Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ende der 80er-Jahre waren die Menschen auf allen
Kontinenten über Naturkatastrophen, Waldbrände, Hitze,
die Dürre in den Vereinigten Staaten von Amerika, Verschmutzungen des Wassers und Artensterben beunruhigt.
Man konnte spüren, dass sich unser Leben veränderte.
Man konnte die Veränderung auch daran spüren, dass
plötzlich die großen Rückversicherer dieser Welt Naturkatastrophen als ein Element ihrer Versicherungspolitik
materialisiert haben. Die politische Antwort - sie war richtig und vernünftig - war die große Konferenz für Umwelt
und Entwicklung in Rio de Janeiro. Damals hat
Deutschland unter Leitung des Bundeskanzlers Helmut
Kohl mit Umweltminister Klaus Töpfer und Hans-Peter
Repnik aus dem Entwicklungshilfeministerium eine ganz
wesentliche Rolle zum Gelingen dieses Prozesses beigetragen. Dafür noch einmal herzlichen Dank.
({0})
Ich glaube - wir sind uns darüber einig -, dass der Prozess von Rio bis Johannesburg unumkehrbar ist. Alle, die
sich für die Lösung von Umweltproblemen einsetzen und
die sich für die Entwicklungshilfe engagieren, können sagen, dass sie die notwendigen politischen und gestalterischen Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung mit der Konferenz in Rio zum ersten Mal in dem
gesamten Umfang erkannt haben. Das war ein Meilenstein der Weltzusammenarbeit. Unseren Anteil daran lassen wir uns nicht wegnehmen.
({1})
Es ist schade, Herr Bundeskanzler, dass Sie über das
eigentlich Bedeutende nicht gesprochen haben, nämlich
dass in Bezug auf die Nachhaltigkeit Ökologie, Ökonomie und Soziales nicht mehr gegeneinander standen.
({2})
Es wurde der Wunsch geäußert, weltweit Strategien zu suchen, mit denen nicht der eine Bereich gegen den anderen
ausgespielt wurde, sondern mit denen gemeinschaftlich
vorgegangen werden konnte.
({3})
Wir alle haben das Problem, dass der sperrige Begriff
der Nachhaltigkeit nur sehr schwer bei den Menschen ankommt. Ich habe erlebt, dass auf der Berliner Klimakonferenz der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl vor Vertretern von 130 Ländern von der Nachhaltigkeit als der
gemeinsamen Verantwortung für unsere Mutter Erde gesprochen hat.
({4})
Ich habe damals erlebt, dass dies die Menschen und Politiker aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa gerührt
hat. Wir brauchen diese Rührung, um uns unserer Gesamtverantwortung für die Welt bewusst zu werden.
({5})
Weil man bei dieser Debatte über Artenschutz, Klimaschutz, Nachhaltigkeit und internationale Institutionen einen langen Atem braucht, weil man dicke Bretter bohren
muss und weil wir diesen Prozess in vielen Fragen gemeinschaftlich in diesem Hause gestaltet haben, möchte
Gerhard Schröder, Bundeskanzler
ich einmal all den Ehrenamtlichen in Umweltorganisationen und in Entwicklungshilfeorganisationen, die die Politiker in diesem internationalen Prozess begleiten, danken
und möchte ihnen sagen: Das sollte auch weiterhin so
sein; das war eine tatkräftige Unterstützung in die richtige
Richtung.
({6})
Nun ist es doch überhaupt keine Frage, dasss Globalisierung, wenn wir sie richtig gestalten, mehr Chancen als
Risiken für uns bringt. Es ist doch überhaupt keine Frage,
dass die Alternative zur Globalisierung Isolation wäre. Das
will niemand, das können wir nicht, das wollen wir nicht.
Aber, Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Recht von den
Ängsten der Menschen gesprochen, weil sie spüren, dass
sich etwas verändert, und weil sie wissen wollen, wie die
Politik diese Veränderungen begleitet. Natürlich kommt
es auf die persönlichen Erfahrungen der Menschen mit
dieser Globalisierung an. Es kommt auf die Frage an: Wie
antworten wir darauf, dass weltweit die Dinge vernetzt
sind, dass sie viel transparenter sind, dass wir nicht mehr
allein national agieren können? Dazu sagen wir: Wir müssen wieder ganz konsequent bei den Grundgedanken der
sozialen Marktwirtschaft anknüpfen, weil sie die gute
deutsche Antwort auf die Bewältigung der Widersprüche
zwischen Kapital und Arbeit war und weil sie auch die
Antwort auf die Widersprüche zwischen den internationalen Kapitalströmen und den sozialen und ökologischen
Bedürfnissen sein wird. Deshalb ist unser Ziel: soziale
Marktwirtschaft auf allen Ebenen.
({7})
Dazu wird natürlich die Integrationskraft insbesondere
der großen Parteien benötigt. Aber ich möchte Sie wirklich
warnen, jetzt unentwegt mit den plattesten Erklärungsmustern für Parteientwicklungen in unseren Nachbarstaaten
anzukommen. Schauen Sie sich doch selber an, was mit
Ihrer Sozialdemokratie in den neuen Bundesländern passiert ist. Sie sind bereits in drei Ländern drittstärkste Kraft
geworden, weil Sie es nicht geschafft haben, dort die
große Integrationsleistung zu bringen, die eigentlich erwartet wurde.
({8})
Wenn wir Nachhaltigkeit in unserem Land richtig machen wollen, dann müssen wir eben fähig sein zum neuen
Denken.
({9})
Dann müssen wir uns von alten ideologischen Vorhaben,
die wir schon seit Jahrzehnten mit uns herumtragen, verabschieden.
({10})
Dann müssen wir nach effizienten Wegen suchen und
schauen, wie wir unsere Ressourcen vernünftig einsetzen.
({11})
Wenn ich mir zum Beispiel die gesamte Diskussion über
die Verpackungsverordnung angucke und nun lese, es
werde erwogen, dass Milchkartons auch noch bepfandet
werden sollen, kann ich nur sagen: Wir vergeuden hier
Ressourcen und setzen sie nicht richtig ein für das, was
wirklich wichtig ist auf dieser Welt.
({12})
Ich erinnere mich an die Zeiten, als wir uns in diesem
Hause eigentlich sehr einig darüber waren, dass wir bis
zum Jahr 2005 eine CO2-Minderung von 25 Prozent erreichen wollten. Herr Bundeskanzler, ich finde es schon
interessant, dass Sie dazu kein einziges Wort gesagt haben.
Wahrscheinlich haben Sie sich von der Vorstellung verabschiedet, dass Sie 2005 noch an der Regierung sein werden. Vor diesem Hintergrund ist die Sache verständlich.
({13})
Aber ansonsten ist es doch schon erstaunlich, dass Sie bei
15,4 Prozent CO2-Minderung im Jahre 2001 zu der Frage,
wie Sie auf 25 Prozent CO2-Minderung im Jahre 2005
kommen wollen, in dieser Debatte keine einzige Aussage
gemacht haben.
Was hat denn eigentlich die CO2-Minderung gebracht?
Sie ist zum Teil durch die Verhältnisse der deutschen Einheit erbracht worden. Wir sind uns darüber einig: Dafür
kann keiner von uns etwas. Dann stellt sich aber die
Frage: Welches Instrument war eigentlich effizient in Bezug auf die CO2-Minderung? Effizient waren die Selbstverpflichtungen der deutschen Wirtschaft, weil die Industrie den wesentlichen Beitrag zur CO2-Reduktion in
Deutschland geleistet hat. Dieses Instrument wurde von
uns eingeführt, von Ihnen erst bekämpft und dann klammheimlich auch akzeptiert, weil Sie gar keine andere Antwort haben.
({14})
Wir wissen genau: Der zweite effiziente Weg, um dieses Ziel zu erreichen, sind massive Investitionen in die
Wärmedämmung. Das ist gleichzeitig noch eine gute Tat
für die Bauwirtschaft.
({15})
Auch diesen Weg sind Sie nicht in ausreichender Weise
gegangen, sondern Sie haben Geld für ganz andere Vorhaben gegeben.
({16})
- Dass Sie den Weg nicht ausreichend gegangen sind,
sehen wir doch nun an den Fortschritten. 15,4 Prozent
CO2-Minderung sind weit entfernt von 25 Prozent. Deshalb muss man da mehr tun.
({17})
Weil Herr Trittin - ich will jetzt gar nicht lange über
Kernenergie sprechen - und Herr Müller über die AusDr. Angela Merkel
wirkungen des Ausstiegs aus der Kernenergie zutiefst zerstritten sind, haben Sie von Ihrem Ziel, bis 2020 den Umfang des CO2-Ausstoßes um 40 Prozent zu reduzieren,
klammheimlich Abstand genommen. In den von Herrn
Müller vorgelegten Berichten steht richtigerweise, dass
die durch den Ausstieg aus der Kernenergie erforderliche
Kompensation in Bezug auf die CO2-Minderung Investitionen in Höhe von 250 Milliarden DM bedeutet. Da Sie
die Mittel dafür nicht haben, haben Sie dieses Ziel aufgegeben. Das ist die Wahrheit.
({18})
Ein angemessener Umgang mit den Ängsten der Menschen heißt, ihnen die Erfahrung zu vermitteln, dass Globalisierung sie nicht ruiniert. Wenn Sie mit Nachhaltigkeit
international umgehen wollen, dann müssen Sie lernen, die
Entscheidung auf der richtigen Ebene zu treffen. Bestimmte Entscheidungen, zum Beispiel in der Landwirtschaftspolitik, müssen heute in Europa getroffen werden.
Wenn man auf europäischer Ebene die Käfighennenhaltung bis zum Jahre 2011 unterbinden will - ich unterstütze
das -, dann ist es falsch, dafür in Deutschland schon bis
2006 sorgen zu wollen; denn dadurch - darüber wundern
Sie sich - verlassen viele Betriebe unser Land und die
Menschen, die auf diesem Gebiet tätig waren, haben keine
Arbeit mehr. Das ist die Wahrheit.
({19})
Herr Bundeskanzler, in Ihrem Heimatland Niedersachsen gibt es 68 Betriebe mit Legehennenhaltung. Von diesen 68 Betrieben haben sich nach einer Umfrage 62 schon
heute entschlossen, ins Ausland zu gehen. Der weiteste
Weg führt bis nach Russland; ein nicht ganz so weiter Weg
führt bis nach Tschechien. Solche Erfahrungen machen
die Menschen mit Ihrer Art von Politik. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung sagen sie: Globalisierung ruiniert
mein Leben! - Das muss nicht so sein; aber Sie sind dafür
verantwortlich, dass es bisher so ist.
({20})
Wir sind uns einig, dass die größten Aufgaben in einem
dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Fläche liegen. Sie haben hinsichtlich
der Reduktion des Flächenverbrauchs ein unglaublich
ehrgeiziges Ziel aufgestellt. Das ist unser größtes Problem. Auch wir haben nicht auf alle damit verbundenen
Fragen Antworten. Heutzutage liegt der Flächenverbrauch
pro Tag bei rund 130 Hektar. Sie sprechen von einem
Flächenverbrauch von 30 Hektar pro Tag. Ich vermisse
jede Forschungsstrategie, jede Anstrengung, durch die angedeutet wird, wie Sie eine Verringerung des Flächenverbrauchs erreichen wollen. Von einer vernünftigen Zusammenarbeit mit den Kommunen kann gar keine Rede sein.
({21})
Frau Künast hat es in ihrer kurzen Amtszeit geschafft
- das ist bemerkenswert -, den ökologischen Landbau
gegen den konventionellen Landbau auszuspielen.
({22})
Dafür haben Sie, Herr Bundeskanzler, den Grundstein gelegt. Sie reden nur noch vom Ausbau der ökologischen
Landwirtschaft. Die 97 Prozent der Betriebe, die konventionell arbeiten, kommen in den Reden der Frau Landwirtschaftsministerin überhaupt nicht vor. Sie fühlen sich
dadurch benachteiligt, obwohl sie einen riesigen Beitrag
zur Nachhaltigkeit geleistet haben.
({23})
- Herr Schlauch, Herr von dem Bussche ist aus dem
Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung ausgetreten, weil
er es dort nicht mehr ausgehalten hat, nachdem von höherer Ebene alles doktriniert wurde. Er hat gesagt: Gegen die
Menschen, insbesondere gegen die Bauern, in Deutschland sollte man keine Politik machen.
({24})
Der eigentliche Punkt ist: Man wird Nachhaltigkeit in
diesem Lande nicht gegen die Menschen, sondern nur mit
ihnen durchsetzen können. Schon heute werden 5 Millionen Hektar im Rahmen des Vertragsnaturschutzes bewirtschaftet. Geben Sie doch dem Vertragsnaturschutz
wieder den Vorrang, damit die Menschen selbst Initiativen
ergreifen können!
({25})
Was bedeutet Nachhaltigkeit? Herr Bundeskanzler, ich
glaube, wir sind uns einig: Nachhaltigkeit bedeutet vor allem Investitionen in die Zukunft. Wenn man sich den
Bundeshaushalt und insbesondere die Investitionsquote
anschaut,
({26})
dann stellt man unschwer fest - darüber kann man aus mathematischen Gründen gar nicht verschiedener Meinung
sein -, dass die Investitionsquote in den letzten vier Jahren, also in Ihrer Amtszeit, von über 12 Prozent auf
10 Prozent gesunken ist. Das ist die Wahrheit.
({27})
Nun muss man sich ja doch wundern. Wenn man Ihre
Koalitionsvereinbarung aus dem Jahre 1998 zur Hand
nimmt, dann liest man das ehrenwerte Ziel, dass Sie die
Lohnnebenkosten unter 40 Prozent bringen wollten. Das
haben wir unterstützt; das fanden wir richtig. Jetzt fangen
Sie an, uns vorzuwerfen, dass wir dieses Ziel von Ihnen
übernommen hätten. Wir glauben, wir haben die Mittel
und Methoden, um es zu erreichen. Das können Sie mit
uns nun wirklich nicht machen, Herr Bundeskanzler.
Schauen Sie einmal in Ihre eigene Koalitionsvereinbarung und sehen Sie, was Sie geschafft haben und was
nicht.
({28})
Dann haben Sie die Weisheit besessen, dem Herrn
Bundeswirtschaftsminister die Kompetenz für den Jahreswirtschaftsbericht zu nehmen.
({29})
Der Bundeswirtschaftsminister hat sich zu wehren gewusst und gibt nun parallel einen Wirtschaftsbericht heraus.
Dieser ist mindestens so lesenswert wie der Jahreswirtschaftsbericht, weil er noch größere Teile von Wahrheit
enthält, da der Bundeswirtschaftsminister ihn nicht ganz
so scharf mit den anderen Ressorts abstimmen muss, weil
er ihn ja aus eigener Initiative erstellt.
({30})
Das ist in diesem Sinne also eigentlich gar nicht schlecht.
Da wiederum liest man, dass auch der Wirtschaftsminister der Meinung ist, dass die Staatsquote selbstverständlich bei 40 Prozent liegen sollte.
({31})
Deshalb kann ich nur sagen: Sie können nicht Ihre eigenen Leute kritisieren und uns das in die Schuhe schieben.
Wir finden das Ziel richtig. Wir finden, dass er das gut gesagt hat; aber er kann das leider nicht umsetzen, weil er
keine Macht hat. Deshalb werden wir das mit Lothar
Späth anders machen.
({32})
Dass Sie die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in dieser Legislaturperiode verdoppeln wollten, haben wir uns doch nicht ausgedacht, sondern Sie haben es
auf Ihren Garantiekarten deutschlandweit verteilt. Jetzt
schalten Sie Anzeigen in den großen deutschen Zeitungen - ob das vier Monate vor der Wahl alles in Ordnung
ist, sei einmal dahingestellt -, dass Sie bei 15,5 Prozent
Steigerung angekommen sind. Das ist ein Fünftel dessen,
was Sie den Deutschen versprochen haben. So entsteht
Verdruss an der Politik und nicht Glaube an die Gestaltungskraft.
({33})
Dann, Herr Bundeskanzler, stand in Ihrem Redetext
- ich glaube, Sie haben es gar nicht mehr gesagt -, das
Wichtigste bei Nachhaltigkeit sei: global denken und
lokal handeln.
({34})
Wenn wir einmal zum lokalen Handeln kommen, dann
kann ich Ihnen nur sagen: Dies war die Legislaturperiode
des größten Verdrusses für alle kommunalen Handlungsträger. So etwas hat die Republik noch nicht erlebt.
({35})
Die Kommunen sind zugunsten des Bundeshaushaltes
gemolken worden.
({36})
Sie sind in die Situation einer Verschuldung, einer beklemmenden Finanzsituation gekommen.
({37})
- Auch Sie alle haben doch Wahlkreise. Sprechen Sie
doch einmal mit Ihren Oberbürgermeistern und Landräten, so Sie welche haben! Die werden Ihnen sagen, was
Sache ist.
({38})
Wo kommt denn die Sache mit dem blauen Brief her?
Sie kommt doch daher, dass das Staatsdefizit auf 2,6, 2,7,
2,8 oder 2,9 Prozent ansteigen wird. Da Sie ja einen so toll
sanierten Bundeshaushalt haben, kann das doch nur von
den Ländern und Kommunen kommen. Genau dort haben
Sie Ihre Schulden hingeschoben.
({39})
Schauen Sie sich doch einmal die Steuerreform an:
23,7 Milliarden Mindereinnahmen an gewerblichen Steuern im vergangenen Jahr auf der kommunalen Ebene! Das
ist die bittere Wahrheit für die deutschen Kommunen und
das muss man immer wieder deutlich sagen.
({40})
Herr Bundeskanzler, ob es nun wirklich eine soziale
und gerechte Politik ist, wenn nach der Steuerreform von
Herrn Eichel der Verkauf von Reemtsma für 7 Milliarden Euro an Imperial Tobacco in Großbritannien, weltweit einzigartig, für die Hansestadt Hamburg ohne Einnahmen von Steuern vonstatten geht, frage ich mich ganz
besorgt.
({41})
Deswegen werden wir das genauestens überprüfen. Ich
finde, das hat mit Gerechtigkeit nur bedingt etwas zu tun.
({42})
Lokal handeln, das ist in der Tat die Devise. Deshalb
sollten Sie nicht den Weg gehen - wie Sie selber sagen,
unzuständigkeitshalber -, den Kommunen Geld für die
bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für
die Betreuung sozusagen mit der Gießkanne zu geben,
sondern Sie sollten den Bürgermeistern das Geld in die
Hand geben. Die bauen dann die Kindergärten und Ganztagsbetreuungseinrichtungen. Genau so ist es!
({43})
Meine Damen und Herren, daran erkennen Sie den eigentlichen Unterschied zwischen Christdemokraten und
Sozialdemokraten: Wir glauben an die Verantwortlichkeit
der Menschen. Wir glauben an den Einzelnen. Sie glauben nur an Dirigismus, an den Staat, an Bürokratie und
Zentralismus. Das unterscheidet uns. Dazu stehen wir.
Dazwischen können sich die Menschen entscheiden.
({44})
Gestatten Sie mir bitte noch ein letztes Wort.
({45})
Ich habe den Eindruck, Ihr Generalsekretär, Herr
Müntefering, hat die Devise ausgegeben, dass nun permanent Falschheiten
({46})
im Hinblick auf die Frage, wie wir mit Familien, mit
Frauen und Männern, umgehen wollen, verbreitet werden
sollen. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen,
will ich es Ihnen einmal ganz ruhig sagen: Unsere Meinung ist, dass wir den Menschen nicht vorschreiben, wie
sie leben sollen, sondern dass die Menschen darüber
selbst entscheiden können. Das hat wieder etwas mit dem
Menschenbild zu tun.
({47})
Da die jungen Frauen, die gut ausgebildet sind, in ihrer
Vielzahl genauso wie die jungen Männer Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen, heißt das, dass die
freie Entscheidung, wie ich leben will, auch damit verbunden ist, verbesserte Möglichkeiten der Kinderbetreuung einzuführen,
({48})
und zwar vielfältige. Nicht jedes Kind soll in die Ganztagsschule kommen. Die Kinderbetreuung soll so aussehen, wie das die Menschen vor Ort wollen.
({49})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hanna Wolf?
Nein, gestatte ich
nicht.
Unsere Vorstellung bedeutet, dass wir natürlich die
Kinderbetreuung, also die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf, voranbringen wollen. Aber wir wollen etwas Weiteres erreichen - das hat wieder mit Leistungsgerechtigkeit zu tun -: Diejenigen, die nicht viel verdienen und
zwei oder drei Kinder haben, sollen am Monatsende nicht
weniger in der Tasche haben als diejenigen, die von der
Sozialhilfe leben.
({0})
Genau aus diesem Grunde haben wir gesagt: Derjenige,
der arbeitet, soll für sein Kind genauso viel bekommen,
wie er bekommen würde, wenn er in den ersten zwei Jahren von der Sozialhilfe abhängig wäre, also ein Erziehungsgeld plus die Sozialhilfeleistungen. Das sind genau
600 DM bzw. 300 Euro.
({1})
Das dient nicht dem Zu-Hause-Bleiben. Sie sagen doch
auch nicht: Diejenigen Menschen, die Sozialhilfe bekommen, sollen zu Hause bleiben. Das ist doch ein absurdes
Zeug, das Sie da vorbringen, um uns zu verleumden.
({2})
Dieses Familiengeld wird im Übrigen den Vorzug haben, dass nach dessen Einführung nicht mehr 1 Million
Kinder in Deutschland von der Sozialhilfe abhängig sind.
Unser gemeinsames Interesse, also nicht nur unser Interesse, ist ja wohl, dass sich das ändert.
({3})
- Gerade wird wieder der Zuruf gemacht: Sie hatten doch
16 Jahre Zeit. - Ich sage Ihnen ganz klar: Wir haben dazugelernt.
({4})
- Im Gegensatz zu Ihnen haben wir dazugelernt. - Wir haben uns überlegt, warum wir 1998 die Wahl verloren haben. Das Thema Familie war ein Grund dafür. Deshalb
werden wir jetzt andere Wege gehen. Die Menschen werden das honorieren.
({5})
Nach Ihren Ausführungen muss ich Sie, Herr Bundeskanzler, fragen: Was ist eigentlich das Gegenteil von
Nachhaltigkeit?
({6})
Das Gegenteil von Nachhaltigkeit ist: versprochen und
anschließend gebrochen.
({7})
Denn bei dem, was fälschlicherweise versprochen wurde,
wurde eben nicht an die Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit
in der Zukunft gedacht. Genau das wäre Nachhaltigkeit.
Deshalb sage ich Ihnen: Nachhaltigkeit ist, wenn sich
Leistung in einem Land wieder lohnt.
({8})
Wenn die Menschen spüren, dass sich aus der gerechten
Bewertung von Leistung neue Sicherheit entwickelt, dann
brauchen sie keine Angst vor Globalisierung zu haben.
({9})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, ist es eben wichtig, dass
Taten statt Worte kommen. Deshalb ist jetzt Zeit für Taten
und nicht für ruhige Hände.
({10})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, wird sich am 22. September etwas in diesem Land ändern.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort
Bundesminister Hans Eichel.
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Merkel, es
ist ja schön, dass Sie in den letzten vier Jahren dazugelernt
haben. Ganz offenkundig haben Sie nicht hinreichend dazugelernt.
({1})
Zu der ersten Hälfte Ihrer Rede - dazu werden der Kollege Trittin und der Kollege Fischer sicherlich noch eine
ganze Menge sagen - will ich nur sagen, dass Herr Töpfer
damals die Ökosteuer gewollt hat - er will sie bis heute -,
dass Sie sie damals gewollt haben und Herr Repnik sie damals gewollt hat. Wenn Sie auch in diesem Punkt noch dazulernen würden - vielleicht ringen Sie sich dazu durch -,
wären wir einen ganzen Schritt weiter.
({2})
Sie sind ja auf Hennenhaltung und anderes ausgewichen; ich aber will darüber reden, was Nachhaltigkeit
in zentralen Fragen der Innen- und Finanzpolitik bedeutet.
Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik, sehr verehrte
Frau Merkel, heißt zuallererst, dass wir unsere heutigen
Probleme heute lösen und sie nicht von künftigen Generationen bezahlen lassen.
({3})
Genau das haben Sie nämlich gemacht. Die Wiedervereinigung und ihre Finanzierung mussten sein - jawohl.
({4})
Aber die Freudenfeste 1990 feiern und die Kinder und Enkel dafür bezahlen lassen war schäbig und stellt uns heute
vor Probleme.
({5})
Im Übrigen sind ja gerade Sie die „besten“ Ratgeber
für die Senkung der Lohnnebenkosten. Sie haben die
Lohnnebenkosten ja die ganze Zeit in die Höhe getrieben!
Sie haben doch einen großen Teil der Kosten der Wiedervereinigung den Lohnnebenkosten aufgebürdet, weil da
gerade volle Töpfe vorhanden waren. Sie haben doch damit die Möglichkeiten am Arbeitsmarkt kaputtgemacht.
({6})
Es kommt ja auch nicht von ungefähr, dass zu Ihrer Regierungszeit der Höchststand der Arbeitslosigkeit erreicht
worden ist, auch wenn Sie im Lande immer etwas anderes erzählen wollen. Im Winter 1998 sind wir knapp an der
5-Millionen-Grenze vorbeigeschrammt. Das ist der Sachverhalt: Die höchste Arbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung fällt in Ihre Regierungszeit.
({7})
Es kommt auch nicht von ungefähr, dass die Zahl der
Arbeitsplätze, die zu Ihrer Zeit verloren gegangen sind,
nämlich rund 1,2 Millionen, während unserer Regierungszeit neu entstanden sind. Die höchste Beschäftigungszahl nach der Wiedervereinigung war im Jahr 2001,
zu unserer Regierungszeit!
({8})
Selbst der leichte Konjunkturabschwung, den wir gehabt
haben, wird davon vielleicht 80 000, wie die Sachverständigen sagen, wegnehmen. Aber 1,1 Millionen mehr
Beschäftigte als zu Ihrer Regierungszeit - das ist unsere
Bilanz!
({9})
Woher kommt denn das? - Wir wissen, dass es nicht
gut gehen kann, wenn man Jahr für Jahr immer mehr Geld
ausgibt, als man hat. Damit verbaut man nämlich der
nächsten Generation die Zukunft. Zu Ihrer Diskussion bezüglich der Staatsquote möchte ich Folgendes sagen: Auf
der nach unten offenen Richterskala, wer die niedrigste
Staatsquote bietet - ({10})
- Ach, Herr Michelbach. Ich habe in der Humboldt-Universität eine Rede gehalten und gesagt: 2012 könnte ich
mir so etwas wie 40 Prozent Staatsquote vorstellen. Nur,
Sie können doch nicht immer höhere Schulden machen
und gleichzeitig die Staatsquote senken wollen. Dann ist
der Staat am Ende. Was ist denn die Voraussetzung für die
Senkung der Steuerquote? Sie müssen die Schulden abbauen. Das ist das eigentliche Problem.
({11})
Wer hat uns denn einen Zinsendienst in Höhe von
3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes hinterlassen? Das
waren doch Sie, meine Damen und Herren! Damit muss
man Schluss machen. Mit dem Europäischen Stabilitätspakt ist es doch nicht getan, sondern es geht weiter: Es
geht um die Frage, wie dieses Land in der Zukunft mit der
alternden Gesellschaft fiskalisch fertig wird. Das ist eine
riesige Herausforderung. Es kann nicht sein, dass die Gesellschaft immer älter wird und wir gleichzeitig unseren
Kindern und Enkeln einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. Das geht nicht.
({12})
Das hieße, unseren Kindern die Zukunft zu verbauen.
Ich will bei dieser Gelegenheit sagen: Ich freue mich,
dass mein neuer französischer Kollege Francis Mer in diesem Punkte - unbeschadet dessen, was man gegenwärtig
in der Zeitung liest - klar die Haltung vertritt, dass wir unabhängig von allen anderen Fragen über den Stabilitätspakt hinaus müssen. Es geht nicht nur darum, zu ausgeglichenen Haushalten zu gelangen. Es geht darum, von
den Staatsschulden, die Sie aufgehäuft haben, wieder herunterzukommen. Das ist die entscheidende Zukunftsaufgabe.
({13})
In Ihrem Wahlprogramm kommt im Hinblick auf das
Ziel, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen,
das Jahr 2006 übrigens nicht mehr vor. Ich frage mich, wie
Sie denn eigentlich mit dem Europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt umgehen wollen. Ihre Kraft hat nur dazu
gereicht, das den anderen einzureden. Aber eine solche
Politik bei uns zu Hause zu machen haben Sie nicht fertig
gebracht.
({14})
Diesen harten Weg gehen wir konsequent. Darin liegt auch
eine Verantwortung für unsere gemeinsame Währung. Wo
sind Sie als ehedem gute Europäer denn mit Ihrer tatsächlichen Politik gelandet?
Zum zweiten Punkt: Nachhaltigkeit in der Steuerpolitik. Nachhaltigkeit in der Steuerpolitik heißt, nicht
Steuersenkungen zulasten der Erhöhung der Staatsverschuldung zu machen. Das ist Betrug an den Menschen;
denn die Zinsen müssen hinterher über Steuern bezahlt
werden.
({15})
Deswegen müssen diese beiden Punkte zusammengebracht werden.
Schauen Sie einmal auf die 80er-Jahre: Gerhard
Stoltenberg hatte Recht, als er sagte, eine Steuersenkung
müsse erst durch Ausgabenbegrenzung erarbeitet werden,
sonst könne man sich das gar nicht leisten. Recht hatte der
Mann.
({16})
Halten Sie sich doch endlich einmal daran! Anders können Sie in Europa überhaupt nicht zurechtkommen. Deswegen: Steuersenkungen zur Ankurbelung des Wachstums? - Ja, und zwar in großen Schritten, aber eingebettet
in die Strategie: heraus aus der Schuldenfalle und hin zu
ausgeglichenen Haushalten!
({17})
Nachhaltigkeit im Haushalt heißt, nicht für Schulden
aus der Vergangenheit Zinsen zahlen zu müssen, sondern
Geld für die Zukunftsaufgaben zu haben. Ich bin - dies
zum Investitionsbegriff - sehr wohl für hohe Investitionen, aber nicht alles, was Beton und Asphalt ist, ist Zukunft.
({18})
Die wichtigste Zukunftsinvestition ist die in die Köpfe unserer jungen Leute. Was aber haben Sie denn mit den Bildungsausgaben gemacht? BAföG war doch Ihre Sparkasse. Aus 650 000 mit BAföG geförderten Studenten
haben Sie 350 000 gemacht.
({19})
Kollege Eichel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glos?
Ja, gerne.
Herr Bundesminister, halten Sie es für eine nachhaltige Förderung der Aktienkultur und für eine nachhaltige Konsolidierung, wenn Sie,
wie geschehen, den Kleinaktionären millionenfach die
Telekom-Aktien der dritten Tranche für 66,5 Euro aufschwatzen, um kurze Zeit später die ganze Branche anzuschießen, indem Sie die UMTS-Lizenzen für 100 Milliarden DM versteigern?
({0})
Glauben Sie, dass Sie bei uns im Land dadurch nachhaltig Vertrauen erweckt haben?
({1})
Sehr geehrter Herr Glos, ich erinnere mich noch, wie Sie hier erzählt haben, welch große Chancen in der Privatisierung
der Telefondienstleistungen liegen. In Ihrem Wahlprogramm lese ich jetzt: Sie wollen zusätzliche Maßnahmen
für den Aufbau Ost aus dem weiteren Verkauf von Telekom-Aktien herleiten.
({0})
Das habe ich in Frankfurt vor den versammelten Größen
der deutschen Wirtschaft erzählt - schallendes Gelächter!
({1})
Sie bringen mich da gar nicht aus dem Konzept.
Was haben Sie mit den Familien gemacht? Frau
Merkel, das war doch die Bankrotterklärung:
({2})
Geben Sie den Leuten das Geld, dann werden die die Kindergärten selber bauen. - Das ist Ihre Philosophie!
({3})
Wissen Sie denn gar nicht, wer das im Land macht?
({4})
In jeder Versammlung - ich sage Ihnen, hier freue ich
mich besonders - werden Sie mit Ihrem Familiengeld
Schiffbruch erleiden. Worin besteht das Problem für die
Familien, vor allem für die Frauen, obwohl wir das Kindergeld so stark erhöht haben? Die Kinderbetreuungseinrichtungen sind nicht da. Deswegen können die Familien
nicht auswählen, sehr geehrte Frau Merkel.
({5})
Nicht einmal Ihre Freunde aus der Wirtschaft finden
das gut, weil alle wissen, dass diese Politik gescheitert ist.
Sie müssen überdecken, dass Sie Jahrzehnte, insbesondere im Stammland Ihres Kanzlerkandidaten, in diesem
Fall völlig versagt haben, weil Sie einem veralteten konservativen Frauen- und Familienbild hinterhergelaufen
sind.
({6})
Die Nachhaltigkeit, über 20 Jahre hinweg den Aufbau
Ost zu sichern, kann sich nur jemand glaubwürdig leisten,
der seine Finanzen in Ordnung hat. Deswegen sage ich Ihnen: Sie werden am 22. September keine Chance bekommen. Die Menschen haben nämlich noch nicht vergessen,
in welch traurigem Zustand Sie die öffentlichen Finanzen
in diesem Land hinterlassen haben.
({7})
Ich denke, der Kollege Müller wird im Verlauf der Debatte noch etwas zum Thema Wachstum sagen. Er hat es
Ihnen schon mehrfach vorgerechnet: Obwohl während Ihrer Regierungszeit ständig Aufschwung in den USA war,
in unserer Regierungszeit jedoch nicht, ist die Wirtschaft
in den letzten vier Jahren stärker gewachsen als bei Ihnen
seit 1992.
Wir sind an einem Wendepunkt. Der Aufschwung, der
jetzt einsetzt, ist der unsere, und zwar deswegen, weil wir
mit einer weitaus besseren Ausgangslage in diesen hineingehen als 1998: 1,1 Millionen Beschäftigte mehr und
400 000 Arbeitslose weniger. Auch bei der Jugendarbeitslosigkeit sind wir in Europa am unteren Ende der Skala.
Ebenso sind die Langzeitarbeitslosigkeit und die Arbeitslosigkeit älterer Menschen gesunken. Die Steuersätze waren für die Menschen und die Unternehmen noch nie so
niedrig wie heute, und die nächste Steuersenkung kommt
zum 1. Januar 2003. Danach folgt die nächste Steuersenkung in 2005. Das, was Sie noch in Ihr Programm schreiben müssen, steht schon im Gesetzblatt. Das ist die Wirklichkeit.
({8})
Der Sachverständigenrat hat Recht: Eine Politik für
Stetigkeit und gegen Aktionismus ist eine Politik, die weiterführt und dieses Land wirklich zukunftsfähig macht.
Ihr völlig konzeptionsloses Hin- und Herrennen zwischen
immer höherer Verschuldung und dem Versprechen einer
niedrigen Staatsquote hat keine Zukunft.
({9})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon am Ende der letzten Legislaturperiode hat der Deutsche Bundestag die Erarbeitung
einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie gefordert.
Diese Bundesregierung hat nichts getan. Erst als der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit im Januar 2000 beschlossen hat, dass die Bundesregierung aktiv werden
soll, hat man sich endlich in diese Richtung aufgemacht.
({0})
Ein Jahr später wurde der nationale Nachhaltigkeitsrat
eingerichtet, und jetzt, meine Damen und Herren von RotGrün, kurz vor Toresschluss, liegt endlich Ihre nationale
Nachhaltigkeitsstrategie vor.
In der Rede, die der Bundeskanzler hier gehalten hat,
ging es in keiner Weise um eine Nachhaltigkeitsstrategie.
Er hat ein Sammelsurium an Schlagworten genannt und
eine Vernebelungstaktik angewandt. Sie hatte mit einer
Nachhaltigkeitsstrategie nichts, aber auch gar nichts zu
tun.
({1})
In der Tat stellt sich die Frage, warum man eigentlich
nicht an die Arbeit der Enquete-Kommission angeknüpft
hat. Demnach bedeutet Nachhaltigkeit nämlich, bei allen
Entscheidungen ökonomische, ökologische und soziale
Aspekte zu berücksichtigen. Ich kann Ihnen sagen,
warum Sie das nicht getan haben, meine Damen und Herren von der Regierung: Sie haben Ihre Politik nicht nachhaltig gestaltet, sondern Sie haben die Kriterien der Politik angepasst.
Deswegen führen Sie jetzt vier Zielkoordinaten ein:
Generationengerechtigkeit, Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung. All diese
Koordinaten sind hinreichend unbestimmt und auslegungsfähig. Deswegen hat der Sachverständigenrat für
Umweltfragen Ihnen auch ins Stammbuch geschrieben,
dass die genannten prioritären Handlungsfelder nichts anderes sind als ein Spiegel der deutschen RegierungspoliBundesminister Hans Eichel
tik. Anders ausgedrückt: Sie haben Ihrer Politik der
Verregelung und Bürokratisierung, des hilflosen Herumdokterns und des unverschämten Abkassierens ein neues
Mäntelchen namens Nachhaltigkeit umgehängt.
({2})
Nach dem internationalen Vergleich der Nachhaltigkeitsprofile durch das World Economic Forum rangiert
Deutschland auf Platz 50. Das muss man sich einmal vorstellen.
({3})
Wir rangieren hinter den USA und Simbabwe und knapp
vor Papua-Neuguinea. Das ist das beschämende Ergebnis
Ihrer Nachhaltigkeitspolitik.
({4})
Man kann das auch einen blauen Brief nennen. Ein solcher hat ja bereits Anfang dieses Jahres aus Brüssel gedroht. Damals ging es um das hohe deutsche Staatsdefizit.
Herr Eichel, Sie haben das Problem nicht gelöst. Sie haben heute Vormittag, so wie die ganze Zeit, versucht, das
Problem wegzudiskutieren.
({5})
Natürlich hat Herr Schröder Recht. Die nachhaltige
Entwicklung beginnt im eigenen Land. Rot-grüne Politik
besteht aber vor allen Dingen aus nachhaltigen Widersprüchen: eine Ratifizierung des Kioto-Protokolls ohne
die Anwendung seiner Instrumente in Deutschland. Eine
Ökosteuer, die der Umwelt nichts nützt, aber die Bürgerinnen und Bürger unsozial abkassiert.
({6})
Bezogen auf regenerative Energien gibt es politische
Vorgaben für Technik und Preis
({7})
statt marktwirtschaftliche Förderinstrumente. Die Energiepolitik ist Flickwerk, so wird der Kernenergieausstieg
ohne ein Konzept, wie die CO2-Senkung trotzdem erreicht werden kann, angestrebt.
({8})
Zusätzlich führen Sie ein verwirrendes Spiel mit vier
Zielkoordinaten, sieben Handlungsfeldern und 21 Indikatoren auf.
({9})
Beim Artenschutz führen Sie den Indikator „Bestände
ausgewählter Tierarten“ ein. Ich habe mir Ihr Nachhaltigkeitskonzept angeschaut; der Bundeskanzler hat es ja bewusst nicht genannt. Bei aller Sympathie für den Seehund
und allem Respekt für die Zwergseeschwalbe muss ich
Ihnen sagen: Eine willkürliche Aufzählung von zehn Tierarten - neun davon sind Vogelarten - ist keine Abbildung
der Entwicklung der Artenvielfalt in Deutschland.
({10})
Um bei Ihrer Begrifflichkeit zu bleiben und die Artenvielfalt in der Debatte zu erhalten: Unter Rot-Grün ist der
Begriff „Nachhaltigkeit“ auf den Hund gekommen.
({11})
Nehmen wir das Beispiel Steuerreform. Ich greife Ihr
Verständnis von Nachhaltigkeit auf. Sie haben die großen
Kapitalgesellschaften nachhaltig entlastet und die Personengesellschaften nachhaltig ins Hintertreffen gebracht.
({12})
Dabei sind es gerade die kleinen und mittleren Betriebe,
die die größte Zahl der Arbeits- und Ausbildungsplätze in
Deutschland schaffen. Das sind die Betriebe, die in
Deutschland Steuern zahlen,
({13})
das sind die Betriebe, die ihren Gewinn eben nicht durch
steueroptimierte Konzernstrukturen ins Ausland transferieren können.
({14})
Ich weiß, wovon ich rede; denn ich komme aus einem
solchen Familienbetrieb aus dem Handwerk. Der Begriff
„Familienbetrieb“ hat unter Ihrem Kanzler eine ganz neue
Bedeutung erhalten: Familienbetrieb ist das, was den
Kanzler nicht interessiert.
({15})
Ihre so genannte Politik der Steuerentlastung mit der
Erhöhung der Versicherungsteuern, der Tabaksteuer und
der Ökosteuer zu Anfang dieses Jahres bringt allein in diesem Jahr eine Nettomehrbelastung von rund 14 Milliarden Euro. Ich kann Ihnen nur sagen: Hier ist eine wirkliche Steuerreform, die Dynamik in den Arbeitsmarkt
bringt, dringend notwendig.
({16})
Hier fiel gerade das Stichwort „mehr Beschäftigte“.
Mehr Beschäftigte, Herr Eichel, hat es durch eine Änderung in der Statistik gegeben, indem Sie schlichtweg umdefiniert haben. Sie haben mit Ihrer Politik erreicht, dass
es nicht 3,5 Millionen, sondern 4 Millionen Arbeitslose
gibt.
({17})
Sie betreiben eine Politik der Besitzstandswahrung und
sperren Arbeitslose konsequent vom Arbeitsmarkt aus.
({18})
Der Flächentarifvertrag, den der Kanzler so gelobt hat, ist
längst zu einem Risiko für Beschäftigung geworden. Wir
wollen Mitbestimmung im Betrieb und nicht Mitbestimmung über Betriebe.
({19})
Deswegen wollen wir im Tarifvertragsgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz Änderungen. Wir wollen den Arbeitnehmern in den Betrieben mehr Rechte geben,
({20})
weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Ort
besser als irgendwelche Funktionäre von Ihnen weit weg
am Verhandlungstisch wissen, was gut für sie ist. Wir
trauen den Menschen mehr zu. Sie setzen auf den Staat.
({21})
Sie haben in Ihrer Rede vier Zielkoordinaten, die gemeinsam gelten sollten, in ihre Bestandteile zerpflückt.
Unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ hat der
Bundeskanzler der Rentenversicherung ein sicheres
Fundament bestätigt. Dieses Fundament ist die platt gedrückte junge Generation, weil Sie den demographischen
Faktor gestrichen haben.
({22})
Wir fordern eine Rentenreform, die die demographische Entwicklung einbezieht. Ich frage Sie: Was ist daran
nachhaltig, wenn die Bundesregierung, um die Beitragssätze stabil zu halten, die Schwankungsreserve angreift
und damit die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherung
riskiert? Das ist ökonomisch unsinnig und sozial in höchstem Maße verwerflich.
({23})
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers hinterlässt den nachhaltigen Eindruck, dass sich in diesem Land
etwas ändern muss. Dazu haben die Wählerinnen und
Wähler am 22. September Gelegenheit.
Vielen Dank.
({24})
Ich erteile das Wort
Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mitte der
70er-Jahre setzte sich langsam die Erkenntnis durch, dass
der grenzenlose Fortschrittsoptimismus, die Fortschrittsutopien, wie sie von rechts bis links in der damaligen Zeit
geteilt wurden, in der Tat an ihr Ende gekommen sind. Es
setzte sich die Erkenntnis durch, dass die technisch-wissenschaftliche Grenzenlosigkeit niemals Realität wird
und dass wir auf unser begrenztes Ökosystem Erde dauerhaft angewiesen sind, das nicht grenzenlos expandiert.
Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass zwar die Wünsche der Menschen grenzenlos sein mögen, nicht aber das
Ökosystem, und dass gleichzeitig die technisch-wissenschaftliche Entwicklung und die Fähigkeit der Menschen,
den Energieverbrauch zu erhöhen und große Industrie in
einem Maße zu betreiben, wie das bisher in der Geschichte der Menschheit nicht möglich war, bei einer
wachsenden Weltbevölkerung und wachsenden Bedürfnissen zu einer Überforderung des globalen Ökosystems
führen werden.
Genau das war die Geburtsstunde der ökologischen
Bewegung. Genau das war auch die Erkenntnis von der
Notwendigkeit, auf eine internationale und nationale
Nachhaltigkeitsstrategie umzustellen.
Energie- und Ressourcenverbrauch sowie Schadstoffausstoß sind heute wesentliche Faktoren, die das globale
Ökosystem in einem Maße zu übernutzen drohen, dass
sich daraus gravierende ökonomische, soziale, aber auch
politische und sicherheitspolitische Konsequenzen ergeben können. Machen wir uns nichts vor: Während wir hier
heftig streiten, ist es zehn Jahre nach der Konferenz von
Rio nach wie vor so, dass nicht 80 Prozent, sondern nur
20 Prozent der Weltbevölkerung an diesen Segnungen
teilhaben. 20 Prozent genießen die Segnungen von Wohlstand, Fortschritt, sozialer Sicherheit und Reichtum.
Während 80 Prozent der Weltbevölkerung nach wie vor
davon ausgeschlossen sind, sind diese 20 Prozent aber
auch für die negativen Folgen verantwortlich. Spätestens
am 11. September müsste uns allen klar geworden sein,
dass, wenn diese Formel beibehalten wird und es bei dieser ungerechten Verteilung von Reichtum und Lebenschancen, aber auch der ungerechten Verteilung der Folgen
der Überlastung unseres Ökosystems bleibt, darin das
größte Sicherheitsrisiko für das internationale Staatensystem im 21. Jahrhundert liegen wird.
({0})
Deswegen wird es bei aller Leidenschaft für den Wahlkampf - ich will mich nachher gerne daran beteiligen entscheidend darauf ankommen, dass die reichen Industrieländer ihre Verantwortung wahrnehmen und diese
auch ernst nehmen, und zwar nicht nur auf der Expertenebene und in Sonntagsreden, sondern in der harten Politik.
Wir scheuen hierbei nach vier Jahren keinen Vergleich
zu dem, was die Vorgängerkoalition in diesem Zusammenhang geleistet hat. Im Gegensatz zu Ihnen wenden wir
nicht primitive Rhetorik an.
({1})
Wir sagen Ihnen: Wir schätzen es, dass Angela Merkel als
Umweltministerin in Kioto tapfer gekämpft hat. Wir
schätzen es, dass Sie, Frau Merkel, damals einen Ökosteuervorschlag national umsetzen wollten, den Sie beBirgit Homburger
reits formuliert hatten. Dass Sie an Helmut Kohl gescheitert sind, haben wir aber nicht geschätzt.
({2})
Auch den Einsatz von Helmut Kohl damals in Rio oder
von Klaus Töpfer hätte ich mir nach all dem Streit, den ich
mit Klaus Töpfer zum Beispiel über Hanau hatte, nicht
träumen lassen. Das gilt übrigens auch für Sie. Die Angela
Merkel von Kioto war eine Ökologin, die den Anspruch
hatte, ökologisch verantwortlich global zu handeln.
({3})
Die Dame mit dem Benzinschlauch um den Hals war aber
nicht mehr die Angela Merkel, die ökologisch verantwortlich handelte, sondern die Machtpolitikerin mit reaktionären
Parolen, die meinte, sie könne in Schleswig-Holstein und in
Nordrhein-Westfalen entsprechend mobilisieren.
({4})
Nein, meine Damen und Herren: Von Rio ging eine Botschaft aus, die noch nicht erfüllt ist.
Nochmals auf den 11. September bezogen wiederhole
ich - Herr Repnik, Sie sind ein sehr gutes Beispiel dafür -,
({5})
dass es tatsächlich Entwicklungen gibt, allerdings nicht
nur Fortschritte, sondern auch dramatische Rückentwicklungen.
({6})
Ich lese Ihnen einmal etwas vor, aus dem dies ersichtlich
wird. Das spricht wohl generell für die ökologische Position Ihrer Partei.
Der Abgeordnete Repnik hat am 31. März 1998 - damals regierte noch Helmut Kohl mit der FDP - im
Deutschland-Radio Berlin gesagt:
Wir haben immer gesagt, dass wir auf lange Sicht
gesehen auf der einen Seite die Besteuerung sowohl
von Energie als auch den Verbrauch von Rohstoffen
teurer machen sollten.
Recht hatte er.
Dies hier in eine vernünftige Relation, in eine Beziehung zueinander zu setzen, Verteuerung und Verbrauch von Rohstoffen, auf der anderen Seite dadurch gewonnene Mittel einzusetzen, um zum
Beispiel Lohnnebenkosten zu senken, macht durchaus Sinn, meine Damen und Herren.
({7})
Ja, Herr Kollege Repnik, die Wähler haben auf Sie gehört.
Sie haben uns gewählt und wir haben das gemacht. Das ist
der Unterschied zu dem, was Sie vorher vertreten haben.
({8})
Das ist nicht lustig, meine Damen und Herren. Man
könnte viele Beispiele bringen. Lassen Sie mich in dem
Zusammenhang noch eines ansprechen, bevor wir zur Innenpolitik kommen. Was ich mit sehr großer Sorge sehe,
ist, dass die Rüstungssignale in der Gegenwart anders gegeben werden. Machen wir uns nichts vor: Wenn die Konsequenz aus dem 11. September darin besteht, dass die
Kluft zwischen Arm und Reich zustimmt - sie wird zunehmen, wenn die führenden Nationen dieser Erde, die
reichsten Industrieländer, an erster Stelle die USA, die
Mittel in Richtung einer Ausdehnung der Militärhaushalte
und nicht in die Entwicklung und Nachhaltigkeit lenken -, dann werden diejenigen, die im unteren Drittel des
Welteinkommens liegen, dies bitter zu bezahlen haben.
Machen wir uns da nichts vor!
({9})
Das wird meines Erachtens nicht mehr Sicherheit und
Frieden mit sich bringen.
Deswegen ist es sehr wichtig, dass gerade mit der Vereinbarung zwischen Russland und den USA ein Signal gegeben wurde. Ich wünsche mir, dass die aufgrund des
internationalen Abrüstungsregimes und der Rüstungskontrolle frei werdenden Mittel umgewidmet werden, um die
internationale Entwicklungslücke zu schließen.
({10})
Von ganz entscheidender Bedeutung ist auch, dass wir
begreifen, dass hinter Kioto mehr steckt als nur die Frage
des Klimaschutzes und des Treibhauseffekts, den niemand mehr infrage stellt. Dahinter steckt auch die Frage
einer Effizienzstrategie der Verantwortung - das sagt
den meisten nichts -, ob wir also unser Kapital, unser
Know-how und unsere Technologien für eine ökologische
Abrüstung, also für eine Senkung des Energieverbrauchs,
einsetzen. Deshalb müssen wir nicht zu Fahrraddynamo
und Kienspan zurückkehren. Wir müssen vielmehr modernste Technologien entwickeln und einsetzen.
({11})
Die Tatsache, dass ein Unternehmen wie Volkswagen,
das heute eines der modernsten und effizientesten Automobilunternehmen ist, den Prototyp eines Einliterautos
entwickelt hat - wenn wir Grüne das gefordert hätten,
wären wir von Ihnen nur ausgelacht worden -, ist ein Signal, das in die richtige Richtung geht. Das ist eine der
Konsequenzen der Ökosteuer, Frau Merkel. Sie können
doch nicht wegdiskutieren, dass heute das entscheidende
Argument beim Anschaffen eines Neuwagens der niedrige Verbrauch ist,
({12})
dass der Kraftstoffverbrauch 2001 im Vergleich zu 1999
um 4 Prozent gesunken ist, dass der durchschnittliche Flottenverbrauch tendenziell sinkt und dass mehr auf öffentliche Verkehrsmittel umgestiegen wird. Das alles sind Entwicklungen, denen schlicht und einfach die Erkenntnis
zugrunde liegt, dass wir Ökologie und Ökonomie nicht in
Gegensatz zueinander bringen dürfen, dass wir im Gegenteil das Schwergewicht des wirtschaftlichen Egoismus
mit der Nachhaltigkeit verbinden müssen. Das heißt, wir
müssen über die Preise Ökologie und Ökonomie in Einklang bringen.
({13})
Damit komme ich auf die entscheidende Frage zu sprechen, inwieweit das politische Handeln und das Programm der CDU/CSU dies ermöglichen. Ich rede über das
FDP-Programm gar nicht; denn dieses Programm gründet nur auf Illusionen. Deshalb können Sie von der FDP
eigentlich auch kein Wahlversprechen brechen. Sie sollten sich einmal vor Augen führen, was Sie in Ihrem Programm alles festgelegt haben.
({14})
- Die „Frankfurter Rundschau“ lese ich täglich. Machen
Sie sich keine Sorgen! Wenn Sie die lesen und entsprechend handeln würden, gäbe es weniger Kontroversen.
Das ist nicht das Problem.
({15})
Ich habe jedenfalls Ihr Programm gelesen und muss
feststellen, dass es schlicht und einfach illusionär ist. Sie
müssen sich erst gar nicht bemühen, die dort gemachten
Versprechen einzuhalten; denn diese können Sie sowieso
nie realisieren. Das ist Fakt.
({16})
Sie wissen doch so gut wie ich, dass Deutschland erst aus
der EU austreten muss, wenn Sie Ihre Steuersenkungsversprechen realisieren wollen; denn wenn Sie diese Versprechen realisieren, liegt der Anteil der Staatsverschuldung bei 4 oder 5 Prozent. Oder Sie planen so langfristig,
wie früher nur die Linke geplant hat, die ihre utopischen
Versprechen immer nur mit Blick auf den Sankt-Nimmerleins-Tag gemacht hat. Es mag ja sein, dass Sie mittlerweile so weit sind.
({17})
Frau Merkel, wenn Sie die Wärmedämmung als Ihre
historische Großtat darstellen, möchte ich Sie an folgende
Zahlen erinnern: Während Ihrer Regierungszeit wurden
20 Millionen pro anno für die Altbausanierung ausgegeben. Wir haben diese Ausgaben auf 400 Millionen pro
anno erhöht.
({18})
Ich frage Sie, Frau Merkel - diese Frage müssen Sie sich
schon gefallen lassen -, warum alle B-Länder im Bundesrat gegen die Energiesparverordnung gestimmt haben,
wenn die Wärmedämmung tatsächlich Ihre große historische Leistung ist?
({19})
In der Ausgabe des „Handelsblatts“ vom 28. März
2002 - das ist noch gar nicht so lange her; ich habe mir
den Artikel extra herausgerissen, weil er mich so erfreut
hat - ist zu lesen: Erneuerbare Energien im Aufwind. Bei
Windenergie und Photovoltaik droht Mangel an Ingenieuren und Handwerkern. - Genau das sind die Botschaften, die wir uns immer gewünscht haben.
({20})
Im Wirtschaftsteil der Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. März 2002 - Sie sehen, Frau Homburger,
der März hat es in sich gehabt;
({21})
das ist jetzt eine Ansage an die FDP, die Freunde des
Neuen Marktes; sie betreiben ja so auch Politik; der Neue
Markt ist zusammengebrochen; geben Sie Acht, dass die
politische Spekulationsblase nicht genauso platzt wie die
des Neuen Marktes ({22})
ist zu lesen: Erstes Debüt am Neuen Markt seit Juli 2001.
Geglückter Börsengang erfreut Finanzbranche. - Wer ist
damals an die Börse gegangen? Es war ein Windenergieunternehmen. Das war der erste geglückte Börsengang
seit dem Zusammenbruch des Neuen Marktes. Dadurch
gab es neuen Wind auf dem Neuen Markt. Das sind Nachrichten, über die ich mich freue.
({23})
Ich will damit klarmachen, meine Damen und Herren,
dass wir eine Nachhaltigkeitspolitik verfolgt haben, die
darauf zielte, dass Ökonomie und Ökologie nicht mehr
als Gegensatz angesehen werden. Den Gegensatz von
Ökonomie und Ökologie machen Sie aber zu Ihrem Programm. Daher würden Sie, wenn Sie an die Regierung kämen und Ihr Programm tatsächlich umsetzten, die Entwicklung in der Bundesrepublik zurückdrehen. Ihre Strategie ist
nicht nachhaltig, sondern verantwortungslos: Sie wollen
sich aus der ökologischen und globalen Verantwortung
verabschieden.
({24})
Das gilt auch für die Gesellschaftspolitik; Hans Eichel
hatte völlig Recht. Ich müsste unter demselben Gedächtnisverlust wie Sie leiden - ich tue dies Gott sei Dank
nicht -,
({25})
wenn ich alles vergessen hätte, was sich zu Ihrer Regierungszeit abspielte. Ich zeige Ihnen hier eine Grafik der
Schuldenentwicklung, dargestellt als Haushaltsdefizit in
Prozenten des BIP: 1991 2,9 Prozent, 1992 2,6 Prozent,
1993 3,1 Prozent, 1994 2,4 Prozent, 1995 3,3 Prozent.
Zu jener Zeit begann langsam die Debatte um die Brüsseler Stabilitätskriterien; Sie werden sich daran erinnern,
Herr Poß. 1995 waren es also 3,3 Prozent, 1996 sogar
3,4 Prozent. Angesichts dieser Zahlen rede ich gar nicht
von einer roten Laterne. Damals hatten wir schon eine
dunkelrote Laterne.
({26})
Es geht in der Grafik wie folgt weiter: 1997 2,7 Prozent,
1998 2,2 Prozent, 1999 - zu jener Zeit begann das „rotgrüne Chaos“ - 1,6 Prozent, 2000 1,3 Prozent und 2001
- da gab es zum ersten Mal eine gegenläufige Entwicklung - 2,6 Prozent. Das ist die Realität, meine Damen und
Herren.
({27})
- Nein, Frau Merkel hat keine Zwischenfrage zugelassen.
Aus Gründen der Waffengleichheit lasse ich jetzt auch
keine zu.
Machen wir uns nichts vor: Wir haben einen weltwirtschaftlichen Einbruch zu bewältigen. Den hätten auch Sie
zu bewältigen. Hier besteht ein Widerspruch in Ihrem Programm, Frau Merkel. Das gehört alles zur Abteilung
schwarzer oder blau-gelber Utopie. Das Konzept „3 x 40“
wird eine Volkspartei nicht realisieren können, weil es einen Angriff auf die soziale Marktwirtschaft bedeutete; der
Bundeskanzler hat hier völlig Recht.
({28})
170 Milliarden Euro auf allen staatlichen Ebenen wegzustreichen wäre - das wissen Sie ganz genau - der politische Selbstmord der großen Volksparteien CDU und
CSU. Deswegen werden Sie das auch nicht tun.
Sie werden aber etwas anderes versuchen; das haben
Sie schon angekündigt. Ihnen, Frau Merkel, nehme ich ab,
dass Sie ein anderes Frauen- und Familienbild haben.
Aber der von Ihnen ja so geschätzte Herr Merz - Sie
schätzen ihn so sehr, dass Sie ihn in seiner Funktion beerben wollen; man muss hinzufügen, dass er bei Ihrer Rede
schon sehr verhalten klatschte ({29})
hat dagegen als Leitbild dargestellt, die Mutter habe zu
Hause zu bleiben. Ich habe nichts dagegen. Im Gegenteil,
das ist die Entscheidung einer jeden Frau bzw. eines jeden
Paares.
({30})
Aber in unserem Land besteht für Eltern nirgendwo die
Chance - am wenigsten in Bayern und Baden-Württemberg - zu einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil
es für kleine Kinder zwischen null und drei Jahren faktisch
keine Betreuungsmöglichkeiten gibt. Das ist Ausdruck einer ideologisch motivierten Politik, die keine Wahlfreiheit
im Auge hat, sondern den Menschen eine bestimmte Entscheidung aufzwingen will. Dagegen sind wir.
({31})
Das werden wir ändern, damit wir nicht mehr ein kinderpolitisches Entwicklungsland bleiben. Auch das macht
Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit aus.
Das gilt für andere Bereiche ebenso. Ich erinnere daran, dass wir mit der dritten Säule eine neue Rentensicherheit geschaffen haben.
Kollege Fischer, Sie
müssen zum Schluss kommen. Sie haben Ihre Redezeit
schon deutlich überschritten.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich erinnere mich noch an Aussagen der Umweltministerin Angela Merkel im Zusammenhang mit der Landwirtschaftsklausel. Sie würden sich doch mit „von und
zu“ titulieren, wenn Sie damals das durchgesetzt hätten,
was Jürgen Trittin durchgesetzt hat. Auch das ist ein Beitrag zur Nachhaltigkeit. Renate Künast wird die Ökologisierung der Landwirtschaft im Interesse der Verbraucher und der gesunden Ernährung gerade der jungen
Generation voranbringen. Viele junge Mütter sind sehr
daran interessiert, dass Renate Künast Verbraucherschutzministerin bleibt und wir nicht eine reaktionäre
Landwirtschaftspolitik wiederbekommen, in der Legehennenzüchter wichtiger als die Gesundheit junger Menschen sind. Das alles ist bei uns anders.
Ich bedanke mich.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Recht wird im Nachhaltigkeitsbericht der Bundesregierung an die Kommission von
Gro Harlem Brundtland erinnert. Erinnern wir uns: In den
Jahren nach Erscheinen des Kommissionsberichts übte
diese Idee eine große Faszination aus. Sie war sinnstiftend, sie führte zu einem geistigen Aufbruch. Heute - ich
sage das mit einer gewissen Besorgnis - ist diese Idee
durch inflationären Gebrauch abgewertet. Leider ist es so,
dass das Attribut „nachhaltig“ heute auch vor alle Begriffe
gesetzt wird, die eigentlich ein „Weiter so!“ beschreiben.
Um nicht missverstanden zu werden: Mir geht es nicht
um eine Verkürzung des Nachhaltigkeitsbegriffs auf traditionelle Umweltnachsorgepolitik. Aber eines muss klar
sein: Wenn Nachsorge als Etikett gebraucht wird, dann
muss sie auch enthalten sein; sonst handelt es sich um Etikettenschwindel. In dieser Hinsicht muss man eben vergleichen.
Der Bericht, den die Regierung hier vorgelegt hat, ist
in der Tat gut. Aber Ihre Politik, meine Damen und Herren von der Koalition, ist leider eine andere. Deshalb ist
es auch nicht damit getan, hier Sonntagsreden zu halten.
Herr Bundeskanzler, 1001 Nacht Ihrer Regierung sind
nun einmal vorüber.
({0})
Wenn man sich die Politik im Einzelnen anschaut, so ist
nicht Nachhaltigkeit drin, wo SPD draufsteht. Ich staune
stets, welche spannenden Wandlungen beim Führungspersonal der Sozialdemokraten immer kurz vor Wahlen ablaufen. Erst wird der Herr Bundeskanzler zum Genossen
Gerhard und entdeckt die traditionellen sozialdemokratischen Werte wieder.
({1})
Dann gibt der Genosse Gerhard auch noch den Genossen
Oskar. - Das sind Wandlungen, meine Damen und Herren, von denen ich nicht weiß, ob die Öffentlichkeit sie Ihnen so abnimmt, wie Sie sie vollführen.
({2})
Im Hinblick auf Ihre Politik - ich sage das ohne Häme muss man einen Mangel an Nachhaltigkeit feststellen: Es
gibt keine Verkehrswende, also keine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. Es gibt keine ökologische Steuerreform, die diesen Namen verdient.
({3})
Es gibt erst recht keine Sozialpolitik, die auf Gerechtigkeit setzt, und keinen ernsthaften Versuch, die Massenarbeitslosigkeit, die größte Ungerechtigkeit der Neuzeit, zu
bekämpfen.
({4})
Es gibt auch keinen glaubwürdigen Atomausstieg und
keine wirkliche Förderung regenerativer Energien in modernen Unternehmen, sondern nach wie vor eine Begünstigung der Energiegiganten. Natürlich freue ich mich mit
Ihnen und mit meinem Vorredner über die Konjunktur der
Windenergie. Aber Sie werden ebenso wie ich schon erlebt haben, dass Unternehmer in diesem Bereich regelrecht eine gewisse Zurückhaltung üben, ihre Erfolge in
der Öffentlichkeit zu präsentieren, weil sie die Konkurrenz der Energiegiganten fürchten müssen.
Wenn Sie mir das alles nicht glauben und Ihre Politik
für so bemerkenswert halten, dann müssen Sie sich der
Mühe unterziehen, den Bericht, den Sie heute vorgelegt
haben, mit dem Wahlprogramm der SPD zu vergleichen. Das SPD-Wahlprogramm ist ein typisches Beispiel
für die Inflation des Nachhaltigkeitsbegriffs ohne inhaltliche Substanz.
({5})
Ich will Ihnen zwei Beispiele dafür vorlesen. Sie bezeichnen Ihre Rentenreform als nachhaltige Fortentwicklung des bewährten Sozialstaatsmodells. Damit benutzen
Sie den Begriff der Nachhaltigkeit für einen Vorgang, mit
dem Sie sich von der Parität verabschieden und mit dem
Sie den Einstieg in den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu verantworten haben. Das ist doch nun
wirklich nicht hinzunehmen.
({6})
Wer da immer noch an die große solidarische Wirkung der
Rentenreform glaubt, der muss sich doch einmal die Frage
stellen, warum denn die Banken und Versicherungen den
Begriff der Riester-Rente als ihr Werbesymbol erfunden
haben. Doch nicht wegen einer solidarischen Ausgleichsfunktion!
({7})
Sie haben in Ihrem Wahlprogramm den Begriff der
Kriegsbeteiligung wie folgt beschrieben: mit humanitärem
und friedenssicherndem Einsatz weltweit gute Beispiele
für nachhaltige Politik zu schaffen. Das, finde ich, ist nun
wirklich das Letzte, was man aus der guten Idee der Nachhaltigkeit machen kann.
In den bisherigen Reden der Minister heute wurde versucht, heimlich den Maßstab zu wechseln. Sie sind 1998
mit einer Reihe von Versprechungen und mit einem Programm, das in der Öffentlichkeit, wie wir wissen, durchaus Unterstützung fand, angetreten. Inzwischen legen Sie
diesen Maßstab nicht mehr an, sondern messen sich einzig und allein an der vorherigen Koalition und Regierung.
Einen solchen Wechsel des Maßstabs darf man Ihnen
nicht durchgehen lassen.
({8})
Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund einen Blick in
die neuen Länder werfen, weil die Nachhaltigkeitsidee
nach der Wende für viele Ostdeutsche eine Faszination
war, eine Menge Chancen eröffnet hat und die Hoffnung
bestand, dass der Aufbruch Ost nicht nur als Nachbau
West gestaltet wird. Angesichts der ökologischen Lasten,
die zu verantworten waren, hat man sich gesagt: Eine
Reihe von ökologischen Sünden hat die DDR nicht begangen - nicht etwa deshalb, weil sie sie nicht auch hätte
begehen wollen, sondern aus ökonomischer Schwäche.
Diese Chancen könnten wir doch nutzen. - Zu viele haben diese Hoffnungen aber enttäuscht gesehen. Sie haben
sich immer wieder mit der Logik konfrontiert gesehen,
dass vor den Aufschwung die Götter offenbar den Beton
gesetzt haben.
({9})
An dieser Stelle ist, so glaube ich, auch an Rudolf
Bahro zu erinnern, dem in der DDR schweres Unrecht angetan wurde;
({10})
an dieser Last trage ich weiter. Aber gerade deshalb dürfen wir seine Alternative und seine Logik der Rettung in
dieser Debatte nicht vergessen.
({11})
Es ist doch keine vernünftige Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, wenn versucht wird, aus allen Flüssen
Kanäle zu machen, wenn das neu errichtete Eisenbahngüterverkehrszentrum Großbeeren wieder geschlossen wird,
wenn dann, wenn sich ein großer Autohersteller im Osten
ansiedelt - dafür bin ich natürlich -, ein Vorgang der folgenden Art einsetzt: Es gibt 107 Bewerbungen, 107-mal
wird viel Geld für Gutachten ausgegeben, es fallen 107
kommunale Finanzentscheidungen bei knappen Kassen,
107-mal wird Beton in den Sand und in die Köpfe gesetzt - für eine einzige Ansiedlung. Und dann dankt dieses
große Unternehmen den Kommunen und dem Gemeinwesen das, indem es keine Steuern zahlt. So kann die soziale Marktwirtschaft doch wirklich nicht angelegt gewesen sein!
({12})
Der Herr Bundeskanzler und auch der Herr Bundesfinanzminister Eichel haben ihre Sparpolitik heute hier erneut
als Krönung der Nachhaltigkeit vorgestellt. Wir sind nicht
gegen Sparen - das ist hier oft genug betont worden -, aber
wer soziale Netze und gesellschaftlichen Zusammenhalt kaputtspart, ist weder zukunftsfähig noch nachhaltig.
({13})
Wenn ich mir allerdings die Alternativen von Union und
FDP anschaue, dann hält mich das von weiterer und schärferer Kritik ab. In Sachsen-Anhalt, dessen gutes Kinderbetreuungsgesetz von Frau Pieper hier noch vor einigen
Tagen gerühmt wurde, machen sich heute die Koalitionäre
daran, die Zuschüsse für die Kinderbetreuung erheblich zu
senken. Auch diese Wahrheit gehört hier ausgesprochen;
das darf den Konservativen nicht geschenkt werden.
Wir haben eine Erfahrung gemacht: Die Wahlsieger
von Sachsen-Anhalt, denen zweifelsohne zu gratulieren
ist, haben diesen Wahlsieg mit einer beispiellosen RoteLaterne-Kampagne errungen. Ich möchte in unser aller
Interesse dafür appellieren, das verhängnisvolle Schlechtreden eines ganzen Landes und die Missachtung von Leistungen unendlich vieler Bürgerinnen und Bürger mittels
dieser Kampagne von der roten Laterne jetzt nicht zum
bestimmenden Element im Bundestagswahlkampf zu machen. Das hat Deutschland nicht verdient. Das sei an die
Adresse der Union gesagt.
({14})
Ich habe mir auch das FDP-Wahlprogramm angeschaut, zu dem hier schon einiges gesagt wurde. Manche
machen es sich zu leicht, indem sie dieses Programm als
Spaßprogramm bezeichnen. Ich finde nicht, dass es ein
Spaßprogramm ist. Es ist vielmehr ein Programm der sozialen Kälte.
({15})
So deutlich gehört es auch kritisiert.
({16})
Herr Bundeskanzler Schröder hat die Verantwortung
für eine globalisierte Welt beschworen. Schauen wir hier
auch in das SPD-Wahlprogramm, so stellen wir fest,
dass der weltweiten Forderung, 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für Entwicklungspolitik auszugeben, lediglich die Zielmarke 0,33 Prozent bis zum Jahre 2006 gegenübersteht. Das ist Nachhaltigkeit im missverstandenen
Sinne. Das ist sozusagen Schneckentempo rückwärts.
({17})
Wir bleiben deshalb bei der Forderung der Besteuerung
von kurzfristigen Spekulationsgewinnen. Ein Gutachten
der Bundesregierung sagt aus - nicht etwa ein Gutachten
der Oppositionsfraktionen -, eine Tobinsteuer oder eine
der Tobinsteuer ähnliche Steuer sei in einer europäischen
Zeitzone durchaus möglich.
({18})
Herr Kollege Claus,
Sie müssen zum Ende kommen.
Das will ich gerne tun, Herr
Präsident.
Ich freue mich auch, wenn der Bundeskanzler sagt, es
genüge nicht, den Sicherheitsbegriff auf das Militärische
zu reduzieren. Deshalb ist es gut und nicht antiamerikanisch, dass die Friedensbewegung für Montag zur Demo
aufgerufen hat.
({0})
Es ist auch gut und nicht antiamerikanisch, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages daran teilnehmen.
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Auf der Tribüne hat die Präsidentin des
chilenischen Abgeordnetenhauses, Frau Muñoz, mit
ihrer Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie alle
sehr herzlich.
({0})
Wir hoffen, dass Sie einen aufschlussreichen Eindruck
von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen können,
und wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt in Deutschland
sowie für Ihr weiteres parlamentarisches und politisches
Wirken alles Gute.
({1})
Ich erteile nun dem Bundesminister Werner Müller das
Wort.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie ({2}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gelegentlich erlebt man in Diskussionen auch ehrliche Worte.
Ich finde es gut, Frau Merkel, wenn Sie sagen, dass Sie inzwischen dazugelernt hätten. Ich hatte dieser Tage eine
Diskussion mit Herrn Schäuble. Darin sagte er mir, er
wolle gar nicht bestreiten, dass sie Ende 1998 Deutschland in einem schlechten Zustand hinterlassen haben.
({3})
Das ist ein vernünftiger Ansatz, wenn man Gemeinsamkeiten feststellen will. Wir unterscheiden uns allerdings in der Beantwortung der Frage, ob wir Ende 2002
besser oder schlechter als 1998 dastehen. Diese Frage, die
im Wahlkampf behandelt wird, wird von den Bürgern zu
entscheiden sein.
Ich muss Ihnen deutlich sagen: Sie reden Deutschland
bewusst schlecht.
({4})
Sie stehen damit leider nicht alleine da. Wenn ich hören
muss, dass der Präsident des Deutschen Industrie- und
Handelskammertages in einem langen Interview mit der
„Süddeutschen Zeitung“ kürzlich erklärt hat, Deutschland sei wie Argentinien oder genauer gesagt, in
Deutschland sei es noch schlimmer als in Argentinien,
dann schäme ich mich für einen solchen Vertreter der
deutschen Wirtschaft.
({5})
Ich bitte insbesondere die Unternehmen, zu erkennen,
was ihre Verbandsführung macht. In einem besonderen
Falle sind die Unternehmen vorstellig geworden, um zu
bewirken, dass die Enteignungen oder die enteignungsgleichen Vorgänge in Argentinien rückgängig gemacht
werden. Ich wüsste nicht, dass wir von Staats wegen
Bankschalter geschlossen hätten etc.
({6})
Deswegen sage ich: Wenn diese Diskussion insbesondere
seitens der Opposition und der Verbandsführung der Wirtschaft weitergeht, mit der Deutschland schlechtgeredet
wird,
({7})
werden wir uns in der Welt nicht mehr sehen lassen können, und das völlig ohne Grund.
({8})
Wir stehen in allen Eckpunkten zurzeit besser da als
Ende 1998: Der Export ist gegenüber 1998 inzwischen
um ein Drittel höher. Wir haben Anteile am Weltmarkt
zurückgewonnen, nachdem wir in den gesamten 90erJahren Anteile am Weltmarkt verloren haben. Wir stehen
besser da.
Wir stehen, auch was das Handwerk anbelangt, besser
da, denn wir haben einige hundert Millionen in die Ausbildungsstätten des Handwerks und in die überbetrieblichen Ausbildungsstätten investiert.
({9})
Die Handwerksordnung ist heute wesentlich sicherer als
1998, weil wir zusammen mit dem Handwerk den Vollzug
der Handwerksordnung neu geregelt haben. Außerdem
haben wir das Meister-BAföG völlig renoviert und das
Handwerk ist uns dafür dankbar. Auch dort stehen wir
besser da.
({10})
Wir stehen besser da, jedenfalls zur Stunde noch, was
die Wertschätzung des Investitionsstandortes Deutschland bei ausländischen Investoren anbelangt. Sie müssen beachten, dass das Ausland in den drei Jahren 1999,
2000 und 2001 in Deutschland mehr investiert hat als insgesamt von 1990 bis 1998.
({11})
Wenn Sie auf den Vodafone-Fall abheben, sage ich Ihnen:
Wir haben das Investitionsniveau des Auslands in
Deutschland auch ohne den Vodafone-Fall wieder verdoppelt. Wir brauchen ausländische Investoren in diesem
Land, und wir begrüßen sie. Also auch dort stehen wir
besser da.
Auch beim Gang der Bundesrepublik in die digitale
Welt, den Gang aller Bürgerinnen und Bürger in die Informations- und Kommunikationstechnologie stehen
wir wesentlich besser da als Ende 1998.
({12})
Auf diesem Gebiet waren wir Ende 1998 innerhalb Europas ziemlich am Ende. Inzwischen liegen wir, was die Verbreitung von Internet anbelangt, völlig auf dem Weltmaßstab.
({13})
Wir haben - nebenbei bemerkt - die Kosten für die Nutzung der Telekommunikation um bis zu 90 Prozent gesenkt.
({14})
- Natürlich. Ich wüsste nicht, dass Sie für die Regulierung
dieses Marktes zuständig sind. Das ist die Bundesregierung.
({15})
Wir stehen, auch was das Thema Ostdeutschland anbelangt, besser da als Ende 1998.
({16})
Wir haben beispielsweise ein ungeheuer gutes Wachstum
des verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland.
({17})
Das ostdeutsche Gewerbe ist inzwischen in der Weltmarktfähigkeit auf westdeutschem Standard. Der ExportBundesminister Dr. Werner Müller
anteil der ostdeutschen Produkte ist in den Jahren, in denen wir regieren, mehr als verdoppelt worden.
({18})
Wenn wir generell fragen, was in unserem Land nach
1998 eigentlich besser geworden ist, müssen wir feststellen, dass das Wachstumsniveau ein Stück nach oben gehoben worden ist.
({19})
Sie hatten nämlich in den 90er-Jahren - das ist vorher schon
gesagt worden - einen permanenten Rückgang der Wachstumsraten. Wir liegen jetzt im Wachstumsniveau schon
etwa 40 Prozent über dem, was Sie hinterlassen haben.
({20})
Das nächste Jahr wird ein gutes Jahr, und dann ist das
Wachstumsniveau schon annähernd bei 2 Prozent im
Durchschnitt der Jahre. Damit komme ich zu dem, was ich
insgesamt sagen will. Richtig ist: Wir stehen in allen
gesamtwirtschaftlichen Eckpunkten zurzeit besser da als
Ende 1998.
({21})
Insofern haben wir vom Grundsatz her das erreicht, was
den Wählerinnen und Wählern versprochen wurde.
Aber ich sage auch deutlich: Wir haben mit der Rezession, die nach dem 11. September eingetreten ist, nicht
rechnen können.
({22})
- Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt. Wollen Sie sagen, dass Sie vom 11. September vorher gewusst haben?
Das ist doch Unsinn, was Sie da machen. Wir haben diese
Rezession so nicht erwarten können.
({23})
Unabhängig davon sage ich Ihnen: Wir sind nicht am
Ende der Reformarbeit. Wir müssen weiter reformieren.
({24})
Ein Wachstumsniveau in der Größenordnung von derzeit
1,5 Prozent oder 1,7 Prozent reicht uns nicht. Unser Ziel für
die nächsten vier Jahre ist, das Wachstumsniveau im Mittel
auf über 2 Prozent zu heben. Wir werden das erreichen,
({25})
indem wir konsequent die Rahmendaten weiter verbessern. Uns müssen Sie nicht die Frage stellen: Sollen oder
sollten wir nicht die Steuern senken? Wir haben die Steuersenkung, die Sie im Programm haben, schon im Gesetz.
({26})
Gott sei Dank haben Sie sich in Ihrem Programm endlich unserer Einsicht angeschlossen, dass der Dreh- und
Angelpunkt die Besteuerung der kleinen Einkommen
im Privatbereich und der kleinen Einkommen in der gewerblichen Wirtschaft - ich denke insbesondere an die
Personenunternehmen - ist. Deshalb wollen Sie nun nicht
mehr, wie früher permanent, den Eingangssteuersatz hoch
setzen; vielmehr enthält Ihr jetziges Programm die Forderung nach einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent.
Nebenbei bemerkt: Das ist überflüssig; denn es ist schon
Gesetz.
({27})
Wir werden die Arbeitslosigkeit systematisch weiter
abbauen, und zwar überwiegend dadurch, dass wir ein
höheres Wachstumsniveau anstreben, aber auch dadurch,
dass wir Flexibilitäten in den Arbeitsmarkt eingebaut haben.
({28})
Wir werden mit den Unternehmen reden müssen, damit
sie die Flexibilitäten nutzen, beispielsweise die Möglichkeit, befristet einzustellen.
Wir stehen dafür gerade, die Finanzierung des Mittelstandes weiterhin zu Konditionen zu sichern, die der
Mittelstand verkraftet.
({29})
Es handelt sich dabei um ein schwieriges Thema; denn es
wird uns von außen vorgegeben. Wie gesagt, Deutschland
ist nicht Argentinien und schließt die Bankschalter. Die
Banken müssen selbst wissen, ob sie ihre Schalter für das
Handwerk offen halten oder nicht.
({30})
Alles in allem sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir
werden unsere Leistungsbilanz den Bürgern deutlich
machen. Wir werden das vielleicht etwas besser als bisher
tun müssen. Wir haben sehr viele Erfolge erzielt und dabei vergessen, einen Vergleich mit dem Jahre 1998 ziehen.
({31})
- Das mag Sie amüsieren. - Wir treten mit diesen Erfolgen vor den Wähler. Wir werden sagen, was wir in den
nächsten vier Jahren konkret machen werden. Wir werden
nicht wie Herr Späth in der Sendung „Maischberger“ verfahren: Auf die nette Frage nach seinem Programm gab er
die nette Antwort, das sei, wie wenn Kinder fragen, was
es zu Weihnachten gebe;
({32})
darauf werde nicht geantwortet, höchstens: Im Winter ist
es kalt. - Das charakterisiert Sie ein bisschen.
({33})
Bundesminister Dr. Werner Müller
Im Gegensatz zu diesem Hinweis auf Weihnachten
werden wir den Bürgern sagen, welche Verbesserungen
es in diesem Land Jahr für Jahr geben wird. Dann werden
wir um Vertrauen bitten. Wenn wir nicht irgendwelchen
Utopien erliegen, weil Sie sie fordern, dann werden wir
das Vertrauen bekommen. Eines kann man den Bürgern
klar machen: Wir stehen besser als Ende 1998 da, wenn
auch noch nicht gut genug. Warum sollen diejenigen Verantwortung übernehmen, die den Zustand von 1998 herbeigeführt haben?
({34})
Auf dieser Basis ist es mir nicht bange. Wir werden Sie
am 23. September trösten.
Vielen Dank.
({35})
Für die CDU/CSUFraktion erteile ich jetzt dem Kollegen Dr. Klaus Lippold
das Wort.
({0})
Wir
werden es ihm übermitteln. - Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, in
dieser Debatte sollte über Rio und über Nachhaltigkeit gesprochen werden. Sie haben die Kernpunkte von Rio nicht
deutlich angesprochen, geschweige denn im Detail behandelt.
({0})
Ich habe zwar Wahlkampf von Ihnen erwartet; aber ich
bin nicht davon ausgegangen, dass Sie das Thema völlig
vernachlässigen. Das hat das Thema nicht verdient. Was
wir in Rio angestoßen haben, ist für die Welt wichtig.
Sie haben diese Debatte missbraucht, um eine Wahlkampfrede zu halten.
({1})
Herr Bundeskanzler, man muss natürlich auch sehen,
dass Ihre Regierungserklärung unter dem Motto „Politik
für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung“ steht. Zum
Thema Beschäftigung haben Sie nichts gesagt, Herr Bundeskanzler. Das haben Sie dem Minister überlassen, von
dem Sie sagen, dass er es nicht wert ist, der nächsten Regierung wieder anzugehören.
({2})
Sie selbst sind auf das Thema Beschäftigung nicht eingegangen. Das verstehe ich. Sie haben versprochen, die
Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen zu senken. Wir haben
4 Millionen Arbeitslose. Sie haben dazu heute kein einziges Wort gesagt, weil Sie wissen, dass da Ihr Defizit liegt.
({3})
Herr Schröder, die Politik der ruhigen Hand haben Sie
heute wieder praktiziert, indem Sie nichts in der Sache gesagt haben.
({4})
Wir werden Ihnen deutlich machen, dass 4 Millionen Arbeitslose ein Skandal sind, auch wenn Sie dies verschweigen wollen.
In die Beschäftigungsstatistiken, die Ihr Minister - den
Sie, wie gesagt, nicht für wert halten, dass er der nächsten
Regierung wieder angehören soll - vorgelegt hat, haben
Sie die Teilzeitarbeit mit hineingerechnet, die früher nicht
drin war. Das ist eine glatte Beschönigung der realen Verhältnisse. An weiteren Verfälschungen der Statistik haben
wir Sie Gott sei Dank hindern können.
({5})
Aber das ist nicht das Einzige. Die Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, sollte nicht nur Politik für
Beschäftigung, sondern auch Politik für Wachstum beinhalten. Beim Thema Wachstum erwischen wir Sie dabei,
dass die Zahlen Tag für Tag herunterkorrigiert werden. Sie
stehen Tag für Tag an, diese Zahlen zu beschönigen. Sie
sagen: Es kommt; am fernen Himmel ist Hoffnung.
Das hat auch Ihr Minister Müller gerade wieder gemacht. Aber wir müssen doch festhalten: Nach wie vor
werden die Zahlen herunterkorrigiert. Wir werden in diesem Jahr bei 0,5 Prozent Wachstum landen. Das ist das
schlechteste Ergebnis in Europa. Dazu haben Sie kein einziges Wort gesagt. Wie wollen Sie von der roten Laterne
wegkommen, ohne hier etwas zu tun?
({6})
Herr Bundeskanzler, wir wissen, dass die Beschäftigungsproblematik ohne ein ausreichendes Wachstum
nicht zu lösen ist. Anders ist das nicht zu erreichen. Deshalb bitte ich, dass Sie noch einmal deutlich machen lassen, was Sie denn nun wirklich tun wollen. Davon haben
wir in der ganzen Regierungserklärung nichts gehört.
Jetzt noch eine Frage. Sie haben auch etwas zur Problematik Wohlstand gesagt. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, sich ansehen, wie sich die Reallöhne in den letzten
Jahren entwickelt haben, dann werden Sie feststellen, dass
die Reallöhne keinen Zuwachs hatten, sondern zurückgegangen sind. Ist das der Wohlstand für alle, den Sie versprechen? So, Herr Bundeskanzler, können Sie es nicht
halten.
Der nächste Punkt. Sie haben ganz kurz die Themen
Nachhaltigkeit und Umweltschutz gestreift. Aber was ist
denn dabei herausgekommen? Bei der Klimaschutzvereinbarung haben wir das Ziel von 25 Prozent Reduzierung
des CO2-Ausstoßes festgelegt. Sie haben damals gesagt,
das sei zu wenig. Was haben wir heute? Wir sind weit davon entfernt, diese Zielsetzung, die mit uns erreichbar gewesen wäre, mit Ihnen zu erreichen.
Bundesminister Dr. Werner Müller
({7})
Ich will das ganz deutlich sagen: Seit zwei Jahren, Herr
Bundeskanzler - das sind Daten aus dem Hause des Wirtschaftsministeriums -, steigen die CO2-Emissionen wieder. Sie sinken nicht, sie steigen! Auch das ist ein Punkt,
bei dem Sie Zusagen klar verfehlen und bei dem das, was
wir avisiert haben, von Ihnen nicht eingehalten worden
ist.
Es gibt keine grundsätzlich neue Zielsetzung im Bereich des Umweltschutzes. Sie haben allenfalls das fortgesetzt, was wir begonnen haben, und das in Teilen mit
ganz geringem Erfolg.
Ich konzediere, dass Sie im Bereich der Altbausanierung einiges Geld mehr zur Verfügung stellen konnten.
Das haben wir allerdings auf den Weg gebracht. Sie sind
den Weg weitergegangen. Aber die Instrumente variieren,
steuerliche Anreize schaffen, damit wir hier wirklich mit
Schwung, mit Impuls, mit Innovation mehr erreichen, das
alles tun Sie nicht, das alles lassen Sie mit ruhiger Hand
an sich vorbeigleiten. Ich meine, das ist in dieser Form
ausgesprochen falsch. So sollten wir das nicht machen.
({8})
Lassen Sie mich noch einmal deutlich machen, wie Sie
relativieren, Herr Bundeskanzler. Ich lese im „Tagesspiegel“, dass Sie sich mit der FDP anlegen. Aber viel interessanter ist:
Mit Blick auf den Vorwurf der Union, Deutschland
sei Europas Schlusslicht beim Wachstum, sagte
Schröder, es sei „verwunderlich“, wenn „doch tatsächlich das portugiesische Wachstum mit unserem
verglichen“ werde. Die Heranführung der schwächeren Volkswirtschaften in Europa an die reicheren sei
„doch gerade der Sinn“ der EU. Daher sei ein „schematischer Vergleich“ von Wachstumszahlen „ökonomisch ziemlich fragwürdig und politisch unsinnig“.
Herr Bundeskanzler, ich will Ihnen ganz offen sagen:
Wenn Sie meinen, dass das Zusammenwachsen der europäischen Volkswirtschaften dadurch passiert, dass wir
ein ganz geringes Wachstum haben und die anderen ein
hohes, dann sage ich Ihnen, das ist der falsche Weg. Diese
Art von Interpretation, die Sie hier gebracht haben, mit
der Sie noch Entschuldigungen dafür finden, dass Sie
nichts, aber auch gar nichts zum Wachstum beitragen, ist
falsch.
({9})
Wenn Sie dann noch darauf verweisen, das sei weltwirtschaftliche Entwicklung, kann ich nur sagen: Die
weltwirtschaftliche Entwicklung ist für die anderen europäischen Länder nicht anders als für die Bundesrepublik
Deutschland. Aber Sie haben daraus nichts gemacht, die
anderen haben etwas daraus gemacht. Deshalb werden die
Zahlen für die Bundesrepublik immer schlechter und die
Menschen haben damit zu Recht weiterhin Angst, dass sie
ihren Arbeitsplatz verlieren. Arbeitsplatzverluste sind angesagt.
Herr Minister Müller hat gerade gesagt, im Handwerk
habe man etwas getan. Wir haben mit dem Handwerkspräsidenten gesprochen. Das, was Sie getan haben, bewirkt - davon wird derzeit ausgegangen -, dass in der
nächsten Zeit 60 000 Handwerksbetriebe schließen,
({10})
dass Arbeitsplätze vernichtet werden und dass es durch Ihre
Politik gerade im mittelständischen Bereich der Wirtschaft,
in dem früher Arbeitsplätze geschaffen wurden, kein Impulse, keine Innovationen und kein Anreize zur Schaffung
von Arbeitsplätzen gibt. Mit Ihnen geht es weiter bergab.
Deshalb haben die Menschen Angst. Aus dieser Angst entwickelt sich die Tendenz zum Ansparen. Aus diesem Ansparen entwickeln sich weniger Investitionen. Das alles kumulativ gesehen, führt in einen Weg abwärts, den allein Sie,
Herr Bundeskanzler, zu verantworten haben.
({11})
Ein letzter Aspekt. Es ist nicht erstaunlich, dass Sie im
Hinblick auf Nachhaltigkeit - Kollegin Homburger hat
dies sehr deutlich gesagt - nicht weitergekommen sind.
Vier der wesentlichen Minister, von denen Sie sagen, dass
sie ihr Amt nicht wieder antreten sollen, sind für die Hauptbereiche, in denen nachhaltige Politik betrieben werden
soll, verantwortlich. Mit einem solchen Personal, das Sie
selbst ausmustern, kann man keine Bäume ausreißen.
({12})
Sie sehen, der 22. September 2002 ist überfällig. Denn
wenn die Personen, von denen Sie schon jetzt sagen, dass
sie eigentlich nicht in das Kabinett gehören, erst am
22. September ausgewechselt werden, dann ist das, Herr
Bundeskanzler, viel zu spät. Die sind schon jetzt überflüssig.
({13})
Das Wort hat jetzt
Bundesminister Jürgen Trittin.
