Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
dem Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Edmund
Stoiber.
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({0})
({1}): Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Lage im
Nahen Osten ist inzwischen für alle Beteiligten verzweifelt. Die Bilder von grausam zugerichteten israelischen
Opfern des Terrors und von den schrecklichen Leiden der
Palästinenser sind für jeden schmerzlich, ja unerträglich.
Die große Tragik dieser Region ist, dass dort seit über
einem Jahrhundert zwei Ansprüche aufeinander prallen,
die in einem schier unlösbaren Konflikt miteinander stehen. Terror, Unterdrückung und Gewalt verschärfen die
Lage für die schwer getroffenen Menschen in der Region.
Ich glaube, dass wir alle darin einer Meinung sind, dass
dies keine Mittel zur Lösung des Konflikts sind. Sie verschärfen den Konflikt ins bisher unvorstellbar Grausame.
({2})
Wir alle verurteilen sie auf das Schärfste. Niemand kann
angesichts solch schrecklicher Bilder einfach wieder zur
Tagesordnung übergehen. Wir müssen alles tun, was in
unseren Kräften und in unseren Möglichkeiten steht, um
einen Beitrag zur Herstellung des Friedens im Nahen
Osten zu leisten.
Der Konflikt im Nahen Osten ist das beherrschende
Thema in der Außenpolitik. Ich habe heute gelesen und
bin auch immer wieder darauf angesprochen worden, dass
die heutige Debatte ein Duell zwischen dem Kanzler und
seinem Herausforderer sein wird.
({3})
Das halte ich angesichts der Tragik der Situation und vor
allen Dingen der vielen Opfer dieses Konflikts für völlig
abwegig.
({4})
Ich spreche für die Union in diesem Hause. Uns ist
natürlich an einer verantwortungsvollen deutschen
Außenpolitik gelegen. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind Deutschland neue Aufgaben in der Außen- und
Sicherheitspolitik zugewachsen. Von uns Deutschen wird
erwartet, dass wir sehr viel stärker als bisher Verantwortung für Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent und
in der Welt übernehmen, wie das auch andere europäische
Nationen tun.
Dass Deutschland in schwieriger Situation dazu bereit
und fähig ist, hat die Bundesregierung unter Helmut Kohl
schon Anfang der 90er-Jahre auf dem Balkan unter Beweis gestellt. Damals gab es leider keinen so großen Konsens, wie es ihn heute gibt.
({5})
Bei allen Überlegungen, deutsche Soldaten einzusetzen, ist auf fortwirkende historische Belastungen Rücksicht zu nehmen. Das gilt in besonderem Maße bei der
Frage eines deutschen Engagements in Israel und im Nahen Osten. Bei aller Gemeinsamkeit in diesen Fragen
müssen wir gerade angesichts des Ernstes dieses Themas
in diesem Hohen Hause deutlich ansprechen, wo die Unterschiede zwischen der Bundesregierung und der Opposition liegen, wenn es um einen deutschen Friedensbeitrag
im Nahen Osten geht.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Herr Bundeskanzler, meines Erachtens haben Sie
durch Ihre Äußerungen auf der Kommandeurstagung der
Bundeswehr in Hannover am 8. April gezeigt, dass Sie
den geschichtlichen Hintergrund eines deutschen Engagements in Israel völlig verkennen. Sie haben laut darüber
nachgedacht, dass deutsche Soldaten daran beteiligt sein
könnten - ich zitiere -,
die Konfliktparteien, wenn es eine Chance gibt, eine
friedliche Entwicklung durch Druck von außen einzuleiten, auch zu trennen und dafür eben auch - legitimiert durch die Vereinten Nationen - militärische
Mittel einzusetzen.
Auf die besorgte Frage eines Kommandeurs nach einer
Beteiligung der Bundeswehr an einer internationalen
Friedenstruppe haben Sie unwidersprochen gesagt - ich
zitiere noch einmal -:
Das wäre sicherlich eine zu theoretische Debatte
über Eier, die noch nicht gelegt sind.
({6})
Aber ich will wenigstens so weit gehen, Ihnen fair
auf Ihre Frage zu antworten, dass ich das, was in der
Frage intendiert war, nicht ausschließen kann und
will.
({7})
Auch wenn Sie in der Zwischenzeit Ihre Aussagen relativieren, sage ich Ihnen: In dieser Frage unterscheiden
wir uns grundsätzlich.
({8})
Wir sind zu jeder möglichen politischen und humanitären
Hilfeleistung bereit.
({9})
Aber vor dem Hintergrund unserer Geschichte wird es
im Nahostkonflikt einen Einsatz deutscher Soldaten
- selbst unter UNO-Mandat - mit unserer Zustimmung
nicht geben.
({10})
Auch wenn heute das Verhältnis Deutschlands zu Israel
gut und freundschaftlich ist, wird es angesichts der Opfer
des Holocausts immer ein besonderes Verhältnis sein.
Dieses besondere Verhältnis besteht auch in der schrecklichen Konfliktsituation, in der sich der ganze Nahe Osten
zurzeit befindet.
In dem Land, in dem viele heilige Stätten, zum Beispiel
die Geburtskirche in Bethlehem, liegen, mit denen gläubige Menschen Symbole für Hoffnung und Frieden verbinden, herrschen Terror und Krieg. Zwei Völker erheben
Anspruch auf dasselbe Stück Erde. Dabei geht es nicht nur
um gegensätzliche territoriale Ansprüche. Hinter diesen
Ansprüchen steht ein tiefer, religiös begründeter Konflikt,
der sich im Streit um Jerusalem zuspitzt. Diese Stadt ist
beiden Seiten heilig. Wenn sich aber beide Seiten darauf
berufen und unnachgiebig auf ihrer Position beharren,
dann mündet das geradezu zwangsläufig in einen blutigen
Konflikt ohne jede Bereitschaft zur Versöhnung. Aber nur
Offenheit und Toleranz gegenüber dem anderen Standpunkt führen zu einer politischen Lösung dieses Konflikts.
({11})
Obwohl dieser Konflikt nicht in erster Linie ökonomisch oder sozial begründet ist, wird er durch die enorme
Spreizung des Pro-Kopf-Einkommens zwischen Israelis
und Palästinensern erheblich verschärft. Konzepte, die
diese religiösen, ökonomischen und sozialen Gegensätze
außer Acht lassen, werden keinen Erfolg haben. Palästinenser beklagen, dass sich die Israelis überheblich benähmen. Sie fühlen sich innerhalb Israels als Bürger zweiter
Klasse, erst recht in den 1967 eroberten Gebieten. Neben
den wirtschaftlichen und rechtlichen Benachteiligungen
empfinden sie vor allem eine tiefe Verletzung ihres persönlichen und des nationalen Stolzes. Palästinenser beharren auf dem Recht der Rückkehr in ihre angestammte
Heimat. Sie empfinden die israelischen Siedlungen als
Dorn im eigenen Fleisch.
Die Israelis befürchten von der Rückkehr der Flüchtlinge eine massive Veränderung der Bevölkerungsstruktur, mit Auswirkungen auf den Charakter ihres jüdischen
Staates. Bis heute hat die große Mehrheit der arabischen
Staaten Israel nicht anerkannt und ist dem Land feindlich
gesinnt.
Was die Menschen in dieser Region zurzeit durchmachen, das ist eine der schlimmsten Heimsuchungen, die
eine zivilisierte Gesellschaft erleben kann. Wäre Deutschland in gleicher Weise wie Israel von Terroranschlägen
betroffen, dann würde das gewaltige Ausmaß von Furcht,
Angst und Schrecken weite Teile des öffentlichen Lebens
lähmen. Es ist eine schreckliche Vorstellung, dass sich in
deutschen Städten kein Mensch mehr in ein Restaurant
wagen könnte. Die Marktplätze und Einkaufszentren
wären leer, weil man fürchten müsste, jederzeit Opfer eines Terroranschlags zu werden. Das ist doch die Lage, in
der sich Israel zurzeit befindet.
({12})
Die Menschen haben Angst, weil sie wissen, dass vor
kurzem in ihrer Nachbarschaft ein Selbstmordattentäter
für Tod und Verwüstung gesorgt hat und dass dies jederzeit wieder geschehen kann.
Trotz einer Vielzahl von Treffen, von Vereinbarungen
und Plänen dreht sich die Spirale von Hass und Gewalt
weiter. Ihr können die Konfliktparteien nur entkommen,
wenn beide Seiten die gewaltsamen Auseinandersetzungen umgehend beenden. Dabei muss allen klar sein, dass
sie zu schmerzhaften Kompromissen bereit sein müssen.
Denn Tatsache ist: Heute lebt Israel mit weniger Sicherheit und mit weniger Frieden. Daran hat die Politik von
Ministerpräsident Scharon, der mit dem Versprechen angetreten ist, mehr Sicherheit für Israel zu schaffen, nichts
geändert, leider ganz im Gegenteil. Die Palästinenser haben durch den Rückfall zum Terror und ihren Griff zum
Mittel des menschenverachtenden Selbstmordattentats
viel Vertrauen in der Welt verloren.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({13})
In der jetzigen Situation ist es mehr denn je Aufgabe
der politischen Führung beider Seiten, beiden Völkern die
dringende Notwendigkeit von Kompromissen ungeschminkt zu vermitteln. Wir appellieren an die israelische
Regierung, die UNO-Kommission zur Untersuchung der
Vorgänge in Dschenin zu unterstützen, damit die schweren Anschuldigungen entkräftet werden können.
({14})
Das darf nicht die Quelle für eine neue furchtbare Runde
von Terror und Gewalt werden. Genauso appellieren wir
an Arafat und die palästinensische Führung, für ein Ende
des Terrors zu sorgen, damit es zu einem Waffenstillstand
kommt.
Wir stehen - hier sind wir in der Tat aufgrund unserer
gesamten geschichtlichen Erfahrungen einer Meinung ohne Einschränkungen zum Existenzrecht Israels in
Frieden und in gesicherten Grenzen. Dazu gehört auch,
ohne Terrorangst leben zu können.
({15})
Ich habe heute mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, dass Sie, Herr Bundeskanzler, kein Embargo oder
Boykottmaßnahmen gegen Israel beschließen oder mittragen werden.
({16})
Aber angesichts der vorangegangenen Fragen und Irritationen haben wir natürlich schon ein Anrecht zu wissen:
Was haben Sie zurückgehalten und was liefern Sie jetzt?
Auch hierzu hatte ich heute eine klare Antwort erwartet.
({17})
Meine Damen und meine Herren, wir unterstützen aber
auch die Ansprüche des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat. CDU und CSU treten ein für eine Region, in der zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite an
Seite innerhalb sicherer und von allen Nachbarn anerkannter Grenzen leben.
({18})
Ich halte es auch deswegen für notwendig, diese Debatte zu führen, sie vielleicht öfter zu führen, weil ich
glaube, dass unsere Bevölkerung über die Ursachen und
die Schwierigkeit dieses Konflikts Informationen
braucht, die gerade auch in der politischen Debatte entstehen, damit es gar nicht erst zu Einseitigkeiten in der
Bewusstseinslage kommt.
({19})
Solange dieser Konflikt nicht gelöst ist, bleibt er ein
Nährboden für weltweiten Terror. Er war der Hintergrund
für das Olympia-Attentat 1972 in München. Er war nicht
allein, aber auch der Hintergrund für den Terrorkrieg, der
am 11. September Amerika direkt und damit letztlich mittelbar der gesamten freien Welt erklärt wurde. Er ist auch
eine Ursache für das Attentat von Djerba, dessen Opfern
und deren Angehörigen unser tiefstes Mitgefühl gilt. Wie
die jüngsten Ermittlungen deutscher Behörden aufgedeckt
haben, liegen Knoten des Terrornetzes in Europa, mitten in
Deutschland. Kein Konflikt rechtfertigt Terror. Aber es ist
die bittere Realität, dass wir mit dieser Bedrohung leben.
Niemand weiß, wo der Terror morgen oder übermorgen
zuschlägt und wie viele Opfer er noch fordert.
Der Schlüssel für die Lösung des Konflikts liegt ganz
entscheidend in den USA.
({20})
Zusammen mit der Europäischen Union, mit Russland
und der UNO und gemeinsam mit den arabischen Nachbarn Israels können sie einen Beitrag zu einer dauerhaften
Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern und zum Frieden in der Region leisten.
Ich bin ein überzeugter Verfechter einer Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union.
({21})
Ich bin auch der Meinung, dass in Europa in Zukunft ein
höheres Maß an Zuständigkeit vorhanden sein muss.
({22})
Bei aller Wertschätzung der nationalen Souveränitäten,
die gerade in der Außenpolitik zum Ausdruck kommen hier brauchen wir mit Sicherheit eine Weiterentwicklung
gerade auch aus der Säule drei in die Säule eins der europäischen Verträge. Sie würde eine europäischere Außenund Sicherheitspolitik ermöglichen, sie würde das transatlantische Bündnis festigen. Das gilt gerade auch im Verhältnis zum Nahen Osten.
Leider hat der Fischer-Friedensplan, der jetzt vom
Bundeskanzler sozusagen zu einer Wegskizze herabgestuft wird, dazu keinen glücklichen Beitrag geleistet.
({23})
Besser wäre es gewesen, wenn er ihn in die Beratungen
der Europäischen Union eingebracht und mit den USAabgestimmt hätte.
({24})
Die Europäer werden nur dann eine wirksame Rolle
spielen können, wenn sie handlungsfähig sind. Gewiss: Wir
haben im Sommer 2000 die europäische Politik für den
Mittelmeerraum ein Stück weit harmonisiert. Doch seinerzeit wurde der arabisch-israelische Friedensprozess bis
zum Abschluss eines umfassenden Friedens aus der gemeinsamen Strategie herausgenommen. Ausgerechnet dort, wo
die Stabilität einer ganzen Region auf dem Spiel steht, haben sich die europäischen Regierungen einschließlich der
Bundesregierung der Vielstimmigkeit verschrieben. So
können wir die europäische Außen- und Sicherheitspolitik
mit Sicherheit nicht erfolgreich betreiben.
({25})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({26})
Die Europäer können aufgrund ihrer guten Beziehungen zu den meisten arabischen Staaten die Fähigkeit anbieten, Brücken über die tiefen Gräben zu schlagen. Das
ist angesichts der historischen Mitverantwortung Europas
im Nahen Osten eine angemessene Rolle, aber auch der
spezielle Beitrag, den die Europäer leisten können. Ich bin
der festen Überzeugung, dass nur alle miteinander, die
Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäer zusammen mit Russland und der UNO, die Entscheidungen
vorantreiben können. Hier werden die Europäer gerade
auch wegen ihrer Glaubwürdigkeit gegenüber den arabischen Staaten gebraucht.
({27})
Ein militärischer Beitrag Deutschlands wäre vor
dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte ein Irrweg.
Er ist deshalb für die Union völlig ausgeschlossen.
({28})
Herr Bundeskanzler, Sie haben zwar heute gesagt, die
Frage einer deutschen Beteiligung an einer internationalen
Sicherheitskomponente stehe derzeit nicht auf der Tagesordnung; Sie haben aber hinzugefügt, Sie würden von Fall
zu Fall über den Umfang einer deutschen Beteiligung nach
dem Gesichtspunkt entscheiden, was Deutschland leisten
kann und was es sinnvoll und effizient leisten sollte.
({29})
Ein militärischer Beitrag ist für uns keine Frage der Tagesordnung. Wir lehnen ihn im Nahostkonflikt aus
grundsätzlichen Erwägungen ab.
({30})
Im Übrigen - das wäre an anderer Stelle zu debattieren - drängt sich der Verdacht auf, dass Ihre Bereitschaft,
deutsche Truppen im Ausland einzusetzen, in diametralem Gegensatz zu Ihrer Bereitschaft steht, für die Bundeswehr mehr zu tun. Auch dies muss man deutlich sagen.
({31})
Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich noch ein
Wort an die in Deutschland lebenden Juden richten.
({32})
Sie sind loyale Bürger unseres Staates, aber es ist nur allzu
verständlich, wenn sie sich mit Israel in besonderer Weise
verbunden fühlen. In Israel leben viele ihrer Freunde, viele
ihrer Bekannten, vieler ihrer engsten Verwandten. Ich kann
die Verbitterung verstehen, wenn bei antiisraelischen Demonstrationen in Europa und ganz besonders in Deutschland antisemische Untertöne zu vernehmen sind oder wenn
es gar wie in Frankreich, aber leider auch schon vereinzelt
in Deutschland, zu offenen antisemischen Feindseligkeiten
kommt. Dies stößt auf unseren erbitterten Widerstand.
Kritik an der israelischen Politik ist in einer Demokratie ein selbstverständliches Recht. Wir treten aber ganz
entschieden all denen entgegen, die unter dem Deckmantel des Protestes gegen die israelische Politik
({33})
uralte antisemitische Klischees aufpolieren, um so aus
dem Leiden des Nahen Osten schäbiges politisches Kapital zu schlagen.
({34})
Für viele Zwischenrufe habe ich Verständnis, aber den
Zwischenruf, den ich gerade gehört habe,
({35})
verstehe ich nicht, besonders in Anbetracht unserer Verantwortung für Israel insgesamt und für die Situation der
Juden in unserem Lande. Hier sind Ängste vorhanden.
Mit denen kann man nicht so umgehen.
({36})
Herr Bundeskanzler, Sie haben das Thema Frankreich
und die französischen Wahlen angesprochen. Ich möchte
darauf kurz eingehen. Ich glaube, wir sind beide zutiefst
bedrückt darüber, zu welcher Stichwahlentscheidung es
gegenwärtig in Frankreich gekommen ist. Dies entspricht
mit Sicherheit nicht der politischen Kultur in diesem Land.
Aber es zeigt natürlich auch, zu welchen Schwierigkeiten
es kommt, wenn die großen Volksparteien Themen aus der
politischen Auseinandersetzung herauszunehmen versuchen, obwohl sie Themen der Gesellschaft sind.
({37})
Ich habe mit Sicherheit nicht weniger für Populisten
übrig als Sie, Herr Bundeskanzler.
({38})
Aber Sie müssen auch dafür sorgen, dass nicht rechtsextremistische und rechtsradikale Parteien weit über
ihren Anhang hinaus verärgerte, unsichere Bürger hinter
sich scharen können
({39})
und damit politisches Gewicht bekommen, das ihnen in
unserem Lande überhaupt nicht zusteht. Dafür werden wir
wieder sorgen.
({40})
Ich möchte in diesem Zusammenhang - weil Sie es angesprochen haben - deutlich den Unterschied zu Frankreich herausstellen:
({41})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({42})
Wir haben eine andere politische Kultur. Das ist richtig.
Aber es ist vor allen Dingen auch CDU und CSU in den
50 Jahren der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gelungen, rechtsextremistische und rechtsradikale
Parteien aus den Parlamenten herauszuhalten. Ich wäre
froh gewesen, wenn dies auch Ihnen gelungen wäre.
({43})
Die westlichen Staaten unter Führung der USA, die Europäische Union, Russland und auch wir in Deutschland müssen einen Beitrag zur Beendigung dieses schrecklichen Konflikts leisten. Aber ohne den Mut der verantwortlichen
Politiker im Nahen Osten, aufeinander zuzugehen, kann es
keinen Frieden geben. Wir können mit unseren diplomatischen, politischen und ökonomischen Möglichkeiten solche
Bereitschaft ermutigen und fördern. Wir wünschen den
Menschen im Nahen Osten, dass die führenden Persönlichkeiten ihrer Länder wieder den Mut und die Kraft finden, wie
sieAnwarelSadat,MenachemBeginundYitzhakRabinhatten, die gegen alle Tabus und Widerstände in ihren Ländern
offen und vertrauensvoll die Hände zueinander ausstreckten.
Herzlichen Dank.
