Aussagen nicht zu kennen. Er weiß, was er tut. Zurzeit ist er dabei, braune Klischees salonfähig zu machen. Dies ist ungeheuerlich.
({8})
Deshalb fragen wir die FDP, wie sie Klarheit schaffen
will. Eine liberale FDP ist wichtig, weil sie gut für unser
Land wäre.
({9})
Aber diese Entscheidung liegt bei Ihnen.
({10})
Bisher haben Sie sich anders entschieden. Das wird daraus ersichtlich, dass Sie zu den Vorgängen sehr lange geschwiegen haben. Nicht von sich aus, sondern erst, als
Gott sei Dank der öffentliche Druck der Medien funktioniert hat, haben Sie sich bewegt.
({11})
Nach Theodor Adorno muss die Politik die Anstrengung sein, der Suggestion, der fragwürdigen Beeinflussung zu widerstehen, um zur Freiheit fähig zu sein. Meine Damen und Herren, wir fragen die FDP, ob sie zur
Freiheit fähig ist.
({12})
Für die
FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Rede eben hat eines gezeigt: Diese
Aktuelle Stunde soll nicht der Demokratie dienen, sondern Ihrem Wahlkampf.
({0})
Dieses Thema ist zu ernst, als dass Sie es zu einem billigen Wahlkampfmanöver verkommen lassen sollten.
({1})
Man macht in Deutschland keinen Wahlkampf mit Antisemitismus, aber auch nicht mit dem Vorwurf des Antisemitismus gegenüber Demokraten, erst recht nicht in diesem Hause.
({2})
Michael Müller ({3})
Wenn Sie davon sprechen, es ginge meiner Partei darum,
braune Klischees salonfähig zu machen, dann ist das ehrverletzend und charakterlos. Sie legen die Axt an die Wurzeln der Gemeinsamkeit der Demokraten in diesem Lande.
({4})
Sie sollten sich schämen, den Wahlkampf in dieser Art
und Weise fortzuführen.
({5})
Wir stehen als Freie Demokraten seit Jahrzehnten für
Kontinuität in der Außenpolitik und in der Innenpolitik. Wir
Freien Demokraten haben mit Persönlichkeiten wie
Theodor Heuss, Thomas Dehler und Reinhold Maier die demokratische Tradition in der Bundesrepublik mit begründet.
({6})
Unsere Außenminister Walter Scheel, Hans-Dietrich
Genscher und Klaus Kinkel haben unserer Demokratie
eine in der Völkergemeinschaft allseits geachtete Stimme
gegeben. Es wird Ihnen nicht gelingen, die FDP als liberale Partei der Mitte in ein rechtsradikales Feindbild zu
verwandeln. Wir bleiben die Partei der Mitte, so wie wir
es stets waren.
({7})
Was ich mit meinem Stellvertreter Jürgen Möllemann
auszumachen habe, werde ich innerparteilich tun.
({8})
Es ist aber nicht in Ordnung, dass Sie einen Demokraten,
der Jahrzehnte dem Deutschen Bundestag angehört hat,
zu einem braunen Feindbild erklären. Das ist unanständig.
Wenn Sie das weiter versuchen, werden Ihnen die Freien
Demokraten in diesem Haus und in dieser von Ihnen initiierten Wahlkampfdebatte stets geschlossen die entsprechende Antwort geben.
({9})
Wir sind der Meinung, dass Weltoffenheit und Toleranz
die Geisteshaltung des Liberalismus sind. Freiheit ist die
wichtigste liberale Botschaft. Freiheit heißt stets auch
Vielfalt und Vielfalt heißt auch immer Toleranz. Wir Liberale sind eine Partei, die nicht irgendwelche Vorurteile
und Stimmungen bedienen will.
({10})
Wir Liberale sind vielmehr eine Partei, die Vorurteile stets
mit ganzer Kraft bekämpfen wird, weil wir die liberale
Partei der Aufklärung in diesem Hause sind.
({11})
Den eigentlichen Tabubruch, den Sie an dieser Stelle begehen,
({12})
liegt vor allem darin, dass Sie in einer aufgeheizten Debatte
nicht einmal vor dem schlimmsten Vorwurf zurückschrecken, nämlich dass ein Mitglied dieses Hauses, also
jemand aus der demokratischen Gemeinschaft, allen Ernstes daran denken würde, mit irgendwelchen antisemitischen
Ressentiments Wahlkampf zu betreiben. Sie wissen, dass
das nicht stimmt. Wir verwahren uns gegen diesen Vorwurf.
({13})
Wir finden es auch nicht in Ordnung, dass Sie auf diese
Art und Weise die jetzige Debatte prägen wollen.
({14})
Zu der einen Äußerung von Jürgen Möllemann
({15})
wiederhole ich das, was ich stets gesagt habe: Jürgen
Möllemann hat seinen Fehler öffentlich eingeräumt. Er
hat seine entsprechende Äußerung zurückgenommen.
Das war auch notwendig. Er hat in einem Brief an Paul
Spiegel geschrieben, dass seine entsprechende Äußerung
ein Fehler gewesen sei, dass er diese Äußerung nicht hätte
machen dürfen. Der Bundesvorstand meiner Partei hat erklärt, dass wir die entsprechende Äußerung von Jürgen
Möllemann missbilligen und dass wir sie ausdrücklich
bedauern. Ich finde, wenn Möllemann erklärt: „Das war
ein Fehler; ich hätte das nicht sagen sollen“, und wenn die
liberale Partei sagt: „Wir missbilligen diese Äußerung
und wir bedauern sie“, dann wäre es an Ihnen, Ihre
Attacken gegen die FDP nicht weiter zu reiten.
({16})
In Wahrheit ist so, dass sich die Menschen in Deutschland darauf verlassen können: Wir Liberalen sind eine
Partei der Mitte und bleiben eine Partei der Mitte. Die
Menschen werden übrigens nicht auf Ihre Leimruten gehen, weil sie genau wissen, dass die rot-grüne Regierung
- darum geht es eigentlich - keine inhaltlichen Erfolge
vorzuweisen hat und dass Sie jetzt verzweifelt versuchen,
ein Feindbild zur Motivation der eigenen Leute aufzubauen, damit sie vorangehen. Dieses Manöver ist zu
durchsichtig. Wenn Sie schlechte Politik gemacht haben,
dann werden Sie aus der Defensive auch nicht durch Diffamierung der liberalen Partei herauskommen.
Wir wehren uns gegen diese Ehrverletzungen mit aller
Entschiedenheit.
({17})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den letzten
Tagen gibt es keine Nachrichtensendung in dieser RepuDr. Guido Westerwelle
blik, die nicht mit der Nummer-eins-Geschichte beginnt,
der Antisemitismusdebatte in der FDP, dem Streit zwischen
Möllemann und Westerwelle usw., damit, wie man mit den
antisemitischen Äußerungen von Herrn Möllemann umgeht. Und dazu, sagen Sie, soll der Bundestag schweigen,
wenn sich das Land draußen fragt: Was machen die da in
Berlin eigentlich? Wieso lassen die so etwas zu? Dazu sollen wir schweigen, wenn sich der Zentralrat der Juden in
Deutschland zunehmend allein fühlt in dieser Republik?
Dazu können wir als Deutscher Bundestag nicht schweigen, sondern wir müssen das zum Thema machen,
({0})
aber nicht zum Thema eines Wahlkampfes. Wir müssen
uns vielmehr vergewissern, dass der innere Zusammenhalt dieser Republik auf einer klaren Absage an Antisemitismus und auch an das Spielen mit antisemitischen
Ressentiments begründet ist. Diese Klarheit brauchen wir,
weil Sie daran zu wünschen übrig lassen.
({1})
In Berlin werfen Unbekannte im März einen Brandsatz
auf die Kreuzberger Synagoge. Funktionsträger der jüdischen Gemeinden berichten von zunehmenden antisemitischen Schmähanrufen und Schmähbriefen. Auf dem
Ku’damm werden im April zwei orthodoxe Juden und
zwei Frauen, die einen Davidstern tragen, von Jugendlichen angegriffen. Das Bundesinnenministerium registriert für das Jahr 2001 über 1 600 Straftaten, die antisemitisch motiviert waren. Vor diesem Hintergrund stellte
bereits vor Ihrer Debatte Salomon Korn die Frage, die uns
allen zu denken geben muss, ob es richtig war, dass die
Juden in Deutschland geblieben sind und wieder nach
Deutschland gekommen sind.
Vor diesem Hintergrund führen Sie eine Debatte, in der
Sie den Antisemiten das Wort reden. Das ist ungeheuerlich. Wir alle müssen uns doch fragen: Wie kann es kommen, dass Antisemitismus in dieser Gesellschaft so breiten Rückhalt hat? Wir müssen ihn zurückweisen und
dürfen ihn nicht, gleich welcher politischen Couleur, für
den Wahlkampf instrumentalisieren.
({2})
Denn der Antisemitismus hat keine politische Heimat; ihn
gibt es links, ihn gibt es rechts. Aber demokratische Parteien dürfen ihn niemals für ihren Wahlkampf nutzen.
({3})
Deshalb appelliere ich an Sie, Herr Westerwelle: Machen Sie da einen klaren Schnitt, und zwar nicht um des
Wahlkampfs und um der Parteipolitik willen, sondern um
des Klimas in unserem Land willen, damit Juden in
Deutschland wissen, dass sie weiterhin hier gut aufgehoben sind, und sich nicht die Frage stellen müssen, wie
Ralph Giordano unlängst in einem Artikel, ob es wieder
gefährlich ist, als Jude in Deutschland zu leben.
({4})
Deshalb: Stoppen Sie diese Debatte, stoppen Sie Herrn
Möllemann! Setzen Sie an dieser Stelle einen klaren
Schnitt!
Was da geäußert wurde, war nicht nur eine Sache von
Missverständnissen. Am 4. April sagte Herr Möllemann
in einem Interview der „taz“ - damals hat sich noch niemand richtig darüber aufgeregt - zu Israels Politik:
Was würde man denn selber tun, wenn Deutschland
besetzt würde?
Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu wehren. Und
ich würde es nicht nur im eigenen Land tun, sondern
auch im Land des Aggressors.
Und das vor dem Hintergrund von fast täglichen Selbstmordanschlägen in Israel! Wie kann man diese Äußerungen eigentlich missverstehen?
({5})
Wenn man sie richtig versteht, muss man erschrecken.
({6})
- Drei Minuten später klargestellt worden? Das ist ein autorisiertes Interview in der „tageszeitung“ gewesen.
({7})
Herr Möllemann hat in öffentlichen Äußerungen Herrn
Scharon und in Deutschland Herrn Friedman wegen seiner angeblichen gehässigen Art für den Antisemitismus in
diesem Land verantwortlich gemacht. Das ist das klassische Stereotyp: Der Jude soll selber schuld sein an seinem
Unglück.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger aus Ihren eigenen
Reihen hat gesagt, Herr Möllemann versuche eine diffuse
Sammlungsbewegung aus der FDP zu machen und rechtspopulistische Signale auszusenden. Dieses Manöver
scheint wohl unbestritten zu sein.
Meine Damen und Herren, jeder sagt einmal etwas
Dummes, das er hinterher bereut. Aber hier ist ja nichts bereut worden. Wochenlang wurde nun an mannigfaltigen
historischen Beispielen gezeigt: Es handelt sich um eine
Denkfigur in der Tradition des Antisemitismus. Herr
Möllemann weigert sich dennoch, sich bei Herrn Friedman
für diese Äußerungen zu entschuldigen. Das ständige
Spielen an dieser Grenze - zurücknehmen, aber sich doch
eher als Opfer darstellen - schürt weiter die antisemitischen Ressentiments.
Die Verteidigungsstrategie, die Sie, Herr Westerwelle,
tagelang gewählt haben - Sie haben behauptet, man müsse
doch auch in Deutschland einmal einen Juden oder Israel
kritisieren dürfen -, setzt voraus, dass Sie meinen, das Publikum denke, eigentlich sei die Israelkritik von einer zionistischen Weltverschwörung in der Presse verhindert worden und wir könnten hier nicht offen darüber reden. Wir
reden in Deutschland aber doch immer schon offen über
unsere Besorgnis über eine falsche israelische Politik von
Scharon. Diese Politik muss man und darf man kritisieren,
({8})
Volker Beck ({9})
aber man darf seine Kritik nicht antisemitisch begründen;
das ist das Problem. Damit muss jetzt von Ihrer Seite endlich Schluss gemacht werden.
({10})
Ich erteile
für die Fraktion der CDU/CSU dem Kollegen
Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir ist in
diesen aktuellen Debatten - es gibt in diesen Tagen nicht
nur eine - ein bisschen zu viel Aufgeregtheit. Wir sollten
uns gerade bei diesem Thema vor Übertreibungen hüten.
In diesem Hause braucht man nicht lange zu betonen,
dass die FDP eine demokratische Partei ist, dass sie es
bleibt und dass sie des Antisemitismus unverdächtig ist.
({0})
Ich glaube übrigens nicht, dass der Antisemitismus in
Deutschland eine Chance hat, aber er darf auch niemals
wieder eine Chance bekommen.
({1})
Das sind wir gar nicht in erster Linie unseren jüdischen
Mitbürgern schuldig, sondern das sind wir uns selbst, unserer Vergangenheit und unserer Zukunft schuldig.
({2})
Man kann über die Politik der israelischen Regierung
streiten. Die Israelis tun dies selbst. Israel ist übrigens die
einzige Demokratie in dem Raum dort und die Israelis
streiten kräftig.
({3})
Dass Deutschland eine besondere Verantwortung dafür
hat, dass Israel in Sicherheit und in sicheren Grenzen leben kann, muss aber unstreitig sein.
({4})
Es muss nicht jeder in Deutschland jeden sympathisch
finden. Dass einer Christ, Jude, Muslim oder Atheist ist,
macht ihn noch nicht zu etwas Besonderem. Aber dass es
in Deutschland wieder jüdisches Leben gibt, ist nach
Hitler und Auschwitz etwas Besonderes.
({5})
Es ist etwas Kostbares. Deswegen müssen wir alle sorgsam damit umgehen.
Herr Kollege Westerwelle, deswegen begrüße ich, dass
Sie Klarheit schaffen, dass Sie mit Ihrer Ankündigung - ({6})
- Entschuldigung! Ich bin nicht der Sprecher der FDP,
aber ich habe gelesen, dass der FDP-Vorsitzende angekündigt hat, dass, wenn Herr Karsli bis Montag nicht
als Mitglied der Landtagsfraktion ausgeschieden ist, er
keine Grundlage mehr für die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit seinem Stellvertreter sieht.
({7})
- Verzeihen Sie! Ich darf das trotzdem sagen. Ich habe es
zur Kenntnis bekommen. Ich habe die Meldung gelesen.
Ich begrüße es und ich finde es richtig.
({8})
Das ist übrigens für einen Parteivorsitzenden keine einfache Entscheidung. Man kann eine Landtagsfraktion nicht
zwingen. Aber Herr Möllemann, von dem auch ich nicht
glaube, dass er antisemitisch ist, hat nun zu viel dazu beigetragen, dass Zweifel gewachsen sind. Man kann nicht
rechts blinken und links abbiegen. Das geht in der Politik
genauso schief wie im Straßenverkehr. Wenn man sagt,
Herr Karsli könne nicht in der FDP sein, was richtig ist,
dann ist auch richtig, dass er nicht in der Landtagsfraktion
der FDP sein soll. Ich begrüße es, dass Klarheit geschaffen wird.
Aber - das füge ich gleich hinzu - wir sollten auch
nicht mit zweierlei Maß messen. Solange Herr Karsli Mitglied der Fraktion der Grünen war, hat es keine Aufregung
gegeben - und bei Rot-Grün schon gar nicht.
({9})
Es tut mir Leid.
Im Übrigen, wenn wir schon dabei sind: Sie sollten
nicht so selbstgerecht sein.
({10})
Herr Karsli hat alle diese Äußerungen als Mitglied der
Grünen gemacht. Es hat keinen Aufschrei gegeben.
({11})
Damit Sie sich nicht allein ärgern müssen, Herr Kollege
Schlauch: Die Spatzen pfeifen es doch von den Dächern,
dass bis vor kurzem ausgerechnet der Kollege Möllemann
die Haupthoffnung von Herrn Schröder wie von Herrn
Clement auf eine Koalition mit der FDP gewesen ist. Das
ist doch die Wahrheit.
({12})
Deswegen sage ich Ihnen, Sie sollten wirklich auch den
Verdacht meiden, Sie wollten mit dieser Debatte von
Ihren eigenen Problemen ablenken.
({13})
Unsere Verantwortung aus unserer Vergangenheit ist
für uns alle zu wichtig, als dass wir sie zu leicht und zu
billig in die kleine Münze parteitaktischer Vorteile ummünzen sollten.
({14})
Ich bleibe dabei, dass der Antisemitismus in Deutschland
keine Chance hat. Vielleicht nährt sich die Gefahr populistischer Bewegungen in Deutschland und in anderen europäischen Ländern eher daraus, dass viele Menschen den Eindruck gewinnen, die politische Klasse, einschließlich der
Medien, beschäftige sich mit vielen Problemen nicht so
ernsthaft, wie sie die Menschen in ihrem Alltag real erleben und erfahren.
({15})
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns nicht in Scheindebatten aufregen, sondern dass wir uns mit den wirklichen Problemen wie Arbeitslosigkeit, innere Sicherheit,
Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger
beschäftigen.
({16})
Je bessere Lösungen dafür gefunden werden, umso weniger werden die Populisten eine Chance haben. Die Populisten von rechts nicht und die von links übrigens auch nicht.
({17})
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich bitte Sie, ein wenig zurückzublicken
und sich mit mir zu erinnern. Im Juli 1999, also vor knapp
drei Jahren, brachte der „Stern“ ein Interview mit Ignatz
Bubis. Damals wussten wir noch nicht, dass es mehr als
ein Interview war. Es war ein Lebensresümee, denn wenig später verstarb der damalige Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Auf die Frage: „Was haben
Sie bewirkt?“, sagte er resigniert: „Nichts, fast nichts!“
Ich räume gern ein: Damals empfand ich seine Einschätzung als zu resignierend, als zu düster und zu hoffnungslos. Dabei kannte ich die Zahlen; denn die PDSFraktion erfragt sie regelmäßig und seit Jahren.
So wurden allein im Zeitraum 1998 bis 2001, also binnen nur vier Jahren, 3 473 antisemitische Straftaten registriert, das heißt, Tag für Tag zweieinhalb. Wir alle wissen:
Antisemitismus misst sich mitnichten an der amtlichen
Statistik; diese schönt in diesem Fall eher, was schlimm
ist, und sie unterschlägt, was unterhalb von Straftaten und
Strafmaßen liegt, was aber den Nährboden für Exzesse
bietet.
Ich las unlängst Günter Gaus; er schrieb - nicht ohne
zu stocken, wie er meinte - von einer „arglosen Grenznähe zum gewöhnlichen Antisemitismus“, der sich weit
verbreite.
Erinnern wir uns weiter: Nachdem Ignatz Bubis verstorben war, mangelte es nicht an guten Worten - und an
schlechten. Damit meine ich nicht jene, die aus der ganz
rechten Ecke kamen, sondern Nachrufe, selbst aus Regierungsstuben, die missverständlicher gar nicht sein konnten. So lobte der damalige Regierungssprecher: Bubis
habe mit nie versiegender Kraft dazu beigetragen, dass die
Schatten der Vergangenheit kleiner werden. - Ich denke,
gründlicher kann man ein Lebenswerk nicht ins Gegenteil
verkehren; denn Bubis mahnte gegen das Vergessen, gegen das Verdrängen, gegen das Verkleinern dessen,
({0})
was verharmlosend heute oft Schatten genannt wird. Er
beklagte sich bitter, dass ein Großteil der Bevölkerung
wie Martin Walser denke: Ende, Schlussmachen, nur
Nach-vorne-Schauen. Was ist denn dieses Da-Vorne,
wenn die Schatten kleiner geworden sind? Da gibt es den
einen, der meint, die Bundeswehr solle in Palästina und
Israel eingreifen. Ist das etwa das normale Da-Vorne?