Das gibt mir aber Veranlassung zu folgender Bemerkung: Zum Ersten freue ich mich, dass der Bundesaußenminister anwesend ist. Es wäre aber schön, wenn er Platz
nehmen würde.
Zum Zweiten sollte die Bundesregierung darüber
nachdenken, ob es fair ist, wenn ein Minister, der gesprochen hat, sofort den Saal verlässt. Ich glaube, er sollte hier
bleiben.
({0})
Aber nun spricht ja ein Minister. Er macht es sicherlich
ganz vorbildlich und bleibt im Anschluss an seine Rede
im Saal sitzen.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Dr. Klaus W. Lippold ({0})
Damen und Herren! Ich habe der Presse entnommen, dass
sich gestern der Kanzlerkandidat der Union, Edmund
Stoiber, gegen die Amerikanisierung der Lebensverhältnisse ausgesprochen hat. Das war kein Kommentar
zum anstehenden Bush-Besuch, sondern die Inanspruchnahme von dem, was die CDU/CSU für soziale
Verantwortung in diesem Lande hält.
Herr Stoiber sollte allerdings darauf achten, wer an seiner Seite zur Rechten, im Gagamobil sitzend, versuchen
möchte, ihm zu einer Mehrheit zu verhelfen.
({1})
Ist es etwa keine Amerikanisierung der Lebensverhältnisse in diesem Lande, wenn künftig jemand mit einem
Jahreseinkommen von 40 000 Euro den gleichen Steuersatz zu zahlen hat wie ein Einkommensmillionär? Das ist
die Politik der FDP. Das ist die Politik, die man zutreffend
mit neoliberal und mit Amerikanisierung, die Herr Stoiber
abgelehnt hat, bezeichnen kann.
({2})
Wir sprechen hier über Nachhaltigkeit. Die FDP hat angekündigt, den Anteil der Sozialversicherungsbeiträge
an den Lohnkosten auf 35 Prozent zu senken. Sie haben in
diesem Lande 29 Jahre Zeit gehabt, dieses Programm umzusetzen. Was war, als Sie das 29 Jahre versucht haben?
Am Ende lag er nicht bei 35, nicht bei 36 und auch nicht
bei 40, sondern bei 43 Prozent. Das ist Ihre Politik gewesen.
({3})
Jetzt sagen Sie: Das, was die jetzige Regierung erreicht
hat, nämlich eine Senkung durch die ökologische Steuerreform, wollen wir rückgängig machen. - Ihr Wahlprogramm ist die Ankündigung, die Sozialversicherungsbeiträge durch die Aufhebung der Ökosteuer gleich
wieder auf 43 Prozent anzuheben, weil Sie bis heute keine
Antwort darauf haben, woher die dann fehlenden 12 Milliarden Euro herkommen.
({4})
Das ist der Weg, den die rechte Seite der Opposition an
dieser Stelle gehen möchte. Aber das, was sich da zusammenfindet, ist gerade unter wirtschaftlichen Aspekten in
keiner Weise zu akzeptieren.
Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, dann gilt der
alte Satz: Man kann global nur das durchsetzen, was man
selber zu Hause praktiziert.
({5})
Der alte Grundsatz „Predige Wasser und saufe Wein!“
funktioniert nicht. Schauen wir uns das einmal auf dem
Gebiet der Energiepolitik an: Wer verkauft zurzeit zur Behebung der Energiekrise in Kalifornien hocheffiziente
Gasturbinen? Deutsche Unternehmen. Wie sind diese
deutschen Unternehmen in diese Situation gekommen?
Weil diese Koalition es geschafft hat, die steuerliche Diskriminierung dieser hocheffizienten Gasturbinen, die zu
Ihrer Regierungszeit an der Tagesordnung war, zu beseitigen. Wer hat damals Aktuelle Stunden hier im Hause gegen die Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung
veranstaltet? Sie von der Union auf der rechten Seite, weil
Sie nach wie vor der Auffassung sind, Energiepolitik
könne man mit zwei Worten beschreiben, nämlich nuklear
und fossil. Darauf beruht Ihre Politik, nicht auf Erneuerung und Modernität.
({6})
Ein anderes Beispiel: Da gibt es einen Don Quichotte
aus dem Münsterland namens Jürgen W. Möllemann. Er
schließt sich Initiativen gegen die Errichtung von Windparks an. Da hat er in zwei Bundesländern wenig zu tun,
nämlich in Bayern und Baden-Württemberg. Während in
Mecklenburg-Vorpommern, in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein und in Brandenburg heute unzählige Landwirte mit der Errichtung und dem Betrieb von Windparks
eine zweite Ernte einfahren, wird in Bayern und BadenWürttemberg exakt die Politik betrieben, die Herr
Möllemann fordert, nämlich eine absolute Blockadepolitik gegenüber dem Ausbau erneuerbarer Energien. Das ist
nicht nur ein Anschlag auf die Landwirtschaft und die Interessen der Landwirte, meine Damen und Herren. Nein,
denn die deutsche Windbranche fragt heute auch mehr
Stahl nach als die gesamte deutsche Werftindustrie.
({7})
Wenn Sie in diesem Land an die Regierung kommen,
dann gefährden Sie nicht nur die 35 000 Arbeitsplätze in
der Windbranche, sondern auch das Einkommen von
Landwirten und die Arbeitsplätze der Kolleginnen und
Kollegen in der Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen
und anderswo.
({8})
Meine Damen und Herren, wenn Sie das unter Nachhaltigkeit verstehen, dann wundert mich die Rede der verehrten Kollegin Merkel überhaupt nicht. Sie sagte darin,
ein Musterbeispiel für die schlechte Politik dieser Regierung sei es, dass einige Legehennenzüchter nun ins Ausland abgewandert seien. Welche waren denn das? Das waren die, die Hunderttausende von Hennen auf engstem
Raum hielten und zur Steigerung des Ertrages ihre Hühner mit Nikotin besprühten. Wenn Sie, meine Damen und
Herren, Frau Merkel, diese Form von tierquälerischer
Massentierhaltung als Ausdruck von Nachhaltigkeit ansehen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Über diesen Begriff
von Nachhaltigkeit lachen die Hühner.
({9})
Letzte Bemerkung, Frau Präsidentin, bevor ich zum
Schluss komme: Eines hätten Sie, Frau Merkel, nicht tun
dürfen und stattdessen besser zu Ihrer Politik geschwiegen. Joschka Fischer hat darauf hingewiesen, dass wir die
Ausgaben für Gebäudeisolierung gegenüber Ihrer Zeit
auf das Achtfache angehoben haben. Er hat darauf hingeBundesminister Jürgen Trittin
wiesen, wie die von Ihnen regierten Bundesländer verzweifelt versucht haben, die 30-prozentige Anhebung der
Wärmestandards in der Energiesparverordnung zu verhindern; voran ging dabei Bayern mit Stoiber.
Ich sage Ihnen noch ein Weiteres.
Lieber nicht.
Als ich das Amt von Frau
Merkel übernommen habe, lagen die CO2-Emissionen
der privaten Haushalte 7 Prozent über denen von 1990.
Heute liegen sie 11,5 Prozent darunter. Das ist, meine Damen und Herren, praktizierte Nachhaltigkeit.
({0})
Diese Nachhaltigkeit können Sie nur mit der Ökosteuer
praktizieren, für die auch Sie früher waren, was Sie aber
jetzt nicht mehr wahrhaben wollen.
({1})
Für die FDP-Fraktion
erteile ich jetzt das Wort der Kollegin Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Trittin, auch Ihnen möchte ich das Zitat
der „Frankfurter Rundschau“ von heute nicht ersparen,
gemäß dem es die FDP verdient habe, um ihres Programmes wegen bekämpft zu werden. Ich wäre Ihnen ausgesprochen dankbar, wenn auch Sie sich an unserem Programm entlanghangeln würden und nicht irgendwelche
Luftblasen darüber in die Welt setzen, was wir angeblich
sagen oder nicht sagen.
({0})
Ich wäre Ihnen auch dankbar, wenn Sie sich heute, wo wir
uns wahrscheinlich im Endeffekt fünf Regierungserklärungen antun, etwas mehr mit den Themen befassten,
um derentwillen wir heute hier sind. So liegt zu einem
Thema auch ein entsprechender Antrag vor.
Wir haben hier nicht den Wahlkampf zu eröffnen, sondern über Nachhaltigkeit in der Politik und über unser
tägliches Wirken zu reden.
({1})
Ich empfehle Ihnen, sich mit der politischen Prosa, die uns
von Rot-Grün auf den Tisch gelegt wurde und über die Frau
Burchardt gleich sprechen wird, auseinander zu setzen.
Sie haben dafür gesorgt, dass der Bürger in Deutschland nach der heutigen Debatte, die inzwischen mehr als
drei Stunden andauert, überhaupt nicht mehr weiß, was
wir uns unter Nachhaltigkeit vorstellen sollen. Wir haben
sozusagen einen Omnibus an politischen Forderungen
über uns ergehen lassen. Sie gehen ganz offensichtlich davon aus, dass es besser ist, Ihre Vorstellungen in Richtung
der Fernsehkameras zu erzählen, anstatt sie in Ihren Programmen und auf den Parteitagen zu verabschieden.
Meine Freunde,
({2})
ich wäre Ihnen sehr verbunden,
({3})
wenn die Minister, die hier Regierungserklärungen abgeben, nicht hinterher abzwitschern, sondern auch auf ihren
Plätzen sitzen bleiben und sich dem politischen Gegner
stellen.
({4})
Forschungspolitik und Innovation war immer das
Lieblingsthema von Frau Burchardt in der zuständigen
Enquete-Kommission, deren Ergebnis wir heute hier besprechen.
({5})
Diese Themen sind weder in Ihren Anträgen noch in Ihren
Reden zu finden. Der Bundeskanzler hat - ich habe mir
die Rede angehört - das Wort Forschung in einem einzigen Nebensatz erwähnt, das Wort Innovation kam überhaupt nicht vor und das Thema Bildung erwähnte er nur
in einem kleinen Nebensatz über die Ganztagsschulen.
In diesem Zusammenhang sage ich für die FDP: Wer
Bildung und Nachhaltigkeit in der Bildungs- und Forschungslandschaft so versteht,
({6})
dass man ein 5-Milliarden-Programm in die Welt setzt,
das Geld, das haushaltspolitisch noch nicht einmal abgesichert ist, sozusagen unter den Leuten verstreut und ansonsten in den letzten vier Jahren kein Wort zu dem
Thema vorschulische Betreuung gesagt hat, beschreitet
den falschen Weg. Vielmehr sind die Vorschläge meiner
Kollegen zum Thema Tagesmutter Teil der Nachhaltigkeitspolitik.
Sie behaupten, dass die Kollegen von der CDU ein
falsches Familienbild haben. Ich frage mich: Was ist Ihr
Familienbild?
({7})
Was sagen Sie zur individuellen Behandlung des Menschen, der zu Hause ist, der arbeiten möchte, der Kinder
haben möchte und dies alles miteinander vereinbaren
muss? Sie haben ihm in den vergangenen vier Jahren dabei nicht geholfen. Jetzt, wo Sie die UMTS-Erlöse haben,
sagen Sie: Wir werden das alles sicherstellen. Als Forschungs- und Bildungspolitikerin sage ich Ihnen: Ich vermute, dass das die gleichen UMTS-Gelder sind, die Sie bereits seit zwei Jahren in diesem Bereich verstreuen. Ich bin
gespannt, welche Steigerungen Sie im Forschungs- und
Bildungsbereich im Rahmen der Haushaltsberatungen im
Herbst dieses Jahres vorschlagen.
({8})
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Thema Forschung sagen. Frau Burchardt, in Ihrem Antrag zum
Thema Nachhaltigkeit haben Sie wenig Konkretes geschrieben; das meiste war Prosa. Sie haben einen Punkt
angeführt, der mir doch etwas merkwürdig erschien, und
zwar, dass Sie die Gewinnung von Methanhydraten ablehnen. Ich frage mich: Gibt es denn überhaupt keine
Kommunikation zwischen Parlament und Regierung
mehr? Im Geophysikalischen Institut in Potsdam wird im
Auftrag der Regierung die Grundlagenforschung auf diesem Gebiet betrieben. Das ist für die heutige Debatte typisch: Sie haben die Gelegenheit genutzt, Ihre Programme
darzulegen; das Thema Nachhaltigkeit haben Sie dabei
völlig vernachlässigt.
({9})
Im Forschungsbereich haben wir sehr oft über Nachhaltigkeit gesprochen. Wir hätten beispielsweise über die
Stammzellenforschung reden können; wir hätten über die
Brennstoffzelle reden können; wir hätten über die Kernfusion reden können. All diese Themen kamen in Ihren
Reden absolut nicht vor.
({10})
- Ich habe sehr gut zugehört. - Der Bundeskanzler sprach
wieder einmal vom Ausstieg aus der Kernkraft. Er hat
der Opposition vor versammelter Mannschaft unterstellt,
morgen ein Kernkraftwerk bauen zu wollen. Woher nehmen Sie die Sicherheit, um solche Behauptungen vor Millionen von Menschen in die Welt zu setzen?
({11})
Es gibt keine einzige Partei in diesem Lande, die nicht
weiß, dass der Bau eines Kernkraftwerkes zurzeit nicht
notwendig ist.
({12})
Diese Frage stellt sich überhaupt nicht. Ich kann zwar verstehen, dass Sie den Wahlkampf mit solch plakativen Behauptungen füllen wollen, der Realität entspricht das aber
überhaupt keineswegs.
({13})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Thema ganz kurz anschneiden: die grüne
Gentechnik. Die habe ich übrigens in Ihren Ausführungen
vermisst. Sie haben bezeichnenderweise kein einziges
Wort dazu gesagt. Ich wäre dankbar gewesen, wenn unter
den unzähligen Regierungserklärungen, die wir heute
gehört haben, auch eine von Frau Künast gewesen wäre;
({14})
denn in diesem Politikbereich wird im Augenblick nur
moderiert und nicht so agiert, wie es notwendig wäre.
Auch hier kann ich Ihnen als FDP-Politikerin nur sagen: Wir belasten die Menschen, indem wir ihnen die
Arbeitsplätze in einem wirklich innovativen Bereich verweigern, und wir haben einen Bundeskanzler, der in einer
auf die Zukunft gerichteten Rede noch nicht einmal einen
halben Nebensatz zu diesem Thema gefunden hat. Ich bedauere das. Das hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun.
({15})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ulla Burchardt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert,
wie engagiert sich Frau Flach und Herr Lippold darüber
beklagt haben, dass der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung angeblich nichts zum Thema Nachhaltigkeit gesagt hat, um sich anschließend mit ihren alten ideologischen Ladenhütern und den Rezepten von gestern
auszulassen, die nun wirklich nicht zukunftsfähig sind.
({0})
Ich möchte zu Anfang Herrn Klaus Töpfer zitieren, der
vor wenigen Tagen mit Blick auf den UN-Gipfel in Johannesburg dankenswerterweise noch einmal die Vision
von Rio in Erinnerung gebracht hat. Er sagte in der „Zeit“:
Wir träumten damals, kurz nach Überwindung der
Ost-West-Teilung der Welt, von der Friedensdividende. Wir träumten davon, solidarische Zusammenarbeit, aber auch Geld einsetzen zu können, um einen
neuen kalten Krieg zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich zu vermeiden.
Er stellte ernüchtert fest, dass die Hoffnungen nicht
Wirklichkeit geworden sind, dass die reichen Länder des
Nordens weiterhin auf Kosten der Armen leben. Und
wörtlich:
Dass wir die Lebensbedingungen der Menschen dort
verschlechtern, weil wir negative Umwelteffekte aus
unserer Wohlstandskalkulation einfach ausklammern, ist eine ökologische Aggression - und wird zunehmend auch so verstanden.
({1})
Deswegen ist die Erkenntnis von Rio, dass es ohne den
Erhalt der natürlichen Ressourcen und ohne globale Gerechtigkeit keine dauerhafte wirtschaftliche und soziale Entwicklung gibt, aktueller denn je. Das heißt, ohne faire Chancen auf Arbeit, Einkommen, Bildung und Teilhabe am
Wohlstand gibt es keine Sicherheit. Globaler Umweltschutz
und Armutsbekämpfung sind nicht nur eine Frage der Verantwortung für kommende Generationen, sondern Bedingung für Frieden und Sicherheit in der globalisierten Welt.
({2})
Ulrike Flach ({3})
Es ist gut für Deutschland und die Welt, Herr Lippold,
dass wir mit Bundeskanzler Gerhard Schröder einen
Mann an der Spitze unseres Landes haben, der die Zusammenhänge versteht. Deswegen ist Klaus Töpfer auch
Mitglied des Rats für nachhaltige Entwicklung. Sie haben
ihm nichts Adäquates anzubieten. Sein Rat wird offensichtlich bei Ihnen nicht mehr gebraucht.
({4})
Nachhaltigkeit - darauf haben Frau Merkel und andere
schon richtig hingewiesen - war der Auftrag zum Paradigmenwechsel in der Politik: raus aus der Kurzatmigkeit,
hin zur langfristigen Perspektive. Auch der damalige Bundeskanzler hat sich wie alle anderen Staats- und Regierungschefs dazu verpflichtet. Doch was ist in Deutschland
in den Jahren, als Sie regiert haben, passiert?
Sie, Frau Merkel, haben davon gesprochen, dass der
alte Kanzler viel geredet hat. Er hatte seinen großen Auftritt bei Rio plus 5; aber mehr war zu diesem Thema von
dem Mann nicht mehr zu vernehmen. Schauen wir uns
jetzt an, was Sie aus den Verpflichtungen von Rio gemacht haben: Außer zahllosen folgenlosen runden Tischen ist nichts gewesen. Sie sind mit ihren Vorlagen
schon im Kabinett gescheitert. Nichts ist passiert. Das,
liebe Frau Merkel, ist für mich: versprochen und gebrochen. Sie sollten mit dieser Formulierung sehr vorsichtig
sein; denn sie schlägt immer wieder auf Sie selber und auf
Ihre eigene Partei und Fraktion zurück.
({5})
Wenn Sie sich, inklusive Frau Homburger und Herrn
Paziorek, heute darüber beklagen - so steht es auch im
Antrag der CDU/CSU -, dass Deutschland im Hinblick
auf die Nachhaltigkeitsstrategie den Anschluss an die
internationale Entwicklung nicht gefunden hat, dann ist
das wirklich Ihr Verdienst; denn von 1992 bis 1998 ist zu
diesem Thema nichts passiert.
({6})
Wir lösen mit der Nachhaltigkeitsstrategie das Versprechen von Rio ein und sorgen auch mit diesem Projekt
dafür, dass Deutschland den Anschluss findet. Wir verstehen Nachhaltigkeit als die große Chance für die Politik,
im Zeitalter der Globalisierung handlungsfähig zu bleiben
und nicht nur reagieren, sondern auch agieren zu können.
({7})
Es ist offenkundig, dass angesichts einer immer mehr
zusammenwachsenden Welt, eines beschleunigten technologischen und ökonomischen Wandels und zunehmend
komplexer werdender Problemlagen ein neuer Gestaltungsansatz überfällig ist. Mit den von Ihnen vorgeschlagenen kurzfristigen Aktionismen und den leeren Versprechungen ist wirklich kein Staat und schon gar nicht der
Staat der Zukunft zu machen.
Drei Dinge sind notwendig: eine Verständigung über
Werte und Ziele, mehr Vernetzung und Kooperation und
mehr Beteiligung. Genau das erfüllt unsere Nachhaltigkeitsstrategie. Sie formuliert die Werte, die notwendig
sind, um unsere Gesellschaft dauerhaft zusammenzuhalten. Sie setzt motivierende Ziele und benennt Reformschritte und Verantwortlichkeiten. Niemals zuvor hat eine
Regierung die langen Linien ihrer Politik so transparent
gemacht und so viele Bürgerinnen und Bürger einbezogen. Das ist mutig und zeigt, dass wir Politik für und mit
den Menschen machen. Das alles sind Kennzeichen für
ein modernes Regieren im 21. Jahrhundert.
({8})
Natürlich gibt es auch Kritik. Wie könnte es anders
sein? Manchen geht die Zielsetzung nicht weit genug, anderen geht sie wiederum zu weit. Diese Widersprüchlichkeit findet man selbst in der CDU/CSU-Fraktion. Der
Chor der Kritiker ist dissonant. Fest steht aber eines: Die
rot-grüne Bundesregierung hat das gemacht, worauf viele
Menschen, die sich in lokalen Agenda-Initiativen, Kirchen, Umweltverbänden, Gewerkschaften und auch Unternehmen für die Nachhaltigkeit engagieren, schon seit
langer Zeit gewartet haben. Sie haben darauf gewartet,
dass vonseiten der Bundesregierung endlich etwas geschieht. Frau Merkel, wir tun etwas und haben nicht nur
warme und lobende Worte für die Menschen übrig.
({9})
Ich kann verstehen, dass die Opposition keinen Beifall
zollt. Aber konstruktive Kritik wäre etwas ganz Schönes,
wenn es sie denn endlich einmal gäbe. Wie gut wäre es für
unser Land, wenn wir hier in diesem Hause endlich einmal einen produktiven Streit über die Zukunftsgestaltung
führen könnten. Wenn man sich die Debatte heute jedoch
anschaut, kann man nur sagen: Fehlanzeige. Die CDU/
CSU und die FDP, die die Chancen auch während ihrer
Regierungszeit schon verpasst haben, tischen uns hier seit
Jahren Rezepte von gestern auf. Sie betreiben Schwarzmalerei und klagen darüber, dass sie an der Formulierung
der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung angeblich nicht beteiligt waren.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Wo waren Sie
denn, als die Bundesregierung durch Staatsminister Bury
die Strategie zur Diskussion gestellt hat? Außer den drei
Umweltaktivisten in Ihrer Fraktion hat sich doch niemand
dafür interessiert. Wo waren Sie bei den Veranstaltungen
des Rates, der eingeladen hatte? Er hätte sich gefreut,
wenn alle Fraktionen vertreten gewesen wären. Wo waren
denn Ihre parlamentarischen Initiativen in den letzten drei
Jahren? Nichts, absolut nichts war vorhanden. Deswegen
sollten Sie bei den Themen Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit den Mund nicht ganz so voll nehmen, wie Sie es
bis jetzt getan haben.
({10})
Frau Homburger, Ihr Klagelied kenne ich ja. Dass wir
nicht sofort am ersten Tag nach der Regierungsübernahme
das Strategiepapier aufgelegt haben, stimmt.
({11})
Nehmen Sie aber eines zur Kenntnis: Ab dem ersten Tag
haben wir unsere Politik der Nachhaltigkeit und Verantwortlichkeit für das Ganze wahrgenommen. Bei uns steht
jedes Ressort in der Pflicht, zu einer nachhaltigen Entwicklung in nationaler und globaler Perspektive beizutragen. Unsere Entwicklungspolitik hat maßgeblich zum
Schuldenerlass für die ärmsten Länder beigetragen. Mit
dem Aktionsprogramm zur Armutsbekämpfung leisten
wir unseren Beitrag zum Erreichen des Ziels, die Zahl der
in absoluter Armut lebenden Menschen bis 2015 weltweit
zu halbieren.
Herr Repnik und andere, wir haben das ständige Absenken der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit,
das Kennzeichen Ihrer Regierungspolitik war, gestoppt.
Wir haben die Trendwende geschafft und stehen zu der
0,7-Prozent-Verpflichtung. Unser konkretes Zwischenziel lautet 0,33 Prozent bis 2006. Das sind klare und
konkrete Ansagen. Das haben Sie während Ihrer gesamten Regierungszeit nicht einmal im Ansatz hinbekommen.
({12})
Entwicklungszusammenarbeit ist heute globale Strukturpolitik und damit ein existenzieller Beitrag zur Friedenssicherung. Es ist insbesondere auch das Verdienst der
Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, dass
Deutschland für dieses Engagement weltweit Anerkennung
findet.
Frau Kollegin Flach, nicht von ungefähr steht heute
auch die Bildungs- und Forschungspolitik auf der Tagesordnung. Wir haben sie darauf gesetzt. Bei uns können
mehr Leute als nur der Bundeskanzler etwas zum Thema
Bildung und Forschung sagen. Wir haben an dieser Stelle
eine Arbeitsteilung, die nach innen und nach außen gut
funktioniert.
({13})
Für uns sind Nachhaltigkeit und Innovation ganz
selbstverständlich zwei Seiten einer Medaille; denn Wissen ist die einzige Ressource, die unbegrenzt zur Verfügung steht. Mit den neuen Zielen und Schwerpunkten und
dem Aufbrechen verkrusteter Strukturen, die Sie hinterlassen haben, haben wir die Bildungs- und Forschungspolitik auf die Höhe der Zeit gebracht: weg von der alten
Ziel- und Orientierungslosigkeit hin zu einer Politik, die
zukunftsfähige Innovationen fördert; Innovationen, die für
mehr Lebensqualität, mehr Gesundheit und eine intakte
Umwelt sorgen, neue Arbeit schaffen und damit unsere
Volkswirtschaft langfristig wettbewerbsfähig machen.
In nur knapp vier Jahren - das sollten Sie einfach mal
zur Kenntnis nehmen - ist Deutschland zu einem der attraktivsten Innovationsstandorte der Welt geworden. Wir
haben die höchste Dichte an innovativen Unternehmen in
Europa. In Deutschland werden doppelt so viele Patente
wie im europäischen Durchschnitt angemeldet. Damit liegen wir weltweit auf dem zweiten Platz. Für uns ist Bildung der Schlüssel für Zukunftsfähigkeit. Daran, wie mit
dem Thema umgegangen wird, lässt sich die Zukunftsfähigkeit von Politik messen.
Die alte Regierung von CDU/CSU und FDP hat eine
Politik gemacht, mit der Ausgrenzung und soziale Auslese
gefördert wurden. Wohin das geführt hat, zeigt die PISAStudie.
({14})
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Wir gehen mit dieser Ressource nachhaltig um. Wir wollen die bestmögliche Bildung und Ausbildung für jeden
Menschen fördern, nicht nur wegen der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch wegen der ökonomischen Vernunft.
Sie haben die Ausgaben für Bildung und Forschung
fortlaufend gesenkt. Wir heben sie auf Rekordniveau. Wir
haben von Ihnen die Erblast einer Studienanfängerquote
von 25 Prozent übernommen, die weit unter dem internationalen Durchschnitt liegt. Wir schließen auf. Unser Ziel
ist, 2010 40 Prozent zu erreichen. Mit unserer BAföGReform können heute schon 80 000 junge Menschen mehr
als 1998 studieren. Wir haben vielen jungen Menschen
durch unsere Ausbildungs- und Arbeitsmarktpolitik neue
Chancen eröffnet.
Wir fördern eine neue Lernkultur und lebenslanges
Lernen. Das bedeutet nicht nur den Einsatz von Computern, für die wir schon gesorgt haben. Gelegentlich hilft
traditionelles Lesen, das hätte man Ihnen empfehlen können. Dann hätten Sie Ihre Anträge nicht geschrieben. All
das, was Sie an vernünftigen Forderungen zur Nachhaltigkeitsstrategie und zur Bildungs- und Forschungspolitik
aufstellen, haben wir schon längst in Angriff genommen.
Wir machen die zukunftsfähige Politik für die Menschen
in unserem Land und in globaler Verantwortung.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Christian Ruck für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zehn Jahre nach der berühmten Konferenz von Rio stehen wir erneut vor einer ganz
wichtigen UN-Konferenz zur nachhaltigen Entwicklung.
Frau Burchardt, um das noch einmal klarzustellen: Es waren damals Kohl und seine Mannschaft, die im Vorfeld
und auch auf der Konferenz selbst verantwortlich mit
dafür gesorgt haben, dass es überhaupt zu einem Rio-Prozess kam und dass dieser Geist von Rio Geschichte geschrieben hat.
Aus diesem Geist heraus haben vor zehn Jahren Regierungschefs aus über 120 Ländern tatsächlich das Gefühl entwickelt, dass man gemeinsam Verantwortung füreinander und auch für zukünftige Generationen trägt. Wir
sind heute und in den nächsten Monaten aufgefordert, diesem Rio-Prozess neue Impulse zu verleihen. Das ist auch
nötig; denn viele Industrie- und Entwicklungsländer haUlla Burchardt
ben ihre Zusagen nicht eingelöst mit der Folge, dass sich
viele Entwicklungs- und Umweltprobleme verschärft haben. Dass sich diese Probleme globalisieren, hat der
11. September des letzten Jahres deutlich gezeigt.
({0})
Die Konferenz in Johannesburg kann und muss ein Erfolg werden; aber das wird sie nicht automatisch. Es hängt
wie damals in Rio auch davon ab, wie engagiert sich die
deutsche Politik einbringt, damit sich die Staatengemeinschaft wieder zu konkreten Problemlösungen durchringt.
Bundeskanzler Schröder kann man vieles vorwerfen, aber
eines nicht: dass er in seiner Rede zu konkret wurde. Es
war eher eine Rede des Alles und Nichts. Was wir aber
wirklich brauchen, sind konkrete Taten und Angebote sowie attraktive nachhaltige Konzepte im Reisegepäck für
Johannesburg. Genau das ist der Punkt, in dem sich die
Union und die FDP fundamental von der Auffassung von
Rot-Grün unterscheiden.
Was ist denn ein attraktives nachhaltiges Konzept?
Dabei handelt es sich um ein Konzept, das die Probleme
tatsächlich löst, und zwar mit der Bevölkerung und nicht
gegen sie, und mit den geringsten volkswirtschaftlichen
Kosten. Genau das aber ist bei Ihrer Politik nicht der Fall.
Zum Beispiel handelt es sich nicht um Nachhaltigkeit,
wenn Rot-Grün Deutschland vom Vorreiter in der Umweltpolitik zum Alleinunterhalter macht. Im Umweltausschuss wurde es gestern wieder deutlich: Wir sind zusammen mit England mit Abstand die Einzigen, die in Europa
unsere klimapolitischen Ziele ernsthaft verfolgen. Nun
aber wird uns praktisch suggeriert, dass wir in den nächsten Jahren auch noch die Ausfälle der anderen Länder
kompensieren sollen.
({1})
Das wäre ein Skandal, gegen den sich die Bundesregierung wehren muss. Das macht sie aber bisher nicht,
ebenso wenig wie zum Beispiel hinsichtlich des Chemikaliengesetzes oder des Emissionshandels.
({2})
Das alles sind europäische Initiativen, die auf die
Dauer darauf hinauslaufen, dass die Umweltprobleme in
Europa auf dem Rücken Deutschlands ausgetragen werden. Das hat fatale Folgen: Die Produktion verlässt unser
Land, wir verlieren Steuereinnahmen und Arbeitsplätze,
aber für die Umwelt hat sich in der Nettobilanz nichts
geändert. Dies gilt umso mehr, als Sie mit Ihrer Politik
Deutschland ohnehin zum wirtschaftlichen Schlusslicht
in Europa gemacht haben.
({3})
Eine solche Politik löst keine Probleme, verliert die Unterstützung im eigenen Land und ist damit nicht nachhaltig.
Wir setzen darauf, dass Deutschland mit seinem politischen Gewicht die ausgehandelte Lastenverteilung auch
wirklich durchsetzt, und wir setzen auf eine grenzüberschreitende Umweltpolitik, die Wettbewerbsnachteile
vermeidet.
({4})
Zum Stichwort nationale Haushaltsaufgaben: Der Bundeskanzler hat die nationale Nachhaltigkeitsstrategie gelobt. Papier ist geduldig, meine Damen und Herren. Die
Wahrheit sieht aber anders aus. Das sieht man zum Beispiel
auch im Verkehrsbereich. Sie sind mit der Maxime angetreten, den Verkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen.
Das Ergebnis ihrer Politik ist genau das Gegenteil: Die Bahn
verliert Anteile und hinkt weit hinter ihren Ausbauplänen
her. Auch die Ökosteuer trägt nichts dazu bei, in Deutschland eine umweltfreundliche Infrastruktur aufzubauen.
({5})
Das hat zur Folge, dass jährlich allein 12 Milliarden Liter
Benzin und die entsprechende Menge CO2 sinnlos verpulvert werden.
({6})
Den dritten Punkt, die Entwicklungspolitik, haben Sie
bereits angesprochen, Frau Burchardt. Es ist schade, dass
die Frau Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit
nicht anwesend ist. Wie vor zehn Jahren wird auch bei
dem Weltgipfel in Johannesburg die Auseinandersetzung
zwischen Industrieländern und den Entwicklungs- und
Schwellenländern eine zentrale Rolle spielen. Dabei
kommt es entscheidend darauf an, dass wir bereit und in
der Lage sind, mit den Entwicklungsländern substanziell
zusammenzuarbeiten und ihnen zu helfen, ihre sozialen
und politischen Konflikte abzubauen und ihre natürlichen
Lebensgrundlagen zu bewahren, und dass sie sich vor allem erfolgreich in den Welthandel einklinken und von der
Globalisierung profitieren können, und zwar durch technische und finanzielle Hilfe, aber auch durch weitere
Marktöffnung.
Trotz großer Ankündigungen und Überschriften befindet sich die rot-grüne Entwicklungspolitik im Sinkflug.
Sie haben nicht nur die Mittel gekürzt - im Gegensatz zu
dem, was Sie gesagt haben, Frau Burchardt -, sondern Sie
haben auch bewährte Konzepte verwässert und international - auch in der EU - an Einfluss verloren.
({7})
Die neue Schwerpunktsetzung ist ein Bumerang. Ausgerechnet die Sektoren Bildung und Ausbildung sowie
der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen geraten in
Ihrer Entwicklungspolitik ins Hintertreffen. Rot-Grün
läuft Gefahr, das Bundesministerium für Entwicklungszusammenarbeit zu einem Armutsbekämpfungsministerium zu reduzieren.
({8})
Damit fallen Sie hinter die Zeit der 60er- und 70er-Jahre
zurück. Das wird dem Anspruch einer modernen, den heutigen Problemen angemessenen Politik nicht gerecht.
Für uns bedeutet Nachhaltigkeit auch in der Entwicklungspolitik den Dreiklang von Umweltschutz, ökonomischer Entwicklung und Ausgleich sozialer Spannungen.
Ohne ein solches breites Verständnis von Entwicklungspolitik wird Johannesburg scheitern.
Wir wollen, dass der Gipfel in Johannesburg erfolgreich wird. Wir wünschen der Verhandlungsdelegation
diesen Erfolg. Aber dieser Erfolg wird sich nur einstellen,
wenn sich Rot-Grün von alten Zöpfen und unattraktiven
Modellen verabschiedet
({9})
und wenn Kanzler Schröder und sein Kabinett mehr Engagement, mehr politisches Durchsetzungsvermögen und
mehr Kompetenz für eine Politik der nachhaltigen Entwicklung an den Tag legen,
({10})
und zwar über das Ablesen von austauschbaren, nichts sagenden Reden hinaus. Die Union ist jedenfalls gerne zu
einer konstruktiven Nachhilfe für Sie bereit.
({11})
Ab dem 22. September machen wir es selbst.
({12})
Ich bitte die Redner,
künftig ein bisschen mehr an die Redezeit zu denken.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Michael Müller
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Diskussion über die Nachhaltigkeit ist sehr wichtig, weil sie der Versuch ist, in einer Zeit von Unsicherheit und Umbrüchen Orientierungen und Perspektiven zu geben. Hier liegt der eigentliche,
der entscheidende Kern der Nachhaltigkeitsdiskussion.
Deshalb müssen wir alles tun, damit Nachhaltigkeit nicht
zu einem beliebigen, austauschbaren Begriff wird. Es müssen präzise Prinzipien entwickelt werden, die uns Orientierung geben, wie wir in den schwierigen Umbau- und
Umbruchprozessen Kurs halten können, um den Herausforderungen gerecht zu werden, die sich aus der Globalisierung ergeben.
({0})
Ich glaube, der eigentliche Kern der Nachhaltigkeitsidee ist, unter veränderten politischen Bedingungen ein
modernes Fortschrittskonzept zu entwickeln. Deshalb
geht es weniger um ein Politikmodell für Einzelforderungen als vielmehr um die Entwicklung von Prinzipien, zu
denen aus meiner Sicht vor allem drei zentrale Punkte
gehören müssen, um die es bei der Globalisierung geht:
erstens die Überwindung des historischen Fehlers der Industrialisierung, nämlich der immer weiter wachsenden
Abhängigkeit von Energie und Ressourcen; zweitens die
Entwicklung eines Gleichgewichtsverständnisses im globalen Sinne - es wird keine friedliche Welt geben, wenn
die sozialen Unterschiede zwischen Nord und Süd sowie
zwischen Ökonomie und Ökologie immer dramatischer
werden ({1})
und drittens ein neues Verständnis der Ökonomie, das
dazu führen muss, dass die Ökonomie in der Lage ist,
Grenzen zu beachten und den Fortschritt nicht nur in grenzenlosem Wachstum zu sehen.
({2})
Insofern müssen wir aufhören, die Nachhaltigkeitsdebatte
für kurzfristige parteipolitische Wahlkampfzwecke zu instrumentalisieren. Dafür sind die Probleme, um die es
geht, viel zu wichtig.
({3})
Das, was Sie zur Nachhaltigkeit sagen, Frau Merkel, ist
dennoch zu kurz. Ich habe den Eindruck, dass Sie ein bisschen aus der Diskussion heraus sind. Sie waren als Umweltministerin schon weiter. Darauf hat der Kollege
Fischer völlig zu Recht hingewiesen. Der Kern des ersten
großen Schrittes hin zu mehr Nachhaltigkeit ist die Effizienzrevolution. Genau davon hat der Kanzler geredet.
Entweder haben Sie das nicht begriffen oder Sie haben
nicht zugehört. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.
({4})
Die Effizienz ist der erste Punkt jeder Nachhaltigkeitsstrategie. Genau das hat der Kanzler zu Recht betont.
Jede Initiative in dieser Richtung - das kann ich Ihnen
auch nicht ersparen; das war völlig anders, als Sie noch
regierten - ist in den letzten dreieinhalb Jahren von Ihnen
nicht nur nicht unterstützt, sondern sogar bekämpft worden. Das ist die Wahrheit. Als Sie regierten, gab es eine
Opposition, die in all den zur Diskussion stehenden Fragen sehr viel mehr als die Regierung wollte. Jetzt, wo wir
regieren, gibt es eine Opposition, die in all diesen Fragen
nichts will. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
({5})
Das gilt für alle zentralen Punkte: die Energiewende, das
Naturschutzgesetz und die Ökosteuer.
Es ist ja bekannt, dass Mitte der 90er-Jahre beispielsweise Herr Rexrodt oder Herr Schäuble fast dasselbe Modell der Ökosteuer präferiert haben, wie wir Sie jetzt umsetzen, und sogar gesagt haben, dass es notwendig sei, mit
der Nachhaltigkeitsstrategie im nationalen Alleingang zu
beginnen. Das alles ist dokumentiert. Zur Nachhaltigkeit
gehört auch Ernsthaftigkeit.
({6})
Es geht nicht, sonntags vom Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu reden und am Montag das genaue Gegenteil zu tun.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar
Punkte ansprechen, an denen deutlich wird, warum das
Konzept der Nachhaltigkeit so wichtig ist. Es ist - der
Bundesaußenminister hat davon gesprochen - in den
70er-Jahren entstanden, als sich folgende Schere öffnete:
Auf der einen Seite wurden die Grenzen der ökologischen
Belastbarkeit bewusst - als zwei Beispiele nenne ich den
Richta-Report in der damaligen Tschechoslowakei und
den Bericht „Grenzen des Wachstums“ an den Club of
Rome -, auf der anderen Seite erlebten wir auf der ersten
großen Umweltkonferenz im Jahre 1972, dass die Welt
umweltpolitisch nicht handlungsfähig war, weil sie zwischen Ost und West in ideologische Lager bzw. zwischen
Nord und Süd in unterschiedlich starke Volkswirtschaften
aufgeteilt war. Die Debatte entwickelte sich dahin, wie
man trotz dieser Unterschiede zu gemeinsamem Handeln
kommen kann. Historisch gesehen waren es vor allem europäische Politiker, die die Idee der gleichen Partnerschaft
propagiert haben; Olof Palme, Willy Brandt und Gro
Harlem Brundtland sind die drei wichtigsten Personen,
die an der Entstehung des Nachhaltigkeitskonzepts beteiligt waren.
({8})
Daraus ergibt sich übrigens, dass wir als Europäer eine besondere Verantwortung bei der Durchsetzung dieser Ziele
haben.
Das Konzept der Nachhaltigkeit stellte zugleich ein
Modell dafür dar, wie man in einer gespaltenen Welt, in
der der Reichtum höchst unterschiedlich verteilt ist, zu gemeinsamen Interessen und zu einem Konsens für die Zukunftsfähigkeit der ganzen Erde kommt.
Dies hat sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
verschoben. Nachhaltigkeit hat sich heute zu einem etwas
anderen Ansatz verschoben - mit einer noch gewachsenen
Bedeutung. Sie ist ein Ansatz zur Gestaltung der Globalisierungsprozesse. Nachhaltigkeit ist heute die wichtigste politische Antwort für eine Globalisierung von unten,
bei der den Menschen die Chance zur Gestaltung der Globalisierungsprozesse gegeben wird.
({9})
Auf der einen Seite besteht die Notwendigkeit, globale
Institutionen zu schaffen und vor allem die globalen Finanzströme neu zu regeln. Auf der anderen Seite bietet
Nachhaltigkeit einen Ansatz, der aufgrund der gemeinsamen Prinzipien trotz unterschiedlicher Wege und unterschiedlicher Akteure überall in der Welt praktiziert werden kann. Die einen Länder verfolgen beispielsweise die
lokalen Agenda-21-Prozesse - hier sind Großbritannien
und die skandinavischen Länder sehr wichtig -, andere
diskutieren eher über eine bessere Umweltpolitik, wieder
andere über eine bessere Entwicklungszusammenarbeit.
Trotzdem steht eine gemeinsame Logik dahinter, weil es
unter dem Dach der Nachhaltigkeit eine gemeinsame
Zielsetzung gibt. Nachhaltigkeit bietet also die Chance,
dass wir uns den Globalisierungsprozessen nicht anpassen müssen, sondern sie gestalten können. Hierin liegt die
wichtigste Chance dieser Debatte.
({10})
Meine Damen und Herren, die historische Erfahrung
hat uns gelehrt, dass eine friedliche Welt nur möglich ist,
wenn sie auf Partnerschaft und Solidarität beruht. Hierin
besteht ein fundamentaler Unterschied zu den hier vorhin
von den Oppositionsparteien vorgetragenen Konzepten.
Partnerschaft, Solidarität und eine friedliche Zukunft sind
nur zu erreichen, wenn wir die globalen öffentlichen Güter
schützen. Würden wir alles dem Marktprozess unterwerfen, gäbe es keine globalen öffentlichen Güter. Deswegen
besteht eine der großen Gefahren der Globalisierung in der
weltweiten Privatisierung aller Güter. Viele Güter müssen
aber öffentlich und damit auch kollektiv bleiben.
({11})
Es geht gar nicht anders, wenn wir Frieden und Zusammenhalt bewahren wollen.
Natürlich haben wir heute ein anderes Staatsverständnis als in den Hochzeiten des Nationalstaates, das dem
Einzelnen sehr viel mehr Freiraum lässt. Dies ergibt sich
notwendigerweise aus den Individualisierungs- und Bildungsprozessen. Aber es wäre falsch, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dies bedeute in der Konsequenz das
Ende des Staates. Im Gegenteil, wir brauchen öffentliche
Handlungsfähigkeit gerade im Interesse von Individualisierungs- und Emanzipationsprozessen, damit sie nicht zu
einer zerstörerischen Kraft werden, sondern sich immer
an den gemeinsamen Werten und damit am Gemeinwohl
orientieren können. Das ist ein zentraler Punkt jeder modernen sozialen Politik.
({12})
Mit der Idee der Nachhaltigkeit müssen wir erstens
verbinden, dass dem Prozess des Identitätsverlustes, der
sich in allen Gesellschaften zeigt und der eine entscheidende Ursache für den Rechtspopulismus geworden ist,
eine wertorientierte Politik entgegengestellt wird. Wir
können dem Populismus nicht durch Anpassung
begegnen, sondern nur durch eine sehr viel deutlichere
Herausstellung unserer politischen Werte und Ziele, also
dessen, wohin es geht und warum es dorthin geht.
({13})
Der zweite Punkt ist: Wir müssen uns auch gegen den
Unilateralismus, der die Welt heute zunehmend bestimmt, wehren. Eine Welt, in der alles von den Interessen
der Wall Street oder von militärischer Stärke dominiert
wird, ist keine friedliche Welt. So kann es keine friedliche
Zukunft geben!
({14})
Es muss in Europa, aber auch in anderen Regionen ein
Gegengewicht gegen dieses Modell geben. Die Vielfalt,
die Pluralität ist die wichtigste Grundlage für jede Stabilität und für jedes Fortschrittskonzept.
Lassen Sie mich als letzten Punkt nennen: Wir müssen
auch begreifen, dass es ökologische Grenzen gibt. Wir
können nicht von der Grenzenlosigkeit der Welt ausgehen. Wir müssen im Interesse unserer eigenen Freiheit in
Michael Müller ({15})
der Zukunft wissen, wo Grenzen liegen, und müssen diese
auch beachten.
Meine Damen und Herren, deshalb sage ich verkürzt
am Ende dieser Debatte: Für mich ist die Zuspitzung klar.
Es stellt sich die Frage, ob wir die Herausforderung unserer Zeit wirklich annehmen oder ob wir in den Reformstau
zurückfallen, und zwar mit illusionären Konzepten, in denen den Menschen nur nach dem Mund geredet wird, in
denen ihnen aber nichts abverlangt wird. Wir müssen ihnen jedoch etwas abverlangen, weil die Probleme es erfordern.
Vielen Dank.
({16})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Dr. Peter Paziorek für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Was die Regierungsmitglieder
heute Morgen in ihren Wahlkampfreden unter dem Stichwort Nachhaltigkeit gesagt haben, ist aus unserer Sicht
nicht nur ein eklatanter Missbrauch des wichtigen Begriffes Nachhaltigkeit, sondern das Besorgnis erregende ist
auch, dass das Grundprinzip der Nachhaltigkeit in der
deutschen Politik so auf Dauer nur beschädigt werden
kann. Das ist aber etwas, was nicht eintreten darf.
({0})
Schauen Sie sich die Zahlen einmal an.
({1})
- Herr Fischer, auf Sie komme ich gleich noch zu sprechen. Freuen Sie sich schon darauf. - Zu all den Umfrageergebnissen, die vorliegen, kann man eines sagen: Eine
große Mehrheit unserer Bevölkerung ist der Ansicht, dass
der Begriff Nachhaltigkeit leider nur ein schwammiger
Begriff ist, der zu einem Modewort in der Politik geworden ist.
({2})
Heute Morgen hätten wir die Chance gehabt, konkret darüber nachzudenken, welche Beiträge die Umweltpolitik
und die Entwicklungspolitik zur Nachhaltigkeit leisten
müssen. Aber dann werden Wahlkampfreden zu allen
möglichen Themen gehalten, sodass man das Gefühl hat,
dass ihr die Orientierung verloren habt.
({3})
Wenn der Bundeskanzler in seiner Rede sagt ({4})
- Ja, zu Herrn Trittin komme ich gleich auch. Genau, alle
Minister sind nach ihren Beiträgen flugs gegangen. Sie
hatten, mit Ausnahme des Außenministers Fischer, gar
keine Lust, mit dem Parlament über Nachhaltigkeit zu diskutieren. Alle anderen sind gegangen. Ist das vielleicht
eine Art, wie man hier im Parlament über Nachhaltigkeit,
ein Grundprinzip der Politik, diskutieren kann? Wir sagen
dazu Nein.
({5})
Der Bundeskanzler hat in seinen Ausführungen gesagt
- ich habe es hoffentlich richtig mitgeschrieben -: Wir
müssen der Politik eine Richtung geben, die die Märkte
nicht geben können. Warum hat der Bundeskanzler nicht
die Frage behandelt, wie Nachhaltigkeit auch in Deutschland und international ein Marktfaktor werden kann, sodass Verbraucher und Anbieter im Rahmen der sozialen
Marktwirtschaft auch Nachhaltigkeit nachfragen? Warum
hat er dies nicht getan?
Ich sage es Ihnen: weil Sie all Ihre hehren Grundsätze,
um lokale Agendaaktionen vor Ort zu unterstützen, um
Informationspolitik zu betreiben und um den Diskursprozess zu diesem Punkt in Deutschland tatsächlich weiterzubringen, gar nicht eingehalten haben. Zunächst haben
Sie die Initiative der damaligen Umweltministerin Frau
Merkel im Jahre 1998 abrupt gestoppt, haben im Jahre
2000 mit Ihren ersten Überlegungen angefangen, haben
jetzt kaum eine Bilanz vorzuweisen und müssen nun das
Sammelsurium all der Punkte aufzeigen, die Sie hier vorgebracht haben.
Nun komme ich zu den einzelnen Stichworten. Herr
Minister Trittin sprach von einer Effizienzstrategie.
Diese sei erst 1998 eingeführt worden. Ich habe mir die
entsprechenden statistischen Zahlen schnell einmal besorgt. Wenn die Energieintensität in Deutschland im
Jahre 1970 den Wert 100 hatte, dann muss ich der sozialliberalen Koalition konzedieren: Im Vergleich dazu lag
die Energieintensität im Jahre 1980 bei 88,6 Prozent. Aber
jetzt kommt es: Bis 1990 - ab 1982 haben wir regiert - ist
die Energieintensität in Deutschland auf 71,3 Prozent und
bis 1999 auf 59,5 Prozent gesunken. Zur Regierungszeit
von CDU/CSU und FDP ist der Energieeinsatz damit von
nahezu 89 Prozent auf 59,5 Prozent gesunken. Trotzdem
gab es einen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts.
({6})
Das sind Erfolgszahlen, die wir erzielt haben. Wie können
Sie sich jetzt hier hinstellen und so tun, als ob das erst seit
1999 gelaufen ist?
({7})
Jetzt kommt das schöne Stichwort „erneuerbare Energien“. Wer genau hingehört hat, wird festgestellt haben,
dass Sie bei den erneuerbaren Energien nur einen Bereich angesprochen haben, das war die Windenergie.
({8})
Sie haben zum Beispiel den wirklich wichtigen Punkt der
Biomasse- und Biogasanlagen völlig gestrichen. Wissen
Sie, weshalb? Wenn Sie mit den Bauern sprechen, dann
sagen die Ihnen: So scharf sind wir gar nicht hinter der
Windenergie her, weil das Konflikte mit unseren Nachbarn gibt. Gebt uns die Möglichkeit, Biomasse- und Biogasanlagen zu bauen; dann gibt es keine Beeinträchtigung
der Landschaft.
Michael Müller ({9})
({10})
- Nein, das tun Sie nicht.
({11})
- Herr Müller, Sie haben die Anreizförderprogramme im
August letzten Jahres gekürzt
({12})
und haben bei dem Kreditprogramm etwas draufgetan
({13})
mit dem Ergebnis, dass alles so kompliziert ist, dass nicht
abgerufen wird.
({14})
Sie sprechen nur von dem einem Thema, weil Sie auf den
anderen Gebieten kläglich versagt haben. Das ist die Bilanz bei den erneuerbaren Energien!
({15})
Den Klimaschutz haben Sie, Herr Müller, heute Morgen auch weggelassen. Wissen Sie, weshalb? Sie haben in
den Bericht, den wir heute eigentlich diskutieren sollten,
einen wichtigen Beschluss des Bundestages nicht aufgenommen, nämlich den, dass bis zum Jahr 2020 weiterhin
die CO2-Emissionen reduziert werden sollen.
({16})
- Nein, Sie haben nur allgemein gesagt, dass Sie es wollen.
({17})
Wir haben im Bundestag klare Zielvorgaben beschlossen,
aber Sie haben die klaren Zielvorgaben nicht mehr so aufrechterhalten, wie sie der Bundestag beschlossen hat.
({18})
- Herr Müller, der Bundeskanzler hat am Montag bei seiner Rede vor dem Rat, bei der ich selbst dabei war, gesagt:
Wir haben das Ganze gestoppt, weil wir nicht wollen, dass
Deutschland in seiner Vorreiterrolle in Europa nachher
ausgenutzt wird. - Das war seine Rede am Montagnachmittag vor dem Rat für nachhaltige Entwicklung, bei der
ich dabei war; tut mir Leid, Herr Müller.
Jetzt komme ich noch zu anderen Fragen aus dem Bereich der Nachhaltigkeitspolitik. Ich merke, dass ich den
Nerv getroffen habe. Ich muss so schnell reden, weil ich
meine sechs Minuten Redezeit gut ausnutzen muss. Das
ist mein Problem.
Was ist in der Koalitionsvereinbarung 1998 nicht alles
zum Schutz der Gesundheit geschrieben worden, Herr
Müller? Wo ist Ihre Initiative zum Gesetz gegen Fluglärm? Wo ist Ihre Initiative im gesamten Bereich des
Lärmschutzes?
(Zuruf des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
- Nein. Das kostet Geld! Herr Eichel, der sich hier hinstellt und immer sagt, dass er alles sparsam macht, hätte
in Wahrheit sagen müssen: Für wichtige Umweltschutzmaßnahmen habe ich kein Geld zur Verfügung gestellt. Das ist die Realität und das haben Sie heute Morgen nicht
angesprochen.
({19})
Jetzt komme ich zum Schutz des Naturhaushalts. Sie
sind ja ganz stolz darauf, dass Sie das Naturschutzgesetz
novelliert haben. Nur, bei dieser Novellierung haben Sie
ebenso wie bei all den Reden heute Morgen zum Begriff
der Nachhaltigkeit einfach nicht berücksichtigt, dass Sie
die Menschen bei einer solchen Politik mitnehmen müssen. Das Entscheidende dabei ist doch, das Kooperationsprinzip durchzusetzen und mit den Menschen gemeinsam über die Wege nachzudenken. Sie aber haben
dem Prinzip des Vertragsnaturschutzes wirklich einen
Tort angetan.
({20})
- Auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet, Herr
Hermann. Das steht drin mit dem Ergebnis: „Wir auf der
Bundesebene wollen das zwar, aber wir können es nicht“
- wie in allen anderen Bereichen Ihrer Politik -, und „wir
haben die Bitte, dass die Länder in Fragen des Naturschutzes endlich etwas tun.“
({21})
Wenn sich die Bauern dann aufregen, habe ich dafür Verständnis. In Bayern werden für umweltgerechte landwirtschaftliche Maßnahmen ausgegeben - hören Sie
sich das einmal an, Herr Hermann! - 143 DM pro Hektar
- ich sage es noch in D-Mark -, in Baden-Württemberg
130 DM pro Hektar
({22})
und - jetzt kommt der Hammer - in Nordrhein-Westfalen,
bei Rot-Grün, 9 DM pro Hektar,
({23})
in Schleswig-Holstein 2 DM pro Hektar. Angesichts dessen verstehe ich natürlich alle diejenigen, die fragen:
Warum schreibt Rot-Grün das nur ins Gesetz hinein, überlässt es aber den Ländern, das zu regeln? Da haben die
Bauern Angst, dass bei einer rot-grünen Regierung kein
Geld mehr da ist, und meinen, dass nur die schwarzen Regierungen, auch zusammen mit der FDP, dafür sorgen,
dass das auf Länderebene umgesetzt wird.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Ganz zum Schluss,
weil meine Redezeit in der Tat überschritten ist, nur noch
ein Gedanke: Wir haben überhaupt nicht gehört, mit welcher Strategie die rot-grüne Regierung nach Johannesburg
geht. Wir wissen aus internen Informationen, dass es
schon wieder Schwierigkeiten im Vorfeld der Konferenz
gibt. Ich sage ganz deutlich: Wenn sich die Bundesregierung nicht engagiert, wird Johannesburg leider wieder nur
ein Ankündigungsgipfel werden. Wir brauchen aber keinen Ankündigungsgipfel mehr, wir brauchen einen Aktionsgipfel. Bei der Zurückhaltung, mit der der Bundeskanzler und der Bundesumweltminister heute Morgen zu
Johannesburg geredet haben, kann ich nur eines sagen:
Wie die Vorbereitung dieser Bundesregierung auf Johannesburg ausgefallen ist, ist traurig,
({0})
weil Johannesburg eine wichtige Weichenstellung für die
internationale Nachhaltigkeitspolitik ist. Leider ist diese
Regierung nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als Letztem in dieser
Aussprache erteile ich dem Kollegen Franz Thönnes für
die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! „Arbeit ist schwer, ist oft
genug ein freudloses und mühseliges Stochern; aber nicht
arbeiten - das ist die Hölle.“ Das hat der große Schriftsteller, Lübecker Ehrenbürger und Nobelpreisträger
Thomas Mann gesagt. Nicht arbeiten zu können oder zu
dürfen ist oft für die von Arbeitslosigkeit Betroffenen die
Hölle, eine persönliche Katastrophe.
Arbeitslosigkeit kann auch, wie wir aus der deutschen
Geschichte wissen und gelernt haben, politisch in die
Hölle führen. Auch weil der überall in Europa neu aufkeimende Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus ganz
viel mit Arbeitslosigkeit, Ängsten und mangelnden Perspektiven in Arbeit und Gesellschaft zu tun hat, bleibt die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit das Zentrum sozialdemokratischer Politik überhaupt.
({0})
Eine Gesellschaft, die Arbeitslosigkeit hinnimmt,
spaltet die Bevölkerung materiell wie sozial. Isolation und Entfremdung sind die Folgen. Eine Gesellschaftsordnung, die nicht auf Vollbeschäftigung baut,
lässt die Lebensbedingungen ihrer Bürger verkümmern und vergeudet deren Fähigkeiten.
So beschrieb es der ehemalige schwedische Ministerpräsident Olof Palme.
Die Globalisierung, der rasante Strukturwandel mit
seinen Folgen für die Arbeitsplätze und die geforderte Anpassung an veränderte Lebensumstände bedeuten für
viele Menschen eine große Herausforderung. Wir müssen
den Menschen angesichts dieser Situation Perspektiven
aufzeigen. Wir müssen sie mitnehmen und sie motivieren,
sich an dem raschen Wandel unserer Gesellschaft zu beteiligen. Aber eine derartige Politik kann nur dann erfolgreich sein, wenn ihre Grundlagen auch morgen und übermorgen tragfähig sind.
({1})
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist - zugegebenermaßen sperrig. Aber sein Inhalt ist Kern jeder Zukunftspolitik. Es
handelt sich um eine praktische Vision, die begeistert,
wenn wir den Begriff ins Konkrete holen.
Die Bedürfnisbefriedigung der heutigen Generation
darf die Möglichkeiten künftiger Generationen nicht
gefährden. Das ist das Prinzip, von dem die BrundtlandKommission ausgeht. Nachhaltigkeit steht damit für den
Aufbau von Brücken in die Zukunft. Unsere Aufgabe ist
es heute, diese Brücken auf feste Pfeiler zu stellen, damit
sie auch morgen tragen. Ökonomie, Ökologie und Soziales sind dabei keine Gegensätze. Das ist durch die
enormen Wachstums- und Arbeitsmarkteffekte der ökologischen Modernisierung bewiesen.
({2})
Wir haben die Brücke zwischen den Generationen
mit der Rentenreform auf neue Fundamente gestellt.
({3})
Stabile Beiträge, ein angemessenes Rentenniveau und die
staatliche Förderung der privaten und der betrieblichen
Altersvorsorge bilden die Grundlage für einen gesicherten
Lebensstandard im Alter.
({4})
Unsere Steuer- und Haushaltspolitik entlastet die Menschen und den Staat und schafft damit auch neue Gestaltungsspielräume für die Zukunft. Die Energiewende bringt
regenerative Energien, neue Arbeit und mehr Umweltschutz.
Den Strukturwandel zu gestalten heißt für uns, nicht
zuzusehen, wie sich unsere Gesellschaft in Gewinner und
Verlierer spaltet. Weil diese Spaltung die Quintessenz der
Reden von CDU, CSU und FDP ist, werden Sie nach dem
22. September weiterhin in der Opposition bleiben; denn
die Menschen wollen Erneuerung und Zusammenhalt.
({5})
Der innerste Kern von Nachhaltigkeit ist für uns Sozialdemokraten die Schaffung von Arbeit. Seit Anfang der
90er-Jahre nimmt die Bedeutung des Umweltschutzes
für den Arbeitsmarkt zu. 1,4 Millionen Menschen haben
hier bereits Arbeit. Diesen Prozess unterstützen und fördern wir mit unserer Politik. So werden die Erlöse aus der
Versteigerung der UMTS-Lizenzen zur Schuldentilgung
eingesetzt. Die Zinsersparnisse kommen ganz gezielt der
Bildung, der Verkehrsinfrastruktur und der Energieeinsparung zugute. Über 200 Millionen Euro werden so jedes Jahr für die Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt.
Diese energiepolitisch sinnvolle Investition sichert und
schafft circa 90 000 Arbeitsplätze.
Eine Vielzahl konsequenter Maßnahmen zur Förderung
erneuerbarer Energien, wie zum Beispiel das 100 000Dächer-Programm zur Nutzung der Solarkraft, hat der
Energiewende zum Durchbruch verholfen. Auch so wird
neue Arbeit geschaffen. Über 100 000 Menschen sind
heute im Bereich der erneuerbaren Energien beschäftigt,
35 000 allein im Windenergiesektor. So verbinden wir
ganz konkret Innovation und Nachhaltigkeit.
({6})
Arbeitskosten senken und Energieverbrauch maßvoll
verteuern ist ein weiterer Schlüssel zu einer konkret nachhaltigen Politik. Soziale Sicherheit und internationale
Wettbewerbsfähigkeit werden so gleichermaßen gestärkt.
Der Einsatz des Faktors Arbeit muss durch die Senkung der Lohnzusatzkosten relativ verbilligt werden,
der Energie- und Rohstoffverbrauch durch eine
schrittweise Anpassung der Energiepreise relativ verteuert werden. Beides muss zu einer aufkommensneutralen Lösung intelligent verbunden werden ...
Wohl wahr, kann ich nur zu diesen Worten des Herrn Kollegen Schäuble aus dem Jahre 1997 sagen. Sie haben über
diesen richtigen Gedanken zunächst nur geredet, ihn dann
bekämpft und diffamiert. Wir haben dieses Konzept umgesetzt, weil es ein richtiges Konzept ist.
({7})
Die ökologische Steuerreform entlastet den Faktor
Arbeit bis 2005 um 17,7 Milliarden. Damit wird die Rentenversicherung stabil gemacht, die Beiträge werden um
1,7 Prozent gesenkt. Laut Umweltbundesamt sind bislang
60 000 Arbeitsplätze zusätzlich entstanden. Das DIW geht
davon aus, dass in diesem Bereich bis zum Jahr 2010
250 000 Arbeitsplätze entstehen.
({8})
Dass die Union trotz des großen Geschreis der vergangenen Jahre das Instrument jetzt nicht aus der Hand geben
will, ist natürlich konsequent; denn der Erfolg spricht für
sich. Er spricht für unsere Politik und gegen die Union.
({9})
Die Arbeitsmarktpolitik war bis zum Antritt der jetzigen Bundesregierung alles andere als nachhaltig. Ein
Übermaß an Regularien und „stop and go“ bei den Finanzen sind nur wenige Negativbeispiele dafür. Das wahlkampfmotivierte Hochfahren der ABM-Zahlen 1998 um
175 000 war arbeitsmarktpolitisch ein unverantwortliches
Strohfeuer und damit genau das Gegenteil von Nachhaltigkeit.
({10})
Wir haben die Arbeitsförderung reformiert. Wir haben
den Mitteleinsatz verstetigt. Wir haben mit dem JobAQTIV-Gesetz in der Arbeitsförderung konsequent auf
die zügige Vermittlung in den Arbeitsmarkt gesetzt. Den
bisherigen Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 1998 um
400 000 und den Aufbau neuer Erwerbstätigkeit um
1,35 Millionen müssen und werden wir verstärken.
Bei der Nachhaltigkeit liegt uns die Prävention ganz
besonders am Herzen. Wir werden in Zukunft in die
Weiterbildung mehr investieren, damit die Menschen
präventiv vor Arbeitslosigkeit geschützt werden. Das gilt
für die Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben, für
gering Qualifizierte ohne Ausbildung und ganz besonders
für ältere Arbeitnehmer, die teilweise den Anschluss an
Weiterbildung verloren haben.
Unsere Arbeitsmarktpolitik zielt, nicht zuletzt auch mit
der Aktion „50 - die können es“, darauf ab, eine längere
Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Das Know-how Älterer,
ihre soziale Kompetenz, ihre persönliche Zuverlässigkeit,
ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre langjährige Berufserfahrung müssen wieder stärker in den Arbeitsprozess eingebracht werden. Für Wirtschaft und Gesellschaft muss
klar sein: Mit 50 gehört man nicht zum alten Eisen!
({11})
Zum zweiten Mal hintereinander ist die Ausbildungsplatzbilanz in Deutschland ausgeglichen. Wir werden
dafür sorgen, dass jeder junge Mensch, der aus der Schule
entlassen wird, offene Türen in der Arbeitswelt findet.
Deswegen schreiben wir in unser Regierungsprogramm
ganz klar hinein: Kein Jugendlicher darf von der Schule
in die Arbeitslosigkeit fallen. Jeder und jede erhält ein Angebot für Ausbildung und Beschäftigung. Für uns Sozialdemokraten gilt: Wir lassen keinen im Stich.
({12})
Dort, wo der Einstieg in Ausbildung und Arbeit Probleme bereitete, hat unser Sofortprogramm JUMP geholfen. Dreimal 1 Milliarde Euro haben wir in die Hand
genommen und damit gezeigt, dass die jungen Menschen
uns etwas wert sind, dass wir in ihre Zukunft investieren.
Jeder Euro, der hier investiert wird, ist gut investiertes
Geld, gut investiert in die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist auf jeden Fall besser als spätere Investitionen in gesellschaftliche Reparaturkosten, schlimmstenfalls in Jugendstrafanstalten.
({13})
Für uns gehört zu einer nachhaltigen Gesellschaftspolitik auch eine konsequente Politik für die Gleichstellung
der Geschlechter, eng verbunden mit der Familienpolitik. Von den Skandinaviern können wir lernen, dass der
hohe Ausbildungsstand der Frauen und ihre Integration in
den Arbeitsmarkt eine der Stärken der Volkswirtschaft ist.
Während in Europa im Durchschnitt 53 Prozent und in
Deutschland 58 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen
Alter berufstätig sind, sind es im Norden gut über 70 Prozent. Dabei geht die hohe Beschäftigungsrate der Frauen
noch mit einer hohen Geburtenrate einher; im Norden
liegt sie bei 1,9, in Deutschland nur bei 1,3. Der Blick
nach Norden zeigt uns ganz deutlich, dass die Familienideologie à la Stoiber und Co. für die Mottenkiste, nicht
aber für die Zukunft taugt.
({14})
Der rote Faden unserer Politik ist die Gleichstellung
und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Durch
die Rentenreform haben wir den Einstieg in die eigenständige Altersabsicherung von Frauen geschafft. Die
stärkere Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten
macht deutlich: Wir wollen, dass Kindererziehung nicht
zu Lücken in der sozialen Sicherung führt.
Das Gesetz zur Elternzeit trägt dazu bei, die Gestaltungsmöglichkeiten von Vätern und Müttern bei der Kinderbetreuung zu verbessern. Das Gleichstellungsgesetz
und die Vereinbarung mit der Privatwirtschaft bringen die
Frauenförderung weiter nach vorn. Im Betriebsverfassungsrecht haben wir die Gleichstellung und die Förderung von Frauen mit der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf zu einem wichtigen Aufgabenfeld der Betriebsräte
gemacht. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz gewährleisten wir,
dass Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Anzahl der
Arbeitslosen auch in Zukunft gefördert werden.
Unsere Zusage, gerade für die Verbesserung der Betreuungsangebote jährlich 1 Milliarde Euro bereitzustellen, unterstreicht, wie ernst es uns mit der Nachhaltigkeit
in diesem wichtigen Politikfeld ist.
({15})
All dies zeigt: Wirksame nachhaltige Politik ist mit
schlechtem Gewissen in Sachen Staat nicht zu machen.
Wir lassen uns hier auch kein schlechtes Gewissen einreden. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat auf die verheerenden Folgen einer Senkung der Staatsquote auf unter 40 Prozent - so Ihre Forderung - hingewiesen. Dies
wäre der Tod jeder auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik.
({16})
Eine solche Politik wäre im Sinne Thomas Manns ein
Schritt in den Vorhof der Hölle. Das werden wir den Menschen deutlich sagen.
Wir lassen diesen billigen Populismus und einen auf
Politklamauk ausgerichteten Kurs der „Liberalala-Partei“
nicht durchgehen.
({17})
Denn nur die gut Betuchten können sich einen armen Staat
leisten; die breiten Schichten nicht. Wir Sozialdemokraten
stehen dagegen für einen handlungsfähigen und nachhaltig aktiven Staat. Das tun wir guten Gewissens.
({18})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8651, 14/7971, 14/8953, 14/9052,
14/9056, 14/9024, 14/9025 und 14/9091 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b so-
wie die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef
Laumann, Brigitte Baumeister, Rainer Eppelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Rentenreform ehrlich, generationengerecht und
zukunftssicher gestalten
- Drucksache 14/8269 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann,
Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
In der Renteninformation Klarheit über tatsächliche Versorgungslücke schaffen - Rentennahe
Versichertenjahrgänge zuerst informieren
- Drucksache 14/8787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Hermann Otto Solms,
Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für eine substanzielle und dauerhafte Rentenreform
- Drucksache 14/9050 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Zur Regelung von in der DDR erworbenen Versorgungsansprüchen und Anwartschaften in einem spezifischen Versorgungssystem sowie zur
Regelung anderer rechtmäßig erworbener Ansprüche auf Alterssicherung
- Drucksache 14/9045 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Heinz Schemken für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Unsere beiden
Anträge zielen im wahrsten Sinne des Wortes auf Nachhaltigkeit. Mit dem Beschluss des Bundestages von
Juni 2001 - damals ging es um die riestersche Rentenreform und um das Altersvermögensgesetz - sind im Hinblick auf die Vorsorge im Alter - ein wichtiges Thema weder Klarheit noch Nachhaltigkeit noch Sicherheit geschaffen worden.
Mit großer Sorge stellen wir nach einem Jahr fest, dass
die Unsicherheit weiter zunimmt. Die Zukunft unserer
Generationenverträge ist unter dem Gesichtspunkt zu
sehen, dass es an Verlässlichkeit, an Glaubwürdigkeit und
insbesondere an Ehrlichkeit - auch sie gehört zur Nachhaltigkeit - fehlt. Von einem solidarischen Vertrag, der einen fairen Ausgleich zwischen älterer und jüngerer Generation schafft, kann überhaupt nicht die Rede sein.
Die Lebenserwartung - das ist erfreulich - steigt. Das
bedeutet, dass mehr Rentnerinnen und Rentner durchschnittlich längere Zeit Leistungen von der Rentenversicherung erwarten; diese Leistungen müssen bezahlt werden. Dazu kommt, dass immer weniger Kinder geboren
werden. Dadurch haben immer weniger jüngere Beitragszahler die Last, für immer mehr immer älter Werdende in
der Bevölkerung aufkommen zu müssen.
({0})
Dazu kommt, dass viele - Herr Thönnes, mit den über
50-Jährigen ist es völlig anders - frühzeitig in den Vorruhestand gehen. Auch dies bedeutet eine weitere Belastung; denn das tatsächliche Alter des Eintritts in den
Ruhestand ist weit niedriger als vorgesehen. Es liegt bei
60 Jahren, obwohl man im Hinblick auf das Ausscheiden
aus dem Erwerbsleben eigentlich von 65 Jahren ausgehen
muss.
Damit ist eine der Grundlagen unserer Altersversorgung, nämlich der Dreigenerationenvertrag, infrage gestellt. Gerade dieser demographische Vorgang wurde bei
der Riester-Rente sträflich vernachlässigt. Dies rächt sich
schon jetzt. Sie können das bei Ihrem Kronzeugen Herrn
Rürup nachfragen.
Es bleibt dabei: Verlässlichkeit ist in dem Generationenvertrag, wie wir ihn sehen, nur auf der Grundlage von
Generationen möglich, die sich gegenseitig tragen. Die
Eltern ziehen ihre Kinder auf und diese wiederum leisten
durch ihre Arbeit im Beruf und in der Generationenfolge
das, was notwendig ist. Ich weiß, dass Sie da mehr auf den
Staat setzen. Wir setzen auf unsere Rente,
({1})
die von der CDU/CSU 1957 als Generationenvertrag
- das muss man einmal sehen - eingeführt wurde.
Die Erziehungsleistungen von Eltern müssen deshalb
nach unserer Auffassung in den sozialen Sicherungssystemen berücksichtigt werden. Das Prinzip der Gleichrangigkeit - das ist schon heute Morgen diskutiert worden - von
Familien- und Erwerbsarbeit ist hier zu beachten und konsequent einzubeziehen. Dem wollen wir Rechnung tragen.
Rentenpolitik darf nicht zulasten der Frauen und der
Familien gehen.
({2})
Tatsache ist jedoch, dass die Witwenrenten in drei Schritten gekürzt werden. Ich weiß, dass es Ihnen nicht passt,
wenn ich das sage,
({3})
aber ich muss es immer wieder aufzeigen, weil das ein
großes Problem ist. Durch die Senkung des allgemeinen
Rentenniveaus von 70 auf 64 Prozent sinkt auch die Witwenrente. Hinzu kommt, dass sie von 60 auf 55 Prozent
reduziert wird. Das sind, auf die 64 Prozent bezogen, weitere 8 Prozent weniger. Ich komme gleich noch dazu. Alle
Nebeneinkünfte sollen darüber hinaus zukünftig ab einem
bestimmten Freibetrag zu 40 Prozent angerechnet werden.
({4})
- Ich spreche von der Frau, von der Witwe. - Das stellt
noch einmal eine Verschlechterung dar.
({5})
Witwenrenten kommen bisher vor allem den Frauen
zugute, die ihre Erwerbstätigkeit wegen Kindererziehung
unterbrechen oder einschränken mussten. Das bedeutet,
dass durch die Kürzungen bei der Witwenrente insbesondere Mütter mit Kindern betroffen sind. Das lassen wir
nicht zu.
({6})
Fazit ist, dass den Müttern unterm Strich die ganze Last
auferlegt wird. Allein aufgrund dieser Ungerechtigkeit
werden wir diese Rentenreform ändern.
({7})
- Ich freue mich ja schon, dass Sie das, was ich sage, wenigstens nicht infrage stellen. Sie fragen jetzt nur, wie das
finanziert werden soll.
Nun möchte Herr
Kollege Dreßen eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie
sie annehmen?
Ja, bitte schön.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Bitte sehr.
Herr Kollege Schemken, wenn
ich Sie jetzt richtig verstanden habe, wollen Sie, dass bei
der Witwenrente mehr Ausgaben erfolgen. Andererseits
haben Sie im Wahlprogramm die Forderung „3 x 40“, das
heißt, Sie wollen die Lohnnebenkosten und die Steuern
noch absenken.
({0})
Sagen Sie mir einmal, wie Sie das eigentlich finanzieren
wollen, wie das zusammenpasst: einerseits runter mit den
Lohnnebenkosten und den Steuern, andererseits hoch mit
den Ausgaben?
({1})
Wie wollen Sie das unter einen Hut bekommen? Können
Sie mir das einmal erklären?
({2})
Erst einmal ist es
wichtig, dass mehr Menschen in Arbeit kommen.
({0})
Sie wissen sehr wohl, dass unser Generationenvertrag abhängig von denen ist, die in Arbeit sind: Der eine arbeitet
für den anderen; darauf bauen wir das auf. Sie wissen auch,
dass die Positivbilanz bei 100 000 Beschäftigten rund
4,5 Milliarden DM - oder 2,25 Milliarden Euro - beträgt.
({1})
- Nicht für die Sozialversicherung, sondern insgesamt.
({2})
- Ja, gut, wenn wir die „schröderschen Zahlen“ verwenden würden, dann hätten wir sogar 1 Million Menschen
mehr in Arbeit. Dann wäre das überhaupt kein Problem.
Dann wären wir gut dran.
Darum geht es aber nicht. Wir wollen, lieber Kollege
Dreßen, insbesondere den Frauen in der Vorsorge eine
bessere Absicherung ermöglichen Wir wollen, lieber Herr
Kollege Dreßen, die im Bereich der privaten Säule für
Frauen vorgesehenen Beträge erhöhen. Wir halten die
schwache Bemessung der Familienleistungen bei der Dotierung der Kinderfreibeträge oder auch der Beträge, die
für Kinder in der zweiten Säule - bzw. der dritten Säule,
wenn Sie die Betriebsrente hinzunehmen - vorgesehen
sind, für falsch.
({3})
- Bei der schwachen Konjunktur unter Ihrer Regierung ist
das weiß Gott nicht möglich.
Ich kann Ihnen eines deutlich sagen: Wir werden hier
einen Schwerpunkt setzen. Dabei denken wir nicht an die
Höherverdienenden. Es gibt ja das bekannte Beispiel,
dass sich jemand, der im Jahr 50 000 Euro verdient, aufgrund der Steuerfreibeträge besser stellt als eine Verkäuferin, die von ihrem Verdienst in Höhe von 1 800 DM bzw.
900 Euro im Monat ihre Beiträge jetzt für eine Rente
zahlt, wie sie heute noch ausgezahlt wird. Sie selbst bekommt am Ende aber nur 55 Prozent der heutigen Rente
als Witwe. Dieses Unrecht lassen wir nicht zu. Das muss
ich Ihnen noch einmal erklären. Deshalb setzen wir andere Schwerpunkte. Der Bedürftige wird unterstützt.
({4})
Derjenige, der nicht bedürftig ist, hat die Förderung, die
Sie eingeführt haben, nicht nötig.
({5})
Nun ist die Beantwortung der Zwischenfrage beendet. Jetzt läuft die ursprüngliche Redezeit weiter. - Bitte sehr.
({0})
Manche Fragen sind
falsch gestellt.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, Kollege Schemken hat das Wort. Sie können zustimmen oder nicht zustimmen. Aber Sie sind gehalten zuzuhören. - Bitte sehr, Herr Kollege, Sie haben
das Wort.
Nach wie vor ist für
uns neben dieser privaten Säule, wenn sie schon angesprochen wurde, die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand
wichtig. Dies ist ein Uranliegen christlich-sozialer Politik.
({0})
- Herr Brandner, ich sage Ihnen ganz offen - auch Sie sind
ja Mitglied einer Gewerkschaft -: Zum Beispiel die
IG Metall ist auf diesen Dampfer erst jetzt aufgesprungen.
Denn ohne Tarifpartner ist das nicht möglich. Das ist ganz
klar; das wissen Sie genau. Im Übrigen, wir wollen auch
nichts ohne Tarifpartner machen, wenn dies notwendig
ist - wie in diesem Falle.
({1})
- Vermögensbildung halte ich für ganz wichtig, weil dies
einen Teil des Investivlohns betrifft. Wir sind, soweit es
die Lohn- und die Lohnnebenkosten angeht, nicht von
Schwankungen abhängig. Das ist im Übrigen ein wirtschaftlicher Faktor für mehr Investitionen.
({2})
Wir sind der Meinung, dass es neben diesen Komplementärrenten, also der privaten Säule und der betrieblichen Rente, darum geht, dass wir die gesetzliche Rentenversicherung sicher machen. Dazu sage ich Ihnen: Wenn
Sie eine falsche Weichenstellung vornehmen und die
blümsche Formel verlassen - Herr Dreßen, das muss ich
Ihnen sagen -, dann müssen Sie nicht mich fragen, warum
Sie in einem solchen Dilemma sind und ob wir Ihre Rente
mit falscher Weichenstellung finanzieren.
({3})
Wir hätten diesen demographischen Faktor beibehalten
sollen. Ich weiß sehr wohl, dass Sie dies teilweise eingesehen haben. Nur, Sie hatten das im Wahlkampf 1998 kritisiert. Dann musste blockiert und etwas geändert werden.
({4})
Deshalb sind Sie wider besseres Wissen in dieses Desaster
hineingeraten.
Ich kann nur feststellen, dass die nettolohnbezogene
Rente von 1982 bis 1998 bei 70 Prozent und höher lag. Sie
haben damit begonnen, dieses Rentenniveau zu manipulieren,
({5})
indem Sie es vom Nettoverdienst abgekoppelt und an die
Preissteigerung angeglichen haben. Deshalb liegen wir
mittlerweile bereits bei 68 Prozent. Ich habe Ihnen soeben
schon erklärt, dass wir ab 2003 schrittweise Änderungen
vornehmen werden. Denn wenn die 4 Prozent, die der Arbeitnehmer in die private Säule zu zahlen hat, in das jetzige Rentenniveau eingerechnet werden, dann sind wir
schon bei 64 Prozent.
({6})
Ihre Erklärungen, die Sie aufgrund der Problematik,
die Sie seinerzeit mit dem Gewerkschaftsbund auszutragen hatten, wonach Sie ein Rentenniveau von 67 Prozent
garantieren wollen, sind im Grunde genommen nur weiße
Salbe. Dies kann nicht eingehalten werden. Es sei denn,
Sie drehen ständig an dieser Schraube.
({7})
Die Versorgungslücke ist größer, und zwar nicht nur
2 Prozent, sondern 8 Prozent.
Zurzeit findet ein seltsamer Vorgang statt. Die Jüngeren sollen über ihre Rentenbiografie informiert werden.
Was das bei einem 28-Jährigen soll, weiß ich nicht. Seine
spätere Rente kann man höchstens hochrechnen. Die
Älteren sollen nicht informiert werden. Dazu muss ich Ihnen sagen: Sie werden ertappt.
({8})
- Das macht die Rentenversicherung; aber der Minister
hat sich eingeschaltet. Deshalb bringe ich das.
({9})
Der wollte gerne, dass es nur die Jungen betrifft. Ich sage Ihnen auch, warum: damit die über 45- bzw. 50-Jährigen, die
das mit den 64 Prozent, was ich soeben erklärt habe, betrifft,
({10})
nicht erkennen, wohin das Schiff bezüglich der nettolohnbezogenen Rente fährt. Wenn Sie das nicht glauben
wollen, dann wenden Sie sich an Professor Rürup. Der hat
noch einmal ausdrücklich erklärt, dass die Verlierer dieser
Rentengesetzgebung die über 55-Jährigen sind, also die,
die keine Chance mehr haben, sich privat zu versichern.
Ihre Ankündigung vor der Wahl stellt also zusammen
mit dem Verschweigen der Wahrheit gegenüber den Rentnern ein großes Täuschungsmanöver dar.
({11})
Wir bleiben dabei, dass wir zunächst einmal den Aufbau der ergänzenden Altersvorsorge von staatlicher Stelle
- ich habe das eben schon einmal darzustellen versucht besser und zielgerechter fördern.
({12})
Das gilt vor allen Dingen für die Förderung von Familien mit Kindern; darauf wollen wir es konzentrieren.
Hier wollen wir die Kriterien für die Gewährung der Förderung - unter Beachtung gewisser Mindestanforderungen, die ja auf den Ausblick der Standards des verdienten
Ruhestandes ausgerichtet sein sollen - offener und freier
gestalten. Mit Ihrem großen Verwaltungsaufwand lässt
sich kein Staat machen.
Die Riester-Rente ist zum Beispiel auch nichts für
Häuslebauer.
({13})
- Ja, wir wollen entbürokratisieren. - Rund 80 Prozent
aller Bundesbürger sehen im eigengenutzten Wohnungseigentum eine Vorsorgemöglichkeit. Das ist auch eine
sehr solide Vorsorge. Wenn ich ein Eigenheim baue oder
eine Eigentumswohnung erwerbe und im Alter die Belastungen abgelöst habe, dann ist das eine großartige Vorsorge, die dem Einzelnen zugute kommt; hier darf nicht
über einen großen Apparat und entsprechende modifizierte Entnahmemodelle wieder abgeschöpft werden.
({14})
Wir wollen diese Überregulierungen und die Verbarrikadierungen beseitigen und die freie Gestaltung und den
Umgang mit dem Eigentum fördern.
({15})
Dann geht es uns um die Gewährleistung einer generationengerechten Belastung; auch uns beschäftigt die demographische Situation nach wie vor. Ich hoffe, dass auch Sie
das so sehen. Wir wollen hier wieder mit dem demographischen Faktor arbeiten, damit gleichsam alle Generationen
zur Lösung des Problems beitragen, das uns hier beschäftigt.
({16})
Darüber hinaus wollen wir insbesondere die eigenständige Alterssicherung von Frauen durch Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen verbessern, vor allen Dingen dadurch
({17})
- das ist eben schon deutlich geworden -, dass wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Ich muss hier
noch einmal deutlich sagen: Der Anteil von Frauen, die im
Berufsleben stehen und arbeiten, hat nicht zu Ihrer Zeit zugenommen, sondern insbesondere in den 80er-Jahren.
({18})
- Da waren Sie noch nicht so weit; das sage ich Ihnen.
1983, als Sie noch Blumen gepflückt haben, haben wir
diese Themen schon bearbeitet und die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf in einem starken Maße gefördert,
auch durch die Schaffung zusätzlicher Möglichkeiten im
Arbeitsförderungsgesetz. Insofern wollen wir die Rahmenbedingungen weiter verbessern, damit Frauen Beruf
und Familie besser vereinbaren können.
({19})
Ein Weiteres: Da die Situation der Kommunen sehr bedrückend ist, sind wir der Meinung, dass es ein völlig
falscher Ansatz ist, die Kommunen zu belasten, indem ihnen als Verwaltungsanteil - das ist es - nur ein Festbetrag
von 409 Millionen Euro zugestanden wird. Auch dies
wollen wir rückgängig machen. Die Finanzierung dieser
Aufgaben ist kein Thema der Kommunen. Wenn der Gesetzgeber das beschließt, muss er sich auch voll an der Finanzierung beteiligen.
({20})
Ich spreche noch gar nicht von den Stellen, die für die
Behörden anfallen, die Sie zur Absicherung der Grundsicherung noch einrichten wollen. Auch diese Mehrausgaben wollen wir nicht. Wir werden das reduzieren.
({21})
Schließlich geht es auch darum, eine ehrliche Auskunft
über die Lage der Rentenversicherung zu geben. Sie wissen sehr wohl, dass der Beitragssatz, wenn Sie die Mindestreserve nicht abgesenkt hätten, einschließlich Ökosteuer weit über dem Satz läge, den Sie zugesagt haben.
Das war wieder ein Wortbruch.
Ich verweise auf Ihren Berater, Herrn Rürup vom
VDR, der eindeutig klar gemacht hat, dass für das Jahr
2003 eine Erhöhung der Rentenbeiträge um bis zu
0,5 Prozent zu erwarten ist, wenn sich die Lage auf dem
Arbeitsmarkt nicht ändert.
({22})
Stellen Sie sich hier hin und sagen Sie das ehrlich!
Sie beziehen im Übrigen die Lohnerhöhungen, die
zur Begründung eines höheren Rentenanspruches - das
begrüße ich im Grunde - führen, in Ihre Berechnungen
nicht ein. Sie verstecken sich vor der Aufgabe, eine entsprechende Gegenrechnung vorzunehmen. Sie sollten
dem Wähler ehrlich sagen, wie sich die Beitragssätze entwickeln werden.
({23})
- Ja, Sie haben eine Kommission eingerichtet, die ihre Ergebnisse erst nach der Wahl bekannt gibt. Sagen Sie den
Menschen, was sie im Alter erwartet, was sie hinsichtlich
der Besteuerung erwartet und was sie im Rahmen der
Übergangsregelung, die das Bundesverfassungsgericht
bis zum 31. Dezember 2004 vorgeschrieben hat, erwartet.
Ich habe es bedauert - das müssen Sie sich zuschreiben -, dass Sie nicht, wie wir es getan haben, mit einer demographischen Formel
({24})
eine Rentengesetzgebung geschaffen haben, die dem
Rentner auf Grundlage einer breiteren Basis, einer fraktionsübergreifenden Mehrheit im Parlament, auch in
Zukunft trotz wechselnder Mehrheiten die Sicherheit gegeben hätte, dass an der Rente nicht ständig herummanipuliert wird. Diese Unsicherheit hat mit der Debatte um
die Nachhaltigkeit weiß Gott nichts zu tun. Stimmen Sie
deshalb unserem Antrag zu!
Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute! Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({25})
Manch einer hält
mehrere Abschiedsreden. Mir ist aber gesagt worden, dies
sei eine. Deswegen möchte ich Ihnen im Namen des
ganzen Hauses für Ihr sozialpolitisches Engagement und
für die Arbeit während der Jahre, in denen Sie mit dazu
beigetragen haben, hier Sozialpolitik durchzusetzen, danken. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Rede!
({0})
Nun spricht der Kollege Klaus Brandner für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich
zuerst einen Dank an den Kollegen Herrn Schemken richten, den ich im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
als menschlich fairen Kollegen kennen und schätzen gelernt habe.
Ich möchte aber gleichzeitig deutlich machen: Dies ändert nichts daran, dass die heutige Debatte ein Trauerspiel
ist, weil die CDU/CSU in der Frage der Rentenreform gar
nichts zu bieten hat. Wir haben gerade wieder erlebt, dass
sie das nicht zugeben möchte. Sie vertuscht diesen Zustand mit Scheinargumenten. Schlimmer noch: Die Union
will die Rentner und vor allem - das haben wir deutlich
erlebt - die Rentnerinnen verunsichern und sogar verängstigen. Das hat mit der Realität der Rentenreform nichts zu
tun. Für Angst besteht nämlich überhaupt kein Anlass.
Deshalb sagen wir ganz deutlich: Mit uns geht das so
nicht.
({0})
Was ist an unserer Rentenreform schlimm? Nichts. Sie
ist nachhaltig, richtig und gerecht. Die ältere Generation
hat jetzt endlich ein sicheres Fundament unter den Füßen.
Die Renten steigen zwar etwas langsamer als geplant,
dafür steigt aber die Sicherheit enorm. Das zählt.
Wir wissen, dass Sicherheit ihren Preis hat. Die Menschen sind bereit, Ihren Beitrag dazu zu leisten. Das gilt
auch für die jüngere Generation; denn wer seinen Lebensstandard halten will, muss rechtzeitig privat vorsorgen. Das sind die Herausforderungen, denen wir uns aufgrund der demographischen Veränderungen stellen
müssen. Das ist in dieser Gesellschaft bekannt.
Anders als die Regierung Kohl haben wir es uns zugetraut, das auch offen zu sagen. Nicht zuletzt deshalb finden so viele unsere Reform richtig. Der Staat bietet auf der
Grundlage sozialer Kriterien massive Hilfe. Familien mit
Kindern werden besser geschützt. Die Zuschüsse können
bis zu 90 Prozent betragen. Das findet in der Gesellschaft
Akzeptanz.
({1})
Die Rentenversicherung ist und bleibt eine starke
Säule, aber sie braucht ein zweites Standbein. Besonders
positiv ist die Entwicklung bei der betrieblichen Altersvorsorge. Es fällt auf, dass Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, zum Thema der betrieblichen
Altersvorsorge gar nichts zu sagen haben. Das ist nun
wieder sehr ehrlich; denn hierzu ist auch in Ihrer Regierungszeit nichts erfolgt, im Gegenteil: Der Verbreitungsgrad ist während der Regierungszeit von CDU/CSU und
FDP weiter zurückgegangen.