({44})
Ich erteile nun Bundesminister Joseph Fischer das Wort.
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen
({0}): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Nachdem wir die beiden Vorredner, den Bundeskanzler und Ministerpräsident Stoiber
für die CDU/CSU, gehört haben, ist es für die deutsche
Außenpolitik und insbesondere die deutsche Nahostpolitik in diesem tragischen Konflikt wichtig, die Gemeinsamkeiten, die in beiden Reden zum Ausdruck gekommen
sind und die, wie ich denke, in diesem Hause breit getragen werden, zu Beginn meines Beitrags herauszuarbeiten.
Ich habe beiden Beiträgen Folgendes entnommen:
Erstens. Es besteht in der deutschen Nahostpolitik ein
breiter Konsens darüber, dass das Sonderverhältnis
Deutschlands zu Israel, das historisch begründet und von
David Ben-Gurion und Konrad Adenauer entwickelt
wurde, unverändert fortbesteht.
({1})
Zweitens. Wir alle bejahen uneingeschränkt das Existenzrecht Israels, und zwar ein Existenzrecht in sicheren
Grenzen und in Frieden ohne Angst vor Terror für den
Staat und die Bürgerinnen und Bürger.
({2})
Drittens. Wir wissen, dass die dauerhafte Sicherung der
Existenz Israels und seiner Menschen eine Umsetzung der
legitimen Interessen der Palästinenser in einem eigenen
Staat als wesentliches Element bedingt, einen Staat
Palästina, der in gemeinsamer Sicherheit als Nachbar
mit Israel in Frieden verbunden ist.
({3})
Viertens - auch das finde ich wichtig -. Die Rolle der
internationalen Gemeinschaft, vor allen Dingen des so
genannten Quartetts - die USA, die Europäische Union,
Russland und der Generalsekretär der Vereinten Nationen -, wird ebenfalls als zentraler Punkt angesehen. Angeführt wird die internationale Gemeinschaft ohne jeden Zweifel von den USA, die die entscheidende Rolle
spielen. Aber völlig klar ist auch - das hat leider der
Camp-David-Prozess gezeigt -, dass selbst die mächtigen
und großen Vereinigten Staaten von Amerika allein nicht
ausreichen, um als dritte Partei einen Frieden durchsetzen
zu können.
Eines allerdings, Kollege Stoiber, wird Ihnen der Bundeskanzler nicht beantworten können, nämlich die Frage
nach den Erörterungen des Bundessicherheitsrates;
({4})
denn diese unterliegen der Geheimhaltung.
({5})
Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um
einen tragischen Konflikt handelt. Es ist ein sehr gefährlicher Konflikt in unserer direkten und unmittelbaren
Nachbarschaft. Wir sind mit Israel historisch verbunden,
aber wir als Deutschland, wir Europäer sind auch unmittelbare Nachbarn dieser Konfliktregion. Wenn dieser tragische Konflikt eskaliert oder gar explodiert, würde das
Konsequenzen für die Menschen bei uns haben. Wir haben es auf furchtbare Art und Weise in Djerba erleben
müssen, dass es sich hierbei nicht nur um Vorhersagen,
sondern um ganz aktuelle Gefahren handelt. Deswegen ist
es so wichtig, dass die deutsche Außenpolitik, eingebettet
in die europäische Politik, hier als Friedenspolitik mit initiativ ist und zur Beendigung dieses tragischen Konflikts
beiträgt.
({6})
Ich weiß um die Kraft der Bilder. Aber ich warne davor,
allein auf die Bilder zu vertrauen. Man wird diesen Konflikt nicht verstehen, wenn man einseitig Schuldzuweisungen vornimmt; denn man wird dann mindestens
zur Hälfte falsch liegen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Es wird stattdessen ganz entscheidend drauf ankommen, die Gesprächsfähigkeit beider Seiten wieder herzustellen und sich in die Ängste der jeweils anderen Seite
hineinzudenken; denn nur auf dieser Grundlage wird es
möglich sein, den Friedensprozess erneut zu beginnen.
Das Fatale am Zusammenbruch des Camp-David-Prozesses war und ist, dass er zu einem völligen Zusammenbruch
des Vertrauens und auch der politischen Friedensvision
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({7})
geführt hat. Dies wieder herzustellen wird den beiden
Konfliktparteien allein nicht gelingen. Es wird hier vielmehr einer starken dritten Kraft, des Quartetts, bedürfen.
({8})
In diesem Zusammenhang ist die deutsche Position
zu sehen. Wer die ganze Komplexität in kurzer, zusammengefasster Form verstehen will, dem kann ich nur
empfehlen, das Interview mit Sari Nusseibeh, dem beeindruckenden palästinensischen Intellektuellen und Direktor der Al-Quds-Universität in Jerusalem, in der heutigen
Ausgabe der „Zeit“ zu lesen. Er bringt in diesem Interview die ganze Komplexität des Konflikts zwischen den
beiden Seiten in wenigen Sätzen zum Ausdruck und
macht klar, dass Schuldzuweisungen den Konflikt immer
weiter eskalieren lassen und dass stattdessen nur das Aufeinanderzugehen, ein historischer Kompromiss, eine Perspektive für die beiden Völker eröffnet.
({9})
Weder die Realität des palästinensischen Volkes noch die
des israelischen Volkes wird ungeschehen gemacht werden können, denn das wäre ein furchtbares Verbrechen. Es
wird also nur einen Kompromiss geben können. Wir müssen dazu beitragen, dass ein Kompromiss Realität wird.
Das ist gegenwärtig schwerer denn je.
({10})
Wir haben ein Ideenpapier entwickelt. „Ideenpapier“
deswegen, weil wir unsere Ideen in die Europäische
Union einbringen wollten. Das haben wir auch getan. Wir
haben vorher darüber mit der amerikanischen Seite intern
diskutiert. Ihren Versuch, Herr Ministerpräsident Stoiber,
hier Differenzen aufzubauen, verstehe ich nur als innenpolitisches Bemühen, in dieser Debatte zwischen Ihrer
und unserer Position Abstand zu schaffen. Ich dagegen
bin sehr froh, dass es hier einen breiten Konsens gibt. Ich
entnehme Ihren Worten auch keine Sachkritik an der Politik, die wir betreiben. Das freut mich. Denn ich kann aufgrund meiner Erfahrungen nur sagen: Wir brauchen hierbei in der Tat eine breite Unterstützung.
({11})
Warum? Es sind im Wesentlichen vier Elemente, die
ich für unverzichtbar halte, wenn wir wieder einen Friedensprozess in Gang setzen wollen: Das erste Element ist
die Schaffung zweier Staaten. Das hat auch Bush, Präsident des mächtigsten Staates des gegenwärtigen politischen Staatensystems, in seiner Rede vom 11. April - ich
finde, an dieser strategischen Orientierung sollten wir
unbedingt festhalten - zum Ziel erklärt. Selbst die USA
- die Europäer haben dies schon lange getan - erklären die
Schaffung zweier Staaten jetzt als Ziel, das es zu erreichen
gilt. Es bleibt für uns die Aufgabe, darüber nachzudenken,
wie wir eine Brücke bauen können, um aus der gegenwärtig furchtbar zugespitzten Situation heraus dieses
Endziel zu erreichen.
Meine Damen und Herren, aufgrund der Erfahrungen,
die ich vor allem im letzten Jahr gesammelt habe, sind drei
Dinge unverzichtbar, wenn es funktionieren soll: Erstens.
Wir brauchen einen Wegeplan, das heißt, die einzelnen
Schritte des Friedensprozesses müssen vereinbart sein. Das
allein führt aber zu gar nichts. Dann steht man noch immer
- diese Erfahrungen haben wir mit den hervorragenden
Vorschlägen des ehemaligen Senators Mitchell und seiner
Kommission gemacht - vor verschlossenen Türen und
kommt nicht voran, obwohl alle behaupten, sie seien dafür.
Denn es würde dann - zweitens - noch immer ein verbindlicher Zeitplan für beide Konfliktparteien fehlen.
Aber selbst ein solcher Zeitplan - ich verweise nur auf
Oslo, wo ein verbindlicher Zeitplan vereinbart wurde führt allein zu nichts. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Ich
verdeutliche das an einem praktischen Beispiel, damit die
Zuhörerinnen und Zuhörer es verstehen:
({12})
Wenn Sie im Nahen Osten eine Vereinbarung treffen, die
„Guten Tag“ heißt, dann interpretiert die eine Seite das als
„Guten Morgen“ und die andere Seite als „Gute Nacht“.
Das ist die Realität. Das bedeutet: Wenn Sie den Konfliktparteien die Umsetzung überlassen, dann werden Ihnen Wegeplan und Zeitmechanismus allein nichts nützen.
Deswegen brauchen Sie die Einbeziehung einer starken
dritten Partei. Sie ist sozusagen die Umsetzungsgarantie.
Diese Konsequenz müssen wir ziehen, wenn wir das Ziel
zweier Staaten, die in Frieden nebeneinander leben, erreichen wollen.
({13})
Diese Elemente liegen unserer Ideenskizze zugrunde,
weil es meines Erachtens diese Punkte sind, die umgesetzt
werden müssen. Ob eine Konferenz am Ende oder am Beginn dieses Prozesses steht, halte ich für eine zwar wichtige, aber taktisch operative Frage. Entscheidend ist, dass
wir jetzt auf der Grundlage der Realität im Nahen Osten
handeln. Wir müssen uns der Frage der Trennung stellen.
Diese Debatte beginnt in Israel. Diese Trennung nicht zu
nutzen, sondern politisch folgenlos zu lassen, sie nicht als
Beginn eines Friedensprozesses zu begreifen, hieße, eine
riesengroße Chance zu verspielen.
({14})
Allerdings darf diese Trennung, die kommen wird,
nicht dazu führen, dass man versucht, die Palästinenser
abzuriegeln. Das würde auf Dauer nicht funktionieren,
sondern nur zu einer weiteren Eskalation mit enormen Sicherheitsrisiken für Israel führen. Vielmehr muss - und
das sieht unser Ideenpapier vor - dieser Trennungsprozess
den Beginn eines politischen Prozesses einleiten, in dessen Zuge nicht völkerrechtliche Annexionen betrieben
werden und nicht ein dauerhafter Status festgeschrieben
wird, wohl aber Sicherheit und Entzerrung der Konfliktparteien entstehen.
({15})
Der zweite Schritt in diesem Zusammenhang ist mit der
palästinensisch-arabischen Seite zu diskutieren. Es geht
um die Idee unserer französischen Freunde, die auch vom
israelischen Außenminister Peres und vom palästinenBundesminister Joseph Fischer
sischen Verhandlungsführer, dem Parlamentspräsidenten
Abu Alaa, formuliert wurde, die Ausrufung eines palästinensischen Staates auf vorläufiger Grundlage, das heißt
ohne eine abschließende Entscheidung über den Endstatus, schnell vorzunehmen. Ich will zunächst darauf zu
sprechen kommen, warum das für die Palästinenser
schwierig ist, bevor ich die Vorteile nenne. Die Palästinenser fürchten, dass dieser Zwischenstatus quasi zu
einem Endstatus wird. Das wollen sie nicht. Sie sagen: Wir
begnügen uns heute schon mit 22 Prozent des ursprünglichen Territoriums - was wiederum von Israel aufgrund
des Teilungsbeschlusses der Vereinten Nationen von 1958
infrage gestellt wird - und wollen uns nicht mit weniger
begnügen. Diese Position ist durchaus ernst zu nehmen.
Dennoch meine ich, dass die französische Idee und der
Peres-Abu-Alaa-Plan an diesem Punkt einen großen Vorteil bieten. Denn ein Mangel der Osloer Verhandlungen
war doch, wie wir festgestellt haben, dass der demokratische Staatsaufbau, das heißt das Schaffen demokratischer Institutionen, in den palästinensischen Gebieten
nicht in dem Maße Priorität hatte, wie das der Fall sein
muss. Diese beiden Staaten werden immer aufs Engste
miteinander verbunden sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frieden funktionieren kann, wenn in Israel - der
Bundeskanzler hat das völlig zu Recht unterstrichen eine Demokratie besteht und zehn bis 15 Kilometer außerhalb von Jerusalem ein autoritäres Regime herrscht. Das
wird nicht zusammenpassen.
({16})
Deswegen ist die Frage des Aufbaus eines demokratischen Staates von zentraler Bedeutung.
Beide Konfliktparteien müssen einen Gewaltverzicht
leisten und Terrorismus aktiv und entschlossen, ohne
Wenn und Aber, bekämpfen. Beide Seiten müssen sich
verpflichten, Verhandlungen über den Endstatus zu führen und - das ist noch wichtiger - sie auch zum Abschluss
zu bringen. Wir schlagen dafür einen Zeitraum von zwei
Jahren vor. In diesem Zusammenhang muss es eine internationale Garantie zur Umsetzung dieses Beschlusses geben. Dieser Punkt ist zentral.
Herr Ministerpräsident, ich verstehe Sie ja: Es ist Wahlkampf und man muss darum auch Dissense herausstellen.
Ich kann Ihnen aber nur Folgendes sagen: Die Beteiligung
der Europäer und der Deutschen hat sich im Bereich des
Monitoring schon als sehr wichtig erwiesen. Nach dem
furchtbaren Attentat vor dem Dolphinarium am 1. Juni
letzten Jahres hat dieser Ansatz beim Versuch, einen Waffenstillstand hinzubekommen, ganz besonders im Süden
von Jerusalem Wirkung gezeigt. Er hat ganz besonders gut
in Beit Jala, im Süden von Jerusalem, zwischen Bethlehem
und Jerusalem, einem ganz besonders heißen Punkt, wo
nahezu nächtlich auf Gebäude israelischer Siedler geschossen wurde, funktioniert, weil dort sechs Monitore der
Europäischen Union, darunter auch ein Deutscher, tätig
waren. Die Arbeit dieser Geheimdienstmitarbeiter unter
Führung eines Briten, Alister Crooke, wurde von Ministerpräsident Sharon mir gegenüber mehrmals nachdrücklich gelobt. Dieses Modell des Monitoring ist meines Erachtens von entscheidender Bedeutung allein deshalb, um
die zentrale Frage der Terrorismusbekämpfung, ob jemand
festgenommen wurde, wo er und unter welchen Bedingungen er im Gefängnis sitzt, zu beantworten - was in der
Region alles andere als einfach ist.
({17})
Diese Monitore wurden zwar von Israel offiziell abgelehnt, weil die Internationalisierung abgelehnt wurde,
aber ihre Arbeit, die deshalb von mir ironisch als „nonexisting monitoring“ bezeichnet wurde, wird dort sehr geschätzt; sie haben bei den oben beschriebenen Aufgaben
eine sehr wichtige Funktion wahrgenommen. Darum geht
es doch bei einem Sicherheitsmechanismus. Dass das zu
mehr führen muss, kann doch heute beim besten Willen
niemand behaupten.
({18})
Schon gar nicht, Herr Glos, wird eine Ausweitung des
Mandats gegen den Willen der Konfliktparteien möglich
sein. Das zu glauben ist doch völlig abstrus.
({19})
- Ich weiß, dass Sie hauptsächlich die innenpolitische
Kontroverse interessiert, mich interessiert aber der Friedensprozess.
({20})
Da ist ein solcher Mechanismus von zentraler Bedeutung.
All das kann nur erreicht werden, wenn die dritte Partei
zusammenhält.
Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, noch einen Aspekt in diesem Zusammenhang anzusprechen. Ich
halte auch deswegen nichts von Sanktionen, weil diese
nicht wirken werden.
({21})
In der Europäischen Union und im Europaparlament gab
es diesbezügliche Forderungen. Die einzige Wirkung, die
Sanktionen der EU hätten, wäre, dass das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Israel endgültig
zerrüttet würde. Selbst wenn ich zu 100 Prozent der Meinung derer wäre, die für diese sehr israelkritische Position
eintreten - ich teile diese Meinung überhaupt nicht -,
würde ich sagen: Frieden stiftet man nicht mit sich selbst,
sondern man muss Gespräche mit beiden Seiten führen.
Deshalb kommt es zentral darauf an, dass die Europäische
Union gesprächsfähig bleibt.
({22})
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nochmals
an diesem Punkt versichern: Wir als Bundesrepublik
Deutschland stehen historisch in einem Sonderverhältnis
zu Israel. Daran gibt es nichts zu deuten und daran darf
von niemandem gerüttelt werden. Ich fände es gut, wenn
das hier von allen Fraktionen eindeutig klargestellt würde
und wir im jetzt beginnenden Wahlkampf keine Kontroversen über diesen Punkt hätten.
Zum einen ist besonders wichtig, dass wir den jüdischen Deutschen, unseren jüdischen Bürgern - man muss
nicht die Frage der Loyalität betonen, wir betonen auch
nicht die Loyalität von nicht jüdischen Deutschen -,
({23})
das Gefühl geben, dass wir an ihrer Seite stehen, dass Antisemitismus in Deutschland keine Chance mehr hat und
dort, wo er auftaucht, mit aller Macht des Staates, der
Justiz und der Politik bekämpft wird.
({24})
Zum anderen müssen wir in Europa und in der Welt mit
unserer ganzen Kraft dafür eintreten, den Frieden, der so
unwahrscheinlich geworden, aber zugleich so alternativlos
ist, zu erreichen. Wie hat ein Außenminister aus der Region
bei meinem letzten Besuch gesagt: Es ist absurd, dass wir
wissen, wie das Ergebnis sein wird und sein muss - zwei
Staaten -, aber nicht wissen, wie wir dort hinkommen; jetzt
sterben deswegen viele unschuldige Menschen. Wir müssen unsere ganze Kraft darauf richten zu erfahren, wie wir
diesen Frieden erreichen, nämlich das Ziel von zwei Staaten, verbunden in Frieden und gemeinsamer Sicherheit.
({25})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Es gibt Debatten, in denen man nicht mit dem Mikroskop
nach Unterschieden suchen sollte. Man sollte vielmehr
einmal sagen, dass die Zielrichtung deutscher Politik gegenüber Israel in Bezug auf die Lösung dieses Konflikts
im Großen und Ganzen stimmt. Es gibt dazu keine ernsthafte Alternative.
({0})
Diese Politik wurzelt zutiefst in den Grundbausteinen
unseres Landes. Sie ist ein Stück weit wie die deutschfranzösische Freundschaft; sie ist ein Stück weit wie die
europäische Einbettung deutscher Politik. Man kann sie
als ein Stück Staatsräson aus der Gründungsgeschichte
unserer Bundesrepublik heraus beschreiben. Die FDP
hat diese Politik immer mitgetragen und dabei bleibt es
auch.
({1})
Wir suchen keine falsche Kontroverse.
Es ist wichtig, zu sagen: Diese Politik hat sich niemals,
unter keinem Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, gegen legitime, verständliche Interessen des palästinensischen Volkes gerichtet. Genauso wie Deutschland
aus geschichtlicher Verantwortung und demokratischer
Überzeugung an der Seite Israels stand, hat es auch niemals die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes
zurückdrängen wollen.
Jedem ist klar - der Außenminister hat es zum Ausdruck gebracht -: Natürlich haben die Palästinenser ein
Recht auf ihren eigenen Staat. Er wäre im Übrigen - das
dürfen wir auch unseren Freunden und der israelischen
Gesellschaft, die das in ihrer überwiegenden Mehrheit
weiß, offen sagen - zugleich die beste Garantie für die
Sicherheit Israels, viel besser als die Panzer, die dort jetzt
in bestimmten Gebieten stehen.
({2})
Neben unseren zahlreichen Bemühungen um Konfliktlösungen ist es auch richtig, den beiden Gesellschaften einiges mit kluger Wortwahl zu sagen. Es ist ein tragischer
Irrtum der dort Verantwortlichen, sowohl des Vorsitzenden der Palästinensischen Autonomiebehörde als auch
des israelischen Ministerpräsidenten, zu glauben, auf der
einen Seite mit Gewalt mehr zu bekommen und auf der
anderen Seite mit Gewalt und Druck weniger geben zu
müssen. Darin wird keine Lösung liegen.