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich heute
Ignatz Bubis in Erinnerung rufe, dann auch, weil jene Jüdinnen und Juden, die in Alltagsangst leben, deren Gebetsstätten und Schulen mit Sperrzäunen und Maschinengewehren geschützt werden müssen, kaum noch Gehör
finden. Dass auf dem Berliner Ku’damm jüngst Juden
überfallen wurden, weil sie Juden sind, war kaum mehr
als eine kurze Meldung wert. Deshalb greift es, wie ich
finde, wieder einmal viel zu kurz, wenn der Eindruck erweckt und verstärkt wird, es ginge aktuell um eine Auseinandersetzung zwischen dem Zentralrat der Juden in
Deutschland und den Exponenten einer anderen Meinung.
Es geht um ein gesellschaftliches Problem, das nicht delegierbar ist.
({2})
Vielleicht hätten wir ohnehin öfter zuhören sollen,
wenn jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger Widerspruch anmeldeten oder Vorschläge äußerten, Widerspruch beispielsweise bei der De-facto-Abschaffung des
Grundrechts auf Asyl. Vorgeschlagen, aber nie beschlossen wurde, den Antifaschismus als Wert ins Grundgesetz
aufzunehmen. Wir haben das aufgegriffen; Sie wissen
das. Im Moment läuft parallel im Rechtsausschuss die Anhörung zu diesem Thema.
Dennoch will ich uns auch diese Replik nicht ersparen.
Ignatz Bubis sagte in dem erwähnten „Stern“-Interview,
er wolle nicht in Deutschland beerdigt werden. Das ist,
wie ich finde, ein beschämendes Urteil über das Deutschland, in dem Ignatz Bubis lebte und in dem wir leben. Er
sagte auch, warum: Ich will nicht, dass mein Grab in die
Luft gesprengt wird wie das von Heinz Galinski. - Auch
das war kurz vor seinem Tod. Ich weiß, dass die Witwe
von Heinz Galinski damals auf ein gesellschaftliches
Signal wartete und dass sie heute auf ein gesellschaftliches Signal wartet.
Es geht nicht darum, ob wir dem Zentralrat der Juden
etwas sagen, sondern man schaut um unserer selbst willen
und dieser Menschen willen darauf, was wir heute hier
tun, aber auch, was da draußen tatsächlich passiert. Ich
finde es schon schwierig, dass der Zentralrat heute zu einer Demonstration gegen diese Entwicklung in der Gesellschaft aufrufen muss und dieser Aufschrei nicht aus
der ganzen Gesellschaft kommt.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Da muss man schon tief betroffen sein, finde ich, wenn man die Ablenkungsmanöver
von Herrn Westerwelle und Herrn Schäuble hier zu hören
bekommt, die allein dazu dienen, von der Schuld und der
Mitschuld abzulenken, die in diesen Tagen aufgehäuft
worden ist. Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen.
({0})
Hier wird nach dem Motto operiert: Haltet den Dieb als ob diejenigen, die sich jetzt schützend vor die jüdischen Gemeinden und die jüdischen Menschen in
Deutschland stellen, die Schuldigen der Debatte wären.
Dies darf nicht sein.
({1})
Wenn Sie, Herr Westerwelle, hier Altliberale wie
Theodor Heuss zitieren,
({2})
dann kann ich Ihnen nur sagen: Die würden sich im Grabe
herumdrehen, wenn sie das verfolgen könnten, was in Ihrer Partei passiert.
({3})
Nein, die FDP verfolgt mit dem durch Herrn Möllemann
ferngelenkten Vorsitzenden Westerwelle zielstrebig und
unverhohlen eine Hinwendung zum rechten Wählerrand.
Wer mitten in der Zeit dieser Entwicklungen in einem Interview das gesamte Protestwählerpotenzial von angeblich 25 Prozent ohne jedes Tabu ins Visier nimmt, ist
wahrhaftig und endgültig - ich habe das heute Morgen
in meiner Pressekonferenz so gesagt - durchgeknallt,
Herr Westerwelle.
({4})
Ich will, weil Sie dieses Ablenkungsmanöver nicht haben dürfen, auch das zitieren, was die Agenturen zu Ihrem
„Stern“-Interview schreiben:
Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle will die Liberalen zur Protestpartei umwandeln und dabei auch
bisherige Wähler rechts- oder linksradikaler Parteien
gewinnen.
({5})
„Uns ist jeder willkommen ...
({6})
Jetzt geht doch die Hälfte der Bürger nicht mehr zur
Wahl. Das kann nicht so bleiben“ ... Wähler von PDS
oder DVU hätten „früher nicht zwangsläufig mit
rechtsradikaler oder kommunistischer Gesinnung“
so entschieden, sondern „weil ihr Frust ein Ventil gesucht hat“.
Das ist Rechtspopulismus reinsten Wassers.
({7})
Herr Westerwelle, wer im Container startet, die Schuhgröße 18 hat,
({8})
mit der Recht brechenden CDU in Hessen koaliert
({9})
und in Hamburg ohne Probleme mit Herrn Schill koaliert,
der hat die Wende zum Rechtspopulismus längst hinter
sich. Das ist doch nichts Neues!
({10})
Von daher glaube ich, dass das eine ganz zielgerichtete
Aktion ist, eine Aktion, die ihre Grundlagen immer wieder findet, mit der Sie abzulenken versuchen. Dies lassen
wir nicht mit uns machen.
Interessant ist natürlich auch, dass Sie dabei die
freundliche Unterstützung der Fraktion in diesem Hause
haben, mit der Sie angeblich eine Koalition anstreben.
Wenn hier ausgerechnet Herr Schäuble seine Giftpfeile
erneut verschießt,
({11})
dann haben Sie gerade den richtigen Partner an Ihrer
Seite. Auch in diesem Punkt werden wir Ihnen immer
wieder klar sagen: Natürlich gehören sie zusammen: diejenigen, die den Rechtspopulismus zu kultivieren versuchen, nämlich die FDP, und die anderen, die das dulden,
um die Mehrheit in diesem Lande irgendwann und irgendwie für sich einzunehmen.
({12})
- Herr Schmidt, bleiben Sie mal ganz ruhig!
Die Frage ist doch beispielsweise auch, warum Herr
Schäuble hier zum Pressesprecher der FDP werden
musste und konnte.
({13})
Warum haben Sie uns eigentlich nicht selber gesagt, Herr
Westerwelle, dass Sie den Versuch gemacht haben, so etwas wie ein Ultimatum zu stellen? Aber Sie wissen selbst,
dass Ihre Ultimaten und Ihre Machtworte in diesem Land
und in Ihrer Partei überhaupt nichts wert sind. Nichts haben sie gegolten! Drei-, viermal haben Sie es versucht; darauf muss man hinweisen.
({14})
Dass wir - auch das will ich an dieser Stelle sehr deutlich sagen - die Gemeinsamkeit eines ursprünglich fraktionsübergreifenden Antrags zum jüdischen Leben in
Deutschland aufgekündigt haben, war deswegen nur konsequent. Ich finde, meine Damen und Herren von der FDP
und der CDU/CSU, die Sie hier im Schulterschluss handeln, dass Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, solche
Entwicklungen aufzunehmen und zu sagen: Jawohl, wir
stoppen das in unseren eigenen Reihen, wir sorgen für die
Entschuldigung von Herrn Möllemann beim Zentralrat
der Juden in Deutschland und damit vor den jüdischen
Menschen in Deutschland. - Dann hätte man über Gemeinsamkeiten zu diesem Punkt in diesem Hause wieder
sprechen können. Aber dazu sind Sie nicht fähig. Sie sind
auch nicht in der Lage, das Herrn Möllemann beizubiegen. Wir bedauern das zutiefst, weil wir das für einen
Verfall der parlamentskulturellen Sitten halten.
({15})
Lassen Sie sich wirklich ins Stammbuch schreiben: Sie
müssen umkehren. Stoppen Sie das, was Sie da auf den
Weg gebracht haben! Wir haben uns das Ganze ja nicht
aus den Fingern gesogen. Sie haben Interviews gegeben,
die von Ihnen überarbeitet und abgesegnet worden sind.
Sie sind auf dem falschen Weg. Kehren Sie um!
Wir sagen heute: Dass die jüdischen Gemeinden in
Berlin eine Kundgebung durchführen, um gegen diese
Tendenzen öffentlich zu Felde zu ziehen, findet unsere
tiefste Solidarität. Ein großer Teil unserer Fraktion wird
daran teilnehmen.
({16})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass man aus
diesem wichtigen Thema aufseiten der SPD kleinliche
parteipolitische Münze zu schlagen versucht: Vielen
Dank für Ihre Rede, Herr Kollege Schmidt!
({0})
Meine Damen und Herren, die FDP ist keine rechtspopulistische Partei.
({1})
- Und sie will es auch nicht werden.
({2})
Zu dieser selbstverständlichen Erkenntnis ist ja auch die
SPD-Parteiführung am letzten Wochenende gekommen.
({3})
Sonst hätte sie auf ihrem Autosuggestionsparteitag in der
vergangenen Woche nicht alles unternommen,
({4})
um eine Koalitionsabsage an die FDP zu verhindern. Sie
wollten doch gerade diesen Beschluss verhindern.
({5})
1991 hat der heutige Kollege Ströbele laut „Spiegel“
im Zusammenhang mit dem Golfkrieg gesagt:
Wenn ich eine Eskalation des Krieges damit verhindern könnte, dass 1 Million Juden sterben müssten,
würde ich das in Kauf nehmen.
({6})
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der damalige Ministerpräsident Gerhard Schröder seinen damaligen Koalitionspartner auf einem Parteitag so getadelt hat, wie er
das mit der FDP getan hat.