Dabei ist doch gerade diese Form der Alterssicherung
die modernste; denn sie verbindet für die Beschäftigten
die möglichen Chancen einer kapitalgedeckten Vorsorge
mit den Vorteilen der geringen Verwaltungskosten und
enthält Elemente des Solidarausgleichs.
Durch die verbesserten Rahmenbedingungen infolge
unserer Rentenreform erfährt die betriebliche Altersvorsorge gerade jetzt eine Renaissance. Hierzu möchte ich
angesichts der Kürze der Zeit nur einige Stichworte nennen: Bereits jetzt sind 15,3 Millionen Arbeitnehmer in Betrieben beschäftigt, in denen tarifvertragliche Regelungen
über eine Zusatzversorgung im Alter bzw. Entgeltumwandlungen existieren.
In Fachkreisen geht man davon aus, dass in Zukunft
90 Prozent aller Arbeitnehmer eine betriebliche Altersversorgung erhalten werden. Zum Vergleich: Heute erhält
nur ein gutes Viertel aller ehemaligen Beschäftigten in der
Privatwirtschaft eine Betriebsrente. Selbst die Anbieter
von Finanzdienstleistungen schätzen, dass etwa 70 Prozent der Fördermittel über die betriebliche Altersversorgung abgewickelt werden. Das sind eindeutige Erfolge,
die wir uns von niemandem kleinreden und schon gar
nicht schlechtreden lassen.
({2})
Was hat die Union zu bieten? Ich finde, eine klägliche
Show. Während Blüm Plakate „Die Rente ist sicher“
klebte, haben wir tatsächlich für Sicherheit gesorgt.
({3})
Geglaubt hat Ihnen am Schluss keiner mehr und das wirkt
leider lange nach. Die Unsicherheit in der Rentenpolitik
ist eine Gefahr für die Politik. Gerade in der Rentenpolitik muss man gemeinsam für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sorgen. Das haben Sie versäumt.
Deshalb fühlen sich immer noch viele verunsichert. Sie
wollen - so empfinde ich das - diese Situation wahltaktisch ausnutzen.
({4})
Genau das ist in Ihrem Antrag wiederzufinden. Sie haben
wieder einmal einen großartigen Titel gefunden: „Rentenreform ehrlich, generationengerecht und zukunftssicher
gestalten“. Haben Sie eigentlich jegliche Scham verloren?
Wenn Sie nicht gerade das Wort „ehrlich“ benutzt hätten,
würde ich Sie fragen, ob Sie überhaupt noch wissen, wie
dieses Wort geschrieben wird.
({5})
Abgesehen von der Wiedereinführung des so genannten demographischen Faktors, treffen Sie in Ihrem Antrag
nicht eine einzige konstruktive Aussage zu dem, was Sie
rentenpolitisch umsetzen möchten. Der demographische
Faktor hat allerdings nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Sie 1998 abgewählt wurden.
Was haben Sie am Altersvermögensgesetz und am Altersvermögensergänzungsgesetz zu kritisieren? Bei der
Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge ist Ihnen der
Verbraucherschutz zuwider. Lassen Sie mich das klarstellen: Alle Kriterien, die für eine Zertifizierung eines Altersversorgungsvertrags erfüllt sein müssen, dienen dazu,
dass Mindestanforderungen an die Altersbindung erfüllt
werden. Offensichtlich haben Sie in dem Zusammenhang
den Sinn der zusätzlichen Altersvorsorge gar nicht verstanden.
Ich will Ihnen das gern noch einmal erläutern: Es gilt
sicherzustellen, dass im Alter ausreichende Einkünfte
vorhanden sind. Nur das schafft Sicherheit. Geradezu absurd ist die Behauptung, die Finanzierung der Rentenversicherung sei unsicher. Das ist nicht wahr und das wissen
Sie auch. Die langfristige Stabilität der Rente ist garantiert.
Weil wir den Generationenvertrag mit einer zusätzlichen
Säule aufgebaut haben, ist auch das Versorgungsniveau garantiert. Bis zum Jahr 2020 wird der Beitragssatz nicht
über 20 Prozent und bis 2030 nicht über 22 Prozent steigen.
({6})
Ich finde, das ist auch gut so.
({7})
Im Übrigen haben wir uns das nicht ausgedacht, sondern wir konnten diese Zusagen auf der Grundlage der
Annahmen über die Entwicklung der Wirtschaft, der Einkommen und der Bevölkerung machen, wie sie mit dem
VDR und der BfA abgestimmt sind. Die von Ihnen erhobene Forderung, dass über die zukünftige Entwicklung
des Beitragssatzes Auskunft gegeben werden soll, wird
außerdem längst erfüllt. Jedes Jahr gibt die Bundesregierung den Rentenversicherungsbericht heraus. Da können
Sie das gerne nachlesen. Wie Sie wissen, haben wir nichts
zu verstecken und schon gar nichts zu vertuschen.
Sie sprechen sich dafür aus - ich zitierte -,
die eigenständige Alterssicherung von Frauen durch
Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
auszubauen.
({8})
Bravo, kann ich da nur sagen; dem kann ich mich voll und
ganz anschließen. Es ist nur schade, dass Sie diese Forderung nicht in ihrem Wahlprogramm unterbringen konnten.
Der Ausbau von Einrichtungen zur Kinderbetreuung bildet im Wahlprogramm der SPD dagegen einen Schwerpunkt. Insofern ist er auch ein deutlicher Schwerpunkt bei
unserer zukünftigen Regierungsarbeit.
({9})
Meine Damen und Herren, wir sorgen für geeignete
Rahmenbedingungen. Deshalb ist es so schade, dass Sie
es sich bei Ihrer Rentenreform nicht einmal ansatzweise
zugetraut haben eine Reform der Hinterbliebenenrenten
vorzunehmen - nicht etwa aus Großherzigkeit gegenüber
den Betroffenen, sondern weil Sie die Konflikte zwischen
den Konservativen Ihrer Partei und denjenigen, die
gleichstellungspolitisch auf der Höhe der Zeit sind, gescheut haben. Sie haben die Probleme vor sich hergeschoben. 16 Jahre lang war Aussitzen Ihr Markenzeichen.
Das hilft aber niemandem weiter.
({10})
Rot-Grün hat Änderungen durchgeführt, die zu einer
stärkeren Berücksichtigung der Kindererziehung führen
und mit einem modernen Familienverständnis im Einklang stehen. Bei Ihrer Kritik an der bedarfsorientierten
Grundsicherung schrecken Sie im Übrigen nicht einmal
vor Falschbehauptungen zurück: Die finanziellen Belastungen werden übertrieben und Sie verschweigen den
Überforderungsschutz, den wir für die Kommunen verankert haben.
({11})
Um es ganz deutlich zu sagen: Sie wissen, dass wir an einer systematischen Gemeindefinanzreform arbeiten und
dass die Gemeinden in diesem Land darauf vertrauen können, dass Rot-Grün den örtlichen Einrichtungen in unserer Gesellschaft für die Zukunft einen ausreichenden finanziellen Spielraum zusichert.
({12})
Warum trauen Sie sich nicht auch an dieser Stelle, offen zu sagen, was Sie ganz verschämt in Ihrem Wahlprogramm versteckt haben, dass Sie nämlich die Grundsicherung tatsächlich wieder abschaffen wollen? Was ist
das für ein Weg, verschämte Armut zu bekämpfen?
({13})
Sie spalten dieses Land, indem Sie sowohl die alten als
auch die jungen Menschen verunsichern. Die Akzeptanz
der Rentenversicherung als eine der tragenden Säulen des
Sozialstaates wird von Ihnen ohne Alternative untergraben. Ich bedauere das sehr und darf zum Schluss sagen:
Unsere langfristigen Ziele in der Rentenreform werden
- dabei bleibt es - systematisch umgesetzt.
({14})
Erstens stabile Beiträge, zweitens ein vertretbares Rentenniveau zur Sicherung eines angemessenen Lebensstandards im Alter, drittens eine stärkere Eigenvorsorge, viertens eine Verbesserung der Alterssicherung von Frauen
und der kindbezogenen Leistungen bei der eigenständigen Rente und der Hinterbliebenenversorgung und fünftens eine systematische Vermeidung verschämter Altersarmut. - Das ist das Markenzeichen von Rot-Grün; dafür
treten wir ein.
({15})
Für die FDP-Fraktion
erteile ich der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jährliche Mitgliederversammlung des Verbandes der Rentenversicherungsträger hat gerade in Leipzig stattgefunden.
Dort wurde bekannt, dass eine Beitragssatzerhöhung von
19,1 auf 19,3 Prozent spätestens im nächsten Jahr unausweichlich sein wird. Im Gegensatz dazu steht in Ihrem
Rentenkonzept, dass der Beitragssatz auf 19 Prozent gesenkt werden könnte.
Darüber hinaus wurde bekannt, dass, wenn Sie nicht
tricksen und schönen, dieser erhöhte Beitragssatz beibehalten werden muss und noch weiter steigen kann, statt
dass eine Senkung auf unter 19 Prozent möglich wird.
Trotzdem stellen Sie sich hier hin und behaupten, die Welt
sei schön. Sie verschließen die Augen fest vor der Realität
und wollen nicht wahrnehmen, dass hier der rentenpolitische Offenbarungseid notwendig gewesen wäre, der von
anderen für Sie ausgesprochen worden ist.
({0})
Nichts von dem, was Sie in dieser Legislaturperiode
gemacht haben, hat etwas genutzt. Weder die 15 Milliarden Euro Ökosteuer, die Sie in die Rentenversicherung
gegeben haben, noch die unsystematische Absenkung des
Anpassungssatzes zu Beginn der Legislaturperiode haben
die Rentenversicherung in irgendeiner Weise stabilisieren
können. Das heißt, Sie haben die gesamte Legislaturperiode den Reformbedarf systematisch verschleiert und die
Zahlen geschönt. Das rächt sich jetzt.
({1})
Dennoch versuchen Sie, Ihr mutloses Reförmchen von
2001 als große Tat zu preisen.
Nein, es muss eine Reform her. Die FDP will diese
überfällige Reform endlich machen, damit die Bürger
wieder Zutrauen zu unseren Alterssicherungssystemen
fassen. Die gesetzliche Rentenversicherung wird entgegen allen Behauptungen, die jetzt manchmal über das aufgestellt werden, was der eine oder der andere will, auch in
Zukunft das Rückgrat der Alterssicherung der meisten
Menschen in Deutschland sein. Das ist auch richtig so.
({2})
Aber sie muss reformiert werden, damit sie diese Aufgabe
in Zukunft leisten kann. Dies gilt im Übrigen auch für die
private Altersversorgung; denn das Vertrauen, das damit
aufgebaut werden sollte, ist nicht vorhanden. Die Menschen glauben nicht, dass dies ein vernünftiger Ansatz ist,
der ihre Altersvorsorge sichern könnte.
Immer mehr Deutsche fühlen sich bei der Altersversorgung vom Staat im Stich gelassen. Im Oktober 2001
misstrauten 52 Prozent der Bevölkerung den staatlichen
Maßnahmen. Im März 2002 waren es schon 60 Prozent.
Das hat aber nicht dazu geführt, dass sie gleichzeitig eine
Entscheidung für die Inanspruchnahme der geförderten
Riester-Rente getroffen hätten. Das haben gerade einmal
8 Prozent getan. Immerhin 70 Prozent sagen, dass sie
nicht die Absicht haben, eine solche private Vorsorge abzuschließen. Wenn das keine Misstrauenserklärung gegenüber dem komplizierten Konstrukt ist, das Sie verabschiedet haben, dann weiß ich wirklich nicht, wie man das
anders belegen sollte.
({3})
Sie machen keine zukunftsweisende Rentenpolitik.
Wenn Sie immer darauf verweisen, was früher alles anders und, wie Sie sagen, schlechter gewesen ist, dann kann
ich Ihnen nur eines sagen: Die Bürger werden am 22. September nicht über die Regierung von vor 1998, sondern
über Ihre Regierung abstimmen, über das, was Sie versprochen und nicht gehalten haben. Sie werden darüber
abstimmen, dass sie geglaubt haben, Sie würden die notwendigen Reformen in Angriff nehmen. Die Bürger haben
festgestellt, dass Sie diese Reformen nicht zustande gebracht haben. Im Gegenteil: Sie deklarieren etwas als Reform, was sich in keiner Weise als zukunftsweisend oder
auch nur vom Ansatz her als wirklich tragfähig erweist.
({4})
Sie haben heute Morgen den Begriff der Nachhaltigkeit
nachhaltig beschädigt, indem Sie ihn für wirklich alle
Facetten Ihrer unzulänglichen Politik zu missbrauchen
versucht haben. Nachhaltigkeit bedeutet Generationengerechtigkeit. Sie haben nicht den Mut gehabt, für die
junge Generation die richtigen Entscheidungen zu treffen,
weil Sie nicht in der Lage waren, den Gewerkschaften begreiflich zu machen, dass Reformen wirklich Reformen
bedürfen.
({5})
Man muss es einfach sagen: Es gibt viele Menschen,
die bei dem Wort Reformen immer nur an Reformen für
andere denken, die sie selbst nicht betreffen. Wer Reformen will, muss wissen: Sie betreffen alle. Wenn wir bei
der Rente wirklich Generationengerechtigkeit herstellen
wollen, dann müssen wir endlich eine tief greifende Reform machen. Wir werden das tun. Ich werde Ihnen kurz
skizzieren, wie das aussehen soll.
({6})
Lassen Sie mich vorher einige Anmerkungen zu den
vorliegenden Anträgen machen. Ich hätte mir schon gewünscht, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Union, dass Sie etwas präziser definieren würden, was
nach Ihrer Auffassung in der nächsten Legislaturperiode
notwendig ist.
({7})
- Ich hätte mir gewünscht, dass diese grundlegende Debatte vor und nicht nach der Wahl stattfindet. Ich denke,
die Menschen haben einen Anspruch darauf, sehr klar zu
wissen, was notwendig ist.
({8})
Daneben hat die PDS einen Antrag mit einem Sack voll
unerfüllbarer Versprechen vorgelegt, die sich nur auf die
Menschen in den ostdeutschen Bundesländern beziehen.
Auch wir sehen in einem von Ihnen angesprochenen Bereich, nämlich beim mittleren medizinischen Personal,
sehr wohl die Notwendigkeit, weitere Verbesserungen vorzunehmen.
({9})
Wenn aber die PDS in einer Rentendebatte, die den
zukünftigen Reformbedarf aufzeigen soll, ausschließlich
die vermeintlichen Interessen von Menschen aus den
neuen Bundesländern bedient, dann hat sie ihren Anspruch, eine gesamtdeutsche Partei zu sein, aufgegeben.
Sie sind das nicht und werden es auch den Menschen nicht
klarmachen können.
({10})
Die Voraussetzung für eine seriöse Reform - das ist der
erste Punkt - sind volkswirtschaftliche und bevölkerungswissenschaftliche Annahmen, die tatsächlich
langfristig angelegt sind. Als wir mit der Debatte über Ihre
Reform begonnen haben, haben Sie behauptet, sie sei
langfristig angelegt. Aber anschließend sind die kritischen
Anmerkungen vonseiten der Bevölkerungswissenschaftler systematisch ausgeblendet worden. Sie haben Annahmen zugrunde gelegt, die schon bei der Entwicklung der
Arbeitslosigkeit in diesem und im nächsten Jahr und bei
der Entwicklung der Beitragssätze zur Krankenversicherung nicht zutreffen. Damit sind Ihre gesamten Prognosen
falsch und können nicht aufrechterhalten werden. Das
macht nicht nur der Anstieg des Beitragssatzes im nächsten Jahr deutlich. Vielmehr werden Sie schon sehr viel
früher einen Beitragssatz von 20 Prozent erreicht haben,
als es nach Ihrer Berechnung vorgesehen ist.
({11})
Sie versuchen, über diese Wahl hinweg zu kommen,
ohne der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. Ich
bin aber sicher, dass die Menschen kritischer sind und Ihnen das nicht durchgehen lassen werden.
({12})
Zweitens ist angesichts der weltweit höchsten Lohnzusatzkosten, die wir in Deutschland haben, insgesamt ein
niedrigeres Belastungsniveau notwendig, als Sie es für
Ihre Rentenreform bis zum Jahr 2030 anstreben.
Drittens brauchen wir als wesentliches Kriterium für
die geförderte private Vorsorge eine praktikable Zweckbestimmung. Das reicht dann auch aus. Warum werden
denn so wenige Verträge für die private Vorsorge abgeschlossen? - Sie sind unattraktiv, weil erstens die Verwendungsmöglichkeiten der angesparten Summe die
Menschen nicht zufrieden stellen, weil Sie zweitens Vererbbarkeit nicht vorgesehen und drittens eine Fülle von
undurchsichtigen Kriterien aufgenommen haben, die die
Menschen verunsichert. Damit die Akzeptanz verbessert
wird und der an sich richtige Schritt der privaten Vorsorge
auch tatsächlich gegangen werden kann, ist eine Reform
dieses Ansatzes in der nächsten Legislaturperiode dringend notwendig.
({13})
Viertens muss das Wohneigentum als klassische Form
der Altersvorsorge in einer praktikablen Form einbezogen
werden.
Fünftens muss die nachgelagerte Besteuerung für
alle Vorsorgebeiträge eingeführt werden. Die jetzige
Rechtslage, nach der ein Teil schon bei der Erbringung
steuerlich geltend gemacht werden kann, ein anderer Teil
aber nicht, ist verwirrend und führt auch zu für den Einzelnen schlecht abschätzbaren Ergebnissen bei der Auszahlung seiner Rente. Deswegen ist eine nachgelagerte
Besteuerung generell richtig. Dabei ist allerdings jegliche
Doppelbesteuerung zu vermeiden.
Sechstens müssen im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge die Durchführungswege gleichgestellt werden. Es gibt keinen Grund dafür, warum Direktzusagen
und Unterstützungskassen diskriminiert werden. Darüber
hinaus muss die Direktversicherung auch ab 2008 weiterhin attraktiv bleiben. Dieses Instrument wird derzeit gerade im Mittelstand verstärkt angewendet.
Auch muss dafür gesorgt werden, dass die deutschen
Pensionsfonds aus der Ecke der reinen Versicherungsprodukte herauskommen und international vergleichbaren
Kriterien genügen. Sie müssen rentabel, europatauglich
und international wettbewerbsfähig werden, was sie zurzeit nicht sind.
Deswegen ist es siebtens auch notwendig, dass die bedarfsorientierte Grundsicherung, die - darin bin ich mir
sicher - die Kommunen vor massive finanzielle Belastungen stellen wird - ({14})
- Das ist schon derzeit anhand der Vorlagen, die die Kämmerer für verschiedene Gebietskörperschaften erarbeitet
haben, abzusehen. Wir haben diesbezüglich eine Anfrage
an die Bundesregierung gerichtet. Ich bin gespannt, wie
die Bundesregierung sie behandeln wird.
Die Wähler merken, dass Sie Ihre Versprechen aus dem
Wahlkampf 1998 nicht eingehalten haben. Viele haben
geglaubt, die Reform der sozialen Sicherungssysteme
könne man mal eben so machen und gehe sie eigentlich
nichts an. Jetzt wird die Sorge um die eigene Zukunft
größer. Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen
Koalition, haben Ihre Chance gehabt. Sie haben sie verspielt.
({15})
Wir werden vernünftige Reformen in der nächsten Legislaturperiode machen.
Danke schön.
({16})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Schwaetzer, ich glaube, es steht Ihnen nicht zu,
zu der Frage etwas zu sagen, wer wie lange eine Chance
hatte und sie nicht genutzt hat.
({0})
Sie haben eben einige Punkte des FDP-Konzepts vorgestellt. Mir kam das wie eine Ansammlung von Punkten,
die nach dem Motto „Was ich schon immer einmal sagen
wollte“ zusammengestellt worden sind, und nicht wie ein
tragfähiges Konzept vor, das generationengerecht und
machbar ist.
({1})
- Ich werde es konkret machen. - Sie haben zu Beginn Ihrer Rede den Beitragssatz angesprochen und haben versucht, uns weiszumachen, dass der Beitragssatz bei uns
nicht mehr im Mittelpunkt stehe.
({2})
Sie haben auch behauptet, dass die Prognosen, auf die wir
uns stützen, nicht stimmten. Ich weise Sie gerne auf eine
Prognose des VDR vom April 2002 hin, aus der deutlich
hervorgeht, dass das, was wir uns vorgenommen haben,
nämlich die Beitragssätze unter 20 bzw. 22 Prozent zu halten, langfristig umsetzbar ist.
({3})
Deswegen bleiben wir bei dem, was wir gesagt haben. Wir
gehen also nicht von falschen Prognosen aus.
({4})
Ich möchte Ihnen gerne vorrechnen, was es bedeuten
würde, wenn das, was im FDP-Programm steht, umgesetzt würde. Sie schlagen unter anderem vor, die Ökosteuer abzuschaffen, weil Sie diese Steuer für ein falsches
Instrument halten. Wenn die Ökosteuer abgeschafft würde
- Frau Schwaetzer, das können Sie gerne nachrechnen -,
dann würde der Beitragssatz in der Rentenversicherung
sofort um 2 Prozentpunkte steigen. Sie müssen mir einmal
erklären, was das mit Beitragssatzsenkung zu tun hat.
({5})
- Es stimmt, Sie haben nicht gesagt, wie Sie das alles bezahlen wollen. Das ist richtig. Die Umsetzung Ihres Steuermodells würde 33 Milliarden kosten. Die Umsetzung
aller Forderungen aus dem FDP-Programm würde
320 Milliarden kosten. Sie haben an keiner Stelle gesagt,
wie Sie das finanzieren wollen. Wir dagegen sagen den
Menschen die Wahrheit. Wir sagen ihnen vor allen Dingen, worauf sie sich verlassen können. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({6})
Ich möchte noch auf Ihre Behauptung eingehen - ich
glaube, diese haben Sie schon einmal vor einigen Wochen
in einer Aktuellen Stunde fast wörtlich vorgetragen; Sie
haben sie wahrscheinlich als Textbaustein abgespeichert
-, die zusätzliche private Vorsorge, die Riester-Rente,
werde nicht angenommen. Dazu möchte ich Ihnen Folgendes sagen:
({7})
Sie wissen sehr genau - das ist auch richtig so -, dass die
Verbraucherschützer und Berater den Menschen raten,
sich genau anzuschauen, welche Produkte der privaten
Vorsorge zu ihren Einkommensverhältnissen passen, und
darauf hinweisen, dass noch bis zum Ende des Jahres Zeit
ist, entsprechende Verträge abzuschließen. Sie wissen
ganz genau, dass es nicht stimmt, dass 70 Prozent keine
zusätzliche private Vorsorge betreiben wollen. Im Gegenteil: Es gibt in der Tat eine große Bereitschaft, zusätzliche
private Vorsorge zu betreiben. Es ist ja gewollt, dass die einen zusätzlich betriebliche Vorsorge und die anderen zusätzlich private Vorsorge betreiben. Genau darum geht es.
({8})
Frau Schwaetzer, wir haben die private Vorsorge nicht
eingeführt. Sehr viele Menschen - das hat insbesondere
Ihre Klientel, die Besserverdienenden, gemacht - haben
schon vor der Riester-Rente private Vorsorge betrieben.
Aber diejenigen, die nur über kleine Einkommen verfügen und auch noch Kinder haben, konnten sich bisher
keine zusätzliche private Vorsorge leisten. Ihnen haben
wir die Möglichkeit gegeben, privat vorsorgen zu können,
damit auch sie eine eigenständige, sichere Rente bekommen, bestehend aus gesetzlicher Rente und privater Vorsorge. Das unterstützen wir. Diese Menschen nehmen
dieses Angebot an, Frau Schwaetzer, und nicht die Besserverdienenden; das ist richtig.
({9})
Die Besserverdienenden brauchen solche Angebote aber
auch nicht; die wollten wir nicht stützen. Wir wollten vielmehr die kleinen Leute stützen, insbesondere die Familien
mit Kindern. Das haben wir gemacht. Sie nehmen das
auch an.
({10})
Herr Schemken, ich komme nun auf Sie zu sprechen.
Sie hatten davon gesprochen, dass es um Ehrlichkeit bei
der Rentenversicherung ginge. 1983 - ich war damals
17 Jahre alt, vielleicht habe ich noch Blumen gepflückt
- waren Sie kurze Zeit an der Regierung. Damals - kurz
zuvor habe ich begonnen, mich politisch zu interessieren
- bin ich mit dem Satz aufgewachsen, dass die Rente sicher sei. Das war der „ehrliche Satz“ von Norbert Blüm.
Je mehr ich, als ich älter und gesetzter wurde, über diesen
Satz nachgedacht habe, habe ich festgestellt, dass die
Wörter „ehrlich“ und „verlässlich“ nicht zutreffen. Nehmen Sie mir ab, Herr Schemken, dass sich auch jemand,
der nicht kurz vor dem Rentenalter steht, der der jüngeren
Generation angehört, Gedanken darüber macht, was das
alles zu bedeuten hat.
({11})
- Ja, ich habe immer Westfernsehen gesehen; das kann ich
hier bekennen. Ich war nicht Mitglied der SED. Ich durfte
es zu Hause sehen; das war überhaupt kein Problem.
Worum es mir geht, ist die Frage, für wen man eine
Rentenreform eigentlich macht und für wen man einen
demographischen Faktor überhaupt einführt. Sie wissen,
dass unsere Fraktion damals dem nicht abgeneigt war; sie
war nur der Auffassung, dass man das anders machen
müsse. Sie haben diese Frage aber niemals beantwortet.
Sie haben immer gesagt, Sie würden eine Rentenreform
zugunsten von Rentnerinnen und Rentern machen. Sie haben immer verschwiegen, was das für die Jüngeren bedeutet. Das hätte für die Jüngeren, auch mit Ihrem demographischen Faktor, massiv steigende Beiträge bedeutet.
Das hätte für die Jüngeren und für die Familien bedeutet,
dass sie keine zusätzliche private Vorsorge hätten betreiben können, weil sie das Geld dafür nicht im Portemonnaie
gehabt hätten. Deswegen nehmen Sie jemandem, der 1983
noch Blumen gepflückt hat, bitte ab, dass wir tatsächlich
eine Rentenreform auf den Weg bringen wollten und mit
auf den Weg gebracht haben, bei der die Frage der Generationengerechtigkeit von großer Bedeutung war.
({12})
Ich bin froh, dass ich bei den Konsensrunden - darauf
komme ich nun näher zu sprechen - mit am Tisch gesessen habe. Ich war übrigens die Jüngste; Herr Biedenkopf
hat sich immer darüber gefreut, dass auch jemand, der etwas jünger ist, mit dabei ist. Sie haben gesagt, Sie hätten
es bedauert - ich glaube, das richtete sich an die Adresse
der Sozialdemokraten -, dass sie den demographischen
Faktor nicht mitgetragen haben. Ich sage Ihnen, was ich
bedauert habe: Wir haben uns Wochen und Monate um einen Rentenkonsens bemüht, haben uns gestritten, waren
uns aber in vielen Fragen einig. Es war mit Herrn Biedenkopf, Frau Stamm und Herrn Laumann eine hochkarätig besetzte Gruppe und wir haben, wie ich glaube, einen wirklichen Konsens gefunden. Aber am Schluss hat
die Union aus rein politischen Gründen, weil sie dies als
Thema für den Wahlkampf nehmen will - dies wird nicht
funktionieren, da das Thema Rentenpolitik zurzeit nicht
in der öffentlichen Debatte ist -, gesagt, dass sie ihn nicht
mittragen könne.
Ich will Ihnen einige Beispiele geben: Bei der privaten
Vorsorge und deren Förderung haben Sie gesagt, man
bräuchte dafür mindestens 10 Milliarden DM. Wir haben
fast 10 Milliarden Euro dort eingestellt. Wir sind Ihnen
also nicht nur entgegengekommen, sondern haben dies
sogar stärker gefördert. Sie haben am Ende hinsichtlich
des Rentenniveaus die Frage gestellt, wie hoch es sein
darf. Wir sind Ihnen auch hier entgegengekommen. Es
ging um die Beitragssätze. Wir haben gemeinsam eine Lösung gefunden.
Ich bedauere das alles sehr. Man hätte auch beim demographischen Faktor weiterkommen können, aber man
hätte daraus sicherlich lernen und sich bemühen können,
es beim Rentenkonsens besser zu machen und einen wirklichen Konsens zu finden. Dann gäbe es zum einen nicht
eine so große Verunsicherung der Leute - das findet jetzt
nur aus Wahlkampfgründen statt; ich sage gleich noch etwas zu dem Thema Familien mit Kindern - und zum
Zweiten hätten wir heute eine mutigere Reform. Für diese
habe ich mich einesetzt. Ich habe aber eingesehen: Das
geht nur gemeinsam, dann, wenn man noch einen Schritt
weiter gehen will. Dass das nicht geklappt hat, bedauere
ich in der Tat.
({13})
In der verbleibenden Zeit möchte ich noch einige Sätze
zu dem Punkt sagen, den Sie uns vorgeworfen haben. Ich
muss Ihnen ehrlich sagen: Ich glaube, Sie haben sich das,
was wir getan haben, nicht richtig angeschaut.
({14})
Zur Frage der Hinterbliebenenrente. Natürlich senken
wir sie ab, und zwar für diejenigen, die unter 40 sind und
keine Kinder haben. Das finde ich richtig. Denn ich
glaube, wenn zwei Menschen zusammenleben, verheiratet sind, einer aus freier Entscheidung zu Hause bleibt und
keine Kinder großzieht, dann können die beiden auch miteinander vereinbaren, dass hier eine zusätzliche Vorsorge
getroffen werden muss. Wenn aber jemand Kinder erzieht
- das ist schon beim ersten Kind so -, dann wird er in der
Hinterbliebenenvorsorge genau das Gleiche bekommen
wie jetzt. Schon wenn jemand zwei Kinder hat, wird seine
Situation besser sein als bisher. Das ist der eine Punkt.
({15})
Aber es gibt noch einen anderen Punkt, den wir durchgesetzt haben und den ich zentral finde. Wir haben geschafft, dass es bei den Rentenbiografien von Frauen
keine Lücken mehr gibt, dass sich die Frauen also wirklich
auf eine eigenständige Rente verlassen können. Für diejenigen, bei denen dies nicht möglich ist, weil sie besonders
niedrige Einkünfte haben, haben wir die Grundsicherung
eingeführt. Dazu haben Sie gesagt, dass Sie sie wieder abschaffen wollen. Das finde ich wirklich hochdramatisch,
weil es bedeutet, dass man wieder ganz unten ansetzt, also
bei denen, die nichts haben und auch nichts zusätzlich aufbringen können. Das finde ich besonders dramatisch.
({16})
- Frau Schwaetzer, Sie wollen das Geld ja den Menschen,
die es wirklich brauchen, nehmen, weil die Kommunen
das nicht bezahlen können. Die Leute haben einen Anspruch darauf, Frau Schwaetzer.
({17})
Deswegen reden wir nicht darüber, ob die Kommunen das
bezahlen können, sondern wir reden darüber, wie wir es
finanzieren können, weil die Menschen einen Anspruch
darauf haben. Aber zu sagen: „Das können wir leider nicht
mehr machen, weil wir nicht wissen, wie wir es finanzieren sollen“ ist FDP-Programmatik.
({18})
Das werden Sie bei uns nicht erleben.
({19})
Das werden die Menschen auch am 22. September dieses
Jahres ganz genau wissen.
({20})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Balt von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt haben Wahlkampf und Schlagabtausch begonnen. Über die Rente schreiben, sprechen und
senden, spätestens seit der Rieser-Rente, ja bekanntlich
alle. Das hat die SPD 1998 wohl schon geahnt. Deshalb
heißt es in ihrem Wahlprogramm:
Die Kürzung des Rentenniveaus würde viele Rentnerinnen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern
machen. Bei Frauenrenten von durchschnittlich
900 Mark im Monat wird dies besonders deutlich. So
darf man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, nicht umgehen. Die SPD-geführte
Bundesregierung wird die unsoziale Rentenpolitik
unmittelbar nach der Bundestagswahl korrigieren.
So weit das Zitat.
Meine Damen und Herren, was haben Sie denn nun
tatsächlich korrigiert? Sie haben die enormen Einschnitte
in die Rentenleistungen von 1997, wie die Verkürzung der
Anrechnung von Ausbildungszeiten oder die schnelle
Heraufsetzung der Altersgrenzen, unverändert übernommen und weitergeführt. Mit der Rentenreform 2001 haben
Sie nicht nur die Weichen für eine weitere schrittweise Absenkung der Renten um circa 10 Prozent gestellt, sondern
es ist auch eine Tatsache, dass Sie einen Systembruch
vollzogen haben, indem Sie mit der Tradition der paritätisch finanzierten, leistungsfähigen und solidarischen
Alterssicherung der Bundesrepublik gebrochen haben.
({0})
Ihre Rentenreform ist vor allem eine Abkehr von einer
lebensstandardsichernden gesetzlichen Rente hin zu einer
bloßen Mindestversorgung. Sie schielen einzig und allein
auf die Höhe des Beitragssatzes. Das Ergebnis aber wird
sein, dass künftig rund ein Drittel aller Rentnerinnen und
Rentner eine Rente erhalten werden, die sich von der Sozialhilfe nicht mehr unterscheiden wird. Darin sind sich
im Übrigen alle Rentenexperten einig. Unter der Überschrift „Größere Eigenverantwortung und Selbstgestaltung“ ersetzen Sie Teile der solidarischen Rente durch
eine überteuerte Privatrente, die ausschließlich und alleine von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu
bezahlen ist.
({1})
So kappt der Staat Schritt für Schritt seine soziale Verantwortung. Aber glauben Sie nicht, dass die Menschen
das nicht bemerken. Fragen Sie einmal junge Menschen,
was sie über ihre spätere Rente denken. Das Vertrauen in
die gesetzliche Rentenversicherung und in die Rentenpolitik schwindet nämlich immer mehr. Es muss doch möglich sein, dass in einem wirtschaftlich so leistungsfähigen
und reichen Staat wie der Bundesrepublik endlich über
Umverteilung von oben nach unten nachgedacht wird,
statt ständig Sozialleistungen zu kürzen. Ich erinnere Sie
an dieser Stelle an die beeindruckende und an das Haus
appellierende letzte Rede Ihres Kollegen Rudolf Dreßler
in diesem Haus.
Für die PDS steht die Erneuerung des Solidarprinzips
im Mittelpunkt. Die Probleme der Rentenkassen liegen
vor allem auf der Einnahmeseite, verursacht durch hohe
Arbeitslosigkeit und vor allem durch die Schonung höherer Einkommen. Heute sind Sozialversicherungen überwiegend Versicherungen für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Wir wollen sie zu Versicherungen aller
Erwerbstätigen, auch der Beamten, Selbstständigen und
Abgeordneten, ausbauen.
({2})
Wie? Durch Integration bestehender paralleler Sicherungssysteme und durch die Versicherungspflicht für alle
Erwerbseinkommen.
({3})
Damit wollen wir vor allem eines erreichen, nämlich dass
die gesetzliche Rentenversicherung die Grundlage für
eine den Lebensstandard sichernde Rente ist.
In den zur Debatte stehenden Anträgen von CDU/CSU
wird viel allgemeine Kritik geübt, aber es werden wenig
konkrete Vorschläge unterbreitet. Deshalb zitiere ich Ihr
Wahlprogramm - Sie wollen daraus ja ein Regierungsprogramm machen -:
Wir werden diese unzureichende Rentenreform erneut auf den Prüfstand stellen und notwendige Korrekturen durchführen.
Hoppla, das kommt mir doch ganz schön bekannt vor.
Im Kern Ihrer Korrektur holen Sie als Alternative zu
Riesters Korrekturfaktor den blümschen Demographiefaktor aus der Mottenkiste.
({4})
Sie formulieren darüber hinaus, die Regelaltersgrenze
flexibler gestalten zu wollen. Im Klartext heißt das doch:
Sie wollen das Renteneintrittsalter heraufsetzen; derjenige, der wegen Arbeitslosigkeit vorzeitig in Rente gehen
muss, hat mit noch höheren Abschlägen zu rechnen. Wissen Sie eigentlich, dass die Arbeitslosen, die im Jahr 2001
in Rente gehen mussten, eine im Vergleich zu 1996 um
150 Euro niedrigere Rente erhalten? Wie weit wollen Sie
denn die Rentenkürzung noch treiben?
Weder in Ihrem Regierungsprogramm noch in Ihrem
Antrag „Rentenreform ehrlich, generationengerecht und
zukunftssicher gestalten“ finde ich eine Aussage zu den
immer noch bestehenden Lücken und Ungerechtigkeiten
bei der Überführung der DDR-Renten und -Versorgungen. Frau Schwaetzer, diese Rentenlücken gibt es nun
einmal in den neuen Bundesländern. Deshalb setzt sich
die PDS besonders für deren Beseitigung ein. Es ist ein
unhaltbarer Zustand, dass weder eine schwarz-gelbe noch
eine rot-grüne Bundesregierung diese ungerechten Regelungen für ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner bei der
Überführung ihrer Renten- und Versorgungsansprüche
von sich aus beseitigt hat.
({5})
Es waren stets die Betroffenen, die mit Hilfe von Verbänden, Organisationen, Gewerkschaften und Kirchen
mit sehr großem Aufwand und langwierigen Gerichtsverfahren diese Gesetzesänderungen erzwungen haben.
Keine einzige Änderung des Renten- oder Versorgungsrechts erfolgte aus der Erkenntnis heraus, dass die Wertneutralität des Rentenrechts ein hohes Verfassungsgut
ist - das zu sagen muss in diesem Hause gestattet sein -,
das nicht verletzt werden darf.
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte grundsätzlich
die Eigentumsgarantie für die in der DDR erworbenen Ansprüche und Anwartschaften. Sowohl im Staatsvertrag als
auch im Einigungsvertrag hieß es, dass Rentenansprüche
und -anwartschaften als vermögenswerte Güter auch die
wesentlichen Merkmale verfassungsrechtlich geschützten
Eigentums tragen. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben das wissen wir alle -, die vom Bundesverfassungsgericht
als nichtig und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar festgestellten Bedingungen neu zu regeln.
Weil der Handlungsspielraum nicht ausgeschöpft
wurde und die Überführungslücken nach wie vor bestehen, hat die PDS-Fraktion jetzt erneut den Antrag gestellt,
diese Fragen nun endlich, fast zwölf Jahre nach der Einheit, zu regeln. Ich spreche hier für die Lebensarbeitsleistung der Wissenschaftler und Hochschullehrer, für Tausende Professoren, die nach 1995 in Rente gingen. Ich
spreche für die Pädagogen, die Angehörigen der technischen Intelligenz, der Deutschen Reichsbahn und der
Deutschen Post sowie für alle anderen Teilnehmer an Zusatz- und Sonderversorgungen, die bisher nicht mit der gesetzlichen Rentenversicherung abgegolten worden sind.
({6})
Die PDS tritt für eine weitere Novellierung des
2. AAÜG-Änderungsgesetzes ein. Es ist aus unserer Sicht
höchste Zeit, Überführungslücken zu schließen. Wir verlangen die Vorlage eines Stufenplans, der die vollständige
Angleichung an den aktuellen Rentenwert in den neuen
Bundesländern vorsieht. Auch der VdK-Präsident, Herr
Hirrlinger, sagte gestern: Die Angleichung der Ostrenten
an das westdeutsche Rentenniveau bis 2007 ist dringend
erforderlich. Wenn Sie der PDS nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens ihm.
({7})
Zwölf Jahre nach der deutschen Einheit sind diese Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten nicht mehr hinzunehmen. Glaubwürdigkeit heißt für uns, dass den Worten
dann auch Taten folgen. Wenn die PDS von sozialer Gerechtigkeit spricht, dann wollen wir, dass alle Rentnerinnen und Rentner in Ost und West von ihrer Rente menschenwürdig leben können.
Vielen Dank.
({8})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! „Wahlkampf, Wahlkampf“ hat die
„Frankfurter Rundschau“ am 19. April getitelt. Das
müsste auch der Titel für die heutigen CDU/CSU-Anträge
sein, die wir gerade beraten.
({0})
Wie damals versuchen Sie auch heute, die Absenkung
des Rentenniveaus auf 64 Prozent - das war Ziel Ihres
Rentengesetzes - uns in die Schuhe zu schieben. Das lassen wir nicht zu. Es wird Ihnen auch nicht gelingen; denn
unsere Marke liegt höher.
({1})
Unter dem Thema „Wahlkampf, Wahlkampf“ lässt sich
auch - lassen Sie mich das zu Ihnen sagen, Frau Kollegin
Balt - Ihre Rede heute einordnen. Offensichtlich kennen
Sie das Altersvorsorgegesetz nicht. Ansonsten könnten
Sie hier nicht behaupten, allein die Arbeitnehmer müssten
die kapitalgedeckte Vorsorge bezahlen. Mit über 20 Milliarden DM jährlich wird dieses von der Bundesregierung
bezuschusst und gefördert. Verschweigen Sie das nicht
einfach!
({2})
Zurück zu den Anträgen der CDU/CSU, in denen Forderungen nach Klarheit, Ehrlichkeit und Generationengerechtigkeit enthalten sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau diese Forderungen haben wir mit unserer
Rentenreform, die wir 2001, also vor der Bundestagswahl, in Kraft gesetzt haben, erfüllt. Dazu hatte Ihnen bei
Ihrem Rentenreformgesetz 1999 vor vier Jahren noch der
Mut gefehlt. Ihr demographischer Faktor sollte erst im
Jahr nach der Wahl greifen. Das war weder ehrlich noch
klar, von generationengerecht ganz zu schweigen.
({3})
Mit Ihren Anträgen heute wollen Sie die Wählerinnen und
Wähler verunsichern und für dumm verkaufen. Beides
wird Ihnen nicht gelingen.
({4})
Sie unterstellen eine Versorgungslücke. Aber genau die
wird mit unserem Altersvorsorgegesetz geschlossen. Wir
fördern - ich wiederhole es - mit mehr als 20 Milliarden DM jährlich die zusätzliche private Vorsorge. Sie daMonika Balt
gegen haben einfach nur beschlossen, das Rentenniveau
auf 64 Prozent zu senken. Fertig! - Anders als Sie lassen
wir die Menschen nicht alleine.
({5})
Frau Kollegin Lotz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meckelburg?
Es findet nachher noch eine Beratung des Ausschusses statt. Das weiß auch Herr Meckelburg. Ich möchte daher im Zusammenhang weiterreden.
({0})
Sie lassen
also keine Zwischenfrage zu.
Zum ersten Mal in der Geschichte
der Rentenversicherung werden die Versicherten eine umfassende Rentenauskunft erhalten. Sie kennen dann ihre
voraussichtliche Rentenhöhe auch bei Erwerbsunfähigkeit oder wissen, wie viel ihre Witwen oder Witwer bekommen würden. Was machen Sie von der CDU/CSU?
Sie nehmen diese Tatsache gar nicht zur Kenntnis. Sonst
könnten Sie solche Anträge nicht stellen.
SPD und Grüne haben dafür gesorgt, dass ab 2004 alle
Versicherten über 27 Jahre jährlich eine umfassende Renteninformation bekommen. Wenn Sie das jetzt infrage
stellen - am 19. April haben Sie sich darüber beklagt, dass
so wenig Verträge abgeschlossen worden seien -, dann
muss ich fragen: Was wollen Sie denn eigentlich? Es ist
doch wichtig und richtig, dass man sich schon in jungen
Jahren um seine Rente kümmert. Deshalb ist eine solche
Rentenauskunft in jungen Jahren auch richtig.
Ich darf noch einmal daran erinnern - Frau Kollegin
Göring-Eckardt hat es schon getan -, dass Sie von der
Opposition unserer Rentenreform nicht zugestimmt haben. Ich erinnere mich auch nicht daran, dass Sie Änderungsanträge gestellt hätten.
Die Rentenversicherungsträger werden in einem Pilotprojekt die Versicherten schon früher informieren, als es
nach dem Gesetz vorgesehen ist. Das wollen Sie nicht.
({0})
Es ist mir völlig unklar, worum es Ihnen eigentlich geht.
Klar ist nur, worum es Ihnen auf gar keinen Fall geht, nämlich um die Menschen, die heute Beiträge zur Rentenversicherung zahlen und die wissen wollen und sollen, wie
hoch ihre Rente sein wird. Anstatt dem Rat und der Bitte
des VdR zu folgen, die Rentenpolitik aus dem Wahlkampf
herauszuhalten, verunsichern Sie die Menschen. Ich finde
es geradezu unglaublich, dass Sie schon wieder versuchen,
etwas Sinnvolles und Notwendiges zu verhindern.
({1})
Mit dem Pilotprojekt sollen jüngere Versicherte bis
45 Jahre nicht erst ab 2004, sondern schon in diesem und im
nächsten Jahr über den Stand ihres Rentenkontos und über
die Höhe ihrer zu erwartenden Rente informiert werden.
({2})
Es ist notwendig und sinnvoll, dass die Versicherten diese
Information bekommen. Es ist notwendig für die Versicherten, damit sie ihre zusätzliche Vorsorge frühzeitig planen können. Es ist sinnvoll für die Versicherungsträger,
damit sie abschätzen können, welcher Aufwand ab 2004
auf sie zukommt. Es ist wichtig, mit den jüngeren Versicherten anzufangen; denn je früher man Bescheid weiß,
desto gezielter kann man vorsorgen.
({3})
Wer 55 Jahre und älter ist, wird schon jetzt über den Stand
seines Rentenkontos informiert.
({4})
Auf Antrag werden übrigens auch alle anderen Versicherten informiert, die über ihr Rentenkonto Bescheid wissen
wollen. Wir haben mit der Rentenreform dafür gesorgt,
dass in Zukunft alle Versicherten Bescheid wissen. Ab
2004 erhalten sie eine jährliche Prognose über die Höhe
ihrer zu erwartenden Regelaltersrente. Sie werden darüber informiert, wie hoch eine Erwerbsunfähigkeitsrente
ausfallen würde. Sie werden darüber informiert, wie sich
zukünftige Rentenanpassungen auswirken werden und
auf welcher Grundlage die Rente berechnet wird. Diese
Informationen werden die Bundesversicherungsanstalt
und die Landesversicherungsanstalten jedes Jahr geben.
Wer 55 Jahre und älter ist, bekommt zusätzlich alle drei
Jahre eine Übersicht über sein Versicherungskonto.
Ich musste das hier noch einmal ausführlich darstellen,
weil die Antragsteller diese Regelung der Rentenreform
offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen haben.
({5})
Das Ergebnis dieser Regelung wird sein - ich wiederhole auch das noch einmal -, dass die Versicherten Bescheid wissen. Die Auskunft ist eine Entscheidungshilfe
für die zusätzliche private Vorsorge. Wir tun also genau
das Gegenteil dessen, was die CDU/CSU tut: Sie verschleiern, wir klären auf.
({6})
Diese Aufklärung wäre auch schon notwendig gewesen, als Sie selbst noch Jahr für Jahr an der Rente herumgedoktert haben. Aber Sie haben sich schon damals vor
dieser Lösung gedrückt.
({7})
Keine der Forderungen, die Sie heute stellen, haben Sie
selbst erfüllt, als Sie noch die Macht dazu hatten.
({8})
Nicht genug damit, dass Sie das Rentenniveau drastisch
auf 64 Prozent senken wollten und von einer Förderung
der privaten Vorsorge keine Rede war, es war auch keine
Rede davon, den Menschen rechtzeitig mitzuteilen, wie
hoch ihre Rente ausfallen würde.
({9})
Uns in Anbetracht dessen vorzuwerfen, wir würden es
mit einer jährlichen Information nicht deutlich genug machen, ist einfach albern. Sie haben offensichtlich allen
Grund, sich vor aufgeklärten Beitragszahlerinnen und
Beitragszahlern zu fürchten. Das Pilotprojekt wird nämlich zeigen, dass die Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung durch unsere Rentenreform
stärker wachsen werden, als sie nach Ihrem Rentenreformgesetz 1999 gewachsen wären. Sie versuchen also
genau das, was Sie uns vorwerfen, nämlich zu verschleiern, wie es tatsächlich um die zukünftigen Renten bestellt
ist. Sie versuchen zu verschleiern, was den Unterschied
zwischen Ihrer und unserer Rentenpolitik ausmacht. Sie
versuchen zu verschleiern, dass es den heutigen und künftigen Rentnerinnen und Rentnern mit unserer Politik besser geht als mit Ihrer, dass in Euro und Cent einfach mehr
auf dem Konto landet.
({10})
Warum Sie dieses Pilotprojekt verhindern wollen, ist
also klar: nackte Angst. Aber dass Sie es in Kauf nehmen,
dass den Menschen Informationen vorenthalten werden,
({11})
die sie für die Zukunftsplanung dringend brauchen, ist
einfach infam.
„Alterssicherung braucht Verlässlichkeit“ steht im
Wahlprogramm der CDU.
({12})
Darin stimmen hier wohl alle überein. Aber das, was Sie
den Menschen in diesem Land bieten, ist alles andere als
Verlässlichkeit. Das hat schon die Rentenpolitik in den
16 Jahren Kohl-Regierung gezeigt. Ihre Anträge zu unserer Rentenpolitik zeigen, dass Sie in den letzten vier Jahren nichts dazugelernt haben. Das Einzige, was von dem,
was die Redner der Opposition gesagt haben, stimmt, ist,
dass am 22. September die Wähler und Wählerinnen entscheiden. Wir, Rot-Grün, haben davor keine Angst.
({13})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Julius Louven von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Irmgard Schwaetzer
und Heinz Schemken haben sich schon mit den Irrungen
und Wirrungen Ihrer Rentenreform auseinander gesetzt.
({0})
Dass Sie, Frau Lotz und Herr Brandner, kurz vor der Wahl
Ihre Rentenreform feiern, ist etwas Selbstverständliches.
Ich habe über 20 Jahre Rentenpolitik miterlebt und
durchlitten. Da ich heute meine letzte Rede in diesem Hohen Hause halte, will ich mich etwas grundsätzlicher mit
dem Problem Rente auseinander setzen. Herr Brandner,
Sie haben eben von dem Plakat gesprochen, auf dem
Norbert Blüm mitteilte: „Eines ist sicher - die Rente“.
Diese Aussage war damals sicherlich korrekt, wenngleich
Fachleute wussten, welch große Probleme auf die Rentenversicherung zukommen sollten.
Was war dem vorausgegangen? Wir haben am Tag des
Mauerfalls, also 1989, im Deutschen Bundestag in Bonn
in großem Konsens eine Rentenreform beschlossen. Die
Macher dieser Rentenreform, insbesondere Norbert Blüm
und Ihr Kollege Dreßler, haben die 1992 in Kraft getretene Reform als Jahrhundertreform gefeiert. Schon bald
nach der Wiedervereinigung, also schon bald nachdem
wir unsere Sozialversicherungssysteme übertragen mussten, wurde vielen deutlich, dass es eben doch keine Jahrhundertreform war und dass eine weitere Reform notwendig werden würde. Rudolf Dreßler hat mir damals im
Bundestag entgegnet, eine weitere Rentenreform sei definitiv nicht notwendig. Ich sage ganz ehrlich, dass es
Norbert Blüm ähnlich gesehen hat.
Dann wurde eine Reform aber doch notwendig. Sie haben sich dieser Reform entzogen.
({1})
Sie haben bestritten, dass es eine Notwendigkeit dazu gab.
Sie haben mit unverantwortlichen Argumenten - um nicht
zu sagen: mit Hetze - gegen diese unsere Rentenreform
polemisiert. In den Wahlkampf sind Sie mit der Aussage
gezogen, unsere Rentenreform führe zu Rentenkürzungen. Sie wussten genau, dass dies nicht stimmt.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben im
Wahlkampf gesagt, Sie würden die Reform im Falle eines
Wahlsieges zurücknehmen.
({2})
- Oder die Kürzungen.
({3})
Herr Brandner, dieses Wahlversprechen haben Sie gehalten. Das muss ich Ihnen bestätigen. Sie wurden aber schon
bald von der Wirklichkeit eingeholt und es begann etwas,
was ich als „Ihr Rententheater“ bezeichne, da ich den harten Ausdruck „Lüge“ nicht verwenden will.
Bei aller Kritik an Ihrem Handeln will ich jedoch anerkennen, dass Sie, wenn auch nur halbherzig, den Weg zu
einer Stärkung der Eigenvorsorge im KapitaldeckungsErika Lotz
verfahren bereitet haben. Auch ich halte die Förderung der
Eigenvorsorge durch staatliche Zulagen für richtig, hätte
diese aber auf die Einkommen unterhalb des Durchschnittsverdienstes beschränkt. Der Staatshaushalt würde
weniger belastet, Mitnahmeeffekte könnte es kaum geben, das Ganze wäre weniger kompliziert und könnte
einfacher gestaltet sein. Ich persönlich - auch das sage
ich - hätte die Eigenvorsorge verpflichtend gemacht.
Aber auch dazu gab es in unserer Partei wie bei Ihnen sehr
unterschiedliche Meinungen. Alles in allem war das jedoch ein richtiger Ansatz.
({4})
Nun sind wir einige Jahre weiter, Herr Brandner.
Inzwischen haben sich renommierte Wissenschaftler
mit unseren Sozialversicherungssystemen, insbesondere
mit der Rente, auseinander gesetzt: Professor Miegel,
Professor Siebert, Ihr Professor Rürup, Professor
Raffelhüschen. Das Ergebnis sind dramatische Berechnungen, die besagen, dass Ihre Reform das Jahr 2010
nicht überstehen wird. Künftig, so haben diese Herren
Professoren berechnet, wird in den gesamten Sozialversicherungssystemen ein Beitrag von über 50 Prozent fällig,
eine Aussage, die uns alle erschrecken müsste.
In den nächsten 25 Jahren wird die Kombination von
niedrigeren Geburtenraten und längerer Lebenserwartung dazu führen, dass der Anteil der Bevölkerung im
Rentenalter dramatisch ansteigt. Der Altersquotient verdoppelt sich. Diese demographische Revolution - so
muss man es wohl nennen - wird uns zwingen, unsere gesamten Sozialversicherungssysteme grundlegend zu reformieren.
Keine Reform des Systems, sondern Reformen im System, so war lange Zeit unsere gemeinsame Haltung. Ich
glaube aber, dass es künftig nicht mehr ausreichend sein
kann, im System zu reformieren.
({5})
Für Reformen im System, Herr Brandner, gibt es eigentlich nur drei wirksame Optionen: die Anhebung des Beitrags, die Nutzung von Steuereinnahmen und die Kürzung
von Leistungen. Ich denke, alle drei Bereiche sind weitestgehend ausgelutscht. Hier wird wohl nicht mehr zu
handeln sein.
Mehr Beschäftigung könnte die Situation erheblich lindern, aber da sind Sie überhaupt nicht weitergekommen.
({6})
- Ach, Herr Brandner, in diesen Zahlenstreit will ich mit
Ihnen gar nicht eintreten. Ich bin der festen Überzeugung,
dass mehr Beschäftigung nur durch eine Entriegelung des
Arbeitsmarktes möglich ist.
({7})
Dies ist wohl nur mit uns, mit CDU/CSU und FDP, zu machen.
({8})
- Wir haben doch eine Menge gemacht, aber Sie haben
vieles davon zurückgenommen, was Ihnen heute offensichtlich Leid tut.
({9})
Ganz „toll“ finde ich den Vorschlag, wie er eben auch
von der PDS gemacht wurde, weitere Gruppen in die Rentenversicherung einzubeziehen. Herr Minister, das ist
doch nun wirklich nur ein Sich-gesund-Rechnen. Dann
haben Sie über mehrere Jahre höhere Beiträge eingenommen und danach müssen für diesen neuen Personenkreis
Leistungen erfolgen. Dies bringt uns nicht weiter.
Auch der Ausländerzuzug wird zur Rettung unserer
Sozialversicherungssysteme propagiert. Ich denke, das ist
ein Irrweg. Wir wissen alle längst, dass sich die Ausländer, die zu uns gekommen sind, in ihrem generativen Verhalten sehr schnell dem unsrigen angepasst haben.
Was wir brauchen, sind echte Reformen. Dabei müssen
wir das Verhältnis von Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung in allen Sozialversicherungssystemen deutlich
zugunsten einer Kapitaldeckung stärken.
({10})
Echte Reformen funktionieren nach meiner festen Überzeugung nur, Herr Brandner, wenn man den Menschen die
Wahrheit sagt. Hier ist in der Vergangenheit allseits - das
gebe ich zu - gesündigt worden. Vor diesem Hintergrund
ist es sicherlich ein schweres Stück Arbeit, Reformen in
der Bevölkerung konsensfähig zu machen.
({11})
- Was reden Sie denn da immer von 16 Jahren? Sie haben
jetzt fast vier Jahre regiert. Ich befasse mich hier
grundsätzlich mit der Rentenpolitik. Von daher hilft es
überhaupt nicht weiter, wenn Sie hier dauernd rufen:
16 Jahre.
({12})
Wer nach dem Studium des Enquete-Berichts „Demographischer Wandel“ noch glaubt, es gehe mit Zukleistern
oder Reförmchen, hat seine Aufgabe nicht richtig verstanden. Die stellvertretende Vorsitzende dieser EnqueteKommission, Ihre Kollegin Iwersen, hat in einem Interview gesagt: Wir haben nicht die Lösungen für die
Probleme mitgeliefert. Von daher ist die Aussage „Das
tatsächliche Zugangsalter von heute 59 Jahre sei zu erhöhen und dem Regelalter von 65 Jahre anzunähern; dies
reiche aber nicht aus; die private und die betriebliche Vorsorge müssten ausgebaut werden“ eine, wie ich finde, mutige Aussage. Denn erinnern Sie sich noch daran - Herr
Brandner, Sie waren noch nicht dabei; aber viele andere
von Ihnen -, welch ein Theater Sie im Deutschen Bundestag veranstaltet haben, als zwei Kollegen der CDU/
CSU einmal laut darüber nachdachten, das Renteneingangsalter zu erhöhen? Heute ist dies eine fast selbstverständliche Diskussion geworden.
({13})
Nachdem wir lange über unsere Verhältnisse gelebt
und lange die Sozialstaatsillusion genährt haben, besteht
jetzt die Situation, dass der Sozialstaat kollabiert. Wir
können, wenn wir es richtig machen, allemal den Schwachen helfen, müssen aber verhindern, dass sich unter den
Schwachen allzu viele einreihen.
Um ein vernünftiges Sozialversicherungssystem zu
garantieren, brauchen wir Wachstum. Ohne Wachstum ist
alles nichts. Um Wachstum zu erreichen, brauchen wir
wiederum Reformen in der Sozialgesetzgebung. Dazu
gehört die volle Wahrheit auf den Tisch. Mit einem
Schwarzer-Peter-Spiel lösen wir die Probleme nicht.
Ich stelle daher heute mahnend fest: Egal wer die Wahl
gewinnt, sagen Sie den Menschen offen und ehrlich, wie
die Situation der Sozialversicherungssysteme ist! Nur
dann gibt es die Chance, zusammen mit den Menschen
eine Änderung zustande zu bringen. Wer auch immer in
der Opposition ist, sollte sich im Interesse der Erhaltung
des Sozialstaates nicht verweigern.
Der „Rheinische Merkur“ schrieb vor kurzem, die Einsichten lägen schon vor. Aber es fehle den Parteien der
Mut, sie umzusetzen, weil Wahlen immer wieder harte
Maßnahmen verhinderten. In der Vergangenheit war es in
der Tat so, dass ständig auf Wahlen Rücksicht genommen
werden musste. Aber so geht es nicht weiter. Warten Sie
nicht, bis der Ruf nach einem starken Mann immer lauter
wird und dann Rattenfänger aus dem Sozialstaat Deutschland etwas völlig anderes machen!
Abschließend will ich Ihnen sagen: Ich habe fast
22 Jahre Sozialpolitik gemacht. Dies habe ich gerne getan. Ich habe das bei aller Gegensätzlichkeit kollegiale
Verhalten im Ausschuss immer sehr geschätzt. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.
({14})
Das Wort
hat jetzt Bundesminister Walter Riester.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Louven, wir kommen politisch und
wohl auch sozial aus ganz unterschiedlichen Richtungen
und trotzdem kann ich feststellen: Zwar nicht alles - auf
einige Punkte werde ich eingehen -, aber vieles von dem,
was Sie hier gesagt haben, kann ich unterstreichen. Ich
hätte mich ungeheuer gefreut, wenn solch ein Beitrag zu
Beginn der Debatte über die Rentenreform erfolgt wäre.
Sie haben heute Ihre Abschiedsrede gehalten. Meiner
Meinung nach wäre Ihr Beitrag ein guter Einstieg in die
Debatte über die Reform, vor der wir standen und die wir
durchgeführt haben, gewesen.
Sie haben den gleichen Ansatz wie auch ich im Oktober 1998 gewählt. Ich habe noch einmal die Debatte um
die gemeinsame Rentenreform nachgelesen; sie fand am
8. November 1989, einen Tag vor dem Fall der Mauer,
statt. Damals hat Blüm erklärt: Diese Reform ist nicht nur
ein Jahrhundertwerk, sondern sie hält über Generationen.
Rudolf Dreßler - Sie haben Recht - hat es nicht ganz so
hoch gehängt und von 20 Jahren gesprochen. Das können
Sie noch einmal nachlesen.
({0})
Dann haben wir gesehen: Das stimmt nicht. Dass das so
lange nicht halten würde, konnte man schon damals sehen, aber einiges war in der Tat nicht vorherzusehen, so
die Auswirkungen des Einigungsprozesses.
Ich stimme Ihnen auch in einigen anderen Punkten zu,
möchte Ihnen aber auch sagen, wo ich abweiche. Es ist
vielleicht ganz gut, wenn sich die Debatte, wenn auch
spät, um solche Dinge dreht.
Ich bin der Auffassung - deshalb habe ich mich auch
so stark gegen viele Widerstände dafür eingesetzt -, dass
wir ergänzend zum Umlagesystem eine zweite, kapitalgedeckte Säule brauchen, die privat oder betrieblich ausgebaut werden kann. Ich bin nicht Ihrer Auffassung, dass
diese den größeren Teil ausmachen sollte. Ich bin aber der
Auffassung, dass sich dieser Teil dynamischer entwickeln
wird.
Sie haben gesagt: Fördern ja, aber bitte schön nur diejenigen, die weniger als der Durchschnitt verdienen. Das
ist nicht meine Auffassung. Wir haben die Zulagenregelung aber so angelegt, dass de facto diejenigen begünstigt
werden, die niedrigere Einkommen und Kinder haben,
während diejenigen, die mehr verdienen, automatisch bei
der Anwendung der nachgelagerten Besteuerung steuerrechtliche Vorteile haben. Das System selbst ist im Kern
so angelegt.
({1})
Ich teile auch Ihre Auffassung, dass die Hereinnahme
zusätzlicher Gruppen in das Sozialversicherungssystem
dessen Probleme überhaupt nicht löst. Trotzdem kann es
notwendig sein, bestimmte Gruppen einzubeziehen. Deswegen haben wir - man kann sich da über Begriffe streiten - die arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen, die bisher aus dem System ausgeschlossen waren - zu Ihrer Zeit
betraf das zum Beispiel die Handwerker -, in bestimmter
Weise in das System miteingebunden. Ich halte nichts davon und unterscheide mich darin von vielen in der öffentlichen Debatte, die annehmen, dass wir, wenn wir eine
Volksversicherung, beispielsweise in Form einer Erwerbstätigenversicherung machten, die Probleme gelöst
würden. Sie haben nämlich völlig Recht: Das bringt nicht
nur Einnahmen, sondern führt später auch zu Ausgaben.
Die momentanen Einnahmen würden zwar dazu führen,
dass aktuell die Beiträge gesenkt werden könnten, aber
später käme es aufgrund der Leistungen zu einer erneuten
Anhebung. Das wäre eine Katastrophe. Deswegen habe
auch ich mich dem immer entgegengestellt.
Die Frage des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist ja
schon damals, was viele nicht mehr wissen, am 8. November 1989, und zwar parteiübergreifend, mit langen
Übergangszeiten auf 65 Jahre festgelegt worden. Das
wird heute häufig vergessen. Ich wende mich aber wiederum - da unterscheiden wir uns wahrscheinlich, Herr
Louven - dagegen, dieses gesetzliche Renteneintrittsalter
jetzt hochzusetzen, weil, wie ich sehe, der Arbeitsmarkt
dafür überhaupt keine Voraussetzungen bietet. Ich kämpfe
dafür, das reale anzuheben. Eine Hochsetzung des gesetzlichen wäre jetzt nichts anderes als eine zusätzliche Rentenkürzung für diejenigen, die real keine Möglichkeiten
am Arbeitsmarkt haben.
({2})
Diese Debatten hätte ich eigentlich gerne parteiübergreifend vor drei Jahren geführt.
({3})
Die Kollegin Göring-Eckardt hat völlig zu Recht darauf
hingewiesen, dass die Rentenreform wahrscheinlich mit
noch besserer Konsequenz bei einem parteiübergreifenden Konsens, der sich ja eine Zeit lang abgezeichnet
hatte, hätte durchgeführt werden können.
Nun möchte ich gerne auf den zweiten Redner der
Union eingehen, den Kollegen Schemken, den ich sehr
schätze. Auch wir haben eine unterschiedliche politische
Entwicklung hinter uns, aber in der Sozialpolitik stehen
wir uns vielleicht näher als der Kollege Louven und ich.
Die Besorgnisse des Kollegen Schemken möchte ich ein
wenig aufnehmen und auf seine Ziele eingehen. Kollege
Schemken, Sie sagen, Witwen dürften nicht weniger bekommen. Richtig, deswegen haben wir sichergestellt,
dass alle derzeitigen Witwen keinerlei Abstriche hinnehmen müssen. Im Übrigen werden alle, die jetzt verheiratet und über 40 Jahre alt sind, dann, wenn sie Witwen oder
Witwer werden, nach altem Recht behandelt. Also keine
Veränderung.
Sie haben als Nächstes gesagt, auch die Witwenrente
müsse stärker kindbezogen sein.
({4})
Richtig, genau deswegen haben wir gesagt: Bei den Jüngeren, die ihre Alterssicherung noch umstellen können
und keine Kinder erzogen haben, also die Möglichkeit haben, eine eigenständige Rente zu erwerben, senken wir
die Leistungen um 5 Prozentpunkte ab, gleichzeitig gleichen wir aber bei denjenigen, die ein Kind haben, diese
Einbuße wieder aus, und diejenigen, die zwei oder mehr
haben, bekommen sogar eine höhere Witwenrente. Das
kann eigentlich nur in Ihrem Sinne sein.
Sie sagen: Frauen müssen besser berücksichtigt werden. Richtig, deswegen haben wir die Bewertung für Erwerbstätigkeit während der Berücksichtigungszeit für ein
Kind - also die ersten zehn Lebensjahre des Kindes - für
die Frauen - in der Regel werden es Frauen sein -, wenn
sie wenig verdienen, angehoben. Wenn sie ein behindertes
Kind aufziehen, sind es nicht nur zehn, sondern 18 Jahre.
Für all das, was Sie jetzt eingebracht haben, haben wir
gerungen und leider keine Zustimmung von der Union bekommen. Das bedauere ich sehr. Genau das hat uns umgetrieben.
Sie haben gesagt, ich hätte auf die Rentenversicherer
eingewirkt, die Rentenauskunft nur bestimmten Personen
zu geben. Da muss ich Ihnen widersprechen. Das stimmt
nicht. Ich habe mich sehr stark dafür eingesetzt - das ist
für mich ein ganz wichtiger Punkt der Rentenreform -,
dass endlich alle Beitragszahler jährlich eine Information bekommen. Das muss nach dem Gesetz ab 2004 sichergestellt werden. Jetzt haben die Rentenversicherer
gesagt: Wir können das schon früher einführen. Da habe
ich gesagt: Prima, macht das!
Die Rentenversicherer führen diese Information ab
dem 1. Juni ein, und zwar ganz unterschiedlich. Ich habe
mich gerade in Leipzig mit führenden Vertretern der Rentenversicherer unterhalten, Frau Schwaetzer. Die stärker
unionsorientierten Länder haben dafür plädiert, mit den
Älteren anzufangen. Die anderen Länder und die BfA
wollen mit den Jüngeren, die vor der Entscheidung über
eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge stehen,
beginnen. Das halte ich für vernünftig. Denn wenn man
das jetzt auf die Schnelle nur den Rentnern zuschickt, hat
das ein Geschmäckle. Man könnte meinen, das solle zu einer Verhetzung im Wahlkampf führen. Ich hoffe, dass es
dazu nicht kommt; denn das können wir überhaupt nicht
brauchen.
Ich stelle mich nicht dagegen: Jeder Rentenversicherer
entscheidet, welche Datensätze er nimmt. Ich kann und
werde darauf keinen Einfluss nehmen. Ich bin froh, dass
es schon jetzt möglich ist, die Information einzuführen. Es
ist auf der Grundlage unserer gesetzlichen Regelung möglich, dass die Menschen endlich frühzeitig informiert werden.
Nach all den Ausführungen dazu, was wir gemacht haben, nun ein paar Dinge, die meiner Meinung nach nicht
gemacht werden dürfen. Es ist schon darauf hingewiesen
worden: Wenn die Ökosteuer, die im Kern eine Mineralölsteuer ist und fast ausschließlich für die Rentenversicherung verwendet wird, gestrichen wird, wie die FDP es
vorhat, dann bedeutet das in der Tat eine sofortige Anhebung des Rentenversicherungsbeitrages um fast 2 Prozentpunkte. Wenn Frau Schwaetzer sagt, dann tue man
das mit einer anderen Steuer,
({5})
dann muss sie auch sagen, mit welcher. Will sie die
Mehrwertsteuer anheben?
({6})
Man darf sich da nicht hinwegdrücken. Man muss da ehrlich operieren.
({7})
Ich sage Ihnen auch: Wenn Sie die letzte Stufe im
nächsten Jahr aussetzen, dann bedeutet das konsequenterweise sofort eine Anhebung des Rentenversicherungsbeitrages um 0,3 Prozentpunkte. Daran führt kein Weg vorbei. Wir haben das durchgerechnet. Wenn der so genannte
Dreistufenplan des Kanzlerkandidaten der Union umgesetzt
würde, fehlten uns sofort noch einmal 0,2 Prozentpunkte,
weil wir dann weniger Beitragseinnahmen hätten. Dann
Walter Riester, Bundesminister
hätten wir sofort eine Anhebung des Rentenversicherungsbeitrages um einen halben Prozentpunkt.
({8})
- Wenn Frau Schwaetzer meint, es gebe andere Möglichkeiten, dann muss sie sie nennen.
({9})
Dann muss sie sagen, ob sie die Renten kürzen will oder
welche Steuer sie meint. Aber diese Frage nicht zu beantworten, das geht nicht mehr, liebe Leute. Da darf man das
Volk nicht mehr belügen. Da muss man sagen - Butter bei
die Fische -, wie das finanziert wird.
({10})
Ich freue mich, dass ich in dieser Debatte Töne gehört
habe - insbesondere beim Kollegen Schemken und beim
Kollegen Louven -, die ich gerne vor drei Jahren gehört
hätte. Wir hätten große Chancen gehabt. Einiges ist vertan worden.
({11})
Wir haben die Weichen richtig gestellt. Zwischenzeitlich haben wir nicht nur 2 Millionen Menschen, die neue
Verträge abgeschlossen haben - das ist in vier Monaten
nicht wenig -; zusätzlich sind nach Abschluss der Rentenreform 107 Tarifverträge für insgesamt 15,7 Millionen
Menschen abgeschlossen worden, die die Möglichkeit der
Entgeltumwandlung eröffnen. Wahrscheinlich wird der
größte Teil betriebliche Altersvorsorge betreiben. Wir
werden nicht nur eine Renaissance der betrieblichen Altersvorsorge bekommen, sondern auch eine positive
Welle von Abschlüssen in diesem Bereich. Alles, was ich
draußen höre, bestätigt das.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Kollegen Schemken und Louven, es hat Spaß gemacht,
mit Ihnen im Ausschuss zusammenzuarbeiten. Ich teile allerdings nicht die freundliche Einschätzung des Ministers,
dass Sie heute die Liste der Falschaussagen, mit der Sie
die Rentenpolitik immer wieder kommentiert haben, unterbrochen hätten. Nein, ich denke, Sie haben sie heute
fortgesetzt.
({0})
Sie, Herr Louven, haben heute sehr unverblümt gesagt,
dass die blümsche Aussage, die Rente sei sicher - damit
hat das alles angefangen -, eine Falschaussage war. Sie
haben das hier zugegeben. Das damalige Problem, mit
dem wir uns noch heute auseinander setzen müssen, war
nicht diese Aussage, sondern die Tatsache, dass sie zu
zweierlei geführt hat: Sie hat erstens zu einer Verunsicherung der jungen Generation bezüglich der Sicherheit der
Rente in der Zukunft geführt. Zweitens hat sie dazu geführt, dass man der Realität seinerzeit nicht ins Auge geblickt hat. Damals haben nur 7 Prozent der jungen Leute
gewusst, dass sie für die Zukunft privat vorsorgen müssen.
Heute ist das anders. Eine Umfrage hat gezeigt, dass
90 Prozent der 18- bis 29-Jährigen wissen, dass sie für
ihre Altersversorgung privat vorsorgen müssen. Das zeigt
sehr deutlich, was sich in den letzten dreieinhalb Jahren
rot-grüner Koalition in diesem Land in den Köpfen der
Menschen geändert hat. Eine ganz schwierige Wahrheit
ist ausgesprochen worden und sie ist angekommen: Der
Lebensstandard in der Zukunft kann nur gesichert werden, wenn die gesetzliche Altersversorgung durch die
private und betriebliche ergänzt wird. Diesen Mut zur
Ehrlichkeit und die Durchsetzungsfähigkeit, eine kapitalgedeckte Altersvorsorge aufzubauen, haben wir aufgebracht.
({1})
Ich hätte mir statt dieser Falschaussage schon damals
die heutige Diskussion gewünscht. Ich hätte mir auch gewünscht, dass man ein wenig offener darüber geredet
hätte, was Generationengerechtigkeit bedeutet. Bei der
Rentenversicherung geht es nicht nur um die Sicherheit,
sondern es geht auch um eine generationengerechte
Rente. Generationengerecht bedeutet zum Beispiel, dass
sie für die jungen Menschen in Zukunft nicht nur berechenbar, sondern auch bezahlbar sein muss. Es wäre
schön, wenn Sie wenigstens heute zugeben könnten, dass
uns die Senkung der Rentenbeiträge mithilfe der Ökosteuer - gerade auch im Sinne einer Generationengerechtigkeit - sehr viel weiter gebracht hat.
({2})
- Aber Sie, Frau Schwaetzer, machen mit Ihren üblichen
Zwischenrufen wieder einmal deutlich, dass Sie genau
das nicht wollen. Sie wollen die Ökosteuer wegschlagen
({3})
und nehmen damit in Kauf, dass wir die Beiträge dann
wieder um mindestens 2 Prozent anheben müssen.
({4})
Das ist Ihre Vorstellung von Generationengerechtigkeit;
diese teilen wir nicht.
({5})
Eine andere Falschaussage, die hier wieder gemacht
worden ist: Sie behaupten, dass durch die RenteninforWalter Riester, Bundesminister
mation - sie dient der Transparenz - die falschen Jahrgänge Auskünfte erhalten würden, um damit zur Verschleierung der tatsächlichen Rentenentwicklung beizutragen. Das ist definitiv eine Falschaussage. Morgen wird
der VDR dem Publikum das Konzept zur Renteninformation vorstellen. Er hat aber schon vorher deutlich gemacht,
dass es einen Mix von Informationen für alle Altersgruppen geben wird. - Das ist das eine.
Viel wichtiger ist aber, dass wir die Informationslücke
geschlossen und der Intransparenz mit unserem Gesetz
ein Ende gesetzt haben. Mit diesem Gesetz haben wir
nämlich die Informationsmöglichkeit und -pflicht ab dem
Jahre 2004 eingeführt.
An dieser Stelle bedanke ich mich herzlich bei den
Rentenversicherern dafür, dass sie in der Lage sind, schon
so frühzeitig, nämlich im Juli dieses Jahres - das sind
zwei Jahre, bevor es Gesetz wird -, in das Boot einzusteigen. Das ist ein riesiger Aufwand; denn täglich müssen
25 000 Informationen verschickt werden. Ich sage hier
noch einmal: Herzlichen Dank! Das hilft uns bei dem, was
wir wollen, nämlich bei der Herstellung der Transparenz
auch für die junge Generation.
({6})
Ich komme zur nächsten Falschaussage, die hier im
Plenum vorgetragen worden ist. Der Kollege Schemken
hat gesagt, dass das Rentenkonzept der CDU/CSU zum
Inhalt hat, dass die Bedürftigen unterstützt werden. Eines
Ihrer Vorhaben für dieses Jahr kennen wir sehr genau,
weil Sie es hier vorgetragen haben: Sie wollen die bedarfsgedeckte Altersvorsorge, also die Grundsicherung
für die Rentnerinnen und Rentner, noch in diesem Jahr
kippen. Sie wollen nicht, dass sie in Kraft tritt. Meine Damen und Herren, damit treffen Sie genau die Bedürftigen,
also diejenigen, die heute immer noch in die verschämte
Altersarmut gedrängt werden. Sie schämen sich nicht einmal, sich hier hinzustellen, so etwas zu fordern und
gleichzeitig zu behaupten, dass die Bedürftigen bei Ihnen
geschützt werden.
({7})
Nein, meine Damen und Herren, es gibt eine Reihe dieser Falschaussagen in Ihrem Programm. Ich kann sie jetzt
nicht alle aufzählen, da meine Redezeit zu kurz ist. Ich
sage Ihnen nur: Wir machen in diesem Jahr zum Beispiel
mit der Rentenanhebung zum 1. Juli um 2 Prozent deutlich, wohin der Hase läuft. In diese Richtung werden wir
die Rentenreform weiter vorantreiben.
Danke schön.
({8})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Doris Barnett von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute nehmen wir Abschied von
zwei gestandenen Kollegen, die uns lange begleitet haben.
({0})
Als Ausschussvorsitzende darf ich an dieser Stelle sagen:
In der Sache haben wir uns oft hart gestritten. Auch heute
sind wir wieder nicht einer Meinung. An ihnen beiden
schätze ich aber, dass wir menschlich immer fair miteinander umgegangen sind. Dafür darf ich mich heute auch
im Namen des Ausschusses bedanken.
({1})
Jetzt kommt es aber: Sie verlangen Ehrlichkeit bei der
Rentenreform. Ehrlichkeit, Rentenreform und CDU/CSU
- ich frage mich manchmal, ob das eigentlich zusammenpasst. Kollege Louven, Sie haben vorhin gesagt, dass Wissenschaftler errechnet hätten, dass die Sozialausgaben in
den nächsten Jahren auf über 50 Prozent steigen würden.
Wie kommen Sie denn dann dazu, in Ihr Wahlprogramm
„unter 40 Prozent“ hineinzuschreiben? Dieses Zauberstückchen müssen Sie uns einmal vorrechnen.
Sie fordern,
... die eigenständige Alterssicherung von Frauen
durch Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf auszubauen.
Das ist eine schöne Forderung. Ich frage: Wie soll sie
aussehen und finanziert werden? Welches Frauenbild
- ich spreche nicht nur vom Familienbild - verfolgt die
CDU/CSU?
Kommen wir zurück zur Ehrlichkeit. Frau Kollegin
Böhmer verkündete in einem Schreiben, das sie in ihrem
Wahlkreis verteilt, sie persönlich habe darum gekämpft,
dass die von den Sozialdemokraten vorgesehene Abschaffung der Hinterbliebenenversorgung zurückgenommen wurde. - Ehrlich ist diese Aussage nicht, dafür etwas
dreist und falsch. Richtig ist vielmehr, dass für die Kindererziehung eine rentensteigernde Kinderkomponente
eingeführt wurde. Niemand, der jetzt in Rente oder über
40 Jahre alt ist, wird von dieser moderaten Absenkung betroffen. Jüngere Ehepaare unter 40 Jahren werden eine
ganz andere Berufsbiografie mit entsprechenden Rentenansprüchen haben. Bei Differenzen wird es natürlich
diese Kinderkomponente geben, die diese auffängt. Insbesondere bei zwei oder mehr Kindern macht sich das allemal bezahlt. Die Abschaffung der Hinterbliebenenversorgung stand also nie zur Debatte. Deshalb gab es auch
nichts zurückzunehmen.
({2})
Verbesserungen kamen ohne Einflussnahme der
CDU/CSU-Fraktion zustande. Die SPD hat die Verbesserungen im Vermittlungsausschuss vorgeschlagen. Die
CDU/CSU war dort völlig kompromissunfähig.
Frau Kollegin Barnett, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?
Ich bin furchtbar in Zeitdruck.
Daher möchte ich keine Zwischenfrage zulassen.
({0})
Die Frage
wird nicht auf die Redezeit angerechnet.
Sie bekommen es gedruckt.
Kommen wir auf Ihr Frauenbild und damit auf die eigenständige Alterssicherung von Frauen zurück. Die
CDU/CSU will die steuer- und sozialversicherungsfreien
Beschäftigungsverhältnisse bis 400 Euro wieder einführen. Bis zu 800 Euro im Monat sollen sie teilweise von
der Sozialversicherung befreit sein. Wahrscheinlich wollen Sie das über irgendwelche Subventionen finanzieren,
was aber nicht zu Ihren Versprechungen im Wahlprogramm passt. Es wäre geschickter, Sie würden sich dem
Mainzer Modell annähern, das zumindest zeitlich befristet ist. Davon sind nämlich in allererster Linie Frauen betroffen. Wie werden dann deren Rentenbiografien aussehen?
Die Familie soll 600 Euro Familiengeld erhalten.
Selbst Frauenverbände, die der CDU nahe stehen - das tut
die kfd wohl -, lehnen das ab, weil es eine Zuhausebleibprämie für Frauen ist und der Gleichberechtigung entgegensteht. Die CDU/CSU will den Anspruch auf Teilzeitarbeit auf Kindererziehungszeiten reduzieren. Damit
werden aber die von der CDU/CSU geforderten Teilzeitangebote insgesamt eher wieder verringert werden. Ihre
Familienförderung wendet sich gegen Frauen.
Die CDU/CSU will die Ökosteuer abschaffen - aber
vielleicht doch nicht ganz. Die Mittel, die die beitragsungedeckten Zeiten der Kindererziehung finanzieren, sollen
wegfallen. Ist das frauen- und familienfreundlich? Kaum
ist diese Forderung gestellt, wissen Sie nicht, woher Sie
das Geld nehmen sollen.
Die CDU/CSU verfolgt eine konservative und rückwärts gewandte Politik. Dies gilt auch für die Rentenpolitik. Dieser schwarze Faden zieht sich durch Ihre gesamte
Politik.
Hinzu kommt, dass Sie gerade auch den Frauen Versprechungen finanzieller Art machen, ohne auch nur im
Geringsten zu sagen, wie das alles finanziert werden
kann. Sie machen das nach dem Motto: Wenn morgen die
Sonne scheint, braucht man keinen Regenschirm. Wenn
die Wirtschaft gut läuft und damit viel Geld in die Kassen
kommt, dann können wir wahrscheinlich alles bezahlen.
So versuchen Sie, die Menschen zu ködern.
Wir haben ein anderes Frauenbild. Wir wollen gut ausgebildete Frauen, die am Berufsleben und an Aufstiegschancen fair teilhaben, gleichzeitig Kinder wollen und
dafür gute Betreuungsangebote brauchen und die im Alter keine Angst vor Armut haben müssen.
({0})
Das bestätigte mir letzte Woche auch eine Expertenrunde,
die aus Müttern, Vätern und Erziehern bestand. Das sind
die Menschen, die von unserer Familienpolitik direkt betroffen sind. Unsere Vorgehensweise wurde gelobt und
bestätigt.
Gerade weil ich vor Ort diese Erfahrung gemacht habe,
weiß ich: Wir schaffen die richtigen Rahmenbedingungen:
faire Chancen im Berufsleben für Eltern, das Gleichstellungsgesetz im öffentlichen Dienst, freiwillige Verpflichtungen bei der Privatwirtschaft und die entsprechende Reform des Betriebsverfassungsgesetzes,
({1})
damit die Position der Frauen im Betrieb besser verankert
und gestärkt wird und sie Weiterbildungs- und Aufstiegschancen haben.
Die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie wird jetzt
auch im Betrieb ein Thema. Der Anspruch auf Teilzeit besteht für Männer und Frauen. Die Elternzeit kann gleichzeitig genommen werden. Das letzte Jahr kann bis zum
achten Lebensjahr des Kindes genommen werden. Drei
Jahre Erziehungsleistung wird mit einem Durchschnittseinkommen angerechnet. Wenn zusätzlich gearbeitet wird,
wirkt sich das additiv auf die Rente aus.
Bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes ist eine 50prozentige Aufstockung der Rentenbeiträge bis maximal
100 Prozent des Durchschnittseinkommens möglich.
Nicht vergessen werden sollte auch die zusätzliche Kinderkomponente im Hinterbliebenenfall und die großzügige Unterstützung beim Aufbau der kapitalgedeckten
Zusatzvorsorge, besonders wenn Kinder da sind. Das betrifft insbesondere die unteren Einkommensschichten,
weil hier bis zu 90 Prozent der Aufwendungen über Steuern finanziert werden. Wer will, kann sogar Rentensplitting machen.
({2})
Wir Sozialdemokraten stärken Frauen und damit Familien bedarfsgerecht. Wir setzten auf eine qualitativ gute
Betreuung. Dafür brauchen wir mehr Krippenplätze, aber
in etlichen Ländern auch mehr Kindertagesplätze, die in
diesem Bereich bisher das Schlusslicht waren. Ich denke
dabei an die südlichen Bundesländer.
({3})
Auch die Betreuung durch Tagesmütter ist voranzubringen. Ebenso muss das Ganztagsschulangebot ausgebaut
werden.
({4})
Wir wissen, dass hier die Länder und Kommunen in der
Pflicht stehen. Deshalb wollen wir ihnen helfen. Aus diesem Grunde wurde das Kanzlerprojekt ins Leben gerufen, das vorsieht, dass der Bund für vier Jahre jeweils
1 Milliarde Euro zur Betreuung bereitstellt, ohne dazu gesetzlich verpflichtet zu sein.
Rentenpolitik steht nicht für sich allein. Sie ist für uns
Teil einer einheitlichen, gerechten, sozialen und nachhaltigen Politik.
({5})
Wir Sozialdemokraten setzen dabei nicht mit unbezahlbaren Versprechungen auf Effekthascherei. Das überlassen wir Ihnen. Denn mehr werden Sie auch nach dem
22. September nicht tun können - im Garten Edi.
Vielen Dank.
({6})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/8269, 14/8787, 14/9050 und 14/9045 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis s, 19 und 20
sowie die Zusatzpunkte 9 a bis h auf:
37. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Solidarpaktfortführungsgesetzes
- Drucksache 14/8979 Überweisungsvorschlag:
Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzausgleichsgesetz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung verwaltungsverfahrens-
rechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/9000 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung wohnungsrechtlicher Vorschrif-
ten
- Drucksache 14/8993 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Anpassung von Rechtsvorschriften an veränderte Zuständigkeiten oder Behördenbezeichungen innerhalb der Bundesregierung ({1})
- Drucksache 14/8977 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Zweiten Protokoll vom 19. Juni 1997
zum Übereinkommen über den Schutz der
finanziellen Interessen der Europäischen
Gemeinschaften
- Drucksache 14/9002 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union Haushaltsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Übereinkommen vom 26. Mai 1997
über die Bekämpfung der Bestechung, an
der Beamte der Europäischen Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind
- Drucksache 14/8999 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ausführung des Zweiten Protokolls vom
19. Juni 1997 zum Übereinkommen über
den Schutz der finanziellen Interessen der
Europäischen Gemeinschaften, der gemeinsamen Maßnahme betreffend die Bestechung im privaten Sektor vom 22. Dezember 1998 und des Rahmenbeschlusses
vom 29. Mai 2000 über die Verstärkung des
mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des
Euro
- Drucksache 14/8998 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
h) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der
DDR ({6})
- Drucksache 14/9028 Doris Barnett
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes ({8})
- Drucksache 14/8994 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes
- Drucksache 14/8978 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. Oktober 2001 zwischen den
Europäischen Gemeinschaften und ihren
Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Kroatien andererseits
- Drucksache 14/8981 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 13. Dezember 2000
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und Australien über soziale Sicherheit
- Drucksache 14/8984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({11})
Ausschuss für Gesundheit
m) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Einführung einer kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und
zur Änderung anderer Gesetze ({12})
- Drucksache 14/9007 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({13})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
n) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das
Branntweinmonopol
- Drucksachen 14/9005, 14/9042 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
o) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
den Änderungen vom 17. November 2000
des Übereinkommens vom 20. August 1971
über die Internationale Fernmeldesatellite-
norganisation „Intelsat“
- Drucksache 14/8983 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
p) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2003
({15})
- Drucksache 14/8985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({16})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
q) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an
der internationalen Sicherheitspräsenz im
Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren
Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und
zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der
Grundlage der Resolution 1244 ({17}) des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des MilitärischTechnischen Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheitspräsenz ({18})
und den Regierungen der Bundesrepublik
Jugoslawien und der Republik Serbien vom
9. Juni 1999
- Drucksache 14/8991 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß ({20}), Thomas Dörflinger,
Axel E. Fischer ({21}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ausbau der Bundesautobahn A 5
- Drucksache 14/8107 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
s) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege
- Drucksache 14/7945 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
19. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Zusatzprotokoll vom 18. Dezember
1997 zum Übereinkommen über die Über-
stellung verurteilter Personen
- Drucksache 14/8995 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Ausführung des Zusatzprotokolls vom
18. Dezember 1997 zum Übereinkommen
über die Überstellung verurteilter Personen
- Drucksache 14/8996 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
20. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Ordnungswidrigkeitenverfahrensrechts
- Drucksache 14/9001 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
ZP 9 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({23})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Klaus Riegert, Friedrich Bohl, Peter Letzgus,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU sowie dem abgeordneten Dr. Klaus
Kinkel und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine finanzielle Hilfe für Dopingopfer der DDR ({24})
-Drucksache 14/9022 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({25})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Steuerfreistellung von Arbeitnehmertrinkgeldern
- Drucksache 14/9029 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({26})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Ernst Burgbacher, Gerhard Schüßler,
Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Einkommensteuergesetzes ({27})
- Drucksache 14/9061 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({28})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Sicherung der Betreuung und Pflege
schwerstkranker Kinder
- Drucksache 14/9061 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({29})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der FDP und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung
einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 14/9032 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({30})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung futtermittelrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung sonstiger Gesetze
- Drucksache 14/9034 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({31})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
g) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
zur Verbesserung der Vorsorge und Rehabilitation für Mütter
- Drucksache 14/9035 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({32})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Detlef Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Sucht wirksam bekämpfen - Prävention,
Therapie und Lebenshilfe stärken
- Drucksache 14/9049 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Abweichend von der Tagesordnung sollen die Vorlage
auf Drucksache 14/8979 zu Tagesordnungspunkt 37 a nicht
an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Vorlage auf Drucksache 14/8977 zu Tagesordnungspunkt 37 d
zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuss und
zur Mitberatung an den Innenausschuss und den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie und die Vorlage auf Drucksache 14/8991 zu Tagesordnungspunkt 37 q gemäß § 96 der
Geschäftsordnung ausschließlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden.