({3})
Mit Bezug auf eine Passage der Rede des bayerischen
Ministerpräsidenten stelle ich ganz eindeutig fest - im
Grunde genommen ist es auch die Konsequenz dessen,
was der Bundesaußenminister vorgetragen hat -: Natürlich wissen die meisten dort, dass am Ende zwei Staaten
friedlich nebeneinander leben müssen. Die Kernfrage ist,
ob die Führungen dort die Courage haben, ihren jeweiligen Gesellschaften die Tabuschwellen zu nehmen und ihnen etwas zuzumuten.
({4})
Daran, dass dies bisher nicht der Fall war, sind die Lösungen gescheitert.
Bei uns besteht das Tabu, der palästinensischen Seite
ganz offen zu sagen: Wenn wir in Deutschland auf
Straßen, auf Plätzen, in Restaurants, in Kinos Ähnliches
wie das erleben müssten, was palästinensische Selbstmordattentäter in Israel tun, dann könnte auch bei uns niemand mit Sicherheit behaupten, ob er die Fähigkeit entwickeln würde, jeden Tag wieder in einen Dialog
einzutreten, jeden Tag wieder zu akzeptieren, dass der
Dialog der richtige Weg zu einem Staatswesen ist.
({5})
Deshalb muss man der palästinensischen Seite, auch dem
palästinensischen Volk sagen: Kein Widerstandsrecht der
Welt legitimiert jemanden, Selbstmordattentäter auf die
Straße zu schicken, im Übrigen auch nicht, Kindern Attrappen um den Bauch zu binden, um auf diese Weise für
sein Recht zu kämpfen. Das ist nicht akzeptabel.
({6})
Kollege Gerhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Struck?
Ja, natürlich.
({0})
Jetzt kommt kein Wahlkampf. Seien Sie einmal ganz friedlich!
Herr Kollege Gerhardt, darf ich Sie fragen, wie Ihre soeben vorgetragenen Bemerkungen über die „Legitimität“
von palästinensischen Terrorakten - ich unterstreiche Ihre
Worte absolut - mit Äußerungen Ihres Kollegen
Möllemann zu vereinbaren sind? Darf ich Sie bitten, sich
von den Äußerungen des Kollegen Möllemann zu distanzieren?
({0})
Wenn Sie wie ich die
Meldung über die Äußerungen des Kollegen Möllemann
gelesen hätten, die über den Ticker gegeben worden sind
- zehn Minuten, nachdem diese Missverständnisse aufgetreten sind -, hätten Sie die Zwischenfrage als entbehrlich
empfunden.
({0})
Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist die Haltung der gesamten FDP, jedes einzelnen Mitgliedes; nichts anderes gilt.
({1})
Ich schlage Ihnen vor, dass wir beide uns bei einer Tasse
Kaffee über die beiden Meldungen unterhalten. Dann
können wir das hier völlig herauslassen. Bitte bauen Sie
keinen Popanz auf!
Dieser Bemerkung mit Blick auf die palästinensische
Seite füge ich hinzu, dass es die israelische Regierung
ihren Freunden auch verdammt schwer macht.
({2})
Da vorhin gesagt worden ist, dass wir auch deshalb so
an der Seite Israels stehen, weil das die weithin einzige
Demokratie in dieser Region ist, möchte ich den israelischen Freunden und ihrer Gesellschaft sagen: Unter
Demokraten muss man sich auch öffentlich etwas sagen
können. Das, was wir von deutscher Seite unseren israelischen Freunden und der israelischen Gesellschaft
- aber eher noch der israelischen Regierung - öffentlich
kritisch sagen, ist nicht antisemitisch, trifft nicht das
israelische Volk, sondern gehört zur normalen Aussprache zwischen Gesellschaften und Regierungen über
wichtige weltpolitische Themen. Dies muss so sein.
({3})
Deshalb sagen wir das klar an die Adresse der israelischen Regierung: Es wird dort am Ende nur Frieden geben, wenn die Palästinenser einen Staat bekommen, der
nicht so löchrig ist wie ein Schweizer Käse. Deshalb muss
die israelische Regierung zusammen mit dem israelischen
Volk die Tabuschwelle im Hinblick auf die Siedlungspolitik durchbrechen, die Siedlungen zurücknehmen und
die Panzer aus diesen Gebieten zurückziehen.
({4})
Daran führt kein Weg vorbei. Das weiß auch die Mehrheit
in der israelischen Gesellschaft. Deshalb ist es nicht misszuverstehen und nicht falsch zu interpretieren, wenn ein
deutscher Demokrat oder eine deutsche liberale und demokratische Partei dies auch den israelischen Freunden und
der dortigen Gesellschaft sagt. Nichts daran ist ungewöhnlich, sondern es stärkt sogar das Gefühl richtig verstandener Zusammenarbeit, wenn man sich unter Freunden etwas öffentlich sagen kann.
({5})
Das wollte ich hier einmal klar ausdrücken: Wir sollten
auf eine innenpolitische Diskussion der Schuldzuweisung verzichten, wenn jemand in einer öffentlichen Debatte stilsicher und präzise ein solches Wort ergreift.
Wir wissen - der Bundesaußenminister hat das auch
ausgedrückt -, dass diese beiden Gesellschaften, die beiden
Völker wahrscheinlich aus eigener Kraft, auch wenn sie das
Ziel kennen, die nächste Wegstrecke nicht so verabreden
können, dass eine entsprechende Vereinbarung hält und
trägt. Deshalb muss internationaler Druck aufgebaut werden und muss am Ende eines solchen Prozesses und einer
solchen Lösung eine internationale Sicherheitsgarantie stehen. Daran führt überhaupt kein Weg vorbei, weil wir wissen, dass Misstrauen zwischen den beiden Parteien noch
auf längere Zeit bestehen wird und dies nur - mindestens in
seinen extremen Auswirkungen - abgebaut werden kann,
wenn beide eine Sicherheitsgarantie bekommen.
Im Übrigen werden Pläne für vertrauensbildende
Maßnahmen, wie sie aus dem Osloer Prozess hergeleitet
wurden, nicht mehr hilfreich sein. Wir müssen sehr schnell
zu einer endgültigen Lösung kommen. Ich glaube, dass der
Prozess, dessen dramatische Auswirkungen wir heute besprechen, im Kern ein Prozess der gescheiterten Vertrauensbildung gewesen ist. Mir erscheint es nicht sehr Erfolg
versprechend, erneut einen solchen Prozess zu initiieren
und die palästinensische Seite wieder auf ein Staatswesen
zu vertrösten, das dereinst nach einem Jahrzehnt kommen
soll. Ich glaube, dass das palästinensische Volk diese
Chance in absehbarer Zeit wahrnehmen können sollte.
Noch eine Bemerkung zur arabischen Welt: Das sind
Länder, die sich in Deutschland oft argumentativ beteiligen, deren Bürgerinnen und Bürger ich auch oft bei Demonstrationen sehe und die uns Vorschläge unterbreiten,
wie wir mit der arabischen Welt umgehen sollten. Zur Offenheit gehört auch, der arabischen Welt zu sagen: Wir haben kein Verständnis dafür, dass Länder aus dieser Region
mit ihren nationalen Eliten so wenig zu konstruktiven Lösungen dieser Katastrophe beigetragen haben
({6})
und, obwohl sie nicht arm sind, nicht die Kraft aufgebracht
haben, den Palästinensern in den Lagern menschlich ein
Stück weit Perspektive zu bieten: im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, auf soziale Sicherheit, auf Bildung und Qualifizierung. Nur in Europa kraftvoll als Arabische Liga zu
sprechen und uns Vorschläge zu machen, reicht nicht aus.
Die nationalen Eliten müssen sich auch selbst fragen, was
sie denn in ihren Ländern zustande bringen, um einen Beitrag zu diesem Prozess zu leisten.
({7})
Die deutsche Politik hat einen breiten politischen Konsens. Sie hat auch Substanz. Sie kann mit unseren europäischen Nachbarn zusammen auf ein Vertrauenskapital
bauen, das sie in langen Jahrzehnten mit Solidarität zu Israel auch in der arabischen Welt aufgebaut hat. Deutsche
Politik hat man niemals als einseitig verstanden, obwohl
alle genau wussten, dass wir an der Seite Israels stehen.
Das ist ein Stück außenpolitischer Kunst und Fähigkeit,
die von allen Außenministern in der Kette - auch von Ihnen, Herr Bundesaußenminister - entwickelt und beibehalten worden ist. Das ist ganz enorm wichtig.
({8})
Deshalb wollen wir dieses Kapital nutzen. Sie haben
einige Vorschläge gemacht. Ich will Sie ermuntern, auf einem Weg zu bleiben, der ein stärkeres europäisches Engagement beinhaltet. Natürlich wird der Schlüssel zur Lösung in den Vereinigten Staaten bleiben. Aber auch die
einzige übrig gebliebene Supermacht spürt in diesen Tagen - die Colin-Powell-Reise mag von Ihnen, Herr Bundeskanzler, anders interpretiert worden sein -, dass es eine
Erkenntnis gibt: Pendeldiplomatie reicht nicht mehr aus.
Wenn die Europäische Union, ohne dass die Staaten
auseinander getrieben werden können, jetzt nicht mit den
Vereinigten Staaten an einem Strang zieht, wirklich Druck
aufbaut und sich dabei - dazu diente die Madrider Konferenz - Bundesgenossen an die Seite zieht, die in die jeweiligen Gesellschaften und in die politischen Führungsebenen hinein wirken können, dann wird das nichts
werden. Nachdem der Prozess in Madrid begonnen
wurde, darf er keinen Millimeter zurückgedreht werden.
Es geht nicht nur um einen israelisch-palästinensischen
Konflikt, es geht doch um die gesamte Region. Auch mit
einer Regelung über die Grenze zwischen den beiden Gesellschaften und Staaten wäre doch die Arbeit noch nicht
geleistet. Die ganze Region wartet darauf, sich so zwischen Regierungen und zwischen Gesellschaften zu verständigen, wie das mit dem Helsinki-Prozess in Europa
eingeleitet worden ist. Ich erinnere mich daran, dass wir
eher belächelt wurden, als wir hier den Antrag stellten
- wir haben uns nie etwas vorgemacht -, recht frühzeitig
so etwas wie eine Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten einzurichten. Sie haben von
der Regierungsbank genauso gelächelt, wie das die
frühere Oppositionspartei CDU/CSU gemacht hat, als
Hans-Dietrich Genscher das für Europa vorgeschlagen
hat. In Europa hat man geglaubt, Helsinki könne nichts
werden. Das war die alte bipolare Welt, in der sich die beiden Seiten in unterschiedlichen Systemen waffenstarrend
gegenüber standen.
Was ist denn die Alternative für eine freiheitliche Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland dazu, zu
Konfliktlösungen beizutragen? Es gibt keine Alternative.
Wir müssen auch die arabische Welt dazu bewegen, endlich die kommunikativen Fähigkeiten zu entwickeln, mit
anderen Staaten zusammenzuarbeiten, und nicht in ihrem
nationalen und gesellschaftlichen Gehäuse zu bleiben.
Sonst wird das nichts werden.
({9})
Es muss über die Wasserrechte gesprochen und über die
ökonomischen Zukunftschancen verhandelt werden. Es
muss Transparenz in die militärischen Kapazitäten in dieser Region kommen. Vertrauensbildung nur zwischen Israel und Palästina reicht nicht aus. Diese Region muss jetzt
wissen, wo ihr Platz in der Zukunft ist. Den wird sie nicht
behalten, wenn sie den Konflikt aus ihren gesellschaftlichen Schichten schürt, wenn die Staatsmänner dieser
Ebene nicht die Kraft haben, ihren Völkern zu sagen, dass
die extremen Gruppen jetzt zurückgedrängt werden müssen. Um es auf den Kern zurückzuführen: Wenn der israelische Ministerpräsident nicht die Kraft hat, der rechten
Seite Einhalt zu gebieten, wird der Friedensprozess in einer
Gesellschaft schwieriger. Wenn Arafat nicht die Chance
und nicht die Kraft hat, seinen Extremen Einhalt zu gebieten und es ihnen auch zu sagen, und zwar in der palästinensischen Sprache und nicht in Englisch, dann wird das
nichts werden. Auch der beste Vorschlag des saudi-arabischen Kronprinzen nützt nichts, wenn die nationalen
Führungseliten der arabischen Staaten ihre Gesellschaften
nicht endlich hinter solche Vorschläge bringen.
({10})
Die Gipfelkonferenzen vieler arabischer Staaten sind
doch beredtes Zeugnis dafür, dass dort die Kultur der Zusammenarbeit noch nicht das Maß erreicht hat, das für
eine wirkliche Friedensregelung im Nahen Osten zielführend wäre.
Wir sind der Überzeugung, da die beiden Gesellschaften in ihrer großen Mehrheit eigentlich genau wissen,
worauf es hinauslaufen muss, dass mit Sicherheit in jeder
Familie in Israel - in Jerusalem, in Tel Aviv, wo immer sie
sind - genauso über die Zukunft gesprochen wird, wie wir
das hier meistens getan haben. Sie wissen, dass es nur
dann Frieden gibt, wenn die beiden Völker in gesicherten
Grenzen nebeneinander leben können.
Deshalb weiß das palästinensische Volk auch, dass es
seine Zukunft nicht durch Selbstmordattentäter herbeibomben kann, und die israelische Gesellschaft weiß, dass
Sicherheit für das israelische Volk nicht durch Hineinfahren von Panzern in palästinensische Gebiete erreicht werden kann. Das bei jedem Treffen mit den Freunden dort
öffentlich auszusprechen ist unverzichtbar.
({11})
Deshalb wollen wir uns nichts vormachen. In der heutigen Debatte bleibt uns einstweilen nur ein Stück Hoffnung, dass es so gehen wird. Am Ende aber, glaube ich,
werden wir alle davon überzeugt sein, dass es das sein
wird. Je eher es geschieht, desto besser. Deshalb ist es
aber auch unsere Pflicht als deutsche Demokraten, mit unseren israelischen Freunden und mit denjenigen, die in
Palästina - das wäre vom Osloer Prozess her schon jetzt
geboten gewesen - Demokratie aufbauen wollen, die
Arafat in diesem Maße nicht konstruktiv aufgebaut hat,
hierüber ohne Vorbehalte zu reden. Deshalb wäre es auch
für die beiden, die ein Interesse nicht nur an einer friedlichen, sondern auch an einer freiheitlich-demokratischen
Zukunft haben, wichtig, die offene Aussprache zu suchen,
mit guten Stilmitteln, mit guten Worten, aber ohne die
Lage zu beschönigen.
Dies sagen wir am Ende einer solchen Aussprache als
überzeugte solidarische Freunde Israels, aber auch als
Brückenbauer in eine arabische Welt. Wir wollen, dass
dort Frieden herrscht, weil auch unsere Sicherheit und unsere Existenz vom Frieden in dieser Region abhängt.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile dem Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gerade zehn
Jahre her, da hat es so etwas wie eine Hoffnung, wie einen
Aufschwung im Nahen Osten gegeben. Der Frieden war
greifbar nahe. Palästinenser und Israelis machten sich auf
einen gemeinsamen Weg. Es schien so, als hätten sich
Partner gefunden, Partner, die bereit waren, Berge von
Misstrauen abzubauen, Steine aus dem Weg zu räumen.
So hieß dann auch ein Buch, das Schimon Peres zu jenem
Zeitpunkt geschrieben hat: „Die Versöhnung: der neue
Nahe Osten“. Diese historische Chance hat er so beschrieben, dass in der Region versucht werden muss, miteinander so zu kooperieren, dass sie zu einer Region des
Friedens werden kann. Das ist ein alter Gedanke. Abba
Eban hatte ihn schon 1964 beschrieben: Das Schicksal
dieser Region liege in der pluralistischen Zusammenarbeit Asiens, Europas und Afrikas, des Judentums, des
Christentums und des Islam.
Die Sorgen hat Schimon Peres in seinem 1993 erschienenen Buch allerdings auch schon beschrieben. Die heraufziehenden Gefahren hat er genau erkannt. Er warnte davor, dass „Fanatismus, Fundamentalismus und falscher
Messianismus“ aus dem Hass geboren werden könnten und
die Spur zum Krieg legen könnten. Er hat aber auch deutlich gesagt, - dabei hat er sich auf die innerisraelische Debatte bezogen -, dass die Frage, welches Israel, nicht auf
territoriale Fragen verkürzt werden dürfe. Er hat ausdrücklich Yehezkel Kaufmann zugestimmt, der geschrieben hat:
Es gibt keinen Zusammenhang zwischen sicheren
Grenzen und dem wahren Israel, auch nicht zwischen
sicheren Grenzen und dem idealen Land und dem
idealen Staat, den die Nation historisch anstrebte.
Das ist der tiefe Unterschied zu dem im gleichen Jahr
erschienenen Buch von Netanjahu „A place among the
Nations: Israel and the World“.
Da ist der Widerspruch zwischen zwei Hälften der israelischen Gesellschaft erkennbar. Netanjahu schreibt:
Ohne Kampf um das Überleben endet das Leben selbst. Er
und ein Teil der Rechten schreibt, dass die Juden niemals
wieder hilflose Opfer sein dürfen und zu einem Volk geworden sind, das „stark genug ist, über sein eigenes
Schicksal zu bestimmen“.
Über die beiden Bilder von Israels Rolle im Nahen
Osten gibt es seit dem Oslo-Prozess einen erbitterten
innergesellschaftlichen Streit. Es ist aber doch gerade die
Stärke der israelischen Demokratie, dass es diese Debatte in Israel gibt. Ich finde, das ist ein Beweis dafür, dass
die Chancen in Israel groß sind, dass dieser Kampf so ausgetragen werden kann, dass die Demokratie dabei wächst.
Das ist ein deutlicher Unterschied zu den Bildern, die
die Palästinenser in die Region projizieren. Sie haben
noch nicht die innere demokratische Kraft gefunden, auch
selbstkritisch mit der eigenen Zukunft umzugehen und
eine gemeinsame, kooperative Lösung in der Region zu
schaffen.
Ich bitte darum, dass unsere Kritik, wenn sie denn an
Israel gewendet werden darf, mit vollem Verständnis für
die, die innerhalb Israels um das Selbstbild des eigenen
Landes kämpfen, einhergeht. Unsere Kritik kann nur in
Sympathie für die Kolleginnen und Kollegen in Israel erfolgen.
({0})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Nickels? - Bitte.
Herr Kollege Weisskirchen, ich stimme mit allem überein,
was Sie sagen; aber ich habe eine Frage, die mich wirklich schier zur Verzweiflung treibt: Wie soll man praktisch
ein Stück weiterkommen, wenn, bei allem, was Sie an
richtiger Kritik bezogen auf beide Seiten gesagt haben, in
dem Prozess, in dem auch international alle Kräfte mobilisiert werden, um auf den Weg des Friedens zu kommen,
der israelische Ministerpräsident Scharon ankündigt - das
hat er vorgestern getan -, dass er bei Hebron, also im
Kernland, wieder eine neue Siedlung errichten will?
({0})
Liebe Kollegin Nickels, offensichtlich haben Sie nicht wirklich das
innere Verständnis dafür gefunden, unter welch ungeheurem Druck die israelische Gesellschaft jetzt einen Weg
sucht, um selbst zum Frieden zu gelangen. Dies ist und
bleibt unbezweifelbar das Ziel Israels. Aber angesichts
der terroristischen Anschläge im eigenen Land müssen
Sie bitte Verständnis dafür haben - Sie müssen nicht jeden einzelnen Schritt der Regierung Scharon billigen -,
dass sich der Binnendruck, unter dem die Regierung
Scharon jetzt arbeitet, einen eigenen Weg sucht. Dass er
sich auf die militärische Karte verengt, ist unsere Kritik.