({7})
Bei der Frage, ob Herr Möllemann sich bei Herrn
Friedman entschuldigen soll oder nicht, handelt es sich
um eine Stil- oder Charakterfrage, aber nicht um einen
Ausweis latenten Antisemitismus. Die Frage der Glaubwürdigkeit der FDP steht und fällt aber damit, ob Herr
Karsli Mitglied der FDP-Landtagsfraktion in NordrheinWestfalen bleibt oder nicht. Karsli hat behauptet, die israelische Armee wende als rücksichtslose Militärmacht
Nazi-Methoden an;
({8})
Wilhelm Schmidt ({9})
der Einfluss der zionistischen Lobby sei sehr groß; sie
habe den größten Teil der Medienmacht in der Welt inne
und könne jede auch noch so bedeutende Persönlichkeit
kleinkriegen; vor dieser Macht hätten die Menschen in
Deutschland selbstverständlich Angst.
Damit hat sich Karsli der uralten Verschwörungstheorie
bedient, die hinter der angeblichen Oberfläche der politischen Auseinandersetzung geheime Mächte vermutet, die
auf der Welt die Strippen ziehen. Je nach ideologischer Herkunft heißt es entweder von rechts jüdisch-bolschewistische
oder von links jüdisch-kapitalistische Weltverschwörung.
Nicht jeder Deutsche, der noch nie zuvor in seinem Leben bewusst einem Juden begegnet ist und der unsicher
ist, ob und wie er mit ihm über den Holocaust, den Staat
Israel oder jüdisches Leben in Deutschland sprechen soll,
ist automatisch ein Antisemit. Verantwortungslos wird es
dann, wenn diese Unsicherheit von denjenigen, die es besser wissen, politisch instrumentalisiert wird,
({10})
wenn man versucht, den Menschen zu suggerieren, an
ihrer Unsicherheit seien die Juden schuld. Wer so redet
- und so tut es Herr Karsli -, benutzt die klassischen Muster des Antisemitismus und hat auch keine zweite Chance
verdient, sei er nun ehemaliges Mitglied der Grünen oder
parteiloses Mitglied der FDP-Fraktion desselben Landtags.
({11})
Wir sollten uns alle vor zu großer Scheinheiligkeit hüten. In Wirklichkeit hat es das Spiel mit antisemitischen
Ressentiments auf beiden Seiten des politischen Spektrums gegeben. Ich habe ein Zitat von Herrn Ströbele
schon genannt und auch das andere Zitat ist allen bekannt:
Die irakischen Raketenangriffe sind die logische,
fast zwingende Konsequenz der Politik Israels.
Herr Ströbele ist zwar als Bundessprecher der Grünen damals zurückgetreten; aber Sie haben ihm mehr als nur eine
neue Chance eingeräumt. Er ist ja auch heute noch so etwas wie eine moralische Instanz in Ihrer Fraktion.
Auch die PDS muss nach ihrer 50-jährigen Parteigeschichte - sie hat es ja ausdrücklich abgelehnt, sich aufzulösen oder neu zu gründen - auf eine lange antisemitische Tradition hingewiesen werden,
({12})
die sich mühsam antizionistisch oder antiisraelisch verbrämt gegeben hat.
({13})
Möllemann muss sich vorwerfen lassen,
({14})
an diese Gefühle mit seiner martialischen, hirnverbrannten Äußerung gegenüber der „taz“, die der Kollege Beck
heute schon zitiert hat, appelliert zu haben. Diese Äußerung kann man nicht durch den Appell rechtfertigen, auch
in Deutschland müsse Kritik an Israel erlaubt sein. Dieser
Appell ist mindestens in doppelter Hinsicht missverständlich: Erstens suggeriert er, dass Möllemanns Kritik
an Israel seriös gewesen sei. Das ist sie nicht gewesen. Sie
ist alles andere als seriös gewesen.
Zweitens unterstellt dieser Appell, dass in Deutschland
Kritik an Israel nicht möglich sei. Das ist nun wirklich ein
völliger Unsinn. Insbesondere auf der politischen Linken
gibt es eine lange Tradition der Kritik an Israel. Darauf
möchte ich hier zwar nicht weiter eingehen; aber man
sollte sich nur einmal die entsprechenden „Spiegel“-Titel
der letzten Jahrzehnte ansehen oder sich vor Augen
führen, dass die Kombination von Jeans, Parka und Palästinensertuch in den 70er-Jahren eine Art Modekleidung
gewesen ist.
Heute besteht das Problem, dass diejenigen, die mit geschwellter Brust behaupten, Kritik an Israel müsse möglich sein, schon dies für ein seriöses Argument halten.
({15})
Dabei hat seriöse Kritik mit dieser Banalität noch nicht
einmal begonnen.
Die Konsequenz dieser selbstbezogenen und neurotischen Erklärungen ist, dass die öffentliche Debatte in
Deutschland über den Nahostkonflikt in Wirklichkeit zulasten Israels und zugunsten der PLO und insbesondere
von Yassir Arafat geführt wird. Kaum jemand redet in
Deutschland öffentlich darüber, dass Arafat ein Mann mit
zwei Gesichtern ist, dass er auf Englisch vom Frieden
spricht und auf Arabisch den Hass predigt, dass er mit
Aussprüchen wie „Eine Million Märtyrer marschieren auf
Jerusalem“ oder: „Ich will ein Märtyrer, ein Märtyrer, ein
Märtyrer sein!“ kaum verhüllt zu Selbstmordattentaten
aufgerufen hat.
({16})
Es ist an der Zeit, dass wir diese Debatte durch die unmissverständliche Feststellung und Erfahrung beenden,
dass in Deutschland unabhängig von der Frage, wie lange
der Holocaust her ist, mit antisemitischen Ressentiments
kein erfolgreicher Wahlkampf gemacht werden kann, und
wir uns auf unsere weiteren Aufgaben besinnen.
Herr Kollege von
Klaeden, Sie müssen zum Ende kommen.
Ein letzter Satz,
bitte. - Ich glaube, dass Ignatz Bubis mit seinem Satz „Ich
habe in meiner Amtszeit nichts bewirkt“ geirrt hat. Wir
müssen dafür sorgen, dass es ein Irrtum bleibt.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer persönlichen
Erklärung erteile ich dem Kollegen Ströbele das Wort.
({0})
Herr Kollege von Klaeden, Sie haben eine angeblich von mir stammende Äußerung aus dem „Spiegel“ zitiert. Ich stelle zu diesem Zitat fest:
Erstens. Ich habe gegen den Urheber dieses Zitats beim
Landgericht Berlin geklagt. Das Landgericht Berlin hat
dem Urheber dieses Zitats unter Androhung einer Geldstrafe in Höhe von 500 000 DM verboten, es weiterhin zu
verbreiten. Das Urteil ist rechtskräftig.
({0})
Zweitens. Ich habe eine solche Äußerung zu keinem
Zeitpunkt getan und sie auch niemals in meinem Kopf gehabt. Ich führe es auf Ihre Jugend zurück, dass Sie damals
den Prozess vielleicht nicht mitverfolgen konnten.
({1})
Ich bitte Sie, in Zukunft, bevor Sie so etwas in diesem Hohen Hause erklären, Kontakt aufzunehmen und sich zu
vergewissern, ob eine Äußerung, die Sie zitieren wollen,
richtig ist.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Bislang haben wir
eine sehr bemerkenswerte Aktuelle Stunde erlebt: Die
FDP hatte vier Redebeiträge und die CDU/CSU hat offensichtlich ihre Redebeiträge zugunsten der FDP abgegeben. Das kann ich nur damit erklären, dass sie ihren
möglichen Koalitionspartner FDP vor dem Irrweg bewahren will, auf den sich die FDP selber begeben hat,
bzw. ihn retten muss. Rational erklären kann ich mir diese
Angelegenheit nicht.
({0})
Auch wundere ich mich über den Kollegen Schäuble, der
in diesem Hause zweifelsohne ein hohes Ansehen genießt.
({1})
Zu Beginn seiner Rede hat er Aussagen gemacht, denen
sicherlich wir alle zustimmen können. Aber bei den Ausführungen über Herrn Karsli und dessen Mitgliedschaft
bei den Grünen hat er es mit der Wahrheit nicht so genau
genommen.
({2})
Ich möchte es hier ein für alle Mal klarstellen: Herr
Karsli ist dem Ausschluss aus der Partei der Grünen zuvorgekommen.
({3})
Hören wir doch in diesem Zusammenhang auf jemanden,
der ganz unverfänglich ist, auf Herrn Karsli selber. Herr
Karsli schreibt in seiner Austrittserklärung - ich zitiere
wörtlich -:
Der Grund meines Austritts ist die Nahostpolitik von
Bündnis 90/Die Grünen.
Diese Nahostpolitik ist die Politik des Außenministers der
Bundesrepublik Deutschland. Er zitiert ihn ausdrücklich,
kritisiert ihn und wirft ihm vor, dass er eine einseitige Politik betreibe. Wir stehen zur Politik von Joschka Fischer.
Die Mehrheit dieses Hauses tut das ebenso. Ich hoffe, dass
auch Sie das tun. Für diese Politik haben Ihre Vorgänger
in der Bundesrepublik Deutschland den Kopf hingehalten. Sie haben eine richtige Politik gemacht. Davon sollten Sie sich heute nicht abwenden.
({4})
Die Politik Joschka Fischers ist die Politik von Walter
Scheel, von Hans-Dietrich Genscher und von Konrad
Adenauer.
({5})
Diese Politik war in der Bundesrepublik bisher Konsens.
Ich fordere Sie auf, zu diesem Konsens zurückzukehren.
Ihnen wird es mit Sicherheit nicht gelingen - ein entsprechender Versuch zeichnet sich ab aus dem, was Sie
hier öffentlich sagen -, mit einem Bauernopfer Karsli die
Angelegenheit zu beenden. Wenn sich Herr Westerwelle
irgendwann einmal gegen Herrn Möllemann durchsetzen
kann, wird Herr Karsli vielleicht aus der Fraktion ausgeschlossen. Vielleicht geht er auch freiwillig. Das Problem
ist aber nicht Herr Karsli, sondern das Problem sind Herr
Möllemann und Herr Westerwelle.
({6})
Das Problem ist mittlerweile die FDP selbst, weil sie nicht
die Kraft und den Mut hat, einen Strich zu ziehen. Damit
könnte sie ohne jedes Wenn und Aber klar machen, wo die
Grenze ist.