Zu Tagesordnungspunkt 37 n liegt inzwischen auf
Drucksache 14/9042 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die
wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. - Sind Sie
damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Behandlung einer Reihe von
Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 38 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zum NATO-Truppenstatut
und anderer Gesetze ({33})
- Drucksache 14/8764 ({34})
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({35})
- Drucksache 14/9086 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Oswald Metzger
Dr. Christa Luft
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9086, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“
- Drucksache 14/8733 ({36})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({37})
- Drucksache 14/9063 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Rupprecht
Christian Simmert
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/9063, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes
und anderer Vorschriften ({38})
- Drucksache 14/8771 ({39})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({40})
- Drucksache 14/9048 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Bahr
Wolfgang Zeitlmann
Dr. Max Stadler
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9048, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit der Mehrheit der
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 d:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 14/7466 ({41})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({42})
- Drucksache 14/8851 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Jochen-Konrad Fromme
Heidemarie Ehlert
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/8851, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 30. November 2000 zur Änderung des Europol-Übereinkommens
- Drucksache 14/8709 ({43})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({44})
- Drucksache 14/9077 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Graf ({45})
Martin Hohmann
Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9077, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte um das Handzeichen derjenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
bei Enthaltung der PDS einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({46})
Sammelübersicht 371 zu Petitionen
({47})
- Drucksache 14/8870 Zur Sammelübersicht 371 liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8908 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der PDS-Fraktion
abgelehnt.
Wer stimmt für die Sammelübersicht 371 auf Drucksache 14/8870? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Sammelübersicht 371 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 10 bis 12 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Jugendschutzgesetzes
({48})
- Drucksache 14/9013 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({49})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten Uta
Titze-Stecher, Werner Lensing, Sylvia Voß,
Hildebrecht Braun ({50}) und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gestzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit ({51})
- Drucksache 14/8956 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({52})
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria
Böhmer, Maria Eichhorn, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Jugendschutz stärken
- Drucksache 14/9027 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({53})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin gebe
ich das Wort der Bundesministerin Dr. Christine
Bergmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Wenn wir heute den von den Regierungsfraktionen eingebrachten Entwurf eines neuen Jugendschutzgesetzes behandeln, dann denkt sicherlich jeder - ich tue das jedenfalls - an die schrecklichen Ereignisse von Erfurt. Erfurt
war aber nicht der Anlass für das neue Jugendschutzgesetz, auch wenn das gelegentlich von der CDU/CSU behauptet wird.
Wir haben bereits vor eineinhalb Jahren ein Jugendschutzgesetz des Bundes vorbereitet und mit den Länderministerien abgestimmt. Im Rahmen dieses Abstimmungsprozesses ist klar geworden, dass die bisherige
Medienordnung in Deutschland überarbeitet werden
muss. Wir haben die notwendigen Reformen im Bereich
des Jugendschutzes zum Anlass genommen, um eine Neuregelung der Medienordnung in Deutschland auf den Weg
zu bringen. Ich freue mich, dass dies in einem längeren
Abstimmungsprozess schließlich gelungen ist; macht es
doch deutlich, dass Bund und Länder beim Schutz unserer jungen Menschen gemeinsam an einem Strang ziehen.
Das ist auch notwendig.
({0})
Es ist aber erst im März dieses Jahres gelungen - das
muss ich klar sagen -, gemeinsame Eckpunkte zwischen
Bund und Ländern zu vereinbaren, obwohl wir bereits
Ende letzten Jahres eine solche Vereinbarung auf dem
Tisch hatten und alle Länder mit Ausnahme von Bayern
bereit waren, diese Vereinbarung zu unterschreiben. Hier
hat es also zeitlichen Verzug gegeben.
Die grauenvollen Ereignisse von Erfurt sind also nicht
Anlass für die Erarbeitung des Jugendschutzgesetzes, das
wir heute beraten; sie haben uns aber dazu veranlasst, das
Gesetzgebungsverfahren mit besonderem zeitlichen
Nachdruck zu betreiben. Ich möchte mich bei Ihnen allen,
meine Damen und Herren, dafür bedanken, dass Sie zu
diesen zeitlich ungewöhnlichen Beratungsschritten bereit
sind. Ich hoffe natürlich, dass die einmütige Bereitschaft,
an einem Strang zu ziehen, auch weiterhin anhält.
({1})
Neben dem Jugendschutzgesetz beraten die Länder bereits die Neufassung eines Medienstaatsvertrages, mit
dem die Zuständigkeiten der Länder im Bereich des Jugendschutzes geregelt werden. Wir unternehmen also alle
Anstrengungen, um bei diesem Thema schnell und mit
Nachdruck voranzukommen.
Das Jugendschutzgesetz, das wir heute in erster Lesung beraten, regelt die Zuständigkeit des Bundes und
setzt den Rahmen für die Zusammenarbeit von Bund und
Ländern: Der Bund wird im Bereich des Jugendschutzes
zukünftig für die Indizierung jugendgefährdender Trägerund Telemedien zuständig sein. Die Länder werden für
die Konsequenzen der Indizierung bei Telemedien und für
so genannte jugendbeeinträchtigende Maßnahmen Zuständigkeit besitzen. Ich glaube, das ist sicher eine bessere
Aufteilung der Zuständigkeiten als die bisherige Verteilung zwischen Telediensten und Mediendiensten, die
nicht mehr unserer Zeit entspricht.
In Verabredung mit den Ländern ist es gelungen, im
Bereich des Jugendschutzes trotz unterschiedlicher Zuständigkeiten und unterschiedlicher Interessen ein Verfahren zu finden, das uns in die Lage versetzt, national wie
international mit einer Stimme zu sprechen. Das ist auch
deshalb so wichtig, weil, wie wir wissen, Jugendschutz
eben nicht nur eine regionale oder nationale Angelegenheit ist; er wird vielmehr zunehmend zu einer europäischen und weltweiten Frage, weil durch die wirtschaftlichen Verflechtungen der Medienwirtschaft und durch das
Internet nationale Alleingänge in Zukunft nicht ausreichen.
Lassen Sie mich nun einige wichtige Regelungen des
Gesetzentwurfes nennen. Das Indizierungsverfahren
der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien wird
neu geregelt. Die Bundesprüfstelle kann in Zukunft auch
ohne Antrag tätig werden. Ihre Zuständigkeit wird auf den
Bereich aller elektronischen Medien ausgedehnt. Damit
kann die jahrzehntelange Erfahrung der Bundesprüfstelle
im Umgang mit jugendgefährdenden Medieninhalten im
gesamten Onlinebereich genutzt werden.
Der Rundfunkbereich bleibt natürlich in der alleinigen
Zuständigkeit der Länder. Ich füge hier an: Ich bin schon
gespannt; denn heute berät die Bundesprüfstelle über die
Indizierung des Spiels „Counter Strike“ in der amerikanischen Fassung. Ich hoffe, es wird indiziert. Darin sind wir
uns wahrscheinlich einig.
({2})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wichtigstes inhaltliches Regelungsmerkmal des Jugendschutzgesetzes ist, die bisher schon für Kinofilme
und Videos bestehende Verpflichtung zur Alterskennzeichnung auch auf Computerspiele und Bildschirmspielgeräte auszuweiten.
Die Computerspielewirtschaft hat bereits seit Jahren
eine so genannte freiwillige Selbstkontrolle, die allerdings nicht ausreicht. Die Altersfreigabe muss sich auf
Verkauf, Verleih, Weitergabe, Angebot und Werbung von
Computerspielen beziehen. Diejenigen, die sich nicht daran halten, müssen mit Bußgeld rechnen. Deshalb bedarf
es einer konkreten gesetzlichen Regelung auch für Computerspiele.
Neu ist auch, dass Medien, die Krieg und Gewalt verherrlichen, die Menschen in einer die Menschenwürde
verletzenden Weise darstellen und die Kinder und Jugendliche in geschlechtsbetonter Körperhaltung zeigen,
schon ohne Indizierung durch die Bundesprüfstelle mit
weitreichenden Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverboten
belegt werden. Sie sind also a priori indiziert. Ich denke,
das ist sehr wichtig.
({3})
Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche
nicht gewaltverherrlichenden Filmen, Videos und Computerspielen ausgesetzt werden. Die beste und effektivste Regelung ist noch immer, dass für Kinder und Jugendliche dieser Schund nicht verfügbar ist. Wir müssen aber
auch dafür sorgen - das geht darüber hinaus und gilt nicht
nur für Kinder und Jugendliche -, dass generell gewaltund kriegsverherrlichende Materialien, welcher Art auch
immer, mit Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverboten versehen werden. Sie sind kein Verlust für die Gesellschaft.
({4})
§ 131 des Strafgesetzbuches, der seit langem gilt, muss
auch auf Computerspiele angewendet werden können;
das wird im Moment von der Bundesjustizministerin geprüft. Er muss aber natürlich auch angewendet werden.
Wir haben hier schon sehr weitreichende Möglichkeiten,
von denen bisher aber kaum Gebrauch gemacht wurde.
Wir wollen mit Nachdruck - das darf ich betonen - alles daran setzen, um Gewalt, Pornographie, Kriegsverherrlichung, Rechtsradikalismus und all den bekannten
Schund, den auch das Internet verbreitet, zurückzudrängen. Darin stimmen wir alle erfreulicherweise überein.
({5})
Meine Damen und Herren, staatlicher Jugendschutz allein reicht aber nicht aus. Wir müssen auch mehr Kompetenzen im Umgang mit Medien vermitteln, die zur konstruktiven Auseinandersetzung befähigen. Das gilt für
Kinder und Jugendliche, aber es gilt in besonderer Weise
auch für Eltern. Denn viele Eltern wissen zu wenig darüber, was ihre Kinder mit dem Computer tun. Sie können
sich deswegen auch nicht erzieherisch damit auseinandersetzen. Sie brauchen Beratung und Unterstützung, um bei
den Angeboten die Spreu vom Weizen trennen zu können.
Denn auch bei den Computerspielen ist es so - es geht
ja nicht um ein generelles Verbot aller Computerspiele -,
dass drei bis vier Prozent von ihnen solche Spiele sind, die
Gewaltdarstellungen enthalten und in denen es um Menschenvernichtung geht. Diese auszusondern und gleichzeitig zu informieren, dass auch andere Spiele, in denen
es um sportlichen Wettstreit geht, Spaß machen können,
das ist eine Aufgabe, die in Zukunft sehr viel stärker wahrgenommen werden muss.
({6})
Es ist eine Aufgabe der Einrichtungen, die das Thema
der Medienkompetenz bearbeiten, Hilfen für Erziehende zur Verfügung zu stellen. Aber auch die Selbstkontrolle der Computerwirtschaft wird hoffentlich nach
der Sommerpause eine gemeinsam verabredete Internetseite zur Verfügung stellen können, über die sich Eltern
über Inhalte, Vorzüge und Gefahren von Computerspielen
informieren können. Ich halte es für sehr wichtig - ich
habe mir auch angesehen, wie weit sie sind -, dass Eltern
auch sehen, was es alles im Angebot gibt. Auch ich selber
bin darauf angewiesen, dass mich jemand berät, wenn ich
etwas für den Gameboy meines knapp 6-jährigen Enkels
kaufe, weil ich vorher nicht erst alle Spiele durchspielen
kann. Deswegen brauchen wir hier natürlich viele Informationen für die Eltern.
Wir werden die Angebote für die Familien erweitern,
sich auch in Bezug auf die neuen Medien besser und umfassender zu informieren. Aber wir müssen auch die Gelegenheit nutzen, dass die Vertreterinnen und Vertreter der
Generation, die eben nicht mit Computern und Computerspielen aufgewachsen ist, die Möglichkeit haben, mit
unseren Kindern und Jugendlichen, für die Computer eine
Selbstverständlichkeit geworden sind, zu reden, ein gemeinsames Verständnis zu finden und auch gemeinsam
Normen zu entwickeln. Darum muss es uns gehen. Auch
das gehört zur Erziehungsaufgabe.
({7})
Deshalb sage ich als Jugendministerin auch ganz deutlich
an unsere jungen Mitbürgerinnen und Mitbürger: Lassen
Sie und lasst uns gemeinsam an den Problemen der Eindämmung von Gewalt in unserer Gesellschaft arbeiten.
Das muss unser gemeinsames Anliegen sein.
({8})
Meine Damen und Herren, für einen wirksamen Jugendschutz reichen gesetzliche Regelungen allein nicht
aus. Auch darin werden wir wahrscheinlich schnell übereinstimmen können. Die Bundesregierung tritt nachdrücklich für eine breite gesellschaftliche Allianz gegen
Gewalt ein. Sie tut dies nicht erst seit Erfurt und nicht erst
seit gestern. In der gesamten Legislaturperiode haben wir
uns mit dem Thema auseinander gesetzt, wie die Akzeptanz von Gewalt in der Gesellschaft zurückzudrängen ist.
Um die Verantwortung aller Beteiligten in dieser Allianz gegen Gewalt einzufordern, hat der Bundeskanzler
das Gespräch mit den Fernsehanstalten zur Eindämmung von Gewalt begonnen. Dem gleichen Zweck dient
ein Gespräch mit den Vertretern und Vertreterinnen der
Videowirtschaft und den Internetanbietern heute
Abend. Es geht um die Frage, wie es uns gelingt, das Maß
an Gewalt und Gewaltdarstellung in der Gesellschaft
zurückzudrängen. Gewalt muss in unserer Gesellschaft in
jeder Form geächtet werden.
({9})
Es gehört zum Kernbestand unserer Demokratie, Konflikte gewaltfrei auszutragen. Diese Fähigkeit muss erlernt werden, und zwar überall: in den Familien, in den
Schulen und in der Gesellschaft insgesamt. Das gelingt
nur, wenn wir miteinander und nicht nebeneinander her
leben. Ich habe schon gesagt: Wir haben mit dem Recht
der Kinder auf gewaltfreie Erziehung begonnen. Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, hätten gut
daran getan, wenn Sie unserem Gesetzentwurf damals zugestimmt hätten.
({10})
Damit haben wir in der Erziehung ein neues Leitbild
verankert. Das ist erfolgreich. Wir haben einen Dialog
über Erziehungsfragen initiiert und den Eltern praxisorientierte Angebote, zum Beispiel ein Online-Handbuch,
gemacht, um sie in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken. Das ist der richtige Weg. Wir werden ihn fortsetzen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen, dass
es in dem Gesetzentwurf neben dem Medienschutz ja
auch darum geht, Kinder und Jugendliche besser vor
Suchtgefahren zu schützen. Es muss uns alarmieren, dass
erstmals seit 20 Jahren der Raucheranteil bei Jugendlichen unter 16 Jahren wieder deutlich angestiegen ist. Deshalb wird die Abgabe von Tabakwaren an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren verboten. Darüber hinaus wird
mit dem Jugendschutzgesetz auch die Freigabe von Werbefilmen für alkoholische Getränke und Tabakwaren eingeschränkt. Auch das ist ein wichtiger Beitrag dazu, Kinder vor Suchtgefahren zu bewahren.
({11})
Wie der Elfte Kinder- und Jugendbericht sagt, geht es
uns um die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen
von Kindern. Neben die Familien, die ihre Verpflichtung
haben, treten öffentliche Institutionen, tritt auch die Politik. Die Bundesregierung - das macht, denke ich, auch der
vorliegende Entwurf eines Jugendschutzgesetzes deutlich - hat diese öffentliche Verantwortung die gesamte Legislaturperiode hindurch sehr ernsthaft wahrgenommen.
Danke.
({12})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Böhmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe es in der Tat
ein Stück anders als Frau Ministerin Bergmann, was den
Ausgangspunkt der heutigen Debatte anbelangt. Ich bin
mir ziemlich sicher, dass wir ohne die schreckliche Tat
von Erfurt eine solche Debatte im Plenum heute nicht
führen würden und dass eine Novellierung des Jugendschutzes nicht mehr so schnell, wie Sie sagen, auf die Tagesordnung gekommen wäre.
({0})
Was die Schnelligkeit anbelangt, muss man sagen: Es
sind nur noch wenige Wochen bis zum Ende der Legislaturperiode. Wenn wir es nicht unterstützt hätten, dass
der Gesetzentwurf heute eingebracht und behandelt wird,
({1})
würden Sie am Ende der Legislaturperiode wahrscheinlich ohne eine Änderung im Bereich des Jugendmedienschutzes dastehen.
({2})
Die Tat von Erfurt verpflichtet uns alle, über das, was
dort geschehen ist, nachzudenken, Ursachenforschung
zu betreiben und nach einer sehr tief gehenden Analyse
gemeinsam Schlussfolgerungen zu treffen. Das ist auch
dadurch deutlich geworden, dass der Bundeskanzler und
die Ministerpräsidenten zusammengekommen sind und
dort in großer Übereinstimmung bestimmte Veränderungen, gerade zur Verbesserung des Jugendmedienschutzes,
vereinbart worden sind.
({3})
Liebe Frau Bergmann, ich habe den Entwurf sehr eingehend gelesen. Was darin insbesondere zum Jugendmedienschutz in den Blick genommen wird, hat noch nicht
die Deutlichkeit, die erforderlich ist. Deshalb ist es mir
wichtig, heute festzustellen: Wir brauchen intensive Ausschussberatungen und wir müssen im Bereich des Jugendmedienschutzes deutlichere Schritte gehen, als sie
das Jugendschutzgesetz vorsieht, das Sie heute im Entwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht haben.
({4})
Durch Erfurt und die schreckliche Tat, die von Robert
Steinhäuser vor nicht einmal drei Wochen begangen worden ist, haben wir eines erkannt: Die Schule ist zum Tatort geworden. Unter Lehrkräften, unter Eltern, die ihre
Kinder in größerer Sicherheit wünschen, greift die Angst
um sich. Besonders bedrückend und Sorge verbreitend ist,
dass genau diejenigen, die für die Erziehung von Kindern
Verantwortung tragen, zur Zielscheibe von Robert
Steinhäuser geworden sind, dass er gezielt Lehrer ermordet hat. Das ist etwas, was uns mehr als nachdenklich machen muss. Wir wollen in einer weiteren Debatte im Deutschen Bundestag der Frage nachgehen, wie es in unserer
Gesellschaft um die Fragen von Erziehung in Familie, in
Schule und im Kindergarten bestellt ist und was an Rahmenbedingungen geschaffen werden muss. Wir dürfen
nicht nur darüber reden, dass es einer Verbesserung der
Gesetzeslage bedarf; wir brauchen auch bessere Rahmenbedingungen für die Erziehung in Familie und Schule und
daran - da stimme ich mit Ihnen sehr wohl überein - müssen wir gemeinsam arbeiten.
Was wir brauchen, ist ein besserer Jugendschutz. Wir
brauchen vor allem einen effektiveren und einheitlichen
Jugendmedienschutz. Wir brauchen nicht nur nationale,
sondern auch internationale Regelungen. Wir brauchen
starke Familien. Ich wünsche mir, dass Eltern, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher wieder mehr Mut zur
Erziehung haben. Es geht dabei nicht nur um die Qualifikation, sondern um die Wertevermittlung an junge
Menschen.
({5})
Das ist die beste Grundlage, um solchen schrecklichen
Entwicklungen für die Zukunft zu wehren. Dafür wollen
wir gemeinsam Sorge tragen.
({6})
Erfurt hat in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
gerückt, dass der Jugendmedienschutz dringend - ich betone: dringend - der Überarbeitung bedarf. Wir haben in
der letzten Legislaturperiode für den Bereich des Internets
das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz verabschiedet, mit dem neue Jugendschutzregelungen eingeführt wurden. Dabei ist uns sehr wohl folgende
Tatsache bewusst gewesen: Die technische Entwicklung
schreitet durch die Digitalisierung und durch die Konvergenz zwischen Computerbereich und Fernsehbereich so
rasant voran, dass man bei bestimmten Jugendschutzregelungen nicht stehen bleiben darf, sondern dass es immer
wieder zu einer Weiterentwicklung kommen muss.
Deshalb haben wir mit der Verabschiedung des Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes am Ende
der letzten Legislaturperiode geregelt, dass die Bundesregierung spätestens nach zwei Jahren einen entsprechenden Bericht über die Wirksamkeit dieses Gesetzes vorlegen soll. Der Bericht wurde im Juni 1999 erstattet. Dort
wurde der Handlungsbedarf auch aufgezeigt. Was wir
heute debattieren, ist also nicht so neu.
({7})
Aber da zwischen der Vorlage des Berichts im Juni
1999 und Mai 2002 fast drei Jahre verstrichen sind, in denen nichts zur Verbesserung des Jugendmedienschutzes
vonseiten der Bundesregierung getan wurde,
({8})
muss ich die jetzige Entwicklung bedauern, die wir in unserer Gesellschaft leider zur Kenntnis nehmen müssen.
({9})
Sie können nicht sagen, dass Sie von den Ländern bei
der Einführung neuer Regelungen behindert worden
seien.
({10})
Es gibt nämlich keinen Hinderungsgrund für die Bundesregierung, hier tätig zu werden. An dieser Stelle haben wir
eine konkurrierende Gesetzgebung. Man hätte sehr wohl
etwas im Bereich der Zusammenführung des Jugendschutzes tun können. Es stimmt also nicht, dass Sie zur
Handlungsunfähigkeit verdammt gewesen wären. Sie haben in der Zwischenzeit einfach nichts getan.
({11})
Die Durchsuchung des Zimmers von Robert Steinhäuser
hat eines gezeigt: Es gibt einen speziellen Bereich, der
aufgrund der technischen Entwicklung und der Inhalte
unserer sehr großen Aufmerksamkeit bedarf. Das ist der
Bereich der gewaltverherrlichenden Computerspiele.
Frau Ministerin Bergmann, Sie haben mit Recht darauf
hingewiesen, dass die Bundesprüfstelle heute eine Entscheidung treffen wird. Ich wünsche mir ebenfalls sehr,
dass das Lieblingsspiel von Robert Steinhäuser, nämlich
das Computerspiel „Counterstrike“, endlich verboten
wird.
({12})
Dies ist überfällig; denn ein gewaltverherrlichendes Computerspiel unterscheidet sich ganz erheblich von den gewohnten gewaltträchtigen Bildern im Fernsehen.
Bei Computerspielen muss man fiktional als Täter
agieren. Auch wenn einige der Meinung sind, es seien
Strategie-, Geschicklichkeits- und Schnelligkeitsspiele,
muss man doch sagen, dass Gewalt angewendet wird, um
diese Strategie umzusetzen. Es wird auf andere Menschen
oder auch auf menschenähnliche Figuren geschossen; es
werden Menschen in diesem Computerspiel ermordet.
Durch die Gewöhnung wird die Hemmschwelle herabgesetzt.
Was wir erleben mussten, ist der Ausbund dessen, was
passiert, wenn obendrein Gewalt in einem hohen Maße im
Video- und Fernsehbereich konsumiert wird. Dieser Zusammenhang ist mittlerweile belegt. Vor diesem Hintergrund sage ich: Die Regelungen, die jetzt von Ihnen im
Jugendmedienschutz angestrebt werden, gehen zwar in
die richtige Richtung, nämlich dass Kinder und Jugendliche keinen Zugang zu gewaltverherrlichenden Videos und
Computerspielen mehr haben sollen. Aber nach wie vor
treibt mich die Sorge um: Was ist, wenn ein Erwachsener
- Robert Steinhäuser war nach dem Gesetz Erwachsener
für den Bereich der Videospiele; er war 19 Jahre alt - solche Videospiele ausleihen kann, sie aber möglicherweise
an einen 17- oder 16-Jährigen weitergibt? Hier reichen die
im Gesetzentwurf niedergelegten Regelungen nicht aus,
sondern wir brauchen ein generelles Verbot für den Verleih und die Weitergabe solcher gewaltverherrlichender
Computer- und Videospiele. Ich hoffe sehr, dass wir uns
in den Ausschüssen darüber verständigen und dass es bei
der Verabschiedung des Gesetzes zu einer einvernehmlichen Lösung kommt.
({13})
Wir haben in weiteren Bereichen Handlungsbedarf bei
den Beratungen. Wir haben kein Verständnis für eine
Lockerung der Abgabe von Videos an Automaten und
halten sie für nicht gerechtfertigt. Wir bitten Sie noch einmal sehr nachdrücklich darum, diese Regelung zu überprüfen und sich dem strikten Verbot anzuschließen, wie
wir es in unserem Antrag vorgeschlagen haben.
Ich halte auch eine Lockerung der Schutzbestimmungen bei Spielautomaten für völlig falsch. Auch für hier
halte ich es für notwendig, die vorgesehene gesetzliche
Regelung zu überprüfen und im Deutschen Bundestag einer solchen Lockerung nicht zuzustimmen, sondern eine
entsprechende Verbotsregelung zu beschließen.
Der gesetzliche Jugendmedienschutz reicht nicht aus.
Frau Ministerin Bergmann, an dieser Stelle haben wir
große Einigkeit. Es sollte wirksam nach draußen getragen
werden, dass wir die Medienkompetenz deutlich verbessern müssen. Medienkompetenz verbessern heißt, dass
wir sowohl Eltern als auch Lehrkräfte in die Lage versetzen, den Vorsprung, den Kinder und Jugendliche im technischen Bereich haben, nicht nur einholen, sondern in einer anderen Art und Weise ausgleichen zu können. Hier
geht es um den Umgang mit Inhalten.
Deshalb müssen wir die Familienbildung stärken. Wir
müssen Eltern fit und stark machen, damit sie in der Lage
sind, bei Grenzüberschreitungen Nein zu sagen. Ich wünsche mir, dass wir dieses Nein in großer Deutlichkeit nicht
nur hier im Deutschen Bundestag sagen, sondern dass wir
in die Gesellschaft hineinwirken, um die Grenzen gegenüber Gewalt im Medienbereich, aber auch generell gegenüber Gewalt, gemeinsam deutlich zu machen.
({14})
Wir müssen die Grenzen aufzeigen; denn die Signale von
Erfurt sind überdeutlich für uns.
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen.
Nein,
Frau Kollegin. Sie haben zwei Minuten überzogen. Bitte
kommen Sie jetzt sofort zum Schluss.
({0})
Wim Wenders hat
gesagt: „Die Bewusstseinsindustrie hat die gefährlichste
Sprengkraft, schlimmer als jeder Atommeiler.“ Ich glaube,
daran müssen wir uns orientieren.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin von Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das schreckliche Ereignis von Erfurt ist für uns alle ein schwerer, unfassbarer Schock gewesen. Auch wenn es schon vielfach
gesagt worden ist, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen: Unser tiefes Mitgefühl gilt den
Opfern und ihren Angehörigen. Möge sich eine solch
schreckliche Tat nie mehr wiederholen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die entscheidende
Konsequenz aus dem Amoklauf von Erfurt kann für mich
nur lauten: Wir müssen uns alle noch viel stärker für eine
solidarische Gesellschaft einsetzen. Das bedeutet konkret, Kinder und Jugendliche zu fördern und ihnen vor allem Perspektiven aufzuzeigen, gerade wenn sie sich in einer Krise befinden.
({0})
Wir müssen uns intensiv um unsere Kinder und Jugendlichen kümmern. Vor allem an den Schulen ist eine
verbesserte Betreuung, unter anderem durch Sozialarbeiter und Psychologinnen, dringend notwendig. Ich selber
habe diese Arbeit vor meinem Einzug in den Deutschen
Bundestag gemacht. Unser Hauptproblem bei der
präventiven Jugendarbeit lag in der ständigen Rechtfertigung für die Finanzierung unserer Arbeit. Das darf
und muss nicht sein.
({1})
Wir sollten uns nichts vormachen: Unsere Defizite im
Bildungswesen lassen sich nicht allein auf PISA reduzieren.
({2})
Neben anderen Aspekten hat nicht zuletzt die unzureichende Schulgesetzgebung in Thüringen dazu beigetragen, dass ein labiler Mensch in eine noch tiefere Krise
gestürzt worden ist. Die Länder müssen ihre Schulgesetzgebung unbedingt dahin gehend reformieren, dass Zwischenabschlüsse jederzeit möglich sind.
({3})
Präventive pädagogische und psychologische Maßnahmen, insbesondere nach Schulverweisen, müssen unbedingt flächendeckend eingerichtet werden.
Zugangsgerechtigkeit in der Bildung und Ausbildung
ist nach wie vor die wichtigste Voraussetzung, um
Aggressionen sowie Frust vorzubeugen und letztendlich
Gewalt zu verhindern.
({4})
Doch auch wenn Bildungspolitik bei uns Ländersache ist,
darf sich der Bund nicht aus der Verantwortung stehlen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat bereits vielfältige
Maßnahmen und Programme zur Förderung von Kindern
und Jugendlichen ergriffen. Stellvertretend für viele andere sinnvolle Projekte der Bundesregierung möchte ich
an dieser Stelle das Programm „Entwicklung und Chancen
junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ erwähnen.
Doch neben der Schaffung von Ausbildungsplätzen
und der Gestaltung von Weiterbildungsmöglichkeiten ist
die Stärkung der Zivilgesellschaft für uns ein weiteres
wichtiges Politikfeld, das wir gemeinsam mit Kindern
und Jugendlichen gestalten wollen. Die Fortführung des Aktionsprogramms „Jugend für Demokratie und Toleranz gegen Rechtsextremismus und Gewalt“ möchte ich hier
lobend erwähnen.
({5})
Doch neben der gezielten Förderung von Kindern und
Jugendlichen ist auch ein effektiver Jugendschutz notwendig und absolut sinnvoll. Die Bundesregierung hat
mittlerweile ein neues Jugendschutzgesetz vorgelegt, das
ich ausdrücklich begrüße. Die nun vorgesehene ausdrückliche Verankerung eines generellen Verbots der
Abgabe von Tabakwaren an Kinder und Jugendliche
unter 16 Jahre und die Installation entsprechender Schutzvorrichtungen an Zigarettenautomaten möchte ich in diesem Zusammenhang stellvertretend für andere Maßnahmen lobend hervorheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
uns ist vollkommen bewusst, dass wir nicht nur auf repressive Maßnahmen zurückgreifen dürfen, um Kinder
und Jugendliche zu schützen. So halte ich es beispielsweise für absolut sinnvoll - in England hat sich das bereits
bewährt -, dass Kinder ab sechs Jahren nun auch in Begleitung von Erwachsenen Kinofilme ab zwölf Jahre sehen dürfen. Der gemeinsame, begleitende Medienkonsum
wird somit nachdrücklich gefördert.
Aber - hiermit komme ich zu einem weiteren wichtigen Anliegen -: Die Erziehung in den Schulen kann und
darf nicht das ersetzen, was eigentlich Aufgabe der Familie wäre. Wir dürfen die Erziehung weder der Schule allein und schon gar nicht dem Computer oder dem Fernsehgerät überlassen.
({6})
Das Profil des Täters von Erfurt weist eindeutig darauf
hin, dass der Täter neben intensiven Schießübungen im
Schützenverein ebenso intensiv gewaltverherrlichende
Computerspiele und Videos konsumiert hat. Selbstverständlich muss nun auch die Rolle der Medien auf den
Prüfstand gestellt werden. Neben den traditionellen Medien gibt es durch das Internet und durch inzwischen visuell hochauthentische Computerspiele einen neuen Zugang zu gewalttätigen Darstellungen.
Ich persönlich glaube, dass solche Spiele Hemmschwellen sinken lassen und bei intensivem Konsum
schädlich sein können. Doch ich betone ausdrücklich
auch: Der Amoklauf von Erfurt ist nicht allein durch brutale Computerspiele zu begründen, selbst wenn manche
Medien und auch manche Kollegen von mir aus Bayern
das gerne so konstruieren.
Die psychologische Ausnahmesituation, in der sich der
Täter befand und die zu dieser fürchterlichen Tat führte,
hat mehrere Ursachen, die unter anderem auch mit unserer unzureichenden Waffengesetzgebung zu tun haben.
({7})
Die Ursachen für Gewaltbereitschaft sind viel komplexer,
als es allgemein dargestellt wird. Computerspiele können
- dies belegen viele Untersuchungen - nur in Kombination mit anderen Ursachen die Aggression steigern, etwa
wenn der Jugendliche in zerrütteten Familienverhältnissen oder in sozialer Isolation lebt.
Wir sollten uns deshalb viel mehr den Ursachen widmen, die zu solch einer unfassbaren Tat wie in Erfurt geführt haben. Dies bedeutet vor allem eines: Wir müssen
unsere Kinder weltoffen sowie kritisch erziehen und uns
endlich wieder mehr Zeit für die Probleme der Kinder und
Jugendlichen nehmen,
({8})
damit wir ihre Probleme und Verhaltensänderungen frühzeitig bemerken. Wir Grüne setzen uns und ich setze mich
in meiner Funktion als medienpolitische Sprecherin der
Bundestagsfraktion vor allem für eines ein - dieses Stichwort ist hier schon gefallen -: Medienkompetenz für alle.
Im Zeitalter der neuen Medien ist es aus unserer Sicht
unbedingt notwendig, den Kinder- und Jugendmedienschutz der veränderten Lebensrealität der Menschen anzupassen. Dabei stellt die Vermittlung von Medienkompetenz aus unserer Sicht eine ganz entscheidende Größe
dar,
({9})
Kinder und junge Menschen durch die Stärkung der Medienkompetenz im kritischen Umgang mit Medien zu fördern.
Ein weiterer wichtiger Faktor im Bereich Jugendschutz
und Medien ist für uns die freiwillige Selbstkontrolle der
Programmveranstalter und Provider. Allerdings ist dafür
eine hohe Transparenz erforderlich. Genauso wichtig sind
aber auch ein starker ordnungsrechtlicher Rahmen und
die Gültigkeit für alle vergleichbaren Inhalte und Wiedergabemedien.
Gerade im Bereich der neuen Medien und insbesondere im Internet muss ein wirksamer Kinder- und Jugendmedienschutz gewährleistet sein. Allerdings funktioniert
das Netz nicht nach traditionellen Rundfunkregeln. In
einem globalen Kommunikationsnetz existiert nun einmal
keine 23-Uhr-Regelung und auch in Bayern gehen die
Uhren nicht anders.
Problematische Inhalte entziehen sich im Netz häufig
der Medienaufsicht. Sie liegen oft nur einen Mausklick
von so genannten unproblematischen Inhalten entfernt.
Automatische Filtersysteme werden in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert. Natürlich können technische Filtersysteme bestimmte Arten von Inhalten ausblenden. Das ist jedoch für mich schon ein erster Schritt
zur Beschneidung der Demokratie und Meinungsfreiheit. Stellen Sie sich einmal vor, ein fundamentalistischer
Staat filtert beispielsweise die Seite der christlich-demokratischen Opposition aus dem Netz. Wollen wir wirklich
mit derartigen Regimen verglichen werden?
Statt unseren Kindern und Jugendlichen ihre Kompetenz im Umgang mit Medien abzusprechen - hier denke
ich ausdrücklich an die „Verbotskeule“, die momentan
von unserer konservativen Opposition ständig geschwungen wird -, sollten wir sie vielmehr im gezielten Umgang
mit Medien fördern und begleiten. Das ist natürlich immer
etwas komplizierter, als pädagogische Konzepte zu entwickeln; aber ich denke, es ist langfristig wesentlich sinnvoller. Dabei können zum Beispiel Kinderportale ein
sinnvoller Weg sein, um Kinder und Eltern zu unterstützen, verantwortungsvoll mit dem Angebot im Internet
umzugehen. Außerdem fordern wir verstärkt, nutzerfreundliche Suchmaschinen für Kinder und Jugendliche
zu entwickeln und diese kosten- und werbefrei zur Verfügung zu stellen.
Jugendmedienschutz muss heute in erster Linie eine
aufklärerische Funktion wahrnehmen, die junge Menschen zu einem kompetenten und kritischen Umgang mit
den unterschiedlichsten Medien befähigt.
({10})
Jugendmedienkompetenz muss bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt vermittelt werden, weil Medien
Kinder in unserer Gesellschaft von Geburt an begleiten.
Das ist die Realität - oder besser gesagt: die Medienrealität -, mit der ein Kind sich kritisch auseinander zu
setzen lernen muss. Die Vermittlung von Medienkompetenz und eine bessere Betreuung sehe ich als zentrale Aufgabe einer zukunftsorientierten Bildungspolitik. Verbote
und Zensur helfen uns nur in den allerwenigsten Fällen
weiter.
Wie teilte mir ein Schüler gestern doch so passend in
einer E-Mail mit: Erst wenn die letzte LAN-Party verboten ist, der letzte PC abgeschaltet ist und das letzte Gewaltspiel auf dem Index steht, werdet ihr feststellen, dass
ihr uns doch erziehen müsst.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Klaus Haupt von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Untat von Erfurt hat alle Menschen in Deutschland mit Abscheu erfüllt. Zugleich sind
die Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen für solche Verbrechen natürlich lauter geworden; denn Gewalttaten von Jugendlichen scheinen in den vergangenen Jahren häufiger geworden zu sein.
Im Blickfeld der Debatte steht ganz besonders der Jugendmedienschutz. Schon vor ziemlich genau vier Jahren
haben wir Liberalen gemeinsam mit unserem damaligen
Koalitionspartner die Probleme im Jugendmedienschutz
aufgezeigt. Leider ist nach dem Regierungswechsel auf
diesem Gebiet lange nichts mehr geschehen.
({0})
Heute mutet uns die Bundesregierung zu, einen Gesetzentwurf zu beraten, der im Wesentlichen Medienschutzregelungen neu trifft. Diese wiederum sollen, da
zum Teil in Länderkompetenzen fallend, mit einem
Staatsvertrag geregelt werden, von dem noch nicht einmal ein abgestimmter Entwurf vorliegt.
Im Bereich des „klassischen“ Jugendschutzes hat die
Frau Ministerin unter Umgehung des Parlaments einen
Arbeitsentwurf für gesetzliche Regelungen in der Öffentlichkeit ventiliert, den sie bald darauf als für diese Legislaturperiode nicht mehr relevant vertagte. Nun, nach der
Tat von Erfurt, liegt plötzlich doch noch der Entwurf für
ein Jugendschutzgesetz auf dem Tisch.
Über Gesetze, die unseren Kindern und Jugendlichen
die dringend notwendigen Freiräume, aber vor allem auch
Schutzräume in unserer Gesellschaft verschaffen sollen,
muss mit gebotener Gründlichkeit beraten und diskutiert
werden. Die Bundesregierung war lange Zeit untätig und
begann erst im vergangenen Jahr die notwendigen Verhandlungen mit den Ländern. Sie hat im Hinblick auf den
Jugendschutz gestern jene und heute diese Ideen an die
Öffentlichkeit, aber nicht in das Parlament gebracht. Nun,
nach Erfurt, soll der Bundestag eine Neuregelung durchpeitschen, weil Mehrheiten der Koalition in Gefahr sind.
({1})
Nehmen wir uns doch bitte einfach die Zeit, solche
zentralen Fragen unserer Gesellschaft ohne Hektik zu beraten - und vor allem mit der Möglichkeit, den Sachverstand der Experten in unsere Überlegungen einzuarbeiten!
({2})
Das ist keine Frage der inhaltlich-politischen Meinung
oder des parteipolitischen Lagers, sondern eine grundsätzliche des Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament. Innerhalb von nur zehn Tagen Anhörungen, Fachausschusssitzungen, zweite und dritte Lesung im Plenum
des Bundestages - das ist ein Zustand, der nicht hinnehmbar ist. Denn beim Jugendschutz sind viele schwierige
Sachfragen zu klären und Interessenabwägungen vorzunehmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält begrüßenswerte, richtige Punkte. So halten auch wir es für gut und
richtig, die freiwillige Selbstkontrolle zu stärken und die
Medien generell, also nicht nur Filme, zu kennzeichnen.
Damit wird die Erziehungskompetenz der Eltern gestärkt,
die anderenfalls mit der schweren Entscheidung über das,
was sie ihren Kindern und Jugendlichen erlauben oder zumuten möchten, allein gelassen werden. Einheitliche
Altersgrenzen sind ebenso vonnöten, wie bestimmte Verbote erwägenswert sind. Nach der Harry-Potter-Diskussion über die Altersgrenzen verstehe ich nicht - um nur
ein Detail zu nennen -, warum der Entwurf zwischen den
Altersgrenzen von sechs und zwölf Jahren keine weiteren
Zwischenstufen vorsieht.
Für außerordentlich fragwürdig und wenig praktikabel
halten wir die Idee, Kinowerbung für bestimmte Produkte
einer Altersgrenze zu unterwerfen. Die bisherige Selbstverpflichtung, wonach es im Nachmittagsprogramm keine
solche Werbung zu sehen gab, hat sich durchaus bewährt.
Es ist sinnvoller, hier mit einer Zeitgrenze zu arbeiten.
Denn die Neuerung in der Selbstverpflichtung, diese Zeitgrenze auf 19 Uhr zu verschieben, verbessert die Schutzsituation und trägt den veränderten Publikumsgewohnheiten Rechnung.
({3})
Letztlich helfen wir Kindern und Jugendlichen nicht,
wenn wir Kinowerbung generell verbieten. Außer der
Schädigung besonders der kleineren Filmtheater wird damit nichts erreicht. In der realen Welt werden die Kinder
der Alkohol- und Tabakwerbung auch außerhalb von
Kinos begegnen.
({4})
Grundsätzlich gilt: Was im Handel erhältlich ist, muss
auch beworben werden dürfen. Kinder müssen darauf
vorbereitet werden, dass sie mit den alltäglichen Verführungen durch die Werbung umgehen und sie kritisch
hinterfragen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die mit diesem Werbeverbot zusammenhängende Problematik des Tabakkonsums von Jugendlichen wird im Gesetzentwurf ebenso angesprochen. Dass nach dem Rauchen in der Öffentlichkeit
nun auch der Tabakverkauf an Jugendliche verboten werden soll, ist konsequent und überfällig. Es ist richtig, dass
das Jugendschutzgesetz in puncto Tabak verschärft und
beim Alkohol nicht verwässert wurde. Auch dass nun der
Automatenverkauf in das Blickfeld des Jugendschutzes
gerät, ist grundsätzlich nicht verkehrt. Allerdings werden
wir im Ausschuss noch darüber zu diskutieren haben, ob die
vorgeschlagenen Formulierungen tatsächlich sinnvoll sind.
Warum die Ministerin Bildschirmspielgeräte in der Öffentlichkeit für Kinder ab sechs statt bisher für Jugendliche ab 16 Jahren freigeben will, ist mir unter dem Aspekt
des Jugendschutzes noch nicht recht klar geworden.
({5})
Entscheidend werden die Regelungen in Bezug auf die
neuen Medien sein. Dass die Ministerin einen Gesetzentwurf vorlegt, ohne dass der dazu notwendige, abgestimmte
Staatsvertrag zur Verfügung steht, ist wenig hilfreich.
Denn mit dem neuen Jugendschutzgesetz soll eine enge
Verzahnung der bundes- und landesrechtlichen Bestimmungen erreicht werden. Diese beiden Zahnräder können
aber nicht ineinander greifend gestaltet werden, wenn das
eine noch gar nicht vorhanden ist. Immerhin enthält der
Entwurf vernünftige Ansätze, etwa die Zuständigkeit der
Bundesprüfstelle für alle jugendgefährdenden Medien
und die grundsätzliche Gleichbehandlung von Filmen und
Computerspielen.
Besonders schwierig ist die Internetproblematik. Jugendschutz wirft hier schon rein technisch komplizierte
Probleme auf. Nationale Alleingänge werden keine Lösung bieten können. Angesichts der vielfältigen Vermarktungs- und Verbreitungsmöglichkeiten von Filmen sowie
des Zusammenwachsens von Telekommunikation, Computer und digitalem Rundfunk ist eine Umorganisation
des Jugendmedienschutzes dringend notwendig. Der Gesetzentwurf bietet nur Ansätze zur Schaffung einer wirksamen Vernetzung von freiwilligen und öffentlichen
Kontrolleinrichtungen mit klaren Zuständigkeiten sowie
einheitlichen Kriterien. Der Auffassung der Praktiker im
Jugendschutz, dass nicht mehr Repression, sondern mehr
Präzision und Praktikabilität notwendig sind, kommt dieser Gesetzentwurf nur bedingt nach.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gesetzlicher Jugendschutz kann isoliert betrachtet nur begrenzt vor schädlichen Einflüssen schützen. Entscheidend ist und bleibt, ob
die Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen stark und
fit macht, mit den problematischen Aspekten des Lebens
in unserer Gesellschaft umzugehen.
({6})
Herr Kollege,
denken Sie bitte daran, dass die Redezeit schon abgelaufen ist.
Der Vermittlung von Medienkompetenz kommt dabei besondere Bedeutung zu. Schulen und besonders Eltern sind gefragt, den Kindern Wertmaßstäbe zu vermitteln, Vertrauen aufzubauen, aber auch
Risiken zu verdeutlichen und Nutzungsgrenzen festzulegen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Ministerin Bergmann
hat es angedeutet: Der vorliegende Gesetzentwurf stellt
keine Reaktion auf die schreckliche Tat in Erfurt dar, sondern er war schon seit längerem angekündigt worden. So
bestand zumindest bei mir die Hoffnung, dass hier nicht
Populismus, sondern konstruktive Veränderungen im Vordergrund stehen. Die EU-Kommission hat ja im April eine
Untersuchung vorgestellt, die zeigt, dass Deutschland neben Großbritannien bereits ein sehr scharfes Jugendschutzgesetz hat, die schärfsten Jugendschutzbestimmungen in Europa. Insofern denke ich, dass es keinen Grund
dafür gibt, in hektischen Aktionismus zu verfallen.
({0})
Lassen Sie mich deswegen zunächst etwas zu den Neuregelungen bezüglich der Alkohol- und Tabakwerbung
sagen. Es ist reiner Populismus, vorzuschreiben, in Kinos
vor 22 Uhr keine Alkoholwerbung zu zeigen. Das ist ja
richtig, aber solange auf jedem zweiten Fußballertrikot
und bei jeder Sportübertragung Alkoholwerbung auf den
Banden prangt und solange Papi am Herrentag mit Bierfass auf dem Bollerwagen durch die Gegend fährt
({1})
und betrunken in die Runde ruft, ist es ziemlich banal, das
zu fordern. Alkohol spielt ja tagtäglich im Leben der Eltern eine große Rolle. Gerade das Verhalten der Eltern ist
die erste Tabak- und Alkoholwerbung für Kinder. Man
muss schon selber vorleben, was man von den eigenen
Kindern verlangt.
({2})
Deswegen glaube ich, dass das Verschieben des Problems
ausgerechnet auf Werbung und insbesondere auf Kinowerbung ein Ablenkungsmanöver darstellt. Es gibt genügend Missstände in dieser Gesellschaft; manche fördern
auch Gewalt und manche fördern auch die so genannte
Verrohung. Es ist einfach zu billig, für alles die Medien
verantwortlich zu machen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch ich fordere
natürlich keinen Freibrief für die Medien; darum geht es
überhaupt nicht. Auch sie sind für die Vermittlung von
Werten verantwortlich. Aber ich möchte es an einem Punkt
ganz deutlich machen - unabhängig davon, wie man im
Detail zu Kriegseinsätzen steht -: Wer Filme verbieten
will, die Kriege verherrlichen, wer Gewalt verbieten will,
kann nicht an einer anderen Stelle Gewalt zur Lösung von
Konflikten darstellen, wie es jetzt wieder geschieht, indem Krieg salonfähig geworden ist.
({3})
Auch ich denke, dass Kinder und Jugendliche vor positiver Darstellung von Gewalt geschützt werden müssen, natürlich auch vor Kriegsverherrlichung und vor
Pornographie. Das ist überhaupt keine Frage. Es geht
hierbei natürlich nicht nur um Kinder. Die Zielgruppe
von Gewaltfilmen sind in erster Linie Erwachsene. Sie
konsumieren diese Filme, sie stellen diese Filme her, sie
produzieren sie und sie verdienen daran. Solange diese
Filme bzw. diese Gewalt zum Alltag von Erwachsenen
gehören, bleibt der Jugendschutz hilflos. Man sollte immer genau hinschauen, wen man vor was schützen
möchte.
Ich nenne das Stichwort Kinderpornographie. In der
Begründung Ihres Gesetzentwurfes erklären Sie über drei
Absätze, warum es schädlich sei, wenn Kinder Kinderpornographie zu Gesicht bekämen. Natürlich ist es schädlich, wenn Kinder Kinderpornographie zu Gesicht bekommen. Aber es sind auch Erwachsene, die sich das
ansehen.
({4})
Kinder müssen nicht vor dem Internet geschützt werden, vielmehr vor den Erwachsenen, die sie missbrauchen,
um diese Kinderpornographie im Internet darzustellen. Sie
sind Opfer von Vergewaltigungen. Der beste Jugendschutz
in diesem Zusammenhang ist, Kinder vor diesen Erwachsenen zu schützen und die Verantwortung nicht nur auf das
Internet an sich abzuschieben.
({5})
Deswegen finde ich es ein bisschen befremdlich - wir
haben schon in den Bundestagsausschüssen darüber diskutiert -, dass Sie in Sachen Internet ausschließlich auf die
Institution „jugendschutz.net“ setzen; denn diese reduziert
das Internet häufig auf Gewalt und Kinderpornographie.
Das Internet besteht aus mehr. Es ist hier angesprochen
worden, dass es um Bildung und um Kompetenz im Umgang mit Medien geht.
Ich denke, wir müssen grundsätzlich fragen, was die
Ursache von Gewaltfaszination ist. Medien drücken
diese Gewaltfaszination natürlich aus. Aber als es solche
Filme und Computerspiele noch nicht gab, gab es natürlich auch Gewalt und die Gesellschaft war nicht weniger
gewalttätig. Deswegen finde ich es falsch, das Problem
ausschließlich auf Filme und Computerspiele zu reduzieren. Auch das Mittelalter war nicht gewaltfreier oder zivilisatorischer, obwohl es noch kein Fernsehen und keine
Computerspiele gab.
Die Medien sind eben nicht an allem schuld. Dennoch
kann es natürlich nicht falsch sein, zu verhindern, dass
Medien diese Gewaltfaszination der Gesellschaft noch
fördern und legitimieren; das ist überhaupt keine Frage.
Ich finde diese Punkte des Gesetzentwurfes richtig.
Es ist vor allen Dingen zu begrüßen, dass eine Vereinfachung der Aufsichtsstrukturen stattfindet. Allerdings
habe ich mir die Liste der Verbände, die jugendgefährdende Medien bzw. Inhalte ausfindig machen, angesehen.
Es sind, glaube ich, 36 Verbände, unter denen aber nur
zwei sind, die selber als Vertreter von jungen Menschen
fungieren. Wenn hier immer die Bildung und die Schule
angesprochen werden, dann frage ich mich, warum zum
Beispiel die Bundesschülervertretung nicht dabei ist, um
sich an dieser Diskussion zu beteiligen.
({6})
Denn der beste Jugendschutz sind verantwortungsbewusste Jugendliche. Der beste Jugendschutz findet statt, wenn
Jugendlichen Verantwortung übertragen wird, und nicht,
wenn man sie bevormundet.
Insofern hoffe ich, dass die Politik nicht ausschließlich
auf Repression setzt. Verbote hier, Verbote da, das ist dann
Jugendschutz. Wir müssen über Prävention und über Bildung sprechen. Aber wir müssen eben auch über sinnvolle
Freizeitangebote sprechen.
({7})
Genau diese fallen immer wieder Sparzwängen zum Opfer. Dann muss man sich nicht wundern, wenn Jugendliche in ihrer Freizeit an Bushaltestellen oder Spielautomaten rumhängen.
({8})
Repression schafft keine eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten, wie es in Ihrem
Entwurf zum Ausdruck gebracht wird. Das sollte aber in
der Tat das Ziel von Erziehung und Jugendschutz sein.
Denn selbstbewusste Persönlichkeiten, die eine gute BilAngela Marquardt
dung genossen haben, brauchen keine Gewaltfantasien,
um sich wohl zu fühlen.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kerstin Griese.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Böhmer, ich finde es
schon ziemlich dreist, was Sie hier geboten haben. Wenn
man sich einmal die Fakten vor Augen hält - im Dezember 2001 waren sich der Bund und 15 Bundesländer über
die Eckpunkte und über einen Medienstaatsvertrag zum
Jugendmedienschutz einig und es war allein das Bundesland Bayern, das blockiert hat -, dann ist es schon dreist,
dass Sie hier von Verzögerung sprechen.
({0})
Sie haben diese Blockadehaltung erst im März aufgegeben.
Ich muss auch sagen: So blumig von weiteren Schritten zu sprechen, die gemacht werden müssen, und nichts
Konkretes vorzuschlagen, das zeugt nicht davon, dass bei
Ihnen schon Vorbereitungen stattgefunden haben, um den
Jugendschutz zu verbessern. Wir arbeiten schon eine
ganze Weile daran und können deshalb als Regierungsfraktionen diesen Gesetzentwurf heute vorlegen.
({1})
Ein weiterer Punkt: Das Internet ist nicht erst 1998 erfunden worden und wie Phönix aus der Asche gestiegen.
Das Internet gibt es schon sehr viel länger. 1985 ist die
erste Domäne im Internet registriert worden. Sie hatten
viele Jahre Zeit, den Jugendmedienschutz auch im Internet zu regeln. Wir tun das jetzt.
({2})
Ich warne angesichts der aktuellen Debatte davor, die
Zusammenhänge so einfach darzustellen. Wer gewalttätige Computerspiele spielt, wird automatisch gewalttätig - so einfach ist das nicht. Meine Kollegin Bettin hat
uns dazu schon einiges gesagt. Ich glaube, wir müssen uns
noch sehr viel tiefer gehend mit den Ursachen von Gewalt
beschäftigen.
Wir werden jetzt als Erstes den Jugendschutz reformieren. Den Gesetzentwurf dazu bringen wir heute ein.
Das Gesetz muss deshalb dringend reformiert werden,
weil es aus dem Jahr 1985 und in seinen Vorstellungen
völlig veraltet ist.
1985 wurde die erste Domäne im Internet registriert.
Damals konnten Jugendliche das Internet noch gar nicht
zu Recherchezwecken oder für Spiele benutzen. Ich habe
in dem Jahr noch ohne Computer Abitur gemacht; das
kann sich heute kaum noch jemand vorstellen. Ich habe
sogar die ersten Semester ohne Computer überstanden,
der eine oder andere hatte vielleicht einen Atari oder einen kleinen C64. Seitdem hat sich sehr viel verändert.
Meine Generation hat sehr schnell gelernt, mit Computern
und dem Internet umzugehen.
Unsere Gesellschaft hat sich zur Informationsgesellschaft entwickelt. Das Medienangebot steigt ständig. Es
gibt unzählige Computerspiele und weltweit schätzungsweise 600 Millionen E-Mail-Accounts. Diese Entwicklung wird weitergehen und - das sage ich ganz deutlich wir wollen sie auch nicht aufhalten; denn die Chancen der
Informationsgesellschaft sind vielfältig, die technischen
Entwicklungen sind rasant, nur der gesetzliche Jugendschutz hinkte hinterher. Und das ändern wir heute.
({3})
Die Konvertierbarkeit der Medien, die Übertragbarkeit
von Tönen, Bildern und Texten von einem Medium ins
andere stellt uns vor neue Herausforderungen. Man kann
nicht mehr einfach mit Alters- oder Zeitbeschränkungen
und Verboten agieren, wie das im Jugendschutz früher
üblich war. Die SPD-Fraktion arbeitet schon seit einiger
Zeit an der Reform des Jugendschutzes und handelt insbesondere im Bereich des Jugendmedienschutzes.
Die schreckliche Tat von Erfurt hat dazu geführt, dass
das Gesetzgebungsverfahren beschleunigt werden soll bislang übrigens auch auf Wunsch und mit Zustimmung
der Länder. Ich hoffe, dass wir uns fraktionsübergreifend
auf viele Punkte einigen werden.
Der Jugendschutz ist ein Beitrag, um Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Brutalität zu schützen. Ich
denke aber, dass wir gerade nach dem Ereignis von Erfurt
über die Ursachen von Gewalt in der Gesellschaft diskutieren müssen. Wir müssen über Gewalt in den Medien,
über Aggression und Frustration junger Menschen, über
den Schulalltag und den Umgang miteinander in den Familien sprechen.
Reden allein reicht allerdings nicht. Es muss gehandelt
werden. Ich will ein gutes Beispiel nennen. Die rot-grüne
Bundesregierung hat mit ihrem Programm „Jugend für
Toleranz und Demokratie“ sinnvolle Projekte gefördert:
Streitschlichterprogramme in Schulen, interkulturelles
Zusammenleben und die verstärkte Beteiligung von Jugendlichen. Das sind sinnvolle Schritte; hier müssen wir
weitermachen.
({4})
Zusammenhalt fördern und Gewalt ächten - das muss
der Konsens sein. Die SPD-Fraktion hat vorgeschlagen,
dass der Bundestag eine Enquete-Kommission zur umfassenden Untersuchung der Ursachen und zur Prävention
von Gewalt einsetzt. Das ist sinnvoll.
Brutalität und Gewalt in allen denkbaren Medien dürfen nicht auf Kinder einwirken, als sei das eine Möglichkeit der Konfliktlösung. Darin sind wir uns alle einig. Gerade in der modernen Mediengesellschaft brauchen Kinder
und Jugendliche einen festen Wertekanon und Normen,
die ihnen Orientierung geben. Deshalb regeln wir das im
Jugendschutz neu.
Wir beenden die Zersplitterung der Zuständigkeiten
im Medienbereich. Vieles hörte sich heute so an, als könnte
man einfach schnell ein Bundesgesetz beschließen. Wenn
Sie den Föderalismus kennen, wissen Sie, dass die Länder
hier ihre Kompetenzen haben. Deshalb werden wir gemeinsam mit einem Staatsvertrag der Länder das Jugendschutzgesetz neu regeln müssen. Wir ändern die völlig
veraltete Zersplitterung in Teledienste und Mediendienste, die für Menschen, die mit dem Computer aufgewachsen sind, nicht mehr nachvollziehbar ist.
Wir unterscheiden zwischen Offline- und Onlinemedien. Das ist ganz einfach: Wenn ich ein Buch, ein
Video oder eine CD-ROM in den Händen halte, bin ich
offline, denn es handelt sich um ein so genanntes Trägermedium. Bei den neuen Onlinemedien, wenn zum Beispiel ein Text oder ein Spiel ins Internet gestellt wird, handelt es sich um ein Telemedium.
Ich will deutlich sagen, dass der Vorwurf in Ihrem
ziemlich inhaltsleeren und polemischen Antrag, wir würden schwer jugendgefährdende Trägermedien nicht
verbieten, falsch ist. Ich bitte Sie, sich § 15 unseres Entwurfs genau anzusehen; denn wir stellen sogar das Zugänglichmachen von schwer jugendgefährdenden Trägermedien unter Strafe. Sie werfen uns vor, wir würden die
Verbreitung nicht verbieten. Ich bitte Sie daher, das noch
einmal nachzulesen.
Eine ganz wichtige Neuerung in unserem Gesetzentwurf ist die Alterskennzeichnung. Wir kennen sie von
Filmen und Videos. Genauso müssen jetzt auch Computerspiele mit einer Alterskennzeichnung versehen werden.
Gerade hier zeigt sich, dass der Jugendschutz Normen setzen muss.
Wenn Sie im Internet agieren, wissen Sie, dass es technisch möglich ist, sich jederzeit alles, auch jugendgefährdende Dinge, aus dem Internet zu laden. Das ist besonders
deshalb ein Problem, weil vieles, was sogar strafrechtlich
relevant oder jugendgefährdend ist, aus dem Ausland ins
Internet eingespeist wird. Deshalb sind hier internationale
Lösungen notwendig. Dafür setzen wir uns ein. Ich plädiere dafür, dass wir den UNESCO-Gipfel zur Informationsgesellschaft dazu nutzen, um auch auf internationaler
Ebene nach Lösungen zu suchen, damit Rassismus und
Gewaltverherrlichungen im Internet verhindert werden.
({5})
Die neue Alterskennzeichnung, die wir einführen werden, gibt Eltern, Lehrern und Erziehern einen Anhaltspunkt dafür, welche Spiele und Seiten geeignet sind.
Danach können sie sich richten. Das stärkt die Erziehungskompetenz der Eltern, Erzieher und Lehrer.
({6})
Außerdem wird den Händlern damit verboten, Spiele an
Jugendliche abzugeben, die jünger als das entsprechend
kenntlich gemachte Alter sind. Das heißt, die Händler
werden bestraft, wenn sie dieses Verbot nicht beachten.
Damit haben wir diese Regelung eindeutig verschärft.
Alterskennzeichnungen, positive Ratings und Indizierungen sind für die Entwicklung nutzerautonomer Filtersysteme hilfreich. Das bedeutet, dass ein Nutzer, zum Beispiel eine Schule, eine Jugendeinrichtung oder ein
Elternhaus, in sinnvoller Weise Filter einsetzen kann.
Diese sollen die Kinder und Jugendlichen schützen und
tragen dazu bei, dass ihnen das Internet nicht verboten
werden muss. Wir unterstützen auch den Aufbau von Internetportalen für Kinder, die dem Kinderkanal im Fernsehen ähnlich sind. Es wäre sinnvoll, ein solches Angebot
auch im Internet zu haben.
Wer mit dem Internet arbeitet oder spielt, muss differenzieren, also zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Ansonsten können Computerspiele Auslöser
sein. Ich glaube nicht unbedingt, dass sie die einzige Ursache sind, aber sie können ein Auslöser für Gewaltbereitschaft sein. Deshalb ist Medienkompetenz so wichtig.
Mit dem Programm „Schulen ans Netz“ haben wir es
geschafft, dass Schülerinnen und Schüler ins Internet gehen können. Wir werden das in den nächsten vier Jahren
mit dem Programm „Jugendarbeit ans Netz“ fortsetzen.
Mit diesem sollen die 50 000 Jugendfreizeiteinrichtungen
in Deutschland ans Netz gebracht werden. Das ist besonders aus sozialen Gründen wichtig, damit allen Jugendlichen die Chance gegeben wird, den verantwortlichen
Umgang mit den neuen Medien zu erlernen.
({7})
Ich will nur kurz eine weitere Neuerung in unserem Jugendschutzgesetz erwähnen - meine Kollegin Uta TitzeStecher wird darauf noch ausführlicher eingehen -: Wir
werden die Abgabe von Tabak und Zigaretten an Jugendliche unter 16 Jahren verbieten. Das ist eine folgerichtige Konsequenz; denn schon jetzt ist das Rauchen in
der Öffentlichkeit für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. Wir nehmen jetzt auch die Händler sowie die Automaten- und Zigarettenindustrie in die Verantwortung. Wir
wissen, dass die technische Umgestaltung möglich ist.
Auch bei der Kinowerbung für Alkohol und Zigaretten schlagen wir Verbesserungen vor. Über die Details
werden wir uns im Ausschuss und in der Beratung noch
unterhalten. Unser Ziel ist es, den Gesundheitsschutz von
Kindern und Jugendlichen noch effektiver gestalten zu
können. In welcher Form das geschieht, ob mit Altersoder Uhrzeitbeschränkung, darüber werden wir sicherlich
noch diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um eine
qualitative Verbesserung des Jugendschutzes. Wir wollen
Kinder und Jugendliche vor den Problemen und Gefahren
unserer Gesellschaft nicht verstecken und ihnen nicht alles verbieten. Wir wollen sie in die Gesellschaft integrieren. Wir wollen sie vor den Gefahren, mit denen sie nicht
umgehen können, schützen. Wir bieten Jugendlichen
Chancen für ihre Zukunft. Dazu gehören zum Beispiel die
Chance auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und die
Chance auf ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft. Auch die Reform des Kinder- und Jugendschutzes,
mit der wir, wie gesagt, gern schon früher begonnen hätten, gehört dazu. Diese wurde vom Bundesland Bayern
aber blockiert.
Sie sehen, dass wir jetzt etwas tun. Wir stellen uns der
Verantwortung und verbessern den Kinder- und Jugendschutz. Ich würde mich freuen, wenn wir hier eine breite
Zustimmung erhalten würden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das schreckliche Ereignis von Erfurt macht uns alle fassungslos. Wie
kann so etwas passieren und wie kann es in Zukunft verhindert werden? Diese Fragen haben wir uns alle gestellt.
Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Mir ist es ein Anliegen, allen Eltern und Erziehern zu danken. Die große
Mehrheit von ihnen widmet sich sehr verantwortungsvoll
der Erziehung von Kindern und Jugendlichen.
Es ist sicherlich richtig zu reagieren. Mit vorschnellem
Aktionismus werden die Wurzeln des Problems aber nicht
beseitigt. Schwerpunkt der Reform des Jugendschutzes
muss die Prävention sein. Seit Beginn der Regierungszeit
von Rot-Grün hat die Union die dringende Reformbedürftigkeit des Kinder- und Jugendschutzes angemahnt.
Wenn Sie jetzt wegen Ihres Nichthandelns auf die Länder
verweisen, ist das eines Ihrer typischen Ablenkungsmanöver. In Ihrem Zuständigkeitsbereich hätten Sie doch
handeln können. Sie sind doch nicht erst seit einem Jahr,
sondern nun schon fast vier Jahre an der Regierung.
({0})
- In den 16 Jahren haben wir 1997 mit dem Informationsund Kommunikationsdienste-Gesetz einiges getan. Den
Vorwurf können Sie uns nicht machen.
In unserer Gesellschaft ist eine wachsende Gewaltbereitschaft gerade auch bei der jüngeren Generation zu
erkennen. Dieser müssen wir entschieden entgegentreten.
Wir brauchen dazu eine breite Allianz gegen jede Form
von Gewalt und deren hemmungsloser Darstellung. Wir
müssen Jugendliche gegen Gewalt stark machen. Beides
ist wichtig.
Die Erziehung der Kinder durch die Eltern hat höchste Priorität. Daher ist die Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz eine besonders drängende Aufgabe.
Hier hat die CDU/CSU ein überzeugendes Konzept im
Rahmen ihrer Familienoffensive ausgearbeitet. Feste innerfamiliäre Beziehungen, die auch Belastungen standhalten, geben Kindern und Jugendlichen das nötige
Selbstwertgefühl und Vertrauen in die Zukunft. So können sie sich auch gegenüber Gewalt besser abgrenzen.
Gute Eltern verstehen sich ihrem Kind gegenüber als
Partner, aber auch als Autorität, die Grenzen aufzeigt. Die
Vermittlung von Werten wie Toleranz, Aufrichtigkeit,
Respekt und Füreinander-Einstehen gehören untrennbar
dazu. Dabei müssen die Eltern diese Werte natürlich vorleben, wenn sie überzeugen wollen. Durch den raschen
gesellschaftlichen Wandel und auseinander fallende Wertvorstellungen steigen die Anforderungen an das partnerschaftliche Zusammenleben und an die Eltern-Kind-Beziehungen.
Erziehungskompetenz bedeutet auch Medienkompetenz. Eltern muss klar sein, dass sowohl Filme wie auch
Computerspiele, die Gewalt zum Inhalt haben, verheerende Auswirkungen auf ihre Kinder haben können. Es
gibt inzwischen eindeutige wissenschaftliche Hinweise,
dass auch virtuelle Gewalt in erschreckender Weise abstumpfen lässt. Als Folge gehen Mitgefühl und Mitleidsfähigkeit verloren.
Für einen wirksamen Jugendschutz ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Eltern, Kindern, Bildungseinrichtungen und Beratungsstellen wichtig. Allen gesellschaftlichen Kräften - Politik, Kirchen, Verbänden, Eltern und
Erziehern, aber auch und gerade der Medienwirtschaft muss der Kinder- und Jugendschutz eine Herzenssache
sein.
({1})
Bayern wird zurzeit von Ihnen besonders beobachtet.
({2})
Daher kennen Sie sicherlich die schon lange bestehende
Forderung Bayerns nach einem Vermiet- und Verleihverbot für schwer jugendgefährdende Bildträger, einer verbindlichen Alterskennzeichnung von Video- und Computerspielen sowie einem vollständigen Verbot so genannter
Killerspiele.
({3})
Das hätten Sie schon längst machen können. Noch am
Ende der letzten Legislaturperiode haben wir während unserer Regierungszeit einen Antrag für einen erweiterten
und verbesserten Jugendschutz im Deutschen Bundestag
verabschiedet. Dies war ein Auftrag an die neue Bundesregierung, aber diesem Auftrag ist die Bundesregierung
bisher nicht nachgekommen. Die Kriterien und Maßstäbe
des Jugendschutzes müssen den Grund- und Wertvorstellungen der Gesellschaft entsprechen.
Erst vor kurzem wurde ein Gesetzentwurf zum Jugendschutz zurückgezogen. Die Jugendministerin musste
ihn zurücknehmen; denn die Fachverbände hatten ihn zurecht heftigst kritisiert, weil er Lockerungen im Bereich
der Ausgehzeiten für 14- bis 16-Jährige vorsah, die unverantwortlich waren und keinesfalls einem verantwortungsvollen Jugendschutz entsprachen. Statt Grenzen zu
setzen, wurde die geänderte Lebenswirklichkeit einfach
zum Gesetz gemacht. Damit machen Sie es sich zu leicht.
({4})
Der nun vorliegende Gesetzentwurf genügt nicht den
Anforderungen an ein übersichtliches, organisiertes und
vernetztes Schutzsystem. Es fehlen eindeutige Zuständigkeitsregelungen für Jugendämter, für Ordnungs- und Gewerbeaufsichtsämter sowie für die Polizei. Eltern müssen
sich darauf verlassen können. Das wird mit Ihrem Gesetz
nicht der Fall sein. Sie entziehen sich damit erneut Ihrer
politischen Verantwortung.
Novellierung des Jugendschutzes muss Stärkung des
Jugendschutzes bedeuten. Kinder und Jugendliche brauchen für ihre Persönlichkeitsentwicklung geschützte
Räume. Der Jugendschutz muss ein Garant dafür sein.
Dazu leistet dieser Gesetzentwurf einen zu geringen Beitrag.
Die Union fordert ein klares und übersichtliches Jugendschutzgesetz mit eindeutigen Zuständigkeitsregelungen.
({5})
Zudem ist die Förderung des erzieherischen Jugendmedienschutzes notwendig. Auch müssen die Voraussetzungen zur Stärkung der Eltern und der Erziehungskompetenz
geschaffen werden. Ich denke hierbei insbesondere an eine
Verstärkung der Familienbildungsangebote zur Gewaltprävention und an die bessere Vernetzung von Schule und
Elternhaus. Wenn sich Eltern überfordert fühlen, muss ihnen die Möglichkeit der Beratung offen stehen. Dem Gesichtspunkt der Prävention ist in diesem Gesetzentwurf zu
wenig Rechnung getragen worden.
({6})
Meine Damen und Herren, Seneca meinte mit Blick
auf die Rolle der Erzieher: Alles, was noch nicht erstarkt
ist, richtet sich nach seiner Umgebung. - Nutzen wir unsere Möglichkeiten, diese Umgebung zukunftsorientiert
und geschützt zu gestalten.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Uta Titze-Stecher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mich dem Thema zuwende, zu dem ich sprechen werde, nämlich einem Teilaspekt der Neuregelung des Jugendschutzes, dem Rauchen in
der Öffentlichkeit nach § 10 des Entwurfs des Jugendschutzgesetzes, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, zu
Ihren Äußerungen Stellung zu nehmen, Herr Haupt. Es ist
eine Legende, wenn Sie sagen, die derzeitige Regierung
und die sie tragenden Koalitionsfraktionen hätten sich mit
der im Bereich des Jugendschutzes nötigen Novellierung
nicht befasst.
({0})
Gerade die Existenz eines Gruppenantrags zu einem Teilbereich des Jugendschutzes stellt den exemplarischen Beweis dafür dar, dass bereits Überlegungen in diesem Bereich angestellt wurden.
({1})
Uns als Gruppe wurde nämlich gesagt: Wartet ein bisschen; wir kommen schon noch mit einem Gesamtkunstwerk; wir wollen nämlich die zersplitterten Zuständigkeiten regeln, und dann macht es Sinn, auch den
Teilbereich „Rauchen in der Öffentlichkeit“ für Jugendliche mit zu regeln.
({2})
Im Vertrauen darauf, dass man sich im Bereich des Jugendschutzes interfraktionell leichter und schneller einigen könnte, haben wir abgewartet und die Regelung eines
gesetzlichen Nichtraucherschutzes für die Arbeitsstätten
vorgezogen. Nun aber erkenne ich angesichts der Debatte,
der ich eben zuhören konnte, dass die Aussicht auf eine
gemeinsame Linie, die die Ministerin zu Recht erhofft hat,
sehr schlecht geworden ist. Deshalb haben wir uns Anfang
des Jahres gedacht, dass wir, wenn wegen des Widerstands der Länder bzw. wegen des Kompetenzgerangels
im Medienbereich nichts zu erwarten ist, mit der Unterschrift von 175 Kollegen einen Antrag in den Bundestag
einbringen und den unstrittigen Bereich regeln, nämlich
die Abgabe von Zigaretten bzw. Tabakwaren an Jugendliche unter 16 und damit verbunden auch den Zugang über die Automaten. Es macht schließlich keinen
Sinn, das Rauchen in der Öffentlichkeit zu verbieten, wie
es 1985 im Zusammenhang mit der Vorlage zum Jugendschutz geregelt wurde, aber zu vergessen - das ist meiner
Meinung nach eine echte Lücke, die die Vorgängerregierung zu verantworten hat -, dieses Verbot um ein Verbot
des Zugangs zu ergänzen. Sie haben etwas vorgelegt, zu
dem in der Tat Regelungsbedarf besteht. Wir als Gruppe
sind dankbar dafür, dass die rot-grünen Koalitionsfraktionen, unterstützt durch die Bundesregierung, immerhin
diesen Bereich als unstrittig ansehen.
Ich möchte ein paar Anmerkungen zu der Notwendigkeit des Gesetzes machen. Es ist schon erwähnt worden,
dass zum ersten Mal seit 20 Jahren - das hat die Kollegin
Griese betont - ein Anstieg der Zahl von Rauchern im Alter unter 16 Jahren zu verzeichnen ist. Deutschland ist in
diesem Bereich Spitze. Das ist durchaus kein Kompliment,
sondern muss Anlass zur Besorgnis geben. Wir stellen fest,
dass das Einstiegsalter für Jugendliche in eine „Raucherkarriere“ immer weiter sinkt, und zwar von 13,5 auf
12,5 Jahre. Das ist deswegen so besorgniserregend und mit
ein Grund für den vorliegenden Gesetzentwurf, weil man
heute aufgrund unbestrittener wissenschaftlicher Erkenntnisse weiß, dass Rauchen Gesundheitsschädigungen nach
sich zieht. Die Korrelation „Je früher mit dem Rauchen begonnen wird, desto schwerwiegender sind die späteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen“ wird wohl niemand
bestreiten wollen. Deswegen sind wir der Meinung, dass es
an der Zeit ist, Jugendlichen und Kindern unter 16, die die
Langzeitfolgen von ständigem Rauchen trotz massiver
Präventionsmaßnahmen überhaupt nicht abschätzen
können - ich kann nicht alle aufzählen, weil meine Redezeit auf 5 Minuten begrenzt ist; verschiedene Ressorts, allen voran das Bundesgesundheitsministerium, haben eine
ganze Menge getan, um den Bereich der Prävention zu stärken -, den Zugang zu Zigaretten zu erschweren.
Vor diesem Hintergrund sehen wir auch unsere jetzige
Initiative. Wenn den unter 16-Jährigen nicht nur das Rauchen in der Öffentlichkeit verboten, sondern auch der Zugang zu Zigaretten zumindest erschwert wird, dann sind
wir auf der sicheren Seite, wenn es darum geht, das Rauchen in der Öffentlichkeit zu minimieren. Herr Haupt,
Sie haben, wenn auch in einem anderen Zusammenhang,
darauf verwiesen, dass Missbrauch immer möglich sei.
Dazu kann ich nur sagen: Selbstverständlich kann ein Jugendlicher unter 16 seinen älteren Freund bitten, ihm eine
Packung Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen. Wir
haben aber in jahrelangen Gesprächen mit der AutomaMaria Eichhorn
tenindustrie festgestellt - Sie wissen, der jetzige Anlauf ist
bereits der dritte Versuch, den Nichtraucherschutz gesetzlich zu verankern; ich hoffe, dass dieser Versuch erfolgreich sein wird -, dass die Industrie selbst aus Gründen
der Sicherheit - Sie wissen ja, dass die Aufbruchssicherheit der Automaten ein wichtiges Thema für die Industrie
ist - an Systemen arbeitet, die nur noch Zugang über
Chipkarten erlauben. Man könnte in diese Systeme Vorkehrungen einarbeiten, die es verhindern, dass Jugendliche unter 16 Zugang zum Zigarettenautomaten haben.
Wir räumen der Automatenindustrie im vorliegenden Gesetzentwurf mit Rücksicht nicht nur auf die Kosten der
Umstellung der Automaten, sondern auch auf die Praktikabilität - bis jetzt gibt es nur Pilotprojekte in der Bundesrepublik - eine relativ großzügige Übergangsfrist ein.
Wir schreiben den Chipzugang auch nicht gesetzlich
vor. Wir legen lediglich fest: Es ist durch Aufsicht oder
durch entsprechende technische Vorrichtungen Jugendlichen unter 16 der Zugang zu Zigaretten unmöglich zu
machen oder zumindest zu erschweren. Wie das in der
Praxis umgesetzt wird, ob der Zigarettenautomat in der
Nähe der Toilettentür, wo ihn niemand mehr sieht, oder
vorne im Eingangsbereich angebracht wird, bleibt dem
Gastwirt überlassen. Es muss auf jeden Fall gewährleistet
sein - ich sehe am Blinken der roten Lampe, dass ich zum
Schluss kommen muss -, dass dem Anliegen des Gesetzgebers, das heißt der interfraktionellen Gruppe und auch
der rot-grünen Koalitionsfraktionen, Rechnung getragen
wird. Wir denken, dass dies sowohl durch den Gesetzentwurf als auch durch den interfraktionellen Gruppenantrag
bestens gewährleistet ist.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss und sage
mit Dankbarkeit, dass wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf sicherlich bald am Ziel sein werden.
({3})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Haupt.
Verehrte Kollegin Titze-Stecher,
da Sie mich persönlich angesprochen haben, möchte ich
Ihnen auch persönlich antworten.
Ich habe nicht gesagt, die Bundesregierung sei untätig
gewesen. Ich habe an zwei Stellen meiner Rede darauf
hingewiesen, dass die Bundesregierung lange untätig gewesen sei. Vielleicht verstehen Sie und ich nur etwas anderes unter schnell und langsam. Das kann ich kurz belegen: 1998 sind Sie an die Regierung gekommen und
wollten handeln. Sie haben im Jahr 2001 - das war sozusagen in Ihrer zweiten Halbzeit - die Verhandlungen mit
den Ländern begonnen. Das Ziel war, im Dezember des
vergangenen Jahres zum Ende zu kommen. Damals
konnte von Verschleppung noch keine Rede sein. Im Dezember 2001 stellte sich heraus, dass der Termin nicht zu
halten ist. Es musste nachverhandelt werden. Am 8. März
2002 ist schließlich die vertragliche Vereinbarung zustande gekommen. Die Mär von der langzeitigen Verschleppung ist also falsch. Die Behauptung, die Sie mir
jetzt unterstellt haben, stimmt auch nicht.
Ich möchte zum Schluss sagen: Mir gefiel Ihr Engagement, das Sie bei dem interfraktionellen Gruppenantrag
gezeigt haben. Deswegen habe ich ganz bewusst in meiner Rede darauf hingewiesen, dass wir im Ausschuss über
Details, wie zum Beispiel der Zugang zu Zigaretten am
besten erschwert werden kann, fachlich und sachlich
debattieren sollten. Die Richtigstellung war mir aber
wichtig.
({0})
Wird eine Antwort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann hat jetzt
der Abgeordnete Werner Lensing das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was wir
seitens der interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative - für diese spreche ich - in den letzten dreieinhalb Jahren geleistet haben, war sehr beachtlich;
({0})
denn wir befanden uns in der Situation, dass es, bei aller
Einsichtsbereitschaft und -fähigkeit, sehr viel Widerstand
dagegen gab, den Schaden, der durch das Rauchen entsteht, für alle, gleich welchen Alters, objektiv einzuschätzen.
Ich erinnere an die Novellierung der Arbeitsstättenverordnung, die wir angeregt haben. Es hat dann allerdings
- da muss ich Herrn Haupt Recht geben - sehr lange gedauert, bis die Regierung bereit war, unsere Vorschläge
umzusetzen, wobei die Schwierigkeit hinzukam, mit den
Bundesländern verhandeln zu müssen, aber wir haben
letztlich eine entsprechende Novellierung erreicht.
Seit rund 75 Jahren ist Nichtraucherschutz in Deutschland ein Thema. So wurde vor 75 Jahren beispielsweise
das erste Nichtraucherschutzabteil in Zügen der Reichsbahn eingerichtet.
Bei alledem ist mir aber Folgendes wichtig: Wir haben
bei unserer Arbeit in der interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative nie, nicht einmal im Traum, daran gedacht, Raucherinnen und Raucher zu diskriminieren. Das
tue ich bis heute nicht und ich bin mir sicher, dass keiner
in unserer Gruppe so etwas tut.
({1})
Wir haben aber immer erklärt, dass es uns um diejenigen
geht, die unfreiwillig mitrauchen müssen, weil der Toleranzgedanke, den jeder groß preist, in der Praxis bedauerlicherweise keine Substanz hat.
Wenn wir uns heute hier dem Jugendschutz zugewendet haben - das haben wir im Übrigen schon seit zwei Jahren getan in entsprechenden Verhandlungen mit Vertretern der Zigarettenindustrie, der Tabakindustrie sowie der
Automatenindustrie - und an dieser Stelle gesagt haben,
es sei das Wichtigste, dass die Jugendlichen und gegebenenfalls sogar schon die Kinder von Grund auf zu schützen sind, dann ist das genau das, was man von uns zu
Recht erwartet.
({2})
Von daher bin ich sehr froh, dass auch die Automatenindustrie, für die es unter anderem ein Rechenexempel
war, ihre Automaten umrüsten zu müssen, große Bereitschaft gezeigt hat, einen Großteil ihrer Automaten in dem
Sinne, wie wir uns das erhofft haben, umzurüsten. Das erkenne ich hier ausdrücklich an.
Es kann doch nicht wahr sein, dass wir im Jugendschutzgesetz eine Vielzahl von Regelungen bezüglich der
Ausgabe von Alkohol an Kinder und Jugendliche unter
16 Jahren haben und keinerlei Regelung im Hinblick auf
die Abgabe von Tabak aller Art. Wenn es nun heißt, solche Regelungen seien nicht realistisch, weil man angeblich nicht alles so genau regulieren könne, dann muss ich
deutlich sagen, dass wir hiermit eine zuverlässige Bremse
eingebaut haben; denn mir kann keiner erzählen, dass alle
Jugendlichen von heute mit den Chip- oder Scheckkarten
der Eltern herumrennen. Das stimmt nicht. Und wenn gesagt wird, wir hätten eine gültige Regelung im Hinblick
auf die Abgabe von Alkohol, dann müssen wir zugeben,
dass es auch hier Möglichkeiten, - zum Beispiel durch die
Nutzung des väterlichen Weinkellers - gibt, dagegen zu
verstoßen.
Was aber viel entscheidender ist, ist die Tatsache, dass
wir Erwachsenen - das ist jedenfalls meine Beobachtung uns ganz hilflos verhalten, wenn wir feststellen, dass bereits Acht- und Neunjährige rauchen. Wir dürfen uns nicht
der Tatsache verschließen, dass bereits 14-Jährige an
Acht-, Neun- und Zehnjährige die Zigaretten einzeln verkaufen und damit einen schwunghaften Handel betreiben.
Wir dürfen auch nicht verleugnen, dass an bestimmten Verkaufsstellen tatsächlich Zigaretten abgezählt ausgeteilt
werden, weil Jugendliche es nicht wagen, sich zu Hause mit
einer dicken Schachtel Zigaretten sehen zu lassen. Ich sage
die Dinge so, wie sie sind. Aber entscheidend ist für mich das muss man doch sehr deutlich sagen -, dass wir - Frau
Kollegin Titze-Stecher hat darauf hingewiesen - eine traurige Erkenntnis nach wie vor beachten müssen. Diese lautet unwidersprochen und auch durch die Medizin bewiesen, dass derjenige, der sehr früh anfängt zu rauchen,
anschließend die größten Probleme hat, von diesem seinem Laster wieder loszukommen.
({3})
Insofern besteht dort eine Fürsorgepflicht. Wir müssen
an der Basis anfangen.
Noch ein letzter Gedanke.
Aber bitte nur
ein letzter Satz.
Ihnen zuliebe, ja, Frau
Präsidentin.
({0})
Alle Kinder tragen ein Schild mit der Aufschrift „Ich will
ernst genommen werden“. Dass dies unsererseits viel zu
wenig passiert, ist für mich eine der Hauptursachen für so
manche Probleme der Jugend unserer Zeit. Deswegen besteht hier Handlungsbedarf. Daher werbe ich für diese
Idee.
Vielen Dank.
({1})
Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/9013,
14/8956 und 14/9027 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf.
Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Wolfgang Bosbach und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versammlungsgesetzes
- Drucksache 14/4754 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 14/6625 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz
Cem Özdemir
Petra Pau
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Hans-Peter Uhl.
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! So wie bei
der aktuellen Debatte um die Verschärfung des Waffenrechts anlässlich der schrecklichen Geschehnisse in Erfurt
muss auch bei der hier in Rede stehenden Verschärfung
des Versammlungsrechts gefragt werden: Welche Probleme können wir mit dem geltenden Recht lösen und wo
muss das Gesetz nachgebessert werden?
Die besten Gesetze nützen nichts, wenn sie nicht konsequent angewendet werden. Gerade unlängst zeigte sich
ein hervorragendes Beispiel dafür, nämlich die gewalttätige „revolutionäre 1.-Mai-Demonstration“ in Berlin. Auf unverantwortliche Weise hat der SPD-Innensenator die betroffenen Berliner Bürger dem Straßenterror
schutzlos ausgesetzt.
({0})
Die polizeibekannten Rädelsführer der autonomen
Szene hatten bereits Tage vorher zu Gewalt aufgerufen.
Übrigens, wenn die SPD - die Berliner SPD wohlgemerkt - bereit gewesen wäre, den Unterbindungsgewahrsam, den wir in Bayern auf 14 Tage erstrecken, der
in Berlin aber nur zwei Tage Gültigkeit hat, auf 14 Tage
auszuweiten, dann hätte man die polizeibekannten Kriminellen der Berliner autonomen Szene rechtzeitig hinter Schloss und Riegel bringen können.
({1})
Stattdessen gab der SPD-Innensenator die Weisung, die
gewalttätige revolutionäre 1.-Mai-Demonstration hinzunehmen und nicht bei jeder Kleinigkeit - so drückte er sich
aus - hektisch zu reagieren. So äußerte sich Körting vor
der Demonstration. Das Ergebnis dieser verantwortungslosen Deeskalationspolitik ist bekannt: über 200 verletzte
Polizisten, eine schwerverletzte Frau, die reanimiert werden musste, ein Mann, der mit Messerstichen auf der
Straße vorgefunden wurde, brennende Autos, bürgerkriegsähnliche Verwüstungen und die Plünderung eines
Supermarktes. All dies konnten wir live im Fernsehen mitverfolgen.
Meine Damen und Herren, nach Meinung von Rot-Grün
muss dies alles offensichtlich schicksalhaft hingenommen
werden. Wir dagegen werden es niemals hinnehmen, dass
Straßenterror dieser Art zur jährlich wiederkehrenden
Berliner Folkloreveranstaltung verniedlicht wird. Es muss
Schluss sein mit einer als Liberalität getarnten Gleichgültigkeit gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der Bürger.
Neben diesen unverantwortlichen Vollzugsdefiziten
beim Berliner Senat gibt es aber auch Demonstrationsanmeldungen, die - jetzt komme ich zu unserem Gesetzentwurf - mit dem geltenden Versammlungsrecht nicht zu
bewältigen sind. Die Öffentlichkeit im In- und Ausland
war zu Recht empört, als am 29. Januar 2000 Neonazis
mit schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger Tor marschiert sind, so wie es die SA am 30. Januar 1933 nach Hitlers Machtergreifung getan hat. Ort
und Zeitpunkt der Aufmärsche werden ganz gezielt als
Provokation gewählt. Zudem bieten sie der linksextremen
autonomen Szene willkommenen Anlass, zu gewalttätigen Gegendemonstrationen aufzurufen. Das gemeinsame
Motto der Extremisten von links und der Extremisten von
rechts lautet: Die Straße gehört uns.
({2})
Sie haben ein und dasselbe Motto für ihre Straßenkämpfe.
Die überwältigende Mehrheit in unserem Land hält
diese Eskalation von links- und rechtsextremen
Demonstrationen für unerträglich. Wie so oft hat Bundeskanzler Schröder diese Stimmung in der Bevölkerung
geschickt aufgenommen, als er in seiner Rede im September 2000 vor der Polizeigewerkschaft gesagt hat, er
könne im Ausland niemandem erklären, dass wir derartige
Demonstrationen - gemeint: durch das Brandenburger
Tor - duldeten;
({3})
hier müsse unbedingt etwas geschehen.
Aber auch auf diesem Gebiet ist eben nichts geschehen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Initiative ergriffen und einen Entwurf zur Verschärfung des Versammlungsrechts,
der Ihnen heute vorliegt, eingebracht. Sie werden diesen
Entwurf mit Ihrer Mehrheit ganz offensichtlich ablehnen,
({4})
ohne eine Alternative vorzulegen; denn Ihrer Meinung
nach darf - ganz im Gegensatz zur Meinung von Bundeskanzler Schröder - nichts geschehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die ureigene
Aufgabe des Staates ist der Schutz von Leib, Leben und
Eigentum seiner Bürger.
({5})
- Auch der Verfassung.
({6})
- Auf diesen Punkt, Herr Kollege Wiefelspütz, komme ich
gleich zu sprechen. - Zur Erfüllung dieser Aufgabe
braucht er die erforderlichen Eingriffsrechte und die dürfen ihm von Ihnen von der SPD und von den Grünen nicht
verwehrt werden. Im Gegensatz zur Terrorismusbekämpfung ist bei Ihnen bei diesem Thema der Leidensdruck
ganz offensichtlich noch nicht groß genug. Es zieht sich
wie ein roter Faden durch die rot-grüne Sicherheitspolitik,
dass es immer erst massenhaft Missbrauch geben muss,
dass es manchmal sogar erst Verletzte und Tote geben
muss, ehe sich Rot-Grün gezwungen sieht, etwas zu tun.
Um gewalttätige extremistische Demonstrationen
leichter verbieten zu können, muss das Versammlungsrecht verschärft werden. Wir, Herr Wiefelspütz, wollen
zumindest befriedete Bezirke haben, und zwar an solchen Orten, die von herausragender nationaler historischer Bedeutung sind. Doch nicht einmal diese vergleichsweise harmlose Einschränkung wollen Sie
mittragen. Bei dem einen oder anderen von Ihnen kann
man das nur durch seine politische Herkunft erklären. Als
Alt-68er kämpft er natürlich für die uneingeschränkte Erhaltung des Versammlungsrechts, für ein schrankenloses
Versammlungsrecht, das er wie eine Monstranz vor sich
hertragen will.