Wir möchten gerne, dass eine politische Strategie erkennbar wird, durch die ein gemeinsamer Ausweg aus dieser
schweren Krise gefunden wird. Dabei wollen wir alle Israelis unterstützen.
({0})
Es gibt noch eine
Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Vollmer. - Bitte.
Herr Kollege, ich finde es schwer nachzuvollziehen,
wenn Sie sagen, wir sollten Verständnis für den Binnendruck in Israel entwickeln, und meinen, dass wir damit
auch Verständnis für eine neue Entscheidung in der Siedlungsfrage in dieser Situation aufbringen sollen. Können
Sie sich vorstellen, welchen Binnendruck die Fortsetzung
der Siedlungspolitik auf palästinensischer Seite erzeugt?
Jeder von uns
weiß, liebe Kollegin Vollmer, dass - das hat der Außenminister hier sehr klar und sehr deutlich beschrieben - der
Weg aus diesem Konflikt nur dann möglich ist, wenn
beide Seiten, Palästinenser und Israelis, zu jenem Verhandlungsprozess zurückfinden, der in der Zwischenzeit
durch Gewalttaten, durch terroristische Anschläge, die ja
von einer Seite begonnen worden sind, unterbrochen worden ist. Das ist unser Ziel. Jeden, der diesen Verhandlungsprozess stört, durch welche Taten auch immer, müssen wir kritisieren. Das geschieht auch.
({0})
Diese Chance wurde in Oslo vielleicht deswegen verspielt - vergessen Sie das bitte nicht; das hat der Außenminister schon deutlich gemacht -, weil es ein unterschiedliches Verständnis jenes Prozesses gegeben hat.
Arafat hat aus diesem Prozess etwas anderes abgeleitet als
die israelische Seite. Bedenken Sie doch bitte: Am Ende
der Verhandlungsrunde in Oslo wurde von palästinensischer Seite plötzlich die Forderung erhoben, es müsse
am Schluss des Verhandlungsprozesses das Rückkehrrecht der 1948 Geflohenen eingebaut werden.
Herr Ministerpräsident, Sie haben das Thema Vertriebene ebenfalls erwähnt. Warum sollte es nicht denkbar
sein, mit der arabischen Seite darüber zu reden, wie man
eine gemeinsame Konzeption finden kann - dieser Prozess braucht die Unterstützung der Europäer und damit
auch der Deutschen -, damit nicht immer und immer wieder die Vertriebenen als ein Instrument genutzt werden,
um den Friedensprozess zu gefährden? Müssen wir nicht
vielmehr zu diesem Prozess beitragen und unsere Erfahrungen, die wir in Europa und in Deutschland gemacht haben, anbieten, die zeigen, dass dieses Thema in der politischen Auseinandersetzung nicht verwendet werden darf ?
Die Tatsache, dass es Vertriebene gibt, sollte dazu führen,
dass es in dieser Region endlich zur Befriedung und zur
Pazifizierung kommt.
({1})
Liebe Frau Vollmer und liebe Frau Nickels, Verständnis kann doch nur da beginnen, wo Gewalt aufhört. Wo
Gewalt aber zum Selbstzweck wird, beginnt Terror. Mich
erschreckt es einfach, wenn ich lesen muss, dass Ahmed
Abdelrahman, der Generalsekretär der palästinensischen
Autonomiebehörde, kürzlich nach dem Selbstmordanschlag bei Haifa öffentlich gesagt hat - so war es in der
„FAZ“ zu lesen -, dass er jenen Selbstmordanschlag billigt; denn Palästinenser hätten nun keine andere Wahl, als
sich in lebende Bomben zu verwandeln. Demjenigen, der
so etwas denkt, und das auch noch als Generalsekretär einer verantwortungsbewussten Organisation, muss man
einfach Einhalt gebieten.
({2})
Ginge die Bereitschaft, sich zu verstehen, verloren,
dann würde schließlich nackte Angst um die persönliche
und kollektive Existenz jenen Platz besetzen. Ist es nicht
fast schon so, dass jeder Terroranschlag gegen Zivilpersonen den Einsatz militärischer Gewalt geradezu provoziert? Dies wäre eine Spirale ohne Ende.
Warum nur erweckt Yassir Arafat den Eindruck, als
wolle er dem furchtbaren Treiben nicht überzeugend genug Einhalt gebieten? Vielleicht deshalb, weil der Terror
gegen die Zivilbevölkerung zum einzigen Kampfmittel
geworden ist. Was aber wäre der Charakter Palästinas,
wenn am Ende dieses Palästina auf den Gräbern von jenen Märtyrern aufgebaut würde, die ihr Leben als Fanal
hingeben? Ein furchtbarer Gedanke! Das wäre ein
schrecklicher Charakter jenes Landes, für dessen Existenz
wir uns gemeinsam einsetzen.
Die Bundesrepublik Deutschland - der Außenminister,
der Bundeskanzler und auch der Ministerpräsident haben
es deutlich gesagt - verbindet mit Israel - das gibt es sonst
nicht in der Staatengemeinschaft - ein Bündnis, das nicht
zerbrechen darf. Adenauer und Ben Gurion haben es geschlossen. Dieses Bündnis gilt; wir haben eine besondere
Verantwortung gegenüber Israel. Wenn die staatliche
Existenz Israels infrage gestellt wird, dann wird Deutschland Partei und dann wird Deutschland Partei bleiben.
({3})
Alle Bürgerinnen und Bürger in Israel müssen ihr Leben ohne Terrorangriffe in sicheren und anerkannten
Grenzen führen können. Deshalb hat Israel auch ein Recht
auf Selbstverteidigung. Auch dieses Recht auf Selbstverteidigung unterliegt internationalen Regeln. Kürzlich
schrieb die „Washington Post“ über den israelischen Regierungschef:
Wenn Scharons Armee Frauen und Kinder tötet, unbewaffnete Männer foltert und terrorisiert und das
Eigentum und die Würde der Menschen im Westjordanland zerstört, bewirkt sie das Gegenteil von
dem, was sie erreichen will.
Mich bedrückt es sehr, den Eindruck kaum noch abwehren zu können, dass eine überzeugende politische
Strategie von Ariel Scharon kaum zu erkennen ist. Beide
Seiten können den Konflikt gegenwärtig wohl nicht alleine bewältigen. Zu sehr sind sie Gefangene ihrer jeweils
gegeneinander gerichteten Ängste geworden. Irritierend
und tragisch ist, wie sich beide mehr und mehr ineinander
verstricken. Der Schlüssel, der die Tür zu einer anderen
Zukunft öffnen würde, wäre vermutlich, auf Gewalt zu
verzichten.
Beide wissen doch, dass sie in der Region nur gemeinsam überleben können und dass sie sich ihre jeweiligen
Nachbarn und Partner sowie deren Regierungen nicht
aussuchen können. Sie sind aufeinander angewiesen. Der
Sinn des Prozesses, den der Außenminister vorantreibt,
den die Bundesregierung unterstützt und auf den sich die
internationale Staatengemeinschaft verpflichtet hat, ist es,
dieses Denken wiederzubeleben.
({4})
Noch ein Wort zur politischen und religiösen Repräsentanz vieler arabischer Länder: Auch sie sollten aufhören,
Terror als Widerstandskampf zu heroisieren. Durch die
Rede, die am letzten Freitag in Mekka gehalten wurde,
wurde erneut Öl ins Feuer des Konfliktes geschüttet und es
wurde versucht, ein Fanal zu erzeugen. Dies sind in der Tat
Aufgaben, die wir gemeinsam bewältigen müssen. Lieber
Kollege Gerhardt, ich frage mich allerdings, ob „drücken“
bzw. „schieben“ - wie auch immer Sie es bezeichnet haben - wirklich einen Sinn macht. Das wissen wir nicht.
Der Herr Ministerpräsident hat offensichtlich den Antrag der Union nicht gelesen, da er Kritik an der Regierung geäußert hat. Lesen Sie bitte einmal Punkt 5 Ihres
Antrags, lieber Herr Stoiber.
({5})
In diesem wird gefordert - zugegebenermaßen kommt das
Wort „Sanktionen“ nicht vor -, dass durch die Bundesregierung Maßnahmen auf der europäischen Ebene eingeleitet werden sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
was würde geschehen - denken wir eine Sekunde darüber
nach -, wenn solche Überlegungen Realität würden?
Glauben Sie denn wirklich, dass dann die Europäische
Union in der Region und besonders in Israel als ein
freundlicher Partner aufgenommen werden könnte? Glauben Sie denn, dass dann ein Friedensprozess vorankommen könnte? Entschuldigung, aber wer das glaubt, hat offensichtlich nicht begriffen, dass Sanktionspolitik genau
das Gegenteil dessen auslöst, was in diesem Falle von denen, die es aufgeschrieben haben, gewünscht wird. Der
Weg, der hier eingeschlagen werden soll, ist falsch.
({6})
Nein, die Intifada begann als Volksaufstand. Die Antwort des israelischen Militärs hat die Intifada zusammenbrechen lassen. Die Terroranschläge von Palästinensern
und die darauf folgende militärische Härte rufen Gefühle
der Verwirrung, Verzweiflung und Angst hervor. Dennoch
gibt es für beide keine andere Möglichkeit, als auf den
Weg zurückzugehen, der in Oslo begonnen hat. Diesen
müssen sie von neuem begehen, damit diese Region die
Chance hat, Partner der Europäischen Union sowie der internationalen Staatengemeinschaft zu werden und im Innern eine gute Nachbarschaft zu erreichen. Es muss dafür
gesorgt werden, dass Palästina international anerkannt
wird und dass Israel endlich das volle und eindeutige
Recht erhält, in seinen Grenzen zu existieren.
Das ist das Ziel der deutschen Außenpolitik. Für dieses
Ziel werden sich die Sozialdemokraten einsetzen, damit
die Bundesregierung in gleicher Weise weiterarbeiten
kann. Wir wünschen uns sehr, dass der Außenminister mit
seinen Gesprächen in den USA dazu beitragen kann und
dass sein Plan von der internationalen Staatengemeinschaft positiv aufgenommen werden wird.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will an ein Ereignis erinnern, das mir ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein
scheint. Warum sind wir - auch alle im Bundestag vertretenen Parteien - am 9. November des Jahres 2000, dem
Jahrestag der Pogromnacht, in Berlin auf die Straße gegangen? - Weil wir alle Anlass hatten, gegen rechtsradikale Gewalt und gegen Antisemitismus zu demonstrieren.
Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens
sollen in dieser Situation wissen, dass wir ihre aktuellen
Sorgen ernst nehmen, dass uns das etwas angeht und dass
Antisemitismus und Rassismus bekämpft gehören.
({0})
Antisemitismus und Rassismus wollen wir in Deutschland nicht. Wir alle sind uns einig: Das Existenzrecht
Israels darf nicht infrage gestellt werden und wird nicht
infrage gestellt.
Warum ist es uns nach dem 11. September des vergangenen Jahres gelungen, einen Aufruf aller im Bundestag
vertretenen Parteien unter dem Motto „Solidarisch gegen
den Terror“ zu verfassen? - Weil wir Terror und Gewalt
nicht wollen. Deshalb nehmen wir bedrückt zur Kenntnis,
dass Terror und Gewalt heute den Nahen Osten beherrschen. Das geht uns etwas an. Wir sind keine Zuschauer.
({1})
Terror ist durch nichts zu rechtfertigen: nicht der Terror
von Selbstmordattentätern, aber auch nicht der Terror
Israels in den Palästinensergebieten wegen der Terroranschläge auf Zivilisten.
Herr Bundeskanzler, Sie haben hier heute viele zustimmungsfähige Aussagen getroffen. Sie haben auch von unserer Fraktion Zustimmung bekommen. Ich halte diese Zustimmung auch für wichtig. Die Differenz, die in diesem
Zusammenhang besteht, liegt mehr in dem, was Sie nicht
gesagt haben. Denn Sie konnten hier keinen hinreichenden
Beitrag zur aktuellen Konfliktlösung bieten. Sie sind in
vielem unverbindlich geblieben. Hier wird - ich finde, zu
Recht - oftmals eine starke dritte Kraft eingefordert. Das
sind Sie uns in Ihrer Erklärung schuldig geblieben.
Terror und Gewalt im Nahen Osten haben nicht eine
Ursache oder eine Lösung. Aber das Entscheidende für
uns ist - darin besteht offenbar die Differenz -, dass der
Schlüssel für den Weg zum Frieden im Moment bei Israels Regierung liegt.
({2})
Gert Weisskirchen ({3})
Herr Bundeskanzler, es genügt nicht, die Kritik an der
israelischen Politik in mahnend milde Botschaften zu hüllen. Herr Bundeskanzler, eine Politik des Unentschiedens
genügt nicht. Es genügt keine Politik der stillen Diplomatie und keine Politik der Kritiklosigkeit.
Premier Scharon sieht sein Handeln durch die Vereinigten Staaten von Amerika bestätigt, indem er den
Kampf gegen den Terror als Rechtfertigung für sein
Vorgehen verwenden kann. Deshalb sagen wir Ihnen hier:
Krieg ist das falsche Mittel im Kampf gegen den Terror.
({4})
Außenminister Powell verhandelt vergeblich, um Friedenslösungen zu erzielen, weil die Kriegslösung zuvor in
Afghanistan legitimiert wurde.
Die Vorsitzende meiner Partei war in dieser Woche in
Israel und im Flüchtlingslager Dschenin. Sie hat die Zustände dort gesehen und darüber gesprochen. Sie haben
hier Israel mehrfach als eine intakte und funktionierende
Demokratie bezeichnet. Das, was in Dschenin zu sehen
ist, ist nicht das Ergebnis einer intakten und funktionierenden Demokratie; das muss in dieser Klarheit ausgesprochen werden.
({5})
Das ist keine Terrorbekämpfung durch Demokraten, sondern staatlich sanktionierte Gewalt gegen Menschen, die
in ihrer großen Mehrzahl den Terror verabscheuen.
Die PDS-Fraktion hat zwölf Vorschläge für Friedenslösungen im Nahen Osten eingebracht. Diese Vorschläge
werden Sie heute mit der Mehrheit des Hauses bei, wenn
ich richtig informiert bin, Enthaltung der Freien Demokraten ablehnen. Aber diese Vorschläge bleiben natürlich
aktuell.
Der Nahe Osten braucht die Rückkehr zu dem Schritt
der UNO-Resolution 242. Man muss wieder auf den Weg
des Friedensprozesses von Oslo kommen. Wir sehen doch
einen Fortschritt in der saudi-arabischen Initiative, endlich das Existenzrecht Israels nicht infrage zu stellen, aber
auch die Gründung eines palästinensischen Staates zu befürworten. Wir brauchen weiter die Forderung nach Bewegungsfreiheit für die Autonomiebehörde und Präsident
Arafat. Wie soll er denn zwischen Kanonenrohren für ein
Ende der Gewalt eintreten? Wir brauchen die Anerkennung der Zweistaatlichkeit. Und das geht nicht, wenn Versorgungssysteme, das Gesundheitswesen und die Wasserversorgung zerstört werden.
({6})
({7})
Wir brauchen den Rückzug der israelischen Armee und
wir brauchen den Rückbau von israelischen Siedlungen.
Erst dann ist es möglich, eine Nahost-Friedenskonferenz
einzuberufen, die von der UNO, der EU, den Vereinigten
Staaten und Russland begleitet und mitgetragen werden
sollte, wenn nötig auch in Begleitung einer UN-Mission
zur Überwachung der Friedenspflicht beider Seiten. Aber
an die deutsche Adresse sei hier deutlich gesagt: Deutsche
Soldaten gehören dort nicht hin.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in diesem Jahr
werden wir der Ereignisse des 9. November gedenken.
Ich wünschte mir in dieser schwierigen Situation, die jüdische und die palästinensische Gemeinde hier in
Deutschland, in Berlin würde mit uns allen gemeinsam
ausrufen: Schluss mit Terror und Gewalt! Lasst endlich im
Nahen Osten Frieden sein!
Ich danke Ihnen.
({9})
Ich erteile
das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Christoph
Moosbauer.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wie alle, die heute in dieser Debatte das
Wort ergreifen oder ergriffen haben, habe ich lange darüber nachgedacht, was heute zu sagen ist und vor allem
auch wie es zu sagen ist. Ich meine, wir alle haben ein gemeinsames Ziel und das sollten wir uns gegenseitig auch
nicht absprechen: Wir wollen tun, was wir können, um
einen Beitrag dazu zu leisten, dass die jetzige Situation im
Nahen Osten deeskaliert, dass das Blutvergießen aufhört
und dass der kleine Faden gefunden wird, der es ermöglicht, wieder ins Gespräch zu kommen, in der Hoffnung,
dass am Ende dieser Gespräche ein Miteinander in der Region möglich ist.
({0})
Amos Oz hat schon 1991 geschrieben, dass es dabei
nicht um eine Hochzeit, sondern vielmehr um eine Scheidung geht, dass eine Scheidung beiden Seiten wehtut,
dass beide Seiten verletzt sein werden und dass man
lange Zeit nicht miteinander sprechen kann. Aber vielleicht wird es eines Tages wieder möglich sein, sich zusammenzusetzen und eine Tasse Kaffee zu trinken und
vielleicht spricht man auch irgendwann über die gemeinsame Vergangenheit. Vielleicht, so schreibt er, kommt
einmal der Tag, an dem man sogar gemeinsam darüber lachen kann.
Dieser Tag erscheint uns heute ferner denn je. Nicht,
dass es nicht schon Momente gegeben hätte, in denen ein
friedliches Auskommen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn noch viel ferner lag als heute. Aber
nach den hoffnungsvollen Jahren der Annäherung, nach
den hoffnungsvollen letzten zehn Jahren erscheint der
Rückfall in die Gewalt noch brutaler und noch schockierender.
Meine Damen und Herren, das Groteske an der Situation ist in der Tat - darauf wurde schon hingewiesen -,
dass eigentlich jeder weiß, wie eine Lösung am Ende auszusehen hat. Natürlich gibt es dabei Differenzen im Detail, aber die groben Züge sind, meine ich, jedem klar.
Dennoch erlaubt die tragische Dynamik des Konflikts
nicht, die jetzt notwendigen Schritte zu gehen, die zurück
auf den Weg zu Verhandlungen und zu einem Frieden
führen. Sie sind vielfach skizziert worden. Ich bin dem
Bundesaußenminister dankbar dafür, dass er mit seinem
Ideenpapier nicht einen weiteren Masterplan für die Region hinzugefügt hat; davon gibt es schon viele. Aber er
hat die bestehenden Vorschläge in eine umsetzbare Ordnung gebracht, die eine klare Perspektive bietet, und zwar
für beide Seiten.
({1})
Auch wenn ein solcher Plan nur mit einer europäischen
Initiative insgesamt politisches Gewicht entfalten kann,
bin ich froh, dass es gerade die deutsche Regierung ist, die
sich hier in der Verantwortung fühlt.
Die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland
sind besondere Beziehungen, vor allem aufgrund unserer
Geschichte. Aber wir haben auch besondere Beziehungen,
weil in den letzten Jahrzehnten zwischen Deutschland und
Israel etwas gewachsen ist, nämlich eine Freundschaft
zwischen zwei Völkern und zwischen zwei Staaten. Es
gibt wenig andere Länder, mit denen der Austausch in Kultur, in Wirtschaft und vor allen Dingen auch in der Zivilgesellschaft so intensiv ist, als das aus deutscher Sicht mit
Israel der Fall ist. Auch das ist eine Wurzel der besonderen
Beziehungen, die wir zu Israel haben. Daher - der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung darauf hingewiesen - ist und wird die sichere Existenz des Staates Israel immer oberste Priorität deutscher Nahostpolitik sein.