Damit wir wissen, worüber wir reden, möchte ich ein
Zitat der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, dessen Präsident Herr Möllemann ist, anführen. Auf der Website steht
unter der Überschrift „Beiträge aus dem Spiegel-Diskussionsforum ... statt eines eigenen D-A-G-Kommentars“:
Auf einen praktisch hilflos am Boden Liegenden
einzuschlagen ist völlig sinnlos. Wenn es dem so
Gedemütigten dann wirklich reicht und er nichts
mehr zu verlieren hat, wird er zurückschlagen.
Jetzt erfährt man, wer damit gemeint ist:
Da der Irak gegen das Arsenal der USA und der Briten nicht antreten kann, wird er zuschlagen, wo es
wirklich weh tut: Wir werden in Zukunft rauchende
US-Botschaften sehen. Dies ist eine ganz logische
Konsequenz und den Schuldigen müssen wir dann
wohl im Weißen Haus suchen.
Eine solche Position ist nicht tragbar. Es reicht nicht
aus, zu fordern, dass Herr Möllemann diese Dinge klarstellt. Das war nicht nur ein Ausrutscher Möllemanns;
seine Äußerungen sind allesamt Ausrutscher - ob es zum
Thema Nahost oder zum Thema Israel ist.
({7})
Es reicht nicht aus, nur so zu tun, als habe man das Problem gelöst, wenn man die Angelegenheit mit Herrn
Karsli geregelt habe.
Herr Westerwelle, Sie hätten hier die Gelegenheit gehabt, Ihre eigenen Äußerungen zu korrigieren. Sie haben
den folgenden Satz aus der ddp-Presseerklärung unwidersprochen zur Kenntnis genommen:
FDP-Chef Guido Westerwelle will ungeachtet des
Antisemitismusstreits am Ziel der Öffnung seiner
Partei auch für Wähler von den Rändern des politischen Spektrums festhalten.
Wer diese Position vertritt, der darf in Deutschland nicht regieren. Mit dieser Position darf man in dieser Republik weder Innen- noch Außenpolitik machen. Vor solchen Positionen muss diese Republik in Schutz genommen werden.
({8})
Lassen Sie mich zum Schluss - meine Redezeit ist
gleich abgelaufen - zu der Position, die in dem Gewande
„Man darf Israel doch wohl einmal kritisieren“ wohlfeil
daherkommt, klar sagen: Niemand hat das jemals abgestritten - am wenigsten die Juden, die hier leben. Sie üben
selbst häufig Kritik an der Politik Scharons. Eines muss
allerdings klar sein: Der Ton macht die Musik. Die Art,
wie wir über dieses Thema reden, lässt tief blicken und
verrät den Geist, der dahintersteckt. Wer die israelische
Regierung kritisieren will, der muss nicht auf antisemitische Ressentiments zurückgreifen oder den Terrorismus
gegen Israel in Form von Selbstmordattentaten rechtfertigen. Dafür besteht keine Veranlassung. Es reicht völlig
aus, die frei gewählten Abgeordneten der Knesset zu zitieren, die ihre Kritik im frei gewählten israelischen Parlament jeden Tag zum Ausdruck bringen.
({9})
Als säkularisierter Muslim möchte ich noch bemerken:
Herr Möllemann hat gesagt, dass die Muslime jetzt praktisch die FDP wählen könnten. Dahinter steckt die folgende Gleichung: Muslim gleich antiisraelisch und potenziell antisemitisch; irgendwann wird er FDP wählen.
Nein, meine Damen und Herren, ich möchte hier klar sagen: Die Mehrzahl der Muslime ist nicht antisemitisch.
Ich verwahre mich ausdrücklich als säkularisierter Muslim gegen den Eindruck, der hier erzeugt wird. Auch das
sollten Sie korrigieren.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung erteile ich dem Kollegen von
Klaeden.
({0})
Herr Ströbele, ich
habe zwei Zitate von Ihnen verwandt. Das eine, auf das
Sie hingewiesen haben, habe ich heute bei der Quelle recherchiert. Ich wurde auf die Entscheidung des Landgerichts, die Sie zitiert haben, dabei nicht hingewiesen. Es
tut mir Leid. Ich nehme das mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.
Ich will aber gleichzeitig auf das andere Zitat, zu dem
Sie nichts gesagt haben, dass nämlich die Angriffe auf Israel die zwingend logische Konsequenz der israelischen
Politik gewesen sind, hinweisen. Wenn Sie eine persönliche Erklärung abgeben, hätten Sie auch dazu etwas sagen
können.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSUFraktion,
({0})
dass ich die Gelegenheit erhalte, hier zu sprechen; denn da
Sie die Aktuelle Stunde nicht nutzen, um die Haltung der
Bundesregierung zu erfahren - so haben Sie es angekündigt -, sondern um uns anzugreifen, gehört es zu den Regeln in einer Demokratie, denjenigen zuzuhören, die angegriffen werden. Deshalb möchte ich jetzt Stellung
nehmen.
({1})
Es ist die eine Seite, Äußerungen von Herrn
Möllemann zu kritisieren; das habe auch ich getan. Ihre
Vorwürfe finden allerdings da eine Grenze - und müssen
sie auch finden - wo Sie leichtfertig den öffentlichen Eindruck erwecken, die demokratische, liberale Partei sei auf
Abwegen, gehe ab von dem Stil, den sie in der BundesCem Özdemir
republik Deutschland geprägt hat, und nähere sich in gefährlicher Weise antisemitischen Tendenzen.
({2})
Das kann unter Demokraten nicht akzeptiert und zugelassen werden.
({3})
Mitglieder politischer Parteien müssen sich, wenn sie
sich zum Nahostkonflikt äußern, präzise äußern, den Stil
beachten und die Worte in Kenntnis der deutschen Geschichte wählen. - Das ist die eine Sache.
Mitglieder demokratischer Parteien müssen sich in unserem Land mit seiner dramatischen Geschichte aber auch
hüten, anderen leichtfertig Antisemitismus vorzuwerfen.
({4})
Auch das gehört zur Auseinandersetzung.
({5})
Wir sind und bleiben eine Partei der politischen Mitte.
Das ist unsere Beschlussgrundlage, unsere Haltung und
unser Charakter. Die Geschichte der FDP durchzieht die
Auseinandersetzung, die Bundesrepublik Deutschland
davor zu bewahren, von den Rändern her regiert zu werden. Guido Westerwelle ist mit der klaren und ehrenhaften Absicht in den Landesvorstand Nordrhein-Westfalens
gegangen, das Thema Karsli zu verbalisieren,
({6})
das die Grünen jahrelang nicht verbalisiert hatten.
({7})
Er ist unterlegen; aber er hat sich gestellt.
Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder hat groß angekündigt, dass er gegen Koalitionen seiner Partei mit der
PDS in ostdeutschen Bundesländern sei. Er hat allerdings
noch nicht mal die Courage gehabt, die dortigen Führungsgremien aufzusuchen und sich den Debatten zu stellen.
({8})
Nein, meine Damen und Herren, wenn man in
Deutschland vor Antisemitismus warnen will, was unser
gemeinsames Anliegen ist, dann gehören die Mindestvoraussetzungen, dass sich Demokraten zuhören und andere
nicht leichtfertig diffamieren, sondern ihre Argumente abwägen, dazu.
Ich möchte Ihnen sehr persönlich sagen, dass ich nicht
mit Herrn Möllemann befreundet bin, wie Sie alle wissen
und vielleicht auch nachfühlen können.
({9})
Ich erinnere mich aber an Zeiten, als ich Bundesvorsitzender der FDP war und Ihr Bundeskanzler Herrn Möllemann
zum großen Liberalen erklärt und über mich ganz abfällige
Worte verloren hat. So ändern sich die Zeiten.
({10})
Deshalb sage ich Ihnen: Sie wissen es doch selbst:
Wenn die Führung einer Partei in einer Klarheit,
({11})
wie es Guido Westerwelle getan hat und ich es als Fraktionsvorsitzender tue - ({12})
- Ich möchte Gelegenheit erhalten, zu sprechen. Ich finde
nämlich Ihr Verhalten in der Debatte unangemessen. Sie
erheben Vorwürfe gegen uns, wir betrieben Antisemitismus. Zu einem toleranten Umgang miteinander gehört
auch die Fähigkeit, den anderen ernst zu nehmen und ihm
zuzuhören.
Im Übrigen: Wenn Sie die Haltung der Bundesregierung
zu diesen Tendenzen erfragen wollen, dann muss der Bundeskanzler in einer Debatte, die Sie als so problematisch für
Deutschland bezeichnet haben, hier anwesend sein.
({13})
Nein, unsere Partei bleibt ganz klar in der Spur. Die
überwiegende Mehrheit in ihren Führungsgremien und
ihrer Mitglieder weiß ganz genau, um was es in Deutschland geht, wenn man über Nahostfragen debattiert. Unsere Partei hütet sich davor, auf falsche Wege zu kommen,
und sie läuft in der aktuellen politischen Diskussion wirklich nicht Gefahr, woanders hinzugehen. Wir wollen mit
unserer Position Wähler werben.
({14})
Wir hören den Menschen zu, reden ihnen aber nicht nach
dem Munde; denn wir nehmen den Verfassungsauftrag
ernst, dass Parteien an der politischen Willensbildung des
Volkes mitwirken.
In der Nahostpolitik hält die gesamte Freie Demokratische Partei an der Freundschaft mit Israel fest, die ganz
unbestritten einen der Grundpfeiler der Außenpolitik der
Bundesrepublik Deutschland darstellt. Die FDP will, dass
diese einzige politische Demokratie in jener Region auch
im Interesse der Sicherheit des israelischen Volkes eine
Zukunft hat. Dies ist ohne einen Staat Israel in sicheren
Grenzen nicht möglich; darüber gibt es keinen Streit.