({7})
- Nein, das bin ich nicht.
({8})
Es kann doch nicht richtig sein, Herr Wiefelspütz, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD und auch
von den Grünen, dass unter dem Deckmantel einer überinterpretierten Demonstrationsfreiheit schwerste Strafttaten,
wie am 1. Mai geschehen, billigend in Kauf genommen
werden.
({9})
Nach Art. 8 Abs. 2 Grundgesetz - Sie kennen das - kann
die Versammlungsfreiheit beschränkt werden; sonst wäre
das auch sonderbar. Es gibt kein schrankenloses Freiheitsrecht. Dem Recht, sich friedlich zu versammeln,
steht das mindestens so hohe Recht der Bürger auf Schutz
vor Sachbeschädigung, vor Einbruchdiebstahl, vor Raub
und vor Plünderung - all das ist am 1. Mai in Berlin geschehen - gegenüber. Man darf diese Rechtsgüter der
rechtsfreien Bürger nicht auf dem Altar eines falsch verstandenen, völlig überinterpretierten Versammlungsrechts
opfern.
Bei aller berechtigten Ablehnung neonazistischer Umtriebe warne ich aber davor - das wird immer wieder in
die Diskussion geworfen -, das Versammlungsrecht einseitig nur in Bezug auf Rechtsextreme zu verschärfen. Sie
werden mir sicher darin zustimmen, Herr Wiefelspütz,
dass das aus rechtlichen Gründen nicht geht.
({10})
Das Versammlungsrecht hat parteipolitisch neutral zu
sein. Es muss Antworten zur Bewältigung der typischen
Gefährdungen von Sicherheit und Ordnung geben, egal
aus welcher Ecke die Gefährdungen drohen. Die politischen Extremisten von links und von rechts brauchen sich
wechselseitig. Gewalttätigkeiten und Ausschreitungen
entstehen häufig durch gegenseitige Provokation beim
Aufeinanderprallen der Demonstrationszüge. Diese Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung müssen
zum Schutz der Bürger notfalls durch Demonstrationsverbote abgewendet werden.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie
heute unseren Gesetzentwurf ablehnen, so bin ich mir
dennoch sicher, dass Sie bald Gelegenheit haben werden
- ich hoffe, dass das nicht bereits nach dem 23. Mai, wenn
Präsident Bush in Berlin war, der Fall sein wird -, über
eine Verschärfung des Versammlungsrechts neu nachzudenken.
({11})
- Herr Wiefelspütz fragt, warum. - Ich bin mir nämlich
sicher, dass sich Links- wie Rechtsextremisten in ihrem
gewaltbereiten Demonstrationsverhalten gegenseitig zur
Eskalation anstacheln werden. Das heißt, wir werden Tausende von Polizeibeamten aus dem gesamten Bundesgebiet zusammenziehen müssen. Es wird Straßenschlachten
geben, bei denen die Polizei zwar, „militärisch“ gesehen,
Sieger sein wird. Aber angesichts der brennenden Autos,
der zerstörten Fensterscheiben und des zerstörten Eigentums der Bürgerinnen und Bürger sowie der verletzten Polizisten
({12})
wird der Bürger Sie, Herr Wiefelspütz, fragen, ob Sie auf
Dauer diesen Preis für ein überinterpretiertes Versammlungsrecht bezahlen wollen, wie es von unserer Verfassung nie vorgesehen war.
({13})
Wir und auch Sie werden über eine Verschärfung des
Versammlungsrechts nachdenken. Die Frage ist, ob es in
die Richtung gehen soll, die wir heute vorschlagen, oder
ob es vielleicht in eine noch viel weitergehende Richtung
gehen muss. Es reicht nämlich nicht aus, nach der Methode
Schröder nur Empörung über irgendeine Demonstration
durch das Brandenburger Tor zu äußern. Die Menschen erwarten von uns wirksame Gesetze, die sie vor kriminellen
Randalierern und vor Extremisten schützen.
Die Menschen erwarten von dem Berliner Innensenator auch, dass es solche Vorkommnisse in Berlin nicht
mehr gibt, dass nämlich ein Palästinenser seine kleine
Tochter auf dem Arm trägt, Dynamitstangen um den
Bauch gewickelt, aber der Innensenator samt der Polizei
es nicht für nötig halten, wenigstens die Personalien dieser Person festzustellen
({14})
oder dieses Verhalten sofort zu unterbinden. Dies alles
wurde nicht gemacht. So viel zum Thema Vollzug des Demonstrationsrechts in der Stadt Berlin.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dieter Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Kollege Uhl,
ich muss mich angesichts Ihrer Rede zwingen, mit Augenmaß zu antworten; denn man könnte wirklich Veranlassung haben, auf bayerisch zuzuschlagen.
({0})
Unsere Verfassung, das Grundgesetz, muss vor dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion geschützt werden.
({1})
Deswegen werden wir heute mit Mehrheit Ihren verfassungswidrigen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Versammlungsgesetzes ablehnen, Herr Uhl.
Das ist nicht nur meine persönliche Meinung. Das ist
beispielsweise auch die Meinung eines ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, der heute Professor an
der Humboldt-Universität ist. Das Gutachten Grimm ist
Ihnen zugegangen. Es wäre schön, wenn Sie Ihren Gesetzentwurf, mit einem großen Stein beladen, versenkt
hätten, damit er nie wieder zum Vorschein kommt.
({2})
Ich dachte eigentlich, Sie hätten ihn endgültig verschwinden lassen.
({3})
Sie haben versucht, ein durchsichtiges Manöver zu
starten. Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Uhl.
({4})
Nach dem 1. Mai graben Sie Ihren - höflich ausgedrückt unsinnigen, verunglückten Gesetzentwurf wieder aus und
versuchen, auf billige Weise Wahlkampf zu machen. Ich
bitte Sie darum, dass wir gemeinsam unser Grundgesetz
ernst nehmen. Ich bitte Sie, einmal zuzuhören, was im
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom
23. Mai 1949 steht. Das ist der beste politische Text, den
die Deutschen jemals zustande gebracht haben. In Art. 8
GG steht:
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln.
Friedlich zu versammeln! Das ist zu betonen, weil es essenziell ist.
({5})
Niemand in Deutschland hat das Recht, sich unfriedlich zu versammeln. Das ist geltendes Recht. Dieses
Recht müssen wir doch nicht ändern. Das steht im wichtigsten Gesetz, das wir haben, im Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland. Wer in Deutschland das
Versammlungsrecht missbraucht, Gewalt übt, Autos anzündet, Läden plündert - egal, wo das passiert, egal, wer
Innensenator ist -, kann sich nicht auf Art. 8 des Grundgesetzes berufen. Weshalb wollen Sie da etwas verschlimmbessern? Wo ist da ein gesetzlicher Handlungsbedarf?
({6})
- Es erregt mich sehr, Herr Zeitlmann, wenn hier unseriös
Anschläge auf unser Grundgesetz unternommen werden.
So etwas ist doch nicht zu verantworten.
({7})
Sie wollen Versammlungen verbieten, weil das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt
werden könnte. Ich möchte, Herr Uhl und Herr Zeitlmann,
auch in Zukunft mit Ihnen gemeinsam gegen Menschenrechtsverletzungen, wo auch immer auf der Erde
sie passieren, demonstrieren dürfen, obwohl das möglicherweise den Besuch irgendeines Ministers, der nach
Deutschland kommt, beeinträchtigen könnte. Ich möchte,
dass in Deutschland in Zukunft weiterhin beispielsweise
gegen Menschenrechtsverletzungen in Tibet demonstriert
werden kann. Ich möchte, dass auch die Möglichkeit besteht, für oder gegen Herrn Bush zu demonstrieren, wenn
es friedlich geschieht.
({8})
Sie und ich haben nicht das Recht, anderen Menschen eine
Zensur aufzuerlegen, wann sie zu demonstrieren haben
und wann nicht. Wer bestimmt, was das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland ist?
Eines sage ich Ihnen sehr deutlich, auch auf die Gefahr
hin, dass der eine oder andere das vielleicht anders sehen
könnte:
({9})
Die Frage, ob und wie ein Deutscher ein Grundrecht ausübt, klären wir hier in Deutschland. Das machen wir nicht
abhängig von der veröffentlichten oder öffentlichen Meinung in London, Moskau, Paris oder auch Tel Aviv. Ich
sage und meine das auch so. Die Ausübung unserer
Grundrechte können wir uns doch nicht von anderen, die
ihre Interessen und ihre Meinung dazu haben, nehmen lassen.
Unser bestehendes Recht - das ist meine These seit
langem; Sie wissen das - ist völlig ausreichend, um das,
was Sie, geschätzter Kollege Uhl, und ich gemeinsam verhindern wollen, konsequent zu unterbinden. Wir wollen
friedliche Demonstrationen in Deutschland, so wie das
auch die Veranstalter wollen. Wenn sie unfriedlich sind,
brauchen wir keine neuen Gesetze, um sie zu unterbinden;
dann können sie jederzeit unterbunden werden.
({10})
- Lieber Herr Uhl, ich betone es noch einmal: Es ist unter
Ihrem Niveau, wenn Sie hier aus billigen Wahlkampfzwecken heraus Berlin instrumentalisieren wollen.
({11})
In Berlin gibt es Probleme mit der Realität des Art. 8
GG seit 1987.
({12})
- Vielleicht, Herr Barthel, gibt es sie sogar ein paar Jahre
länger. Daran gibt es überhaupt nichts herumzudeuteln
und das muss auch offen angesprochen werden. Um das
zu unterbinden, brauche ich aber keine neuen Gesetze.
Übrigens haben diese Probleme christdemokratische Innensenatoren genauso gehabt wie sozialdemokratische.
({13})
Da bin ich mir nicht so ganz sicher, Herr Uhl, und so einfach würde ich mir das auch nicht machen. Die Neonazis
haben einmal vor dem Brandenburger Tor demonstriert.
Wer war damals Innensenator? Der Mann heißt - inzwischen vergessen - vielleicht zu Recht - Werthebach.
({14})
Er gehörte der CDU an und war Innensenator. Herr
Barthel, die meisten Innensenatoren seit 1987 waren,
wenn ich das richtig in Erinnerung habe, Christdemokraten, die mit den Problemen auf ihre Weise nicht optimal fertig geworden sind.
({15})
Ich meine, dass es unter unserem Niveau ist, wenn wir uns
aus billigen Interessen heraus, nämlich aus Wahlkampfgründen, gegenseitig Vorhaltungen machen. Das hilft uns
überhaupt nicht weiter.
Jede zu beanstandende gewalttätige Demonstration, egal,
wo sie in Deutschland stattfindet, kann mit dem geltenden
Versammlungsrecht unterbunden werden. Wo das möglich ist, muss sie auch unterbunden werden.
Herr Uhl, Sie haben auf einen bestimmten Zeitungsartikel verwiesen. Vielleicht wäre es der intellektuellen
Redlichkeit geschuldet gewesen, zu erwähnen, dass ich
derjenige war, der dies im Innenausschuss thematisiert
hat. Ich habe dort mein Entsetzen über solche Dinge zum
Ausdruck gebracht. Ich finde es einfach billig, dass Sie
das hier instrumentalisieren. Das ist nicht hilfreich und
nicht zielführend.
Ich betone: Vergessen Sie diesen Gesetzentwurf, bitte!
Man sollte ihn vergraben und einen dicken Stein darauf
legen. Das ist das Einzige, was man mit diesem Gesetzentwurf tun kann. Er ist nicht hilfreich, sondern verfassungswidrig. Das ist nicht nur meine persönliche Auffassung, sondern es ist eine im rechtswissenschaftlichen
Schrifttum inzwischen verbreitete Auffassung. Man muss
Sie, lieber Herr Uhl, und uns alle vor solchen Gesetzentwürfen schützen.
Schönen Dank.
({16})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Wiefelspütz hat auf eine sehr beeindruckende Art und
Weise bereits darauf hingewiesen, dass das Versammlungsrecht gemeinsam mit der Meinungsfreiheit Kernbestandteil unserer Demokratie ist.
Sie alle wissen, dass gerade diejenigen, die beispielsweise in den Medien keine Basis haben, die über keine
Lobby verfügen und nicht etabliert sind, auf das Versammlungsrecht in ganz besonderer Weise angewiesen
sind. Es ist im besten Sinne des Wortes ein Recht für Minderheiten, die sich in der Demokratie gewaltfrei - auch
darauf wurde zu Recht immer wieder hingewiesen - organisieren, um ihre Position zum Ausdruck bringen zu
können. Sie müssen sich auf diese Art und Weise artikulieren können. Von daher muss man den wiederholten Versuch der Union, die Themen Bannmeile und Versammlungsfreiheit wieder auf die Tagesordnung zu bringen,
zurückweisen. Die Demokratie braucht die Art von
Schutz, die Sie vorsehen, nicht. Ich sage es gleich vorweg:
Dieser Gesetzentwurf wird aus diesem Grunde bei uns
nicht auf Zustimmung stoßen.
Herr Kollege Wiefelspütz hat die Aussagen des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, Herrn
Grimm, bei der Anhörung im Innenausschuss zitiert.
Man könnte viele andere Zitate anführen. Kollege Uhl, Ihr
Entwurf ist praktisch von allen Sachverständigen „eingedampft“ worden. Sie haben - das wissen Sie - an Ihrem
Entwurf kein gutes Haar gelassen. Von daher verstehe ich
nicht, warum Sie daran festhalten.
Ich verweise auf die Äußerungen von Herrn Professor
Rühl, der die vorgeschlagene Änderung des § 15 des Versammlungsgesetzes für zu unbestimmt und damit für
ungeeignet hält. Mit anderen Worten: § 15 ist in der
von Ihnen vorgeschlagenen Form nicht verhältnismäßig.
Professor Gusy ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die
Änderungen der Versammlungsfreiheit mit Art. 8 GG
nicht vereinbar sind. Jemand anders, der aus der Praxis
kommt - das dürfte Sie möglicherweise mehr beeindrucken -, nämlich der Polizeipräsident von Dortmund,
einer Stadt, in der im Schnitt 100 bis 150 Demonstrationen angemeldet werden, bestätigt: Der Gesetzentwurf ist
nicht praktisch ausgerichtet; er hat für die Polizeipraxis
nur begrenzte Auswirkungen. Wörtlich sagte er:
Der Gesetzentwurf bringt für eine normale Verwaltungsbehörde keine erkennbaren Verbesserungen, ist
für die tägliche praktische Arbeit aufgrund sprachlicher Defizite wenig anwenderorientiert und in mancher Hinsicht verfassungsrechtlich bedenklich.
Ich spare mir die anderen Zitate. Die Liste der Kritiker ist
lang. All das spricht eine sehr deutliche Sprache.
Herr Kollege Uhl hat auf die NPD-Demonstrationen
hingewiesen. Sie wissen, dass es in diesem Zusammenhang mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gab. Im vergangenen Jahr gab es eine beachtenswerte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im
Rahmen der Auseinandersetzung über das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Münster, in dem die Grenzen
des Versammlungsrechts definiert worden sind. Das ist
für Juristen sicherlich eine spannende Frage.
Hier ist vielleicht eines zur Erinnerung hervorzuheben:
Die NPD hat in Nordrhein-Westfalen mehrmals Demonstrationen angemeldet, die von Verwaltungsgerichten verboten worden sind. Das OVG hat sich in der Begründung
darauf gestützt, dass die NPD verfassungswidrig sei. Das
Bundesverfassungsgericht hat - das ist sehr spannend die Entscheidung aufgehoben. Die Begründung sollte
man sich tatsächlich näher anschauen. Die Begründung
des Bundesverfassungsgerichtes bei der Aufhebung von
Demonstrationsverfügungen gegen die NPD ist: Das Versammlungsrecht ist in der Demokratie so elementar, dass
jeder und jede davon Gebrauch machen können muss,
wenn nicht die anmeldende Partei gemäß Art. 21 des
Grundgesetzes oder der anmeldende Verein gemäß Art. 9
des Grundgesetzes verboten worden ist.
Beides ist bislang nicht der Fall. Wir arbeiten ja an anderer Stelle am NPD-Verbot, das hoffentlich bald kommt
und dann unseren Praktikern, auch der Polizei, die Arbeit
erleichtern wird, wie ich hoffe, Kollege Schmidt-Jortzig.
({0})
Aber hinsichtlich des Versammlungsrechts ist zu sagen, dass die Instrumente, die der Rechtsstaat bietet, kein
stumpfes Schwert sind. Die Behörden haben bereits heute
nach geltendem Recht die Möglichkeit, Demonstrationen
zu verbieten. So ist es selbstverständlich möglich, eine
rechtsextreme Demonstration mit der Auflage zu versehen, dass sie nicht am Holocaust-Gedenktag stattfindet.
Es ist bereits heute möglich, Auflagen dergestalt zu erteilen, dass rechtsextreme oder rechte Symbole nicht verwendet werden dürfen. Dazu gehören auch all die anderen Dinge, die wir aus der Praxis kennen.
Dann gibt es noch ein Instrument, das vielleicht am
wirkungsvollsten ist: Gegendemonstrationen sind möglich - nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, all unseren Bürgerinnen
und Bürgern zu danken, die immer dort, wo sich die NPD,
diese schrecklichen Gestalten, zur Demonstration versammelt, in Form von Gegendemonstrationen das Gesicht
unserer Zivilgesellschaft machtvoll und deutlich zum
Ausdruck bringen.
({1})
Bei dieser Gelegenheit also einen herzlichen Dank an
all unsere Bürgerinnen und Bürger, die sich in ihrer Freizeit in deutlicher Weise für diesen Rechtsstaat einsetzen!
Mein Dank gilt übrigens auch den Polizeibeamten, die
dort einen sehr schweren Job haben, zum Teil lieber bei
der Gegendemonstration gegen die NPD mitdemonstrieren würden, es aber nicht dürfen, weil die Demonstration
unter das Versammlungsrecht fällt.
Ich möchte zum Schluss, da meine Redezeit abgelaufen ist, noch einmal zu George Bush und den Demonstrationen, die angekündigt sind, kommen. Ich finde, gerade Sie als Transatlantiker - die Union hat ja eine lange
transatlantische Tradition - sollten wissen, dass die
Amerikaner an vorderster Stelle, nämlich im First
Amendment der amerikanischen Verfassung, für das Versammlungsrecht eintreten, und dass viele in den USA
sagen, das Versammlungsrecht sei der wichtigste Grundsatz der amerikanischen Demokratie. Amerikanische
Verfassungsrichter würden das, was Sie hier vorgelegt
haben, in der Luft zerreißen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Professor Schmidt-Jortzig.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!
Der Wahlkampf ist ausgebrochen, der Wahltermin rückt
näher. Manche Diskussionsklötze und die zu ihrer Spaltung aufgewendeten Werkzeuge scheinen gröber zu werden. Ich will versuchen, die Sache, die uns heute hier beschäftigt, ganz nüchtern zu beleuchten.
Das Anliegen der Antragsteller, nämlich politisch
heikle und unerfreuliche Extremistendemos ordnungsbehördlich besser in den Griff zu bekommen, ist nach
Auffassung der FDP sehr wohl nachvollziehbar. Dennoch
werden wir den Gesetzentwurf ablehnen, was wir schon
in der ersten Lesung deutlich gemacht haben, weil der
vorgelegte Problemlösungsvorschlag uns in großen Teilen
ungeeignet, in manchen nicht erforderlich und in den entscheidenden auch unnötig erscheint.
({0})
Ich will mit dem Akzeptablen anfangen. Der vorgeschlagene neue § 14 Abs. 3 mit der Kooperationsobliegenheit des Demonstrationsveranstalters ist okay. Damit werden Gedanken aufgenommen, wie sie nach der
Brokdorf-Entscheidung, also vor ungefähr 15 Jahren, diskutiert wurden. Man hätte sich in einem solchen Gesetzesvorschlag vielleicht auch nähere Regelungen über die
Folgen, wenn man bei solchen Kooperationen nicht mitmacht, gewünscht. Aber damit kann man leben. Leben
kann man auch mit der gewünschten Verfahrensregelung
bei Eilversammlungen.
Einfach unnötig und im Übrigen auch unklar sind indessen die gewünschten § 14 a und § 15 Abs. 3. Das ist
zum einen die Regelung über die Pflicht, Gewalttätigkeiten zu unterbinden. Das gilt schon jetzt, auch wenn es
nicht in der Form, wie im vorliegenden Gesetzentwurf geschehen, formuliert worden ist. Das ist zum anderen der
Hinweis darauf, dass dort, wo Beschränkungen nicht ausreichen, Verbote infrage kommen. Auch das ist eigentlich
eine Selbstverständlichkeit. Hier sollen Dinge festgeschrieben werden, die schon gelten. Das erhöht nur den
Gesetzesaufwand, bringt aber effektiv nichts.
Richtig bedenklich und deshalb auf jeden Fall abzulehnen sind unseres Erachtens die vorgeschlagenen Regelungen in § 15 Abs. 2 und § 16 Abs. 3.
Zum Ersten. Die - so die Formulierung - Beeinträchtigung von erheblichen Belangen der Bundesrepublik
Deutschland als Verbotsgrund für Versammlungen etablieren zu wollen verkennt die grundlegende Bedeutung
der Versammlungsfreiheit und wirft zudem Fragen nach
der begrifflichen Schärfe dieses Verbotsmerkmals bzw.
nach der Definitionshoheit für die betreffenden Belange
auf. Das waren die Bedenken in der Anhörung, die bis
zum Vorwurf der Verfassungswidrigkeit führten. So verfügbar für staatspolitische Interessen kann man die Versammlungsfreiheit nicht machen. Das ist jedenfalls unsere Auffassung.
({1})
Zum Zweiten. Dass man sich - so wieder die Formulierung in dem vorliegenden Entwurf - „öffentliche Einrichtungen oder Örtlichkeiten, die von herausragender nationaler und historischer Bedeutung sind“, in der Tat
irgendwie versammlungsfrei gehalten vorstellen kann,
das will ich schon einräumen. Aber dass dies etwa auch
die Länder jeweils für ihren Bereich - womöglich je nach
landsmannschaftlicher Befindlichkeit - festlegen dürfen
und dass dies außerhalb bzw. unterhalb eines verbindlichen Parlamentsentscheids, also eines förmlichen Gesetzes, geschehen kann, das ist keinesfalls akzeptabel. Deshalb lehnen wir diesen Entwurf ganz nüchtern ab.
Danke sehr.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Uhl, es ist in der Tat bedauerlich, dass
die Union ihren Gesetzentwurf bislang nicht zurückgezogen hat. Sie hätte es längst tun sollen. Denn spätestens
nach der Anhörung der Sachverständigen vor dem Innenausschuss ist deutlich geworden, dass dieser Gesetzentwurf mehr als überflüssig ist. Die Union will den Katalog
der Gründe, aufgrund deren das Demonstrationsrecht eingeschränkt werden kann, erweitern, zum Beispiel indem
sie befriedete Bezirke bestimmen möchte, aber auch indem sie so etwas Ähnliches wie eine Gesinnungsprüfung
vorsieht.
Vor den versammelten Experten hat der Unionsentwurf
zur Änderung des Versammlungsgesetzes keine Gnade
gefunden. Die große Mehrheit der Sachverständigen
lehnte ihn als verfassungswidrig und untauglich ab, wie
wir bereits von anderen Kollegen gehört haben. Zwar versuchte der eigentliche Autor des Entwurfs, der frühere Innensenator Werthebach, als ein von der Union geladener
Sachverständiger sein Werk zu verteidigen. Dabei kam er
auf recht seltsame Begründungen, unter anderem darauf,
dass das Demonstrationsrecht eingeschränkt werden
müsse, weil Touristen in Berlin nicht bestimmte Sehenswürdigkeiten besuchen könnten, da hier zu viele Demonstrationen stattfinden würden. Also Einschränkung des
Demonstrationsrechtes wegen der Interessen der Tourismuswirtschaft?
Aber sowohl die meisten Verfassungsrechtler als auch
Praktiker machten in klaren Worten deutlich, was sie von
dem Entwurf der Union hielten. Der Berliner Rechtswissenschaftler Martin Kutscha sagte - ich zitiere -:
Der Schutz vor Ausschreitungen Einzelner und eine
entschiedene Bekämpfung des Neonazismus sind
zweifellos notwendig - aber nicht in der Weise, dass
ein für die demokratische Willensbildung elementares Grundrecht für alle Bürgerinnen und Bürger massiv eingeschränkt wird. Die demokratische Verfassungsordnung kann nicht durch Amputation ihrer
selbst verteidigt werden.
Gerade das Demonstrationsrecht ist ein Recht der Minderheit, um ihre Meinung zum Ausdruck und in den politischen Diskussionsprozess einzubringen. Dies gilt auch
und gerade dann, Herr Uhl, wenn diese Meinung unbequem ist und stört. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist somit unverzichtbar für die Meinungsbildung
in einer demokratischen und offenen Gesellschaft.
Die Union will ihren Vorschlag als einen Beitrag zum
Kampf gegen Rechtsextremismus verkaufen. Lassen Sie
sich gesagt sein: Sie können nicht die Demokratie verteidigen, indem Sie sie abschaffen. Die PDS hat diverse
sinnvolle Vorschläge vorgelegt. Ich möchte hier noch einmal vortragen, dass die Aufnahme einer „antifaschistischen Klausel“ in das Grundgesetz möglich wäre. Diese
hätte die praktische Bedeutung, dass zum Beispiel ohne
weiteres Verbote von Demonstrationen, die NS-Gedankengut verbreiten wollen, ausgesprochen werden könnten.
({0})
Damit wäre beispielsweise das Dilemma beseitigt, dass
sich Neonazis bei ihren Umtrieben auf die Grundrechte
berufen und die Polizei sie im Übrigen auch noch schützen muss. Die zuständigen Behörden könnten Demonstrationen mit neofaschistischer Zielstellung mit größerer
Aussicht auf Erfolg untersagen. Die Wiederbelebung NSGedankenguts wäre dann eindeutig keine von Grundrechten gedeckte Betätigung mehr.
Meine Damen und Herren, ich denke, es gibt gangbare
Wege, so etwas wie Demonstrationen von Nazis am Brandenburger Tor zu verhindern. Darüber muss diskutiert
werden. Eine dementsprechende Klausel wäre möglich.
Wir werden mit Sicherheit dieses auch im nächsten Bundestag wieder problematisieren. Aber die Abschaffung
der Demonstrationsfreiheit ist absolut indiskutabel.
({1})
Zum Schluss -
Nein, Frau Kollegin. Jetzt haben Sie weit überzogen. Ich glaube, das war
ein ganz schöner Schlusssatz.
Okay, danke.
({0})
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Versammlungsgesetzes auf Drucksache 14/4754. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/6625, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
des ganzen Hauses gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bilanzierender Gesamtbericht zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf der
Grundlage des Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 ({0})
und 1373 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 14/8990 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Bundesminister Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem
11. September hat sich die internationale Gemeinschaft
zur Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika in
Übereinstimmung mit einer präzedenzlosen Resolution
des Weltsicherheitsrates und im eigenen Sicherheitsinteresse rasch, konsequent und umfassend dem Kampf gegen
den internationalen Terrorismus gestellt. Die deutsche Beteiligung mit militärischen Kräften an der Operation „Enduring Freedom“ ist Teil dieses Kampfes. Wir wissen dabei - das macht der Bericht der Bundesregierung deutlich -,
dass wir internationale Sicherheit und Frieden dauerhaft
nur gewinnen können, wenn wir auf vielen Ebenen an vielen Orten und langfristig gemeinsam engagiert bleiben.
Deutschland folgt damit dem Gebot der Bündnissolidarität, die über Jahrzehnte hinweg Grundlage unserer Sicherheit war.
Die Gegner des internationalen Kampfes sind klar: Es
ist nicht Afghanistan, es ist nicht der Islam, wohl aber der
internationale Terrorismus und diejenigen, die ihn unterstützen.
Das Übel des internationalen Terrors kann nur dann
bekämpft werden, wenn wir an seinen vielen Wurzeln ansetzen, uns also auf verschiedenen Ebenen - mit politischen und militärischen Mitteln, mit wirtschaftlichen,
kulturellen und sozialen Mitteln, auf den Finanzmärkten,
im internationalen Verkehr, beim illegalen Handel mit
Waffen, Drogen usw. - entsprechend engagieren. Nur
dann werden wir das Ziel erreichen, jenen Einhalt zu gebieten, die das unheilvolle Wirken des Terrorismus mittelbar oder unmittelbar unterstützen.
In diesem politischen Zusammenhang leisten auch
deutsche Soldatinnen und Soldaten einen substanziellen
Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus. Dabei brauchen sie einen internationalen Vergleich nicht scheuen.
({0})
Ihre Leistungsfähigkeit, ihr Verantwortungsbewusstsein
und auch ihr Verständnis davon, dass sie Teil einer umfassenden gemeinsamen internationalen Anstrengung
sind, stehen außer Frage. Dass die Bundeswehr hohe
Anerkennung erfährt, wird unter anderem durch die Übernahme der Führung auf der, wie man das so schön nennt,
taktisch-operativen Ebene in Afghanistan und in Kabul,
aber auch durch die Bitte unserer amerikanischen
Freunde, das Kommando über die maritimen Operationen
am Horn von Afrika zu übernehmen, deutlich.
Die Bundeswehr ist zurzeit an sechs internationalen
Einsätzen beteiligt. Das stellt sie vor eine beispiellose
Herausforderung. Gleichzeitig muss die Bundeswehr
nämlich die umfassende Reform bewältigen, die von dieser Bundesregierung eingeleitet worden ist. Mit dieser
Reform wird die Bundeswehr eine neue Stufe ihrer Leistungsfähigkeit erreichen. Wir werden unsere Streitkräfte
besser in die Lage versetzen, aktuellen wie künftigen Herausforderungen zu begegnen und damit die Sicherheit
unseres Landes gemeinsam mit unseren Verbündeten und
Partnern zu gewährleisten.
Im Übrigen möchte ich darauf aufmerksam machen,
dass wir bei diesem Prozess sehr sorgfältig darauf achten
müssen, dass die Belastung der Menschen in der Bundeswehr in einem erträglichen Umfang bleibt. Deswegen bietet die Reduzierung der Zahl unserer Streitkräfte in Bosnien, im Kosovo und in Mazedonien, die sich aufgrund
der Fortschritte in dieser Region ergibt, nicht etwa Raum
für zusätzliches Engagement, sondern lediglich Raum für
die Entlastung der ohnehin schon stark angespannten
Fähigkeiten der Bundeswehr und der Menschen, die in ihr
und im Interesse unserer Sicherheit ihren Dienst leisten.
Der Bericht zeigt im Übrigen, dass der Kampf gegen
den Terror nicht in Tagen, Wochen oder Monaten zu gewinnen ist. Wir brauchen dafür einen langen Atem. Unbeschadet dessen ist die Bilanz der deutschen Einsätze im
Rahmen von „Enduring Freedom“ positiv. Insbesondere
in Afghanistan haben die militärischen Erfolge und die
entschlossene Strategie der politischen Stabilisierung, die
von der Bundesregierung maßgeblich mitgestaltet worden
ist, eine wirkliche Umkehr der Entwicklungen bewirkt.
Der Bundeskanzler hat heute Morgen bereits darauf hingewiesen: Die Bildung der Übergangsregierung in Kabul,
der zügige Beginn des Wiederaufbaus, die Möglichkeit
insbesondere junger Frauen und Mädchen, wieder an der
Bildung im Lande teilzunehmen, und vieles andere schaffen diesem geschundenen Land wichtige Voraussetzungen auf dem Weg zur Normalisierung.
({1})
Im Übrigen ist es gelungen, dem Terrorismus Afghanistan als sicheres Rückzugsgebiet, als Ausbildungsraum
und als Operationsbasis zu entziehen. Damit ist aber noch
lange nicht die Befriedung dieses Landes erreicht, auch
nicht die Befreiung vom Terrorismus. Denn trotz der umfassenden militärischen Niederlage der Taliban und trotz
der vergleichsweise friedlichen Bilder aus Kabul gibt es
immer noch marodierende Banden, gibt es immer noch
Überfälle und gibt es immer noch hartnäckig verteidigte
Widerstandsnester von Taliban und untergetauchten
Kämpfern der al-Qaida.
Deshalb kommt der Loya Jirga, der großen Ratsversammlung, so enorme Bedeutung zu. Deshalb trägt
Deutschland mit dazu bei, die Übergangsregierung Karzai
auch bei der Vorbereitung und Durchführung dieses
großen Rates zu unterstützen. Deshalb trägt unser Land
politisch und wirtschaftlich zum Fortschritt Afghanistans
bei. Deshalb beteiligt sich Deutschland auch an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kabul und seiner Umgebung und nicht zuletzt deshalb beteiligen wir uns
dauerhaft und zuverlässig - auch mit militärischen Möglichkeiten - auf der Grundlage der Entscheidung der Vereinten Nationen und an der Seite der USA am Kampf gegen den Terror.
({2})
Dieses Engagement geht weit über Afghanistan hinaus.
Wir selbst haben schrecklicherweise am 11. April auf
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Djerba erfahren, dass die weltweite Bedrohung real ist.
Die Bundeswehr wird deshalb mit ihren See- und Seeluftstreitkräften am Horn von Afrika, mit ihren Lufttransport- und Sanitätskräften, mit ihren ABC-Abwehrkräften
und ihren Spezialkräften weiterhin zum Kampf gegen den
internationalen Terrorismus beitragen.
Wir sollten dabei allerdings nie vergessen, dass die
Streitkräfte - unsere und auch die der anderen Länder völlig überfordert wären, wenn man diesen Streitkräften
zumuten wollte, allein des Terrorismus Herr zu werden.
Wir sind daher mit dem umfassenden Herangehen - auch
das macht der Bericht deutlich - auf dem richtigen Weg.
Wir haben auf nationaler Ebene ein Paket von Sofortmaßnahmen geschnürt, das die innere und äußere Sicherheit stärkt und die finanziellen Voraussetzungen
schafft. Auf europäischer Ebene wurde ein umfassender
Aktionsplan zur Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet, der im Wesentlichen auf eine deutsche Initiative
zurückgeht. Wir haben in der NATO seit der Erklärung
des Bündnisfalls am 4. Oktober des vergangenen Jahres
ebenfalls ein umfangreiches Bündel ziviler und militärischer Maßnahmen geschnürt und verwirklichen diese
Maßnahmen jetzt.
Schließlich hat vor allen Dingen der Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen mit der schon angesprochenen
grundlegenden Weiterentwicklung des Völkerrechts den
Rahmen für den Kampf gegen den Terrorismus abgesteckt. Im Übrigen sind die Staaten dabei, ihre Berichte
den Vereinten Nationen zur Verfügung zu stellen.
Ich will abschließend unterstreichen, dass der Kampf
gegen den Terror zu gewinnen ist. Er erfordert aber eine
lang andauernde, zum Teil schwierige und risikoreiche
Auseinandersetzung und den Einsatz aller Kräfte, auch
militärischer Kräfte, auf vielen Ebenen. Unser Ziel, Frieden und Freiheit zu verteidigen und eine Weltordnung
zu erreichen, die auf der Herrschaft des Rechts, der Demokratie und der Menschenrechte gründet, lässt uns
keine andere Wahl. Das macht der Bericht ebenfalls
deutlich.
Ich bitte sehr darum, dass wir bei allen Entscheidungen, die in den nächsten Wochen, auch über die Verlängerung des einen oder anderen Engagements, anstehen,
diese Perspektiven im Auge behalten; denn Deutschland
ist Teil der internationalen Gemeinschaft, die für Frieden,
Freiheit und globale Stabilität eintritt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Karl-Heinz Hornhues.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich drei Anmerkungen zu dem Bericht machen, um den es heute geht.
Der erste Bericht, der uns über das, was am 11. September begann, und über unsere Reaktion vorliegt, wird von
mir insoweit in einem Punkt nachdrücklich begrüßt, als er
an zwei Stellen die besondere Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika deutlich macht.
Er macht auch deutlich - insoweit stimme ich dem Bericht völlig zu -, dass es sich nicht um irgendeine Art von
Gefolgschaftstreue oder Dankesschuld - natürlich empfinden wir auch sie - handelt, sondern dass es hier um das
gemeinsame Handeln mit einem Verbündeten geht, der
uns, bisher jedenfalls, nicht im Stich gelassen hat. Ich unterstreiche das: Wir sind mit einem Verbündeten solidarisch. Wir wissen nicht, ob wir seine Solidarität nicht morgen in besonderer Weise brauchen werden.
({0})
Wir werden die Diskussion in diesem Land vermutlich
in der nächsten Woche verschärft führen.
({1})
- Ach, Herr Fischer, ich freue mich nicht darauf, mit tut
nur manches Leid. Es tut mir Leid, wenn ich sehe, dass
man vergisst, dass unter den Toten in New York auch
Deutsche waren und unser Land teilweise Ausgangspunkt
für die Attentate in New York gewesen ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
wenn man bemerkt - Herr Minister, damit wir uns nicht
missverstehen, ich werfe das nicht Ihnen, sondern manchen anderen hier vor -, dass deutsche Touristen längst
Ziele und Opfer des internationalen Terrorismus sind man sollte die Bundesanwaltschaft vielleicht einmal befragen, was sie alles weiß und zu sagen hat -, dann wird
deutlich, dass es zum einen um Solidarität geht, aber zum
anderen auch um uns selber, unser Land, unsere Bürger
und unsere Wertvorstellungen, für die es einzutreten gilt.
Sie werden es mir sicherlich nicht verübeln - das hoffe
ich jedenfalls -, dass ich in diesem Zusammenhang das,
was sich in der nächsten Woche in dieser Stadt zusammenbrauen wird, kurz anspreche. Was sich im Vorfeld des
Besuchs des US-Präsidenten abgespielt hat und vielleicht noch abspielen wird - das befürchte ich jedenfalls -, ist nicht das, was ich mir als Politiker dieses Landes für dieses Land wünsche.
({2})
Eine vom Koalitionär PDS geführte und von Teilen der
Grünen, etlichen Jusos und anderen angereicherte Demonstration wird erwartet. Am Ende - das ist genauso zu
erwarten - wird es zu einem Rennen gegen die Polizisten
des Koalitionärs SPD, die das zu verantworten hat, kommen.
({3})
Sie hat das, was sich dann hier ereignet - dies meine ich
politisch -, zu verantworten. Auf die verfassungsrechtlichen Themen, die eben diskutiert wurden, will ich nicht
eingehen. Das ist nur mein Vorwurf an die Sozialdemokraten.
Ich verstehe viele derjenigen, die der SPD in Berlin angehören und die zutiefst bedrückt sind, unter Umständen
erleben zu müssen, wie Herr Gysi einerseits bei der Demo
vorneweg marschiert
({4})
und andererseits anschließend bei der Eintragung ins
Goldene Buch dabei ist, also beide Events mitmacht, weil
hinreichend viele Kameras vorhanden sind.
({5})
Herr Außenminister, ich bedanke mich bei Ihnen dafür,
dass Sie dem Regierenden Bürgermeister dieser Stadt deutlich gemacht haben, dass es für einen Berliner Regierenden
Bürgermeister aus vielerlei Gründen - vor allen Dingen
wegen der Stadt Berlin - selbstverständlich sein muss, einen US-Präsidenten in dieser Stadt angemessen willkommen zu heißen. Dafür, dass Sie dies hinreichend deutlich
gemacht haben, danke ich Ihnen. Wenn ab und zu etwas geschieht, was einem gefällt, sollte man sich auch bedanken.
({6})
Im Bericht wurde vieles angesprochen, was sich in Afghanistan positiv entwickelt hat. Wer sich die Szenarien
in Erinnerung ruft, die bei der Entscheidung, die wir vor
einem halben Jahr zu treffen hatten, durchs Land geisterten, wird viele Korrekturen an seinen eigenen Vorurteilen
vornehmen müssen. Vieles ist besser gelaufen, als wir es
erwarten durften und erhoffen konnten. Ich will die Zeit
nicht verstreichen lassen, ohne all denen deutlich zu danken, die dort unter verschiedensten Aspekten militärisches und ziviles Engagement zeigen und somit auch für
Deutschland einen gewichtigen und gewaltigen Beitrag
leisten. Ihnen gilt mein herzlicher Dank für das, was geschieht.
({7})
Die Wirklichkeit ist aber unverändert. Die Lage ist labil. Zwar wurde vieles erreicht, aber unverändert - so
steht es im Bericht - ist vor allen Dingen das TalibanNetzwerk al-Qaida nicht unter Kontrolle. In Kurzfassung:
Der Kampf muss dementsprechend weitergehen. Dass
dies in dem Bericht deutlich gesagt wird, finde ich richtig
und gut. Ich hoffe, dass all diejenigen, die diese Regierung
tragen, hinreichend davon überzeugt sind, dass das, was
begonnen wurde, auch zu Ende gebracht werden muss.
Mein letzter Punkt im Zusammenhang mit dem Bericht
bezieht sich auf den allerletzten Satz dieses Berichtes. Mit
diesem Satz wird den Soldaten und ihren Familien gedankt. Diesem Dank darf ich mich für meine Fraktion
nachdrücklich anschließen. Ich danke ausdrücklich aber
auch allen Soldaten, die in anderen Gegenden im Einsatz
sind, herzlich für das, was sie leisten und getan haben. Wo
immer man Besuche macht, wird man, egal, wo er oder sie
hinkommt, feststellen, mit welcher Anerkennung und
welchem Respekt von den deutschen Soldaten und ihren
Leistungen gesprochen wird. Ich glaube, diese Soldaten
leisten einen enormen Beitrag zur Lösung der jeweiligen
Probleme. Darüber hinaus fahren sie für unser Land sehr
viele Pluspunkte ein.
({8})
Wir sollten allerdings niemals vergessen, dass bei allen
Einsätzen der Soldaten immer wieder sorgfältig überlegt
werden muss, ob der Einsatz als Ultima Ratio wirklich
verlangt werden muss. Bei all diesen Einsätzen können
die Soldaten letztlich nur die Voraussetzung dafür schaffen, dass die Lösung politischer Probleme auf einer beruhigten Basis politisch erreicht werden kann.
Deshalb macht es mich nervös und unruhig, dass die
Soldaten in manchen Einsatzfeldern bereits seit Jahren
sind. Wenn ich an meinen letzten Besuch in Sarajevo
denke, überkommt mich tiefe Sorge, dass mir mehr oder
weniger unwidersprochen die These begegnet: In 15 oder
20 Jahren werden wir wohl auch noch hier sein, weil es
bis dahin keine Lösung geben wird. Ich gestehe, dass dies
wahr sein mag. Aber ich kann damit nicht leben.
Wir wissen nicht, wann das nächste Problem auf uns
zueilt. Dass heute in Afghanistan deutsche Soldaten stationiert sind, hätte sich vor zwölf Monaten niemand in
diesem Hause träumen lassen. Irgendwann wird wieder
die Frage anstehen, dass wir irgendwo eingreifen müssen,
obwohl wir dafür noch Zeit bräuchten. Aber mancherorts
richtet man sich darauf ein, mit uns zu spielen. Das ist gerade in Bezug auf den Balkan meine Sorge. Es kann sein,
dass wir - ich sage pauschal „wir“ und meine damit
einschließlich der internationalen Organisationen alle
dort Anwesenden - zum beliebten Spielball der Interessen
vor Ort werden, dass man uns benützt und ausnutzt.
Von daher ist es meine dringende Bitte, dass das, was
an politischer Initiative möglich ist und verstärkt werden
kann, auch tatsächlich verstärkt wird. Ich habe volles Verständnis für einen Minister, der von immer neuen Themen
und neuen Krisen überfallen wird, die er sich sicherlich
nicht wünscht. Wenn die Scheinwerfer ein bestimmtes
Krisenszenario nicht mehr beleuchten, dann bleibt am
Ende nur noch das Verwalten übrig. Wenn dann ein Minister mehr Personal fordert, um besser agieren zu können,
hat er auf jeden Fall meine Unterstützung, auch wenn das
noch so viele Finanzminister anders sehen.
Wir müssen also die Ressourcen schärfer ins Auge
nehmen, um sie dort zur Verfügung zu stellen, wo sie gebraucht werden, damit eine politisch dauerhafte friedliche
Lösung schneller als bisher erreicht werden kann. Ich
möchte möglichst bald den Tag erleben, an dem die Bundeswehr aus einem der genannten Einsatzfelder wegen
völligen Erfolgs abgezogen werden kann. Denn das bedrückt mich an dem Bericht am meisten: Ein Ende ist beileibe noch nicht abzusehen, so wie das auch in anderen
Feldern der Fall ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe ein
Problem. Ich muss jetzt ein paar Worte finden, um Ihnen
Auf Wiedersehen zu sagen. Es ist das letzte Mal, dass ich
hier stehe. Ich gebe zu, dass dies ein komisches Gefühl ist.
Ich habe immer gern vorne gestanden, aber besonders
gern hier in Berlin. Es war mein Wunsch, dabei zu sein,
wenn wir in dieser Stadt sind.
Wenn ich morgens aus meiner Wohnung Unter den
Linden 39 in den Reichstag herübergehe, der der Sitz des
Bundestages ist, dann überkommt mich die Erinnerung
daran, wie es war, als ich 1972 in Bonn Abgeordneter
wurde. Damals setzte ich mich schüchtern und vorsichtig
auf den Platz der Großen, die nicht anwesend waren. Ich
erkundigte mich, wo Adenauer früher gesessen hatte, um
durch Aufsitzen einmal seinen Geist zu atmen.
({9})
Ich erinnere mich an so manches, was ich mir damals
vorgestellt habe. Aber an eines erinnere ich mich nicht.
Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern,
mir vorgestellt zu haben, dass ich am Ende meiner
30 Jahre als Abgeordneter nach der deutschen Einheit in
diesem Parlament in Berlin sein würde. Ich habe mir allerdings auch nicht vorstellen können, dass mein letztes
Thema die deutschen Soldaten in Afghanistan und anderswo sein würde. Beides sind Dimensionen, die meine
Fantasie damals bei weitem überschritten, die aber auch
deutlich machen, dass wir einen guten Weg zurückgelegt
haben.
Dass ich hier in Berlin vor diesem Parlament der deutschen Einheit stehe, ist für mich persönlich eine Glücksstunde. Ich glaube aber, dass es auch eine Glücksstunde
für dieses Land ist, weil wir all dies haben schaffen können. Alle, die daran mitgewirkt haben, werden wohl so
empfinden. Wie jedermann weiß, haben daran viele mitgewirkt.
Dass ich daran mitwirken durfte, dafür danke ich erstens
natürlich meinen Wählern, zweitens meiner Fraktion und
drittens - manchmal hat es mit Ihnen Spaß gemacht - auch
Ihnen. Ich danke dafür, dass wir all die Jahre haben zusammen streiten und zusammen verbringen können.
({10})
Ich glaube, dass es in letzter Bewertung für unser Land
glanzvolle Jahre waren, weil es die längste Periode von
Frieden, Freiheit und Demokratie war, die Deutschland
meiner Einschätzung nach je erlebt hat. Wir können alle
darauf stolz sein, daran mitgewirkt zu haben. Ich jedenfalls bin es.
Ich bedanke mich bei den Stenografen, die aus meinen
Reden am Ende lesbare Texte gemacht haben. Ich bedanke mich bei meinen Mitarbeitern. Ich bedanke mich
bei allen Beamten der Ministerien, die mich ertragen und
erduldet haben und mir auch im Ausland geholfen haben.
Ich bedanke mich aber vor allen Dingen bei Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, für klasse Jahre für Deutschland.
Danke.
({11})
Lieber Herr
Kollege Hornhues, wenn dieses wirklich Ihre letzte Rede
war, kann ich Ihnen sicherlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen versichern, dass auch uns ein eigenartig wehmütiges Gefühl überkommt. Wenn jemand wirklich 30 Jahre Parlamentarier war, so muss man sagen: Im
normalen Leben entspricht das einer Generation, bei Parlamentariern aber sind 30 Jahre mindestens drei Generationen.
({0})
Wir erinnern uns an die Verantwortung, die Sie - das
möchte ich persönlich unterstreichen - immer im Interesse des Parlaments, insbesondere als Vorsitzender des
Auswärtigen Ausschusses und in vielen internationalen
Gremien wahrgenommen haben. Wir haben großen Respekt vor Ihrer Arbeit. Ich meine, dass es zu Ihrer gesamten Arbeit passt, dass Sie in Ihrer letzten Rede zu einem
so wichtigen und schwierigen Thema gesprochen haben.
Vielen Dank dafür.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.
({2})
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich zuerst einmal bei der Bundesregierung ausdrücklich dafür bedanken, dass sie, wie zugesagt, diese
Debatte ermöglicht. Wir müssen natürlich nicht nur in die
Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft blicken.
Ich kann sicherlich stellvertretend für alle feststellen,
dass die Anschläge vom 11. September unsere Wahrnehmung von Sicherheit verändert haben. Zwar war der internationale Terrorismus keine neue Erscheinung, aber die
hässliche Fratze, mit der er seitdem immer wieder unsere
Aufmerksamkeit erregt, hat uns nicht nur betroffen gemacht, sondern auch in großer Einigkeit dazu veranlasst,
einhellig bestimmte politische Maßnahmen zu verabschieden.
Die Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen von
„Enduring Freedom“ zeigt: Die Bedrohung kann nicht nur
militärisch beantwortet werden. Meine Fraktion hat im
Dezember ein integriertes Konzept dazu vorgelegt. Darin
spielen kurz- und langfristige Maßnahmen eine Rolle. Sicherheitspolitik muss heutzutage auch entwicklungspolitische, demokratiepolitische, ökologische, menschenrechtliche und wohlstandsfördernde Aspekte mit
einbeziehen.
Der Bericht weist darauf hin - ich möchte das noch einmal erwähnen -, dass gerade unter unserer Verantwortung, auch wenn wir militärisch agieren mussten, das politische Grundkonzept immer wieder neu überdacht und
entwickelt wurde, um für eine friedliche Zukunft in den
Regionen zu sorgen. Ich möchte insbesondere auf den
Aufbau der Polizei in Afghanistan oder die Beteiligung an
ISAF hinweisen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die schwierigen
Herausforderungen sind für unsere Soldaten eine besondere Belastung. Die aktuellen Einsätze auf dem Balkan,
im Rahmen von ISAF und „Enduring Freedom“ erfordern
nach unserer Überzeugung auch die Anpassung unserer
sicherheitspolitischen Instrumente an die aktuellen Bedingungen. Das heißt, wir müssen uns der Frage stellen,
welche Folgerungen daraus für die Weiterentwicklung der
Bundeswehr, für die Bundeswehrreform zu ziehen sind.
Das Grundgesetz bestimmt aus gutem Grunde und zu
Recht: Die Bundeswehr darf nicht für Aufgaben im Inneren eingesetzt werden. - So soll es auch bleiben. Aber
wir müssen uns fragen: Welche neuen Anforderungen
kommen auf die Soldaten zu? Welches Material wird
benötigt? Welche Modernisierungsschritte sind notwendig und welche Qualifikation brauchen unsere Soldaten,
damit sie für derartige Einsätze befähigt sind?
Wir sehen, dass die Bundeswehr hervorragende Arbeit
leistet und auch ich möchte hierfür im Namen meiner
Fraktion ausdrücklich danken.
({0})
Wir sehen aber auch, dass die Belastbarkeitsgrenze deutlich erreicht ist. Das wird sich nicht dadurch korrigieren
lassen, dass wir die Truppen auf dem Balkan marginal reduzieren. Vielmehr müssen wir uns den Aufgaben stellen.
Die nationalen Strukturen aller Partner in der EU und in
der NATO müssen endlich in Einklang gebracht werden.
Es ist höchste Zeit, Überflüssiges einzusparen, Doppelungen zu vermeiden und multinationales Agieren wie
auch eine effiziente Modernisierung in den Vordergrund
zu stellen.
Ich möchte noch zwei Punkte ansprechen, die mir sehr
am Herzen liegen. In den kommenden Monaten, ab Anfang Juli, wird das Parlament in die Sommerferien geschickt und wir werden Wahlkampf betreiben. Trotzdem
werden - darin bin ich mir sicher - die Einsätze der Bundeswehr weitergehen; denn wir werden vorher in großer
Einigkeit alle Mandate der Bundeswehr verlängern. Ich
bitte die Bundesregierung gerade in der Zeit, in der keine
parlamentarischen Sitzungswochen festgesetzt sind, um
ein Höchstmaß an Transparenz, wenn es um weitere
Entscheidungen geht. Wir sind gewillt, unsere politische
Verantwortung bis zum 22. September wahrzunehmen
und uns nicht nur auf den eigenen Wahlkampf zu konzentrieren.
({1})
Ich verbinde mit der aktuellen Situation eine zweite
Sorge. Der notwendige Kampf, auch der militärische, gegen al-Qaida und den internationalen Terrorismus darf
keinerlei Automatismus unterliegen. Solidarität mit den
Vereinigten Staaten darf aus meiner Sicht nicht unkritisch
sein. Ich verurteile - das sage ich ausdrücklich, Herr Kollege Hornhues - jede Form von Gewalt. Aber demokratischer Protest oder diplomatische Kritik sind Bestandteil
von Solidarität. Ich sage das, weil ich der Überzeugung bin,
dass die von dem amerikanischen Verbündeten kreierte
„Achse des Bösen“ oder die Hinweise auf Angriffe auf den
Irak nicht Bestandteil unserer Solidarität sein können.
({2})
Ich sage das auch vor dem Hintergrund des Kampfes
gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen.
Die Gefahr, die durch die Proliferation entsteht - das
möchte ich gar nicht vereinfachen -, nimmt zu. Aber wir
wissen aufgrund der bisherigen Erfahrungen, dass nur
eine Stärkung der Abrüstungsbemühungen und der Rüstungskontrolle unter Verantwortung der Vereinten Nationen, die wir stärken müssen, Abhilfe schaffen kann und
dass Militärschläge gegen den Irak gerade im Hinblick
auf die Situation im Nahen Osten politisch unverantwortlich wären. Deswegen möchten wir weiterhin Kofi Annan
und die Inspektoren der Vereinten Nationen in ihren
Bemühungen um uneingeschränkten Zutritt zum Irak unterstützen, um so gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen im Irak erfolgreich zu arbeiten.
Ich wünsche mir, dass Europa auch in diesem Bereich
eine gemeinsame Stimme findet; denn diese gemeinsame
Stimme ist ein Garant für die Vertiefung der guten transatlantischen Beziehungen und verringert die Gefahr des
Unilateralismus des amerikanischen Verbündeten, eines
Verbündeten, der uns zumindest mit großer Sorge auf die
aktuelle und zukünftige Entwicklung blicken lässt.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Angehörigen der Bundeswehr erbringen im Einsatz zur Bekämpfung des internationalen Terrors großartige Leistungen. Unsere Soldatinnen und Soldaten tragen dazu bei, dass das zarte
Pflänzlein der Freiheit gesichert wird. Sie haben sich einen enormen Vertrauensbonus in der Bevölkerung erarbeitet. Die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten
sind es, die das Ansehen Deutschlands im Ausland mehren. Durch die dauerhafte und geschätzte Präsenz deutscher Truppen in den Einsatzgebieten haben sie
Deutschlands Außenpolitik zu einem deutlichen Gewinn
an Glaubwürdigkeit verholfen.
({0})
Es sind die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten,
die der deutschen Politik und Diplomatie neue Gestaltungsspielräume und Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen und sichern. Auch ich möchte die Gelegenheit nutzen,
den Angehörigen der Bundeswehr für ihren hervorragenden Einsatz zu danken. Ich sichere ihnen die Anerkennung
und Wertschätzung der FDP-Bundestagsfraktion zu.
({1})
Das größte Kapital unserer Streitkräfte sind gut ausgebildete und gut motivierte Soldaten. Dieses Kapital gilt es
zu pflegen, wollen wir weiterhin eine so positive Resonanz bei den Partnern, den Verbündeten und der Bevölkerung in den Einsatzgebieten erfahren. Offensichtlich hat
die Bundesregierung diesen fundamentalen Zusammenhang nicht erkannt. Anders kann ich es mir nicht erklären,
dass sich diese Bundesregierung entgegen allen Expertenaussagen weiterhin weigert, die Stehzeiten unserer
Soldatinnen und Soldaten im Ausland endlich auf vier
Monate zu begrenzen.
({2})
Sechs Monate sind für die Beziehungen und Partnerschaften der Soldatinnen und Soldaten, aber auch für
deren Motivation und Leistungsbereitschaft zu lange. Im
Namen der FDP-Bundestagsfraktion fordere ich die Bundesregierung erneut auf: Reduzieren Sie die Stehzeiten
auf vier Monate und schaffen Sie auf diesem Gebiet endlich mehr Flexibilität!
({3})
Meine Damen und Herren, trotz gegenteiliger Versprechungen hat es die Bundesregierung nicht vermocht, die
Problematik der Mehrfacheinsätze einzelner Soldaten in
den Griff zu bekommen. Für unzählige Spezialisten zum
Beispiel bei den Pionieren, im Sanitätsdienst, bei der Marine
und in einsatzwichtigen Stäben ist der zugesicherte Mindestabstand von zwei Jahren zwischen den Einsätzen eine
reine Farce. Damit motiviert man seine besten Leute nicht.
Auslandseinsätze stellen personell und materiell eine
hohe Herausforderung dar. Gerade die Erfahrungen auf
dem Balkan zeigen, dass die Verpflichtungen deutscher
Streitkräfte in der Regel länger als zunächst geplant dauern. Daher ist es aus Sicht der FDP schon ein Stück aus
dem Tollhaus, wenn die Bundesregierung jetzt heimlich,
still und leise die Auslandsverwendungszuschläge kürzt.
Glauben Sie von der Regierung eigentlich allen Ernstes,
so die Bereitschaft der Soldaten zu erhöhen, an einem anstrengenden und nicht ungefährlichen Auslandseinsatz
teilzunehmen? Im Namen der FDP-Bundestagsfraktion
fordere ich Sie auf: Lassen Sie die Finger von einer Reduzierung der Auslandsverwendungszuschläge!
({4})
Meine Damen und Herren, es ist unerträglich, dass es
bei der Bundeswehr für die gleiche Leistung in ein und
derselben Einheit immer noch unterschiedliche Besoldungen gibt. Wo sind die konkreten Schritte, die den
schönen Worten des Bundeskanzlers von Magdeburg Taten folgen lassen, als die Anhebung der Ostlöhne auf
Westniveau versprochen wurde?
({5})
- Herr Kollege Zumkley, warum hat Rot-Grün entsprechende Anträge der FDP-Bundestagsfraktion abgelehnt?
Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit dieser Bilanz danken wir den Angehörigen der Bundeswehr
für ihren geleisteten Dienst und bitten sie darum, weiterhin so bedeutende Repräsentanten unseres Landes zu sein.
Die FDP wird die Angehörigen der Bundeswehr bei ihren
berechtigten Forderungen nach guten Arbeitsbedingungen, nach gerechter Bezahlung und moderner Ausrüstung
immer unterstützen.
({6})
Angesichts dieser Bilanz muss allerdings dieser Bundesregierung eine Entlastung verweigert werden. Die Bilanz
für die Bundesregierung ist schlecht. Ich appelliere deshalb an Sie: Versetzen Sie unsere Streitkräfte endlich in
die Lage, auf Dauer so schwierige Auslandseinsätze bewerkstelligen zu können! Dies verlangt mehr als Lippenbekenntnisse. Kommen Sie endlich Ihrem gestalterischen
Auftrag nach!
({7})
Lieber „Charly“ Hornhues, im Namen der FDP-Bundestagsfraktion bedanke ich mich für die gute Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten. Wir finden es
schade, dass du in der nächsten Legislaturperiode nicht
mehr dem Bundestag angehören wirst. Du wirst uns fehlen.
({8})
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung ist nicht viel wert. Das ist noch eine höfliche Umschreibung; man könnte auch sagen, dass er nichts taugt:
viele Worte, wenig Inhalt, keine Information. Das Parlament hat mehr zu erwarten. Vernünftig wäre es, jetzt eine
Bilanz zu ziehen. Mangels einer geeigneten Vorlage der
Bundesregierung müssen wir gemeinsam etwas genauer
hinschauen.
Nach zehn Monaten muss man feststellen, dass die
großen Konfliktherde dieser Welt, der Nahostkonflikt, der
Kaschmirkonflikt und die Krisen im kaspisch-kaukasischen Raum, nicht gedämpft und entspannt worden
sind, sondern explosiven Charakter angenommen haben.
({0})
In diesem Zusammenhang sage ich ganz deutlich, liebe
Kolleginnen und Kollegen: Das Parlament muss aufpassen, dass wir nicht in einen Krieg gegen den Irak hineingezogen werden, der den ganzen Nahen Osten in Brand
setzen würde. Die Äußerungen der Bundesregierung
hierzu sind zweideutig. Jeder, der das wollte, konnte sehen, dass Hochrüstung kein Mittel gegen Terror sein kann,
aber die Rüstung wurde in gigantische Höhen getrieben.
Die USA geben jetzt jährlich 415 Milliarden US-Dollar
für die Rüstung aus. Neue, schreckliche Waffen werden
erforscht und erprobt; die Schwelle zu einem Einsatz von
Atomwaffen soll gesenkt werden.
Ich sage: Rüstung tötet bereits im Frieden, weil Mittel
vernichtet werden, die nötig wären, um Armut, Krankheit
und Unterentwicklung zu bekämpfen.
({1})
Selbst der Außenminister hat heute Vormittag die Abrüstung wieder entdeckt - ganz neue Züge im Wahlkampf.
({2})
Die Partnerschaft und die Bereitschaft zum sozialen
Ausgleich sind nicht gewachsen. Vielmehr bewegen sich
die USA in der Welt, als ob sie alles, alles allein und alles
in ihrem Interesse entscheiden könnten. Das kann im
Sinne des Weltzustandes nicht vernünftig sein.
({3})
Zur Bilanz gehört auch, dass die Zusammenarbeit in
Europa nicht besser, sondern schwieriger geworden ist.
Auch das wird keiner leugnen können.
All das ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer Politik,
in der das Militärische eben doch über das Zivile dominiert, wie Sie schon aus dem Missverhältnis zwischen den
Ausgaben für Rüstung einerseits und für die Entwicklung
andererseits erkennen können. Das bestätigt die Auffassung meiner Fraktion, dass der Kampf gegen den Terrorismus gewonnen werden kann, sofern ein anderer Weg
gegangen wird, dass aber Kriege gegen Terrorismus in
dieser Art und Weise nicht gewonnen werden können.
({4})
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen, dass ich
es nicht nur verstehe, sondern aktiv unterstütze, dass
Menschen in unserem Lande dies dem amerikanischen
Präsidenten Bush auch in Form einer Demonstration sagen wollen.
({5})
Ich unterstütze es aktiv, friedlich und gewaltfrei zu demonstrieren; das muss eine Selbstverständlichkeit sein.
Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, mich an die
Kolleginnen und Kollegen und an die Menschen in Berlin
zu wenden, die demonstrieren: Wer gegen Gewalt demonstriert, muss selbst gewaltfrei vorgehen, wenn er Erfolg haben will. Auch das ist für uns wichtig.
({6})
Ich möchte nicht, dass Herr Kollege Uhl hier noch
nachträglich triumphieren kann.
({7})
Ich fasse zusammen: Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie im NATO-Rat die Aufhebung des Bündnisfalls nach Art. 5 beantragt. Dies ist aus politischer und verfassungsrechtlicher Sicht geboten. Ich erwarte, dass die
deutschen Truppen rasch zurückgeholt werden. Lassen
Sie mich hinzufügen: Ich fordere, dass im Bundestag
keine neuen Kriegseinsätze beschlossen werden.
({8})
Das, was in Afghanistan abläuft und was nicht im Bericht steht, ist in Teilen verfassungs- und völkerrechtswidrig. Jeder weiß, dass der Auftrag, Gefangene zu machen und an die USA auszuliefern, verfassungs- und
völkerrechtswidrig ist.
({9})
Wer den eigenen Soldaten einen solchen strafbaren Auftrag gibt, handelt nicht im Interesse der betreffenden Soldatinnen und Soldaten.
({10})
Deutschland muss verbindlich erklären, nicht an einem
neuen Golfkrieg teilzunehmen. Es muss endlich eine andere Richtung in der Politik eingeschlagen werden. Das
sind die Fragen, über die hier debattiert werden müsste.
({11})
Das Wort hat der Bundesaußenminister Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Gehrcke, das war eine ordentliche DKP-Rede. Allerdings
muss ich Ihnen sagen, dass der Kalte Krieg zu Ende ist.
({0})
- Ich weiß gar nicht, warum ihr euch so aufregt. Es ist so.
Sie kennen doch diese Reden von früher: Alles Böse wird
bei den USA angesiedelt. Ansonsten sind es die kriegerischen Absichten der Bundesregierung. Sie werfen alles
durcheinander. Das hat nur nichts mit dem zu tun, worüber wir hier diskutieren.
({1})
Sie müssten im Hinblick auf die Frage, was es bedeutete,
wenn wir die Bundeswehr heute vom Balkan abzögen,
schon konsequent sein. Das hieße nicht nur, die Bundeswehr abzuziehen; vielmehr müssten Sie Entsprechendes
auch von den anderen Partnern verlangen. Glauben Sie,
dass das ein Akt von Friedenspolitik wäre? Würde dies
nicht vielmehr zur Eskalation und zur Gefährdung von
Frieden beitragen?
({2})
Wenn wir heute die ISAF aus Afghanistan abziehen, dann
- das prophezeie ich Ihnen - werden wir wieder dieselbe
Tragödie erleben, die wir in Afghanistan schon mehr als
zwanzig Jahre erlebt haben und für die - auch das wollen
wir nicht vergessen - nicht zuletzt die Invasion der damaligen Sowjetunion und der Roten Armee Auslösefaktor war.
({3})
Da machen es sich manche bei Ihnen doch etwas zu einfach. Solange das sozusagen eine brüderliche Hilfe war,
war das gut; heute aber kritisiert man es.
Ich mache es mir nicht so einfach. Ich sage Ihnen
nochmals: Wenn wir es damit ernst meinen, dass wir eben
nicht zusammengebrochene Strukturen wollen - es ist zuerst die dortige Bevölkerung, die massakriert wird, die auf
furchtbare Art und Weise malträtiert wird und die ihrer
Zukunft beraubt wird -, dann müssen wir uns dort engagieren. Ein Engagement unter solchen Bedingungen - das
zeigen übrigens auch die Erfahrungen in Afrika - ist ohne
eine Sicherheitskomponente nicht möglich. Das hat
nichts mit hegemonialer, national ausgreifender Weltpolitik zu tun.
({4})
- Nein, überhaupt nicht. Das ist das, was Kofi Annan an
diesem Pult genauso gesagt hat. Es geht darum, Sicherheit
zu schaffen, um dort den Wiederaufbau staatlicher und eines Tages vielleicht auch demokratischer Strukturen zu
ermöglichen und den Menschen eine Perspektive zu geben.
({5})
Genau das ist das Ziel, für das unsere Soldaten, die Diplomaten, aber auch die NGOs eingesetzt werden. Wir
wissen doch, dass es in Afghanistan wie auch auf dem
Balkan nicht um eine auf das Militärische verengte Politik geht. Schauen Sie sich doch etwa in Prizren an, wie die
zivile Seite mit der Bundeswehr aufs Engste zusammenarbeitet, wie auch die NGOs in die gemeinsame Arbeit integriert sind! Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen,
Herr Kollege Gehrcke, nur eines empfehlen: Rüsten Sie
endlich ab! Der Kalte Krieg - das ist der entscheidende
Punkt - ist zu Ende.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hinzufügen: Wir sind sehr besorgt, was die Entwicklung betrifft,
allerdings nicht direkt in Afghanistan; dort sind wir auf einem guten Weg. Der Kampf gegen den Terrorismus ist
mitnichten gewonnen. Niemand von uns kann weitere
schlimme Ereignisse ausschließen. Das internationale
Umfeld, das von verschiedenen Rednern angesprochen
worden ist, gibt ebenfalls Anlass zur Sorge. Die Nachrichten, die wir aus Pakistan erhalten, sind alles andere
als beruhigend. Dort sind französische Staatsbürger einem
mörderischen Terroranschlag zum Opfer gefallen. Aber
auch in Kaschmir hat ein furchtbarer Terroranschlag unschuldige Menschen getroffen. Die Angst, die in der Region davor herrscht, dass so genannte grenzüberschreitende Terroraktivitäten zu einer Eskalation mit
dramatischen Konsequenzen führen können, ist nicht von
der Hand zu weisen. Deswegen möchte ich hier an beide
Seiten appellieren, das Äußerste zu tun, um im KaschmirKonflikt die Gewalt zu reduzieren oder gar zum Stillstand
zu bringen und gleichzeitig eine politische Perspektive
zur Lösung dieses tragischen Konflikts zu eröffnen.
({7})
Dasselbe gilt für den Nahen und Mittleren Osten. Ich
möchte dies an dieser Stelle nicht weiter vertiefen, sondern nur sagen: Es war von entscheidender Bedeutung,
dass die USA mit Colin Powell wieder die Initiative ergriffen haben. Ich habe in der vorangegangenen Debatte
gesagt: Entgegen der veröffentlichten Meinung halte ich
das nicht für eine gescheiterte Reise. - Wir stellen jetzt
fest, dass die Politik wieder eine Chance hat. Wir müssen
alles tun, um dem Terror das Gesetz des Handelns zu entwinden und zwischen Israelis und Palästinensern einen
Kompromiss herbeizuführen, der auf der Grundlage
„zwei Staaten - ein Frieden“ gelingen kann und meines
Erachtens mit Unterstützung der Staatengemeinschaft
auch gelingen muss.
Was wir allerdings nicht akzeptieren können und dürfen, ist, die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus für
beendet zu erklären, obwohl sie noch nicht beendet ist;
denn das wäre ein Risiko, das wir allen Ernstes nicht eingehen können und dürfen. Unsere Bürgerinnen und Bürger sind auf Djerba bereits Opfer eines Terroranschlags
geworden. Wir sind darauf angewiesen, dass die internationale Staatengemeinschaft zusammensteht. Das wollen
wir und werden wir auch in Zukunft tun; denn dieser
neuen totalitären Herausforderung - sie werden sich nicht
scheuen, alle Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen in die
Hände fallen - müssen wir entschlossen entgegentreten.
({8})
Genauso entschlossen müssen wir sagen, dass die Terrorursachen nicht ausreichend bekämpft werden, wenn
wir nur militärisch handeln.
In der Tat ist es so - diese Debatte haben wir heute
Morgen geführt -: Wir müssen mehr Gerechtigkeit
schaffen. Wir müssen auch dort, wo es aufgrund der unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Perspektiven
gibt, auf den Dialog der Kulturen setzen. Wir müssen Lebensperspektiven und Lebenschancen für eine größere
Zahl von Menschen in der Welt des 21. Jahrhunderts
schaffen. Dazu gehört auch und gerade das vielfältige Engagement Europas und der Bundesrepublik Deutschland.
Die Entschuldungsinitiative, die wir angestoßen haben,
ist hier ein ganz wichtiger Beitrag.
({9})
Der Bundeskanzler hat jüngst im Kabinett auf sehr beeindruckende Art und Weise von seiner Reise nach
Afghanistan berichtet. Er hat eine Einschätzung der Situation - das gilt nur für Kabul; im Lande außerhalb der
Hauptstadt und der großen Städte ist die Lage noch viel
dramatischer - gegeben. Das Land hat einen über 20 Jahre
andauernden Bürgerkrieg, eine Invasion und Zerstörungen unbekannten Ausmaßes über sich ergehen lassen
müssen. Dank des Petersberg-Abkommens, dank des Einsatzes unserer Soldaten und der Soldaten anderer Verbündeter und dank des politischen Prozesses - wir stehen jetzt
unmittelbar vor der Loya Jirga; das heißt vor einer neuen
Stufe der Umsetzung des Petersberg-Abkommens - hat
Afghanistan eine echte Chance.
({10})
Unsere Soldaten haben dafür einen, wie ich finde,
enorm wichtigen Beitrag geleistet. Sie haben persönlich
sehr viel riskiert und riskieren weiterhin persönlich sehr
viel. Dafür gebührt ihnen unserer Dank, unsere Unterstützung und unsere Solidarität.
({11})
Herr Kollege Hornhues, ich möchte nicht schließen,
ohne mich bei Ihnen für die vergangenen vier Jahre zu bedanken. Sie hätten sich sicherlich nicht träumen lassen,
dass es die deutsche Wiedervereinigung geben und dass
der Bundestag in Berlin im Reichstag seinen Sitz haben
wird. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Wiedervereinigung und Ende des Kalten Krieges und der Tatsache, dass wir heute über deutsche Soldaten am Hindukusch diskutieren,
({12})
die dort eine hervorragende Arbeit leisten.
Aber Sie hätten sich sicherlich auch nicht gedacht, dass
Sie es am Ende Ihrer politischen Laufbahn einmal mit einem grünen Außenminister zu tun haben werden. Ich hoffe
allerdings, Herr Kollege Hornhues, dass das nicht der
Grund dafür ist, dass Sie sich jetzt nach 30 Jahren aus dem
Parlament verabschieden. Mir hat die Zusammenarbeit
und vor allen Dingen auch der politische Streit mit Ihnen
sehr viel Spaß gemacht. Ich wünsche Ihnen alles Gute.
({13})
Es spricht der Kollege
Hans Raidel für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Generalinspekteur
Kujat hat zu Recht auf der letzten Kommandeurtagung
festgestellt: Unsere gut ausgebildeten Soldaten sind Garanten der erfolgreichen Einsätze der deutschen Kontingente. Unsere Männer und Frauen lösen ihre Aufgaben
professionell. Sie haben sich in ihrem Können und in ihrer Motivation glänzend bewährt.
Wer wollte dem noch etwas hinzufügen außer dem
Dank, den auch ich im Namen meiner Fraktion noch einmal zum Ausdruck bringen möchte? In diesen Dank
möchte ich insbesondere die Familien einschließen, die
eine ganz besondere Last mitzutragen haben.
Als wir über diese Themen debattiert haben, gab es
viele Zweifler und Kritiker; ich gehörte auch dazu. Aber
ich glaube, dass mittlerweile auch Zweifler und Kritiker
der Überzeugung sind, dass es richtig war und richtig ist,
an diesen Missionen teilzunehmen. Wir können uns den
globalen Sicherheitsaufgaben einfach nicht entziehen.
Ich bin auch der Meinung, dass die Gefahr anderenfalls
viel zu groß wäre, dass Deutschland in eine hintere Position bezüglich unserer Glaubwürdigkeit abrutschen
würde und dass wir europaweit und weltweit Einfluss verlieren würden.
Vorhin ist die Solidarität mit den Vereinigten Staaten
angesprochen worden. Sie ist eingefordert worden. Ich
möchte in diesem Zusammenhang gerne an den Bush-Besuch erinnern. Ich möchte wirklich darum bitten, dass von
allen die notwendige Solidarität gezeigt wird.
({0})
Ich möchte jetzt nicht auf all die Einzelheiten eingehen, die die deutschen Einsätze ausmachen. Ich möchte
etwas völlig anderes sagen, weil wir uns durch die Auslandseinsätze insgesamt den Blick nicht verstellen lassen
sollten. Die Hauptaufgabe der Bundeswehr ist und bleibt
die Landes- und Bündnisverteidigung. Auch das muss
nach meiner Auffassung bei einer solchen Debatte wieder
ganz deutlich als eine wichtige oder als die zweite Säule
herausgestellt werden. Deswegen müssen alle unsere militärpolitischen und militärfachlichen Überlegungen und
Aufgaben sich auch mit diesen Themen so auseinander
setzen, dass wir die Bündnis- und Landesverteidigung
entsprechend bewältigen können.
Derzeit habe ich den Eindruck, dass das nicht in ausreichendem Maße geschieht, sondern dass wir uns zu sehr
auf die Auslandseinsätze fokussieren. Deshalb würde ich
gerne noch einmal darauf hinweisen, dass die NATO für
uns das wichtigste Bündnis ist. Wir müssen dafür sorgen,
dass diese transatlantische Freundschaft und die Gemeinsamkeiten gestärkt werden, dass wir nach wie vor als ein
Brückenpfeiler in dieser transatlantischen Freundschaft
gesehen werden. Ich glaube, dass es kein höheres Interesse für uns gibt, als dieses transatlantische Bündnis auch
weiterhin in den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu
stellen.
({1})
Jeder weiß, dass nur die NATO es verhindert, eine politische Rangordnung zwischen Atommächten und übrigen Staaten in Europa zu schaffen oder zu dulden, und
dass nur die NATO es schafft, den Rückfall in nationale
Sonderwege zu stoppen und damit das Wiederaufkommen
hegemonialer Bestrebungen in Europa endlich ganz wegzudrücken. Ich glaube, dass nur die NATO es ermöglicht,
weiter eine gemeinsame Sicherheitspolitik mit den USA
zu betreiben. Ich glaube auch, dass nur über die NATO
eine Berücksichtigung unserer Interessen in der
US-Außenpolitik etabliert werden kann.
({2})
- Ich glaube, dass Sie es eben nicht wissen, weil Sie sich
sonst in der Vergangenheit anders verhalten hätten. Ich
komme jetzt eindeutig zu der Feststellung: Sie haben in
Ihrer Regierungszeit die Prioritäten nicht eindeutig gesetzt, denn sonst würden im Verteidigungshaushalt nicht
die Kriterien für den Umfang des Verteidungshaushaltes
fehlen. Benötigte Mittel wurden und werden nicht zur
Verfügung gestellt.
Leider stimmt auch die Zustandsbeschreibung von
Herrn Kujat auf der Kommandeurtagung. Der Zustand
der Streitkräfte und die Stimmung der Truppe sind auf einem bedenklichen Niveau. Leistungsbereitschaft, Motivation und Berufszufriedenheit leiden. Alles, was hier
heute euphorisch und im besten Sinne gesagt worden ist,
hat eine Kehrseite. Diese Seite der Medaille hat nicht so
viel Glanz, und nicht alles, was hier glänzend dargestellt
worden ist, ist Gold. Auch die Ausrüstung hinkt hinterher
und mit zunehmendem Abstand veraltet sie auf ganzer
Breite.
({3})
Die nationale wehrtechnische Industrie ist in ihrer Existenz
gefährdet. Die Folge ist der Verlust von Hightech-Arbeitsplätzen. Sie sagen, das alles habe mit diesem Thema nur bedingt zu tun. Diese Punkte haben jedoch existenziell mit der
Bundeswehr zu tun, mit ihrer Einsatzfähigkeit im Ausland
und mit der Bewältigung der inländischen Fragen.
({4})
Natürlich hat der 11. September die Lage bei uns verändert. Die früheren klassischen Szenarien - Innenpolitik
ist Sicherheit der Bürger und Außenpolitik ist Sicherheit
des Staates - gelten nicht mehr. Wir haben neue Herausforderungen und wir brauchen neue, übergreifende Sicherheitsstrukturen sowohl im Inneren als auch im Äußeren. Wir müssen zusehen, dass wir die Verzahnung im
Sinne eines Getriebes neu begreifen. Das heißt, wir müssen ganzheitlich denken.
An diesem Punkt stellt sich die Frage: Wo sind die
Konzepte? Seit dem 11. September haben wir kein umfassendes Konzept zur Beantwortung all dieser Fragen
bekommen. Deswegen sage ich: Die Botschaft höre ich
wohl, allein mir fehlt der Glaube. Den Worten der Regierung müssten endlich Taten folgen.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offensichtlich
- das schließe ich jedenfalls aus dem, was viele hier betont haben - kennen Sie die Realität nicht.
({0})
Gernot Erler, Uta Zapf und ich haben in der letzten Woche im State Department, auf dem Capitol Hill und im
Außenamt der Vereinigten Staaten gehört, wie die Kollegen dort die Bundeswehr sowohl wegen ihrer persönlichen Fähigkeiten als auch wegen ihrer Leistungsfähigkeit
als Instrument loben. Wenn Sie das mit dem, was Sie sagen, vergleichen, dann stellen Sie fest, dass dazwischen
Welten liegen.
({1})
Im Rahmen der ISAF haben sich gemeinsam mit der
Bundeswehr 18 Länder in diese Mission begeben.
({2})
Im Rahmen von „Enduring Freedom“ arbeitet die Bundeswehr mit Streitkräften aus 70 Nationen zusammen.
Das ist die Realität. Die Bundeswehr ist konstruktiv; sie
bringt ihre Fähigkeiten ein, ganz besonders die Soldatinnen und Soldaten.
({3})
- Mein lieber Kollege Gehrcke, ich will einmal ganz deutlich sagen: Das hat auch etwas damit zu tun, dass sich die
Bundeswehr auf die politische Führung verlassen kann.
({4})
Was die weltweite Koalition gegen den Terror angeht: Erinnern Sie sich doch an die Debatte, die wir vor
einem halben Jahr geführt haben. Diese Koalition ist ganz
schnell gebildet worden. Welche Sorgen haben wir doch
alle empfunden? Das ist in den Printmedien nachzulesen
und sie wurden auch hier, im Parlament, dargelegt. Sämtliche Sorgen haben sich doch nicht bewahrheitet. Ich
denke zum Beispiel an die Sorge, dass wir die Einzigen
sein würden, die das militärische Instrumentarium zur
Verfügung stellten, und dass das Konzept auf das Militärische verengt würde. Diese Sorgen haben sich nicht
bewahrheitet.
Lesen Sie noch einmal die drei Resolutionen des Weltsicherheitsrates! Die drei Resolutionen haben deutlich
gemacht, dass das militärische Instrument eines von mehreren Instrumenten ist, das in ein politisches Konzept,
zum Beispiel in die Erneuerung der Entwicklungspolitik
und in die Stärkung der Vereinten Nationen - das ist das
gemeinsame Konzept, das diese Koalition gegen den internationalen Terrorismus verbindet -, eingebettet ist.
Wenn 70 Nationen zusammenarbeiten, dann werfen sie im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus ihr Gewicht
in die Waagschale. Die Bundeswehr und Deutschland
spielen dabei eine konstruktive Rolle. Da, jedenfalls an
diesem Punkt, lassen wir keine Kritik von Ihnen gelten!
({5})
Wozu hat das, was wir vor einem halben Jahr beschlossen haben, geführt? - Es hat dazu geführt, dass es
in Afghanistan wenigstens einige Momente der Hoffnung
gibt. Lieber Kollege Gehrcke, wollen Sie etwa leugnen,
dass jetzt ein Prozess begonnen hat, durch den sichergestellt ist, dass die Loya Jirga, die vom 5. bis zum 16. Juni
tagt, endlich die politische Macht in die Hand nehmen
kann? Das wäre doch gar nicht möglich gewesen. Wenn
wir das militärische Instrument nicht eingesetzt hätten,
dann wäre der Prozess, der zum Frieden und möglicherweise auch zur Einrichtung der Demokratie in Afghanistan führt, nicht in Gang gekommen. Wenn wir auf Sie
gehört hätten, dann wäre Afghanistan noch heute das
schwarze Loch auf der politischen Landkarte dieser Erde.
({6})
Herr Weisskirchen,
gestatten Sie eine Frage des Kollege Rossmanith?
Aber gerne.
Bitte.
Gehe ich richtig in
der Annahme, Herr Kollege Weisskirchen, dass Sie die
Äußerung, die Sie gerade getroffen haben, richtigerweise
auf einen Teil Ihrer eigenen Fraktion und vor allem der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bezogen haben?
({0})
Lieber Kollege Rossmanith, ich möchte Ihnen ja gerne die Reden
vorhalten, die manche Vertreter Ihrer Fraktion gehalten
haben, mit welcher Skepsis zum Beispiel Volker Rühe
hier geredet hat, als es um einzelne Missionen ging, auch
im letzten Jahr, die von der Bundeswehr durchgesetzt
worden sind. Haben Sie das vergessen?
({0})
Ich habe das nicht vergessen, Herr Kollege Rossmanith.
Ich füge hinzu: Warum soll es keine Zweifel darüber
geben, ob der Einsatz richtig ist?
({1})
- Aber selbstverständlich, Herr Kollege Gehrcke. - Haben wir nicht alle auch am 22. Dezember Zweifel gehabt,
als Karsai Ministerpräsident der Übergangsregierung
wurde, ob er das denn schaffen kann? Haben wir nicht alle
auch Sorge gehabt, dass, als die Taliban noch agieren
konnten, als al-Qaida noch nicht besiegt war, am Ende
doch wiederum die Antwort der Terroristen eine neue,
überbordende Welle eines neuen Terrorismus sein könnte?
Ich finde es richtig, dass diese Zweifel geäußert worden sind. Aber genauso klar muss gesagt werden, dass wir
vor einem halben Jahr die richtige Entscheidung getroffen
haben.
({2})
Ich will noch auf Folgendes hinweisen: Die Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Jahr 80 Millionen Euro
einsetzen, damit dieser Friede, der noch ein fragiler ist,
endlich eine Basis in der Gesellschaft findet. Das sind
80 Millionen Euro, die dafür eingesetzt werden, dass die
Schulen wieder geöffnet werden, dass Mädchen und Jungen gemeinsam lernen können, dass sie damit eine Zukunft der Gleichberechtigung zwischen Mädchen und
Jungen beginnen können.
Ich bitte Sie herzlich, einmal das Buch von Latifa zur
Hand zu nehmen. Der Titel heißt: „Das verbotene Gesicht“. Das Mädchen Latifa verbirgt unter den Taliban ihre
Identität. Jetzt haben wir, die internationale Staatengemeinschaft, gemeinsam einen Prozess in Gang gesetzt,
der Afghanistan in einen inneren Frieden führen kann, in
den Aufbau einer zivilen Gesellschaft. Das ist die Leistung, die wir vor einem halben Jahr begonnen haben. Es
ist gut, dass wir das beschlossen haben. Ich hoffe, wir werden dieses Engagement auch fortsetzen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8990 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Dr. Werner
Hoyer und der Fraktion der FDP
Entlassung des Bundesministers der Verteidigung Rudolf Scharping
- Drucksache 14/8954 ({0})
Ich weise darauf hin, dass wir über den Antrag später
namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die FDPFraktion ist der Kollege Jürgen Koppelin.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Freien Demokratischen Partei hat für heute folgenden Antrag gestellt:
Der Deutsche Bundestag fordert den Bundeskanzler
auf, nach Artikel 64 Abs. 1 GG dem Bundespräsidenten die Entlassung des Bundesministers der Verteidigung, Rudolf Scharping, vorzuschlagen.
({0})
Es hat in der Amtszeit des Bundesministers der Verteidigung, Rudolf Scharping, genügend Gründe gegeben,
dass der Bundeskanzler den Bundesminister der Verteidigung hätte entlassen können und auch müssen. Es hat
genügend Gründe gegeben, dass der Bundesminister der
Verteidigung, Rudolf Scharping, selber seinen Rücktritt
hätte erklären müssen.
({1})
Kein Bundesminister in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist so zur Peinlichkeit geworden wie
Bundesminister Scharping.
({2})
Kein Bundesminister hat je eine so peinliche Öffentlichkeitsarbeit gemacht wie Bundesminister Scharping.
({3})
Kein Bundesminister hat so peinliche Pressekonferenzen
veranstaltet wie Bundesminister Scharping.
({4})
Schon da, Herr Bundeskanzler, wäre es Zeit gewesen,
Bundesminister Scharping zu entlassen. Selbst der amerikanische Verteidigungsminister erklärte öffentlich, sein
deutscher Kollege rede Nonsens.
({5})
Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat versagt.
Seine als größte Streitkräftereform der Geschichte hochgepriesene neue Bundeswehrstruktur ist bereits ein Jahr
nach ihrer Verkündigung gescheitert. Seine vollmundigen
Versprechungen, die berühmt-berüchtigte GEBB spüle
Milliarden Euro in den Verteidigungshaushalt, hat sich in
das Gegenteil verkehrt: Die GEBB kostet. Sie bringt kein
Geld, sondern kostet den deutschen Steuerzahler Geld.
Die Opposition könnte sich eigentlich bei einem so
häufigen Versagen eines Bundesministers die Hände reiben. Man könnte sich zusammen mit der deutschen
Öffentlichkeit immer wieder erneut darüber amüsieren,
wie sich Bundesminister Scharping von Mal zu Mal
lächerlicher macht. Doch Bundesminister Scharping ist
nicht irgendein Bundesminister. Er ist der Bundesminister
der Verteidigung. Das ist eines der wichtigsten Ämter, das
der Herr Bundeskanzler zu vergeben hat. Wir können uns
in dieser Zeit, in der sich sehr viele deutsche Soldaten im
Auslandseinsatz befinden, keinen Bundesminister der
Verteidigung erlauben, der bei der Bundeswehr, im Deutschen Bundestag, in der deutschen Bevölkerung und bei
unseren Verbündeten nahezu jeden Respekt und jegliche
Achtung verloren hat.
({6})
Wenn heute die Fraktion der Freien Demokratischen
Partei hier im Deutschen Bundestag den Antrag einbringt,
den Bundeskanzler aufzufordern, Bundesverteidigungsminister Scharping zu entlassen, dann tut sie das deshalb,
weil dieser Bundesminister in den letzten Wochen zu einer Belastung für den Deutschen Bundestag geworden ist.
Bundesminister Scharping hat genauso wie alle anderen
Mitglieder des Kabinetts geschworen, das Grundgesetz
und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zu beachten.
Die Beschaffung eines neuen Transportflugzeuges
für die Bundeswehr ist zu einem einzigen Skandal geworden.
({7})
Ohne Rücksicht auf die Beschlüsse des Deutschen Bundestages hat Bundesminister Scharping 73 Transportflugzeuge bestellt. Da er jedoch finanzielle Mittel von nur
5,1 Milliarden Euro zur Verfügung hat, hätte er niemals
eine Bestellung von 73 Maschinen unterschreiben dürfen.
Er verstößt somit eindeutig gegen Art. 110 des Grundgesetzes und gegen das Haushaltsgesetz des Jahres 2002.
({8})
Vor dem höchsten deutschen Gericht, dem Bundesverfassungsgericht, hat Bundesminister Scharping am 29. Januar 2002 ausdrücklich erklärt, dass er nur für 5,1 Milliarden Euro Transportflugzeuge bestellen wird. Statt der
für diesen Betrag erhältlichen etwa 40 Maschinen hat er
jedoch eine Bestellung für 73 Maschinen unterschrieben.
Damit hat Bundesminister Scharping die Beschlüsse des
Deutschen Bundestages gebrochen und hat vor dem
höchsten deutschen Gericht, dem Bundesverfassungsgericht, eine unwahre Erklärung abgegeben.
Am 11. März dieses Jahres haben die Haushaltspolitiker der Grünen, Metzger, Hermenau und EichstädtBohlig, in einem Papier an ihre Fraktion und an die Presse
Folgendes erklärt:
Die Vorgehensweise des Bundesministers der Verteidigung verstößt gegen den Beschluss des Deutschen
Bundestages vom 24. Januar 2002 und gegen die
Haushaltsordnung. Das vom Bundesminister der
Verteidigung geplante weitere Vorgehen wird das
von der Verfassung garantierte Budgetrecht des Parlaments verletzen. Ein erneutes Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht und ein außenpolitisches
Desaster sind vorprogrammiert.
So die drei Haushälter der Grünen. Daran schlossen sich
im Übrigen weitere Politiker der Grünen an.
Gegen die Beschlüsse des Deutschen Bundestages hat
Bundesminister Scharping Verträge unterschrieben, die
zu Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe führen
können.