Aber gerade weil die Sicherheit des Staates Israel
nichts mehr gefährdet als die Perspektivlosigkeit des
palästinensischen Volkes, muss eines klar sein: Die Sicherheit des Staates Israel ist unmittelbar verknüpft mit
dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Es muss
einen unabhängigen Staat Palästina geben.
({2})
Meine Damen und Herren, die Welt ist sich einig, dass
Terror kein Mittel der Politik sein darf. Der Terror gegen
die israelische Zivilbevölkerung ist widerwärtig und findet unseren schärfsten Widerspruch. Wer Terror billigend
in Kauf nimmt oder zu entschuldigen versucht, macht sich
schuldig, auch und gerade hier in Deutschland. Im Übrigen bringt er die berechtigten politischen Anliegen des
palästinensischen Volkes in Misskredit.
Kollege Gerhardt, ich bin schon etwas enttäuscht, dass
Sie in diesem Zusammenhang die Äußerungen von
Möllemann nicht deutlicher kritisiert und sich nicht deutlicher von ihnen distanziert haben,
({3})
die nicht damit erledigt sind, dass man zehn Minuten später eine Presseerklärung hinterherschickt, wenn er am selben Abend den Sinn seiner Äußerungen abermals wiederholt und wenn man dann im nordrhein-westfälischen
Landtag aus innenpolitischen Gründen, um nämlich die
Mehrheit von Rot-Grün zu schwächen, einen Kollegen,
der ehedem bei den Grünen war und dem, wie er selber
sagt, eine gewisse Nähe zu Saddam Hussein nicht fremd
ist, mit offenen Armen in der eignen Fraktion aufnimmt.
Man muss sich schon fragen, ob es konsistent ist, wenn
man sich hier hinstellt und den Terror ablehnt, aber auf der
anderen Seite diese Kollegen in Schutz nimmt.
({4})
- Das ist nicht absurd.
Meine Damen und Herren, eines muss bei aller Verurteilung des Terrorismus klar sein: Der Kampf eines
Rechtsstaates gegen den Terrorismus darf nicht das Prinzip der Verhältnismäßigkeit aus den Augen verlieren. Daher bestehen die zentralen Forderungen des vorliegenden
Entschließungsantrages von Bündnis 90/Die Grünen und
SPD in zwei Appellen: Erstens ist dies der Appell an die
palästinensische Autonomiebehörde und ihren Vorsitzenden Arafat, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um
den Terrorismus gegen Israel zu stoppen. Wir wissen, dass
das nicht zu hundert Prozent möglich sein kann. Aber was
getan werden kann, muss getan werden, auch von Arafat
und auch von der Autonomiebehörde.
({5})
Und unser Appell an die israelische Regierung und an
Premierminister Scharon: Stoppen Sie die Zerstörung der
palästinensischen Autonomie und der palästinensischen
Infrastruktur. Sorgen Sie dafür, dass das Leiden der
palästinensischen Zivilbevölkerung beendet wird.
Ich kann noch Verständnis dafür aufbringen, wenn auf
Terrorismus, der sich militärischer Mittel bedient, auch
mit militärischen Maßnahmen reagiert wird. Aber ich verstehe nicht, was die Zerstörung des palästinensischen
Statistikamtes, was das Entwurzeln von Olivenbäumen
oder was das Demolieren von Wasserversorgungseinrichtungen mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu tun hat.
({6})
Eine Demokratie wie Israel muss sich auch an den Mitteln messen lassen, mit denen sie gegen den Terrorismus
und gegen die Feinde der Demokratie vorgeht.
({7})
Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist
oft vorgebracht worden, die Kritiker am israelischen Vorgehen seien auf einem Auge blind und griffen Israel einseitig und unausgewogen an. - Das ist im Übrigen noch
einer der harmloseren Vorwürfe in diesem Zusammenhang. - Wer sich heute mit Nahostpolitik beschäftigt und
versucht, eine halbwegs differenzierte Meinung zu vertreten, findet sich schnell zwischen allen Stühlen wieder.
Das ist zwar eine unbequeme Position, aber vielleicht gerade deshalb keine falsche.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, ausdrücklich den
Kollegen Lamers in Schutz zu nehmen. Wer ihm eine antiisraelische Haltung vorwirft, zeigt auf den Falschen.
({8})
Man findet sich schnell in eine Ecke gestellt. Berechtigt
ist das nicht immer, aber es zeigt, wie schnell man hier wie
dort in Misskredit kommt.
Ich will zwei Dinge klarmachen: Ich stehe zur deutscharabischen Freundschaft. Ich halte es sogar - auch im Interesse Israels - für wichtig, dass wir unsere Beziehungen
zu den arabischen Ländern weiter verbessern. Das steht
nicht in Widerspruch zu einem besonderen Verhältnis zu
Israel. Es kann im Gegenteil deeskalierend wirken und
dem regionalen Frieden zuträglich sein.
Lassen Sie mich aber auch eines in aller Deutlichkeit
festhalten: Meine Solidarität mit Israel steht nicht infrage
und ist auch durch nichts zur Disposition zu stellen.
({9})
Nur, Solidarität und Freundschaft heißt nicht, sich unkritisch hinter die jeweilige Regierung zu stellen. Um eines
klar zu sagen: Wer für die Politik von Yitzhak Rabin war,
kann nicht für die Politik von Ariel Scharon sein.
({10})
Es ist doch nicht so, dass es nicht auch in Israel
Widerstand gegen die Regierungspolitik gibt, und nicht
nur von den üblichen Verdächtigen. Wenn Hunderte Reserveoffiziere den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern und eher bereit sind, ins Gefängnis zu gehen, und
wenn sie dies in einer Erklärung eben genau damit begründen, dass dies dem Geist des Zionismus entspricht,
den sie gelernt haben, dann kann dies nicht als Randerscheinung abgetan werden.
Ich bin solidarisch mit Israel, solidarisch mit der Friedensbewegung „Frieden jetzt“, mit der „Koalition für
Frieden“, mit dem Teil der Arbeitspartei, der eine politische Alternative zur aktuellen Politik vertritt. Ich werde
alles dafür geben, dass der ursprüngliche zionistische
Traum verwirklicht werden kann: eine Heimstätte für die
Juden in sicheren und anerkannten Grenzen, im Frieden
mit seinen Nachbarn und mit der Welt.
({11})
Als ich 1993 mit meinen israelischen Freunden über
die Pessachfeiertage in Eilat am Roten Meer war, war gerade ein Lied mit dem Titel „Happy Nation“ Nummer eins
in der israelischen Hitparade. Da ein Großteil der israelischen Jugendlichen über die Feiertage nach Eilat fährt,
gibt es zu dieser Zeit dort zu wenige Unterkünfte und wir
schliefen wie die meisten anderen auch im Sand direkt am
Meer. Die ganze Nacht dröhnte alle zehn Minuten das
Lied „Happy Nation“ über den Strand. Dies machte mich
damals fast wahnsinnig. Heute würde ich sonst etwas darum geben, wieder am Strand zu sitzen und eine ganze Generation tanzen und singen zu hören: „We are living in a
happy nation.“
Das ist mein Israel, das ist das Israel meiner Freunde,
die heute Demonstrationen gegen die Politik Ariel
Scharons organisieren, weil sie glauben, dass die aktuelle
Politik ihrer Regierung dem Land schadet, weil sie an eine
Zukunft Israels nur dann glauben, wenn die Palästinenser
endlich ihr Recht auf Selbstbestimmung bekommen, weil
sie ihr Land lieben. Wenn ich wie sie heute Kritik an der
israelischen Regierung übe, dann nur aus einem Beweggrund: aus tiefer Sorge um ein geliebtes Land.
({12})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Karl Lamers.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Edmund Stoiber die
Haltung meiner Fraktion eindrucksvoll dargelegt hat,
nachdem der Außenminister bestätigt hat, dass wir in den
wesentlichen Fragen einer Meinung sind, auch in der, was
jetzt Not tut, nachdem hier von allen Rednern festgestellt
worden ist, dass wir eine besondere Verantwortung für die
Existenz, die Zukunft und die Sicherheit Israels haben,
will ich versuchen, darzustellen, wie diese Verantwortung
aus meiner Sicht heute wahrgenommen werden muss.
Ich bin Ihnen, Kollege Moosbauer, dankbar, dass Sie
darauf hingewiesen haben, dass ich nicht in eine antiisraelische oder gar antisemitische Ecke gehöre. Wenn mich
etwas verletzt hat, dann das.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind doch zerrissen angesichts des Umstandes, dass die Existenz Israels durch den Terror einerseits, andererseits aber auch
- wie ich befürchte - durch die Art und Weise infrage gestellt wird, wie die scharonsche Regierung darauf reagiert. Infrage gestellt wird Israels Existenz unmittelbar
und moralisch durch den Terror, denn dessen Zweck ist
die Demoralisierung, sind Angst, Zweifel an der Zukunft,
Kapitulation. Legitime Ziele der Palästinenser werden
durch illegitime Mittel diskreditiert. Der Zweck heiligt
eben nicht die Mittel. Das muss am Anfang einer jeden
Beurteilung der Lage in der Region stehen.
({0})
Terror lässt sich zumindest teilweise erklären, aber
nicht entschuldigen.
({1})
Erklärungen sind allerdings notwendig, um die rechten
Mittel zur Bekämpfung des Terrors zu wählen und dabei
das rechte Maß einzuhalten, mag das noch so schwer fallen. Nur so lässt sich vermeiden, dass die falschen Mittel
die eigene moralische Substanz ebenso zermürben, wie es
die Angst tut.
Terrorismus stellt dem Angegriffenen eine Falle, indem er ihn vor die teuflische Alternative stellt: Kapitulation und totale Niederlage oder totale Feindschaft. Wer
vom „totalen Krieg“ redet, wie das Scharon leider getan
hat, der ist schon in diese Falle hineingelaufen. Die Weigerung Hunderter von Soldaten und Offizieren der Reserve, in den besetzten Gebieten Dienst zu tun - ein unerChristoph Moosbauer
hörter Vorgang -, ist ernster, aber nicht einziger Ausdruck
einer dadurch hervorgerufenen Krise. Der Name für den
militärischen Sieg ist derselbe wie für die moralische Niederlage: Dschenin, wie einst Sabra und Schatila, selbst
wenn die Verwüstungen in Dschenin die Bezeichnung
„Massaker“ nicht verdienen sollten.
Militärische Erfolge wandeln sich auch dann in politische Niederlagen, wenn sie einem falschen, nicht legitimen und nicht realisierbaren politischen Ziel dienen. Die
Zerschlagung der Struktur - Kollege Moosbauer, Sie haben schon darauf hingewiesen - in allen Teilen der Autonomiebehörde und auch eines großen Teils der Wirtschaftsstruktur ist ein solches nicht legitimes Ziel. Es
heißt nämlich, das Recht der Palästinenser zu verneinen,
überhaupt in Existenz treten zu können, also einen Staat
bilden zu können, der diesen Namen verdient, nicht ein
demütigendes und lebensunfähiges Bantustan zu sein.
({2})
Es muss immer wieder gesagt werden: Natürlich hat
Israel das Recht, sich gegen den Terror zu verteidigen. Ich
füge vorsichtig, aber, wie ich hoffe, richtig hinzu: Selbst
die falschen, weil überzogenen Mittel wären durch die
vom Terror erzeugte Angst erklärlich und vielleicht ein
Stück verzeihbar. Aber das Ziel, die Entstehung eines
Palästinenserstaates unmöglich zu machen, ist das eigentliche Skandalon des scharonschen Feldzuges. Es ist das
Fehlen irgendeiner Vorstellung einer politischen Lösung,
die auch für die andere Seite akzeptabel ist.
({3})
Dieser Kampf - das ist meine Sorge - ist nicht zu gewinnen. Es ist ein Kampf gegen die äußeren Feinde und
zugleich gegen die eigene Moral, gegen die Ideale des
Zionismus. Manchmal, verehrte Kolleginnen und Kollegen, habe ich die Angst, dass die düsteren Prophezeiungen von Nahum Goldmann und Hannah Arendt in diesen
Wochen in Erfüllung zu gehen drohen.
({4})
Ich empfehle Ihnen allen: Lesen Sie sie noch einmal nach.
Die äußeren Feinde, das ist ein Teil der Palästinenser,
keineswegs alle, aber ihre Zahl wächst natürlich von Tag
zu Tag. Zu den äußeren Feinden gehört, so fürchte ich, die
Mehrheit der arabischen Staaten, die die Existenz Israels
bis heute in ihrer Mehrheit innerlich nicht wirklich akzeptiert hat. Natürlich haben auch sie das Recht und
gewissermaßen die Pflicht, die Palästinenser zu unterstützen. Aber auch sie haben kein Recht, den Terror zu unterstützen. Auch sie müssen sich davon klar distanzieren.
Dass die Enttäuschung der Palästinenser zunimmt wer könnte das nicht verstehen? Ihre Wut und ihr Hass sind
durch Jahrzehnte schikanöser und demütigender Behandlung, durch wachsende Enttäuschung, Frustration und Perspektivlosigkeit infolge der immer wieder verzögerten und
nur bruchstückhaften Umsetzung des Osloer Abkommens
und vor allen Dingen durch den provokativen Siedlungsbau genährt, der durch die vorgestrige Entscheidung der israelischen Regierung eine für mich bislang unvorstellbare
Steigerung erfahren hat; denn er bedeutet auch eine Provokation des amerikanischen Präsidenten. Nochmals: Die
Palästinenser haben zwar das Recht, sich gegen das alles
zu wehren, aber kein Recht auf Terror.
({5})
Trotz der dramatischen Lage oder vielleicht sogar wegen ihr gibt es eine Friedensperspektive. Es gibt sie, obwohl 80 Prozent der israelischen Bürger die scharonsche
Politik unterstützen; denn sie tun das in dem dunklen,
dumpfen und doch ganz klaren Gefühl, dass diese Politik
keine Lösung bietet. Deswegen müssen wir den Israelis
sagen: Rennt nicht weiter in diese falsche Richtung und in
euer Unglück! Ergreift die Chance, die etwa die saudische
Friedensinitiative bietet! Sie ist zwar kein Ausdruck von
Liebe und Zuneigung zu den Palästinensern und schon gar
nicht zu den Israelis. Aber sie ist der Ausdruck einer existenziellen Angst, die nur allzu berechtigt ist. Wir müssen
deutlich sehen, dass die breite Mehrheit der Menschen in
den arabischen Ländern immer mehr zu Feinden Israels
wird. Sie projizieren ihre Frustrationen und ihre Wut auf
die USA. Sie tun es übrigens auch aus Frustration und Unzufriedenheit über die Leistungen der eigenen Regime.
({6})
All das schafft eine Situation, die uns alle, den ganzen
Westen, in Feindschaft mit diesem Teil der Menschheit
bringt. Deswegen müssen wir den Israelis zurufen: Kehrt
auf eurem bisherigen Weg um! Befolgt die Resolution des
Weltsicherheitsrates! Seht, dass eure Existenz und die der
Palästinenser nicht voneinander zu trennen sind! Entweder haben beide eine Zukunft oder beide haben keine.
({7})
Beide Völker haben ein Existenzrecht. Das ist mittlerweile auch Kern der amerikanischen Politik. Wir müssen
den Israelis weiter zurufen: Gefährdet durch eure kurzfristigen militärischen Erfolge nicht eure moralische Substanz und langfristig auch eure politische Zukunft! Nutzt
vielmehr die Chancen, die sich aus eurer heutigen weit
überlegenen Stärke ergeben, die euch die größere Verantwortung zuweist!
Den Palästinensern müssen wir zurufen: Ihr könnt mit
Gewalt und Terror noch weniger gewinnen als Israel mit
seiner Armee! Ihr seid schon kurzfristig als politische Gemeinschaft gefährdet! Die Anerkennung des Existenzrechts Israels heißt heute Verzicht auf Terror.
Nochmals: Israel und Palästina sind nicht voneinander
zu trennen. Israel und Europa und vor allem Israel und
Deutschland sind in Vergangenheit und Zukunft nicht
voneinander zu trennen. Die europäische und die deutsche
Verantwortung für die Sicherheit, die Existenz und die
Zukunft Israels hat sich zwar in ihrem Ausdruck mit der
Zeit verändert und muss sich entsprechend der konkreten
Lage verändern. Aber sie wird nicht enden, bis die Zukunft Israels endgültig gesichert ist. Sie ist für die Deutschen ein Teil ihrer selbst und schließt unvermeidlicherund notwendigerweise aber auch die Verantwortung für
die Folgen der Gründung des Staates Israel, das Leid der
Palästinenser und das Unrecht an ihnen ein.
Wer könnte uns Deutschen nicht die Sehnsucht nachempfinden, dass sich Schillers Wort vom Fluch der bösen
Tat, nämlich der des Holocaust, die fortwährend Böses
gebärt, nicht immer wieder bestätigt. Das einmalige
historische Projekt Israel darf nicht scheitern. Sonst würden auch wir scheitern. Deswegen muss auch Palästina
werden, wie Israel bleiben muss.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort
hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Bilder, die uns aus dem Nahen Osten erreichen - viele
meiner Kolleginnen und Kollegen haben sie bereits beschrieben -, sind schrecklich: Wir sehen Bulldozer und
Panzer der israelischen Armee, die in den Straßen von Ramallah, Tulkarem und Nablus die Straßen aufreißen und
Häuser dem Erdboden gleichmachen. Sie haben im
Flüchtlingslager Dschenin eine fürchterliche Verwüstung
mit einer bisher unbekannten Zahl von Toten hinterlassen.
Wir sehen weinende Kinder, die mit ihren Schulheften in
der Hand im Straßengraben kauern und von Soldaten
durchsucht werden.
Gleichzeitig gibt es in Israel immer wieder - fast täglich - fürchterliche Selbstmordattentate: Beim Warten an
der Bushaltestelle, im Café im Zentrum von Jerusalem,
bei der Feier der Bar-Mizwa und beim Tanzen in der
Disco werden Israelis durch menschliche Bomben ermordet. Allein im letzten Monat zählte man 112 Todesopfer.
Jeder in Israel kennt diese Zahl. Die Menschen haben das
öffentliche Leben auf den Straßen auf das Notwendigste
beschränkt; so erzählen es mir meine Freunde. Die nackte
Todesangst dominiert den Alltag.
Und dann dieses Attentat am Vorabend des Pessachfestes, das ein Blutbad unter den 200 Hochzeitsgästen anrichtete. Man muss sich das einmal vorstellen: Das wäre so, als
wenn am Weihnachtsabend im voll besetzten Kölner Dom
eine Bombe hochginge. So wurde das in Israel aufgenommen. Was wäre in einer solchen Situation in Deutschland
los? Das muss man sich einmal fragen. - In Israel hat dieses Attentat - eines von vielen - zur Folge, dass eine große
Mehrheit der Gesellschaft subjektiv das Gefühl hat, es geht
um die Existenz Israels. Die Regierung Scharon reagierte
darauf mit einem massiven militärischen Einmarsch in die
Städte der Westbank, zuletzt heute Morgen in Hebron.
Der Teufelskreis der Gewalt im Nahen Osten scheint
zurzeit unauflösbar. Was können wir tun? Welchen Beitrag können wir leisten, damit die Gewalt beendet wird?
Das sind die Fragen, die uns und viele Bürgerinnen und
Bürger im Land beschäftigen. Eines steht jedenfalls für
mich fest: In einer Situation, in der beide Gesellschaften
durch den jahrzehntelangen Konflikt zutiefst traumatisiert
sind, in der sie - natürlich mit ganz subjektiven Sichtweisen auf ihre jeweilige Situation - um ihr Überleben und
um ihre Existenz kämpfen, verbietet sich gerade für uns
Deutsche eine vorschnelle und einseitige Parteinahme.