({15})
Diese Position haben wir nie als eine dem palästinensischen Volk feindliche Position verstanden. Vielmehr müssen wir unseren israelischen Freunden eindringlich sagen,
dass ein palästinensischer Staat zugleich die beste Sicherheitsgarantie für Israel selbst sein kann. Daraus legitimiert
sich eine Kritik an der Regierung Scharon, die aber nicht
als Antisemitismus angesehen werden kann. Daraus legitimieren sich auch kritische Bemerkungen an die Adresse
anderer Freunde.
({16})
Das ist und bleibt die Position der FDP. Auch wenn sich
der stellvertretende Bundesvorsitzende Möllemann so
ausdrückte, dass wir alle es bedauern mussten, so gilt
doch das Wort der überwiegenden Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen aus der FDP-Fraktion.
Herr Kollege
Gerhardt, Sie müssen leider zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon sehr deutlich überschritten.
Ein letztes Wort:
Überlegen Sie sich genau, ob Sie wirklich klug beraten
sind, wenn Sie eine gemeinsame Resolution zur Bekämpfung des Antisemitismus mit uns nicht mehr fassen wollen.
Ich halte das, was Sie beabsichtigen, für einen gravierenden politischen Fehler. Gehen Sie noch einmal in sich!
({0})
Ich erteile dem Kollegen Sebastian Edathy für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Gerhardt, es geht in
dieser Debatte nicht darum, eine Partei zu beschädigen
- das macht die Partei, um die es geht, schon selbst -, sondern darum, hier im Bundestag klarzustellen, dass Demokraten in Deutschland nicht schweigen dürfen und können, wenn der demokratische Grundkonsens Schaden zu
nehmen droht.
({0})
In dieser Hinsicht gibt es aber leider Grund zur Sorge.
Schlechte Politik muss man kritisieren können, auch
schlechte Politik in Israel. Ebenso muss man Fernsehmoderatoren kritisieren können, auch solche, die jüdischen Glaubens sind. Wer aber sagt, israelische Politik sei gewissermaßen jüdische Politik und trage dann, wenn sie schlecht
sei, zu Antisemitismus bei, der bedient sich einer infamen
Argumentation, die eines Demokraten unwürdig ist.
({1})
Wer eine Person des öffentlichen Lebens auf ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft reduziert und dann behauptet, diese Person schüre mit ihrem
Verhalten Antisemitismus, der trifft eine bösartige und
- ich sage das bewusst - böswillige Aussage.
({2})
Die Behauptung, es seien letztlich Juden, die für Antisemitismus sorgten, ist eine antisemitische Aussage - damit ist nicht gesagt, dass ihr Autor zugleich ein Antisemit
ist -; denn sie entschuldigt und verharmlost Vorurteile
und Vorbehalte gegenüber jüdischen Bürgerinnen und
Bürgern und beleidigt diese, indem sie ihnen attestiert,
sie seien an dem vorhandenen Antisemitismus mit
schuld.
Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass eine solche Aussage von einem führenden demokratischen Politiker getätigt werden könnte. Für die SPD-Fraktion sage ich
an dieser Stelle in aller Deutlichkeit: Antisemitismus kann
man nicht begründen, man kann ihn nur verachten.
({3})
Hinsichtlich dieser Frage darf es - jedenfalls unter Demokraten - weder Halbherzigkeiten noch Zweideutigkeiten geben.
({4})
Es stimmt mehr als nachdenklich, wenn Herr Döring,
immerhin FDP-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg und wie Herr Möllemann stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, in dieser Woche über die Aussagen
von Herrn Möllemann wörtlich erklärt:
Das ist ja nicht etwas, was irgendwo spontan entstanden ist, sondern das ist eine strategische Überlegung.
({5})
Es stellen sich in der Tat folgende Fragen: Wieso hält
die FDP in Nordrhein-Westfalen an der Fraktionsmitgliedschaft eines Abgeordneten fest, der sich in unerträglicher Form antisemitisch geäußert hat? Wie kann es angehen, dass mit Herrn Möllemann ein Spitzenvertreter
der demokratischen Partei FDP in einer Zeitung am letzten Montag erklärte, dass die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa Beweis für die „Emanzipation
der Demokraten“ seien? Wie ist es einzuschätzen, dass
nach einer Agenturmeldung von heute Herr Westerwelle
in einem morgen erscheinenden „Stern“-Interview erklärt, dass die FDP künftig eine „Heimat“ für den „Protest gegen das etablierte politische Parteiensystem“ sein
will?
({6})
Künftig heißt es wahrscheinlich nicht mehr FDP gleich liberal, sondern FDP gleich völlig egal.
Meine Damen und Herren, es sollte Ihnen zu denken
geben, wenn heute im „Tagesspiegel“ zu lesen ist, der
frühere Berliner Bürgermeister und FDP-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Lüder warne wegen Möllemanns
Aktivitäten und Westerwelles Schwächen davor, FDP zu
wählen. Wer liberal eingestellt sei, müsse seine Stimme
einer anderen Partei geben.
({7})
Dem ist wenig hinzuzufügen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn
Sie sich zur politischen Beliebigkeit bekennen, dann ist
das Ihre Sache. Wenn Sie aber vorhaben sollten, durch das
Aussenden von rechtspopulistischen Signalen und durch
das Instrumentalisieren von Vorurteilen gegen Minderheiten Stimmen zu gewinnen,
({9})
dann ist das nicht mehr Ihre Sache allein, sondern auch
eine Sache aller Demokraten, denn dann kündigen Sie einen Konsens auf, den dieses Land braucht und der gut für
dieses Land ist.
({10})
Konsens ist, dass Antisemitismus in Deutschland keinen Raum haben darf und die gut 95 000 Bürgerinnen und
Bürger jüdischen Glaubens ein Recht auf ein Leben ohne
Angst und ohne Ausgrenzung haben. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sollten Sie überlegen, ob Sie künftig nicht lieber mit uns gemeinsam das
Feuer löschen, anstatt mit ihm zu spielen, wie es in den
letzten Tagen und Wochen der Fall gewesen ist.
({11})
Die SPD-Bundestagsfraktion und die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen haben gestern beschlossen, einen Antrag mit dem Titel „Antisemitismus ächten, Zusammenhalt in Deutschland stärken“ in das Parlament
einzubringen. Über diesen Antrag werden wir in Kürze
beraten. Ich hoffe, dass wir ihn einvernehmlich und fraktionsübergreifend beschließen können.
Zum Schluss: Ich habe zur Kenntnis genommen, dass die
deutsche Nationalmannschaft heute leider nicht gewonnen
hat. Für uns in Deutschland ist wichtig, dass wir, wenn wir
die Beratungen über das Thema Antisemitismus zu einem
guten Ende gebracht haben werden, sagen können: Die Demokratie in Deutschland hat gewonnen. Mit Blick auf die
fünf hier im Haus vertretenen Fraktionen muss die Demokratie in Deutschland 5 : 0 und nicht 4 : 1 gewinnen.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile Kollegen
Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Streit muss manchmal sein und Probleme müssen ausgetragen werden. Die Art und Weise, wie sich manche Streitigkeiten weiterentwickeln, zeigt dann allerdings, ob wir
in der Lage sind, diese Probleme einzukapseln.
Solche Auseinandersetzungen, wie wir sie gegenwärtig führen, können auch dazu dienen, sich der eigenen
Grundlagen zu vergewissern und nochmals festzuhalten,
was uns eint. Für die Union waren das immer die besonderen Beziehungen zum Staat Israel vor dem Hintergrund
des Geschehenen. Dabei eint uns viel mit den Positionen
anderer Parteien, auch denen der FDP, wie sie hier in Berlin formuliert worden sind, etwa in den Stellungnahmen
des Kollegen Gerhardt oder in den mir sehr gut bekannten
Positionen des in deutsch-israelischen Beziehungen sehr
aktiven Kollegen Niebel und anderer. Darin wird deutlich,
dass sich die FDP als Partei auf dem Boden dessen bewegt
und bewegen will, was seit David Ben Gurion und Konrad
Adenauer Teil der Staatsräson der Bundesrepublik
Deutschland geworden ist und bleibt.
Aus unserer Geschichte ist uns die Verpflichtung zugewachsen, das Existenzrecht und die Lebensfähigkeit des
Staates Israel und seiner Bürger zu fördern, wo immer es
geht. Diese Position muss immer wieder erneuert werden.
Mit dieser Position spaßt man nicht.
Wir sollten der Versuchung widerstehen, aus diesem
von Herrn Möllemann angezettelten Streit parteipolitisches Kapital schlagen zu wollen. Weder der Landespolitiker Möllemann mit seinen völlig inakzeptablen Äußerungen
({0})
noch der Landespolitiker Karsli mit seinen antiisraelischen, antisemitischen, antizionistischen oder wie auch
immer genannten Äußerungen legen Gott sei Dank die
Grundlinien der deutschen Politik fest - und wohl auch
nicht die der FDP.
Es wäre schon interessant, sich doch noch einmal anzusehen, was Herr Karsli - Sie haben dies etwas weggewischt - in den vergangenen Jahren gesagt hat. Ich
möchte dies nicht auf parteipolitische Themen reduzieren,
sondern auf die Frage: Wie gehen wir mit solchen Äußerungen - woher auch immer sie kommen - in der Öffentlichkeit um? Es kommt nämlich darauf an, dass wir solche inakzeptablen Grenzüberschreitungen nicht tolerieren
und sie zumindest einkapseln. Der Kollege Ströbele hat
- ungeachtet des Disputs - am eigenen Leibe erfahren,
wie es ist, wenn man solch eine Grenzüberschreitung begangen hat und dafür büßen muss. Ich sage noch einmal:
Wir müssen sie zumindest einkapseln, wenn wir sie schon
nicht verhindern können.
Ich will uns allen und dem Hohen Hause noch einmal
vor Augen führen, jedoch die Zitate ersparen, was gerade
in den 80er-Jahren in linken und alternativen Kreisen
durchaus nicht nur als Einzelstimme erhoben, sondern allgemein als salonfähig angesehen worden ist. Äußerungen, die vor 20 Jahren - davon kann ich die grüne Partei
nicht ausnehmen, ganz im Gegenteil - beispielsweise bei
der Hamburger GAL gefallen sind, will ich als Zeichen
des Respekts vor unseren israelischen Freunden hier gar
nicht zitieren. Sie würden einen Aufschrei hervorrufen.