({9})
Neben dem Bruch der Verfassung und dem Verstoß gegen
die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland hat dieser
Bundesverteidigungsminister mit seinem Verhalten einen
großen außenpolitischen Schaden angerichtet.
Mit unserem Antrag auf sofortige Entlassung wollen
wir dokumentieren, dass wir es niemals zulassen werden,
dass ein Bundesminister die Rechte des Parlaments mit
Füßen tritt.
({10})
Herr Bundeskanzler, ernennen Sie einen neuen Verteidigungsminister,
({11})
von dem die Angehörigen der Bundeswehr wieder mit
Respekt und Achtung sprechen können und vor dem sie
Achtung und Respekt haben! Herr Bundeskanzler, auch
Sie sind Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Sorgen Sie dafür, dass die Rechte des Parlamentes eingehalten werden!
({12})
In den letzten Wochen haben verschiedene Abgeordnete der Fraktion der Grünen ebenfalls den Rücktritt des
Verteidigungsministers gefordert. Heute können die Grünen beweisen, was ihnen wichtiger ist: die Rechte des
Parlaments oder Koalitionstreue.
Gestern war in einer Agenturmeldung zu lesen, der
Deutsche Bundestag entscheide heute über die Zukunft
von Rudolf Scharping. Nein, das tun wir nicht. Über die
Zukunft von Rudolf Scharping entscheiden ganz allein
die SPD und der Wähler. Wir entscheiden heute darüber,
ob Recht und Gesetz in unserem Lande auch für Regierungsmitglieder gilt.
({13})
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, heute nicht die Kraft
haben, den Bundesminister der Verteidigung, Rudolf
Scharping, zu entlassen - da mögen Sie noch so viel in der
Zeitung blättern, Sie werden es trotzdem hören müssen -,
({14})
dann werden es im September - da bin ich mir ganz sicher
und vertraue darauf - die Wähler tun.
Aufgrund der großen Bedeutung dieses Vorgangs beantragt die Fraktion der Freien Demokraten namentliche
Abstimmung.
({15})
Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Hans Georg Wagner.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich habe eben, als Sie, Herr Kollege
Koppelin, gesprochen haben, an die rund 10 000 deutschen Soldatinnen und Soldaten gedacht, die draußen in
der Welt ihren Dienst tun,
({0})
die den Frieden in Afghanistan unter Bedingungen sichern, unter denen Sie nicht zu leben wünschten. Deshalb
empfand ich den Einstieg in die Debatte als eine Unverschämtheit.
({1})
Er sollte nur davon ablenken, dass die FDP weder programmatisch noch sonst irgendwie in der Lage ist, politische Probleme in Deutschland zu lösen. Angesichts des
Schicksals der Soldaten im Einsatz in Afghanistan war
dieser Einstieg in die Debatte eine Unverschämtheit. Das
sage ich ganz klar.
({2})
Sie nehmen Punkte zum Anlass, die gar nicht dazu geeignet sind, dass sie heute hier besprochen werden; denn
der Vertrag - das wissen Sie ganz genau und das bezeugt
die Verlogenheit Ihrer Argumentation - ist noch gar nicht
von allen Vertragspartnern unterschrieben worden.
({3})
Ich kann Ihnen belegen, wer ihn wann unterschrieben hat.
Der portugiesische Verteidigungsminister hat noch nicht
unterschrieben. Damit ist der Vertrag nicht rechtskräftig
geworden. Der Fall, den Sie beschwören, ist also nicht
eingetreten. Wir müssen abwarten, bis alle Vertragspartner unterschrieben haben. Sie wollten dies nur nicht.
({4})
- Da Sie auf der rechten Seite des Hauses jetzt anfangen
zu brüllen, muss ich Ihnen sagen, dass das ganze Spiel
nicht erst unter dieser Regierung begonnen hat; denn
schon 1982 ist zum ersten Mal von Ihrer Regierung über
die Beschaffung von 75 Transportflugzeugen gesprochen
worden. Das hat sich dann hingezogen, weil Sie nie zu einer Entscheidung fähig sind.
({5})
- Sie mögen ruhig laut dazwischenrufen, Herr Scholz.
Das ist mir egal. Ich sage nur: Sie waren in den 16 Jahren
nie zu einer klaren Entscheidung fähig. Sie haben die
Bundeswehr heruntergewirtschaftet, sodass wir jetzt versuchen müssen, mit sehr viel Geld die Situation wieder zu
verbessern.
({6})
Wie war das denn? Dieser Minister hat die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen, Herr Kollege
Koppelin. Sie sind doch Mitglied im Haushaltsausschuss
und müssten wissen, dass wir in diesem Jahr erstmals
42 000 Soldatinnen und Soldaten befördert haben. Sie haben doch die Berufssoldaten in Besoldungsgruppen belassen, gemäß denen nicht einmal mehr ein Hausmeister
in Deutschland bezahlt wird, nämlich in A 1 und A 2. Wir
haben sie alle befördert: 42 000 in diesem Jahr. Dass das
umgesetzt worden ist, dafür ist Rudolf Scharping Dank zu
sagen.
({7})
Herr Kollege Koppelin, wir kennen uns ja schon zwölf
Jahre und ich weiß, dass Sie häufig sehr illustre Gedanken
äußern. Sie haben einmal gesagt, das Amt für die Ausbildung höherer Verwaltungsbeamter müsse aufgelöst werden. Als ich dann - seinerzeit als Oppositionspolitiker gesagt habe, dass ich den Antrag des Kollegen Koppelin
übernehme, sagten Sie: Nein, davon will ich nichts mehr
wissen. Jetzt fordern Sie die Entlassung von Herrn Minister Scharping, obwohl das Verfahren noch gar nicht beendet ist. Man kann ihm nicht unparlamentarisches Verhalten vorhalten, weil der Fall, der Voraussetzung für ein
solches Verhalten wäre, noch gar nicht eingetreten ist.
({8})
Dazu kommt es auch nicht, denn der Minister hat sich bis
heute - das hat die Koalition auch im Ausschuss festgestellt - im Rahmen des bundesrepublikanischen Haushaltsrechtes bewegt, nicht mehr und nicht weniger. Dabei
bleibt es auch in Zukunft.
({9})
Wenn wir Ihren dubiosen Vorschlägen gefolgt wären
und den Vertrag so weiter verhandelt hätten, Herr Kollege
Koppelin, wie der Kollege Rühe das vorverhandelt hatte,
bevor Scharping Minister wurde, dann hätten wir im Jahre
2002 schon einmal 500 Millionen Euro oder eine 1 Milliarde DM auf den Tisch legen müssen. So haben wir zumindest schon einmal erreicht, dass erst bei Lieferung und
nicht schon vorher bezahlt werden muss und eine Belastung des Haushalts eintritt.
({10})
Auch Sie scheinen doch diesen Streit nicht ernst zu
nehmen. Herr Kollege Koppelin, Sie wissen doch - ich
will gar keine Namen nennen -, dass in Ihrer Fraktion darüber diskutiert wird, ob man nur 40 Maschinen und keine
73 nimmt. Sie wollen also den Schadenersatzfall eintreten lassen, wenn ich das richtig verstehe.
({11})
Der Fall tritt nämlich ein, wenn wir die zugesagten 73 Maschinen nicht wollen.
Jedoch sagen CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und auch die FDP, zumindest nach außen hin: Wir wollen
73 Maschinen haben. Der Finanzminister hat zugesagt,
dass der Kauf der restlichen Maschinen unter Einhaltung
der haushaltsrechtlichen Voraussetzungen im Haushalt 2003 vorgesehen ist. Das können Sie am 19. Juni
nachlesen; denn dann wird der Haushalt im Kabinett verabschiedet. Wenn also alle erklären, dass sie 73 Maschinen
möchten, dann frage ich mich, warum Sie ständig über den
Eintritt des Schadensersatzfalls sprechen möchten.
({12})
Er wird nicht eintreten, es sei denn, Sie wollen sich durchsetzen und weniger Maschinen kaufen als ursprünglich
geplant; das ist die Logik der ganzen Geschichte. Ich sage:
mit uns nicht. Wir bleiben bei dem, was wir beschlossen
haben. Wir werden die Mittel für die 73 Maschinen in den
Haushalt des nächsten Jahres haushaltsrechtlich richtig
einstellen und dies dann auch einlösen. Denn wenn das Gesamtkonzept stimmen soll - 196 Maschinen von sechs
Vertragspartnern -, dann müssen wir unsere 73 Maschinen
kaufen.
Nun sage ich noch etwas betreffend die Schadensersatzregelungen, bei denen ich mich manchmal frage, was
eigentlich dahinter steckt. Seit 30 Jahren werden in allen
Verträgen, die die Bundesrepublik Deutschland bzw. das
Bundesverteidigungsministerium abschließt, solche Schadensersatzregelungen getroffen. Jetzt nehmen Sie einmal
folgenden Fall: In Ihrer Nachbarschaft tun Sie sich mit
zehn Nachbarn zusammen, um gemeinsam Heizöl zu kaufen. Dann bekommen Sie einen sehr günstigen Preis.
Wenn jetzt eine von diesen Personen abspringt, dann erhöht sich der Preis. - In diesem Fall ist es genauso. Wenn
einer der Partner, die Franzosen, die Türken, wir oder wer
auch immer, die Maschinen in der Größenordnung, die er
zugesagt hat, nicht abnimmt, dann tritt die Schadensersatzpflicht ein. Alle Vertragspartner sind in der Schadensersatzpflicht, wenn sie nicht alle Maschinen abnehmen.
Ich weiß nicht, warum dies eine Sonderkonstruktion
für die Bundesrepublik Deutschland sein soll, die sich
Herr Scharping hat zuschulden kommen lassen, da er genau das unterschrieben hat, was auch alle anderen Kolleginnen und Kollegen - mit Ausnahme von Portugal - unterschrieben haben. So schlimm kann das doch nicht sein.
Wir haben im Haushalt eine Summe von 5,113 Milliarden Euro an Verpflichtungsermächtigung. In diesem
Rahmen bewegt sich die erste Tranche von 40 Maschinen.
Die nächste Tranche wird im Haushalt 2003 zur Verfügung gestellt. Dann ist das erledigt und das Geschäft ist
gemacht.
Dies steht im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege
Koppelin, und Ihrer Handhabung bezüglich des Eurofighter.
({13})
Ich habe mir das einmal zusammenstellen lassen; das ist
ein mittleres Drama. Sie haben die Bevölkerung systematisch belogen und betrogen.
({14})
Sie haben noch kurz vor der Bundestagswahl den Eurofighter light - ich nenne das einen Segelflieger, in den irgendwann einmal ein Motor eingebaut werden soll - bestellt, obwohl Sie wussten, dass das Ding unter den Bedingungen, unter denen es bestellt worden ist, nie fliegen kann.
Was müssen wir machen? Wir müssen zunächst einmal
die Bewaffnung bestellen und auch bezahlen. Wir müssen
Versäumnisse Ihrer Regierung ausbaden. Außerdem haben Sie schlicht vergessen, die Avionik zu bestellen. Das
Ding muss erst einmal zu einem Flieger entwickelt werden. Das müssen wir bezahlen, obwohl Sie der Verursacher dieses Desasters sind. Das müssen Sie hinnehmen:
Sie haben in all den Jahren, in denen Sie die Verantwortung getragen haben, eine katastrophale Bundeswehrpolitik gemacht.
({15})
Sie versuchen jetzt natürlich, die Menschen draußen
aufzuhetzen. Die heutige Veranstaltung dient nur der Vernebelung der Tatsache, dass Sie keine Alternativen haben
und im Grunde genommen damit einverstanden sind, es
aber nicht sagen dürfen oder wollen. Ich finde es fies,
wenn man so mit einem Menschen umgeht, der immerhin
für viele Soldatinnen und Soldaten der Chef ist. Menschen
so herabzuwürdigen, wie Sie das hier versuchen, ist unter
dem Niveau eines Freidemokraten. Ich muss sagen, dass
Sie in der Tat eine Gaga-Partei geworden sind. Das wird
deutlich, wenn man gesehen hat, was auf Ihren Parteitagen in Mannheim und anderswo los war. In der Tat: Die
FDP ist eine Gaga-Partei, aber nicht mehr eine seriöse und
ernst zu nehmende Partei.
({16})
- Da ist der Obergagerer. Ich kenne Sie, Herr Kollege
Niebel, Sie gagern immer gern und viel, meist aber
unnötig.
Ich sage nur: Sie hätten in der Vergangenheit dafür sorgen müssen, dass eine solide Finanzierung der Bundeswehr zustande kommt.
Jetzt kommt noch etwas, was Sie in der Öffentlichkeit
erzählen. Sie sagen, wir hätten die Verteidigungsausgaben gesenkt.
({17})
Schauen Sie einmal - das ist eine herzliche Bitte - in den
Bundeshaushalt: Im Jahr 1998 - das war das letzte Jahr,
in dem Sie den Haushalt zu verantworten hatten - war der
Verteidigungshaushalt auf 23,9 Milliarden Euro festgelegt; dies ist aus der Abrechnung ersichtlich, die der Bundesfinanzminister vorgelegt hat. In diesem Jahr stehen
dem Ministerium 24,4 Milliarden Euro zur Verfügung. Sie
können rechnen, wie Sie wollen, aber 24,4 Milliarden
Euro sind mehr als 23,9 Milliarden Euro. Es gab also
keine Streichung im Bundeshaushalt.
({18})
- Es kann durchaus sein, dass Sie der Mengenlehre unterworfen sind und nicht dem normalen Einmaleins. Das
kann passieren, insbesondere wenn die FDP dabei ist.
Meine Damen und Herren, die SPD wird den Antrag
der FDP ablehnen. Wir sehen nämlich absolut keinen
Grund, Minister Scharping zum heutigen Zeitpunkt zu
entlassen.
({19})
- Das ist keine Entscheidung, die ich zu treffen habe; das
haben Sie richtig erkannt. Das ist eine Entscheidung des
Bundeskanzlers. Ich gehe aber davon aus, dass Herr
Scharping Verteidigungsminister bleiben wird. Es gibt
keinen Grund, sich jetzt darüber zu amüsieren.
({20})
Er ist allemal besser als die Verteidigungsminister zu
Ihrer Regierungszeit. Sie haben die Bundeswehr heruntergewirtschaftet. Deshalb war die Bundeswehrreform
notwendig. Wir haben sie angepackt. Sie braucht noch
Zeit; denn das kann man nicht von heute auf morgen erledigen. Wenn wir so handeln würden wie Sie, gäbe es mehr
Schulden und unsere Kinder könnten in die Röhre gucken.
Das wollen wir nicht.
({21})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dietrich Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Manchmal wird anhand
derer, die man zu seiner Verteidigung einsetzt, deutlich,
was man selbst erreichen will.
({0})
Herr Kollege Wagner, es hat sich offensichtlich kein
Größerer gefunden, der bereit war, dazu zu sprechen. Der
Kollege Metzger ist heute nicht da; das spielt bei diesem
Thema eine gewisse Rolle.
Der eine oder andere von uns hat sich gefragt: Muss
128 Tage vor der Bundestagswahl die Entlassung gefordert werden? In 129 oder 130 Tagen ist der Spuk doch sowieso vorbei, und zwar nicht nur für den einen, sondern
auch für alle anderen.
({1})
Manch einer hat gesagt: Die Leute in Deutschland meinen, es sei besser für die Bundeswehr, wenn Scharping
nicht mehr im Amt ist.
({2})
Andere haben gesagt: Guck dir doch die Demoskopie an!
Du musst beim „Politbarometer“ schon in den Keller gehen, um Scharpings Werte entdecken zu können. Lass ihn
doch so weiterwirken!
({3})
Wieder andere haben gesagt: Wenn der Schröder ihn jetzt
aus dem Verkehr zieht, dann entlässt er schon den achten
Minister. Wenn aber jemand lauter Leute beruft, die nichts
taugen, dann muss die Frage des Auswahlverschuldens
gestellt werden; denn offensichtlich ist dann auch er für
dieses Amt ungeeignet. Also kann Schröder ihn nicht entlassen.
({4})
Es gibt auch jene, die sagen: Wenn er ihn jetzt entlassen
will, muss er einen ernsthaften Verteidigungspolitiker berufen, der noch vor der Bundestagswahl eine schonungslose Bilanz über den Verteidigungsetat vorlegt. Diese Bilanz kann Herrn Schröder vor der Bundestagswahl nicht
recht sein.
Er kann ihn also nicht entlassen. Deswegen wird die
Koalition wahrscheinlich geschlossen - bis auf diejenigen, die heute zu Hause geblieben sind; ich habe Herrn
Metzger schon erwähnt - gegen den Entlassungsantrag
stimmen.
Ich möchte noch einmal erklären, worum es geht
- Herr Kollege Wagner, Sie haben versucht, das zu vernebeln -: Ein Minister einer deutschen Bundesregierung
hat im Rahmen einer internationalen Vereinbarung Waren
in einem Umfang bestellt, der im Haushalt nicht abgesichert ist. Das ist nach Art. 110 des Grundgesetzes ein
Bruch der Verfassung.
({5})
Es wäre genauso ein Bruch der Verfassung, wenn sich der
Minister bemühte, die Wehrverwaltung, die in Art. 87 b
des Grundgesetzes geregelt ist, auszuschalten. Ein Minister, der die Verfassung nicht beachtet, weil er Beschlüsse
des Haushaltsausschusses des Bundestages, den Haushaltsplan, ignoriert, verletzt die Verfassung.
Dieser Minister sagte, er habe das unter dem Parlamentsvorbehalt gemacht. Als wir das Bundesverfassungsgericht angerufen haben, wurde ziemlich bald klar, dass es
offensichtlich ebenfalls der Meinung war, dass hier jemand auf dem falschen Wege ist. Daraufhin gab der
Minister dort die Erklärung ab, sich an die Verfassung zu
halten. Dann kamen wir im Haushaltsausschuss zusammen und er versicherte dies noch einmal. Den internationalen Partnern aber sagte er: Es gilt, was ich vor einem
Jahr unterschrieben habe. - Der Minister bricht die Verfassung und muss wegen Verletzung seines Amtseides aus
dem Amt entfernt werden. So einfach ist das in einer Demokratie.
({6})
Herr Kollege Wagner, Sie sagen, dass man das in der
Situation, in der sich deutsche Soldaten jetzt befinden
- 10 000 deutsche Soldaten und zivile Mitarbeiter befinden sich im Ausland -, nicht tun darf. Ich sage dazu: Gerade in dieser Situation ist ein Minister, der jede Beziehung zur Realität verloren hat und nicht mehr in der Lage
ist, zu erkennen, was in Deutschland tatsächlich notwendig ist, völlig unbrauchbar.
({7})
Deswegen ist jeder Tag, den er länger im Amt ist, einer zu
viel.
({8})
Ich sage nun etwas dazu, was passiert, wenn man
den Minister kritisiert. In den nächsten Wochen wird
sich wahrscheinlich ein Vokabular entwickeln nach dem
Motto: Wer die Regierung kritisiert, kritisiert Deutschland.
Wer sagt, Deutschland habe die rote Laterne, ist ein
schlechter Deutscher, weil er Deutschland kritisiert. Nein, die Situation ist völlig anders. Die Situation
Deutschlands, in die diese Regierung uns geführt hat - das
gilt auch für den Verteidigungsbereich; denn der Minister
hat sich international lächerlich gemacht und ist unglaubwürdig -, ist änderungsbedürftig. Wenn man das beschreibt, will man dafür sorgen, dass sich die Situation in
Deutschland verbessert. Wer die Regierung kritisiert, sagt
etwas Wahres und verschlechtert nicht die Situation in
Deutschland; er beschreibt die Realität. Die Erkenntnis
des Zustandes ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer
Besserung.
({9})
Meine Damen und Herren, man könnte eine Fülle anderer Beispiele erwähnen, bei denen man sagen müsste,
dass der Minister versagt hat, unglaubwürdig ist und aktuell die Verfassung bricht. Ich greife die Privatisierung
von staatlichen Leistungen heraus. Dort wird Geld verbrannt. Es wird in Aufträge gesteckt, die völlig überflüssig sind und nicht mehr gebraucht werden.
Mit der Bundeswehrreform wird ein Reformkonzept
vorgestellt, dessen Erfolge selbst am Horizont nicht erkennbar sind. Im Bündnis wird versichert, dass das Reformkonzept realisiert wird. Jeder weiß, dass das nicht
läuft. Es werden Verträge mit Hunderten von Unternehmen geschlossen, die angeblich zur Aufgabenverlagerung
auf Private beitragen sollen. Das Geld, um die Verträge zu
erfüllen, ist aber nicht da. Es findet eine einzige Täuschung der Öffentlichkeit, der Unternehmer, der Bürger,
der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr
statt, und zwar in einem Umfang, wie es dies bisher nicht
gegeben hat.
10 000 Soldaten und zivile Mitarbeiter im Ausland
haben einen obersten Befehlshaber verdient, der die Realität anerkennt und dafür sorgt, dass sie für die Einsätze
optimal ausgerüstet sind.
({10})
Ich will Ihnen das an einem konkreten Beispiel erläutern
und damit abschließen. Vor wenigen Tagen war in der Zeitung zu lesen: Bundeswehr: Marine bedingt abwehrbereit.
Wenn sich Soldaten der deutschen Marine am Horn von
Afrika befinden und nicht in der Lage sind, sich selbst gegen Angriffe - diese haben stattgefunden - zu verteidigen,
kann ich nur sagen: Es ist leichtfertig, diesen Einsatz so
anzulegen. Im Ergebnis führt das nämlich dazu, dass diese
Leute in Gefahr gebracht werden, statt dass ihnen bei ihrer Arbeit geholfen wird oder sie sogar noch anderen helfen können.
({11})
Der Inspekteur der Marine sagte mir, dass man nicht in der
Lage ist, die eigene Marine zu sichern; er braucht 500 Marinesicherer mehr. Im Rahmen der Reform wurde jedoch
gerade beschlossen, die Zahl der Marinesicherer zu senken. Das meine ich damit. Realität, Aufgaben und Auftrag
sind nicht mehr deckungsgleich.
Meine Damen und Herren, angesichts der Kritik und
des Scherbenhaufens, den der Minister hinterlassen hat,
ist es an der Zeit, ihn etwas zu fragen - das will ich zum
Schluss tun -: Herr Scharping, warum haben Sie nicht die
Größe, von sich aus zu sagen, dass Sie zwar Ihre ganze
Kraft aufgewendet haben - so heißt es im Amtseid -, dass
es aber nicht gereicht hat und Sie deshalb zurücktreten?
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann es
kurz machen. Die Art und Weise, mit der diese Debatte geführt wird - Ihre Verkommenheit, mit der Sie sie führen,
macht das ebenfalls deutlich -, beweist - ({0})
Ich sage es noch einmal: Die Verkommenheit Ihrer Debattenbeiträge macht eines deutlich, nämlich dass es Ihnen doch gar nicht um die Lösung eines politischen Problems geht, Sie wollen einen Menschen vernichten. Das
ist mit uns nicht zu machen.
({1}) - Dr. Peter Ramsauer [CDU/
CSU]: Schauen Sie sich die Titelseite des
„Stern“ doch einmal an!)
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das mit uns nicht zu machen ist. Mehr als Verachtung kann man dafür nicht aufbringen.
({2})
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der FDP! Ihre Partei hat
sich an diesem Wochenende in Mannheim so gründlich
lächerlich gemacht, dass wir erstens Ihre Partei und zweitens einen solchen Antrag, der wirklich nur auf Show
setzt, nicht ernst nehmen können.
({0})
Was wir allerdings ernst nehmen, sind Ihre Wahlziele.
Es sind wirklich die Ziele einer Partei der Besserverdienenden, die das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft
abschaffen, die gesellschaftliche Solidarität einstampfen
und den Staat, Bund, Länder und Kommunen, ausplündern will. Darüber hinaus versprechen Sie den Leuten, in
Zukunft könnte dieses Land, ohne dass jemand Steuern
zahlt, bewirtschaftet werden. Diese Partei der Besserverdienenden nimmt keine Rücksicht mehr auf die Solidarität dieser Gesellschaft, die wir dringend brauchen.
Ich bin Ihnen für Ihre Offenheit dankbar, mit der Sie
das den Bürgern sagen, weil die Leute damit wissen, was
sie von dieser FDP zu erwarten haben. Wir haben es letztlich mit Frau Pieper in Magdeburg erlebt. Erst lässt sie
sich groß als zukünftige Ministerpräsidentin ankündigen
und wählen. Nachdem die FDP dann aber bei der Wahl
13 Prozent erhalten hat, zieht sie sich nach Berlin zurück
und lässt nur noch ein Köfferchen in Magdeburg. Das ist
die Glaubwürdigkeit Ihrer Partei. So stellen Sie sich den
Bürgern dar. In dieser Weise stellen Sie auch hier Ihre Anträge.
({1})
Ich möchte aber doch etwas zu dem Antrag und zu dem
anmerken, was Herr Austermann gesagt hat. Soweit ich
weiß, waren es Ihre Parteien, die auf diesen 73 Maschinen
bestanden haben. Insofern treiben Sie hier wirklich ein
doppeltes Spiel.
({2})
Sie wollen die Regierung vorführen, während Sie selbst zu
feige sind, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anzurufen, um dort zu klären, ob Sie überhaupt Recht haben.
({3})
Ihr Antrag ist ein Showantrag. Wenn Sie ernsthaft daran interessiert sind, sich Klarheit darüber zu verschaffen,
inwieweit sich der Verteidigungsminister gegenüber dem
Haushaltsausschuss und dem Haushaltsrecht richtig oder
falsch verhält, dann wählen Sie den korrekten Weg und
gehen Sie nach Karlsruhe. Aber hören Sie mit Ihrer Inszenierung auf!
({4})
Ganz konkret, Herr Kollege Koppelin: Bei dem Beschluss des Haushaltsausschusses am 20. März dieses
Jahres haben wir bis auf die PDS einen einmütigen Beschluss zu einem Zeitpunkt gefällt, zu dem klar war, dass
an beiden Vertragswerken, dem MoU und dem Vertrag
mit der Industrie, nichts mehr verhandelt werden konnte.
Darum haben wir am 20. März als Haushälter gemeinsam
einen Rechtsvorbehalt angebracht und im Haushaltsausschuss mit der Entsperrung der Verpflichtungsermächtigung von 5,1 Milliarden Euro den Rechtsvorbehalt für
die erste Stufe der Bestellung ausgesprochen. Es ist zwischen Regierung und Parlament verabredet, dass dieser
Vorbehalt beiden Unterschriften beigefügt wird, der unter
dem MoU und der unter dem Industrievertrag, die, wie Sie
wissen, überhaupt noch nicht geleistet sind.
Wenn das eingehalten wird - erst zu diesem Zeitpunkt
können Sie Ihre großen Inszenierungen machen -, ist die
Sache völlig klar: Die Stückzahl von 73 Maschinen und
die entsprechenden Schadensersatzregelungen sind nicht
in vollem Umfang in Kraft. Das nächste Parlament bleibt
rechtlich frei. Es hat sich bisher zwar politisch gebunden;
das haben wir sehr wohl getan. Wir als Parlament haben
erklärt: Politisch stehen wir zu der Bestellung. Wir wollen
dafür aber ein Zweistufenmodell und in der ersten Stufe
haften wir mit den 5,1 Milliarden. Wir sind rechtlich daran gebunden; in politischer Hinsicht ist es eine Entscheidung des künftigen Parlaments. Von diesem Sachverhalt
gehen wir aus. Alles andere sind Verleumdungen von Ihrer Seite. Sie sollten vielleicht einmal ernsthaft darüber
nachdenken, ob das angemessen ist oder ob es sich dabei
nicht vielmehr um eine Inszenierung handelt.
Insofern stärken Sie mit Ihrem Antrag mitten im Verfahren die Koalition und den Koalitionszusammenhalt;
denn wir lassen uns nicht von Ihnen auseinander dividieren. Herzlichen Dank dafür, meine Damen und Herren von
der FDP. In diesem Sinne werden wir den Antrag ablehnen.
({5})
Für die Fraktion der
PDS spricht jetzt der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, der PDS
geht es in der heutigen Debatte nicht um die Vernichtung
einer Person - das sage ich sehr deutlich -,
({0})
aber ein Antrag zur Entlassung eines Bundesministers ist
ein normaler Vorgang in einer parlamentarischen Demokratie.
({1})
So einfach dürfen wir es uns damit nicht machen.
Die PDS-Fraktion befürwortet die Entlassung von
Bundesverteidigungsminister Scharping. Der Bundesminister hat in der Tat - ich lege dazu die Fakten vor - dem
Ansehen des Parlaments und der Bundeswehr großen
Schaden zugefügt.
({2})
Fast schon mit Regelmäßigkeit setzt sich der Minister
über Beschlüsse des Bundestages und seines Haushaltsausschusses hinweg. Jüngstes Beispiel ist die Bestellung
von 73 Großraumtransportflugzeugen, obwohl es dafür
keine angemessene haushaltsrechtliche Grundlage gibt.
Der Skandal um die Beschaffung des Militärtransporters
begann schon viel früher als heute angegeben. Er begann
schon im November 2000 bei der Verabschiedung des
Bundeshaushalts 2001 im Haushaltsausschuss.
In einer Nacht- und Nebelaktion sorgte der Verteidigungsminister damals dafür, dass aus einem Leertitel zu
Beginn der Sitzung zwölf Stunden später zum Ende der
Sitzung ein Budget von 10 Milliarden DM geworden war.
Das ist die Wahrheit.
({3})
Ich sage es in aller Deutlichkeit: Die PDS lehnt dieses
Rüstungsprojekt nicht nur aus haushaltsrechtlichen Gründen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern vor allem
aus grundsätzlichen politischen Erwägungen ab. Darin
unterscheidet sie sich von allen anderen Fraktionen in diesem Hause.
({4})
Die Beschaffung des Großraumtransporters ist Bestandteil der Strategie, die Bundeswehr zu einer hochmobilen, weltweit agierenden Interventionsarmee zu entwickeln und umzubauen.
({5})
Das lehnen wir ab.
({6})
Mit der Person Rudolf Scharpings ist die Beteiligung
der Bundeswehr am Krieg in Jugoslawien unmittelbar
verknüpft.
({7})
Sie war ein Tabubruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dieser Grund allein hätte für seine Demission
ausgereicht.
({8})
Wehrminister Scharping war sich dabei nicht zu schade
- erinnern wir uns -, Wahrheiten, Unwahrheiten, aber
auch Lügen zu verbreiten. Ich erinnere an das Konzentrationslager Pristina, den Hufeisenplan und anderes.
({9})
Mit Rudolf Scharpings Person ist aber auch die mangelnde Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und Zivilbeschäftigten der Bundeswehr verwoben.
({10})
Den Strahlenopfern der Bundeswehr und der NVA hatte er
großzügige Unterstützung versprochen, Frau Beer. Passiert ist aber fast nichts. Großzügig ist Herr Scharping unter dem Deckmantel einer verunglückten, nicht transparenten Bundeswehrstrukturreform, wenn es darum geht,
Dienstleistungen zu privatisieren und auszulagern. Diese
Vorgänge führen aber zu einer Vernichtung von Steuermitteln in ungekanntem Ausmaß - und das in einer Zeit,
in der die Haushaltskonsolidierung angesagt ist.
Herr Kollege Rössel,
Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum
Schluss, Frau Präsidentin. - Es gibt für die PDS-Fraktion
nicht erst seit heute, sondern seit längerem gewichtige
Gründe, den Bundeskanzler aufzufordern, Minister
Scharping zu entlassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul Breuer für die Fraktion
der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben der
Opposition vorgeworfen, es ginge darum, den Menschen
Rudolf Scharping zu vernichten. Eben darum geht es
nicht.
({0})
Es geht um eine politische Auseinandersetzung.
({1})
Herr Bundeskanzler, Sie müssen verstehen, dass sich ein
Verteidigungsminister an besonderen Kriterien messen
lassen muss. Der deutsche Verteidigungsminister ist Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über 300 000 Soldaten und 130 000 zivile Mitarbeiter. Deswegen wird von
einem Verteidigungsminister mit Recht verlangt, Sicherheit zu geben, Vertrauen auszustrahlen, große Führungsqualitäten zu besitzen und Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Herr Bundeskanzler, diesem Anspruch wird der
Verteidigungsminister Scharping nicht gerecht.
({2})
Die Führungsstärke eines Ministers korrespondiert allerdings auch mit den Möglichkeiten, die ihm der Bundeskanzler gibt.
({3})
Herr Scharping, ich erinnere mich sicherlich genauso
gut wie Sie an ein Wort des Bundeskanzlers Schröder Ihnen gegenüber. Herr Bundeskanzler, Sie haben bei der
Kommentierung des Konzeptes von Herrn Scharping gesagt: Von Rudolf lernen heißt Siegen lernen.
({4})
Herr Scharping, der gegen seinen eigenen Willen von Ihnen und Herrn Lafontaine auf die Hardthöhe gebracht
wurde, hat damals gesagt, man habe ihm Qualitäten garantiert, die vor ihm noch kein Verteidigungsminister gehabt habe.
({5})
Dass er daran auch nur eine Zehntelsekunde geglaubt hat,
ist ihm eigentlich übel zu nehmen; denn entsprechende
Erfahrungen mit Schröder hatte er schon vorher in
Mannheim gesammelt.
({6})
Wer hier wen vernichtet und politisch aufreibt, wird erst
die Zukunft erweisen.
({7})
Herr Bundeskanzler, Sie haben dabei eine ganz erhebliche
Verantwortung.
({8})
Im Übrigen ist der Hauptleidtragende dabei eigentlich
nicht Herr Scharping, sondern die Bundeswehr und die
deutsche Glaubwürdigkeit in der internationalen Öffentlichkeit.
({9})
Die Verantwortung dafür trägt ebenfalls der Bundeskanzler.
({10})
Herr Scharping, Sie sind 1998 mit einem großen Vertrauensvorschuss der Soldaten in Ihr Amt gestartet, den
Sie sich insbesondere durch die Gespräche, die Sie damals
auf allen Ebenen der Bundeswehr geführt haben, erworben haben.
({11})
Ich muss Sie, Herr Scharping, und auch Sie, Herr Bundeskanzler, offenbar mit der Realität konfrontieren: Auf
der Kommandeurtagung der Bundeswehr, die vor wenigen Wochen stattgefunden hat und auf der auch Sie, Herr
Bundeskanzler, gesprochen haben,
({12})
ist deutlich gemacht worden, dass dieser Vertrauensvorschuss absolut aufgebraucht ist. Das politische und nicht
das menschliche Problem in der Führung der Bundeswehr
ist, dass Verteidigungsminister Scharping einen rasanten
Vertrauens- und Autoritätsverlust bis hin zur Unkenntlichkeit erfahren hat und dass er seine Glaubwürdigkeit in
der Bundeswehr sowie in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit verloren hat. Das ist das eigentliche politische Problem.
({13})
Im Hinblick auf dieses Problem, das eine Zumutung für
Deutschland ist - das Maß ist voll -,
({14})
kann entweder der Bundeskanzler zum jetzigen Zeitpunkt
oder der Wähler am 22. September eine Lösung herbeiführen.
({15})
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/8954 mit dem Ti-
tel „Entlassung des Bundesministers der Verteidigung
Rudolf Scharping“.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Es gibt zwei
schriftliche Erklärungen gemäß § 31 unserer Geschäfts-
ordnung: zum einen der Kollegin Sylvia Voß,1) zum ande-
ren des Kollegen Christian Simmert und der Kolleginnen
Annelie Buntenbach und Irmingard Schewe-Gerigk.2)
1) Anlage 4
2) Anlage 5
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, bei der
Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass die von
Ihnen verwendeten Stimmkarten Ihren Namen tragen. -
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen be-
setzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä-
ter bekannt gegeben.1)
Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Ich bitte darum,
dass alle Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte noch
folgen wollen, ihre Plätze einnehmen. Vorher werde ich
den ersten Redner auch nicht aufrufen. - Vielleicht könnten die Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer dafür sorgen, dass wir die Beratung zügig
fortsetzen können.
({0})
- Ich werde jetzt keine Zensuren verteilen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b sowie
die Zusatzpunkte 14 und 15 auf:
10. a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reform durch Verfassung: Für eine demokratische, solidarische und handlungsfähige Europäische Union
- Drucksache 14/9047 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Christian Schmidt ({2}), Michael
Stübgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Notwendige Reformen für die zukünftige EU:
Forderungen an den Konvent
- Drucksache 14/8489 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Albowitz,
Hildebrecht Braun ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Zukunft Europas liegt in den Händen des
Konvents
- Drucksache 14/9044 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Hiksch, Dr. Klaus Grehn, Roland Claus und der
Fraktion der PDS
Ein anderes Europa ist möglich - Im Konvent
die Weichen für eine demokratische, solidarische und zivile europäische Union stellen
- Drucksache 14/9046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich
eröffne die Aussprache. Erster Redner für die Fraktion der
SPD ist der Kollege Dr. Jürgen Meyer.
({7})
- Nach einer minimalen Verzögerung hat dann der Kollege Dr. Jürgen Meyer das Wort.
({8})
- Das passiert in einer Live-Sitzung.
Es spricht jetzt Dr. Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich bitte die kleine Verzögerung zu entschuldigen. Sie entstand, weil ich davon ausging, dass ich
als letzter und nicht als erster Redner sprechen würde.
({0})
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Seite 23574 A
Unser Thema ist die Arbeit des Konvents in Brüssel.
Ich nutze diese Gelegenheit gern, einige Informationen
über diese Arbeit zu vermitteln, denn als Delegierter des
Deutschen Bundestages im Brüsseler Verfassungskonvent finde ich es außerordentlich wichtig, dass wir auch
hier im Plenum und nicht nur im Europaausschuss die Arbeit dieses Konvents mitgestalten.
({1})
Lassen Sie mich zu der heutigen Debatte eine Eingangsbemerkung machen, die verdeutlicht, dass dies kein
Feld parteipolitischer Polemik ist. Wenn man sich zum
einen die von der Koalition, also von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, und zum anderen die von der
CDU/CSU-Fraktion vorgelegten Anträge anschaut, dann
entdeckt man eine Fülle von Gemeinsamkeiten für die
Arbeit an der künftigen europäischen Verfassung. Das
macht es mir auch leichter, die Meinung des Deutschen
Bundestags in Brüssel zu vertreten.
Eine Gemeinsamkeit besteht zum Beispiel darin, dass
wir alle die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta wollen. Wir alle wollen, dass deutlich wird: Europa ist nicht
nur eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft.
({2})
Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass wir
eine klarere Gewaltenteilung zwischen den Institutionen
in Brüssel wollen. Allerdings würde mich sehr interessieren, was die Opposition zu dem Vorschlag meint, auch die
künftige Rolle des Europäischen Rates in dieses System
der Gewaltenteilung einzubringen, denn es muss doch
klar sein, ob der Europäische Rat auf seinen Gipfelkonferenzen eher Regierung ist oder vielleicht auch Gesetzgeber oder auch beides. Meine persönliche Meinung ist,
dass die Regierungen künftig eindeutig regieren sollten,
aber dies sollte auch in unseren Debatten noch geklärt
werden.
Es gibt eine Gemeinsamkeit hinsichtlich des gemeinsamen Budgetrechts des Europäischen Parlaments und
des Rates. Es gibt auch die gemeinsame Forderung, dass
die Gesetzgebungsinitiativrechte künftig nicht nur von
der Kommission, sondern in gleicher Weise auch von Europäischem Parlament und Rat ausgeübt werden sollten.
Wir sind gemeinsam grundsätzlich für Mehrheitsentscheidungen und - das wird zum Beispiel wegen der kritischen Haltung unserer britischen Freunde schwer durchzusetzen sein - für die Wahl des Kommissionspräsidenten
durch das Europäische Parlament.
Lassen Sie mich auch ein kritisches Wort in Richtung
der Opposition sagen, und zwar im Hinblick auf den Vorschlag, den Sie von der Opposition für die Klärung von
Kompetenzproblemen machen. Ihr Vorschlag geht dahin, dass künftig ein Kompetenzsenat des Europäischen
Gerichtshofs, in dem auch eine Beteiligung nationaler
Verfassungsrichter vorgesehen werden kann, Kompetenzstreitigkeiten schlichten soll. Lassen Sie mich dazu einfach Folgendes sagen: Europa ist kein Amtsgericht. Subsidiarität ist nicht nur ein Rechts-, sondern auch ein
politisches Prinzip. Deshalb ist meine Überzeugung - für
die ich bei allen Fraktionen werben möchte -, dass die
Rolle der nationalen Parlamente auch bei solch heiklen
Fragen nicht ausgeblendet werden darf. Die Rolle der nationalen Parlamente sollte auch in diesem Zusammenhang beachtet werden.
({3})
Lassen Sie mich die drei Grundbotschaften nennen, für
die ich mich in Brüssel engagieren möchte und für die ich
hoffentlich Ihre Unterstützung erhalte.
Die erste Grundbotschaft ist, mehr Demokratie zu wagen. Das heißt: Der Konventsgedanke, der eine stärkere
Beteiligung von Parlamentariern an europäischen Weichenstellungen zum Inhalt hat, muss in die Verfassung
transponiert werden. Dies ist eine Grundforderung, für die
ich um Unterstützung bitte.
({4})
Es sollte nicht möglich sein, dass Kompetenzen auf die
Ebene der Europäischen Union übertragen werden und
dabei eine bislang vorhandene parlamentarische Kontrolle verloren geht. Das darf nicht sein. Auch das bedeutet, mehr Demokratie in Europa zu wagen.
({5})
„Mehr Demokratie wagen“ muss sich auch bei der Neugestaltung dessen, was wir etwas technokratisch als zweite
und dritte Säule bezeichnen, auswirken. Das heißt: Die
künftige europäische Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die künftige europäische Innen- und
Rechtspolitik müssen schrittweise in dem Sinne vergemeinschaftet werden, dass die Regierungen weniger
allein machen und dass die Parlamente, die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament, mehr Mitsprache
erhalten. Auch das bedeutet, mehr Demokratie zu wagen.
({6})
Die zweite Grundbotschaft, für die ich um Unterstützung werbe, ist die, dass unsere Wertegemeinschaft in
Europa vom Grundgedanken der Solidarität geprägt sein
muss. Deshalb sollten wir unter allen Umständen die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta mit ihren zwölf sozialen Grundrechten erkämpfen. Dies ist ein europäisches
Wertemodell. Dies ist ein Modell, das inzwischen zu einem Exportschlager geworden ist. In anderen Kontinenten beachtet man sehr, was wir Europäer machen. Ein
Wertemodell zu exportieren ist, finde ich, nicht schlechter, als Autos und andere Wirtschaftsgüter zu exportieren.
({7})
Der dritte Grundgedanke, den wir sicherlich gemeinsam vertreten, ist der, dass auch die vergrößerte Europäische Union handlungsfähig sein muss. Das bedeutet, dass
Dr. Jürgen Meyer ({8})
bei Entscheidungen viel mehr, als in Nizza vereinbart, das
Mehrheitsprinizip zum Zuge kommen muss. Das gilt gerade auch für die vergrößerte Europäische Union. Es wäre
das Ende der Handlungsfähigkeit, wenn in einer Europäischen Union mit demnächst 25 Mitgliedstaaten ein Staat
ein Vetorecht ausüben und dadurch Privilegien erzwingen
könnte. Das geht nicht. Wir sind für die Durchsetzung des
Mehrheitsgedankens.
({9})
Die spanische Präsidentschaft hat ihre Arbeit unter das
Motto „Mehr Europa“ gestellt. Ich halte das für einen
großartigen Gedanken. Inwieweit er unter spanischer Präsidentschaft realisiert werden kann, wird man am Ende
dieser Präsidentschaft zu beurteilen haben. Mehr Europa
bedeutet aber auch, dass wir uns vor scheinbaren Gegensätzen hüten sollten. Dazu gehört beispielsweise die
Frage „Mehr oder weniger Nationalstaat?“. Nach meiner
Überzeugung, die Sie hoffentlich teilen, ist der Nationalstaat nicht ein Gebilde der Vergangenheit, sondern er wird
in einer Föderation der Nationalstaaten eine Zukunft haben. Das ist der Gedanke, den Johannes Rau und Gerhard
Schröder formuliert haben. Ich denke, dieser Gedanke ist
eine gute Grundlage auch für die Arbeit des Konvents.
Ich danke Ihnen.
({10})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis
der namentlichen Abstimmung über den Antrag der
Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin,
Dr. Werner Hoyer und der Fraktion der FDP zur Entlassung des Bundesministers der Verteidigung, Rudolf
Scharping, auf Drucksache 14/8954 bekannt geben. Abgegebene Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 254 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 319 Abgeordnete. Es haben sich neun Kolleginnen und Kollegen
enthalten.
Dr. Jürgen Meyer ({0})
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon
ja: 254
nein: 318
enthalten: 9
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Antje Blumenthal
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Klaus Bühler ({2})
Hartmut Büttner
({3})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({4})
Peter H. Carstensen
({5})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Dr. Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Anke Eymer ({6})
Ilse Falk
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({7})
Klaus Francke
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({9})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({10})
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
({11})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Detlef Helling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({12})
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({13})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({14})
Erich Maaß ({15})
Erwin Marschewski
({16})
Dr. Martin Mayer
({17})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Bernward Müller ({18})
Elmar Müller ({19})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({20})
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({21})
Dr. Klaus Rose
Adolf Roth ({22})
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Gerhard Scheu
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({23})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({24})
Andreas Schmidt ({25})
Michael von Schmude
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wolfgang Schulhoff
Gerhard Schulz
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm Josef Sebastian
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({26})
Edeltraut Töpfer
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Gerald Weiß ({27})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({28})
Hans-Otto Wilhelm ({29})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Willy Wimmer ({30})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
FDP
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({31})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({32})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({33})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Walter Hirche
Dr. Werner Hoyer
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({34})
Detlef Parr
Dr. Günter Rexrodt
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
PDS
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Bärbel Grygier
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Christina Schenk
Dr. Ilja Seifert
Nein
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({35})
Klaus Barthel ({36})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({37})
Kurt Bodewig
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({38})
Bernhard Brinkmann
({39})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({40})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({41})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Lilo Friedrich ({42})
Harald Friese
Anke Fuchs ({43})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({44})
Angelika Graf ({45})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({46})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({47})
Jelena Hoffmann ({48})
Walter Hoffmann
({49})
Iris Hoffmann ({50})
Frank Hofmann ({51})
Ingrid Holzhüter
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({52})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({53})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({54})
Gabriele Lösekrug-Möller
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({55})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Vizepräsidentin Petra Bläss
Dr. Jürgen Meyer ({56})
Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({57})
Jutta Müller ({58})
Christian Müller ({59})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({60})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({61})
Birgit Roth ({62})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({63})
Ulla Schmidt ({64})
Silvia Schmidt ({65})
Dagmar Schmidt ({66})
Wilhelm Schmidt ({67})
Dr. Frank Schmidt
({68})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({69})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({70})
Brigitte Schulte ({71})
Volkmar Schultz ({72})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({73})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({74})
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({75})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({76})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({77})
Helmut Wieczorek
({78})
Heino Wiese ({79})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({80})
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({81})
Waltraud Wolff
({82})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({83})
Marieluise Beck ({84})
Volker Beck ({85})
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Amke Dietert-Scheuer
Franziska Eichstädt-Bohlig
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({86})
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Kerstin Müller ({87})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({88})
Werner Schulz ({89})
Christian Simmert
Hans-Christian Ströbele
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Helmut Wilhelm ({90})
Margareta Wolf ({91})
PDS
Wolfgang Bierstedt
Fraktionslos
Christa Lörcher
Enthaltungen
CDU/CSU
Brigitte Baumeister
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Sylvia Voß
PDS
Dr. Ruth Fuchs
Heidemarie Lüth
Manfred Müller ({92})
Kersten Naumann
Gustav-Adolf Schur
Vizepräsidentin Petra Bläss
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({93})
Zierer, Benno*
CDU/CSU
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
Der Antrag ist damit abgelehnt.
({94})
Wir fahren in der Debatte fort. Nächster Redner ist der
Kollege Peter Altmaier für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! In der grundsätzlichen Haltung zur Europäischen Union sind wir uns in diesem
Hause seit vielen Jahren einig. Dies ist auch notwendig;
denn die Arbeit des Konvents findet in einem schwierigen internationalen politischen Umfeld statt. Fast jede
Woche wird in Europa irgendwo eine sozialdemokratische Regierung abgewählt. Populisten von rechts und
links erhalten breiten Zulauf mit europafeindlichen Parolen und Schlagworten.
({0})
Wenn der Bundeskanzler allerdings vor diesem Hintergrund pathetisch vor einer rechten Gefahr warnt, dann
sollte er ehrlicherweise sagen, dass der Aufstieg extremer Kräfte in Europa derzeit überall parallel mit dem
eklatanten Versagen sozialdemokratischer Regierungen
einhergeht.
({1})
Das war der Fall in Italien, in Österreich, in Dänemark, in
Portugal und in Frankreich. In den Niederlanden wurden
die sozialdemokratischen Stimmen regelrecht halbiert.
Sozialdemokratische Parteien verlieren flächendeckend
Wahlen, weil sie für die Probleme der Bürger weder Antworten noch Lösungen haben. Die Wähler in Deutschland
haben dies inzwischen ebenfalls verstanden.
Ein weiterer Punkt. Die europapolitischen Rundumschläge des Bundeskanzlers gegen alles, was sich in
Brüssel bewegt, werden nicht dazu beitragen, den antieuropäischen Populisten aller Länder den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sogar die „FAZ“, die nicht im Verdacht
steht, unkritisch europabegeistert zu sein, wirft ihm vor,
auf die europäischen Institutionen einzuprügeln, ihre Autorität zu beschädigen und sie zu dämonisieren. Sie
kommt zu dem Schluss:
({2})
Schröder selbst hat getan, was er nun als potentielle
Wirkung einer „rechten Gefahr“ unterstellt.
({3})
Die ständigen Frontalangriffe auf die Europäische
Kommission, die markigen, aber hohlen Sprüche über nationale Interessen haben in Brüssel, im Konvent, in den
Nachbarländern und bei den Beitrittskandidaten zu erheblichen Zweifeln und Verunsicherung geführt, ohne
dass irgendetwas im positiven Sinne erreicht worden
wäre. Dies schadet den europäischen und den deutschen
Interessen gleichermaßen.
({4})
Der Umstand, dass wir nun schon im zweiten Jahr in
Europa Schlusslicht bei Wirtschaftswachstum, Haushaltsdefizit und Unternehmenspleiten sind, ist in den Gesprächen am Rande des Konvents mehr als einmal Thema
und trägt nicht dazu bei, das Vertrauen in unser Land und
in die handelnden Personen zu stärken.
({5})
- Hören Sie bitte zu!
Vor dem Hintergrund der innenpolitischen Verwerfungen in immer mehr europäischen Staaten und des enormen
Zeitdrucks, unter dem wir für den weiteren Fortgang der
Verhandlungen stehen, müssen wir uns im Konvent auf
das konzentrieren, was an Herausforderungen notwendig
und wichtig ist. Ich will drei Herausforderungen nennen.
Die erste Herausforderung. Wir müssen die Osterweiterung der Europäischen Union - unabhängig von der Arbeit des Konvents - mit Nachdruck vorantreiben und fristgerecht vollenden, damit die ersten neuen Mitgliedstaaten
an den Europawahlen im Jahre 2004 teilnehmen können.
({6})
Dass gerade in den letzten Tagen Zweifel an der Realisierbarkeit dieses Zeitplans aufgekommen sind, muss uns
alarmieren. Wir dürfen die Kandidaten nicht länger vertrösten und dürfen uns weder hinter dem Konvent noch
hinter nationalen Problemen verstecken.
({7})
Zweitens. Wir müssen in der weiteren Arbeit des Konvents die Hauptlinien der notwendigen Reformen nicht
nur für Juristen und Politiker, sondern auch für die Bürger
erkennbar und nachvollziehbar machen. Die Zeit der Verhandlungen hinter verschlossenen Türen ist vorbei. Aber
wir müssen die öffentlichen Debatten auch so strukturieren, dass sie verstanden werden und sich nicht in technischen Details und kleinkariertem Feilschen über Sonderinteressen erschöpfen.
({8})
Das gilt auch, verehrter Herr Kollege Meyer, für Ihr
Lieblingsprojekt, den so genannten Subsidiaritätsausschuss. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll dieser
Ausschuss zusätzlich neben die bereits bestehenden Institutionen Europäisches Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof, Wirtschafts- und Sozialausschuss und Ausschuss der Regionen treten und dann gemeinsam mit
diesen darüber entscheiden, wo die EU tätig werden soll
und wo nicht. Ein solcher Ausschuss würde, wenn er
käme, das Institutionengefüge nicht einfacher, sondern
komplizierter machen
({9})
Vizepräsidentin Petra Bläss
und er würde es undurchschaubarer und nicht übersichtlicher machen.
({10})
Ein Ausschuss von mindestens 100 nationalen und europäischen Abgeordneten
({11})
mit dazugehörigem Apparat und dazugehöriger Ausstattung wird die Gewaltenteilung in Europa empfindlich beeinträchtigen, die Stellung des Parlaments und der Kommission schwächen und auch den nationalen Parlamenten
Steine geben statt Brot.
({12})
Deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns nicht verzetteln in Lösungen nach dem Motto „Und wenn ich nicht
mehr weiter weiß, dann mach‘ ich einen Arbeitskreis“,
sondern dass wir uns auf die Themen konzentrieren, die
uns die Mitgliedstaaten in der Erklärung von Laeken für
den Konvent ins Stammbuch geschrieben haben. Wir
brauchen ein starkes Europäisches Parlament mit Mitentscheidungsrecht in allen Gesetzgebungsfragen, einen
starken Kommissionspräsidenten, der vom Parlament gewählt ist, und eine klare Verteilung der Zuständigkeiten,
deren Einhaltung vom EuGH auf Antrag der nationalen
Parlamente auch überwacht und überprüft werden kann.
Das ist allemal besser als neue Komitees und Ausschüsse,
die niemand versteht.
({13})
Wir sollten auch darüber nachdenken, ob es nicht Sinn
macht, die Debatte über die Kompetenzverteilung in
Europa zu entideologisieren und zu entdämonisieren.
({14})
Sie ist nämlich wichtig im Hinblick sowohl auf die Effizienz als auch auf die Demokratie in der Europäischen
Union. Wenn wir die Illusion nähren, dass sich Europa um
alles und jedes kümmern muss oder kann, wird die Europäische Union an ihrer eigenen Handlungsunfähigkeit ersticken, weil ein Gebilde von 25 Mitgliedstaaten nicht in
derselben Weise regiert und verwaltet werden kann wie
eine viel kleinere Sechser- oder Zehnergemeinschaft.
Angesichts der Größe und der Heterogenität der künftigen Europäischen Union, des enormen Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd, Ost und West, der unterschiedlichen Mentalitäten, Kulturen und Interessen
müssen wir uns doch gemeinsam die Frage stellen, was
wir künftig noch bezahlen können, was wir künftig noch
gemeinsam regeln können und müssen und wo wir Spielräume für nationales Handeln der Mitgliedstaaten erhalten oder erweitern können.
Wir haben mit dem Schäuble-Bocklet-Papier nicht den
Anspruch erhoben, den Stein des Weisen gefunden zu haben,
({15})
aber wir haben Ihnen einen Vorschlag unterbreitet, der
zeigt, in welchen Bereichen, etwa in den Bereichen der
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wir neue
Kompetenzen für die Union begründen und in anderen
Bereichen nationale Spielräume erhalten wollen. Wir
wollen über diese Fragen diskutieren, statt uns in ideologischen Debatten zu erschöpfen.
({16})
Was spräche denn dagegen, die finanzielle Hilfe für die
strukturschwachen Regionen in den Mitgliedstaaten auf
die wirklich armen Länder zu konzentrieren und den reicheren Mitgliedstaaten, die Nettozahler sind, stattdessen
mehr Befugnisse zur eigenverantwortlichen Förderung
ihrer eigenen strukturschwachen Gebiete zu übertragen?
Es macht doch keinen Sinn, dass wir deutsche Gelder
nach Brüssel überweisen, die dann von einem dänischen
oder französischen Beamten, teilweise mit Auflagen und
Bedingungen, in die neuen Länder zurücküberwiesen
werden. Das schafft Bürgerferne und Bürokratie, erhöht
die Anfälligkeit für Betrug sowie Korruption und bindet
wichtige Ressourcen der Union, die wir in anderen Bereichen dringend brauchen.
({17})
Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, wie
wir die Europäische Union wieder handlungsfähig machen können: mit Mehrheitsentscheidungen, mit öffentlichen Beratungen im Ministerrat und mit Gesetzen, die
nicht einer jahrelangen Ratifizierungsprozedur bedürfen.
Herr Kollege Meyer, wir waren beide Berichterstatter für
das Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft, das im Jahre 1996 unterschrieben
wurde. Es ist bis heute nicht in Kraft getreten, weil es
nicht in allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist.
Wenn dieses Gesetz notwendig war, dann ist es ein
Skandal, dass es nach sechs Jahren noch immer nicht in
Kraft getreten ist. Wenn dieses Gesetz aber nicht notwendig war, dann hätten wir uns die Arbeit sparen und die
Kräfte auf wichtigere Aufgaben konzentrieren können.
Darüber müssen wir in Europa diskutieren, wenn wir den
Bedenken und den Problemen der Bürger Rechnung tragen wollen.
Lassen sie mich noch einen wichtigen Aspekt hinsichtlich der Beratungen in den nächsten Wochen ansprechen.
Wir haben in Europa in den letzten Jahren viele Züge auf
die Gleise gesetzt. Sie sind zwar mit Aplomb abgefahren,
aber nur wenige sind angekommen: Die Agenda 2000 ist
verabschiedet; durch sie wurde die Erweiterung aber nicht
wirklich finanziert. Die Grundrechtecharta ist feierlich
proklamiert worden, aber sie ist bislang nicht verbindlich
und einklagbar. In Nizza gab es ein enttäuschendes Ergebnis, das meilenweit von der Ratifizierung und dem
In-Kraft-Treten entfernt ist.
Nun tagt der Konvent. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.
Wenn wir verhindern wollen, dass sich Mutlosigkeit breit
macht und antieuropäische Stimmungen weiter angeheizt
werden, dann müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass
die beiden wichtigsten Züge, die Osterweiterung und der
Konvent, pünktlich und mit allen Insassen ins Ziel kommen. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung als Demokraten und als Europäer.
Ich danke Ihnen.
({18})
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Hoffnungen und die Erwartungen, die wir alle in diesen
Konvent setzen, sind gewiß sehr hoch. Es scheint ein breites Einverständnis darüber zu herrschen, dass wir als Ergebnis dieses Konvents den Entwurf eines Verfassungsdokuments erwarten, der ernst genommen werden muss
und insofern ein wichtiger Markstein in der Geschichte
der europäischen Integration sein soll. Deshalb ist es ein
positives Signal des Konvents, dass sich zumindest die
große Mehrheit der Mitglieder dieser Aufgabe stellen
will. Es ist ein ambitioniertes Ziel, für dessen Umsetzung
die Zeit knapp ist. Deshalb ist es aber auch ein positives
Signal, dass die Mitglieder des Konvents gewillt sind, das
manchmal etwas bedächtige, präsidial vorgegebene
Tempo zu erhöhen, sozusagen Dampf zu machen, was an
der Bildung von Arbeitsgruppen deutlich wird.
({0})
Der Ruf nach baldiger Vorlage von Texten macht deutlich, dass man über europäische Idealvorstellungen nicht
langatmig reden, sondern Textarbeit - ich denke an konkrete Arbeit mit Vorschlägen und darüber hinaus gemeinsame Debatten - leisten will. Das ist das Ziel. Nach meinem
bisherigen Eindruck entwickelt sich eine Eigendynamik,
die wir alle erhofft haben. Für diese Eigendynamik sind
gerade die Abgeordneten verantwortlich und dafür verdienen die Parlamentarier in diesem Gremium, auch die
beiden deutschen Vertreter, unseren ganz besonderen
Dank.
({1})
Die Ziele dieses Prozesses sind meines Erachtens relativ klar. Das sind zum einen die häufig erwähnte Demokratisierung der EU und zum anderen die Sicherung der
Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen in einer erweiterten EU im Zeitalter der Globalisierung. Zum
Dritten ist es aber auch die Fortentwicklung des europäischen Gesellschaftsmodells der Solidarität. Und
schließlich ist es die Verbesserung der Grundlagen für
eine demokratische, ökologisch-soziale und nachhaltige
Reformpolitik.
({2})
Es wurde schon eine Reihe von Problemen angesprochen. In meiner kurzen Redezeit will ich nur auf drei Probleme hinweisen, die etwas am Rande dessen liegen,
worüber diskutiert wird.
Das eine ist das Stichwort Gewaltenteilung. Wir debattieren ja viel über Demokratisierung, über „volle Parlamentarisierung“, über die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments. Das alles tun wir zu Recht. Aber
wir müssen, glaube ich, auch noch intensiver über Gewaltenteilung reden, über das Verhältnis zwischen den Institutionen.
Wir sind uns einig: Im legislativen Prozess geht es um
eine Gleichberechtigung des Europäischen Parlaments
gegenüber dem Rat. Ungeklärt ist aber weitgehend der
ganze Bereich der Exekutive, denn da haben wir es mit
drei Organen zu tun: der Kommission, dem Rat und dem
Europäischen Rat. Hier liegt bislang kein stimmiges Konzept vor. Die Räte lassen sich ganz gewiss nicht auf ein legislatives Organ reduzieren. Sie haben weiterhin einen
Anspruch auf Teilhabe an der exekutiven Gewalt.
Die Kommission muss aber mehr sein als eine Administration des Rates, zumal wenn wir uns alle einig sind,
dass die demokratische Legitimation dieser Kommission
gestärkt werden soll. Dieses Verhältnis der Institutionen
untereinander zu klären wird eine Aufgabe sein.
Das zweite Problem betrifft das Stichwort Referendum. Wir halten ein Referendum für richtig.
({3})
Dabei geht es nicht nur um ein Referendum über die Verfassung, sondern auch um die Verankerung des Referendums in einer Verfassung. Die Frage ist nicht: Wie viel
Demokratie können wir uns in der EU leisten?, sondern
die Frage lautet meines Erachtens: Wie lange kann die EU
mit dem existierenden Demokratiedefizit noch überleben?
Deshalb ist das Referendum nicht ein direktdemokratisches Sahnehäubchen auf einer institutionellen Verfassung, sondern es ist eine Notwendigkeit für die europäische Demokratie und auch für die europäische Identität.
({4})
Herr Kollege Sterzing,
ich weiß, dass Sie uns noch ein drittes Problem angekündigt haben. Jetzt ist aber Ihre Redezeit schon abgelaufen.
Vielleicht nennen Sie noch kurz das Stichwort.
Das dritte Problem betrifft den Euratom-Vertrag. Er
muss nach unserer Überzeugung abgewickelt werden;
denn wir müssen auch eine Grundlage für eine neue Energiepolitik innerhalb Europas schaffen und dürfen nur die
unbedingt notwendigen Teile des Euratom-Vertrags, die
den Gesundheitsschutz, die Sicherheit, die Entsorgung
betreffen, in eine neue Verfassung übertragen.
({0})
Das sind drei Probleme, über deren Lösung wir in den
nächsten Wochen und Monaten gemeinsam noch heftig
diskutieren müssen.
Vielen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist
für die FDP-Fraktion die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! So wichtig es ist, dass wir in unseren Debatten den
Beratungsprozess im Konvent begleiten, so schön wäre
es, wenn der Beauftragte der Bundesregierung und auch
der Vertreter des Bundesrates wenigstens an dieser Debatte teilnehmen würden.
({0})
Beide vermisse ich sehr; denn es geht uns ja darum, dass
gerade diese beiden Vertreter bei der Wahrnehmung ihrer
Interessen und Anliegen sehr wohl sehen, in welche Richtung diese Debatte verläuft und welche Gemeinsamkeiten
in Grundlinien vom Parlament vertreten werden.
Zumindest für die Vertreter im Europaausschuss gilt:
Es ist besonders bedauerlich, dass es, seit die Diskussionen im Konvent begonnen haben, kein einziges Mal gelungen ist, uns mit diesem Vertreter und diesem Beauftragten intensiv über die grundsätzliche Arbeit des
Konvents argumentativ auseinander zu setzen.
({1})
Das, denke ich, ist nicht dazu angetan, die weitere Entwicklung des Konvents zu euphorisch zu sehen.
Wir haben unseren Antrag mit den Worten überschrieben: „Die Zukunft Europas liegt in den Händen des Konvents“. Natürlich nicht, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass wir damit keine Rolle mehr spielen, sondern um
deutlich zu machen, wie wichtig und entscheidend der
Konvent in diesem Stadium der europäischen Integration
ist. Denn mit den herkömmlichen Strukturen sind wir
ziemlich an die Grenzen dessen gelangt, was zu entscheiden notwendig war. In diesem Zusammenhang brauche
ich nicht an unsere Debatten hier im Parlament über den
Vertrag von Nizza, über die so genannten Leftovers, zu erinnern, von denen ich hoffe, dass zumindest sie im Rahmen der anspruchsvollen Aufgaben und Ziele, die sich der
Konvent gesetzt hat, einigermaßen gelöst werden können.
Zu den Schlagworten „Handlungsfähigkeit der EU“,
„Demokratiedefizit“ und „höheres Maß an Transparenz“
möchte ich gar nicht mehr sehr viel sagen. Einen Punkt
aber möchte ich betonen: Über die Richtungsänderung
der Diskussion, wie sie mir von einem Vertreter des Präsidiums, Herrn Hänsch, in einer Runde in der letzten Woche geschildert worden ist, bin ich etwas besorgt. Denn im
Präsidium des Konvents ist man zu der Auffassung gekommen, dass man jetzt nicht über die Finalität des Konventsprozesses, der ein Verfassungs- und Diskussionsprozess ist, beraten und diskutieren sollte.
Warum? - Weil dann die in dieser Frage sehr unterschiedlichen Grundhaltungen der Mitglieder des Konvents, die aus den verschiedenen Mitgliedstaaten kommen, deutlich würden.
So sehr ich dafür bin, verbal Gemeinsamkeiten zu formulieren, so sehr müssen wir uns bewusst sein, dass das,
was wir uns von diesem Konvent erhoffen, nämlich als
langfristiges Ziel der Europäischen Union letztendlich
eine Verfassung, ein ganz steiniger, dorniger und schwieriger Weg sein wird. Auch der Konvent mit seinen vielen
Erwartungen und dem Optimismus, den wir nationale
Parlamentarier mit ihm verbinden, wird, wenn man die
allgemeinen Begriffe und notwendigen Zielsetzungen
verlassen wird, sehr schnell an seine Grenzen stoßen.
Trotz dieses hohen Anspruchs und trotz der nach meiner
Auffassung notwendigen Vision der Finalität dieses Integrationsprozesses sollten wir uns sehr wohl mit kleinen
Schritten der Verbesserung befassen und deutlich machen, was wir ganz konkret wollen.
({2})
Das heißt für das Europäische Parlament - da kommen
wir zu den Gemeinsamkeiten -: Ausstattung mit dem
vollen Budgetrecht, Ausdehnung der Mitentscheidungskompetenzen und das Recht, den Kommissionspräsidenten zu wählen. Als ein wichtiger Schritt würde damit deutlich gemacht werden, wo die Verantwortung liegt, wie sie
wahrgenommen werden kann und welche Kontrollfunktionen ausgeübt werden sollten. Damit könnte sichtbar
gemacht werden, dass auf der Kommissionsebene Verantwortlichkeiten liegen, die im Hinblick auf die Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen werden müssen.
({3})
Natürlich spielt neben der immer so bezeichneten Stärkung des Parlaments und der Beseitigung des Demokratiedefizits die Kompetenzabgrenzung, die Kompetenzzuordnung eine entscheidende Rolle. Ich bedauere es
häufig, dass in den Debatten über den Konvent und die
Zukunft der Europäischen Union sehr viele fast immer
mit der Kompetenzzuordnung beginnen, anstatt mit der
Stärkung der Demokratie, dem Verhältnis der Institutionen zueinander und einer stärkeren Kontrolle und
Transparenz anzufangen. Denn das sind aus meiner Sicht
die Dinge, die wirklich Vorrang haben müssen.
({4})
Ich bin zwar nicht entsetzt, aber etwas überrascht darüber gewesen, in welcher einseitigen Diktion - ich erlaube mir einmal, das hier so zu sagen - sich Herr Teufel
den Fragen der Kompetenzzuordnung zugewandt hat.
({5})
Für ihn gibt es nur einen ganz starren, festen Aufbau Europas von unten nach oben. Ich habe in seiner Rede, die er
im Rahmen der Beratungen des Konvents gehalten hat,
überhaupt keine europäischen integrationspolitischen
Elemente erkennen können.
({6})
Die Forderung nach einem enumerativen Kompetenzkatalog ist unrealistisch.
({7})
Je mehr man sich mit den Kompetenzzuordnungen befasst, umso mehr wird deutlich, dass bei den Arbeiten des
Konvents der Acquis communitaire im Wesentlichen
nicht verlassen werden wird. Das sollte man realistisch
ansprechen; denn so schlecht ist er gar nicht.
Natürlich ist das Subsidiaritätsprinzip wichtig.
Ich darf für die FDP kurz sagen: Auch wir unterstützen
Forderungen nach weiteren Gremien, Subsidiaritätsausschüssen oder Ähnlichem nicht, weil dies die gesamten Abläufe komplizierter macht und es politische
Entscheidungen sind. Die werden nicht leichter, wenn wir
noch ein weiteres Gremium haben, in dem natürlich auch
Interessenunterschiede zutage treten und zum Tragen
kommen. Wir brauchen also keine Gremien und Institutionen, die die nationale und europäische Ebene vermischen; sie sollten vielmehr, soweit es geht, getrennt bleiben. Dann weiß man auch, wo Entscheidungen fallen, wer
verantwortlich ist und wen man für Entscheidungen zur
Verantwortung ziehen kann.
Leider erlaubt es mir die begrenzte Redezeit nicht, auf
andere Einzelheiten einzugehen. Bei aller Euphorie müssen wir aber - das ist mir wirklich sehr wichtig -, eine
ganz realistische Haltung gegenüber dem einnehmen, was
der Konvent tatsächlich leisten kann.
Vielen Dank.
({8})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Uwe Hiksch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europäische Konvent hat drei
große Aufgaben, die er im Hinblick auf die Schaffung einer europäischen Verfassung lösen muss.
Erstens. Er muss versuchen, eine Verfassung zu schaffen, mit der das vereinte Europa dahin gehend vorangebracht wird, dass es zu einer struktur- und sozialpolitischen Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen
Staaten kommt.
Zweitens. Er muss versuchen, die Defizite, die es in
Nizza gab, schrittweise zu überwinden, und eine
demokratische und strukturpolitische Antwort darauf geben, wie Europa weiter handlungsfähig bleiben kann.
Drittens muss er es schaffen, Europa so zu gestalten,
dass auch auf europäischer Ebene Arbeitslosigkeit
bekämpft, Armut verhindert und der wirtschaftliche Niedergang ganzer Regionen und Branchen sozial verträglich
gestaffelt oder ganz verhindert werden kann.
({0})
Deshalb wird dem Europäischen Konvent auch die
Aufgabe zukommen, eine andere Antwort auf die Probleme zu geben, als es derzeit die Mehrzahl der europäischen Regierungen tut. Wir erleben doch alle mit viel
Sorge - da hat Kollege Altmaier völlig Recht -, dass sich
in Europa die rechtspopulistischen Regierungen reihenweise durchsetzen, rechte Tendenzen in einer Art zunehmen, wie wir es uns alle nicht hätten vorstellen können,
und dass sich gerade die Menschen, die früher ihre Hoffnungen auf sozialdemokratische Projekte gerichtet haben - früher sprach man von kleinen Leuten, den Industriearbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern, den sozial
Ausgegrenzten sowie den einfachen Leuten -, reihenweise von dem abwenden, was Sozialdemokratie heute
macht, und auf rechtspopulistisches Gerede hereinfallen.
Deshalb hat Kollege Altmaier Recht, wenn er darauf
hinweist, dass das Abwählen sozialdemokratischer Regierungen auch damit zu tun hat, dass der Weg der Neuen
Mitte, der in Europa von Schröder und Blair beschritten
wurde, gescheitert ist und wir damit rechnen müssen, dass
sich Europa, wenn es nicht gelingt, eine sozial gerechte
Politik auf europäischer Ebene beispielsweise durch die
Schaffung einer sozialen und ökologischen Verfassung
durchzusetzen, in einer Form verändern wird, wie es keiner hier im Haus, wie ich glaube, möchte.
Deshalb sind wir herausgefordert - das kommt noch
hinzu -, die europäische Verfassung so weiterzuentwickeln, dass die Menschen spüren, dass die europäische
Ebene für die Lösung der dringenden Probleme genutzt
werden kann. Das wäre dann eine Motivation für die
Menschen, überhaupt zur Wahl zu gehen. Wir brauchen
also eine Diskussion darüber, Frau LeutheusserSchnarrenberger, wie soziale und bürgerliche Menschenrechte gemeinsam in der europäischen Verfassung
verankert werden können. Es kann nicht so gehen, dass
zwar die bürgerlichen Menschenrechte hochgehalten und
in der europäischen Verfassung eine Rolle spielen - wie es
beispielsweise die FDP fordert -, aber das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnung, das Recht auf Gesundheitsversorgung oder auch das Recht auf ein Existenzminimum
als individuell einklagbares Menschenrecht, das den gleichen Stellenwert wie soziale Menschenrechte haben muss,
in Europa insgesamt von großen Teilen der Sozialdemokratie und auch der liberalen und konservativen Kräfte infrage gestellt werden.
({1})
Hier wird die PDS deutlich machen: Wir brauchen eine
Verfassung, in der bürgerliche und soziale Grundrechte
als Menschenrechte verankert werden, sodass die Menschen eine Chance haben, diese auch einzufordern.
Wir brauchen darüber hinaus eine Diskussion darüber,
wie die Demokratisierung der Europäischen Union so
vorangetrieben werden kann, dass im Mittelpunkt der legislativen Entscheidungen auf europäischer Ebene das
Europäische Parlament steht. Es darf keine Entscheidungen in der Europäischen Union mehr geben, bei denen das
Europäische Parlament kein Mitentscheidungsrecht hat.
Darüber hinaus müssen plebiszitäre Elemente, beispielsweise die Möglichkeit einer Volksabstimmung über
eine europäische Verfassung, dazu beitragen, dass das europäische Projekt auf der einen Seite und die konkreten
Forderungen von Menschen an die Politik auf der anderen
Seite wieder zusammengeführt werden.
Schaffen wir das nicht, wird Neoliberalismus als die
einzige politische Grundrichtung von Sozialdemokraten,
von Grünen und auch von Konservativen in ein europäisches Projekt verwandelt. Dann müssen wir große Sorge
haben, dass die berechtigten Sorgen der Menschen dazu
führen, dass Rechtspopulisten Zulauf haben und wir keine
Antwort darauf finden, wie soziale Gerechtigkeit in ein
internationales Projekt wie dem eines gemeinsamen Europas als linkes und auch als demokratisches Projekt integriert wird.
Danke schön.
({2})
Jetzt spricht der Bundesfinanzminister Hans Eichel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa steht jetzt vor der historischen Aufgabe, sich eine
Verfassung zu geben. Das ist vielleicht der wichtigste
Schritt beim Zusammenwachsen Europas zu einer stabilen, friedlichen und prosperierenden Region. Diese Verfassung wird die Zukunft Europas für sehr lange Zeit regeln. Denken Sie einmal daran, welche Prägekraft die
amerikanische Verfassung, die seit Jahrhunderten fast unverändert gilt, gehabt hat, aber auch daran, welche Prägekraft etwa das Grundgesetz hat.
Deshalb ist es nötig, diese Debatte im Konvent auch öffentlich zu begleiten, wobei wir uns, die wir heute hier
sind, vielleicht gemeinsam fragen sollten, wie viel Öffentlichkeit wir wirklich für diese Debatte herstellen.
({0})
Bei dem Skeptizismus - ich erlebe das landauf, landab -,
den es inzwischen im Lande gegenüber den europäischen
Entwicklungen gibt, sind wir umso mehr gefordert, diese
Debatte öffentlich zu machen, damit wir die Menschen
mitnehmen können. Denn es wird dieses Europa nur geben, wenn die Menschen es als ihre Zukunft begreifen.
({1})
Ich hoffe auch, dass die Verfassung das, worüber wir
immer wieder in den verschiedensten Zusammensetzungen diskutieren, klären wird: Was ist eigentlich das europäische Gesellschaftsmodell? Damit sollte den Menschen
ein Stück Rückhalt in der oft als Bedrohung empfundenen
Globalisierung gegeben werden. Es gibt den eigenständigen europäischen Beitrag dafür, wie eine gerechte
Weltordnung aussehen kann. Wir fangen bei uns zu Hause
damit an. Deswegen ist diese Debatte so wichtig.
Ich möchte - das ist in der Kürze der Zeit gar nicht möglich - keine umfassenden Bemerkungen dazu machen. Ich
denke, dass der Kollege Fischer am Schluss noch zusammenfassende Bemerkungen dazu machen wird.
({2})
Ich möchte aus der Perspektive des Finanzministers,
der in verschiedenen Zusammenhängen natürlich genauso
mit dem Thema befasst ist, ein paar Bemerkungen machen. Die erste Frage ist die nach den Aufgaben Europas. Ganz sicher ist, dass wir den Mut haben müssen, Europa als Einheit in der Welt sehr viel deutlicher sichtbar zu
machen. Das heißt zum Beispiel, der Außen- und der Verteidigungspolitik in Europa, Europa in diesem Zusammenhang viel mehr Gewicht zu geben.
({3})
Ich setze darauf, dass der Konvent gerade in diesem Bereich spürbare Fortschritte erzielt.
Dasselbe gilt für die äußeren Grenzen und damit auch
zum Beispiel für das Thema der Zuwanderung. Europa
wird über sehr lange Zeit eine Region der Zuwanderung
in der Welt sein, weil wir eine der großen Wohlstandsregionen auf dieser Welt sind. Man kann sich nicht vorstellen, dass wir das noch national regeln können. Das hat
dann auch mit der Asylpolitik zu tun.
Im Übrigen sage ich vor dem Hintergrund der Finanzmärkte, dass wir ein hohes Maß an innen- und rechtspolitischer Gemeinsamkeit in Europa benötigen. Wenn die
Fragen geklärt sind, welche Aufgaben in Zukunft auf europäischer Ebene gelöst werden sollen, dann müssen wir
im Blick auf die Zukunft darüber diskutieren.
Beim Europäischen Rat in Lissabon haben wir uns vorgenommen, Europa zur wettbewerbsfähigsten Region
dieser Welt zu machen. Das ist ein ungeheurer Anspruch,
von dem ich denke, dass wir ihm bis heute in den Ansätzen längst nicht hinreichend gerecht geworden sind. Dann
müssen wir aber in die Zukunft Europas, das heißt in den
Ausbau der Strukturen, die uns künftigen Wohlstand bescheren, investieren und nicht in das Konservieren vorhandener Strukturen.
({4})
Das ist dann europäische Aufgabe: investieren in Forschung und Bildung, investieren in die Wissenschaft, die
europäischen Netze ausbauen. Europa muss im wahrsten
Sinne des Wortes untereinander verbunden werden und
auf diese Weise zusammenrücken.
({5})
Die Bürgerinnen und Bürger sollen Europa so erleben,
dass hier in die Zukunft investiert wird, sie sollen Europa
nicht als ein Europa der Butterberge und als ein Europa erleben, in dem die Agrarpolitik zum Verbrennen von Tierkadavern als letztem Mittel greifen muss.
({6})
Ich sage dabei mit allem Nachdruck: Wir müssen die
Agrarpolitik grundlegend reformieren. Das muss mit der
Mid-Term Review bereits passieren.
({7})
Wenn wir die Aufgaben definiert haben, reden wir über
den Finanzbedarf und sein Aufbringen. Dabei will ich
mit völliger Klarheit sagen, um eine Position hart zu markieren: Wenn und solange - es wird wohl lange so sein die Zahl der Länder, die Nettozahler sind, die Minderheit
darstellt und die Mehrheit, nach der Erweiterung der
Europäischen Union nach Osten sogar die ganz große
Mehrheit, Nettoempfänger sind, muss die Frage, wie viele
Mittel der Europäischen Union zur Verfügung gestellt
werden, im Bereich der Einstimmigkeit verbleiben. Eine
andere Lösung kann ich mir nicht vorstellen.
Um das für Deutschland noch klarer zu machen: Es ist
1999 der Bundesregierung zum ersten Mal gelungen, im
Rahmen der Agenda 2000 den deutschen Beitrag zur Finanzierung der Europäischen Union zu senken. Ich sehe
diesen Prozess nicht am Ende. Es gibt auch aufgrund der
erfolgreichen Regional- und Kohäsionspolitik der Europäischen Union inzwischen Nettoempfänger, die ein
höheres Bruttoinlandsprodukt je Kopf der Bevölkerung
haben als wir zum Beispiel. Das, meine Damen und Herren, wird man auf Dauer niemandem erklären können.
Wir brauchen auch in der Finanzierung mehr Solidarität im Rahmen der Europäischen Union. Wir brauchen
mehr Solidarität mit Blick gerade auf die neuen Länder,
die der Europäischen Union - ich denke, ab 2004 - beitreten wollen.
({8})
- Ja, das ist auch und gerade mit der Einstimmigkeit zu
machen, anders nicht; denn anderenfalls werden Sie erleben, sehr verehrter Herr Kollege Hoyer - das ist die Frage
der Struktur der Union -, dass sehr einseitige Beschlüsse
zustande kommen. Bei der Frage „wie viel“ werden sich
alle verständigen müssen.
Damit kommen wir zu einem anderen Kapitel, zur
Frage der Koordinierung. Wir sind bei der Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik sehr weit gekommen. In keinem anderen Politikbereich sind die Fortschritte so deutlich. Wir haben einen gemeinsamen Markt
und für 12 der 15 eine gemeinsame Währung. Diese gemeinsame Währung ist ein Erfolg, auch weil sie durch den
Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt auf Dauer
abgesichert ist.
Ich sage mit allem Nachdruck: Ich kann nur jedem raten, vom Stabilitäts-und Wachstumspakt die Finger zu
lassen und die Verpflichtungen, die in Brüssel eingegangen worden sind, zu erfüllen.
({9})
Ich bin froh darüber, dass ich aus Frankreich - ich habe
das heute Morgen in einem anderen Zusammenhang
schon gesagt - eine Reihe von Signalen sehe, dass jedenfalls - ich will es zurückhaltend formulieren - nicht daran
gedacht wird, sich aus den Verpflichtungen, die man im
Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes eingegangen ist, verabschieden zu wollen.
Dass man europäische Politik ernst nimmt, muss sich
übrigens auch - das sage ich jetzt vor allem an die Vertreter der Opposition - in den Wahlprogrammen niederschlagen. Man kann nicht mehr allein nationale Politik machen
und Wahlprogramme aufstellen, die mit den Verpflichtungen, die man in Europa eingegangen ist, überhaupt nicht
mehr kompatibel sind. Das müssen sich insbesondere Sie
von FDP und CDU/CSU in der Tat klar machen;
({10})
denn das, was in Ihren Programmen steht, ist, wird es
ernst genommen, die klare Ansage, die Verpflichtungen,
die wir im Rahmen des Europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspaktes übernommen haben, nicht mehr erfüllen zu wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ihr
politischer Ernst ist. Wenn das aber nicht Ihr politischer
Ernst ist, sind Ihre Programme nicht ernst zu nehmen. Das
muss man den Menschen sagen.
({11})
Wir haben Instrumente entwickelt, die die Koordinierung von der unverbindlichen Gesprächsebene wegbringen und in konkrete Politik umsetzen. Eines der Instrumente sind die Grundzüge der Wirtschaftspolitik. Ich
kann mir vorstellen, dass diese Grundzüge, die jährlich
neu erstellt werden, in Zukunft an Bedeutung gewinnen
und die Kommission und wir alle eine Umsetzung der gemeinsamen Beschlüsse in der Tat noch strikter und mit
sehr konkreten Empfehlungen für jedes einzelne Mitgliedsland verfolgen. Das ist nicht sehr angenehm. Wir in
Deutschland und - ich übertrage das jetzt auf den nationalen Stabilitätspakt - auch die deutschen Länder sind das
noch nicht gewöhnt. Wir werden uns aber, jedenfalls
dann, wenn wir entschlossen sind, unsere Verpflichtungen
ernst zu nehmen, daran gewöhnen müssen.
Meine Damen und Herren, wir sollten im Gegenteil darüber nachdenken, wie wir die Abstimmung unserer Politiken inhaltlich verbessern - neue Prozeduren, die gar
nicht erforderlich sind, sollten wir nicht entwickeln - und
wie wir weitere Wirtschaftsfelder einbeziehen, die für
Wachstum und Beschäftigung entscheidend sind. Strukturreformen gehen zum Beispiel uns alle an.
Ich werde nun ein besonderes Beispiel aus dem Bereich, für den ich die Verantwortung in der Regierung
habe,
({12})
herausgreifen. Es geht um den gesamten Bereich der
Steuerharmonisierung. Ich kann mir einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung mit zwölf,
15 oder irgendwann auch 27 unterschiedlichen Steuersystemen auf Dauer nicht vorstellen.
({13})
Ich denke, all das, was in der Steuergesetzgebung binnenmarktrelevant ist - es ist nicht alles binnenmarktrelevant -,
({14})
sollten wir in überschaubarer Zeit zusammentragen, um
auf dieser Grundlage eine gemeinsame Steuergesetzgebung vorzunehmen. Das bedeutet ja nicht, dass wir darauf
verzichten, auch Wettbewerb durchzuführen. Der Wettbewerb bezieht sich dann aber auf die Steuertarife und nicht
auf das Steuersystem. Die Bemessungsgrundlage muss in
allen Ländern gleich sein.
({15})
Die Unternehmen in Europa werden es uns auch nicht
durchgehen lassen - ich sage das auch in Richtung unserer
britischen Freunde, die sich an dieser Stelle besonders
schwer tun, die aber auch Pragmatiker sind -, dass wir ihnen solche Hemmnisse in den Weg legen. Es wäre eine massive Behinderung bei der Entfaltung des Wachstums und damit der Wohlfahrtswirkung des europäischen Marktes.
Ich bin froh, dass wir auch bei den jetzigen Strukturen
immerhin schon Fortschritte, zum Beispiel bei der Harmonisierung der Energiebesteuerung, erkennen können.
Erste Ansätze - aber wirklich nur erste - gibt es bei der
Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die Unternehmensbesteuerung. Das ist aus meiner Sicht ein ganz zentrales Thema. Aber auch die Mindeststeuersätze müssen
einbezogen werden, damit Steuerdumping vermieden
wird.
({16})
Meine Damen und Herren, da ich sehe, dass ich nur
noch eine sehr kurze Redezeit habe, möchte ich sagen:
Hier liegt die Aufgabe des Konvents, die verfassungsmäßigen Grundlagen für diese Steuerharmonisierung zu
schaffen. Für uns heißt das, dass wir später bei der Ausfüllung, zum Beispiel im Rat - an der Stelle ist es dann anders, Herr Kollege Hoyer -, den Mut haben müssen, zu
Mehrheitsentscheidungen überzugehen; denn sonst
werden wir kaum eine Chance haben, zu einem einheitlichen Steuersystem im Rahmen der Europäischen Union
zu kommen.
Bei aller Notwendigkeit für eine verstärkte Harmonisierung und Koordinierung muss aber auch klar sein, dass
es keine zentrale Zuständigkeit für die Wirtschafts- und
Finanzpolitik auf europäischer Ebene gibt.
({17})
Wir brauchen auf absehbarer Zeit auch keinen europäischen Wirtschafts- oder Finanzminister; denn die Finanzpolitik liegt in der Zuständigkeit der einzelnen Nationalstaaten. Sie muss aber mit Rücksicht auf Europa
betrieben werden. Dort brauchen wir ein koordiniertes
Handeln. Die bestehenden Strukturen sind in diesem Bereich durchaus ausbaufähig. Deswegen sage ich: Koordinierung ja. Ich füge ausdrücklich hinzu, dass es auch eine
verstärkte Ex-ante-Koordinierung geben muss. Im Vorfeld
der Realisierung wesentlicher Projekte der Nationalstaaten
- das werden wir wohl akzeptieren müssen - müssen wir
über ihre Gemeinschaftsverträglicheit diskutieren. Das
Gleiche gilt auch für große Steuerreformen oder Ähnliches. Ich glaube, dass wir dann auf dem richtigen Weg
sind. Als nationale Regierungen und Parlamente müssen
wir eben auch wissen, dass wir unsere Gesetzgebung mit
Rücksicht auf Europa zu gestalten haben.
({18})
Meine Damen und Herren, ich komme zu meiner letzten Bemerkung, zur Europasteuer. Diese wird von verschiedenen Seiten als Diskussionsgegenstand in den Konvent eingebracht. Ich will meine Position dazu nur kurz
beschreiben.
({19})
Zum einen darf es keine zusätzliche Steuer für die Bürger der Europäischen Union geben.
({20})
Wer sich die europäische Einigung derart vorstellt, dass
die Verwaltungsebenen und die Steuern aufeinander
getürmt werden, wird von den Bürgerinnen und Bürgern
keine Zustimmung zu Europa erhalten. Wenn es zu einer
Europasteuer kommt, muss sie an die Stelle des jetzigen
Finanzierungssystems treten.
({21})
Die Mittel, die heute dafür ausgegeben werden, müssen
dann entfallen. Es darf also nicht zu einer versteckten
Steuererhöhung kommen.
Zum anderen - darin liegt ein Problem gegenüber dem
jetzigen System - muss es gerecht sein. Eine solche Steuer
darf unterschiedliche Regionen nicht unterschiedlich treffen. Darin liegt ein großer Vorzug der heutigen Finanzierung der Europäischen Union. Das wird sicherlich nicht
ganz einfach zu regeln sein.
Das waren ein paar Bemerkungen aus der Sicht des Finanzministers zu diesem Thema. Ich will zum Schluss nur
sagen: Ich bin mit Leidenschaft Europäer. Ich glaube, das
ist das zentrale Friedensprojekt des 21. Jahrhunderts.
({22})
Vor diesem Hintergrund bin ich traurig darüber, wie viel
Skeptizismus zu europäischen Fragen zurzeit in Europa
herrscht. Wir müssen gewaltige Anstrengungen unternehmen, um ihn zu überwinden. Wir brauchen wieder emotionale Zuwendung zu Europa; denn es wird keine friedliche Zukunft in und für Europa geben, wenn wir uns nicht
einigen. Dies wird der beste Beitrag sein, den Europa für
eine friedlichere und gerechtere Weltordnung leisten kann.
({23})
Nun haben wir ein
Problem. Die Situation ist folgende: Die Mitglieder der
Bundesregierung dürfen nach der Verfassung so lange reden, wie sie wollen. Aber wenn ein Mitglied über zehn
Minuten redet, ist die Debatte wieder eröffnet. Nun sind
wir mit der Debatte noch nicht am Ende. Daher mache ich
einen pragmatischen Vorschlag. Wir akzeptieren, dass der
Kollege Dr. Gerd Müller etwas länger spricht. Ich bitte die
kleineren Fraktionen, das für heute hinzunehmen. Einverstanden? - Das ist der Fall.