({0})
Gerade wir haben aufgrund unserer Geschichte ein besonderes Verhältnis zu Israel. Wer meint, dieses Verhältnis im Zuge dieses furchtbaren und tragischen Konflikts
kurzerhand normalisieren zu können, handelt geschichtsvergessen und verantwortungslos. Das geht nicht. Gerade
für uns steht die Anerkennung des Existenzrechts Israels
in anerkannten Grenzen außerhalb jeder Debatte. Daran
darf es keinen Zweifel geben. Daraus folgt eben auch die
bleibende Verpflichtung, für die Sicherheit Israels und
seiner Menschen einzutreten. Das bedeutet natürlich keinen generellen Verzicht auf Kritik an der jeweiligen israelischen Regierung. Herr Lamers, ich stimme Ihnen diesbezüglich zu. Jede Kritik muss sich aber an der
besonderen Verantwortung Deutschlands messen lassen.
({1})
Es war richtig, dass der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen mit den Resolutionen 1402 und 1403 den Rückzug der israelischen Truppen aus den palästinensischen
Städten gefordert hat, wie er auch die terroristische Gewalt der Selbstmordattentäter, die von Teilen der Palästinenser ausgeht, verurteilt hat. Es ist klar, dass die
Vorgänge in Dschenin von einer internationalen Untersuchungskommission aufgeklärt werden müssen und humanitären Organisationen Zugang zu den Verletzten gewährt
werden muss.
Ich habe die große Sorge, dass die militärische Gewalt
als Antwort auf Terror und Selbstmordattentate Israel auf
Dauer nicht mehr, sondern weniger Frieden und Sicherheit geben wird. Terror wird mit militärischer Gewalt und
die wiederum mit Terror beantwortet. Dieser heillose Teufelskreis kann nur durch die Wiederaufnahme von politischen Verhandlungen durchbrochen werden. Es gibt
keine militärische Option, um Frieden im Nahen Osten zu
erreichen, für keine Seite. Ein unabhängiger palästinensischer Staat wird nicht durch Terror, sondern nur durch
Verhandlungen zu erreichen sein. Frieden und Sicherheit
für Israel wird es vermutlich erst geben, wenn Siedlungen
geräumt werden und Israel sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht, wenn also die palästinensische Gesellschaft endlich wieder eine politische Perspektive erhält.
({2})
Genau das ist der Kerngedanke des Ideenpapiers des
Außenministers, das zu Recht international und auf europäischer Ebene hohe Anerkennung gefunden hat.
Ohne gemeinsame Anstrengungen der USA, der UNO,
Russlands und der EU werden die Beteiligten nicht an den
Verhandlungstisch zurückkehren. Auch das ist ein wichtiger Vorschlag in dem Ideenpapier. „Wir brauchen eine
dritte, gemeinsame Partei von außen“ - so haben es Yossi
Beilin, der ehemalige Justizminister Israels, und Jassir
Abed Rabbo, der palästinensische Minister für Information und Kultur, schon im März formuliert. Beide sind
auch Mitbegründer der israelisch-palästinensischen Friedenskoalition, die ganz intensiv daran arbeitet, dass wieder ein gemeinsamer Dialog möglich wird. Sie haben gesagt: Ohne Hilfen von außen und ohne internationale
Garantien werden wir, die Konfliktparteien, es nicht
schaffen, Frieden herzustellen.
Im Rahmen der EU wird sicher das eine oder andere
am Ideenpapier verändert werden. Für mich steht aber eines fest: Es ist ein wichtiger Beitrag zur Bildung einer gemeinsamen EU-Position.
Ich bin auch der Überzeugung, Debatten über Sanktionen oder Boykottmaßnahmen vonseiten der EU - Sie haben das ja, Herr Lamers, heute nicht erwähnt; ich habe es
an anderer Stelle von Ihnen gelesen - bringen die EU bei
der Lösung des Nahostkonflikts nicht weiter, sondern verhärten die Fronten. Wir als Deutscher Bundestag sollten
daher gemeinsam diese konstruktive Initiative mit allen
Kräften unterstützen. Das könnte eine Chance sein, um
den politischen Prozess und politische Gespräche wieder
in Gang zu bringen.
({3})
Das ist das Gebot der Stunde. Es geht darum, wie dieser
Prozess wieder in Gang kommt, und nicht - das will ich
sehr deutlich sagen - um eine innenpolitische Instrumentalisierung zu durchsichtigen Zwecken.
Herr Gerhardt, natürlich darf und muss man die konkrete Politik der israelischen Regierung kritisieren. Ich
habe das eben sehr deutlich gesagt. Ich bin völlig einverstanden damit, dass Sie sagen: Kein Widerstandsrecht der
Welt legitimiert Terror. Da bestehen zwischen uns keine
Differenzen; das ist Konsens unter uns. Aber - das will ich
hier noch einmal sehr deutlich sagen - das verträgt sich
nicht mit dem, was Herr Möllemann in einem „taz“-Interview im April gesagt hat,
({4})
von dem er sich nicht distanziert hat. Der Herr Parteivorsitzende Westerwelle hat dieses sogar im Nachhinein
noch beschönigt, indem er gesagt hat, Kritik muss doch
möglich sein. Ich will hier noch einmal vortragen, was
Herr Möllemann gesagt hat. Ich habe nämlich den Eindruck, dass das in der Debatte hier heruntergespielt wird,
während es in Israel eine große Rolle gespielt hat.
Er hat gesagt:
Was würde man denn selber tun, wenn Deutschland
besetzt würde? Ich würde mich auch wehren, und
zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjägeroffizier der
Reserve. Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu wehren. Und ich würde das nicht nur im eigenen Land
tun, sondern auch im Land des Aggressors.
Herr Gerhardt, der Terror der Selbstmordattentäter, der
unschuldige Zivilisten trifft, sei legitim im Kampf gegen
Israel; er würde sich daran auch beteiligen. Das hat
Möllemann gesagt.
({5})
Das hat Herr Westerwelle als so genannte legitime Kritik
in einer Situation verteidigt, in der sich in Israel viele
Menschen aus Todesangst nicht mehr auf die Straße
trauen, in der es für Israel subjektiv um das Existenzrecht
geht. Ich finde das beschämend.
({6})
Ich bin der Meinung, Herr Gerhardt - Ihr Vorsitzender,
Herr Westerwelle, hat sich schon verzogen -, dass Sie das
hier und heute in dieser Debatte ganz deutlich zurücknehmen müssen. Mit solchen Äußerungen machen Sie, ob Sie
das wollen oder nicht - ich will Ihnen das nicht unterstellen -, Antisemitismus in Deutschland wieder salonfähig.
Das ist hochgefährlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Frau Kollegin Müller, der Kollege Gerhardt hat sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Wenn Sie ihm die gestatten, gebe
ich ihm jetzt das Wort.
Ja, sicher.
Frau Kollegin, erstens: Ist Ihnen, nachdem die erste Kritik an dieser Äußerung in einem Interview vorgetragen wurde, bekannt, dass
Herr Möllemann auf mögliche Missverständnisse klar
und eindeutig hingewiesen hat? Er hat ausgeführt - ich
gebe es im übertragenen Sinne wieder -, dass es keine Akzeptanz von Selbstmordattentätern gibt, selbst dann nicht,
wenn sie für die Ziele des eigenen Volkes kämpfen. Ich
bin gerne bereit, Ihnen die entsprechende Äußerung
schriftlich nachzureichen.
Zweitens. Sind Sie auch bereit, endlich davon Abstand
zu nehmen, dass jedes Argument, das in dieser Debatte
geäußert wird, mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt wird?
Drittens. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich keine
Sekunde gezögert hätte, mich hier von Herrn Möllemanns
Äußerungen zu distanzieren, wenn er sie in einer zusätzlichen Erklärung nicht klargestellt hätte. - Damit kann
diese Debatte nun wirklich beendet werden.
({0})
Herr Gerhardt, ich kenne diese Distanzierung
nicht.
Da Sie diese Zwischenfrage gestellt haben, möchte ich
noch etwas, was ich eben nicht erwähnt habe, hinzufügen.
Kerstin Müller ({0})
Ich habe auf der Internetseite der Deutsch-Arabischen
Gesellschaft, deren Präsident Herr Möllemann ist, die
Pressemitteilung eines ehemaligen Kollegen von mir aus
NRW gefunden. Die Überschrift dieser Presseerklärung
lautet: „Israelische Armee wendet Nazi-Methoden an.“
Ich habe mich mit dem Kollegen, der für diese Äußerung
verantwortlich ist, einmal auseinander gesetzt. Er ist jetzt
Mitglied der FDP.
({1})
- Herr Gerhardt, hören Sie zu!
Auf dieser Internetseite - ich bin jetzt bei der
Deutsch-Arabischen Gesellschaft, deren
Diese Erklärung von Herrn Karsli, die wir uneingeschränkt unterstützen ...
({0})
Wir müssen uns da nicht verzetteln. Diese Äußerung muss
zurückgenommen werden; davon muss man sich distanzieren.
({1})
Ich habe Ihnen nicht Antisemitismus vorgeworfen. Ich
habe gesagt - ob Sie es wollen oder nicht -: Damit macht
man Antisemitismus in Deutschland salonfähig. Das ist
das Gefährliche an dieser Diskussion.
Gestatten
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Gerhardt?
({0})
Bitte.
Ich möchte nicht,
dass wir diese Debatte beenden, ohne dass Klarheit über
meine Haltung herrscht.
Meine erste Zwischenfrage haben Sie nicht beantwortet, weil Sie den von mir genannten Sachverhalt überhaupt
nicht zur Kenntnis genommen haben. Das können Sie
nachträglich noch tun.
Zum Zweiten möchte ich ganz einfach feststellen:
Nehmen Sie bitte - wenn Sie diese Aussage erwarten - zur
Kenntnis, dass niemand glauben sollte, er könnte in der
FDP eine Heimat für antiisraelische Politik finden.
({0})
Wer das glaubt, der irrt sich gewaltig.
({1})
Das war keine Frage. Wir haben es zur Kenntnis
genommen.
Man darf das nicht unterschätzen. Wer die öffentliche
Debatte in den Medien in Israel verfolgt hat, der hat mitbekommen, dass diese Angelegenheit dort eine große
Rolle gespielt hat. Sie hat auch hier eine große Rolle gespielt. Ich habe nur ganz ruhig gesagt: Davon muss man
sich distanzieren.
({0})
Wenn wir in diesem Haus in dieser Frage einen Konsens
haben, wenn Unklarheiten beseitigt wurden, dann bin ich
darüber sehr froh. Aber das muss sein.
({1})
Frau Kollegin Müller, ich muss Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel beantworten möchten.
({0})
Nein, ich möchte jetzt zum Ende kommen. Ich
denke, wir haben das klargestellt.
Wenn wir wollen, dass unsere berechtigte Kritik am
Vorgehen Israels gehört wird, wenn wir wollen, dass die
Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zurückfinden,
wenn wir wollen, dass die palästinensische Gesellschaft
wieder eine politische Perspektive erhält, dann ist es
wichtig, dass wir konstruktiv daran mitwirken, den Friedensprozess und den Dialog wieder in Gang zu bringen.
Lassen Sie uns vor allem die verhandlungsbereiten Friedenskräfte auf beiden Seiten stärken und unterstützen!
Das ist unsere Aufgabe. Damit, so meine ich, werden wir
unserer besonderen Verantwortung gerecht.
Vielen Dank.
({0})
Nun gebe
ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion der PDS.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass es bei dem
jetzigen Stand der Debatte sinnvoll ist, nachzuprüfen,
welche Gemeinsamkeiten oder, um es etwas vorsichtiger
zu sagen, Nähen es in der deutschen Nahostpolitik gibt
oder geben kann.
Die PDS-Fraktion geht in ihren Überlegungen von folgendem Grundsatz aus: Wer Frieden will, darf GerechtigKerstin Müller ({0})
keit nicht verweigern. Frieden wird aus Gerechtigkeit
wachsen. Diesen Gedanken wollen wir politisch verankern.
({1})
Dies führt uns zu vier Überlegungen, die Ziele und zugleich auch Wege einer deutschen Nahostpolitik skizzieren könnten. Ich will diese Überlegungen vorstellen.
Erstens. Als Ergebnis auch der deutschen Bemühungen
wollen wir erreichen, dass ein eigener, anerkannter, lebensfähiger Staat der Palästinenser entsteht, und zwar
nicht irgendwann, sondern in klar definierten Zeiträumen.
Dies erfordert zwingend - das ist das Problem der gestrigen
Erklärung von Scharon, neue Siedlungen zu gründen - die
Rücknahme der israelischen Siedlungspolitik, weil sonst
kein Weg eröffnet wird.
({2})
Zweitens. Zugleich wollen wir sicherstellen, dass Israel in gesicherten Grenzen, ohne Bedrohung und in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann. Dies erfordert zwingend die Anerkennung Israels durch die arabischen
Nachbarstaaten, das Ende von Anschlägen und des Infragestellens des Existenzrechtes Israels.
({3})
Für diese Ziele werben wir auf beiden Seiten, damit ein
Friedensprozess wieder in Gang kommt. Es fehlt Vertrauen; es herrscht Angst.
Eine gemeinsame Initiative von EU, USA, Russland
und den Vereinten Nationen ist sinnvoll. Internationale
Beobachter und Blauhelme können in einer bestimmen
Etappe für die Konfliktparteien hilfreich sein. Ich möchte
sie nicht als Instrument gegen die Konfliktparteien, sondern als Hilfe für diese verstanden wissen. Ein Einsatz
deutscher Soldaten in Israel scheidet jedoch aus historischen und aktuellen Gründen vollständig aus
({4})
und muss von diesem Hause auch vollständig und ohne
Grautöne ausgeschlossen werden. Ich weiß nicht, was den
Bundeskanzler geritten hat, ausgerechnet auf einer Kommandeurstagung der Bundeswehr die Frage anzusprechen, ob sich deutsche Soldaten auch an einem solchen
Einsatz beteiligen sollten. Ich halte das nicht für ernsthafte Politik, sondern für Schwafelei.
({5})
Drittens. Wenn wir weiterkommen wollen, darf es auch
hinsichtlich der Menschenrechte keine Zweideutigkeit
geben. Ich glaube, die Bundesregierung sollte sich
bemühen, in dieser Frage nicht zweideutig zu sein. Die
Menschenrechtsverletzungen durch Israel müssen genauso verurteilt werden wie Gewalt- und Selbstmordanschläge. Deswegen ist das Verhalten der Bundesregierung
bei der VN-Menschenrechtskommission, wo sie eine entsprechende kritische Auseinandersetzung mit Israel
blockiert hat, eben nicht logisch und stringent, sondern
gibt Anlass, nachzufragen.
Wir müssen rasche humanitäre Hilfe leisten. Das betrifft das Flüchtlingslager Dschenin, aber auch Ramallah.
Ich habe gestern Nacht noch einmal mit den internationalen Beobachtern telefoniert, die zusammen mit Arafat eingeschlossen sind. Sie haben seit sechs Tagen kein Essen
mehr erhalten. Solana wollte Nahrung mit hineinbringen;
ihm ist von der israelischen Seite gesagt worden, Zugang
zu Arafat gebe es nur ohne Transport von Essen. Sie haben keine Medikamente mehr. Müssen solche Demütigungen sein?
Auch hier müsste die deutsche Politik deutlicher und
eindeutiger beweisen, dass Menschenrechtsverletzungen
nicht selektiv gesehen werden und dass nicht unterschiedlich mit ihnen umgegangen wird.
({6})
Viertens. Aus meiner Sicht ist ein Gewaltverzicht aller
Seiten, ein Ende der Besatzung und ein Ende von Anschlägen notwendig. Das bedeutet aber in der jetzigen Situation einen sofortigen Abzug des israelischen Militärs
aus den besetzten Gebieten sowie ungehinderte Bewegungsfreiheit für Arafat. Wenn man verhandeln will, kann
man den Verhandlungspartner nicht einsperren. Das
macht doch keinen Sinn; das schafft doch kein Vertrauen.
({7})
Ich will auch meine Sorge darüber nicht verhehlen,
dass neue Militärschläge Israels gegen den Libanon und
gegen Syrien nicht auszuschließen sind. Auch das muss
man hier aussprechen. Man muss auf Israel einwirken,
keine weitere Eskalation der militärischen Auseinandersetzung vorzunehmen.
({8})
Ich will, dass endlich damit Schluss gemacht wird, dass
junge Palästinenser ihr Leben beenden, indem sie sich als
Waffe gegen andere einsetzen. Ich will aber auch, dass damit Schluss gemacht wird, dass junge Bürger Israels ihr
Leben mit den Gräueln des Krieges belasten. Gewaltverzicht in der Region - dieser Gewaltverzicht trifft dann
auch Hisbollah und andere - ist ohne Alternative. Auch
das sollten wir hier deutlich machen.
({9})
Ich habe eine Frage an die Regierung, die ja wieder gegangen ist. Es ist inzwischen üblich geworden: Wenn die
PDS spricht, verschwinden der Kanzler und der Außenminister.
({10})
Das kann man durchhalten, aber es macht keinen Sinn,
weil man immer mit den konkreten Kontrahenten reden
muss.
({11})
Meine Frage bezieht sich auf die Grundlagen der Nahostpolitik. Beim Antrag von SPD und Grünen fällt schon
auf, dass der Grundlagenbeschluss 242 der Vereinten Nationen überhaupt nicht erwähnt worden ist, anders als bei
dem Antrag der CDU/CSU, den ich in vielen Teilen, wenn
ich das sagen darf, überhaupt besser finde. Erste Grundlage
also: zwei Staaten. Zweite Grundlage: alle Resolutionen
der Vereinten Nationen ohne Doppeldeutigkeiten. Dritte
Grundlage: Einsatz für Menschenrechte. Vierte Grundlage: Gewaltverzicht auf allen Ebenen. Könnten das die
Grundlagen einer gemeinsamen Nahostpolitik sein?
Diese Frage wird die Bundesregierung zu beantworten
haben, wenn sie ein Interesse daran hat, dass neben ihr
auch die anderen Fraktionen im Haus über diese Politik
mitdiskutieren.
Ich will auch deutlich sagen, dass es aus meiner Sicht
bedrückend ist, wenn jüdische Bürgerinnen und Bürger,
aber auch palästinensische Bürgerinnen und Bürger in unserem Land sagen, dass sie Angst haben. Ich bitte alle,
nicht leichtfertig mit dem Vorwurf von Antisemitismus
gegenüber Kritikern Scharons umzugehen. Ich bitte aber
gleichfalls darum, die Sorgen vor Antisemitismus in unserem Land sehr ernst zu nehmen.
({12})
Die Geschichte unseres Landes, der bedauerliche Aufschwung rechtsextremer Gruppen und Auffassungen, aber
auch solche Vorkommnisse und Entwicklungen wie Le
Pen in Frankreich geben Anlass zur Sorge. Wir sollten aber
auch deutlich aussprechen: Wer Kritik an Scharon mit Antisemitismus gleichsetzt, verharmlost Antisemitismus.
({13})
Deutsche Schuld kann nicht auf dem Rücken von Palästinensern ausgetragen werden. Der deutsche Stammtisch
formuliert, dass sich Juden und Araber eben nicht vertragen können. Ich finde, das ist ein dummes Argument.
Noch vor einigen Jahrzehnten wurde gesagt, Deutsche
und Franzosen seien Erbfeinde. Ich bin überzeugt: Juden
und Araber, Bürger Israels und Bürger Palästinas können
miteinander leben. Sie werden auf der Grundlage von
zwei Staaten auch beweisen können, ob sie sogar einmal
Kern von Demokratien in der Region werden. Das ist
heute nicht vorstellbar, aber dennoch denkbar.