Deswegen empfehle ich Frau Roth als Vorsitzende der
Grünen, diese Äußerungen und Positionen zum Zionismus und zur PLO, die in den 80er-Jahren geboren und gedacht worden sind, noch einmal in aller Ruhe zu lesen, sie
dann in den Papierkorb zu werfen und nicht gleich die Justiz zu bemühen. Hier geht es um eine Auseinandersetzung, die wir politisch führen müssen und auf Konsens
und nicht auf Streit ausrichten müssen.
({1})
Ein entscheidender Punkt, der in dieser Debatte völlig
verloren geht, ist: Wir reden darüber, dass einige in unserem
Lande völlig falsche Vorstellungen haben und meinen, sie
müssten Israel im gegenwärtigen Konflikt auf die Anklagebank setzen. Es kommt aber gerade darauf an, dass der Krieg
in den Köpfen aufhört, damit der Krieg auf den Straßen aufhört. Wir debattieren heute an einem Tag, an dem wieder
16 unschuldige Menschen, israelische Bürger, durch einen
palästinensischen Selbstmordattentäter zu Tode gekommen
sind. Dazu muss ich sehr deutlich sagen: Solange weite
Kreise bei den Palästinensern der Meinung sind, sie könnten ihre Ziele - es ist eine ganz andere Frage, über deren Legitimität zu reden; das hat der amerikanische Präsident vorletzte Woche hier an dieser Stelle deutlich gesagt ({2})
nur mit Gewalt, Terror und Blutvergießen erreichen, so
lange bleiben alle Diskussionen müßig.
({3})
Es kann nicht sein, dass hier eine Diskussion auf dieser Ebene geführt wird. Es muss reagiert werden. Deswegen müssen wir unsere Diskussionskräfte eigentlich in
Richtung Nahen Osten lenken. Die Frage, wie man den
Anliegen der Palästinenser gerecht werden kann, halte ich
nur dann für lösbar, wenn die Palästinenser selbst wissen,
dass Gewalt kein Weg ist.
Ist das eine Utopie? Ist dies eine Vison? Natürlich wissen wir, wie schwierig es ist, jetzt einen Friedensprozess
in Gang zu bringen. Manche sagen, solche Visionen würden für den Nahen Osten nichts taugen und Schimon
Peres hätte - visionär wie er ist - dies vielfach bitter erfahren müssen. Ich bin aber davon überzeugt, dass dieser
Versuch gemacht werden kann und gemacht werden
muss, und zwar nicht nur am Verhandlungstisch.
Kollege Schmidt, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen, weil Sie Ihre Redezeit bereits deutlich überschritten haben.
Herr Präsident, einen Satz noch: Man darf den Terror nicht ermutigen,
man darf ihn nicht als Mittel der Politik einsetzen, man darf
ihn nicht schönreden und man darf nicht sagen, dass man
ihn akzeptiert. Das muss für uns alle klargestellt sein.
({0})
Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Kollegen und Kolleginnen! Vor etlichen Jahren erlebte ich die
Beisetzung eines Hamburgers jüdischen Glaubens. Es
waren nur sehr wenige gebrechliche alte Männer als Vertreter der Gemeinde erschienen. Sie erzählten mir hinterher, wie mühselig es sei, in einer so mitgliederschwachen
Organisation wirkliche Aktivitäten zu entfalten. Es war
beklemmend und traurig.
Heute hat sich die Lage geändert: Viele jüdische Gemeinden entstehen, man sieht wieder mehr junge Leute
und nicht zuletzt dank des Zuzugs aus Osteuropa leben inzwischen immerhin 95 000 Menschen jüdischen Glaubens in der Bundesrepublik. Ihre Kultur und ihre Tradition
werden wieder wahrnehmbar und erfahrbar für all diejenigen, die in der Nachkriegszeit überhaupt keine Chance
hatten, sich damit zu befassen. Die Repräsentanten der
Juden in Deutschland - im Zentralrat und in den Gemeinden - schalten sich gottlob in die öffentliche Debatte ein
und beziehen deutlich Stellung.
Meine Damen und Herren, was kann eine demokratische Gesellschaft eigentlich anderes tun, als sich darüber
zu freuen und daran mitzuwirken, dass daraus eine Selbstverständlichkeit wird?
({0})
Offenbar ist diese Selbstverständlichkeit längst nicht in
allen Köpfen verwurzelt. Manche denken oder reden etwa
so: Klar, sie leben hier und wir tun ihnen auch nichts, sie
mögen sich aber bitte zurückhalten. Gar nicht so wenige
nicken dazu Beifall. Das macht die aktuelle Debatte über
Antisemitismus so bedrückend.
„Der legt es richtig darauf an, dass man zum Antisemiten wird.“ Sprüche wie diese leuchten in den Bodensatz
unterschwelliger Feindseligkeiten und Vorurteile hinein.
Wenn dazu dann per Brief, Telefon oder E-Mail noch Zuspruch kommt, ist es umso schlimmer.
({1})
Antisemitismus kann man nicht begründen, weil eine Begründung relativieren und sogar rechtfertigen kann. Antisemitismus kann man nur mit aller Schärfe ablehnen und
ächten.
({2})
Jeder einzelne Fall von Antisemitismus bedeutet nicht
nur eine Bedrohung für die jüdischen Bürger und Bürgerinnen in Deutschland, sondern gefährdet zugleich uns
selber, unsere Demokratie und unsere Gesellschaft als
Ganzes, weil auch wir betroffen sind. Das Bekenntnis zur
besonderen historischen Verantwortung Deutschlands,
aber auch der erklärte Wille, alles daranzusetzen, dass die
Erinnerung an den Holocaust nicht verblasst, war bisher
unstrittiger Grundkonsens deutscher Politik. Das soll und
muss auch so bleiben.
({3})
Christian Schmidt ({4})
Wer dagegen meint, ein Tabu brechen zu müssen, oder
davon redet, geht einen gefährlichen Weg.
({5})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, gerade aufgrund der
Zuspitzung im Nahostkonflikt und der in der Debatte
geübten Kritik an dem Verhalten sowohl der israelischen
als auch der palästinensischen Seite muss peinlich genau
zwischen dieser Auseinandersetzung und unserem Verhältnis gegenüber den jüdischen Bürgern und Bürgerinnen, die in unserem Lande leben, unterschieden werden.
Das muss ganz klar werden.
({6})
In unserer Gesellschaft gibt es wahrhaftig kein Übermaß an Beteuerungen gegen Rechtsextremismus, Intoleranz und Antisemitismus. Leider gibt es immer noch ein
Übermaß an ziemlich fatalen Äußerungen, aus denen sich
Rassismus speist. Wir leiden auch immer noch darunter,
dass viele wegschauen, wenn Menschen wegen ihrer
Hautfarbe, Religion oder Herkunft beleidigt und angegriffen werden. Die Bundesregierung tut viel, um zu erreichen, dass die Gesellschaft hinschaut, handelt und hilft.
Im Bündnis für Demokratie und Toleranz bündeln wir alle
Kräfte, die sich gegen fremdenfeindliche, rassistische und
antisemitische Bestrebungen engagieren. Zum Beispiel
zeichnen wir junge Leute aus, die den Alltag der Juden
während der NS-Zeit oder auch den Leidensweg ins KZ
nachzeichnen. Der Victor-Klemperer-Wettbewerb zum
Beispiel dient demselben Ziel. Programme wie Civitas,
Xenos und Entimon leisten Aufklärung und unterstützen
Projektgruppen. Es ist wahrhaftig ein langer und mühseliger Weg, Jugendliche gegen braune Einflüsse resistent
zu machen und ihnen Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Dabei haben wir noch nicht das erreicht, was wir erreichen wollen. Die Bundeszentrale für politische Bildung legt deswegen einen besonderen politischen
Schwerpunkt auf diese Arbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe mit einem Zitat:
Endlich muss die Pest ja doch einmal erschöpfen.
Vielleicht verschwindet der Wahn, der so viele
Gemüter betört und unsere ganze Kultur um
100 Jahre zurückgeworfen hat.
Diese Sätze stammen nicht aus diesen Tagen, sondern von
dem Historiker Theodor Mommsen gegen Ende des
19. Jahrhunderts. Sie nehmen Stellung zu dem damaligen
Antisemitismusstreit. Ihre beklemmende Aktualität gut
100 Jahre später sollte uns wohl nachdenklich stimmen.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Jörg Tauss von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einer Berliner Tageszeitung ist heute von der „liberalen Meinungsdiktatur“ die Rede. Gemeint ist damit
wohl, dass es in unserer Gesellschaft Themen gibt, über
die man geflissentlich schweigt - Themen, die tabuisiert
sind. Damit kommen wir zu dem eigentlichen Problem
der heutigen Debatte. Denn Möllemann und die FDPSpitze bemühen sich, diesen gesellschaftlich geführten
Antisemitismusstreit als mehr oder minder inszenierten
„Tabubruch“ schönzureden. In diesem Zusammenhang
kann auch ich Herrn Möllemann zitieren:
Wir müssen Dinge aussprechen, die von anderen Politikern, aus welchen Gründen auch immer, tabuisiert
werden.
Über diesen Zusammenhang reden wir hier. Herr
Möllemann verbindet seine Äußerung mit der Nahostpolitik. Es ist kein Tabu in unserer Gesellschaft, die israelische Regierung zu kritisieren, Herr Kollege Schmidt, aber
es ist ein Tabu - darum haben Sie sich herumgemogelt,
wie übrigens die anderen Rednerinnen und Redner Ihrer
Fraktion auch -, mit antisemitischen Ressentiments Wahlkampf zu betreiben. Darum geht es in der Debatte, die wir
hier zu führen haben.
({0})
Dabei haben Herr Westerwelle und auch Herr Gerhardt zu
meinem großen Bedauern heute ihre Chance vertan.
Ich möchte noch einmal auf Herrn Möllemann zu sprechen kommen. Er sagte - das ist die Ursache der Debatte -,
jüdische Mitbürger seien selbst die Verursacher oder trügen sogar selbst Schuld am Anwachsen des Antisemitismus. Das ist kein Tabubruch und wir sollten an dieser
Stelle Tabubruch auch nicht mit Antisemitismus verwechseln. Dieses Zitat ist Antisemitismus.