({0})
Herr Dr. Müller, Sie haben das Wort.
({1})
- Sie müssen nicht länger reden.
({2})
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich nehme das Angebot sehr
gerne wahr. Mir war nicht klar, dass ich nach Herrn Eichel
spreche, tue das aber sehr gerne. Ich habe mir während
seiner Rede immer gedacht: War das im Deutschen Bundestag jetzt seine Abschiedsrede? Denn, Herr Bundesfinanzminister, Sie haben in der Tat in den vergangenen vier
Jahren Deutschland in der Europäischen Union auf den
Abstiegsplatz geführt.
({0})
Sie haben für die Europäische Union große Ansprüche
formuliert. Diese Visionen sind alle gut. Sie wollen Europa zur wettbewerbsfähigsten, zukunftsträchtigsten und
modernsten Region in der Welt machen. Ich rate Ihnen, zu
Hause anzufangen, wo Sie konkret Verantwortung tragen.
Wir haben Ankündigungen von Ihnen gehört. Die Realität ist heute eine andere. Währungskommissar Solbes
hat Ihnen in seinen Ausführungen schon wieder zumindest die gelbe Karte gezeigt, nachdem Sie den blauen
Brief in skandalöser Weise abgewendet haben. Sie haben
das Versprechen abgegeben, die Neuverschuldung bis
2006 auf Null zurückzufahren.
({1})
Ich sehe keinen Ansatz, wie Sie den Vorgaben des Stabilitätspaktes der Europäischen Union nachkommen können.
Voraussetzung dafür wäre nämlich in Deutschland eine
anziehende Konjunktur. Dies ist nicht der Fall, weil Ihre
Politik falsch ist. Voraussetzung dafür wäre ein Einnahmeplus. Der Arbeitskreis Steuerschätzung sagt Ihnen aber
5 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen voraus, weil
die Wirtschaft in Deutschland nicht anspringt. Es werden
unter Ihrer Regie aber 10 Milliarden Euro weniger Einnahmen werden.
({2})
Der Bundesfinanzminister und Bundeskanzler Schröder
haben Deutschland zum Schlusslicht in Europa gemacht.
Sie haben kein Wirtschaftskonzept, wie Sie Deutschland
wieder an die Spitze führen können.
({3})
Nun haben Sie aus Ihrer Sicht wichtige Problembereiche angesprochen.
({4})
Von einem Bundesfinanzminister erwartet man aber nicht
nur, dass er diese Problembereiche skizziert. Wir erwarten
von Ihnen Antworten auf die Fragen: Wie stärken Sie den
Euro? Wie finanzieren Sie die Erweiterung der Europäischen Union um 15 weitere Mitgliedstaaten? Sie haben
in diese Debatte die Notwendigkeit einer Reform der
Struktur- und Agrarpolitik eingeführt. Warum haben Sie
in den letzten vier Jahren die Agrar- und Strukturpolitik
nicht reformiert?
({5})
Warum warten Sie? Sie haben die Agrar- und Strukturpolitik entgegen unseren Forderungen beim Berliner Gipfel
leider nicht auf eine neue Schiene gesetzt.
({6})
Herr Außenminister Fischer - wir sind es von Ihnen gewohnt, dass Sie sich auf der Regierungsbank flegelhaft
aufführen - und Herr Bundesfinanzminister, sagen Sie
uns, wie Sie in der Agrarpolitik - Sie haben unsere Vorschläge zur Reform und zur Kofinanzierung nicht aufgegriffen - Ihr Versprechen gegenüber den polnischen, tschechischen und ungarischen Bauern, sie am System der
Direktbeihilfen zu beteiligen, wofür aber im Finanzrahmen der Europäischen Union über 2006 hinaus keine Mark
zur Verfügung steht, einlösen wollen. Wenn die Reform
der Agrarpolitik ausbleibt und diese Politik im Zuge der
europäischen Osterweiterung auf weitere 15 Staaten ausgedehnt wird, entstehen jährliche Mehrkosten in Höhe von
8 Milliarden Euro. Das zeigt in der Tat die Notwendigkeit,
Reformen anzugehen. Dabei haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Ich muss aber sagen: Die Jahre der Regierung Schröder
waren schlechte Jahre für die Europäische Union und die
deutsche Europapolitik.
({7})
Wir können uns diesen Stillstand nicht mehr leisten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
kurz auf eine heute über die Ticker gelaufene Meldung
von Kommissar Bolkestein zurückkommen. Dieser Kommissar kommentiert doch in der Tat das Wahlergebnis in
den Niederlanden, das nicht jedem so gepasst hat, mit der
Aussage:
Politik muss Distanz zum Wähler halten.
Man könne nicht jeder Mehrheitsmeinung folgen. Eine
gewisse Distanz zwischen Politik und Wählern sei nötig,
so Bolkestein. - Das entspricht nicht unserem Demokratieverständnis.
({8})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Wer sich dafür einsetzt, die Europäische Kommission in
Zukunft zur europäischen Regierung zu machen, muss
wissen, dass dies - ein Demokratieverständnis in Europa
hin zu einer noch größeren Ferne zum Bürger - nicht der
richtige Weg sein kann. Wir wollen eine größere Nähe
zum Bürger. Herr Meyer, Sie haben den Weg dazu aufgezeigt.
({9})
Dafür brauchen wir als Erstes eine klare Kompetenzabgrenzung, die für den Bürger durchschaubar ist.
({10})
Was machen Brüssel, Paris oder Berlin und wer ist wo für
welche Entscheidung verantwortlich? Das sind die entscheidenden Kernfragen.
({11})
Dazu haben CDU und CSU ein Konzept vorgelegt. Darüber kann und muss man diskutieren. Ich nehme das gerne
auf, Herr Meyer. Wir müssen diese Fragen gemeinsam
diskutieren. Zu Beginn einer solchen Diskussion im Konvent gibt es noch keine Lösungen. Leider ist der politische
Stil heute so, dass man nicht mehr ergebnisoffen diskutiert, sondern sich nur noch über die Presse unterhält.
({12})
- Herr Larcher, haben Sie sich beruhigt? - Wir haben ein
Konzept vorgelegt, über das wir mit Ihnen diskutieren
wollen. Es gibt kein Konzept der Regierungsfraktionen,
geschweige denn der Regierung, zur Kompetenzabgrenzung, wie es im Konvent angestrebt wird und dem Auftrag von Nizza entspricht.
({13})
Vielleicht wird Außenminister Fischer nachher noch
seine Visionen skizzieren,
({14})
aber in der Realität hat er kein Konzept und keinen Vorschlag, mit dem man sich auseinander setzen kann. Das
erwarten wir aber in dieser Debatte. Sonst redet man aneinander vorbei.
Ich will noch einen Punkt herausgreifen. Herr Meyer,
Sie haben den Kernbereich der Subsidiaritätsabgrenzung
angesprochen. Wie macht man das? Auf welcher Ebene
siedelt man die Entscheidungen an? Durch eine neue
Kammer beim EuGH oder durch Einbeziehung der nationalen Parlamente? Ich halte das für einen Kernpunkt der
Frage der zukünftigen Zuweisung von Verantwortlichkeiten. Über diese Frage muss man miteinander diskutieren.
Ich meine, dafür ist noch keine Lösung in Sicht. Es gibt
auch keine Fraktionen, die dieses oder jenes für den Königsweg halten. Wir müssen dabei ergebnisoffen aufeinander zugehen.
Fest steht, dass Europa auch in Zukunft auf Nationalstaaten aufbauen wird und dass damit den nationalen Parlamenten auch in der Legitimation der Europapolitik
große Bedeutung beikommen wird. Denn die Verbindung
zu den Menschen, zu den Bürgern vor Ort, ergibt sich immer noch in erster Linie durch die nationalen Parlamente.
Den nationalen Parlamenten muss deshalb auch bei der
europäischen Rechtssetzung, bei der Mitwirkung und bei
der Kontrolle ein maßgebliches Mitwirkungsrecht eingeräumt werden, wie es bisher schon der Bundesrat bei Fragen eingeräumt bekommt, die die Länder betreffen. Auch
über diese Frage sollten wir diskutieren. Es ist doch eine
spannende Frage, welche Zukunft die nationalen Parlamente in dem gemeinsamen Europa haben. Wir könnten
ja sogar zu dem Ergebnis kommen: Wir, der Deutsche
Bundestag, lösen uns auf und geben die Kompetenzen, die
uns noch verblieben sind, an die Länderparlamente ab.
({15})
Das wäre auch eine Lösung. Das ist zwar nicht mein
Weg. Aber man muss über die unterschiedlichen Wege
diskutieren; denn es gibt viele offene Fragen gerade bei
der Reform des Rates und der anderen Institutionen der
Europäischen Union.
Ich möchte zum Schluss sagen: Der Kernauftrag von
Nizza für den Konvent war, eine durchschaubare Abgrenzung der Kompetenzen der verschiedenen Ebenen zu finden. Der Kernauftrag war nicht, alle offenen Fragen im
Konvent zu lösen. Ich habe die Sorge, dass man genau das
versucht. Es wird nicht gelingen, alle Fragen sozusagen
im Rahmen eines neuen Schöpfungsakts zu lösen. Wir
sollten lieber Schritt für Schritt vorgehen und uns im ersten Schritt darauf konzentrieren, ein sinnvolles System
der Kompetenzabgrenzung zu finden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin so gut wie am
Ende meiner Rede. - Auch wenn es im nationalen Parlament zwischen den Fraktionen etwas aufgeregter zugeht:
Die nationale Delegation muss in Brüssel vielleicht auch
imstande sein, einen gemeinsamen Vorstoß in dieser
Frage mitzutragen.
Sie wollten zum
Schluss kommen, Herr Kollege.
Herzlichen Dank.
({0})
Zum Abschluss dieser
Debatte spricht jetzt der Bundesaußenminister Joseph
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte
zuerst etwas zum Hintergrund der jetzigen Debatte sagen.
Die momentane politische Entwicklung in Europa muss
uns alle berühren, ja vielleicht sogar Sorgen bereiten. Wir
stellen fest, dass zunehmend rechtspopulistische und erklärtermaßen antieuropäische Parteien Zulauf haben
({0})
und dass sie zunehmend bei der Mehrheitsbildung in den
einzelnen europäischen Ländern von entscheidender Bedeutung sind. Ich möchte mich nicht auf das platte Niveau
begeben, das mein Vorredner
({1})
in der Auseinandersetzung mit dem Bundesfinanzminister an den Tag gelegt hat. Ich möchte Ihnen nur sagen,
dass ich diese Entwicklung bedauere, weil ich um die
großen historischen Verdienste der europäischen Christdemokratie um die europäische Integration weiß. Auch
und gerade nach 1945 haben die Christdemokraten ganz
entscheidende neue Weichenstellungen vorgenommen.
({2})
- Ich komme gleich darauf zu sprechen. - Europa und
seine Integration, das war zwar nicht nur ein Mitte-RechtsProjekt, wohl aber in weiten Teilen. Namen wie De Gasperi,
Adenauer und de Gaulle stehen dafür. Ich habe ganz bewusst gesagt: nicht nur, aber in weiten Teilen.
Seit in Österreich die Regierung unter Beteiligung von
Haiders Partei gebildet wurde, stellen wir fest, dass die bürgerliche Mitte aus Gründen, die man teilen mag oder nicht
- ich möchte bewusst nicht polemisch werden; ich möchte
lediglich die Konsequenzen für Europa ansprechen -, nur
zusammen mit erklärtermaßen antieuropäischen und
rechtspopulistischen Parteien die Mehrheit bilden kann.
Der Preis dafür ist abnehmende Integrationsbereitschaft
und ist in Euro zu zahlen.
({3})
- Nein, Herr Altmaier hat nicht Recht. Ich komme gleich
auf das meiner Meinung nach eigentliche Problem zu
sprechen. Mir geht es jetzt gar nicht um eine Wertung,
sondern nur um das Konstatieren.
Ich fürchte, dass die Konsequenz aus der von mir beschriebenen Entwicklung - in den europäischen Hauptstädten gibt es bereits entsprechende Signale in diese
Richtung - weniger Europa, also die Verlangsamung des
Integrationsprozesses, sein wird. Ich glaube, dass weniger Europa eher den Euroskeptizismus sowie bereits
heute vorhandene Defizite verstärken wird
({4})
und mitnichten dazu führen wird, dass sich die Bürgerinnen und Bürger Europa mehr zuwenden werden. Im Gegenteil: Die Abwehrreaktionen werden zunehmen, wenn
der europäische Integrationsprozess verlangsamt wird.
Auch ich bin für Realismus, sage Ihnen aber ganz offen:
Wenn der Konvent zu kurz springt - das kann durchaus
passieren -, dann muss man die Konsequenzen nennen.
All denjenigen, die auf die Politik der kleinen Schritte
verweisen, kann ich nur sagen: Auch ich bin immer für
eine solche Politik gewesen. Nur, es gibt einen Punkt, an
dem die Politik der kleinen Schritte nicht möglich ist. Das
ist die Erweiterung. Sie wird nämlich ein großer Schritt
sein. Sie werden auf die Konsequenzen dieses großen
Schrittes nicht mit einer Politik der kleinen Schritte antworten können,
({5})
ohne ein Glaubwürdigkeitsdefizit zu haben und auf Verständnisprobleme zu stoßen, wodurch dann wieder die antieuropäischen Kräfte gestärkt würden. Das ist meine
große Sorge, die ich hier ganz offen ansprechen möchte.
Mir geht es dabei nicht darum, dass die einen die Realität
und die anderen Visionen vertreten. Visionen sind Zielorientierungen; man muss wissen, wohin man will.
Mit der Erweiterung stehen wir also vor einem großen
Schritt. Es ist in unserem Interesse, die Union von 15 auf
25 Mitgliedstaaten zu erweitern, auch wenn dabei ein beträchtliches ökonomisches Gefälle überwunden werden
muss. Darüber braucht niemand mit mir zu streiten. Im
Rückblick sage ich, ohne jemanden zu kritisieren, dass
dies vermutlich schon viel früher hätte gemacht werden
müssen.
Wir stehen nun vor der Frage, ob der Konvent die Kraft
hat, zu einem zweiten Philadelphia, der entscheidenden
verfassunggebenden Versammlung in der Geschichte der
USA, zu werden, ob wir am Ende also einen Vertragsentwurf bekommen werden, der an die Qualität des
Maastricht-Vertrages anknüpft, oder einen Entwurf, der in
seiner Qualität - nicht in seiner Substanz - an die bescheidenen Zielsetzungen des Nizza-Vertrages anknüpft.
Werden wir mit einem Vertragsentwurf in MaastrichtQualität herauskommen, dann werden wir den historischen Herausforderungen der Erweiterung gerecht. Werden wir aber mit dem weniger ambitionierten Ansatz von
Nizza herauskommen, dann werden wir uns an den Antworten in der Praxis festfressen, was ganz realistische
Konsequenzen haben wird.
Lassen Sie mich nun auf das Demokratiedefizit zu
sprechen kommen: Das Verhältnis zwischen den nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission ist
heute auch deswegen so belastet, weil die Kommission als
tatsächliche Exekutive in Europa immer mehr zu sagen
hat, die Regierungen dafür aber den Kopf hinhalten müssen, da die Kommission als Exekutive nicht legitimiert ist.
({6})
Also wäre die Konsequenz, die Kommission zur Exekutive zu machen, wenn man nicht wieder mehr auf die nationalen Regierungen zurückverlagern will, wovor ich
aber nur warnen kann, weil dafür die Mitgliedstaaten einen bitteren Preis zu bezahlen hätten.
({7})
Fragen Sie doch hier einmal die Zuhörerinnen und
Zuhörer, was sie von unserer „Euro-Theologie“ verstehen. Die Bürgerinnen und Bürger wollen schlicht und einfach begreifen, wer wo entscheidet. Entscheidet jemand
irgendetwas in Brüssel, dann möchten sie ihn abwählen,
wenn die Entscheidung ihrer Meinung nach nichts taugt.
Stimmen sie der Entscheidung zu, möchten sie ihn wählen
können. Das heißt im Klartext, dass im Konvent die ganz
wichtige Frage beantwortet werden muss, ob eine europäische Exekutive geschaffen wird und wie sie sich zusammensetzt. Ich plädiere hier für Einfachheit und Klarheit. Anders geht es nicht, wenn wir unsere Kritik an der
zunehmenden Tendenz zum Euroskeptizismus und zur
Ablehnung Europas ernst nehmen.
Die Bürgerinnen und Bürger wissen auf nationaler
Ebene ganz genau, dass es in Deutschland einen Bundeskanzler gibt, der jetzt von der SPD gestellt wird und
Schröder heißt. Wenn sie ihn für weitere vier Jahre als
Bundeskanzler wollen, dann wissen sie, welche Parteien
sie bei der Bundestagswahl zu wählen haben. Sind sie
über ihn frustriert, dann wissen sie, dass sie andere Parteien wählen müssen. Mit Sicherheit wird die Mehrheit
nicht einen Bundeskanzler Stoiber wollen; er soll Ministerpräsident bleiben.
({8})
In Europa wissen die Bürgerinnen und Bürger nicht, wen
sie im Hinblick auf die Exekutive wählen oder nicht
wählen können. - Frau Präsidentin, ich komme sofort
zum Schluss.
Dasselbe gilt für die Legislative. Auch hier muss klar
sein, was das Europäische Parlament zu tun hat. Dann
werden sich die Zustimmung zu diesem Parlament und
auch die Kenntnis der Akteure im Parlament schlagartig
verbessern. Auch hier gilt wieder: Einfachheit und Klarheit. Um das, was Sie wollen, Herr Professor Meyer, verstehen zu können, muss man mindestens zwei juristische
Staatsprüfungen bestanden haben.
({9})
- Ja, aber die Mehrheit der Deutschen und auch die Mehrheit der anderen Europäerinnen und Europäer sind keine
gefeierten Juraprofessoren. Deswegen wird ein solcher
Vorschlag nicht zum Ziel führen, auch wenn ich viel Sympathie für ihn habe. Es geht darum, institutionelle Klarheit
herbeizuführen.
Ich glaube nicht, dass der Konvent eine Perspektive haben wird, wenn er in Richtung Intergouvernementalismus geht. Der Intergouvernementalismus ist eine Behelfsbrücke, aber keine Antwort auf die drängenden
Fragen.
({10})
Meine Damen und Herren, wir stehen vor der Herausforderung, die in den nächsten zwei Jahren die große Erweiterung mit sich bringt. Sie wird uns in eine institutionelle Krise führen, wenn der Konvent darauf nicht eine
entsprechende historische Antwort findet. Das ist Realismus und nicht Vision.
({11})
- Die Regierungen sind gefragt, wenn der Konvent seinen
Vorschlag gemacht hat.
({12})
- Mein Lieber, ich möchte am Schluss nicht noch auf Sie
als großen Europäer eingehen. Sie müssen einmal sehen,
wie Ihre Fraktion auf Sie reagiert, wenn Sie reden. Ihre
Kollegen haben da eine klare Meinung.
({13})
Nein, meine Damen und Herren, der entscheidende
Punkt wird sein: Der Konvent muss einen ambitionierten,
klaren und einfachen Vorschlag für eine europäische Verfassung unterbreiten, die funktional ist und die das Demokratiedefizit behebt. Das ist Realismus angesichts der
großen Herausforderungen der Erweiterung.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8489, 14/9044 und 14/9046 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Der Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen zu Tagesordnungspunkt 10 a, dessen
Titel lautet „Reform durch Verfassung: Für eine demo-
kratische, solidarische und handlungsfähige Europäische
Union“, Drucksache 14/9047, soll ebenfalls an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich
an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
überwiesen werden. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a und b so-
wie den Zusatzpunkt 16 auf:
11. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norbert
Lammert, Bernd Neumann ({0}), Klaus
Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Zentrum gegen Vertreibungen
- Drucksache 14/8594 ({1}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Meckel, Eckhardt Barthel, Wilhelm Schmidt
({3}), weiterer Abgeordneter und der FrakBundesminister Joseph Fischer
tion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Dr. Helmut Lippelt, Kerstin Müller
({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein europäisch ausgerichtetes Zentrum
gegen Vertreibungen
- Drucksache 14/9033 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({6}), Dr. Edzard SchmidtJortzig, Dr. Klaus Kinkel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Für ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen
- Drucksache 14/9068 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch das ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Erika Reinhardt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vertreibungen
sind leider keine überwundenen Ereignisse der Geschichte, sondern immer noch täglich schuldlose Menschen auf der ganzen Welt treffende Menschenrechtsverletzungen. Deutschland hat aufgrund seiner leidvollen
Erfahrungen mit der gnadenlosen Vertreibung und Verschleppung von mehr als 15 Millionen Menschen ein ganz
besonderes Verhältnis zu Ursachen und Folgen von Vertreibungen und deshalb auch eine besondere Verantwortung für die Aufarbeitung von Geschichte und Schicksal
der davon betroffenen Menschen.
Wie groß das Bedürfnis an Information ist, zeigt das
hohe Interesse an den Medien, die in letzter Zeit darüber
informiert haben.
({0})
Es waren gerade junge Menschen, die sich sehr für dieses
Thema interessierten.
Doch bis heute gibt es in Deutschland keinen Ort, an
dem die Gesamtthematik der Vertreibungen aufgearbeitet
und dokumentiert wird und der als zentrale Informationsund Begegnungsstätte öffentlich zugänglich wäre. Deshalb begrüßen wir die von einer breiten überparteilichen
Basis getragene Initiative der gemeinnützigen Stiftung
„Zentrum gegen Vertreibungen“, die Vertreibung weltweit dokumentiert und Wege zur Völkerverständigung
und Versöhnung aufzeigt.
Meine Damen und Herren, wie wollen wir uns glaubhaft für Menschenrechte, Völkerverständigung und Versöhnung einsetzen, wenn wir unsere eigenen Erfahrungen
aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängen?
Das ehemalige Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion
Professor Peter Glotz, Vorsitzender der Stiftung „Zentrum
gegen Vertreibungen“, hat es auf den Punkt gebracht. Er
findet es keineswegs abwegig, dass Deutschland in dieser
Frage einmal mit den Deutschen anfängt. Das Zentrum
gegen Vertreibungen soll unter einem Dach die Kultur,
das Schicksal und die Geschichte der Vertriebenen und ihrer Heimat erfahrbar machen. Ausgehend vom Geist der
Versöhnung, der aus der Stuttgarter Charta der Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 erwächst, soll dieses
Zentrum mahnen und sensibilisieren.
Unsere Geschichtsvergessenheit tut uns nicht gut, hat
Professor Arnulf Baring treffend formuliert. Es ist daher
wichtig, dass die Deutschen das eigene Leid kennen und
die eigene Trauer zulassen. Es geht dabei auch um so etwas wie die innere Balance einer Nation, um das SichAuseinander-Setzen mit der Geschichte. Dies wird nur
gelingen, wenn das Zentrum gegen Vertreibungen einen
Ort findet, der nicht am Rand, sondern im Zentrum liegt.
Dieser Ort ist in Berlin, ist in Deutschlands Hauptstadt.
({1})
Verschieben wir also nicht die Verantwortung auf Europa,
sondern beginnen wir heute bei uns mit einem Ja zu einem
Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin!
Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag wollen
wir die überparteiliche Initiative der gemeinnützigen Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ unterstützen. Deshalb bitten wir die Bundesregierung und alle Fraktionen
des Hohen Hauses, sich vorbehaltlos hinter das Zentrum
gegen Vertreibungen zu stellen.
Wir fordern Sie von der Bundesregierung auf: Schaffen Sie eine Grundlage für eine konstruktive inhaltliche
und organisatorische Zusammenarbeit mit dem Zentrum
gegen Vertreibungen! Schaffen Sie die konzeptionellen
Voraussetzungen, die zur Realisierung eines Zentrums
gegen Vertreibungen nötig sind, auch im Zusammenhang
mit bestehenden Gedenkstätten in Berlin! Stellen Sie ein
geeignetes Gebäude in Berlin als öffentlich zugänglichen
Ort der Forschung, Dokumentation und Ausstellung
zur Verfügung! Wir fordern eine Klärung der Bereitschaft
der Länder, sich an dem Projekt zu beteiligen. Legen Sie
auf dieser Basis ein Konzept zur Finanzierung vor! Lassen Sie uns auf dieser Basis über Parteigrenzen hinweg
gemeinsam ein Zeichen - ich glaube, ein wichtiges Zeichen - gegen Vertreibungen setzen! Stimmen Sie bitte unserem Antrag zu!
Herzlichen Dank.
Liebe Frau Präsidentin, nachdem ich, wie ich annehme, meine letzte Rede hier gehalten habe, möchte ich
mich bei Ihnen allen ganz herzlich bedanken, vor allem
bei den Schriftführern, die hier die Arbeit leisten, und bei
der Verwaltung. Alles Gute!
({2})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Frau Kollegin
Reinhardt, ich nutze die Gelegenheit, Ihnen im Namen
des ganzen Hauses Dank und Anerkennung für Ihre
langjährige Tätigkeit auszusprechen und für den neuen
Lebensabschnitt alles Gute zu wünschen.
({0})
Jetzt hat der Kollege Markus Meckel für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe mich den
Wünschen an, die eben für meine Vorrednerin ausgesprochen worden sind.
Es ist bemerkenswert, dass wir uns heute im Bundestag in der Erkenntnis einig sind - um das festzustellen,
brauchen wir nur unsere drei Anträge anzusehen, die wir
heute miteinander debattieren -: Wir sollten der Vertreibungen gedenken, uns den Betroffenen und ihrem Schicksal nähern und uns dessen erinnern. Noch vor wenigen
Jahren wäre dieser Konsens in dieser Breite und Klarheit
so nicht möglich gewesen. Das, denke ich, sollten wir hier
heute aussprechen.
Wenn wir dies so sagen, stehen wir vor der Aufgabe,
ein Stück unserer Geschichte neu aufzuarbeiten - das hat
natürlich schon lange begonnen -, aber uns auch neu zu
erinnern. In dem Teil Deutschlands, in dem ich aufgewachsen bin, war dies keineswegs selbstverständlich. In
der Schule haben wir über dieses Leid nichts gelernt. Die
Vertriebenen, die es auch dort zu Abertausenden gegeben
hat, wurden zwar integriert, aber ihr Schicksal wurde verdrängt und verschwiegen. Ähnlich ist es übrigens in Bezug auf die eigene Geschichte in Nachbarländern geschehen, die ebenfalls unter der kommunistischen Diktatur
gelitten haben. Auch dort wurden eigene Opfer und Vertreibungen nicht zur Sprache gebracht, war die Verantwortung aus dem Nationalsozialismus kein Thema, wurde
- ähnlich wie in der DDR - weder die eigene Täterrolle
noch die Dimension des Opferseins ausgesprochen und
bedacht; dazu gab es keinen öffentlichen Diskurs und keinen öffentlichen Dialog wie in anderen, demokratischen
Ländern, etwa in der Bundesrepublik Deutschland.
Deshalb ist es wichtig, denke ich, dass wir dies heute
nachholen. Dies tun wir in einem europäischen Kontext;
denn wir leben in einem zusammenwachsenden Europa
und gerade die Geschichte der Vertreibungen ist ein Teil
der europäischen Geschichte und als singuläres Ereignis
überhaupt nicht zu verstehen.
({0})
12 bis 15 Millionen Deutsche wurden nach dem Krieg,
den Deutschland angezettelt hat, vertrieben. Insgesamt
sind es 40 bis 50 Millionen Menschen gewesen, die in
Europa in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts
vertrieben wurden. Zählen wir die Opfer nationalsozialistischer Rekrutierung von Zwangsarbeitern und die stalinistischen Deportationen hinzu, sind es weitere 20 Millionen. Vertreibungen sind ein furchtbares persönliches
Schicksal. In ihrer Gesamtheit sind sie aber ein Teil der
barbarischen Geschichte des letzten Jahrhunderts.
Die historischen Zusammenhänge der verschiedenen
Vertreibungen waren gewiss unterschiedlich. Hier ist
nichts gleichzusetzen. Wenn wir uns das Schicksal der
Betroffenen ansehen, so kann man sagen, dass deren Leid
sehr ähnlich war. Bis in die jüngste Zeit, also bis in die
90er-Jahre, haben wir es im Zentrum Europas erleben
müssen.
Es waren im letzten Jahrhundert nicht nur Hitler und
Stalin, die Verursacher von Vertreibungen waren, sondern
- wir müssen es zugeben - auch Demokraten wie
Churchill, Roosevelt und Truman akzeptierten Vertreibungen, indem sie Zwangsumsiedlungen als ein Teil von
Stabilitätspolitik betrachteten. Heute lehnen wir dies ab,
weil es Unrecht ist. Dies darf nicht sein; denn es beruht
immer auf dem Gedanken einer Kollektivschuld. Dieses
Vorgehen kann niemand rechtfertigen; diese Menschenrechtsverletzungen können wir nicht akzeptieren.
Es ist wichtig, dass wir uns aus diesem aktuellem Anlass heute diesem Thema wieder nähern. Aber gleichzeitig müssen wir sehr deutlich machen, dass es ein sehr europäisches Thema ist. Wir müssen von Anfang an die
europäische Dimension berücksichtigen.
Genau in diesem Punkt sehe ich den Unterschied in den
Anträgen, die uns heute vorliegen. In Ihrem Antrag wird
auch von den anderen Vertreibungen in Europa gesprochen; das halte ich für wichtig. Aber man muss auch deutlich sagen, dass Sie in ihrem Antrag ein nationales Projekt
mit entsprechendem Ausblick und mit einer möglichen
europäischen Ergänzung im Rahmen eines Kuratoriums
beschreiben. Ich glaube, das reicht nicht.
({1})
Wir wollen heute eine Einladung an andere Europäer
aussprechen, von Beginn an - das heißt, schon bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Konzeptes für ein solches
Zentrum - an diesem Projekt teilzunehmen.
({2})
Der Unterschied scheint nicht bedeutend, aber er ist
dennoch groß. Es geht nämlich darum, das Konzept gemeinsam mit Europäern zu erarbeiten, statt andere europäische Staaten ohne Mitwirkungsmöglichkeiten zu unserem Konzept einzuladen. Deren Perspektive muss von
vornherein in ein solches Projekt einfließen. Das geht nur
durch Beteiligung: indem diese Länder ihre Perspektiven
und ihre Erfahrungen einbringen und indem wir gemeinsam deutlich machen, dass Vertreibung nie wieder geschehen darf.
({3})
Wir laden dazu Polen - eine intensive Diskussion hat
dort in den letzten Wochen schon längst begonnen -,
ebenso aber Tschechen, Ukrainer, Ungarn und Slowaken
ein. Wir wissen, dass es in der Mitte Europas eine ganze
Reihe von Völkern gibt, die diese schlimme Erfahrung
gemacht haben und in deren Ländern dies bisher nicht
genügend aufgearbeitet werden konnte.
Es kann nicht unser Ziel sein, dass jeder nur seine eigene Vertreibung im Blick hat. Es ist ein europäisches
Thema. Lasst es uns europäisch behandeln und gemeinsam ein Konzept für ein Zentrum erarbeiten!
({4})
Dies soll nicht ein deutsches Projekt unter Beteiligung
anderer sein, sondern es soll von Beginn ein europäisches
Zentrum sein.
Sie wollen - so steht es in Ihrem Antrag - das Zentrum
in Berlin errichten. Ich halte es für falsch, jetzt eine solche Entscheidung treffen zu wollen. Im Übrigen glaube
ich auch nicht, dass Berlin der ideale Ort dafür ist.
({5})
Aber lassen Sie uns darüber diskutieren! Ich habe im Februar vorgeschlagen, in Breslau ein solches Zentrum zu
errichten. Es ist völlig klar, dass nicht der Deutsche Bundestag über den Sitz Breslau entscheiden kann. Ein entsprechender Vorschlag kann nur von den Polen kommen.
Wir werden sehen, ob dies geschieht. Die Behandlung der
Frage, wo das Zentrum errichtet werden soll, sollten wir
einer Kommission überlassen, die europäisch zusammengesetzt ist, die sich an der Erarbeitung eines entsprechenden Konzeptes macht und die uns - möglicherweise nach
einer langen Diskussion - einen Ort vorschlägt. Ich
denke, dieses Vorgehen ist ein angemessener und richtiger
Weg.
Frau Steinbach, Sie haben mir am Anfang, als ich diesen Vorschlag machte, vorgeworfen, ich sei nicht fähig,
der eigenen Opfer zu gedenken. Ich sage Ihnen: Das ist
falsch. Mein eigener Großvater ist im Januar 1945 auf den
Straßen in Polen umgekommen. Er war Zivilist. Natürlich
trauere ich darum, dass ich ihn nie kennen gelernt habe; er
muss ein ganz toller Mann gewesen sein.
Ich sage Ihnen: Das Schicksal der Vertreibungen kann
nicht allein im deutschen Kontext betrachtet werden. Wir
müssen dies gemeinsam tun mit anderen Europäern, die
ganz vergleichbare Schicksale haben, in sehr unterschiedlichen historischen Konstellationen von Schuld, Verantwortung und Opfersein. Aber lassen Sie uns dieses Leid
der Einzelnen, auch der einzelnen Völker, das oft in aller
Einsamkeit erlitten worden ist, gemeinsam bedenken, gemeinsam verarbeiten, gemeinsam dokumentieren. Und
lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam mit unseren Nachbarn - sofern sie wollen - gehen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Für die FDP-Fraktion
erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Otto.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die
Errichtung eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen ist ein Symbol für den Willen zum Neuanfang in
einem gemeinsamen Europa. Nichts belegt dies anschaulicher als die Tatsache, dass sich jüngst zwei der angesehensten Publizisten Polens, nämlich Adam Krzeminski
und Adam Michnik, für ein solches Zentrum in Breslau
ausgesprochen haben. Es ist geradezu ein europäisches
Aufbruchsignal, dass die Errichtung eines solchen Zentrums von unseren Nachbarn im Osten und auch im Westen nicht länger, wie in der Vergangenheit so häufig, als
Gefahr deutschen Revanchismus, sondern als europäische
Chance betrachtet wird.
({0})
Über das Ärgernis der Fortgeltung der Benes-Dekrete
in einem unserer Nachbarländer will ich an dieser Stelle
den Mantel des Schweigens hüllen. Aber ich möchte doch
sagen, dass die internationale Zustimmung zu diesem
Zentrum, zumindest das Interesse an diesem Zentrum, auf
eine sehr überzeugende Grundkonzeption gerichtet ist,
die in erster Linie nicht in die Vergangenheit, sondern in
die Zukunft gerichtet ist. Herr Kollege Meckel, da stimmen wir mit Ihnen überein: Auch wir wollen von vornherein die Einladung an unsere europäischen Nachbarn,
insbesondere im Osten, damit diese an der Feinarbeit des
Konzeptes mitwirken können.
({1})
Ich sage Ihnen aber auch: Das schließt nicht zwangsläufig Berlin als Sitz aus. Ich kann mir durchaus vorstellen,
dass ein europäisches Zentrum seinen Sitz in Berlin hat.
Das ist kein Widerspruch.
({2})
Berlin ist mit all seinen Brüchen und seiner Geschichte
ein sehr interessanter Ort für dieses Zentrum. Auf Breslau
komme ich noch zu sprechen.
Ausgangspunkt für dieses Forschungs- und Dokumentationszentrum ist zwar die kollektive Vertreibungserfahrung, die rund 15 Millionen Deutsche nach dem Zweiten
Weltkrieg erleiden mussten, aber sein Ziel und seine Aufgabe ist es, auf der Grundlage dieser historischen Erfahrungen Strategien zu entwickeln, um das Menschenrecht
auf Heimat weltweit dauerhaft zu sichern, zum Beispiel
auch in jüngster Zeit im Kosovo, im Sudan, in Liberia und
in anderen Teilen der Welt.
Die überparteiliche Stiftung „Zentrum gegen Vertreibung“ - die Kollegin Reinhardt hat darauf hingewiesen betrachten wir als einen höchst erfreulichen und unterstützenswerten Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements. Wir hoffen, dass sich dies als Ergänzung zu den
Bundesmitteln, die natürlich notwendig sind, auch in
Form von privaten Zustiftungen ausdrücken wird.
Auch der wissenschaftliche Beirat beim Zentrum mit
allseits anerkannten Persönlichkeiten - ich nenne nur drei
Namen: Arnulf Baring, Dieter Blumenwitz und György
Konrád - beweist diese völkerverbindende Ausrichtung
des Zentrums.
Gestatten Sie mir zum Abschluss eine kleine Anregung
und eine kurze persönliche Bemerkung. Die Anregung,
Herr Kollege Meckel: Ich würde es geradezu als eine Vervollkommnung und als einen Glücksfall ansehen, wenn es
neben dem künftigen Zentrum mit Sitz möglicherweise in
Deutschland, in Berlin, ein Schwesterinstitut in Breslau
geben würde.
Das halte ich für die beste Idee. Auch wir in Deutschland
müssen uns mit dieser Frage auseinander setzen. Wenn es
mit unseren polnischen Nachbarn, die genauso viel Leid
wie wir im Zweiten Weltkrieg - übrigens auch schon im
Ersten Weltkrieg - erleben mussten, eine Kooperation
gäbe, dann wäre das wirklich hervorragend. Ich appelliere
deshalb an die Verantwortlichen, gemeinsam mit unseren
polnischen Nachbarn die Umsetzung dieses großartigen
Gedankens zu prüfen.
Ich möchte - ich sehe die Kollegin Steinbach hier noch eine persönliche Bemerkung machen. Ich möchte an
dieser Stelle, auch aufgrund bestimmter Erfahrungen,
meinen Dank und meine Anerkennung für den, wie ich es
empfinde, wirklich zukunftsgerichteten und völkerverbindenden neuen Kurs des Bundes der Vertriebenen ausdrücken. Trotz des unsäglichen Leides und Unrechts, das
Ihnen und der Generation Ihrer Eltern - viel stärker als allen übrigen Deutschen - infolge des von den Nazis angezettelten Krieges zugefügt wurde, haben Sie sehr glaubhaft die Hand zur Aussöhnung und zur Freundschaft mit
unseren östlichen Nachbarn ausgestreckt. Dafür verdienen Sie - das sage ich sehr persönlich - die Unterstützung
des gesamten Hauses.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention als Reaktion auf die Rede des Kollegen Markus
Meckel erteile ich der Kollegin Steinbach das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag. Angesichts der Beiträge, die ich bisher gehört habe, teile ich Ihre
Auffassung, Herr Meckel, dass eine solche Diskussion vor
einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Man kann
das nicht hoch genug einschätzen. Dass wir uns in diesem
Hause - ich beziehe mich zumindest auf die heutigen
Beiträge - gemeinsam eines Themas annehmen, das bei so
vielen Menschen in diesem Lande emotionale Spuren und
Verletzungen hinterlassen hat, ist eine gute Sache.
Wenn Sie sagen: „Wir wollen einen europäischen Ansatz“, dann rennen Sie offene Türen ein. Die Stiftung hat
diesen europäischen Ansatz von sich aus vorgegeben.
Nicht umsonst gehört György Konrád zu denjenigen, die
dieses Anliegen unterstützen. Nicht umsonst ist Dolezal
ein Gesprächspartner. Nicht umsonst gab es schon Diskussionen, auch mit polnischen Journalisten und mit polnischen Wissenschaftlern. Im Bereich dieser Thematik
gibt es ein reges Geben und Nehmen.
Herr Kollege Otto, ich halte das für elementar. Nichts
ist bei der Behandlung einer solchen Frage schädlicher,
als sich in eine Opferrolle einzuigeln und keinem Argument mehr zugänglich zu sein.
({0})
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, dass
auf diesem Gebiet eine Öffnung erfolgt ist, die unserem
Land gut tun wird.
Meine Anregung an alle Fraktionen sieht folgendermaßen aus: Wenn man ein großes Feld beackern will,
dann muss man mit der ersten Scholle im eigenen Garten
anfangen. Man sollte ein Thema nicht zunächst sozusagen
an den Enden aufhängen, weil das dazu führen kann, dass
man am Schluss die Übersicht verliert. Wenn man sich anschaut, wie viele europäische Völker von Vertreibung betroffen waren, dann wird einem schlecht, weil es so viele
sind. Allein in der ehemaligen Sowjetunion sind an die
zehn Völker - die Krimtataren, die Inguschen, die Tschetschenen, die Wolgadeutschen und viele andere Völker;
die tschetschenische Frage ist noch heute akut - vertrieben worden.
Vor diesem Hintergrund müssen wir sehr sorgfältig
überlegen, ob man anderen Völkern einen Gefallen tut,
wenn man sie in die Behandlung einer Frage einbindet.
Ich begrüße auf jeden Fall die Töne, die heute angeschlagen worden sind, und hoffe, dass am Ende nicht manches,
was als europäisch bezeichnet wird, nur dazu dienen soll,
einem Thema doch noch aus dem Wege zu gehen. Wir in
Deutschland sollten damit anfangen, eine Thematik aufzuarbeiten, die über Europa hinausreicht. Vertreibung ist
ein politisches Mittel, das nach wie vor weltweit Konjunktur hat. Dem wollen wir alle miteinander entgegenwirken.
({1})
Herr Kollege Meckel,
wollen Sie antworten? - Nein. Dann hat jetzt die Kollegin
Dr. Antje Vollmer für das Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, wir sind uns alle einig: Man muss die Ursachen begreifen, um den Ungeist bekämpfen zu können.
({0})
Der Ungeist von Vertreibung gehört zu dem, was Europa
immer bedroht hat. Wir alle haben das Erschrecken geteilt, wir, die wir nach all den bitteren Erfahrungen so vieler Völker gedacht haben, dass es Vertreibung nicht mehr
geben könnte. Sie haben zu Recht gesagt: Mindestens
zehn europäische Völker sind Opfer und auch Täter der
Vertreibungen gewesen.
({1})
Wenn man das begreifen will, dann muss man anfangen, sich zu überlegen, wie es eigentlich zu diesem Ungeist gekommen ist; denn im Kern geht es um die europäische Zukunft. Ich möchte einmal den Versuch machen,
darzustellen, wie ich es mir erkläre.
Ich glaube, die Ursachen reichen sehr weit zurück. Ich
denke - das wird viele erstaunen -, dass sie schon bei den
Hans-Joachim Otto ({2})
Wirkungen der Französischen Revolution liegen, die Europa einerseits Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gebracht hat, andererseits aber zum ersten Mal die Völker,
und zwar die politisch ungebildeten Völker, zum Subjekt
von Politik gemacht hat. Schon seit dieser Zeit gibt es die
andere, die dunkle Kehrseite, nämlich die des Populismus
und des Nationalismus.
Infolgedessen gab es - das ist für mich die zweite Ursache - das Auseinanderbrechen der früheren europäischen Großreiche, die alle multikulturelle, multiethnische Großreiche und im Kleinen Vorbilder dieses Europas
der vielen Völker und der vielen Sprachen gewesen sind.
Aus diesen zusammenbrechenden Großreichen und mit
diesem Geist von Populismus und radikalem Nationalismus kam eine Wahnidee auf, von der ich glaube, dass sie
die zerstörerischste Wahnidee war, die Europa je hatte,
nämlich die von ethnisch-homogenen Nationalstaaten,
sodass diese nicht mehr in der Lage waren, mit anderen
Kulturen und anderen Ethnien zusammenzuleben.
Diese Wahnidee - das ist mir außerordentlich wichtig
und deswegen müssen wir den Ansatz weiter fassen, auch
wissenschaftlich und historisch - wurde sogar von großen
Europäern geteilt. Das war der Grund, warum im Münchner Abkommen gesagt wurde, wenn die Deutschen nicht
mehr mit den Tschechen zusammenleben können, dann
sollen sie doch wählen können und wieder mit ihren
Landsleuten zusammengeschlossen werden. Das waren
Menschen wie Präsident Wilson, Chamberlain, Churchill,
später Stalin, die diese Wahnidee vertreten haben und gemeint haben, sie könnten damit stabilere Staaten und somit einen friedlicheren Zustand in Europa erreichen. Das
Gegenteil war der Fall.
Wir sind deswegen für ein europäisch ausgerichtetes
Zentrum, weil wir nur, wenn wir es so angehen, endlich
klar machen können, dass Europa immer ein Kontinent
der vielen Völker, der vielen Kulturen, der vielen Sprachen, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit sein
muss.
({3})
Nur wenn wir dies verfestigen, werden wir ein Europa bekommen, das nie wieder in solche Wahnvorstellungen,
solche Radikalisierungen und solche exzessiven Nationalismen gerät. Das ist die Aufgabe und dafür brauchen wir
ein Zentrum.
Jetzt frage ich Sie, Frau Steinbach: Können Sie diese
Aufgabe mit einem vor allen Dingen an den Deutschen
und ihrem Leid orientierten Zentrum leisten? Das können
Sie nicht. Sie müssen es dialogisch machen. Sie können
es auch nicht, indem Sie einzelne Völker zu Sündenböcken machen und sagen, die waren besonders schlimm,
sondern Sie müssen alle in diesen Dialog einbeziehen.
Deswegen kann er nicht ein deutsch zentrierter Dialog
und meines Erachtens auch nicht ein bilateral zentrierter
Dialog sein.
Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, dass man
anfängt, mit den anderen europäischen Demokratien und
Parlamenten zu diskutieren, und gemeinsam darüber
nachdenkt, was Europa zerstört hat und in welchem Geist
das neue Europa gebaut werden soll. Dann macht dieses
europäisch ausgerichtete Zentrum gegen Vertreibungen
ungeheuer viel Sinn. Es wird Europa stabilisieren, es wird
es sicherer machen und es wird dieses wunderbare Europa
der vielen Völker und Staaten fähig zum Zusammenleben
machen.
Ich glaube, das ist der richtige Weg. Dafür brauchen
wir Zeit. Diesen Dialog sollten wir mit allen Parlamentariern, die wir im europäischen Rahmen treffen, suchen.
Danke.
({4})
Für die PDS-Fraktion
erteile ich jetzt dem Kollegen Dr. Heinrich Fink das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um gleich
Vorurteilen entgegenzutreten: Meine Fraktion ist für eine
konsequente wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Vertreibung, für ein aufdeckendes historisches
Verfahren ohne Wenn und Aber und ohne Rücksicht auf
Biografien der Verursacher sowie für schonungslose Offenheit gegenüber der Geschichte, um den Völkern der Vertriebenen zu Verständigung und Versöhnung zu verhelfen.
Doch Zahlen und Daten sind Quellen. Daher verraten
sie bereits eine Absicht. Ich kann es nicht verhehlen: Ich
meine in diesem Zusammenhang zum Beispiel den Antrag der CDU/CSU. Wenn im Antrag der CDU/CSU von
15 Millionen Vertreibungsopfern gesprochen wird, dann
sind damit die Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges in
den Jahren 1942 bis 1945 gemeint.
Doch die Vertreibung hat bereits zu Beginn dieses
Jahrhunderts begonnen. Daher stimme ich folgendem
Satz im Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen voll zu: Die Forschungsstätte „soll die Vertreibungen
im Europa des 20. Jahrhunderts in ihren verschiedenen
Ursachen, Kontexten und Folgen, darunter die Vertreibung der Deutschen, dokumentieren“.
Leider habe ich nicht die Zeit, Länder und Daten von
Vertreibungen im 20. Jahrhundert aufzuzählen. Ihnen
selbst fallen ja gleich Armenien, Griechenland und die
Türkei ein. Wenn wir uns auf Deutschland beschränken
würden, wären die Zahlen der vertriebenen Juden auf jeden Fall mitzurechnen, ebenso die der Polen, Tschechen
und Russen sowie die all derjenigen aus von Deutschland
besetzten europäischen Staaten, die als Zwangsarbeiter
nach Deutschland deportiert wurden.
Die deutsche und europäische Geschichtswissenschaft
hat eine ausgezeichnete Faschismusforschung vorzuweisen. Die Dimension der Vertreibung ist darin präzise untersucht worden. Die älteste Wurzel aller Vertreibungen,
liebe Frau Vollmer, kommt aus dem Antijudaismus, der
im 19. Jahrhundert in Deutschland zum Antisemitismus
geworden ist. In einem Zentrum der Vertreibung sollte
deshalb dafür breiter Raum sein.
Es sei mir ein Seitenblick erlaubt: Wir lesen heute in
der Presse von einem neuen Antisemitismus. Ich wundere
mich, was an diesem neu sein soll. Es ist doch der alte latente. Neu ist nur, dass er heute am Verhalten gegenüber
dem Staat Israel deutlich gemacht wird, nämlich an Vertriebenen.
Ich bitte Sie: Vertreibung muss weiter erforscht und
politisch analysiert werden, darf aber politisch nicht instrumentalisiert werden. Deshalb ist für mich die Debatte
am heutigen Tag, kurz vor Pfingsten, verdächtig. Zu
Pfingsten finden die Heimatvertriebenentreffen statt. Ich
hoffe, dass hier keine Reden aus dem Fenster gehalten
worden sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich spreche nicht ohne
Erfahrung. Ich bin ein Flüchtlingskind. Ich bin von 1940 bis
1945 aus Bessarabien nach Brandenburg getrieben worden.
Ich habe aber bald begriffen: Vertrieben haben uns nicht die
Russen oder die Polen, sondern diejenigen, die den Krieg
von Deutschland aus angefangen haben.
({0})
Wir sollten an diesem Punkt politisch sehr sensibel
sein, und zwar gerade mit Blick auf Tschechien und Polen, an deren Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft wir
arbeiten. Sollten wir deshalb nicht deren Meinung zu
einem solchen Zentrum für die Vertriebenen Europas mit
einholen? Wenn ein Konzept erarbeitet wird, dann nicht
ohne sie, nicht ohne deren Beratung und deren Beteiligung. Daher ist an dem Gedanken im Antrag der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen festzuhalten: „Ein solches Projekt ist eine europäische Aufgabe.“
Da der Kulturausschuss federführend sein wird, kann
ich Sie nur bitten, diesen Antrag an ihn zu überweisen. Ich
hoffe nur, wir könnten noch in dieser Legislaturperiode
darüber diskutieren.
Vielen Dank.
({1})
Staatsminister Profes-
sor Dr. Nida-Rümelin hat seine Rede zu Protokoll gege-
ben.1) Deswegen erteile ich dem Kollegen Dr. Norbert
Lammert für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den wichtigsten Zweck
hat der Antrag der CDU/CSU-Fraktion bereits erreicht:
eine breite öffentliche Befassung, und zwar nicht nur in
Deutschland, mit einem Thema, das weder historisch
noch politisch als erledigt betrachtet werden kann - die
Vertreibung. Deswegen haben wir im Übrigen gerne die
überparteiliche Initiative der Stiftung „Zentrum gegen
Vertreibungen“ aufgegriffen, die nach unserem Verständnis die Tradition der Veröffentlichung herausragender
Dokumente und des verantwortlichen Umgangs von Betroffenen mit den dramatischen Verirrungen der deutschen und europäischen Geschichte im letzten Jahrhundert fortsetzt, die mit der Charta der Heimatvertriebenen
begonnen hat.
Wir begrüßen die nachgereichten Anträge sowohl der
Koalitionsfraktionen als auch der FDP ausdrücklich, weil
sie deutlich machen, dass es im Kern eine breite Übereinstimmung bezüglich der Notwendigkeit der Beschäftigung mit diesem Thema und - das kann ich aufgrund dieser Debatte sagen - ganz offensichtlich auch bezüglich
der Orientierung bei der Beschäftigung mit diesem Thema
gibt. Ich darf in diese, natürlich ganz subjektive, Bewertung die zu Protokoll gegebene Rede des Staatsministers
ausdrücklich einbeziehen; er hat sie mir freundlicherweise zu Beginn der Debatte zur Verfügung gestellt.
({0})
- Die Spekulationen, die das nun auslöst, nehme ich mit
einem gewissen Vergnügen in Kauf.
Erzählen Sie doch
einmal, was der gesagt hätte.
({0})
Da die Präsidentin darauf besteht, will ich Sie nicht gänzlich enttäuschen.
Der Staatsminister hatte ausdrücklich vortragen wollen,
dass der Antrag der CDU/CSU-Fraktion Bezug auf eine
Initiative des Bundes der Vertriebenen nehme und er in einem ersten Gespräch Ende März vergangenen Jahres mit
Frau Steinbach die Pläne zur Einrichtung eines Zentrums
erörtert und dabei seine prinzipielle Zustimmung signalisiert habe.
({0})
Er hat hinzugefügt - das entspricht, wie ich finde, die-
ser Debatte in vollem Umfang -: Er habe damals bereits
darauf hingewiesen, dass es aus seiner Sicht keine thema-
tische Engführung eines solchen Zentrums etwa in dem
Sinne geben dürfe, dass nur die Vertreibung von Deut-
schen Gegenstand sein dürfe. Ich stelle auch an der Stelle
ausdrücklich Konsens fest. Dies ist ganz offenkundig we-
der die Absicht der Initiatoren und schon gar nicht ist das
die Absicht der CDU/CSU-Fraktion. Uns liegt daran, die
Schlüsselbedeutung, die dieses Thema nicht nur in der
Vergangenheit für die Entwicklung der deutschen und eu-
ropäischen Geschichte hatte, und die im wörtlichen und
übertragenen Sinne blutigen Spuren, die dieses Thema bis
in die Gegenwart hineinzieht, zum Gegenstand der öf-
fentlichen Aufmerksamkeit zu machen und es kontinuier-
lich zu vertiefen.
1) Anlage 6
Nun kommt die
Frage, ob Sie eine Frage des Kollegen Meckel zulassen.
Mit Vergnügen.
Bitte sehr, Herr Kollege Meckel.
({0})
- Das wäre dann zu lange, Herr Kollege.
Lieber Dr. Lammert, ich
möchte an Sie die Frage stellen, ob Sie mit mir darin übereinstimmen, dass wir, wenn wir die deutsche Vertreibung
in den Blick nehmen - damit meine ich nicht die Vertreibung, die wir Deutschen anderen zugefügt haben, wie es
sie auch zuhauf gab, sondern die Vertreibung der Deutschen -, automatisch auch über russische - sowjetische -,
polnische und tschechische Geschichte reden müssen
({0})
und dass wir dies von Anfang an nicht nur allein tun, sondern schon bei der Erarbeitung des Konzeptes mit den anderen zusammenarbeiten sollten. Würden Sie mir darin
zustimmen?
({1})
Jawohl, Herr
Meckel, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. So viel Übereinstimmung gab es selten. Wir müssen geradezu nach
Meinungsverschiedenheiten suchen, eine Verlegenheit, in
die wir ja bei Debatten des Deutschen Bundestages vergleichsweise selten kommen.
({0})
Ich darf Sie aber ausdrücklich noch einmal auf einen
Satz in unserem Antrag verweisen, der die besondere Verantwortung reklamiert, die wir für dieses Thema haben:
Deutschland
- so schreiben wir in unserem Antrag hat aufgrund seiner historischen Erfahrungen und
des leidvollen Schicksals von mehr als 15 Millionen
Vertreibungsopfern ein besonderes Verhältnis zu den
Ursachen wie den Folgen von Vertreibungen. Daraus
ergibt sich eine besondere Verantwortung für die
Aufarbeitung von Geschichte und Schicksal der davon betroffenen Menschen.
Ich stimme dem ausdrücklich noch einmal zu, was Sie gerade zum Gegenstand Ihrer Frage gemacht haben.
Um allen Missverständnissen vorzubeugen, möchte
ich für meine Fraktion am Schluss unserer Debatte noch
einmal drei Punkte ganz knapp ansprechen. Vorher
möchte ich im Übrigen nicht versäumen, mich ausdrücklich für den bemerkenswerten Appell zu bedanken, den
zwei renommierte polnische Publizisten, nämlich Adam
Michnik und Adam Krzeminski, in den letzten Tagen zu
diesem Thema ausdrücklich an die beiden Regierungschefs gerichtet haben.
Das macht deutlich, dass dies eben nicht nur ein deutsches, nicht nur ein polnisches, übrigens aber auch kein
bilaterales Thema ist
({1})
und dass es in diesem zusammenwachsenden Europa immer besser gelingt, auch über komplizierteste Vorgänge
der deutschen und europäischen Geschichte eine Verständigung zu erzielen und eine gemeinsame Gesprächsbasis
zu finden. Es wäre in der Tat ein unentschuldbares Versäumnis, wenn man diese Chance nicht aufgriffe und
nicht den Versuch unternähme, auf dieser Basis Gemeinsames zu bauen.
({2})
Drei knappe Bemerkungen zum Schluss.
Erstens. Weil es so ist, wie es ist und in dieser Debatte
von allen Seiten deutlich gemacht worden ist, sollte die
Frage, wo ein solches Zentrum seinen Sitz findet, nun
wirklich nicht für die entscheidende Frage erklärt werden.
({3})
Sie ist keineswegs unwichtig.
({4})
Aber wichtig ist, ob wir in dem Anliegen übereinstimmen,
das mit einem solchen Zentrum gegen Vertreibungen
zum Ausdruck gebracht werden soll.
({5})
Ich kann nicht erkennen, dass es nur und ausschließlich in
Berlin seinen Sitz haben könnte, wie die Initiatoren mit
guten Gründen vorschlagen. Ich kann allerdings auch
nicht erkennen, dass es auf gar keinen Fall seinen Sitz in
Berlin haben könnte. Das sollten wir in Ruhe dem Verlauf
weiterer Gespräche überlassen.
Zweitens. Weil ich gelegentlich in den vergangenen
Tagen die Bemerkung gelesen habe, einen besonderen
Anspruch Berlins auf ein solches Zentrum könne man
nicht erkennen, will ich mir folgende Bemerkung gestatten: Eine Attraktion wird dieses Zentrum nicht. Jedenfalls
nach unserer Überzeugung von dem, was da stattfinden
soll, kann es keine städtische Attraktion werden. Es wird
ein Stachel im Fleisch der Stadt sein, in der es seinen Sitz
findet, und es muss ein Stachel im Fleisch der Stadt, des
Landes und dieses Europas sein, das sich diese Verirrungen gemeinsam geleistet hat.
Drittens. Die wesentliche Funktion dieses Zentrums,
wenn es denn - hoffentlich - zustande kommt, wird darin
bestehen, eine europäische Übereinstimmung in der
Wahrnehmung dieses Vorgangs zum Ausdruck zu bringen, nämlich dass Vertreibungen unschuldiger Menschen
aus ihrer angestammten Heimat - wodurch auch immer
sie veranlasst gewesen sein mögen -, immer Unrecht sind.
Wenn wir das gemeinsam betreiben, dann leisten wir
einen erheblichen Beitrag zum Bau eines Europas, um das
wir uns gemeinsam bemühen.
({6})
Ich danke für diese
Debatte und schließe sie.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/8594 ({0}), 14/9033 und 14/9068 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9068 soll zu-
sätzlich an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen wer-
den. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 9 a sowie Zusatz-
punkt 17 auf:
9. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Jörg van Essen, Dr. Edzard SchmidtJortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Vergütung der Rechtsanwälte ({1})
- Drucksache 14/8818 Überweisungsvorschlag:
Rechtausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 17 Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Hermann Bachmaier, Anni BrandtElsweier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
({3}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des
Rechtsanwaltsvergütungsrechts ({5})
- Drucksache 14/9037 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dem stimmen Sie zu.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Rainer Funke für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist sehr gut, dass wir heute über zwei
Entwürfe zur Rechtsanwaltsvergütung diskutieren können. Es ist zum einen der Gesetzentwurf der FDP-Fraktion vom 18. April und zum anderen der Entwurf der
Koalitionsfraktionen vom 14. Mai 2002.
Beiden Entwürfen ist gemein, dass anerkannt wird, dass
eine strukturelle Änderung des anwaltlichen Kostenrechts
erfolgen muss. Denn schließlich ist die letzte strukturelle
Veränderung im Jahre 1986 und die letzte lineare Anpassung im Jahre 1994 gewesen. Kaum ein Berufsstand hat
so lange ohne Gebührenerhöhungen auskommen müssen,
obwohl die Kosten gerade in den letzten acht Jahren immens gestiegen sind.
({0})
So hat die Bundesjustizministerin sehr konsequent
schon zu Beginn der Legislaturperiode angekündigt, dass
eine strukturelle Änderung der Rechtsanwaltsvergütung
erfolgen werde. Zur Vorbereitung dieses Gesetzes hat sie
eine Expertenkommission berufen, die im Frühsommer
des vergangenen Jahres ihre Arbeit beendet hat und deren
Arbeit fast einhellig von allen Organen der Rechtspflege
und im Übrigen auch von der Bundesjustizministerin begrüßt wurde. Nur, das angekündigte Gesetz blieb aus und
es dauerte lange, bis diese Veränderungen überhaupt in
die Öffentlichkeit drangen.
Als es unsicher wurde, ob das versprochene Gesetz
noch in dieser Legislaturperiode eingebracht würde, hat
unsere Fraktion kurzerhand den Kommissionsentwurf genommen und ihn zum Gesetzentwurf gemacht,
({1})
um die Bundesregierung in ihrem Handeln zu treiben.
({2})
- Ich weiß das; ich weiß auch, dass die Bundesregierung
darüber nicht begeistert gewesen ist. - Frau Ministerin,
ich möchte Sie ungern unterbrechen.
({3})
- Nein, ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen;
denn es ist nun einmal die Aufgabe der Opposition, die
Regierungskoalition und die Bundesregierung zu treiben.
Das sieht unser System vor; das machen wir auch gern,
weil es uns viel Spaß macht.
({4})
Die vorgesehenen strukturellen Veränderungen waren
in weiten Bereichen im Referentenentwurf des Ministeriums und im Entwurf der FDP identisch. Der jetzt vorgelegte Entwurf der Koalitionsfraktionen sieht dagegen eine
drastische Verschlechterung gegenüber dem Referentenentwurf vor. In 37 Positionen
({5})
gibt es ganz erhebliche Verschlechterungen und lineare
Erhöhungen kommen überhaupt nicht vor.
Offensichtlich soll die unbotmäßige Anwaltschaft abgestraft werden. Wie sich dieses Verhalten des Rachefeldzugs mit der verbalen Anerkennung der Anwaltschaft als
Rechtspflegeorgan vereinbaren lässt, ist mir nicht begreiflich.
Gegenüber dem FDP-Entwurf, der auch lineare Erhöhungen vorsieht, ist von der Bundesjustizministerin
das Schreckensszenario einer Gebührenerhöhung von
40 Prozent geltend gemacht worden. Das ist natürlich
nicht wahr, das weiß die Bundesjustizministerin auch. Es
dürfte sich durchschnittlich um eine Erhöhung um rund
20 Prozent handeln. Diese ist auch berechtigt, weil die
Anwaltschaft immerhin acht Jahre lang gewartet
({6})
und keine Erhöhung bekommen hat und auch wieder viele
Jahre wird warten müssen. Wenn man das alles einbezieht, ist eine jährliche Steigerungsrate von eher unter
2 Prozent durchaus angemessen.
Bei dieser Gelegenheit lassen Sie mich daran erinnern,
dass die Frau Bundesjustizministerin den Gebührenabschlag für Ostanwälte noch beim Anwaltstag als nicht
gerechtfertigt bezeichnet hat. Trotzdem hat sie bis heute
nicht eine entsprechende Verordnung vorgelegt, obwohl
sie durchaus in der Lage gewesen wäre, eine Ministerverordnung zu erlassen und die 10 Prozent zu streichen.
({7})
Nur auf den Hinweis, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse im Osten und Westen gleich sein müssen, können Sie sich kaum stützen; denn auch im Westen gibt es
Unterschiede zwischen Ostfriesland und München oder
Hamburg.
({8})
- Genauso, lieber Herr Beck.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
Gerade deswegen sind wir gegen die Flächentarifverträge, Herr Beck.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diese beiden
Gesetzentwürfe im Rechtsausschuss gründlich beraten.
Ich hoffe, dass wir hier noch zu einer Verbesserung nicht
nur im Interesse der Anwaltschaft, sondern auch des
Rechtsstaats gelangen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile nun das
Wort der Frau Bundesjustizministerin Dr. Herta DäublerGmelin.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, dass Sie gespannt sind. Es ist immer wieder eine Freude, zu erleben, wie der Kollege
Funke in der Opposition redet. Heute hat er uns wieder
eine neue Kunstform vorgemacht: die neue Mischung
zwischen Trittbrettfahren, Raubkopieren und kreativem
Verschleiern der Urheberschaft.
({0})
Ich muss Ihnen sagen, es hat mich sehr gefreut, Ihre Darstellung zu hören, denn weiter entfernt von der Wahrheit
könnte man gar nicht sein.
Sie wissen ganz genau: Ansatzpunkt für die Diskussion
über die beiden Gesetzentwürfe und die Gerichtskostennovelle, die Sie ganz übersehen haben, ist die Modernisierung der Justiz. Zu dieser Schwerpunktaufgabe gehört
selbstverständlich auch die Regelung der Anwaltsvergütung. Die Anwälte wären übrigens verlassen, wenn sie
sich auf Leute wie Sie oder Vorschläge wie den Ihrigen
verlassen würden, lieber Kollege Funke.
({1})
Meine Damen und Herren, die Modernisierung der Gebührenordnung wird seit etwa zwei Jahren durch eine Expertenkommission von Bund, Ländern und Anwaltschaft beraten. Diese Expertenkommission hat einen
Entwurf vorgestellt, nach dem es zu inhaltlichen Vereinfachungen für Anwälte und Gerichte sowie zu mehr
Transparenz für die Bürger kommen wird. In ihm steht,
dass leistungsorientiertere Vergütungsregelungen, zum
Beispiel durch die Erhöhung der Gebühren für das Ermittlungsverfahren und für Pflichtverteidiger, eingeführt
werden sollen. Ganz besonders wichtig ist, dass die außergerichtliche Erledigung gefördert werden soll. Darüber hinaus enthält er Aussagen über Regelungen am Beginn des
Vergütungsverzeichnisses, über die Umgestaltung der Vergleichsgebühr zur Einigungsgebühr für jede Form der vertraglichen Streitbeilegung und - das ist erstmals der Fall über die Mediation im anwaltlichen Vergütungsrecht.
Herr Funke, ich weiß, dass man es, wenn man es schon
einbringt, noch einmal lesen muss, um das überhaupt zu
sehen. Der Entwurf enthält übrigens auch bisher nicht geregelte anwaltliche Tätigkeiten, zum Beispiel Hilfeleistungen in Steuerangelegenheiten, Zeugenbeistand und die
Förderung von Gebührenvereinbarungen. Auch das ist ein
wichtiger Punkt.
In diesem Zusammenhang ist das, was Ihnen offensichtlich am wichtigsten ist - wen wundert das aber bei
der FDP -, nämlich die Gebührenhöhung, auch ein
Punkt. Die faire und angemessene Anpassung der seit
1994 nicht erhöhten Gebühren wird angesprochen. Sie haben übrigens auch vergessen, die in dieser Zeit wegen des
Geldwertverfalls erfolgten Steuer- und Gebührenerhöhungen in Höhe von rund 14 bis 15 Prozent - es war jeweils abhängig vom Streitwert - zu erwähnen.
({2})
Gestatten Sie mir, Folgendes zu sagen: Ob er es nun merkt
oder gar am Hungertuch nagt - das wäre für einen besserverdienenden FDP-Angehörigen ohnehin ein Skandal -, ist
ziemlich zweitrangig. Wir müssen die vorhandenen Gebührenerhöhungen natürlich dazurechnen. Dann wird klar,
dass das, was Sie hier machen, ein relativer Skandal ist.
Was haben wir getan? Wir haben, so, wie wir es mit den
Ländern - übrigens mit allen Ländern - abgesprochen haben, den Expertenentwurf, nach dem es zu einer etwa
20-prozentigen Gebührenerhöhung käme, den Ländern
zur Stellungnahme übersandt. Diese haben uns gesagt,
dass sie ihn nicht mittragen können. Sie haben gesagt,
dass sie zwei zusätzliche Komponenten brauchen, nämlich ein Gerichtskostengesetz und eine leicht abgespeckte
Version. Diese haben wir am 12. April gemeinsam mit ihnen erarbeitet. Das ist die Version, die die Fraktionen der
SPD und der Grünen jetzt vorlegen.
Wir können diese Gebührenreform und auch die faire
und angemessene Erhöhung, für die ich bin, nur gemeinsam mit den Ländern erreichen. Das kann übrigens auch
nur gemeinsam - lassen Sie mich das einmal sehr deutlich
sagen - mit der Öffentlichkeit und mit Vertretern der
Rechtsschutzversicherung, die alle mit uns an einem
Tisch sitzen, geschehen.
Ich sage Ihnen: Wer das will, muss auch das bisher eingeschlagene Verfahren für richtig halten. Sie sind herzlich
eingeladen, sich daran zu beteiligen. Dass Sie einen Expertenentwurf vorlegen, der für die Länder ohnehin nicht
zustimmungsfähig ist, weil er zu teuer ist und weil er - das
können Sie mit den Sozialdemokraten und den Grünen
einfach nicht machen - den Zugang zum Recht für die
nicht Besserverdienenden außerordentlich erschwert,
macht keinen Sinn.
({3})
Nun bringen Sie weitere einseitige Forderungen von den
Leuten, die Sie schlecht beraten haben, in Höhe von zusätzlichen 20 Prozent vor. Erinnern Sie sich einfach an die
Worte des Ministerpräsidenten des Landes Bayern auf
dem Anwaltstag: Zu viel ist zu viel. - Lieber Herr Funke,
das geht halt nicht.
Deswegen bitte ich Sie - gerade wenn Sie es mit den
Anwälten ernst meinen; dieses Bemühen ist Ihnen, wenn
auch der Weg höchst merkwürdig ist, gar nicht abzusprechen -, die entsprechenden Gesichtspunkte zu beachten.
Gestalten Sie es einfach so seriös, wie es sein sollte.
Diese Bitte bezieht sich übrigens auch auf den 10-prozentigen Gebührenabschlag. Sie wissen ganz genau,
dass die rechtlichen Voraussetzungen für eine Verordnung
nicht gegeben sind. Wenn Sie es nicht wissen, sage ich es
Ihnen gern noch einmal; wir haben bereits mehrfach darüber geredet. Es ist ganz einfach. Auch ich bin der Meinung, dass unsere Kolleginnen und Kollegen aus den
neuen Bundesländern dieses als genauso demütigend
empfinden wie zum Beispiel Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in den östlichen Ländern eingestellt werden. Deswegen werden Sie auch unter den Justizministern
- das hoffe ich jedenfalls - und Rechtspolitikern dazu
keine Differenz finden. Das Problem ist, dass uns die Kabinette der ostdeutschen Länder erklären, sie könnten das
nicht tun.
({4})
Sie sind jetzt ja in Sachsen-Anhalt auch am Ruder.
Wenn Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg erklären, dass sie
dies tun könnten, dann werden Sie sehen, dass dies keine
Probleme mehr machen wird. Aber so unseriös über die
Probleme der neuen Länder hinwegzugehen ist nicht Sache der Bundesregierung. Das machen auch die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen nicht mit.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen.
({0})
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion
um das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz bietet die Gelegenheit, den rasant fortgeschrittenen politischen Muskelschwund der rot-grünen Bundesregierung auf dem Gebiet
der Rechtspolitik zu beobachten. Dazu gibt es viele Gelegenheiten. Sie haben keine Kraft mehr. Darüber kann
auch Ihre Rede nicht hinwegtäuschen. Ich werde gleich
im Einzelnen darauf eingehen.
({0})
Das Besondere an diesem Thema der Novellierung der
Rechtsanwaltsvergütung ist, dass es seit Jahren zwischen
Anwaltschaft, Richterschaft, Landesjustizverwaltung,
Bundesjustizministerium, Regierung und Opposition einen Konsens über das Ziel der Vereinfachung des Kostenrechts, das Gebot einer strukturellen inhaltlichen Neugewichtung und die Notwendigkeit der wirtschaftlichen
Anpassung gibt. Aber es geschieht nichts. Über Jahre hat
die Bundesregierung auf diesem Gebiet nichts gemacht.
Nachdem es, wie schon häufig in dieser Legislaturperiode, wieder eine Anzeigenkampagne gegen die Bundesregierung aus der Anwaltschaft und von den Betroffenen
gegeben hat
({1})
- auf den Kanzler komme ich gleich zu sprechen -, wird
auf äußersten Druck in letzter Sekunde ein relativ kümBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
merlicher Torso zuwege gebracht. Das ist das Ergebnis
jahrelanger Versprechungen.
Auf viele Ihrer grandiosen Reformwerke hätten die Betroffenen gerne und dankend verzichtet.
({2})
Das, was notwendig ist und von allen übereinstimmend gefordert wird, leistet die Bundesregierung nicht. „Versprochen und gebrochen“ wird immer mehr zum Leitmotiv
dieser Bundesregierung und zu ihrer Abschlussmelodie.
Frau Bundesjustizministerin, Sie haben eben zu meinem völligen Unverständnis betont, dass Ihr Vorschlag in
Übereinstimmung mit der Anwaltschaft steht und dass das
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, das die Expertenkommission erarbeitet und das sich die FDP zu Eigen gemacht
hat - daran besteht gar kein Zweifel und sie hat keinen
Hehl daraus gemacht -, nicht von der Anwaltschaft gefordert wird. Das glatte Gegenteil ist der Fall. Ich muss
Sie fragen: Reden Sie gelegentlich mit der Anwaltschaft?
Sind Sie mit ihr noch im Gespräch?
Ich lese Ihnen zur Sicherheit den ersten Punkt der Resolution der 91. Hauptversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer vom 19. April dieses Jahres - das ist noch
nicht lange her - vor. Er lautet:
Die Hauptversammlung stellt mit Enttäuschung fest,
dass die Bundesministerin der Justiz bis heute ihr Versprechen vom Sommer 2000, in dieser Legislaturperiode das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz durchzusetzen, bisher nicht erfüllt hat.
Das ist die Wahrheit und nichts anderes. Die Bundesregierung hat nicht das geleistet, was sie versprochen hat.
Die Bundesjustizministerin hat ihre Durchsetzungskraft in vielen Prestigeprojekten, aus denen überwiegend
nichts geworden ist, aufgezehrt. Die „FAZ-Sonntagszeitung“ vom 24. März 2002 schreibt dazu: Es hat nicht irgendein Ministerpräsident interveniert, sondern der Bundeskanzler hat sich, obwohl er nicht dafür bekannt ist,
dass ihn rechtspolitische Fragen wahnsinnig interessieren, erneut mit der Rechtspolitik beschäftigen müssen und
die Bundesjustizministerin mit ihrem Vorhaben gestoppt.
({3})
Das ist die Wahrheit.
({4})
Die Bundesjustizministerin kann sich nicht durchsetzen.
Darum ist nichts auf den Tisch gekommen. Aus diesem
Grunde gab es zwei Tage vor dieser Debatte einen Gesetzentwurf von Ihnen. Ich weiß nicht, ob das so stimmt.
Ich habe nur die Pressemeldung zitiert. Aber ich bin der
festen Überzeugung: Da, wo Rauch ist, ist auch Feuer; an
dieser Stelle ganz gewiss.
({5})
Dabei gibt es eine exzellente Vorlage, nämlich den Entwurf eines Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes einer Expertenkommission. Nur um es noch einmal in Erinnerung
zu rufen: Dabei handelte es sich nicht um eine Expertenkommission der FDP-Fraktion, sondern um eine Kommission, die einen Entwurf vorgelegt hat und aus Vertretern
der Anwaltschaft, der Richterschaft, den Landesjustizministerien und dem Bundesjustizministerium zusammengesetzt war. Sie haben eben so getan, als hätten Sie mit diesem Entwurf gar nichts zu tun, als sei er irgendein dreistes
Lobbywerk gewesen. Nein, das war auch das Werk der
Bundesjustizministerin. Sie hat es nur nicht politisch
durchsetzen können, meine Damen und Herren. Das ist
die Wirklichkeit.
Nun haben Sie einen eigenen Entwurf eines Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes vom Sommer 2001 vorgelegt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bedauert ausdrücklich, dass nicht die Mehrheit diesen Entwurf als
Gesetzentwurf in das Plenum eingebracht hat,
({6})
aber nicht, weil wir der Auffassung sind, dass dieser Entwurf 1:1 oder auf Punkt und Komma hätte umgesetzt werden müssen, sondern weil es sich dabei um eine Expertengrundlage handelt. Wir sind der Gesetzgeber, nicht die
Kommission, aber der Kommissionsentwurf war die richtige Grundlage, um zu diskutieren und möglicherweise zu
Veränderungen zu kommen. Insgesamt aber stimmt dieser
Entwurf; das ist keine Frage. Er ist übrigens auch schon
ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Beteiligten
gewesen.
Ich möchte Ihnen weiterhin, weil Sie offensichtlich
nicht sehr gut über die Befindlichkeit der Anwaltschaft informiert sind, Frau Justizministerin, aus dem Schreiben
des Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer vorlesen, das er an die Koalitionsfraktionen und auch an die
anderen Fraktionen des Hauses adressiert hat und das viel
über die Befindlichkeit der Anwaltschaft im Hinblick auf
den Umgang mit ihr aussagt. Darum zitiere ich bewusst
im Plenum aus diesem Schreiben von Herrn Dr. Dombek
an die Fraktionen:
({7})
Auf dem Anwaltstag in München
- er hat vergangene Woche stattgefunden erklärte der Pressesprecher des BMJ gegenüber der
Presse, der Entwurf des Rechtsanwaltsvergütungsneuordnungsgesetzes könne seitens des BMJ noch
nicht zur Verfügung gestellt werden, da es sich um
einen Entwurf der Koalitionsfraktionen handle.
({8})
Eine Stunde später zitierte der Ministerialrat im BMJ
Otto aus dem Entwurf der Koalitionsfraktionen;
({9})
er legte im Einzelnen dar, welche Änderungen gegenüber dem Kommissionsbericht erfolgt seien.
Später legte in der Diskussion die Hausleitung des
BMJ dar, dass der Entwurf nicht der Diskontinuität
anheim fallen werde, weil er gleichzeitig als Koalitionsentwurf und als Regierungsentwurf eingebracht
werde. Der Entwurf selbst wurde jedoch der Bundesrechtsanwaltskammer weder durch die Regierungskoalition noch durch das Bundesministerium
der Justiz zur Verfügung gestellt. Die Presse war in
der Lage, wie schon beim Zivilprozessreformgesetz,
uns den Entwurf auszuhändigen.
Das ist der Umgang der Bundesregierung mit der Anwaltschaft und mit einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft die einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen hat.
({10})
Das ist ein schlechter Stil.
Wir werden in diesem Haus weiterhin über den Inhalt
der Rechtspolitik streiten. Das ist richtig und gut so. Aber
ich sage Ihnen eines, das schon fast ein Ceterum Censeo
von uns und auch von mir ist und wofür wir einstehen ({11})
wir stehen für Inhalte ein; aber es wird sich nach dem
22. September auch etwas anderes wesentlich ändern -:
Wir brauchen wieder einen anderen Stil in der Rechtspolitik.
({12})
Den Stil des Abschottens, des Sichdurchsetzens, der keinem Erfolg gebracht hat,
({13})
weder Ihnen noch irgendjemand anderem, werden wir am
22. September beenden, egal, wie die Bundestagswahl
ausgeht.
({14})
Wir werden zu einem argumentativen und kooperativen
Stil zurückkehren. Diesen braucht die Rechtspolitik. Es
hat etwas mit der Qualität der Gesetzgebung zu tun, ob
man vernünftig miteinander redet und umgeht. Das ist seit
1998 nicht mehr der Fall.
({15})
Hören Sie auch einmal ein bisschen auf die Vertreter der
Anwaltschaft. Belehren Sie sie nicht nur und klammern
Sie sie nicht nur aus, sondern reden Sie mit den Vertretern
der Anwaltschaft.
({16})
Frau Ministerin, ich
muss Sie leider darauf hinweisen, dass wir es nicht für gut
halten, wenn sich jemand von der Regierungsbank in die
Debatte einschaltet.
({0})
Ich komme nun zu
dem Entwurf in inhaltlicher Hinsicht.
({0})
- Ja, es geht viel um das Verfahren, auch wenn Sie das
nicht gerne hören. - Inhaltlich ist der Entwurf nicht überzeugend. Sie haben den eigenen Anspruch verfehlt, eine
umfassende Kostenstrukturreform vorzulegen. Sie haben
keine solche Reform vorgelegt; es fehlen die Reform des
Gerichtskostengesetzes und die Neuordnung der Vergütung von Sachverständigen, Dolmetschern und Übersetzern. Es fehlt auch eine Neuregelung der Entschädigung
von Zeugen und ehrenamtlich tätigen Richtern. Das alles
ist nicht Teil Ihrer Kostenreform.
({1})
Sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Professor Pick, noch in der letzten Sitzungswoche haben
Sie als Vertreter der Bundesregierung auf die Fragen unserer Fraktion hin im Bundestag den strukturellen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Reform des anwaltlichen Gebührenrechts und dem Gerichtskostenrecht
betont. Sie haben gesagt, deswegen werde die Bundesregierung zu beiden Bereichen Reformvorschläge vorlegen.
Sie legen nunmehr nur einen Torso vor und reformieren
das Gerichtskostenrecht nicht.
Sie machen dies alles - das möchte ich betonen - ohne
Abstimmung mit den Ländern. Jedenfalls kann ich das
für die CDU-geführten Landesregierungen sagen. Es mag
sein, dass Sie nur mit den verbliebenen sozialdemokratisch bzw. rot-grün-geführten Landesregierungen gesprochen haben.
({2})
Dies würde zu Ihrem Stil passen. Jedenfalls ist mit den
CDU-geführten Landesregierungen - ich weiß das, weil
ich mit ihnen gesprochen habe - keine politische Abstimmung über die Auswirkungen Ihres Gesetzentwurfs auf
die Gerichtskosten getroffen worden. Das ist ein Widerspruch zu Ihrer eigenen Ankündigung.
Die Anwälte und die Länder finden das übrigens nicht
so amüsant wie Sie; denn diese sind durch das Gesetz, das
Sie beschließen wollen, schon betroffen. Sie müssen im
Wege der Prozesskostenhilfe dafür zahlen. Es wäre also
fair gewesen, wenn Sie mit den Ländern geredet hätten,
um eine politische Abstimmung herbeizuführen. Wir wollen den Erfolg, Sie offenbar nicht.
Wir werden genau prüfen, ob die wirtschaftliche Anpassung, die Sie vornehmen, fair ist. Ich habe nach der
ersten Durchsicht - mehr war nicht möglich, weil dieses
Thema wieder kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzt
wurde - erhebliche Zweifel, ob der von Ihnen vorgeDr. Norbert Röttgen
schlagene Ausgleich wirklich fair ist, insbesondere wenn
man berücksichtigt, dass die Beweisgebühr wegfällt. Die
Frage ist, ob das insbesondere für die kleinen Praxen, die
überwiegend forensisch tätig sind, ein faires Angebot ist,
ob sie dadurch nicht schlechter gestellt werden.
Wir jedenfalls werden nicht nach dem Motto „Lieber
den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ dieses
karge Mahl ohne sachliche Prüfung zu uns nehmen und
gutheißen. Wir befürworten sowohl im Grundsatz als auch
fast in jedem Detail den Entwurf der Expertenkommission,
den die FDP-Fraktion in die Beratungen eingebracht hat.
Wir halten das, was Sie vorgelegt haben, für einen Nachweis Ihrer mangelnden politischen Durchsetzungskraft.
Sie lassen die Anwälte erneut im Stich. Auch das wird sich
nach dem 22. September ändern.
Die Anwälte brauchen zwar keine Lobby, aber eine
vernünftige Interessenvertretung in diesem Parlament.
Seit 1994 ist nichts mehr getan worden. Sie haben die angestrebte Strukturreform, die inhaltliche Neugewichtung,
die Vereinfachung und die wirtschaftliche Anpassung
- die möchte ich auf keinen Fall verschweigen - nicht auf
den Weg gebracht. Die Bundesregierung lässt die kleinen
mittelständischen Anwaltskanzleien, die sich als Einzelkämpfer behaupten müssen - die großen Kanzleien, die
ihre Honorare selber vereinbaren können, sind ja außen
vor -, im Regen stehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Röttgen, Ihr Beitrag war wirklich klasse. Wenn wir das
Motto „Wo Rauch ist, ist auch Feuer“ beherzigen würden,
dann müssten wir davon ausgehen, dass demnächst Frau
Merkel Fraktionsvorsitzende ist; denn um diese Frage
gibt es sehr viel Rauch. Sie wissen sehr gut, wie man mit
solchen Argumenten verfahren sollte.
Sie haben gesagt, Sie stünden 1:1 hinter dem FDP-Entwurf, der im Vergleich zum heutigen Recht in einzelnen
Punkten, zum Beispiel bei der Gebühr für die Beratungshilfe, Steigerungen von bis zu 160 Prozent vorsieht. Ich
sage Ihnen: Wenn wir nach der Ausschussberatung und
der Anhörung der Vertreter der Anwaltsorganisationen
unseren Gesetzentwurf verabschiedet haben, haben Sie ja
noch immer die Möglichkeit, über den Bundesrat den Vermittlungsausschuss anzurufen, um die vorgeschlagenen
Erhöhungen durchzusetzen.
({0})
Ich bin sehr gespannt, welches von der Union mitregierte
Land sich findet, um einen Antrag mit dieser Zielsetzung
zu stellen.
({1})
Das, was ich aus den Ländern höre, ob sie nun rot oder
schwarz, rot-grün oder schwarz-gelb regiert sind, hat
nicht den Tenor, dass man sich für eine 40-prozentige Gebührenerhöhung einsetzen wolle. Alles andere wäre auch
Unsinn.
Die Schieflage, die Sie hier zu suggerieren versuchen,
hier die Anwälte, da die böse Justizministerin und die verbrecherische Koalition,
({2})
ist völlig falsch. Mich hat vor dieser Debatte ein Vertreter
des Deutschen Anwaltsvereins angerufen und gesagt,
man wolle über ein paar Punkte mit uns noch reden, unterstütze aber im Grundsatz diesen Gesetzentwurf.
({3})
Dort weiß man nämlich, dass unser Entwurf anders als der
der FDP im Bundesrat die Mehrheit finden und Gesetz
werden wird.
({4})
Was nützt ein schöner Entwurf, der niemals das Bundesgesetzblatt erreicht?
({5})
- Sie würden sicherlich auch Ihr Erstgeburtsrecht für ein
Linsengericht verkaufen. Aber bei einer Gebührenerhöhung von 12 Prozent handelt es sich doch nicht um ein
Linsengericht.
({6})
Heute hat sich der Kollege Brüderle von der FDP, die
eine Erhöhung um 40 Prozent verlangt, erdreistet, den
moderaten Abschluss der IG Metall mit Gesamtmetall zu
kritisieren. Dabei geht es gerade einmal um rund 4 Prozent. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist das
selbstverständlich zu üppig; es wird das Land ruinieren.
Aber für die Rechtsanwälte wollen Sie zehnmal so viel,
nämlich 40 Prozent. Was Sie hier aufführen, ist doch nun
wirklich Narretei.
({7})
Meine Damen und Herren, mit dieser Strukturreform
der Anwaltsgebühren setzt die Koalition in der Justizpolitik ihren Modernisierungskurs entschlossen fort. Dieses
Gesetz war überfällig: nicht nur, weil seit 1994 in puncto
Gebührenerhöhung nichts mehr geschehen ist - das wäre
ja noch zu verkraften gewesen, zumal ja auch die Streitwerte seit 1994 wegen der Preisentwicklung gestiegen
sind -, sondern auch deshalb, weil die Struktur der noch
geltenden BRAGO hoffnungslos veraltet ist. Ihr Leitbild
stimmt einfach nicht mehr. Das wird nach unserer umfangreichen Reform der ZPO und von Vorläufergesetzen
besonders sichtbar. Der Rechtsanwalt von heute ist nicht
mehr in erster Linie Prozessvertreter, der seinen Mandanten am besten durch alle Gerichtsinstanzen zieht. Schwerpunkt ist heute der außergerichtliche Bereich. Untersuchungen zufolge werden circa 70 Prozent der anwaltlichen
Tätigkeiten nur in diesem Bereich verrichtet. Diesem Umstand trägt unser Entwurf optimal Rechnung.
({8})
- Sie haben vielleicht auch mitbekommen, dass wir so etwas wie die außergerichtliche Streitbeilegung eingeführt
haben. Das wollen wir fördern.
({9})
Diese Arbeit soll sich auch für die Anwälte lohnen, weil
eine außergerichtliche Regelung besser ist, als nach einem
Instanzenweg für die Mandantschaft erfolglos dazustehen.
({10})
Dass wir hier einen neuen Weg gehen, erkennen Sie
schon am transparenten Aufbau des Gesetzes. Die Regelungen über die außergerichtliche Beratung stehen voran
und finden sich nicht versteckt irgendwo unter „ferner liefen“. An sich müssten Sie ja dafür sein, weil die Struktur
von der Expertenkommission stammt, die Sie gerade so
sehr gelobt haben. Ich verstehe gar nicht, gegen wen Herr
Geis hier gerade wettern will.
({11})
Auch wollen wir Formen der außergerichtlichen Erledigung wie die gütliche Streitbeilegung fördern. Das lösen wir hier ein: Versprochen, gehalten! Wir tun das zum
Beispiel, indem wir die geltende Vergleichsgebühr, deren
Anfall häufig zu Streit geführt hat, durch eine flexiblere
Einigungsgebühr ersetzen. Ein Novum in diesem Gesetz
ist, dass erstmals im Vergütungsrecht die Mediation ausdrücklich Erwähnung findet. Auch das unterstreicht die
Bedeutung, die wir übrigens nicht erst bei diesem Gesetzesvorhaben diesem Bereich beimessen.
Dieses Gesetz wird wegen seiner neuen Akzente und
seiner Ausrichtung die Qualität der Rechtsberatung durch
Anwälte erhöhen. Es stellt deshalb eine Reform nicht nur
für die Anwaltschaft, sondern auch für die Verbraucher
in unserem Land dar. Gerade die Recht suchenden Bürgerinnen und Bürger muss man auch bei einer Anwaltsgebührenordnung berücksichtigen. Es darf nicht wie bei der
FDP gelten, dass guter Rat so teuer ist, dass ihn sich nur
noch die Besserverdienenden leisten können. Vielmehr
gehört zu einer Rechtskultur auch der Zugang zum anwaltlichen Rat.
({12})
Das wird durch diese Gebührenreform nicht behindert,
sondern gefördert. Deshalb sind wir hier auf einem moderaten, vernünftigen Weg, für Anwälte und Recht suchende Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen.
Vielen Dank.
({13})
Nun erteile ich der
Kollegin Dr. Evelyn Kenzler für die PDS-Fraktion das
Wort.
({0})
Ja, ich habe die Zeitverschiebung gerade überstanden.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Reform der Anwaltsvergütung steht schon lange auf
der Gesetzgebungsagenda. Leider kommt der Entwurf
sehr spät,
({1})
auf den letzten Drücker, in den Bundestag, sodass eine gewissenhafte Beratung unter dem daraus resultierenden
Zeitdruck fast nicht mehr möglich ist.
({2})
Aber ungeachtet dessen müssen wir jetzt zügig in die Beratung eintreten.
Gebührenerhöhungen, gleich welcher Art und Höhe,
finden in der Öffentlichkeit nie Beifall. Man muss also
schon eine gute Begründung dafür haben, warum eine Erhöhung notwendig ist. Sie muss auch verhältnismäßig
sein, denn sie darf nicht zu ungerechtfertigten Härten für
die Rechtsuchenden führen.