Danke schön.
({14})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans-Ulrich Klose.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Mit meinem ersten Satz
möchte ich gern eine kritische Zwischenfrage von Christa
Nickels aufgreifen. Ich wünschte mir, liebe Christa
Nickels, die israelische Regierung hätte nicht vor zwei
Tagen beschlossen, eine neue große Siedlung im Westjordanland zu bauen. Ich glaube nicht, dass das hilfreich ist.
({0})
Ich wünschte mir, dass arabische Politiker aufhören würden, von dem „so genannten Staat Israel“ oder von diesem „zionistischen Gebilde“ zu sprechen. Die Sprache ist,
fürchte ich, Programm.
({1})
Ich wünschte mir, dass Arafat in deutlicher - Sie haben es
gesagt - arabischer Sprache
({2})
zu einem Ende der Gewalt aufrufen würde. Ich wünschte
mir, dass Israel die Entschließungen des UN-Sicherheitsrates beachten und sich aus den palästinensischen Gebieten zurückziehen würde. Ich wünschte mir, dass beide
Streitparteien endlich darangingen, gemeinsam nach einer
politischen Lösung zu suchen, statt wie bisher ausschließlich auf Gewalt zu setzen. Es gibt - da sind wir sicher alle einig - keine militärische Lösung des Nahostproblems.
({3})
Ich glaube, in diesem Punkt jedenfalls sind wir Europäer
untereinander, aber auch mit den USA und mit Russland
sowie der UNO einig.
In Wahrheit wissen wir alle, die wir uns mit dem
Thema beschäftigen, wie in etwa eine politische Lösung
aussehen müsste. Erstens. Es gibt keine politische Lösung
ohne die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaates. Den gibt es nicht, wenn alle Siedlungen im Gazastreifen und in der Westbank aufrechterhalten und neue
gegründet werden.
Zweitens. Es gibt keine politische Lösung ohne eine
vernünftige Regelung des Flüchtlingsproblems. Unvernünftig ist es, das volle Rückkehrrecht für alle aus
Palästina vertriebenen Menschen sowie ihre Kinder und
Kindeskinder zu fordern. Das wäre - das weiß jeder, auch
die arabische Seite - das Ende des jüdischen Staates.
({4})
Drittens. Es gibt keine politische Lösung ohne eine
faire Entscheidung über Ostjerusalem und ohne eine fair
geteilte, am besten gemeinsame Souveränität über den
Tempelberg.
({5})
So in etwa müsste eine politische Lösung aussehen. Das
wissen wir alle, viele Israelis und viele Palästinenser eingeschlossen. Warum kommt es nicht zu dieser politischen
Lösung? Dafür sind zwei Gründe maßgeblich: erstens weil
die Palästinenser glauben, dass sich Kooperation und Zuwarten nicht auszahlen - richtig ist, dass sie in den zehn
Jahren nach Oslo mehr Land verloren haben als in den
zehn Jahren vor Oslo -, und weil sie aus dem Rückzug der
Israelis aus Südlibanon den falschen Schluss gezogen haben, nämlich dass sich Gewalt auszahlt. Weil das so ist,
haben die Israelis ihrerseits beschlossen, gegen diesen Irrtum mit aller Gewalt anzukämpfen und deutlich zu machen, dass sie unter Gewalt niemals nachgeben werden. In
diesem Punkt stimmen 80 Prozent der israelischen Bevölkerung mit Scharon überein, nicht mit seiner Politik.
({6})
Zweitens. Der gesamte Friedensprozess hat von Anfang an darunter gelitten, dass er auf der Basis totalen
Misstrauens eingeleitet wurde, und alle Versuche, eine
tragfähige Vertrauensbasis zu schaffen, sind durch die
Eskalation der Gewalt zunichte gemacht worden. Der gemeinsame Nenner dieses Konfliktes ist Angst, Hass und
Misstrauen. Alle Akteure haben Angst - Angst vor den eigenen Leuten, Angst vor dem Gegner, Angst vor militärischer und terroristischer Gewalt und traumatische Angst
vor massenhafter Vertreibung zurück ins Meer oder über
den Jordan.
In einer solchen Situation eindeutige Erklärungen, Aktionen und Sanktionen zu fordern, zu fordern, dass Druck
ausgeübt werden müsse - Kollege Gerhardt, Sie haben
das Verbum zwingen benutzt -, hilft nichts.
({7})
Wer solche Forderungen erfüllt, wird schnell zu einer
Partei in einer Auseinandersetzung, in der es unmöglich
ist, eindeutig und widerspruchslos zwischen Gerechten
und Ungerechten zu unterscheiden. Die Tragik des Konfliktes besteht doch darin, dass beide Seiten Opfer und Täter sind, beide aber immer nur sich selbst als Opfer und
die andere Seite als Angreifer sehen.
In einer solchen Situation ist es für uns vor allem wichtig, für beide Seiten als Ansprechpartner zur Verfügung zu
stehen, Moderator zu sein, so bescheiden diese Rolle im
Konkreten auch ausfallen mag. Statt über Sanktionen gegen die eine oder andere Seite zu sprechen, muss über
Hilfe für die leidenden Menschen, über vertrauensbildende Maßnahmen und über Wege gesprochen werden,
beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückzuführen.
({8})
Deshalb und mit diesem Ziel unterstützen wir die
Bemühungen des amerikanischen Außenministers Powell
- von denen wir nicht sagen sollten, dass sie gescheitert
sind - begrüßen wir auch die Initiative unseres Außenministers. Deshalb verzichten wir ausdrücklich darauf,
mit vollmundigen Erklärungen die emotionalen Erwartungen des eigenen Publikums befriedigen zu wollen.
({9})
Dies ist keine innenpolitische, sondern eine außenpolitische Debatte. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der Deutschen, kann es nicht sein, eine Lösung in Nahost zu erzwingen. Wer den Eindruck erweckt, das könnte man,
indem man Druck ausübt, schafft bestenfalls Illusionen.
Das sage ich deshalb, weil es, wie wir alle wissen, in
unserem Land Sympathisanten für die eine und für die andere Seite gibt. Beide erwarten von uns Erklärungen zugunsten ihres jeweiligen Standpunktes. Vorsicht, kann ich
nur sagen. Wir alle bekommen viele Briefe, auch ich;
manche sind gut, es sind aber auch viele dabei, von denen
ich wünschte, sie wären nicht geschrieben worden.
Ich möchte noch zwei Bemerkungen anfügen, die ich
an die Sympathiegruppen für die eine und die andere
Seite richte. Zunächst ein Wort an die Sympathiegruppe
Palästina. Auch Sie können und dürfen nicht übersehen,
dass, wie wiederholt gesagt worden ist, uns unsere deutsche Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber Israel auferlegt und dass eine einseitige Stellungnahme zugunsten der Palästinenser schon deshalb ausgeschlossen ist, weil auch die Palästinenser oder wesentliche Teile von ihnen das Existenzrecht Israels bis zum
heutigen Tage nicht anerkannt haben.
Für die Sympathiegruppe Israel füge ich hinzu: Die besondere Verantwortung gegenüber Israel verbietet uns
nicht, die israelische Regierung für Dinge, die sie tut oder
nicht tut, zu kritisieren. Solche Kritik, wenn sie in angemessener Form vorgetragen wird, ist nicht immer gleich
als antisemitisch zu brandmarken. Das zu tun ist falsch
und kontraproduktiv. Es ist ungerecht, wenn Kollegen, die
solche Kritik äußern, in diese Ecke geschoben werden;
dort gehören sie nicht hin.
Ich sage dies auch mit einem besorgten Blick auf manche Kommentare aus Amerika. Am liebsten würde ich
mich an die Kommentatoren selber wenden und sagen:
Liebe Freunde, wir sind nicht die verräterischen Europäer.
Wir sind Menschen, die voll Trauer und Entsetzen erleben, dass die Gewalt in Nahost eskaliert. Wir sehen, wie
Menschen leiden, Palästinenser und Israelis. Einen wenn
auch bescheidenen Beitrag zur Lösung dieses Problems
zu leisten, damit das Leiden der Menschen aufhört, das
treibt uns an und um.
Nur dies, der Wunsch, außenpolitisch hilfreich zu sein,
sollte uns bei innenpolitischen Debatten beflügeln und
leiten.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile
das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen
Joachim Hörster.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich habe, auch im Hinblick auf
die Zeit, nicht die Absicht, Dinge zu wiederholen, die an
diesem Vormittag schon gesagt worden sind. Ich möchte
mich insbesondere auf Ministerpräsident Stoiber, den
Kollegen Lamers, den Kollegen Moosbauer und auch den
Kollegen Klose beziehen, aus deren Worten deutlich geworden ist, dass wir zumindest innerhalb des Parlamentes
eine sehr breite gemeinsame Grundlage bei der Beurteilung dieses Konfliktes haben.
Was nach meinem Dafürhalten in dieser Betrachtung
ein bisschen zu kurz kommt, ist die Situation auf der
arabischen Seite; denn ich glaube, dass wir den Konflikt nicht nur als Konflikt zwischen Palästinensern und
Israelis sehen können, sondern nicht übersehen dürfen,
dass er weiter geht, über Israel und Palästina hinaus. Deshalb heißt die Debatte Nahostdebatte.
Bei der Überlegung, welche Lösungsmöglichkeiten
bestehen, stellt sich die Frage: Wie sieht der Rahmen für
solche Lösungsmöglichkeiten aus? Gibt es einen Rahmen, gibt es Bewegungen auch außerhalb von Palästina
und Israel?
Wir täten gut daran, uns einmal den Friedensplan
genauer anzuschauen, den der saudische Kronprinz
Abdallah vorgelegt hat. Der saudische Kronprinz ist ja
nicht irgendwer. Es kommt nämlich nicht darauf an, dass
es einen Friedensplan gibt, sondern darauf, von wem er
vorgelegt wird. Selbstverständlich ist dieser Friedensplan
nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber in ihm werden einige sehr bemerkenswerte Punkte angesprochen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass er sich auf die
Resolution der Vereinten Nationen bezieht und den Rückzug der Israelis aus allen besetzten Gebieten - einschließlich der Golanhöhen - in die Grenzen von 1967 verlangt.
Dann fordert er die Rückführung der Flüchtlinge nach
UN-Resolution 194, wobei wir alle wissen - das wissen
auch alle arabischen Regierungen -, dass dies eine Verhandlungsposition ist, deren Erfüllung gänzlich unrealistisch ist.
Herr Kollege Gerhardt, in diesem Zusammenhang eine
Bemerkung: Die Kritik an den arabischen Staaten hinsichtlich der Behandlung der Flüchtlinge, die Sie geübt
haben, ist nur teilweise berechtigt. Die UN-Flüchtlingskommission für Palästina hat mittlerweile festgestellt,
dass sowohl in Jordanien als auch in Syrien mehr als
80 Prozent der palästinensischen Flüchtlinge in die Bevölkerung integriert sind, also nicht mehr in Lagern leben,
sondern als Staatsbürger voll akzeptiert werden. Ein Sonderproblem stellt zweifelsohne der Libanon dar. Wir wissen, dass in diesem Land von allen Seiten die härtesten
Fronten aufgebaut werden. Ich will diesen Punkt jetzt aber
nicht vertiefen; ich wollte ihn nur kurz erwähnen.
Der Friedensplan von Abdallah verlangt die Anerkennung eines souveränen und selbstständigen palästinensischen Staates auf der Westbank und im Gazastreifen.
Dabei handelt es sich im Übrigen um eine Forderung, die
von allen Seiten dieses Hauses geteilt wird. Das ist auch
die Position der Vereinten Nationen und der Europäischen
Union; sie wird ebenfalls von den Vereinigten Staaten von
Amerika akzeptiert.
Im Gegenzug bietet der Friedensplan an - in diesem
Punkt kommt es auf die genaue Beachtung der Sprache
an -, dass der israelisch-arabische Konflikt für beendet erklärt wird. Abdallah will dies durch ein Friedensabkommen mit Israel erreichen, in dem die Sicherheit für alle
Staaten in der Region gewährleistet werden soll. Der Friedensplan bietet weiterhin die Herstellung normaler Beziehungen zu Israel in Übereinstimmung mit dem umfassend vereinbarten und zuvor geschlossenen Frieden an.
Das ist vor dem Hintergrund dessen, was sich in den
letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ein gewaltiger Schritt.
Denn alle Verhandlungsprozeduren, die wir seit 1978 bis
zum heutigen Tag erlebt haben - ich erinnere an die Treffen von Jimmy Carter, Anwar al-Sadat und Menachem Begin in Camp David -, haben zu keinem Zeitpunkt eine vergleichbare arabische Position hervorgebracht. Diese
Position ist auf dem Gipfel der Arabischen Liga - es haben
zwar einige wichtige Staatschefs gefehlt; aber ihre Vertreter waren anwesend - in Beirut beschlossen worden.
Das heißt, wir haben jetzt eine vom gesamten arabischen Umfeld gebilligte Perspektive für eine Friedenslösung für Palästina. Was können die Europäer dazu beitragen? Wir haben in der heutigen Debatte noch kein Wort
über den Barcelona-Prozess verloren. Im Zusammenhang mit dem Abkommen von Oslo und mit dem GazaJericho-Abkommen hat die Europäische Union auf dem
Gipfel in Essen - ich darf daran erinnern: unter der Ratspräsidentschaft von Helmut Kohl - die Weichen für die
Außenministerkonferenz in Barcelona gestellt.
Die Außenministerkonferenz in Barcelona hatte zum
Ergebnis, dass die Europäische Union und die zwölf südlichen und östlichen Mittelmeeranrainer in ein besonderes
Verhältnis eintreten. Dieses besondere Verhältnis betrifft
als Mittelmeeranrainer sowohl Palästina und Israel als
auch Syrien und Ägypten. Wir haben also einen Rahmen
geschaffen, in dem wir mit den Mittelmeeranrainern und
damit auch mit den Staaten des Konfliktgebietes umgehen
wollen.
Die Europäische Union hat mit diesem Schritt deutlich
gemacht, wo der Unterschied zwischen ihrer und der Position der Vereinigten Staaten liegt. Für uns ist dieses Gebiet der Nahe Osten und nicht der Mittlere Osten. Es sind
unsere Nachbarn, mit denen wir gemeinsam leben und mit
denen wir gemeinsam eine Reihe von Problemen bewältigen müssen. Das Migrationsproblem ist nur eines von
diesen Problemen.
Mit diesem Rahmen sind die Voraussetzungen für die
notwendigen Leistungen für den Aufbau der Infrastruktur
eines palästinensischen Staates geschaffen worden. Seit
1994 hat die Europäische Union 2,5 Milliarden Euro für
diese Region ausgegeben, von denen nach den jetzigen
Ereignissen so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist.
Wer sich das Ganze auch noch inhaltlich vor Augen hält,
wird feststellen, dass dieser Barcelona-Prozess drei Körbe
enthält, die für die ganze Region und auch für die Entwicklung der Zivilgesellschaft von einer unschätzbaren
Bedeutung sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist notwendig, keine Politik der lauten Worte zu betreiben. Wir
müssen in dem von uns vorgefundenen Rahmen eine stille
Diplomatie betreiben, um damit die Ängste abzubauen,
von denen der Kollege Klose gesprochen hat, und um den
sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Rahmen zu
schaffen, der einen Aufbau und ein vernünftiges Zusammenleben im Nahen Osten ermöglicht.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe
dem Kollegen Günter Gloser das Wort. Er spricht für die
Fraktion der SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Was kann ein gewöhnlicher Mensch tun, der vor einem gewaltigen Feuer steht? Er kann versuchen, dem
Brand zu entkommen und all die ihrem Schicksal
überlassen, die nicht schnell genug laufen können
oder nicht wissen, wohin. Er kann herumstehen und
jammern. Er kann die Schuld auf andere schieben. Er
kann aber auch den Teelöffel, den er in der Hand hält,
immer wieder mit Wasser füllen und es in die Flammen spritzen.
So beginnt ein Beitrag von Amos Oz in der „Süddeutschen Zeitung“ von vor wenigen Tagen. Er fährt fort:
Jeder von uns hat so einen Teelöffel. In diesen Tagen
muss jeder, der für Frieden ist, Wasser besorgen
- wenigstens einen Teelöffel voll - und es in das
Feuer gießen: Er muss seine Stimme erheben gegen
die Kriegsverbrechen der einen wie der anderen Seite
und den Opfern dieser Verbrechen seine Hilfe anbieten; er muss demonstrieren, überreden, diskutieren,
Unterstützung für vernünftige Kompromisse einholen und argumentieren gegen die Fortsetzung der
israelischen Besatzung wie auch gegen die islamisch-antisemitische Kampagne zur Auslöschung
Israels. Der Löffel in der Hand eines gewöhnlichen
Menschen ist wohl sehr klein und das Feuer sehr
groß - aber trotzdem muss er ihn benutzen.
Amos Oz fährt mit einem schönen Beispiel fort. Er sagt:
Wir brauchen in Israel wie auch in Palästina eine
„Teelöffel-Kampagne“, bei der jeder mitmacht und
sein Äußerstes gibt, um dieses ewige Rad von Unterdrückung, Mord, Vergeltung und Vergeltung der Vergeltung endlich anzuhalten.
Um das Bild von ihm aufzugreifen: Ich meine, dass
auch die Europäische Union einen solchen Teelöffel in die
Hand nehmen muss. Ich glaube, sie hat nicht nur einen
Teelöffel in die Hand genommen, sondern mehrere. Das
heißt wiederum, dass auch wir Deutsche uns daran beteiligen müssen. Dies ist im Verlaufe dieser Debatte bereits
in vielfältigster Weise angesprochen worden.
({0})
Europa muss - nicht nur, weil wir vielleicht ein ureigenes Interesse daran haben - für die Menschen in dieser Region, die auf beiden Seiten, in Palästina und in Israel, betroffen sind, aktiv werden. Jeder, der in dieser Region
engagiert ist, weiß, dass das aber auch für die Nachbarn
gilt. Als Beispiel spreche ich Jordanien an, das unter diesem Konflikt ebenfalls sehr leidet. Ich glaube, dass wir gelernt haben, dass Europa nur in Abstimmung mit den Vereinten Nationen, den Vereinigten Staaten und mit Russland
einen abgestimmten politischen Beitrag leisten kann.
Ich halte daher die Überschrift und Kommentierung in
einer deutschen überregionalen Zeitung für falsch. Sie
schreibt: „Das Scheitern der EU als Friedensstifter“. Dies
hilft der Politik wenig weiter.
({1})
Es wird nämlich der Eindruck erweckt, als ob Scheitern
das Ende jeglichen politischen Handelns bedeuten würde.
Im Gegenteil: Die Europäische Union beteiligt sich sehr
aktiv an den Verhandlungen. Das ist sicherlich ein Unterschied zu früheren Jahren. Damals wurde gelegentlich
kritisiert, dass die Amerikaner verhandeln und die
Europäer finanzielle Unterstützung leisten. Aber auch das
ist Politik; man darf sie nämlich nicht nur in einem engen
Blickwinkel sehen.
Ich denke, es ist wichtig, auch weiterhin finanzielle
Unterstützung für diese Region zu leisten. Gerade in den
palästinensischen Gebieten muss der Aufbau einer zivilen
Infrastruktur unterstützt werden. Diese finanzielle Unterstützung muss natürlich einer Kontrolle unterliegen. Hierfür gibt es Institutionen.
Es ist mehrfach erwähnt worden, dass in diesen Tagen
Forderungen nach Sanktionen gegen Israel laut geworden sind. Unabhängig davon, ob sie mehr schaden oder
nutzen: Wir können doch angesichts dessen, dass wir vor
wenigen Monaten in einer anderen benachbarten Region
gesagt haben, dass Sanktionen letztendlich unwirksam,
maßlos oder sogar verwerflich sind, keine Sanktionen fordern. Solche doppelten Standards würden uns zurückwerfen. Dafür sollten wir uns nicht hergeben.