({1})
Der Kollege Beck hat völlig zu Recht das AggressorZitat gebracht:
Ich würde mich auch wehren ... Und ich würde das
nicht nur im eigenen Land tun, sondern auch im Land
des Aggressors.
Was heißt das denn? Henryk M. Broder hat es sehr gut auf
den Punkt gebracht mit seiner Feststellung, nach diesem
Verständnis handelten deutsche Antisemiten und palästinensische Terroristen immer in Notwehr, egal, wie viele
Unbeteiligte sie mit in den Tod nähmen.
Nein, Widerstandsrecht anzuerkennen kann nicht
heißen, Selbstmordanschläge mit unschuldigen Opfern zu
legitimieren, und Widerstandsrecht darf nicht mit Terror
und Massenmord verwechselt werden. Auch hierzu hätten
Sie heute klare Aussagen treffen können.
({2})
Wenn es aber einen Tabubruch gegeben hat, dann, wie
gesagt, nicht den, dass die israelische Regierung oder Herr
Friedman nicht kritisiert werden könnten. Zu sagen, dass
man dies nicht könne, ist falsch. Das Problem liegt darin,
dass behauptet wird, man dürfe die israelische
Regierung oder Herrn Friedman nicht kritisieren, obwohl
man es in dieser Gesellschaft durchaus darf. Aus diesem
Grunde irrt Möllemann und aus diesem Grunde ist sein Verhalten so problematisch. Es scheint Kalkül dahinter zu stehen. Wer nach einigen Wochen der Diskussion nur noch von
einem Missverständnis redet, irrt sicherlich. Es geht in der
Tat um Populismus. Der Populist, so möchte er gesehen
werden, sagt frei heraus, was viele denken, sich aber nicht
zu sagen trauen. Was gesagt ist, bleibt gesagt. Darauf scheint
die Fußsohlenstrategie 18 zu setzen, nach der potenzielle
Rechtsliberale unterstellen, dass er, Möllemann, noch nicht
sagen darf, was er denkt, und ihn eben dafür wählen.
Möllemann kann man an dieser Stelle eigentlich vergessen;
denn Enzensberger hat es auf den Punkt gebracht: „Mittelmaß und Wahn verhalten sich komplementär zueinander.“
Damit ist zu Möllemann als Person eigentlich alles gesagt.
Es geht aber über Herrn Möllemann hinaus. Es geht darum, dass Herr Möllemann nicht nur dem Ansehen seiner
Partei, sondern auch dem unseres Landes geschadet hat.
Ich möchte einmal ein Beispiel bringen: Seit einigen Jahren lade ich israelische und deutsche Jugendliche nach
Berlin ein. Es waren jedes Mal spannende und interessante Begegnungen. Das Bedrückendste bei den letztjährigen Gesprächen war übrigens, dass die Jugendlichen
die Allgegenwärtigkeit ihrer Angst beschrieben haben,
dass sie geschildert haben, dass sie in keine Diskothek
mehr gehen können, dass sie kein normales Leben führen
können. Schon aus diesem Grunde gibt es keine Rechtfertigung für den Terror. Ich frage mich, wie ich diesen
jungen Menschen - in zwei Wochen wird wieder eine
Gruppe in Berlin sein - die Debatte, die wir jetzt führen,
und die Rechtfertigungen, die in dieser Debatte abgegeben werden, erklären soll. Wie soll ich erklären, dass sie
selbst schuld daran sein sollen, dass sie kein normales Leben führen können und dass palästinensische Selbstmordattentäter Unschuldige mit in den Tod reißen?
Salomon Korn hat Recht, wenn er feststellt, dass der
Tabubruch inszeniert sei. Leider muss man das um Folgendes ergänzen: Der Tabubruch ist inszeniert, um den eigentlichen Tabubruch, den Sie, meine Damen und Herren
von der FDP, begangen haben, zu verdecken. Deswegen
bleibt die Frage an Sie, Herr Westerwelle, bestehen - die
Antwort steht noch aus -: Handelt es sich bei diesem Tabubruch tatsächlich um eine persönliche Auseinandersetzung bzw. um Missverständnisse oder handelt es sich um
eine Strategie, die in Ihrer Wahlkampfzentrale - so kann
man es in der „Zeit“ nachlesen - sorgfältig geplant worden ist? Diese Frage haben Sie nicht beantwortet.
({3})
Im Gegenteil: In einem Interview, das morgen im „Stern“
erscheint, haben Sie, Herr Westerwelle, gesagt: „Tabuwächter können mir gestohlen bleiben.“
({4})
Das heißt, Sie setzen auf die jetzige Debatte noch einen
drauf. Diesmal werden wir Ihnen die entsprechenden Fragen nicht ersparen.
Auch Herr Westerwelle steht übrigens in einer Tradition interessanter Zitate. Er hat im Zusammenhang mit der
Debatte über unsere Geschichte gesagt, die Jugend müsse
vom Zwang befreit werden, mit gebeugtem Gang durch
das Leben zu laufen. Lieber Herr Westerwelle, ich bin als
Angehöriger der Nachkriegsgeneration mein ganzes Leben noch nicht gebeugt durch das Leben gelaufen. Aber
ich habe immer versucht, mich an das zu halten, was Herr
von Weizsäcker in seiner tollen Rede vom 8. Mai 1985 gesagt hat:
Bei uns ist eine neue Generation in die politische
Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen
- das gilt übrigens auch für viele alte Menschen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in
der Geschichte daraus wird.
Vor diesem Hintergrund kann man im Zusammenhang mit
dem, was wir in den letzten Tagen erleben, nur von zentralem Versagen sprechen.
({5})
Sie versuchen, die deutsche Politik aus der historischen
Verantwortung herauszureißen und darauf Ihren Wahlkampf zu begründen.
({6})
Herr Westerwelle, distanzieren Sie sich von Herrn
Möllemann! Bringen Sie die FDP auf ihre traditionelle Linie zurück! Das, was im Moment geschieht, hat mit einer
liberalen Partei nichts zu tun, in deren Namen Sie noch
heute zu reden glauben.
({7})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Andrea Nahles, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen
konnte man immer wieder beobachten, wie sich die FDP
gefreut hat, da sie - angeblich - so viel Zuspruch insbesondere von jüngeren Menschen in Deutschland bekommen hat, und zwar deshalb, weil endlich jemand frei
über das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte
spricht. Es sei als Belastung empfunden worden, dass das
vorher niemand getan habe. Hier genauso wie in der Debatte über das deutsch-israelische Verhältnis inszeniert
sich Möllemann als großer Tabubrecher. Ich sage dazu:
Wir brauchen Herrn Möllemann nicht. Wir brauchen auch
keine Enttabuisierung. Wir brauchen vielmehr eine verantwortliche Erinnerungskultur in Deutschland. Wer als
Jugendlicher oder junger Erwachsener in 20 oder 30 Jahren politische Verantwortung in Deutschland übernimmt,
kann dies nicht ohne Erinnerung und Wissen über den Holocaust und seine Folgen tun.
({0})
Dies gilt übrigens für junge Menschen nicht nur in
Deutschland, sondern auch in jedem anderen Land der
Welt. Es geht nämlich nicht um eine Schulddebatte. Viele
jüngere Menschen können mit einer solchen Debatte - berechtigterweise - gar nichts mehr anfangen. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, was passiert ist, den Wert
unserer heutigen demokratischen Grundordnung zu erkennen und unsere Demokratie zu verteidigen.
({1})
Es geht außerdem darum, Vorurteile sowie rassistische
und antisemitische Strömungen als gefährliche Irrwege zu
erkennen, ihnen entgegenzutreten und einer Politik, die
diesen Strömungen Vorschub leistet, nie wieder auch nur
die leiseste Chance in Deutschland zu geben.
({2})
Genau deshalb ist es unverantwortlich und unentschuldbar, dass Möllemann mit antisemitischen Denkschablonen hantiert. Er manipuliert Erinnerung, er verwischt Unterschiede und er deutet Geschichte um. Das
können wir nicht akzeptieren.
({3})
Herr Westerwelle, Sie haben sich heute hier darüber
empört, dass dies eine Wahlkampfveranstaltung sei. Wer
den Wahlkampf als inhaltsleeres Projekt „18 Prozent“ inszeniert, wie Sie das tun, hat nicht die Legitimation, hier
mit dem Finger auf andere zu zeigen. Das will ich ganz
deutlich sagen.
({4})
Sie tun mir im Übrigen auch fast Leid: erst großspurig
Kanzlerkandidat und dann ohne Übergang Zaunkönig,
({5})
das ist schon ein schwerer Absturz, Herr Westerwelle.
({6})
Aber Leid tun Sie mir wirklich nur fast. Denn wenn man
den „Stern“ liest, stellt man fest, dass Sie sich sogar damit
brüsten - ich zitiere -:
Es ist der FDP zu verdanken, dass die Schill-Partei
nicht im Landtag von Sachsen-Anhalt sitzt.
({7})
- Ja, das steht wortwörtlich darin.
Die FDP will Protestpartei sein. Ich sage Ihnen etwas:
Protest ohne eigenen Standpunkt ist Populismus,
({8})
ein Populismus, der die Tür für mehr öffnet. Eine Partei,
die sich unter ihrem Vorsitzenden Westerwelle hemmungslos dem Populismus öffnet, darf sich nicht wundern, wenn Möllemann mit Rechtspopulismus auf
Wählerfang geht.
({9})
Es geht heute nicht um Wahlkampf
({10})
- lassen Sie mich das zum Schluss sagen -, es geht um die
FDP. Sie sind der Vorsitzende der FDP. Er muss Richtung
vorgeben und er muss auch Mehrheiten für seine Richtung
organisieren können. Bis heute ist offen geblieben, Herr
Westerwelle, ob Sie das einfach nicht können oder ob Sie
es nicht wollen. Auf diese Klarstellung wartet das gesamte
Haus.
({11})
Wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 6. Juni 2002, 9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.