({3})
Dieser Nachweis muss gebracht werden, um die öffentliche Akzeptanz zu erreichen. Wir dürfen schließlich nicht
vergessen: Der Rechtsanwalt gilt nach allgemeiner Vorstellung in der Bevölkerung nicht gerade als bedürftig.
Die Realität sieht jedoch für viele Anwälte ganz anders
aus. Für die meisten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ist ihre Tätigkeit ein harter Broterwerb mit einem
überlangen Arbeitstag. Sie haben oft wenig Urlaub und
unter dem Strich einen niedrigen Stundenlohn. Gerade
junge Anwälte, die sich selbstständig gemacht haben,
müssen häufig mit einem sehr geringen Nettoeinkommen
auskommen; nicht selten ist es am Anfang sogar ein Zuschussgeschäft.
In den Begründungen beider Gesetzentwürfe sind Zahlen enthalten, die im Hinblick auf die Einkommenssituation der Anwaltschaft für sich sprechen. Eine moderate
Anhebung der Gebühren ist deshalb nur gerecht. Sie ist
für viele kleine und mittlere Praxen sogar überlebensVolker Beck ({4})
wichtig. Die Angleichung der Gebühren an die Entwicklung der allgemeinen Lebenshaltungskosten ist insofern
wirklich dringlich. Schließlich sind die Anwaltsgebühren
seit über sieben Jahren unverändert geblieben, und das bei
gestiegenen Kosten und bei stagnierendem oder sogar
zurückgehendem Umsatz und Einkommen der Rechtsanwälte.
Die im Gesetzentwurf der Regierungskoalition ausgewiesenen Mehreinnahmen für die Anwaltschaft sollen
circa 12 Prozent betragen. Ich werde mir genauer ansehen, wie sich die geplanten Gebührenerhöhungen im Einzelnen gestalten bzw. wie sie sich verteilen.
Ich begrüße es, dass die Gesetzentwürfe nicht nur
schlechthin Gebührenerhöhungen anstreben. Das Vergütungsrecht soll durch strukturelle Veränderungen transparenter werden. Dies ist vor allem für den Recht suchenden
Bürger wichtig, damit er die ihm in Rechnung gestellten
Gebühren besser nachvollziehen kann. Ich will hier nur an
das Vergütungsverzeichnis erinnern, das beide Gesetzentwürfe vorsehen.
Ich halte es auch für sinnvoll, dass im Gesetzentwurf
die bisher nicht geregelten anwaltlichen Tätigkeiten erfasst werden. Dazu gehören Mediation, Hilfeleistungen in
Steuersachen und auch die Tätigkeit des Rechtsanwaltes
als Zeugenbeistand.
Ich möchte zum Schluss noch ein Problem ansprechen,
dass mich nach wie vor umtreibt. Das ist der längst überfällige Wegfall des Gebührenabschlags für die Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern. Seine Beseitigung
halte ich für mindestens ebenso wichtig wie die Anhebung
der Gebühren insgesamt.
({5})
Hierzu hätte ich von der Bundesregierung noch in dieser Wahlperiode einen Lösungsvorschlag erwartet. Noch
ist es nicht zu spät, wie der heute behandelte Gesetzentwurf zeigt. Er verdeutlicht auch, dass bestehende Widerstände auf diesem Gebiet überwunden werden können.
Sie haben die Möglichkeit, noch in dieser Wahlperiode
Abhilfe zu schaffen. Wir werden Sie dabei nach Kräften
unterstützen.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Margot von
Renesse?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, wir haben
hier schon öfter die Bitte und die Forderung der Anwälte
aus dem Osten gehört, dass dieser Gebührenabschlag endlich entfallen solle. Wundert es Sie ebenso wie mich, dass
es keine Zusage der Anwälte gibt, dann auch ihre Kanzleiangestellten entsprechend den Westtarifen zu bezahlen?
Ja, darüber müssen wir sicher noch einmal diskutieren; das ist völlig richtig. Aber
das darf uns nicht daran hindern, dass wir dieses Problem
endlich insgesamt anpacken, denn die Ungleichbehandlung der Anwälte in Ost-Berlin und in den neuen Bundesländern ist einfach nicht mehr akzeptabel und muss
schleunigst beseitigt werden.
({0})
- Ja, sicher.
({1})
Was denken Sie denn, wie ich meine Angestellten bezahle? Selbstverständlich!
({2})
Nun hat der Kollege
Alfred Hartenbach für die SPD-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin!
Verehrtes Präsidium! Liebe interessierte Kolleginnen und
Kollegen! „Angemessene Honorare für gute Leistung,
aber keine Gebühreninflation“, diese Überschrift der
Presseankündigung zu unserem Gesetzentwurf müssen
die Vorstände der Bundesrechtsanwaltskammer als
Kampfansage verstanden haben; denn sie haben uns noch
heute einen Brief geschrieben, in dem sie sich über zwei
Dinge beschwert haben, erstens darüber, dass wir nicht
mit ihnen darüber geredet haben und sie gar nicht gehört
worden sind, obwohl sie doch mit allen Behörden Kontakt
halten müssen, und zweitens darüber, dass die Gebührenerhöhung viel zu niedrig ausfällt. Erstens sind wir keine
Behörde. Zweitens sind die Damen und Herren gehört
worden. Drittens halte ich es schon für eine Anmaßung,
zu glauben, wir könnten keinen Gesetzentwurf einbringen, ohne vorher den Vorstand der BRAK gehört zu haben.
Die weitere Forderung haben Sie sich nun zu Eigen gemacht. Meine verehrten Damen und Herren auf der Seite
der CDU/CSU und der FDP - ich weiß jetzt nicht, ob ihr
inzwischen die Pünktchen abgelegt habt -,
({0})
Sie müssen sich genauso wie der Vorstand der BRAK eines vorhalten lassen.
({1})
Als wir vor einiger Zeit die Pfändungsfreigrenzen um
12 Prozent erhöht haben, hat es vonseiten der BRAK ein
unglaubliches Geschrei gegeben und auch Sie haben der
Erhöhung nicht zugestimmt. Deswegen finde ich es schon
ein bißchen merkwürdig, dass Sie nun plötzlich mit der
Erhöhung der Gebühren um 12 Prozent nicht zufrieden
sind. Angesichts dessen müssen Sie sich einmal fragen
lassen, wie Ihr Weltbild ist. Wir wissen, wie es ist.
Ich sage eines ganz deutlich - das ist meine Kampfansage -: Wenn wir dieses Gesetz nur für die Vorstände der
Bundesrechtsanwaltskammer machen würden, dann wäre
meine Lust, dieses Gesetz noch zu beraten, wahrscheinlich nicht besonders groß. Aber dieses Gesetz dient auch
und besonders den mehr als 100 000 Rechtsanwälten, die
auf realistische Gebührenanpassungen hoffen und nicht
Utopisten oder Fantasten nachlaufen, insbesondere den
vielen kleinen Ein- und Zweipersonenkanzleien,
({2})
die nur über Gebührenordnung abrechnen und nicht, wie
die großen Kanzleien, denen ganz offensichtlich die Vorstände der BRAK hörig sind, über Gebührenvereinbarungen.
Das Gesetz dient auch dem Recht suchenden Bürger
und ebenso der überlasteten Justiz, weil die Gebührenstruktur für eine schnellere und gründliche Erledigung der Verfahren sorgen wird. Weil wir uns eben nicht
ein paar Lobbyisten, die offensichtlich jedes Maß für Realitäten verloren haben,
({3})
sondern einer breiten Öffentlichkeit verpflichtet fühlen,
werden wir diesen Gesetzentwurf beraten und, so hoffe
ich, auch noch verabschieden.
Die Vergütungsregelungen führen zu einer durchschnittlichen linearen Erhöhung um 12 Prozent.
({4})
Das entspricht dem Inflationsausgleich und das entspricht
- ich wiederhole es; da ist Ihr Gewissen gefragt, Herr
Geis - der Anhebung der Pfändungsfreigrenzen. Damit
bewegen wir uns in einem Rahmen, der vertretbar ist.
({5})
- Nun halt doch mal den Mund, Mensch!
Bedeutend bei dieser Strukturreform ist, dass sie zwei
Säulen hat. Einmal werden die Einkommen der vielen
kleinen und mittleren Anwaltspraxen den aktuellen Bedingungen angepaßt und zum anderen dient die Strukturreform der beschleunigten Erledigung von Rechtsstreitigkeiten.
({6})
Die Berücksichtigung anwaltlicher Tätigkeit als Zeugenbeistand, bei Täter-Opfer-Ausgleich, Mediation, Hilfeleistung
in Steuersachen, als Beistand in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und vor allem bei der Förderung außergerichtlicher Erledigungen ist genau der richtige Weg.
({7})
Es geht darum, das besser und korrekter zu honorieren, als
es bisher der Fall war. Gerade das Letztere, die außergerichtliche Streitschlichtung, dient der Beschleunigung.
Dem Bürger ist mehr gedient, wenn der Anwalt dafür ordentlich honoriert wird; dann wirft er auch mehr Gewicht
in die Waagschale, um ein Verfahren außergerichtlich zu
erledigen.
Unser Entwurf ist Teil einer Strukturreform des gesamten Gerichtskostenwesens. Wir hätten sicherlich gern
gemeinsam mit den Ländern auch das Gerichtskostengesetz zu einem früheren Zeitpunkt beraten.
({8})
Dieses gestaltet sich aber so schwierig, dass wir mit dem
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vorangehen mussten, damit sich etwas bewegt.
({9})
Wer aber nun als Anwalt auf die Populisten aus der
FDP und der CDU/CSU
({10})
und deren Gesetzentwurf setzt, der wird verdammt alt darüber werden. Dieser Gesetzentwurf wird mit Sicherheit
nicht in das Bundesgesetzblatt kommen.
({11})
Zum einen werden wir dafür sorgen und zum anderen
werden Ihre eigenen Länder, Herr Geis, das nicht mitmachen.
({12})
Ich finde es schon lustig, dass sich die FDP - ich sage
einmal: vermutlich - einer Raubkopie bedient hat. Es ist
schon lustig, dass bei dieser Spaßpartei anscheinend auch
der Raub geistigen Eigentums zum Tagesgeschäft gehört.
({13})
Nicht lustig finde ich es aber, Herr Kollege Funke, dass
Sie sich als ehemaliger Staatssekretär im Justizministerium dieser Tat auch noch rühmen. Dann treiben Sie die
Gebührensätze auch noch in Schwindel erregende Höhen.
Machen Sie doch bitte einmal den Millionen Bürgern, die
anwaltlichen Beistand benötigen, klar, dass sie in den letzten Jahren mit Einkommens- und Lohnsteigerungen von
etwa 14 Prozent klarkommen mussten
({14})
- Herr Geis, ich habe Sie doch gebeten, etwas ruhiger zu
sein -,
({15})
nun aber für die Beratung beim Anwalt plötzlich über
40 Prozent mehr bezahlen sollen. Bei euch in der Opposition sind die 40 Prozent im Moment unheimlich modern.
({16})
Der Stoiber will unter 40 Prozent und der Funke will über
40 Prozent.
({17})
Ihr müsst euch einmal einigen.
Ich möchte mich bei den Mitgliedern des Vorstandes
des Deutschen Anwaltsvereines ausdrücklich für ihre Unterstützung bedanken. Ich weiß, dass sie mit diesem Entwurf zufrieden sind und dass sie uns auf dem weiteren
Weg der Beratungen begleiten werden.
Dem Kollegen Röttgen - er ist nicht mehr anwesend;
er hat sich bei mir entschuldigt - muss ich sagen, dass wir
seine letzte Philippika bei der Beratung der Juristenausbildung gehört haben. Was hat er unsere Ministerin
schlecht gemacht, was hat er unseren Entwurf zerrissen!
Das hat er heute wieder gemacht. Er kann anscheinend
nicht anders, als mit Dreck um sich zu werfen.
({18})
Dann kam er auf uns zu und hat sich bei der Juristenausbildung angedient.
({19})
Wir waren ja froh, dass er sich da angedient hat. Zum
Schluss hat er dafür gestimmt und wollte noch namentlich
auf dem Entwurf stehen. Wir haben seinem Wunsch gern
entsprochen.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Ich kann Ihnen jetzt schon
sagen, dass er auch hier sicherlich mitmachen wird.
Dem Vorstand der BRAK möchte ich folgende Empfehlung geben: Helm ab, Kettenhemd aus, Speer aus der
Hand, hinein in die Robe, Gesetzbuch zur Hand und zu
vernünftigen Gesprächen bereit.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf Drucksachen 14/8818 und 14/9037 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Bartholomäus Kalb,
Heinz Seiffert, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Bürokratieabbau für kleine
und mittelständische Betriebe
- Drucksache 14/6633 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 14/8682 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({2})
Elke Wülfing
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Wolfgang Börnsen
({4}), Klaus Brämig, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Förderung der Innovation im Mittelstand
- Drucksachen 14/7615, 14/9026 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben
hier in den vergangenen vier Jahren sehr oft über den Mittelstand gesprochen. Wir haben insbesondere über den innovativen Mittelstand diskutiert, weil hier die eigentliche
Chance für Arbeitsplätze in unserem Land liegt. In den
80er-Jahren ist die Zahl der Arbeitsplätze bei den Großunternehmen nur begrenzt gestiegen, in den 90er-Jahren hat
sie abgenommen, während der Mittelstand ständig aufgebaut hat. Je stärker er in der Innovation war, desto erfolgreicher war er am Markt.
({0})
Sie sind in diese Legislaturperiode gestartet, getragen
vom fröhlichen Vertrauen der Neuen Mitte, die sich von
uns etwas abgewendet hatte. Die hatten das Gefühl, wir
gingen nicht scharf genug an die Reformen heran. Die hatten das Gefühl: Jetzt kommt eine kühne Reformpartei, die
einen neuen Durchbruch schafft und endlich Luft für den
Mittelstand bringt.
Inzwischen hat sich das ein wenig geändert. Wenn der
Aufschwung des Jahres 1998 Schröders Aufschwung war,
ist es jetzt sein Abschwung. Er wird getragen von dem
Mittelstand, der keine Freude an dem hat, was geschehen
ist, vom 630-Mark-Gesetz bis zur Scheinselbstständigkeit.
({1})
Wir haben Sie an vielen Stellen mit Freundlichkeit begleitet und Ihnen unseren brüderlichen Rat nicht vorenthalten. Wir haben gesagt: Das führt zum Übel. Sie haben
geantwortet: Redet den Standort nicht schlecht! Wenn
eine Regierung kraftvoll handelt, kann eine Opposition
den Standort gar nicht schlechtreden, weil niemand darauf
hört. Wenn eine Regierung jedoch nicht handelt, ist die Situation anders. Dann müssen wir sagen, was ist, damit etwas geschieht.
({2})
- Da sieht es ein bisschen sehr verlassen aus. Frau Wolf
hat um Verständnis dafür gebeten, dass sie ihre Rede nicht
halten kann. Aber dass wir ganz ohne Regierung sind, ist
bedauerlich. Ich fühle mich verlassen.
Der Mittelstand stellt sich nach Auskunft von Creditreform zum Ende der Legislaturperiode folgendermaßen
dar: Die Geschäftseinschätzung ist schlechter als irgendwann in den letzten sieben Jahren. Die Hälfte der Firmen
hat rückläufige Umsätze. Die Zahl derer, die entlassen
wollen, ist um ein Viertel größer als die Zahl der Unternehmen, die einstellen wollen. Die Investitionsbereitschaft ist gegenüber dem vergangenen Jahr um 10 Prozent
gesunken. - Wenn wir diese sehr gefährliche Situation
nicht wenden, kommen wir in Schwierigkeiten.
Die Maßnahmen Ihrer Steuerreform sind offensichtlich beim Mittelstand überhaupt nicht angekommen. Der
Mittelstand versteht die Fiskalrabulistik nicht mehr. Nach
Umfragen von Allensbach glauben 8 Prozent der Befragten, dass sich durch die Steuerreform etwas zum Guten
geändert hat, und 1 Prozent der Befragten glauben, dass sie
selber etwas davon haben. So etwas kann man mit einer
Ökosteuer-Diskussion zudecken. Ich will gar nicht auseinander fieseln, was daran richtig und was falsch wahrgenommen worden ist. Aber wir haben eine Situation, in der
die Rahmenbedingungen einfach nicht stimmen.
Wir haben den Antrag im Umfeld der letzten Haushaltsdebatte eingebracht. Das Parlament hat gemeinsam
wesentliche Ansätze erhöht und wir halten das für ein vorzügliches Ergebnis. Wir bedanken uns ausdrücklich für
die Brüderlichkeit über die Fraktionsgrenzen hinweg.
Jetzt sollten wir diese Brüderlichkeit aber für die nächste
Runde bewahren.
Wir sehen mit Spannung dem neuen Haushalt entgegen, den Herr Eichel in Kürze vorlegen wird. In diesem
neuen Haushalt, so habe ich gelernt, wird man vieles nach
dem Verständnis des Parlaments zugrunde legen, etwa die
Beschlüsse zur Forschung vom vorhandenen Haushalt
und nicht etwa die alte Mifrifi. Wenn wir auf die alte Mifrifi zurückgehen, werden wir die Mittel um einige Dutzend Millionen senken. Was das in einer Zeit, in der etwa
für BTU, also für das Kreditausfallrisiko von Bürgschaften, Dutzende von Millionen anstehen, bedeutet, ist offenkundig. Ich beschwöre unsere Freunde über alle Fraktionen hinweg, dass wir gemeinsam daran arbeiten. Wir
haben den Plafond für die Fortschreibung gelegt und ich
hoffe, dass die Bundesregierung hier das Parlament respektiert.
Im Übrigen ist der Antrag durch die Ausschüsse gewandert. Ich freue mich sehr darüber, dass der Forschungsausschuss die Weisheit des Antrags verstanden
und ihm zugestimmt hat. Wir haben also immerhin hier
eine übergeordnete Weisheit, die uns beglückt.
Wir müssen in dieser Situation in der Tat darüber nachdenken, ob die Aufteilung der Forschung zwischen Wirtschafts- und Forschungssektor zu irgendetwas gut ist.
Es war prima, dass Herr Müller und Frau Bulmahn am
2. Mai eine gemeinsame Pressekonferenz durchgeführt
haben. Ich hatte zeitweilig das Gefühl, dass sie dabei zum
ersten Mal gemeinsam über Forschungspolitik geredet
haben. Dieser Diskussion verdanken wir aber jedenfalls
eine Klärung der Frage, wie hoch die Zuwächse im Forschungsbereich waren. Sie haben versprochen, sie auf
200 Prozent zu erhöhen; jetzt haben wir aber erfahren,
dass sie um 18 Prozent gestiegen sind. Dies wird stolz als
Erfolg verkündet.
({3})
- Ich höre leidenschaftlichen Applaus bei der Koalition.
Freunde, wenn man dem Mittelstand so viel verspricht
und es dann nicht hält, muss das frustrierend wirken. Die
Folge ist, dass die Forschungskapazität im Mittelstand
zurzeit real schrumpft.
({4})
Das besagen die Zahlen des Stifterverbandes. Der Anteil
des Bundes am Forschungsbudget der Nation schrumpft
ebenfalls.
({5})
- Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Zahlen vorlesen.
Es ist offensichtlich, dass es um die Sache hinsichtlich
der Strategie und der Mittel nicht gut steht. Wenn wir in
der nächsten Legislaturperiode ein starkes Wirtschaftsministerium unter Leitung von Lothar Späth bekommen,
({6})
dann haben wir die vorzügliche Möglichkeit, ein starkes
Forschungsministerium wieder dort anzusiedeln, wo es
eigentlich zu Hause ist.
Wir haben über die Forschung, die Innovationen in den
mittelständischen Unternehmen und über die Neugründungen gesprochen. Herr Kollege Heil, bis 1998 gab es
einen ständigen Zuwachs an Neugründungen. Sie können
die entsprechenden Zahlen des Instituts für Mittelstandsforschung ebenso wie die Zahlen des Stifterverbandes
nachschlagen. Seit 1998 ist die Zahl der Neugründungen
rückläufig. Die Zahl der Konkurse steigt. Es werden neue
Rekordzahlen erreicht.
Wir wissen, dass die Großwetterlage schwierig ist. Die
Frage ist aber, wo die Bundesregierung etwas machen
kann. Ich bin es leid, über Aktienoptionen zu diskutieren.
Die Leitung des Wirtschaftsministeriums hat sich immer
wieder mit Leidenschaft dafür ausgesprochen; im Ergebnis geschah aber nichts.
In der letzten Debatte hat uns ein Kollege gefragt, wie
wir die Steuerausfälle bezahlen wollen. Das ist eine sehr
einfache Sache: Steuerausfälle, resultierend aus den Aktienoptionen von mittelständischen und kleinen Unternehmen, sind nie eingetreten, weil die Kurse gefallen sind.
Sie sind auch nie in den Haushalt eingestellt worden, weil
niemand damit gerechnet hat. Aber die Chance, dass sich
jemand an diesen Unternehmen beteiligt, wenn die Aktien
niedrig stehen, sollte man nicht dadurch verschenken,
dass wir unsere Leute schlechter stellen als diejenigen in
anderen Ländern.
Frau Wolf, die heute nicht bei uns sein kann, hat uns gesagt, dass die Besteuerung der Fondsanteile kein Problem sei. In der Debatte hörten wir, dass dieses Problem
in Kürze gelöst werde. Seit einem Jahr ist eine Debatte
über die Besteuerung der Fondsanteile im Gange. Die
Fonds stagnieren, weil die Verantwortlichen nicht wissen,
unter welchen Bedingungen sie arbeiten werden. Dies alles geschieht in einer Zeit, in der viele neu gegründete Unternehmen frisches Geld brauchen, welches ihnen der Kapitalmarkt nicht zur Verfügung stellt.
Über ihren erfolgreichen Feldzug gegen die Businessangel will ich nicht sprechen. Ein Businessangel wird sich
für sein Unternehmen nur einsetzen, wenn er nicht maximal nur 1 Prozent erhält. Eine maximale Beteiligung ist
die Motivation des Businessangels. Wenn Sie aber die
Wesentlichkeitsgrenze auf 10 Prozent anheben, dann gefährden Sie eine gerade entstehende Kultur.
Mein Kollege und Freund Norbert Schindler wird zum
Thema Deregulierung einiges sagen. Es gibt nur wenige
Punkte, an denen Sie ansetzen können. Ich habe gehört,
dass es im Rechtsausschuss gestern zu einem Streit über
das Thema Basel II kam. Es sei darüber diskutiert worden,
ob das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen nicht
eine striktere, restriktivere Richtlinie einführen solle, als
sie im Rahmen der Verhandlungen über Basel II gefordert
werden. Die Bundesregierung und die Koalition lehne es
ab, darüber Bericht zu erstatten. Liebe Kollegen aus dem
Wirtschaftsausschuss, bei Basel II waren wir uns immer
einig und so wollen wir das auch weiterhin halten.
Wir sind
gleich am Ende dieser Diskussion.
Ich bitte Sie
um Nachsicht. Auf die Mahnung des hochverehrten Präsidenten hin - lieber Rudolf, vielen Dank - werde ich jetzt
den berühmten Schlusssatz sprechen.
Für eine Wahlperiode hält der Mittelstand eine solche
Situation aus; der Mittelstand hat auch schwierige Zeiten
überlebt. Wir werden jetzt aber eine neue Wahl haben. Der
Mittelstand in Deutschland hat die glänzende Aussicht,
dass er dann Bedingungen haben wird, wie er sie schon
jetzt bei Edmund Stoiber in Bayern hat und wie er sie in
Baden-Württemberg bei Lothar Späth gehabt hat und jetzt
bei Erwin Teufel hat.
({0})
Die prächtige Situation, die der Mittelstand dort schon
kennen gelernt hat, werden wir dann überall haben. Wir
alle sehen dieser Zukunft fröhlich entgegen. Wir hoffen
nur, dass Sie uns einen geordneten Haushalt übergeben.
({1})
Das ist unser Antrag. Wenn Sie dem zustimmen, dann haben Sie einen kraftvollen Schritt in eine gemeinsame erfolgreiche Zukunft für unseren Mittelstand getan.
({2})
Nun gebe
ich das Wort der Kollegin Birgit Roth. Sie spricht für die
Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Mit Ihrem Antrag „Förderung
der Innovation im Mittelstand“, meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, steht es eigentlich wie mit Ihrem Kanzlerkandidaten: Der ist schon
ziemlich überholt.
({0})
- Oh nein, der ist schon sehr überholt. - Ihre Kernforderung lautet ja: Erhöhung der Haushaltsmittel für die Innovation. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Opposition, ich darf Sie einmal ganz sacht auf den Haushalt 2002 verweisen; denn dieser ist bereits Realität. Das,
was Sie gefordert haben bzw. noch mehr, ist in diesem
Haushalt enthalten. Im Einzelplan 09 dieses Haushaltes,
also im Bereich Forschung, Entwicklung und Innovation
für den Mittelstand, haben wir die Gelder von 2001 auf
2002 sogar um 14 Prozent gesteigert. Das sind Dinge, die
Sie immer sehr schnell und auch sehr gerne vergessen,
Herr Riesenhuber. Im Gegensatz zum Haushaltsansatz von
1998 haben wir die Mittelstandsförderung sogar um insgesamt 26 Prozent gesteigert. Darauf sind wir auch stolz.
({1})
Sie haben vorhin erwähnt, die Betriebe hätten sich von
uns abgewendet. Sie haben dann zwei Beispiele genannt,
und zwar das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit - das
ist das Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit - und
die 630-Mark-Jobs. Ich muss Ihnen ganz klar sagen: Das,
was ich im Mittelstand nicht möchte, sind 630-Mark-Jobs
ohne jegliche Sozialversicherungspflicht. Ich glaube, das,
was der Mittelstand braucht, ist eine Qualitätsoffensive.
Er braucht keine Nebenbei-Jobs.
({2})
In Ihrem Antrag fragen Sie auch nach der strategischen Konzeption bei unserer Mittelstandsförderung.
Hier möchte ich darauf verweisen - es wundert mich, dass
Sie es noch nicht wissen -, dass wir bereits Anfang 2000
unser Konzept „Technologiepolitik - Wege zu Wachstum
und Beschäftigung“ vorgestellt haben, das vor allem am
Bedarf des Mittelstandes ausgerichtet ist. Wir sagen eben:
Wenn wir fördern, dann gerade bei Technologieunternehmen. Wir haben Forschungskooperationen ins Leben gerufen - denken Sie nur an Pro Inno. Wir haben innovative
Netzwerke ins Leben gerufen - auch hier ein Beispiel:
Inno-Net.
Des Weiteren möchte ich Ihnen sagen: Es gibt eine Untersuchung „Entrepreneurship“, und zwar unter 29 Industrienationen. In punkto Fördermittel für den Mittelstand
steht Deutschland ganz klar an Nummer 1. Das ist unsere
Mittelstandspolitik, die wir auch weiterhin verfolgen werden.
({3})
Frau Kollegin Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Riesenhuber?
Nein, ich glaube, er muss
noch ein bisschen warten.
Hinzu kommt auch das ERP-Sondervermögen. Darf
ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir mittlerweile
5,2 Milliarden Euro für zinsgünstige Kredite für die
KMUs, für den Mittelstand zur Verfügung stellen? Darf
ich Sie darauf hinweisen, dass wir durch die beiden
großen Banken des Bundes, KfW und DtA, weitere 9 Milliarden Euro - für zinsgünstige Kredite an unseren Mittelstand zur Verfügung stellen.
({0})
Im Februar 2002 haben wir sogar den Förderwettbewerb „Netzwerkmanagement-Ost“, NEMO, ausgeschrieben. Wenn ich Sie hier zitieren darf, meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Selbst Sie
haben gesagt, dass das ein sehr sinnvoller Ansatz ist.
Dafür möchte ich Ihnen danken. Auf der anderen Seite
müssen Sie aber auch einmal sehen, was wir geleistet haben und was wir von Ihnen übernommen haben, was wir
trotz der Schulden, trotz der Staatsverschuldung, die Sie
uns mit auf den Weg gegeben haben, geschafft haben.
({1})
Was haben wir nicht alles nach 16 Jahren konservativer Politik übernommen,
({2})
angefangen bei der höchsten Arbeitslosigkeit seit 1945.
Ich möchte Ihnen hier ganz klar sagen: Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit hat 1998 bei 4,4 Millionen Arbeitslosen gelegen. - Was haben wir noch übernommen? Unter anderem eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit und die
höchste Steuer- und Abgabenbelastung für die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik.
Aber Ihr Kanzlerkandidat spricht von der Abschaffung
der Ökosteuer.
({3})
Nebenbei bemerkt: Kostenpunkt 13 Milliarden Euro jährlich. Danach reflektiert er erst einmal, was er da gesagt
hat. Dann zieht er seinen Vorschlag zurück und spricht davon, dass er vielleicht nur die fünfte Stufe der Ökosteuer
abschaffen will. Mit Verlaub, darüber sollte er sich vor einer solchen Aussage informieren. Auch hier ist der Kostenpunkt 2,4 Milliarden Euro.
Eine nächste Forderung von Ihrer Seite ist die Senkung
der Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent. Dies ist sicherlich eine Forderung, die wir alle unterstützen und unterschreiben können; das ist überhaupt keine Frage.
({4})
Aber auf Ihre solide Gegenfinanzierung, auf Ihr Konzept
warte ich noch heute. Das heißt, das, was Sie da tun, ist
nichts anderes als die Fortführung der Schuldenpolitik der
alten Regierung. Genau das werden wir entsprechend verdeutlichen.
({5})
Ich möchte kurz auf die Lohnnebenkosten zurückkommen. Heute Morgen haben wir eine Debatte über Nachhaltigkeit geführt. In diesem Zusammenhang wurde des
Öfteren die Ökosteuer angesprochen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch einmal die andere Seite der
Medaille erwähnen würden. Was passiert denn mit den
Geldern aus der Erhebung der Ökosteuer? Wir können ja
über die Verwendung streiten; das ist keine Frage. Aber
was machen wir denn mit diesen Geldern? Die fließen
doch direkt in das soziale System,
({6})
sodass wir es geschafft haben, die Rentenversicherungsbeiträge zu stabilisieren.
({7})
Wir hätten ohne die Ökosteuer und ohne die Rentenreform einen Rentenversicherungsbeitrag von mehr als
22 Prozent. Wir haben es geschafft, ihn auf 19,1 Prozent
abzusenken. Auch das ist eine Förderung des Mittelstandes.
({8})
Wir haben andere Wege beschritten, zum Beispiel indem wir an unseren Universitäten 42 neue Lehrstühle im
Bereich der Existenzgründungen geschaffen haben. Wir
haben das Meister-BAföG erhöht, und zwar so, dass jetzt
eine größere Personengruppe einen Nutzen davon hat.
Seit 1998 sind 62 Ausbildungsplatzverordnungen modernisiert worden. Es gibt inzwischen 21 bzw. 22 neue Ausbildungsberufe in den Bereichen der IT- bzw. der Dienstleistungsbranche. Genau da wollen wir hin. Auch das ist
aus unserer Sicht eine Mittelstandsförderung, zumal Sie
genau wissen, dass wir unter anderem eine Zukunftsmilliarde in den Haushalt von Bildung und Forschung sowie
Wirtschaft eingestellt haben. Dies betrifft gerade innovative Projekte, unter anderem das 100 000-Dächer-Programm. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie viele
Arbeitsplätze durch das 100 000-Dächer-Programm gerade in diesem innovativen Umweltbereich geschaffen
worden sind.
({9})
Mittlerweile haben wir flächendeckend in der Bundesrepublik 24 Kompetenzzentren für den IT-Bedarf, den
E-Commerce, eingerichtet. Herr Schindler, wir sind ja
beide aus der Pfalz: Wir haben zum Beispiel auch das
KET, das Kompetenzzentrum E-Business - Touristik, an
der FH Worms finanziert. Hier haben sich die Wirtschaft
- sprich: der DRV - und das Bundeswirtschaftsministerium zu einer Förderung der IT-Branche im Tourismusbereich zusammengeschlossen.
An dieser Stelle möchte ich dem Wirtschaftsminister
ganz herzlich für seine Aktionen danken, die er im Mittelstandsbereich, aber auch im Tourismusbereich durchgeführt hat.
({10})
Denn der Tourismus hat bei uns mittlerweile einen Anteil
von circa 8 Prozent am Bruttosozialprodukt. Es ist der
Tourismus, der inzwischen 2,8 bis 2,9 Millionen Arbeitsplätze stellt. Ich habe vorhin mit meinem Kollegen Klaus
Wiesehügel gesprochen: Der Tourismus bietet mittlerweile mehr Arbeitsplätze als das gesamte Bauhauptgewerbe. Dementsprechend haben wir in den letzten dreieinhalb Jahren natürlich gerade an dieser Stelle viel getan.
({11})
Denken Sie nur an das Tourismusförderprogramm, an die
Hilfen für den Campingtourismus und den ländlichen
Raum!
({12})
Lassen Sie mich ganz kurz einige allgemeine wirtschaftspolitische Aussagen treffen. Die Konjunktur in
den USA, in den anderen europäischen Staaten, aber auch
hier bei uns in der Bundesrepublik zieht an. Wir werden
durch die Außenwirtschaft sicherlich noch einige positive
Impulse erhalten. Die Inflation hält sich in Grenzen. Wir
haben im Frühjahr dieses Jahres - lassen Sie es mich so
konkret formulieren - keine konjunkturpolitisch kopflosen und vor allem auch populistischen Schnellschüsse gemacht.
({13})
Sie haben irgendwelche Konjunkturprogramme gefordert, die - mit Verlaub - sowieso nur im Wind verpufft
wären.
({14})
Nein, ganz im Gegenteil: Wir haben am Kurs der Haushaltskonsolidierung festgehalten. Genauso werden wir
weitermachen. Das hilft auch dem Mittelstand.
({15})
Der Bund muss ja immer noch jede vierte D-Mark bzw.
jeden zweiten Euro - Entschuldigung, ich denke immer
noch in D-Mark - für Zinsen ausgeben. Dieses Geld fehlt
uns im Bereich der Bildung, der Forschung, vor allem
aber auch für Zukunftsinvestitionen. Meine sehr verehrten Damen und Herren vonseiten der Opposition, der Ansatz für Zukunftsinvestitionen, den wir von Ihnen übernommen haben, zeugt davon, dass Sie diese sträflich
vernachlässigt haben. Denken Sie nur an die PISA-Studie! Diese Versäumnisse sind ja wohl nicht ein Ergebnis
der Politik der letzten zwei bis drei Jahre; ganz im Gegenteil: Die Fehler dafür sind in den letzten 15 Jahren zu
suchen.
({16})
Genau deswegen werden wir auch weiterhin an der Politik der Haushaltskonsolidierung festhalten.
Wir haben die Neuverschuldung des Bundes mittlerweile um 6 Milliarden Euro gedrückt, denn Sparen heißt
für uns ganz einfach auch, Spielräume für Zukunftsinvestitionen zu schaffen. Wir halten es nämlich für verantwortungslos, der nächsten Generation einen so großen
Schuldenberg zu hinterlassen. Auch das, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ist für uns
ein Beitrag zu einer nachhaltigen Mittelstandspolitik.
({17})
Noch kurz ein Wort zur Steuerreform: Wir gehen von
einer Gesamtentlastung von circa 35 Milliarden Euro aus,
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für Familien,
aber auch für die Wirtschaft. Am meisten empört mich dabei der Vorwurf von Ihrer Seite, dass wir die Personengesellschaften nicht entsprechend entlastet hätten.
({18})
Darf ich Sie darauf hinweisen, dass 50 Prozent der Personengesellschaften gerade einmal einen Verdienst von
50 000 DM, sprich 25 000 Euro, und sogar 75 Prozent der
Personengesellschaften einen Verdienst von ungefähr
100 000 DM oder 50 000 Euro haben? Genau diese Gruppierung wird durch die Steuerreform entlastet.
({19})
Wir haben nämlich als Erstes den Eingangssteuersatz
von 25,9 Prozent auf mittlerweile 19,9 Prozent gesenkt
und werden ihn weiter auf 15 Prozent senken. Wir haben
den Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf momentan
48,5 Prozent gesenkt
({20})
und gehen noch weiter herunter auf 42 Prozent. Genau das
hilft dem Mittelstand.
({21})
Angesichts der Forderung Ihres Kanzlerkandidaten, die
dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen - Kostenpunkt:
20 Milliarden Euro pro Jahr -, kann ich einfach nur nachfragen, meine sehr verehrten Damen und Herren vonseiten der Opposition: Wo, bitte schön, ist Ihre solide Gegenfinanzierung?
Ich habe zum Schluss einfach nur eine große Bitte an
Sie, im Namen aller Deutschen,
({22})
Birgit Roth ({23})
im Namen aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, im
Namen aller Familien und im Namen aller Betriebe:
({24})
Hören Sie endlich auf, den Standort Deutschland schlecht
zu reden, und hören Sie endlich auf, sich auf Kosten der
Wirtschaft zu profilieren!
Vielen Dank.
({25})
Ich mache
Ihnen ein Kompliment, Frau Kollegin Roth: Sie haben so
intensiv gesprochen, dass sich das Plenum des Hauses
wirklich in erfreulicher Weise wieder gefüllt hat.
({0})
Deswegen durften Sie Ihre Redezeit ja auch um zwei Minuten überziehen.
({1})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Gudrun Kopp für die
Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es
mag ja sein, dass Sie aufgrund der Tatsache, dass die Regierungsbank fast vollständig verwaist ist
({0})
- fast vollständig, jedenfalls was die Wirtschaftspolitik
betrifft -, einen Herbeizitierungsantrag befürchten. Sie
möchten aber sicher lieber bald in den Biergarten, statt
sich mit Wirtschaftspolitik zu beschäftigen.
({1})
Meine Herren und Damen, ich wüsste gerne einmal,
wer von Ihnen hier im Raum tatsächlich aus der mittelständischen Wirtschaft kommt bzw. den Alltag in einem
mittelständischen Betrieb gesehen, geschweige denn, ihn
geführt hat oder in irgendeiner Weise die Innensicht
kennt.
({2})
In den vier Jahren Ihrer Regierungszeit, die nun vorübergeht, hätten sich die Mittelständler - aus dem Bereich, aus
der Praxis, komme ich nämlich - gewünscht, dass RotGrün auch nur eine Hand gerührt hätte.
({3})
Ich glaube, ohne Ihr politisches Zutun würde es dem Mittelstand heute erheblich besser gehen.
({4})
Liebe Frau Kollegin Roth, ich schätze Sie persönlich
sehr. Aber wenn Sie hier ein Bild malen nach dem Motto
„Alles ist prima, alles ist herrlich; nur die dummen Mittelständler merken das gar nicht“, dann ist das wirklich ein
Affront gegen den Mittelstand.
({5})
Dann muss ich mich aufregen, weil ich es aus der Praxis
besser weiß.
Das Einzige, was uns in dieser verfahrenen Situation
hilft - um den Mittelstand steht es ganz schlecht, gerade
um die kleinen mittelständischen Unternehmen -, ist eine
spürbare Steuer- und Lohnnebenkostensenkung. Das
erfordert Reformen, Mut zu Veränderungen und natürlich
auch einen Bürokratieabbau.
Von den 3,3 Millionen mittelständischen Unternehmen
sind 60 Prozent kleine Betriebe, die nur bis zu zehn Beschäftigte haben. Eine erheblich größere Zahl hat bis zu
20 Beschäftigte. Diese kleinen Unternehmen tun sich
furchtbar schwer - Herr Professor Riesenhuber, ich
denke, da stimmen Sie mir zu -, wenn es darum geht, Förderprogramme überhaupt in Anspruch zu nehmen, Fördermittel zu beantragen, durch den Förderwust hindurchzufinden, den Riesenwust an Formularen auszufüllen.
({6})
Dafür haben die Mittelständler in der Regel überhaupt
keine Zeit. Sie müssen sich um die wenigen Mitarbeiter,
die sie haben, und um jeden Auftrag, den sie brauchen, um
am Markt überhaupt noch bestehen zu können, sorgen.
({7})
Frau Roth, Sie und Ihre Kollegen und Kolleginnen hätten eine gute Tat vollbringen können, indem Sie die staatlichen Bürokratielasten abgebaut hätten, die Sie Firmen
aufbürden, zum Beispiel das Erstellen von Statistiken und
Pflichten im Bereich des Steuerrechts.
({8})
30 Milliarden DM macht das aus. Diese Riesenbelastung
schultern zu 96 Prozent die kleinen und mittelgroßen Unternehmen.
Heute stehen Firmen wirklich am Abgrund, weil es ihnen an Eigenkapital fehlt und sie auf langfristige Kredite
angewiesen sind. Sie könnten sich wenigstens darum
kümmern, hier Entlastungen zu schaffen, zum Beispiel indem Sie Steueranreize bieten, damit diese Firmen überhaupt in der Lage sind, sich in Zukunft mehr Eigenkapital zu verschaffen, und hier eine Tür zu einer besseren Zeit
öffnen.
Im Augenblick haben wir das komplette Chaos bei
sämtlichen Anmeldeformularen und bei Förderprogrammen, die meist den großen und nicht den kleinen Firmen
zur Verfügung stehen. Wissen Sie eigentlich - bei dieser
Frage sehe ich noch einmal insbesondere zu den Sozialdemokraten hinüber -, dass unsere Problembranchen,
Birgit Roth ({9})
nämlich die Baubranche und die Holz verarbeitende
Branche, derzeit über eine Eigenkapitalquote von gerade
einmal 2 bis 5 Prozent verfügen?
({10})
Das ist mit einer Bankrotterklärung gleichzusetzen. Das
ist gar nichts. Da weht überhaupt kein Wind mehr. Die
sind eigentlich fertig.
Ich wünschte mir, dass Sie sich erheblich ins Zeug legen und sagen: Wir verabschieden endlich eine Steuerreform für den Mittelstand, die sich sehen lassen kann.
Wir gehen heran an die nötigen Reformen. Wir setzen uns
zudem auf der EU-Ebene dafür ein, dass Mittelständler in
Zukunft überhaupt noch Kredite erhalten. Denn es ist eine
Frage, zu welchen Konditionen sie Kredite bekommen;
eine andere Frage ist, ob sie überhaupt Kredite bekommen.
Wir müssen zum Thema Basel II Verbesserungen
durchsetzen, zum Beispiel was die Maluspunkte betrifft,
die für langfristige Kredite vergeben werden, und was die
Frage betrifft, wie künftig eine Unternehmeridee bewertet wird. Was ist eine Unternehmeridee überhaupt wert?
Wie bewerten wir Risiko? Was ist ein Risiko innerhalb einer Firma? Wie finanzieren wir künftig Existenzgründer?
Das ist überhaupt nicht geklärt.
({11})
Sie haben im Rahmen von Basel II Riesenprobleme. Hier
voranzukommen und ein Konzept auf den Weg zu bringen, möglichst noch geschlossen in diesem Haus, sehe ich
als eine der ganz großen Aufgaben.
({12})
- Ja, auch wir arbeiten daran. Ich weiß allerdings, lieber
Herr Kollege Heil, dass die Mittelständler im Augenblick
überhaupt keine Hoffnung mehr auf irgendwelche Veränderungen vor der Bundestagswahl haben.
({13})
Sie wissen, sie müssen sich irgendwie über die Runden
bringen, sie müssen versuchen, dieses tiefe Tal, das sie vor
sich haben, zu durchschreiten, und das, obwohl der Mittelstand derjenige ist, der die meisten Ausbildungs- und
Arbeitsplätze bietet.
({14})
Genau diese Kuh wird gemolken.
({15})
Auf diese wichtige Wirtschaftssäule schlagen Sie ein und
sind überhaupt nicht bereit, das zu tun, was für die Zukunft gemacht werden muss.
Ich sage Ihnen, für die FDP ist völlig klar ({16})
- natürlich, 18 Prozent -: Wir sind der Hoffnungsträger
für den Mittelstand. Wir hoffen, dass wir das ab dem
22. September unter Beweis stellen können.
({17})
Dann dürfen Sie sich zurücklehnen und von uns lernen.
Herzlichen Dank.
({18})
Der Kollege
Rolf Kutzmutz von der PDS gibt seine Rede zu Protokoll.
Die Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Margareta
Wolf gibt ihre Rede zu Protokoll. 1)
Der Kollege Norbert Schindler von der CDU/CSUFraktion gibt seine Rede nicht zu Protokoll und steigert
damit natürlich unsere Erwartungen. Ich gebe ihm das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte seine Rede
eigentlich zu Protokoll geben, aber es muss unter anderem
darauf geantwortet werden, was die Kollegin Roth an
Behauptungen aufgestellt hat. Mittelstandspolitik und die
Steuerreform und ihre Auswirkungen sind die brennenden
Themen in diesen Tagen in unserer Republik. Liebe Kollegen von der Regierungspartei, ich gratuliere zum ideologischen Bruch bei der Steuerreform. Das muss man Ihnen zugestehen. Dass Sie trotz der Neiddiskussion
versuchen, den jetzt gültigen Spitzensteuersatz von
52 Prozent auf 42 Prozent zu senken, erkenne ich an.
({0})
Dass man aber das Pferd von hinten aufzäumt, dass
man große Betriebe, Konzerne, Weltunternehmen und
Banker zuerst entlastet und mittelständische Betriebe erst
2005 in die Entlastung bringt - das gilt für alle
Mittelständler, das ist unbestritten -, ist doch die Misere
der Auswirkungen der Steuerreform, die Sie so hochgelobt im Jahre 2000 verkündet haben. Welche Ergebnisse
haben wir? Es gibt leider Gottes mehr als 4 Millionen Arbeitslose.
Sie haben vorhin in der Rede gelobt, zinsgünstige Kredite für den Mittelstand auszugeben. Ist das etwas Neues?
Das haben doch alle Länder- und Bundesregierungen in
der Vergangenheit genauso praktiziert.
Dann reden Sie über die Schulden, die wir Ihnen hinterlassen haben.
({1})
Ich bin auf die Schulden der deutschen Einheit stolz.
Leute, das kann man gar nicht oft genug wiederholen.
({2})
1) Anlage 7
Ich darf das gern noch einmal vorrechnen: 400 Milliarden DM Auslandsschulden der DDR, 400 Milliarden DM
Inlandsschulden der DDR und 1 100 Milliarden DM Transferleistungen sind die Bilanz, das sind rund 2 000 Milliarden DM. Was haben Sie in drei Jahren erreicht? Sie haben
noch 200, 300 Milliarden DM draufgesetzt. Sie rechnen
uns die Schulden, die wir uns in der Aufbauarbeit der ersten zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung
({3})
mit Recht geleistet haben, vor. Sie wollten alles besser
machen. Die Schulden sind in drei Jahren um insgesamt
15 Prozent angewachsen.
Sie sprechen von der Umlenkung der Ökosteuer und
machen dem Volk dabei etwas vor. Sagen Sie doch gleich,
dass das eine Rentenfinanzierungsteuer ist. Wo findet
denn die Umweltkomponente statt? Dass wir mit der
Staatsquote wieder an 50 Prozent herangekommen sind,
spricht doch Bände.
Sie und natürlich auch wir hoffen, dass der Aufschwung aus den USA kommend auch auf Westeuropa,
auf Deutschland übergreift. Aber, liebe Freunde von der
Regierung, ich muss euch enttäuschen, denn so wie RotGrün Verkrustungen in den Arbeitsgesetzen festgeschrieben hat, wird das nicht eintreten. Das besagen alle
Voraussagen, die nach einer nüchternen Analyse der Zahlen erstellt wurden.
Hier wird auch von der PISA-Studie berichtet. Ich bin
gespannt darauf, ob Sie den Mut haben, im Sommer die
PISA-Studie aufgeteilt nach Bundesländern vorzustellen,
und darauf, welche Ergebnisse der lange Zeit von Rot und
Rot-Grün geführten Regierungen Sie der deutschen Öffentlichkeit präsentiert werden. Ich würde Ihnen für den
Mut, den Sie dabei aufbringen müssten, gratulieren.
Es wurden sehr viele Maßnahmen versprochen, zum
Beispiel die Reform der Arbeitsverwaltung und die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Allein bezogen auf die
630-Mark-Jobs wurde damals einiges beschlossen.
({4})
Stolz hat man verkündet, dass eine Millionen neue
Arbeitsplätze geschaffen wurden. Es gab über 3 Millionen
630-Mark-Jobs. Wo sind denn die anderen 2 Millionen
geblieben?
({5})
Bei der Verkrustung, die es derzeit gibt, ist die Gefahr
der latenten Schwarzarbeit immer mehr gegeben.
({6})
Im Tourismus wird bitter beklagt - Frau Roth, Sie haben
darauf hingewiesen -, man bekomme kaum noch gute
Leute, zum Beispiel rüstige Rentner - dabei ist es egal,
aus welchen Berufen sie kommen -, die nicht mehr Mitglied im Verein Finanzamt werden wollen. Über die Pauschalregeln haben wir 1997 und 1998 diskutiert. Alle
wussten, dass etwas passieren musste.
Der Wust, der jetzt vorgelegt wurde, und das, was für
den Arbeiternehmer tatsächlich unter dem Strich bleibt,
war nicht die Vernunftsantwort, um den Arbeitsmarkt auf
die Reihe zu bringen.
({7})
Sie wissen doch selbst, welche ideologischen Fehler dabei gemacht wurden.
({8})
Der Gesetzentwurf von uns heißt „Deregulierung in
der Landwirtschaft“; das darf man ja nicht vergessen. Wir
machen nur bescheidene Vorschläge. Zum Beispiel schlagen wir vor, die Buchführungs- und Wertgrenzen für
die einzelnen Betriebe - insbesondere für die kleinen bäuerlichen Betriebe - leicht bzw. mittelmäßig zu erhöhen.
Die Steuerreferenten der Länder empfehlen dies auch.
Trotzdem werden nach der Einnahme-Überschuss-Rechnung wieder Bedenken vorgebracht. Hier hätten Sie, genauso wie bei der Diskussion im Rahmen der Anhörung
vorgestern im Finanzausschuss, den Mut aufbringen können - das begrüße ich ausdrücklich -, zu sagen, dass bei
der Bioenergie schnell noch etwas auf den Weg gebracht
werden muss.
({9})
Sie reden von Deregulierung. Deshalb hätten Sie mit
kleinen Maßnahmen auch bei unserer Gesetzesvorlage ein
Zeichen setzen können.
({10})
Folgende Deregulierung brauchen wir zum Beispiel - reden wir nicht so plakativ daher -: eine 50-Tage-Regelung
für die Studenten und Arbeitswilligen in dieser Republik.
Das wäre eine Antwort gewesen, mit der das Gesetzeswerk hätte reformiert werden können. Ich lobe hier die
Mitarbeit von Doris Barnett, die uns in ihrer Eigenschaft
mit konkreten Vorstellungen gerne helfen wollte. Die derzeitige Verstarrung führt zu 4 Millionen Arbeitslosen.
({11})
Liebe Freunde von der Regierung, bei Ihnen gibt es
eine wahre Regulierungswut. Ich nenne das Bundesnaturschutzgesetz, die Düngeauflagen von Künast und
Eingriffe, die natürlich zum Teil auch EU-bedingt sind.
Man wollte einiges besser machen. Der jetzige Zustand ist
aber bezeichnend für unsere Lage.
({12})
Frau Roth, auch wenn Sie an Deutschland, an uns und
alle Bürgerinnen und Bürger appellieren: Man muss darüber reden. Wir reden den Standort Deutschland nicht
schlecht.
({13})
Er ist schlecht. Das sind die nackten Tatsachen, die man
auch von der OECD in Paris hört.
({14})
Wir sind Europameister - von hinten - und liegen in der
wirtschaftlichen Entwicklung und bei allen wichtigen
Zahlen uneinholbar auf dem letzten Platz. Das ist nach
drei Jahren Rot-Grün Stand der Dinge.
({15})
Liebe Freunde, meine Damen und Herren, das hat
Deutschland nicht verdient. Wir alle rechnen am 22. September ab.
({16})
Verlassen Sie sich darauf. Die Bürgerinnen und Bürger
sind klüger, als Sie glauben. Es wird Zeit, dass in der Regierungsarbeit wieder Verantwortung, Vernunft und Mut
für die Zukunft Platz greifen.
({17})
Nun spricht
der Kollege Hubertus Heil für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe mit Freuden, dass der amtierende Präsident
aus Niedersachsen stammt. Auch ich komme da her. Bei
uns in Norddeutschland erzählt man sich immer die Geschichte vom Hasen und vom Igel. Ich weiß nicht, ob Sie
sie auch in der Pfalz kennen. Ich nehme es einmal an.
Zu Ihrem vorgelegten Antrag haben Sie keinen Satz gesagt. Das ist wieder einmal bezeichnend.
({0})
Ich habe sehr gut zugehört, aber Sie haben nichts dazu gesagt. In Ihrem Antrag fordern Sie etwas - die Kollegin
Roth hat schon darauf hingewiesen, auch ich will es Ihnen
ins Stammbuch schreiben -, was wir nicht nur längst erfüllt, sondern weit überboten haben, nämlich die Aufstockung der Mittel im Bereich Innovation.
({1})
- Entschuldigen Sie bitte. Wenn das hier nicht das Parlament wäre und eine gewisse Würde zu achten wäre, würde
ich sagen, dass Sie ungetrübt von jeder Sachkenntnis Mist
und Blödsinn verzapfen.
({2})
Der Kollege Riesenhuber hat sich zumindest bemüht, sich
zum Thema Innovation und Mittelstand zu äußern. Sie
verbreiten sich in allgemeinen Floskeln, die nichts mit der
Situation in diesem Land zu tun haben. Ich will mich, weil
es so spät ist, gerne auf Ihr Niveau herablassen.
({3})
- Na gut, dann lassen wir das. Dann machen wir es kürzer.
({4})
Bleiben Sie
so vornehm, wie die Niedersachsen immer sind.
({0})
Gut, dann bleiben wir auf niedersächsischem Niveau. Schließlich kommt auch der
Kanzler aus Niedersachsen.
({0})
- Bleiben wir also niedersächsisch gelassen, Herr Kollege. Ich sage Ihnen einfach einmal der Reihe nach die
Fakten. Sie versuchen immer wieder, dieses Land krankenhausreif zu reden und sich dann als Notarzt anzubieten. Das werden die Menschen nicht mitmachen. Herr
Schindler, ich will Ihnen ein paar Sachen nennen, die etwas mit der Innovationskraft und auch mit dem Mittelstand dieses Landes zu tun haben.
Deutschland ist bei den Patentanmeldungen noch vor
den USA auf Platz 2 der führenden Industrienationen in
der Welt. Deutschland ist im Bereich der Biotechnologie
Spitze. Deutschland ist in Europa im Bereich des E-Commerce mit einem Umsatz von 20 Milliarden Euro im Jahr
Spitze. Deutschland ist im Bereich der Automobilindustrie und - das möchte ich besonders betonen, weil es mit
dem Mittelstand zu tun hat - der Zuliefererbetriebe hoch
innovativ. All das wollen Sie kleinreden und aus blödsinnigen wahlkampftechnischen Überlegungen schlecht machen? Das wird Ihnen nicht gelingen, Herr Kollege.
({1})
Ich sage Ihnen: Diese Spitzenposition hat auch etwas
mit der Politik der letzten drei Jahre zu tun. Das ist ganz
einfach an einer Zahl abzumessen. Wie kann der Standort
Deutschland, den Sie hier so kleinreden, schlecht sein,
wenn sich die Zahl der Direktinvestitionen in den letzten
drei Jahren verzehnfacht hat?
({2})
Das hat etwas mit der Steuerreform, die wir gegen Ihren
heftigen Widerstand gemacht haben, zu tun.
({3})
Die Rahmenbedingungen, unter anderem durch die
Steuerreform, aber auch durch neue Akzente in der Bildungs-, Wirtschafts-, Technologiepolitik und -förderung
verbessert, sind die eigentliche Ursache dafür, dass wir
uns heute sehen lassen können. Daran werden Sie nichts
ändern können.
Die kleinen und mittelständischen Unternehmen in
Deutschland sind nach wie vor innovationsstark und der
Motor von Innovationen in diesem Land. Das liegt nicht
zuletzt daran, dass es Dinge gibt, die Sie vielleicht als weiche Standortfaktoren bezeichnen würden, nämlich die
Qualifikation und der Erfindungsgeist der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in kleinen und mittelständischen Unternehmen als Tüftler arbeiten und dafür
sorgen, dass in diesem Bereich neue Arbeitsplätze entstehen.
Wir haben tatsächlich eine Situation, in der wir uns darauf besinnen müssen, was den Standort Deutschland einmal groß gemacht hat; denn diese Standortvorteile haben
wir nach wie vor. Ich habe die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schon angesprochen. Ich
möchte einen zweiten nennen, nämlich Wissenschaft
und Forschung. Auch dieser Standortvorteil ist wieder
im Kommen. Die Region Südostniedersachsen - ich darf
das noch einmal betonen, Herr Präsident - ist ein Beispiel
dafür - das können Sie sich anschauen -, wie mit öffentlicher Unterstützung in Forschung und Wissenschaft in
diesem Bereich Effekte für wirtschaftliche Entwicklung
und Arbeitsplätze entstehen.
Eines vergessen Sie von der Opposition so oft. Das erkennt man auch, wenn man sich Ihr Regierungsprogramm
anschaut. Es gibt in diesem Land einen dritten Standortvorteil, nämlich den sozialen Frieden.
({4})
Die Tatsache, dass es in Deutschland gesicherte Verhältnisse und Investitionssicherheit auch für den Mittelstand
gibt, ist ein Standortvorteil. Sie wollen diesen sozialen
Frieden mit Ihrer Politik, für die Sie 1998 abgewählt wurden, aufkündigen. Bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, beim Kündigungsschutz und bei vielen anderen
Dingen erklären Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wiederum den sozialen Krieg. Darüber werden
wir uns einmal unterhalten, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen. Das ist keine Politik für den Mittelstand
({5})
- auch wenn Sie das immer wieder behaupten -, sondern
eine Politik, die einzig und allein darauf ausgerichtet ist,
den sozialen Frieden und den Sozialstaat in diesem Land
zu diskreditieren und abzubauen.
({6})
Das werden wir nicht mitmachen und das werden wir
Ihnen auch nicht durchgehen lassen.
({7})
- Sie können ja über den sozialen Rechtsstaat lachen, Herr
Kollege Fromme.
({8})
Er ist nicht nur im Grundgesetz verankert, sondern er ist
- ich wiederhole - für dieses Land auch ein wichtiger
Standortfaktor und ein wirtschaftlicher Faktor. Das hat
sich auch beispielsweise gestern Nacht bei der Tarifeinigung gezeigt.
Wir leben in einem Land, in dem es Auseinandersetzungen und unterschiedliche Interessen gibt, aber wir haben auch ein politisches System, das es durchaus schafft,
sozialen Ausgleich und die Teilhabe am Haben und am
Sagen zum Wohle aller - der Beschäftigten in diesem
Land wie auch der Unternehmerinnen und Unternehmer miteinander zu vereinbaren.
Keine Frage, wir haben noch viel zu tun. Es bleibt auch
in den nächsten Jahren für den wirtschaftlichen Mittelstand gerade bei der Frage des Zugangs zum Kapitalmarkt eine ganze Menge auf den Weg zu bringen.
Frau Kollegin Kopp, Basel II ist ein gemeinsames
Thema. Das wissen Sie und darin gibt es auch keinen Dissens.
({9})
- Ach Quatsch, Herr Fromme. Ich verliere gleich die Fassung. Es ist eigentlich zu spät dafür. Erzählen Sie nicht so
einen Quatsch. Wir haben zumindest im Wirtschaftsausschuss, dem Sie ja nicht angehören, miteinander über
Basel II diskutiert.
({10})
Wir haben eine Bundesregierung, die in den Verhandlungen eine ganze Menge für den Mittelstand herausgeholt
hat.
({11})
Wir stehen auch vor einer Situation, in der wir sehr
ernsthaft miteinander darüber reden müssen, wie es mit
den Geschäftsbanken in Deutschland und dem Durchreichen bestimmter öffentlicher Programme weitergeht.
Wir wollen beispielsweise keinen Aufbau einer Direktvermarktungsstruktur. Dieses Missverständnis versuchen Sie ja zu erwecken. Falls es aber nicht gelingt, diese
Programme auch über private Geschäftsbanken in diesem
Bereich durchzureichen, müssen wir darüber eine Diskussion führen.
Es geht darum, dass kleine und mittelständische Unternehmen auch zukünftig an Kredite kommen können,
um innovativ zu sein, Arbeitsplätze zu schaffen und wirtschaftlich tätig zu sein. Ich hoffe, dass wir uns dabei nicht
auch noch aus Wahlkampfzwecken einen Dissens leisten
müssen. Es gibt andere Beispiele und Themen, über die
wir uns ordentlich zoffen können; dieses aber sollte ein
gemeinsames Anliegen sein.
Heute Morgen ist über Nachhaltigkeitsstrategien in
diesem Land diskutiert worden. Aufgrund der Debattenbeiträge der Kolleginnen und Kollegen von der Opposition ist die Diskussion dann wieder in eine reine Wahlkampfschlacht ausgeartet. Das fand ich schade, weil
Nachhaltigkeit durchaus nicht nur mit der ökologischen
Entwicklung und dem sozialen Frieden in diesem Land,
sondern auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun
hat. Dafür ist der Mittelstand nach wie vor die treibende
Kraft. 70 Prozent der Arbeitsplätze und 90 Prozent der
Ausbildungsplätze in Deutschland befinden sich in kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Wir haben durch die Senkung des Eingangsteuersatzes,
die Erhöhung des Grundfreibetrags und auch die Senkung
des Spitzensteuersatzes etwas getan, um die steuerlichen
Rahmenbedingungen zu verbessern. Das allein wird
aber nicht ausreichen, um den Mittelstand in Deutschland
weiter zu stärken. Gerade im Bereich Innovation und
Technologieförderung wollen wir den Weg, den wir bereits eingeschlagen haben, fortsetzen.
({12})
Damit machen wir morgen Früh weiter. Für heute wünsche ich Ihnen noch eine schöne Nacht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zum Bürokratieabbau für
kleine und mittelständische Betriebe, Drucksache 14/6633.
Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und der FDP
bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Förderung der Innovation im Mittelstand“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({1}), Gunnar Uldall, Peter Rauen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zu
der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({2}), Gunnar Uldall, Peter Rauen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Zukunft der deutschen Messewirtschaft in der
Globalisierung
- Drucksachen 14/4816, 14/5581, 14/6340,
14/7160 Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Schulz ({3})
Die Kolleginnen und Kollegen, die angemeldet waren,
geben ihre Reden zu Protokoll.1)
Deswegen kommen wir zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie auf Drucksache 14/7160. Der Ausschuss
empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache
14/6340 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Meckel, Monika Heubaum, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD; der Abgeordneten Hans-Dirk Bierling,
Dr. Karl-Heinz Hornhues, Karl Lamers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Rita Grießhaber, Dr. Helmut
Lippelt, Christian Sterzing, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN sowie der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Walter Hirche, Ulrich Irmer,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP
Neue Impulse für die Zusammenarbeit von EU
und Russland bei der Entwicklung der Region
Kaliningrad
- Drucksache 14/9060 -
Alle Redner haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
Wir stimmen jetzt über den Antrag auf Drucksache
14/9060 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zusatzpunkt 18 auf:
16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Lothar
Mark, Wolfgang Behrendt, Hans Büttner ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Kerstin Müller
({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Intensivierung der Beziehungen zwischen der
Europäischen Union, Lateinamerika und der
Karibik
- Drucksache 14/9051 ZP 18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Lothar
Mark, Hans Büttner ({7}), Anke Hartnagel,
1) Anlage 8
2) Anlage 9
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Christa Nickels, Kerstin Müller
({8}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Ab-
geordneten Dr. Helmut Haussmann, Walter
Hirche, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad
- Drucksachen 14/7444, 14/8511 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Mark
Clemens Schwalbe
Dr. Helmut Lippelt
Walter Hirche
Alle Redner haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Tagesordnungspunkt 16: Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9051 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 18: Wir kommen zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP mit dem Titel „Hilfe für die Opfer der
Colonia Dignidad“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/7444 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
Hauses bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zusatzpunkt 19 auf:
17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Adler, Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Welternährungsgipfel - fünf Jahre später
- Drucksachen 14/8031 ZP 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun
({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umsetzung der von Deutschland beim Millenniumgipfel übernommenen Verpflichtungen
- Drucksache 14/9055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Fraktionen haben sich auf eine Debattendauer von
einer halben Stunde verständigt. - Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, gebe ich bekannt,
dass die Kollegen Joachim Günther von der FDP und
Carsten Hübner von der PDS ihre Reden zu Protokoll ge-
geben haben.2)
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Brigitte Adler für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Teilnehmerstaaten des Welternährungsgipfels
von 1996 in Rom hatten sich zum Ziel gesetzt, bis zum
Jahr 2015 die Zahl der Hungernden von damals 800 Millionen auf 400 Millionen Menschen zu reduzieren. Im
globalen Aktionsplan wurden dabei verschiedene Aufgabenschwerpunkte identifiziert, so zum Beispiel die Schaffung des für die Bekämpfung von Armut und Hunger sowie für dauerhaften Frieden notwendigen politischen,
sozialen und wirtschaftlichen Umfeldes, die Umsetzung
einer partizipativen und nachhaltigen Entwicklungspolitik oder die Einbettung einer solchen Politik in eine faire
und marktorientierte Welthandelspolitik.
Die Probleme im Bereich „Ernährungssicherheit und
ländliche Entwicklung“ sind wissenschaftlich hinreichend untersucht und umfassend dokumentiert worden. In
zahlreichen internationalen Erklärungen und Aktionsprogrammen wurden die Ziele eindeutig formuliert und
Lösungswege aufgezeigt. Nach Angaben der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen, FAO,
sind die technischen, institutionellen und finanziellen
Möglichkeiten, den Kampf gegen den Hunger zu gewinnen, grundsätzlich vorhanden. Erforderlich ist die Setzung politischer Prioritäten zugunsten von Maßnahmen
zur Bekämpfung des Hungers sowie zur Entwicklung der
Landwirtschaft und der ländlichen Räume.
Ziel aller Bemühungen ist es, wie es der Träger des
Welternährungspreises, Per Pinstrup-Andersen, formuliert, eine
Welt, in der jeder Mensch Zugang zu ausreichender
Nahrung hat, um ein gesundes und lebenswertes
Leben zu führen,
({0})
eine Welt, in der es keine Unterernährung gibt und
Nahrungsmittel aus leistungsfähigen und kostengüns-
tigen Nahrungsketten stammen, die mit einer nach-
haltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen verein-
bar sind.
Das Aktionsprogramm 2015 der Bundesregierung un-
terstreicht im Hinblick auf diese Ziele die große Bedeu-
tung des Rechts auf Nahrung im Kontext der wirtschaft-
lichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlage 10 2) Anlage 11
Gerade jetzt, fünf Jahre nach dem Welternährungsgipfel in Rom, geht es nicht allein um eine Analyse der bisher erreichten Fortschritte, sondern um eine politische
Weichenstellung im Hinblick auf zukünftige Strategien.
Insofern steht der Welternährungsgipfel in direktem Zusammenhang mit der WTO-Ministerratstagung in Doha,
der Konferenz der Vereinten Nationen zur Entwicklungsfinanzierung in Monterrey, Mexiko, und dem Weltgipfel
für nachhaltige Entwicklung im September 2002 in
Johannesburg.
Eine Stellungnahme der Landwirtschaftsorganisation
der Vereinten Nationen, FAO, besagt, dass bei gleichbleibendem Engagement der Staatengemeinschaft die Erreichung des Zieles einer Halbierung der Zahl der weltweit
Hungernden in Zweifel zu ziehen ist, wenn nicht erheblich mehr Anstrengungen unternommen werden. Bleibt
also Ernährungssicherung eine Utopie? Bleiben Aktionspläne ohne Wirkung? Wenn ja, warum? Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Amartya Sen,
sieht den Schlüssel zur Verwirklichung von Ernährungssicherheit in der substanziellen Freiheit des Einzelnen und
der Familie, sich ausreichend Nahrung zu beschaffen.
Dazu müssen die Menschen entweder in der Lage sein,
ihre Nahrung selbst zu produzieren, oder sie müssen über
eine entsprechende Kaufkraft verfügen, um sich Lebensmittel auf dem Markt beschaffen zu können. Menschen
leiden nach Sen dann Hunger, wenn sie nicht selbst um
Nahrung nachsuchen können.
Welche Gründe können nun angeführt werden, die dies
verhindern? Die Antwort fällt sehr differenziert aus: Steht
in Lateinamerika die fehlende oder halbherzige Landreform im Vordergrund, so sind es in Asien ebenfalls eigentumsrechtliche Hindernisse und in Afrika unter anderem klimatische Probleme wie die Ausdehnung der
unfruchtbaren Wüste. Diese Klimaproblematik wurde
weltweit durch Abholzung, Überweidung und Überlastung der Böden hervorgerufen.
Hier wäre es notwendig, konsequent anzusetzen. Aber
immer wieder stehen wirtschaftliche Interessen kapitalstarker Unternehmen entgegen. Die internationale Staatengemeinschaft sollte mehr Mut aufbringen, durch Öffentlichkeitsarbeit die Ursachen genau zu benennen und
Lösungen aufzuzeigen und diese, wenn nötig, auch mit
politischem Druck durchzusetzen.
({1})
Es kann nicht angehen, dass die bereits bestehenden Analysen eigentlich sehr genau Aufschluss geben, konsequentes Handeln der politisch Verantwortlichen aber ausbleibt.
Eine Reform des Bodenrechts, um die Chancengleichheit wieder herzustellen, sowie der Zugang zu sauberem Wasser für die Haushalte und die Bewässerung
müssen gewährleistet werden. Das Saatgut muss den klimatischen Bedingungen angepasst sein und darf nicht
durch Giftstoffe der Pflanzenbehandlungsmittel passend
gemacht werden. Hybridsaatgut muss untersagt werden,
da wirtschaftliche Interessen gegen Hunger nicht ausgespielt werden dürfen. Die Vermarktung erzeugter landwirtschaftlicher Produkte sollte nicht den Multis überlassen bleiben. Örtliche, regionale und überregionale Organisationen, die von dem Produzenten noch beeinflusst
werden können, sollten gestärkt und unterstützt werden.
Überwachung und Kontrolle dürfen nicht abgezogen
werden, damit die Preise und die Terms of Trade nicht einseitig bestimmt werden. Teilhabe und Partizipation sollten nicht mehr nur in Sonntagsreden für die Länder des
Südens eine Rolle spielen. Auch Analphabeten können
ihre Interessen artikulieren und einfordern.
Eine Weiterverarbeitung der landwirtschaftlichen
Produktion ist der nächste Schritt, der Ernährungssicherung stabilisieren kann. Das notwendige Wissen ist vorhanden und, wenn nötig, erlernbar. Aber auch hier versuchen Großkonzerne, ihre Produktion zulasten der
Kleineren auszulasten. Veredlung kann auch in Schwarzafrika geleistet werden.
Kapital wäre vorhanden, wenn Weltbankkredite
auch für solche Bereiche konsequent eingesetzt würden.
Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft könnten zustande kommen. Die Folgen wären Arbeit, Einkommen
und Konsum; ein Kreislauf könnte sich zur Aufwärtsspirale entwickeln. Zulieferbereiche könnten im formellen Sektor entstehen. Auf dem Land gäbe es Zukunft
durch Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe. Das Problem der Verteilung von Gütern könnte dadurch ebenfalls
gelöst werden.
Grüne Gentechnologie täuscht Hilfe vor. Wieder wollen große, kapitalstarke Unternehmen ihre Geschäfte machen. Die Frage ist, was gentechnisch erforscht und
weiterentwickelt werden soll. Die Verträglichkeit von
Pflanzengiften, damit die Agrarchemie wächst und gedeiht? Besteht die Lösung darin, bodenabhängiges Saatgut zu entwickeln? Gentechnik ist nicht mehr zu verhindern. Die Richtung aber muss mitbestimmt werden. Die
internationale Agrarforschung hat hier eine verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen.
({2})
Aber überall, wo Menschen handeln, gilt es Interessen abzuwägen.
Frauen spielen in der Landwirtschaft eine hervorgehobene Rolle. Traditionell haben sie dort schwerpunktmäßig
ihre Aufgabe. Wie werden sie mit neuen Anforderungen
fertig? Wer bildet sie aus? Wer unterrichtet sie über neuere
und effizientere Methoden? Auch hier gäbe es Ansatzpunkte, die schnell und unbürokratisch umgesetzt werden
könnten. Warum unterbleibt es? Warum geht alles so
schwerfällig? An welcher Stelle muss begonnen werden,
den Teufelskreis zu durchbrechen? Sauberes Wasser hilft
Krankheiten zu verhindern. Nährstoffreiches Saatgut
hilft, Schlappheit und Müdigkeit in neue Energie zu verwandeln.
Nachhaltigkeit ist das neue Zauberwort. Nur, was bedeutet dies konkret? Maßstab muss sein, die notwendigen
Ressourcen zu schonen und erneuerbar zu halten. Nur,
wer hält sich daran? Jeder zeigt mit dem Finger auf den
anderen und stellt Forderungen an den anderen. Was
macht den Norden so sicher, dass er glaubt, den Süden so
nachhaltig ausbeuten zu können? Letztlich vernichten wir
damit auch unsere Lebensgrundlage.
({3})
Unser Antrag enthält Forderungen, die nicht utopisch,
sondern praktikabel umsetzbar sind. Umweltverträgliches
Handeln hat die Natur und den Menschen im Blick.
Was kostet das Ganze nun? Der erste Schritt bestünde
darin, die finanziellen Ressourcen besser und effizienter
einzusetzen; ehrliche und betriebswirtschaftlich berechenbare Preise wären der nächste. Geld allein hilft nicht.
In den Köpfen muss der Kampf gegen Hunger und Armut
beginnen, um gewonnen zu werden. Er ist nicht aussichtslos. Veraltete Strukturen dürfen nicht konserviert
werden, aber „altes Wissen“ muss einbezogen und weiterentwickelt werden.
Mit Konferenzen und Workshops wird international
versucht, Wissen und Schlussfolgerungen zu erörtern, um
die besten Lösungen zu finden. Aber der Weg muss endlich beschritten werden. Analysen sind genug erstellt worden; Schlussfolgerungen müssen endlich umgesetzt werden. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
haben gute Vorschläge und Handlungsalternativen in die
Entwicklungszusammenarbeit eingebracht. Sie müssen
international erweitert werden, damit der Hunger in der
Welt besiegt wird.
({4})
Deshalb muss es bei der im Juni anstehenden Konferenz in Rom um konkrete Maßnahmen gehen, zu denen
sich die teilnehmenden Staaten nicht nur verpflichten,
sondern zu denen sie auch Zeitpläne auf den Tisch legen.
Die vielen Absichtserklärungen vergangener Jahrzehnte
waren sicherlich nicht vergeblich. Aber in Anbetracht der
nach wie vor Besorgnis erregenden Situation sollten mittelfristige Zeitpläne eine bessere Fortschrittskontrolle ermöglichen. Ein Zeitraum von 20 Jahren ist einfach zu
lang. Eine solche Fortschrittskontrolle führt lediglich zu
bedauerndem Staunen über die verpassten Chancen.
Unser Antrag, um den es heute geht, eröffnet jetzt die
Möglichkeit des Handelns in einem überschaubaren Zeitraum. Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen.
({5})
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht die Kollegin Marlies Pretzlaff.
Herr Präsident! Liebe
Zuhörer der SPD!
({0})
Ich begrüße auch die wenigen der anderen Parteien.
({1})
Frau Adler, Sie haben eben viele richtige Fragen gestellt und die Probleme, die hinsichtlich der Sicherung der
Ernährung der Weltbevölkerung bestehen, richtig beschrieben. Doch unser Problem ist, dass schon 1996, als
der Welternährungsgipfel stattfand, Lösungswege aufgezeigt wurden und ein Aktionsplan aufgestellt worden ist,
von dem jetzt, wo die Nachfolgekonferenz ansteht, leider
gesagt werden muss, dass er wenig Erfolg gezeigt hat.
Darin werden Sie mir zustimmen müssen. Leider sind die
Lösungswege von 1996 allzu häufig Makulatur geblieben, denn man ist ziemlich schnell zur nationalen Tagespolitik übergegangen; die praktische Umsetzung der ratifizierten Theorie lässt bis heute auf sich warten.
Die Erreichung des damals formulierten Ziels, die Zahl
der Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren, scheint
tatsächlich in weite Ferne zu rücken; denn nur wenige der
91 Länder, die im Vorfeld dieser Nachfolgekonferenz Berichte über ihre Aktivitäten erstatteten, konnten nennenswerte Fortschritte bei der Ernährungssicherung der eigenen Bevölkerung mitteilen. Mehr als die Hälfte der
Entwicklungsländer, die 1996 in Rom teilnahmen, haben
heute mehr Unterernährte als vor fünf Jahren. Wenn China
nicht so große Erfolge bei der Hungerbekämpfung vorweisen könnte - eine Reduzierung der Zahl der Hunger
leidenden Menschen um 80 Millionen -, würden die Zahlen nicht stagnieren, sondern gäbe es heute mehr chronisch Hunger leidende Menschen als vor fünf Jahren.
Trotz vielfältiger Anstrengungen der Hilfsorganisationen und der staatlichen Zusammenarbeit ist es also bisher
nicht gelungen - das bleibt festzustellen -, die
Ernährungsdefizite signifikant zu beheben. Umso wichtiger ist der Antrag, den die Fraktionen der SPD und der
Grünen gestellt haben.
({2})
- Ihr dürft auch klatschen. ({3})
Von daher - ich nehme es vorweg - werden wir uns der
Stimme enthalten.
({4})
Ich werde auch begründen, warum wir nicht zustimmen
können.
Leider rückt diese ernüchternde Bilanz nach fünf Jahren auch die Weltbank und die Geberländer in ein wenig
erfreuliches Licht. Die Weltbank, eigentlich der Armutsbekämpfung verpflichtet, schreibt die Landbevölkerung
in den Entwicklungsländern offensichtlich zunehmend
ab. Die Kreditsumme von 3,6 Milliarden US-Dollar für
Projekte der ländlichen Entwicklung schrumpfte innerhalb von zehn Jahren auf nur noch 1,1 Milliarden USDollar. Die USA, Japan und leider auch Deutschland
kürzten ihre Hilfe für ländliche Entwicklung, Agrarreformen und Ernährungssicherungsprogramme ebenfalls
mehrfach. Die offizielle Agrarentwicklungshilfe sank um
rund 1 Milliarde US-Dollar auf nur noch 14 Milliarden US-Dollar - gerade so, als litte nicht nach wie vor jeBrigitte Adler
der fünfte Mensch in den Entwicklungsländern an chronischem Hunger!
Der Ernährungssicherung ebenso wenig dienlich ist
auch die Tatsache, dass die Industriestaaten weiterhin
rund 350 Milliarden US-Dollar Agrarsubventionen pro
Jahr in ihre eigene Landwirtschaft pumpen. Das ist siebenmal mehr als der Gesamtetat für Entwicklungshilfe.
Mit dem Aktionsplan von 1996 ist nur schwer zu vereinbaren, dass der US-Senat erst vor einigen Tagen ein beispielloses Subventionsprogramm von 180 Milliarden USDollar als Zuschuss für die eigenen Farmer aufgelegt hat.
({5})
Um von den Industrie- und Geberländern auf die Entwicklungsländer zu kommen: Auch die Entwicklungsländer haben ihre Hausaufgaben nur ungenügend gemacht
und zu wenig in den Agrarsektor bzw. in die Entwicklung
der ländlichen Räume investiert. Oft stehen sie zugegebenermaßen unter finanziellem Druck und müssen ihre
Staatsausgaben reduzieren, sind hoch verschuldet und haben nicht die notwendigen Mittel. Aber oft investieren sie
auch in Vorzeigeobjekte und -projekte oder - schlimmer
noch - tätigen Militärausgaben und Waffenkäufe.
Good governance beweist sich nicht nur in Demokratiebestrebungen, in der Einrichtung von Menschenrechtskommissionen und in Bemühungen um mehr Rechtssicherheit, sondern vor allem auch im Umgang mit der
eigenen Bevölkerung.
({6})
In sämtlichen Regionen der Dritten Welt sank in den 90erJahren der Anteil der Staatsausgaben für die ländliche Entwicklung zugunsten zum Beispiel der Stadtentwicklung.
Statt die Dezentralisierung voranzutreiben und Landreformen zugunsten der Millionen Kleinbauern durchzuführen,
setzt man - Frau Adler hat es schon gesagt - auf exportorientierte industrielle Agrarwirtschaft, auf Monokulturen
Devisen bringender cash crops und wird so oftmals zum
Nettoimporteur von Nahrungsmitteln.
Die Unterstützung einer neuen Weichenstellung für die
Politik dieser Länder, wie sie in den Nummern eins bis
fünf des Antrags formuliert wird, findet unsere volle Unterstützung; denn mit intensiver Förderung und Partizipation der in und von der Landwirtschaft lebenden Bevölkerung in den Entwicklungsländern - das sind 70 Prozent
der Bevölkerung - könnte langfristig ein wichtiger Beitrag zur nachhaltigen Hunger- und Armutsbekämpfung
geleistet werden.
Wir alle wissen, dass die Fläche dieser Erde die bewirtschaftet werden kann, begrenzt ist, dass Produktionssteigerungen nur noch bedingt möglich sind und dass die
Wasservorräte immer knapper werden. Umweltzerstörung, Degradierung der Böden, Klimaveränderungen
und nicht zuletzt - Frau Adler, diesen Punkt haben Sie
vergessen - das Wachstum der Weltbevölkerung sind Ursachen bzw. Folgen einer Entwicklung, die man vielleicht
gerade noch rechtzeitig erkannt hat, aber leider nur halbherzig und mit unzureichendem Einsatz bekämpft.
Auch die Handelserleichterungen der WTO für die
ärmsten Länder sind noch verbesserungsbedürftig. Zurzeit ist die Dritte Welt gezwungen, auf den Weltmärkten
mit den hoch subventionierten Produkten der Bauern aus
Industrieländern zu konkurrieren. Kaffee, Kakao oder
beispielsweise Ölsaaten aus tropischen Ländern dürfen
zwar mittlerweile zollfrei eingeführt werden; verarbeitete
Produkte aus den gleichen Rohstoffen unterliegen jedoch
nach wie vor den hohen Zöllen der EU.
Der ungehinderte Zugang von Produkten der 48 ärmsten Länder - eine lobenswerte Initiative der EU - bleibt
unglaubwürdig, solange der Freihandel mit Bananen,
Reis und vor allen Dingen Zucker weiterhin verhindert
wird. Der angekündigte Importstopp für Rindfleisch aus
Namibia durch Brüssel geht in die gleiche Richtung; denn
mangels Zertifizierungsbehörde können weder die Namibier noch ihre südafrikanischen Futterlieferanten garantieren, dass kein gentechnisch veränderter Mais verfüttert
wurde. Dies ist ein Nachteil; denn ohne Zertifikat dürfen
sie ihre Rinder nicht exportieren.
Neben der auch von uns befürworteten nachhaltigen
Landwirtschaft mit bemerkenswerten Erfolgen dürfen die
neuen Biotechnologien und die grüne Gentechnik nicht
von vornherein ausgegrenzt werden. Das ist einer der
Punkte, bei denen wir anderer Meinung sind als Sie, weswegen wir nicht Ihrem Antrag zustimmen können.
({7})
Denn auch die neuen Biotechnologien können einen Beitrag zur Sicherung der Ernährung zum Beispiel in Gebieten mit extremem Klima leisten. Die Kleinbauern brauchen den Zugang zu einem Saatgut, das beispielsweise
gegen spezielle Schädlinge resistent ist, um auch in diesen Gebieten produzieren zu können.
({8})
- Das ist Ihre Meinung.
Ernährungssicherung ist eine Querschnittsaufgabe mit
komplexen Beziehungsgeflechten; sie kann durch Einzelreformen, die häufig als das Nonplusultra genannt werden, nicht bewältigt werden.
({9})
- Wir müssten jetzt diskutieren, inwieweit das eine Technologie der reichen Leute ist oder inwieweit die internationale Agrarforschung auch segensreich dazu beiträgt,
um Reis und Mais, die das benötigte Vitamin A enthalten,
besser anbauen zu können. Das ist wichtig, um den Kindern in der Dritten Welt die sonst nicht vorhandenen
Nährstoffe zu geben.
Meine Redezeit läuft ab. Ich will mich beeilen, damit
Sie alle schnell nach Hause kommen.
Wie bereits gesagt, kann durch Einzelmaßnahmen die
Ernährungssicherung nicht gewährleistet werden. Dies
kann nur durch ein Geflecht von vielen verschiedenen
Maßnahmen erreicht werden. Dabei darf keine Möglichkeit einer Förderung und keine Anwendung einer neuen
Technologie von vornherein ausgeschlossen werden.
Wir bezweifeln, dass die ökologische Landwirtschaft
- die Agrarwende à la Künast - zur Reduzierung des Hungers in der Welt beigetragen wird. Wir befürchten, dass
damit neue Handelshemmnisse für die Produkte der Entwicklungsländer aufgebaut werden. Verstärkter Verbraucherschutz und höhere Qualitätsanforderungen - siehe
Beispiel Namibia - fördern nicht unbedingt den Export
der in den Entwicklungsländern produzierten Lebensmittel. Auch aus diesem Grund können wir dem Antrag leider nicht zustimmen, obwohl wir das Grundanliegen befürworten.
Die CDU/CSU wird sich der Stimme enthalten.
Vielen Dank.
({10})
Als letzter
Rednerin in dieser Debatte und des heutigen Abends gebe
ich das Wort nunmehr der Kollegin Dr. Angelika KösterLoßak, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hunger ist eine schreckliche
Geißel. Er entstellt die Menschen, beeinträchtigt ihre körperliche und intellektuelle Entwicklung und schädigt sie
psychisch. Unterernährung, insbesondere die frühkindliche Unterernährung, führt zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit ein Leben lang und vermindert auch die physische
und geistige Produktivität. Hunger vermindert deshalb
auch die Chancen der wirtschaftlichen Entwicklung und
der ökonomischen Leistungsfähigkeit in den armen Ländern, ob in ärmsten Ländern wie Kambodscha oder in
Schwellenländern wie Brasilien.
Der bevorstehende Welternährungsgipfel wird wieder
zeigen, dass wir die Anstrengungen zur Bekämpfung von
Hunger und Armut vervielfachen müssen. Probleme vor
Ort beeinflussen das Fortdauern des Hungers genauso wie
die internationalen Rahmenbedingungen. An guter Regierungsführung, an einem echten Engagement für die Armutsbekämpfung und an mehr sozialer Rücksichtnahme
mangelt es vielen nationalen Eliten in den Entwicklungsländern. Die Industrieländer fangen außerdem erst in den
letzten Jahren an, eine global ausgleichende Strukturpolitik zu formulieren. Aber sie muss auch umgesetzt werden.
({0})
Lassen Sie mich kurz zitieren:
Nirgends tritt die Doppelmoral der Regierungen von
Industrieländern so deutlich zutage wie in der
Landwirtschaft. Die Gesamtsubventionen für heimische Landwirte belaufen sich auf mehr als 1 Milliarde Dollar täglich. Diese Subventionen, von denen
fast durchgehend die reichsten Landwirte profitieren, richten massive Umweltschäden an. Sie führen
außerdem zu Überproduktion. Die entstehenden
Überschüsse werden unter Einsatz noch weiterer
Subventionen auf den Weltmärkten verschleudert,
finanziert von Steuerzahlern und Verbrauchern.
Dies konstatiert die international tätige Nichtregierungsorganisation OXFAM. Als hätte es noch eines Beweises
bedurft - es wurde schon darauf hingewiesen -, bringt die
US-Regierung gerade ein neues Agrargesetz auf den Weg,
das die staatlichen Subventionen für den Agrarsektor
um 70 Prozent auf 130 Milliarden Dollar erhöht. Die
EU-Agrarpolitik steht aber auch kaum besser da.
Wenn wir in der Agrarpolitik der Industrieländer nicht
schnell eine Wende schaffen, dann vertagen wir die nachhaltige Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern
in unverantwortlicher Weise. Wir untergraben damit aber
auch gleichzeitig die Legitimität einer auf Integration und
Ausgleich gerichteten internationalen Politik.
({1})
In vielen Entwicklungsländern sind bis zu 70 Prozent
der Menschen in der Landwirtschaft tätig und erbringen
bis zu einem Drittel des Sozialprodukts in diesem Bereich.
Alle Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung, in der
Gesundheitspolitik, für Beschäftigung und Entwicklung
hängen deshalb entscheidend von der Landwirtschaft ab.
Täglich sterben 20 000 Menschen an den Folgen des
Hungers. Das ist nicht in erster Linie eine Folge der zu geringen globalen Nahrungsmittelproduktion. Deshalb wird
uns auch die mit einer höheren Produktion verknüpfte
grüne Gentechnik nicht weiterbringen. Ernährungssicherung braucht mehr als Produktivitätssteigerung. Ein umfassender Ansatz von Landreformen, öffentliche Investitionen in Gesundheit und Bildung, eine die natürlichen
Ressourcen schonende Agrarpolitik und ein verändertes
Handelsregime sind dafür ausschlaggebend.
({2})
Es ist auch dringend erforderlich, dass in den Regionen, in denen Kleinbauern bisher keine Lebensperspektiven hatten, eine Förderung dieses Sektors in Angriff genommen wird. Dabei bedarf es der Aufhebung von
sozialer und politischer Ausgrenzung und des Zugangs zu
Land.
In Deutschland hat die BSE-Krise deutlich gezeigt,
dass eine pervertierte industrielle Landwirtschaft keine
Überlebenschance hat. Deswegen hat Renate Künast eine
Agrarwende eingeleitet. An die Landwirtschaft werden
qualitative Maßstäbe angelegt, die Umwelt- und Verbraucherschutzgesichtspunkte einbeziehen. Durch den Rückbau von Agrarfabriken und die Förderung einer qualitätsorientierten Landwirtschaft wird dann auch international
Druck von den Märkten genommen werden.
Es ist jedoch klar, dass Deutschland oder irgendein anderes Land allein keine internationale Wende in der Landwirtschaft herbeiführen kann. Um Hunger und Armut
wirklich weltweit zu bekämpfen, brauchen wir eine solche internationale Agrarwende mit einem verbesserten
Marktzugang für kleinbäuerliche Erzeugnisse und umweltgerechte Agrargüter. Hierbei muss uns der nächste
Welternährungsgipfel ein ganzes Stück weiterbringen.
Ich danke.
({3})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Welternährungsgipfel - fünf Jahre später“. Wer
stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/8031? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS
gegen die Stimme der FDP
({0})
bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Zusatzpunkt 19: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 14/9055 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das
Haus ist damit einverstanden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ursula Lötzer, Eva Bulling-Schröter, Rolf
Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Sicherung sozialer und tariflicher Standards
sowie Stellung der kommunalen Selbstverwal-
tung und der öffentlichen Dasseinsvorsorge im
nationalen und europäischen Wettbewerbs-
und Vergaberecht
- Drucksache 14/6527, 14/7730 -
Das Wort wird nicht gewünscht. Die Kolleginnen und
Kollegen geben ihre Reden zu Protokoll.1)
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Mai 2002, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.