({2})
Genauso wenig halte ich natürlich von Forderungen, wonach die finanziellen Hilfen für die Palästinenser eingestellt werden sollen. Ich glaube, dass es wichtig ist - das
ist hier an verschiedensten Punkten deutlich geworden -,
über eine zivile Infrastruktur zu verfügen.
Leider stellen Zeitungsberichte, aber auch das Fernsehen - das können sie manchmal auch nicht - nicht all die
Dinge dar, die wichtig sind und die zu Hoffnungen in dieser Region geführt haben. Ich möchte ein Beispiel erwähnen, das zurzeit leider auf Eis liegt, für das sich aber mein
Kollege Christoph Moosbauer sehr stark engagiert hat.
Ich meine das von der Friedrich-Ebert-Stiftung angestoßene und von der Europäischen Union finanzierte Projekt in der Nähe von Dschenin, das jetzt in der Tat zum Erliegen gekommen ist. Dies ist ein Projekt, das den Willen
zum Frieden und zur Zusammenarbeit gezeigt und das
eine grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit
gefördert hat. Wer die Initiatoren auf beiden Seiten beobachtet hat, fühlte sich gelegentlich an europäische
Grenzsituationen erinnert, da über Grenzen hinweg eine
eindrucksvolle kooperative Zusammenarbeit geleistet
worden ist. Welch eine Hoffnung, welch ein Signal! Leider ist es momentan zum Stillstand gekommen.
Ich greife gern das Stichwort Mittelmeerprozess
- Kollege Hörster hat es angesprochen - auf. In der Tat,
das alles hängt zusammen. Ich fand es gut, dass auf der
Konferenz in Valencia der Dialog letztendlich fortgesetzt
worden ist. Er ist nicht unterbrochen worden, auch wenn
manche Länder gelegentlich gefehlt haben. Es war ein Forum, am Rande auch über diesen Prozess zu diskutieren.
Wir alle - auch mehrfach in diesem Haus - haben nach
dem 11. September 2001 vieles gefordert und uns einiges
gewünscht. Daher ist es äußerst wichtig - es gibt hier
überhaupt keinen Unterschied zu den Ausführungen des
Kollegen Hörster -, dass wir den Dialog gerade in dieser
Region fördern, und zwar nicht nur den wirtschaftlichen,
sondern auch den Dialog mit den Inhalten, wie er in
Korb III der KSZE-Schlussakte formuliert worden ist.
({3})
Denn es gilt doch für beide Seiten, für Israel und für die
palästinensischen Gebiete: Auf beiden Seiten leben Menschen in Angst, Menschen, die keine Perspektive haben.
Auf beiden Seiten leben Menschen, die schon seit einigen
Monaten nur Gewalt erleben. Aus unserer Sicht fragt man
sich natürlich: Warum finden sie nicht zusammen?
Ich möchte am Schluss meiner Rede auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Denn ich finde, dass es
auch andere Stimmen gibt. Wir sprechen immer von den
Israelis und den Palästinensern. In seinem jüngsten Buch
zitiert der britische Historiker Bernhard Wasserstein den
schon vorhin von Herrn Fischer zitierten Sari Nusseibeh,
den Präsidenten der Al-Quds-Universität. Er sagte in einem Gespräch mit israelischen Politikern, das in den Medien veröffentlicht wurde:
Ich wäre ja blind, wenn ich die jüdische Beziehung
zu Jerusalem bestritte. Die existenzielle Beziehung,
die die Juden zu Jerusalem haben, muss anerkannt
und respektiert werden, genauso wie die islamische
und arabische Beziehung zu Jerusalem.
Wir sollten Personen wie ihn und Personen wie beispielsweise Jossi Beilin, der auch einer Minderheit angehört, auch von europäischer Seite unterstützen. Denn
ich glaube, dass sie den Teelöffel, den ich gemäß Amos Oz
zitierte habe, in der Hand haben. Ich denke, das könnte ein
Weg zu einem friedlichen Prozess in dieser Region sein.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege
Friedbert Pflüger spricht für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rachel Lewi
war 17 Jahre alt und Israelin. Ajat al-Achras war 18 Jahre
alt und Palästinenserin. Sie sahen sich ähnlich. Sie haben
ein paar Kilometer voneinander entfernt gelebt. Wenn sie
sich unter anderen Umständen, in anderen Zeiten, begegnet wären, wären sie vielleicht Freundinnen geworden.
Sie haben sich einmal kurz gesehen, zufällig, vor einem
Supermarkt in Jerusalem. Dann zündete Ajat den Sprengstoffgürtel. Beide sind dabei umgekommen.
Man muss die Frage stellen, inwieweit wir in einem
solchen Klima des Terrors und der Selbstmordattentate
überhaupt Friedensverhandlungen fordern können. Man
muss doch wenigstens, bei aller Kritik, die auch legitim
ist, verstehen, dass irgendwann die Frage gestellt wird:
Wie lange wollen wir zusehen, dass in Hotels oder bei religiösen Festen dieser furchtbare Terrorismus immer wieder zuschlägt? Hundert zivile Tote, Frauen und Kinder, in
Israel in einem Monat, im Monat März - umgerechnet auf
die Größe der Bundesrepublik Deutschland würde das
1 250 Tote bedeuten. In welchem Land der Welt könnte
man unter solchen Umständen Friedensverhandlungen
führen? Terror und Frieden passen nicht zusammen.
Es gibt viele Gründe dafür und wahrlich nicht nur auf
einer Seite; dazu ist heute bereits viel Gutes gesagt worden. Aber ein Grund für diesen Terror, diesen Hass liegt
darin, dass in Palästina in den Schulbüchern nach wie
vor Hass gepredigt wird. In den Schulbüchern in Palästina
gibt es den Staat Israel nicht - eine Geografie, in der israelische Städte nicht vorkommen. In Schulbüchern für die
fünfte Klasse heißt es zum Beispiel:
Schreibe fünf Zeilen über die Tugenden der Märtyrer und ihre herausragende Stellung.
Oder:
Bestimme in folgenden Sätzen, was Subjekt, was
Prädikat ist: Der Heilige Krieg ist eine religiöse
Pflicht jedes muslimischen Mannes und jeder muslimischen Frau.
Wir unterstützen die palästinensische Autonomiebehörde. Es ist richtig, dass wir diesen Beitrag leisten und
dass wir in Palästina helfen, vor allem auch humanitär. Aber
vielleicht müssen wir doch in Zukunft die wenigen Hebel,
die wir haben, stärker nutzen und zum Beispiel dafür sorgen, dass es solche Schulbücher, solche Aufrufe zu Hass
und Gewalt gegen die Existenz Israels nicht mehr gibt.
({0})
Ich bin 1999 in Israel gewesen - ich war inzwischen
wieder da -; damals gab es eine Hoffnung und eine Aufbruchstimmung. Damals sagten die Israelis: Wir glauben,
dass die Araber jetzt endlich verstanden haben, dass sie
mit Israel rechnen müssen und dass wir zu einem Ausgleich kommen müssen. Diese Hoffnung ist heute in
Israel zerstört. Natürlich haben die Israelis zum Beispiel
durch ihre Siedlungspolitik dazu beigetragen; aber sie
würden - davon bin ich nach meinen vielen Erfahrungen
in Israel felsenfest überzeugt - einem palästinensischen
Staat zustimmen. Sie haben im Jahr 2000 mit Clinton,
Barak, Arafat solche Regelungen ausgehandelt. Es gab
Wege, den Terrorismus und die Gewalt frühzeitig zu verhindern. Sie sind nicht gegangen worden. Ich finde, wir
sind manchmal in der Gefahr, in diesen Tagen etwas zu
einseitig die Fehler bei denjenigen zu sehen, die die
schlimmeren Fernsehbilder produzieren, den Israelis.
({1})
Wir wissen - Kollege Hintze hat es gestern im Europaausschuss gesagt -, dass Arafat seit langem in einem
Dreieck zwischen Duldung, Billigung und Steuerung des
Terrorismus gefangen ist. Es gibt Dokumente, die jetzt
von unserer Bundesregierung als echt bestätigt worden
sind, die vielleicht nicht beweisen, aber nahelegen, dass
Arafat und die Al-Aksa-Brigaden zusammenarbeiten.
Wenn wir jetzt angebliche Massaker in Dschenin überprüfen - ich finde es richtig, dass wir sie überprüfen und dass
die Vereinten Nationen eine Untersuchung einleiten -,
müssen wir auch über solche Dokumente reden, auch
wenn sie uns vielleicht nicht in den Kram passen. Dann
müssen wir uns auch die Frage stellen, ob von unserer
Seite nicht viel zu lange zugeschaut wurde, wenn Terrorismus gebilligt, geduldet oder vielleicht sogar gesteuert
worden ist.
({2})
Herr Kollege Pflüger, ich kann Ihnen leider jetzt keine weitere Redezeit geben.
Ich möchte noch
einen letzten Satz sagen, Herr Präsident.
Worauf es ankommt, ist, das Existenzrecht Israels mit der
Würde der Araber und der Palästinenser zu verbinden. Das
ist eine große Aufgabe und an dieser Aufgabe müssen wir
alle zusammen über alle Parteigrenzen hinweg arbeiten.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als letzter
Rednerin in dieser Aussprache gebe ich nun das Wort der
Kollegin Dagmar Schmidt für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie wir in der Entwicklungspolitik ein Instrument der Krisenprävention
und der Armutsbekämpfung sieht, muss über die aktuelle
Situation im Nahen Osten besonders enttäuscht sein.
Wenn man nicht differenzierte, wenn man sich nur von
den Bildern der Gewalt leiten ließe, müsste totale Hoffnungslosigkeit die Folge sein.
Der Bundeskanzler und unsere Außenpolitiker haben
in dieser Debatte die Leitlinien der deutschen Nahostpolitik dargestellt. Alle haben deutlich gemacht: Die Gewalt muss ein Ende haben. Gewalt darf keine Sympathie
finden. - Sympathie für die Menschen im Nahen Osten
konnte wachsen, solange dort politische Entscheidungsträger das Prinzip Hoffnung verkörperten. Entwicklungspolitische Maßnahmen in den palästinensischen Gebieten
wurden als wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung
und damit für die Krisenbewältigung angesehen. Glaubwürdigkeit für unsere Instrumente haben wir nur gefunden, weil wir den oft gehörten Vorwurf der Doppelstandards entkräften konnten, weil wir unsere Haltung, Terror,
Gewalt und Hass grundsätzlich zu verurteilen, nicht opportunistisch relativieren. Wir müssen weiterhin für diesen gewaltfreien Weg werben und extremistische Kräfte
verurteilen.
Unsere Politik hat immer in der Stärkung der Zivilgesellschaft und somit in der Förderung von Demokratisierungsprozessen und der Sicherung von Menschenrechten ihr Ziel gesehen. Wir betonen das Recht
der Palästinenser, in einem eigenständigen, demokratischen Staat zu leben, der die Existenz und die
Sicherheitsinteressen Israels akzeptiert. Deshalb müssen
wir unsere Anstrengungen zur Stärkung demokratischer
Strukturen in den Autonomiegebieten intensivieren.
Hier können wir auf der international anerkannten Arbeit der politischen Stiftungen aufbauen. Es muss gelingen, die Feindbilder in den Köpfen der Menschen abzubauen. Erziehung zum Frieden setzt eine große
Verantwortung von Lehrern und Journalisten voraus.
Gemeinsame Schulbuchkommissionen können hier, wie
die europäische Erfahrung zeigt, einen wichtigen Beitrag leisten.
({0})
Meine Damen und Herren, die Hoffnung muss wieder
Raum finden. Außenpolitik und Entwicklungspolitik
beteiligen sich gemeinsam an den UN-Notprogrammen
und an den Programmen der Caritas, um die Besorgnis erregende Versorgungslage zu entschärfen. Wir halten Beschäftigungsprogramme gerade für Jugendliche für besonders wichtig. Junge Menschen brauchen eine Perspektive
jenseits von Hass und Gewalt.
Wir sind darauf vorbereitet, unsere bewährten entwicklungspolitischen Erfahrungen schwerpunktmäßig in
die Bereiche Wasser, Förderung der Zivilgesellschaft sowie Aufbau und Sicherung der Demokratie einzubringen,
sobald die aktuelle Sicherheitslage dies erlaubt.
Gerade im Gespräch mit den Vertretern zahlreicher
Nichtregierungsorganisationen auf beiden Seiten bekommen wir oftmals die auch in dieser Region existierende
Erkenntnis vermittelt, die auf politischer Ebene so schwer
zu verwirklichen ist: Nur im Dialog, im gegenseitigen
Respekt und in vertrauensbildenden Maßnahmen liegt
eine Zukunft für den Nahen Osten. Auf diese Vernunft
setzen wir unsere Hoffnung.
({1})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 14/8862 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungs-
anträge zur Regierungserklärung auf den Drucksachen
14/8879 und 14/8904 sollen an dieselben Ausschüsse
überwiesen werden. - Ich sehe, dass das Haus damit ein-
verstanden ist. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Zum Zusatzpunkt 3 gibt es die Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/8877 zu
dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Die Ge-
waltspirale im Nahen Osten beenden“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8271 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Dann stelle ich fest, dass
die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der PDS angenom-
men ist.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 17 a und
17 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Rühe, Dr. Karl-Heinz Hornhues, Hans-Peter
Repnik, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Dr. Klaus Kinkel, Dr. Werner Hoyer
und der Fraktion der FDP
Die zweite Runde der NATO-Erweiterung auch
als Beitrag zur Stabilisierung Südosteuropas
konzipieren
- Drucksache 14/8835 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die NATO vor der Erweiterung
- Drucksache 14/8861 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Christian Schmidt für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn
sich die Staats- und Regierungschefs der NATO im November dieses Jahres zu ihrem nächsten Gipfeltreffen in
Prag zusammenfinden, steht auch die Aufnahme weiterer
Mitglieder in die Allianz auf der Tagesordnung. Man erinnere sich: Die erste Erweiterungsrunde der NATO mit
Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik wurde
maßgeblich von Deutschland mitgestaltet. Die damalige
Regierung Kohl hat die historische und strategische Dimension dieses Prozesses rechtzeitig erkannt, sich entsprechend verhalten und schon damals darauf hingewiesen, dass es eine zweite Erweiterungsrunde geben wird.
Ganz anders stellt sich das Bild anlässlich der zweiten
Öffnungsrunde der Allianz dar: Es gibt keine deutsche Initiative und keine öffentliche Debatte. Es ist, im Gegenteil,
fast eine Tabuisierung des Themas festzustellen. Erst die
Rede des amerikanischen Präsidenten in Warschau vor einem Jahr hat unserer Regierung das Thema quasi aufgezwungen. Dennoch ist die Zurückhaltung nicht zu übersehen. Wir wollen heute mit unserem Antrag einen
Beitrag dazu leisten, dass diese Zurückhaltung aufgegeben wird; denn sie ist misslich. Durch das Fehlen dieser
Debatte werden auch die strategischen Fragen, die mit der
Erweiterung zusammenhängen, nicht diskutiert.
Ich hoffe, dass wir die Bundesregierung trotz des vor
uns liegenden Wahlkampfes dazu bringen werden, diesem
Thema genügend Aufmerksamkeit zu widmen. An uns
soll und wird es auf jeden Fall nicht liegen. Unsere Überlegungen zu dieser Frage sind umfangreich und politisch
klar gegliedert, sodass wir die deutsche Position beim
Prager Gipfel auch nach der Bundestagswahl gut werden
einbringen können.
Zunächst steht die Erweiterung der NATO um zwischenzeitlich sieben Länder - die drei baltischen Staaten,
die Slowakei, Slowenien, Bulgarien und Rumänien - unter der Überschrift der Stabilitätsgewinnung und Erweiterung für ganz Europa. Nach wie vor ist die Rolle der
NATO als Anker der Stabilität in Europa wichtig. Dies betrifft nicht nur Fragen der Binnenstabilisierung in den
Beitrittsländern - hierzu wäre die NATO wohl ein nur
sehr begrenzt adäquates Instrument -, sondern auch regionale und geostrategische Überlegungen.
Durch diese werden Bulgarien und Rumänien näher
an die NATO herangeführt - wir haben uns in unserem
Antrag dazu sehr deutlich positioniert - als durch rein militärische Kriterien. Der Zustand ihrer militärischen Fähigkeiten lässt dies gegenwärtig möglich erscheinen.
Diese Länder bei der nächsten Runde zu berücksichtigen
ist ein perspektivischer Antrag.
Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres
Fraktionskollegen Freiherr von Stetten?
Gerne.
({0})
Herr Kollege, wir wollen, wie es im Antrag steht, sieben
Staaten aufnehmen. Stimmen Sie mit mir überein, dass
wir für die Länder Litauen, Lettland und Estland eine
besondere Verantwortung haben, nachdem sie 1939 durch
den Hitler-Stalin-Pakt von uns zum Spielball zweier
Großmächte wurden, und auch die Westmächte 1940,
1941 und 1945 nichts gegen die Unterdrückung dieser
Länder getan haben?
Herr Präsident, ich darf zuerst den Zwischenruf kommentieren. Wer
den Kollegen von Stetten kennt, der weiß, dass er keine
Aufforderung braucht, um sich für die baltischen Staaten
einzusetzen, und dass seine Frage nicht bestellt war.
Ich nehme nun die Zwischenfrage gerne auf. Sehr verehrter Herr Kollege von Stetten, ich stimme der in Ihrer
Frage enthaltenen Tendenz zu. Wir haben sowohl von unserer Seite als auch - ich darf das einmal so sagen - von
jener der Russischen Föderation her eine gewisse historische Verantwortung und Verpflichtung, die Unabhängigkeit, aber auch die Entscheidungsfreiheit der baltischen
Staaten sicherzustellen. Zur Entscheidungsfreiheit gehört
auch die Freiheit der Bündniswahl. Von dieser Wahlfreiheit wollen die Länder Gebrauch machen. Wir haben heute
im Gespräch mit dem estnischen Parlamentspräsidenten
und seiner Delegation davon gehört. Ich bin deswegen der
Ansicht, dass wir dieses Anliegen unterstützen sollten.
({0})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
In diesen Ländern ist übrigens die binnenstabilisierende Wirkung sehr groß, möglicherweise größer, als das
in Slowenien und der Slowakei der Fall ist. Ich will die
Länder nicht im Einzelnen bewerten. Dazu werden wir
noch kommen.
Allerdings muss ich beim Stichwort Slowakei etwas
einflechten. Hier zeigt sich: Eine Stabilisierung ist auch
innerhalb der Länder notwendig. Die Botschaft, die wir
aussenden, ist auch: Diejenigen, die mit der NATO nichts
anfangen können und die früher in diesem Land Verantwortung getragen haben, sollten sich nicht einbilden, dass
es nun einfach „Schwamm drüber“ heißt. Damit meine ich
Herrn Meciar und seine Vorstellungen, die er vor Jahren
entwickelt hat und mit denen er uns konfrontiert hat. Ich
vermag bisher nicht festzustellen, dass sich die Haltung
seiner Partei in dieser Frage sehr geändert hat. Diese klare
Botschaft wird, wenn ich das richtig sehe, nicht nur von
den Amerikanern, sondern, Herr Bundesminister, auch
von den Europäern in die Slowakei transportiert.
Ich will zum Thema der Stabilisierung nach außen einen Aspekt ansprechen, über den wir leider zu wenig reden. Es geht nicht nur um das Treffen der Staats- und Regierungschefs im November in Prag, sondern auch um das
bevorstehende NATO-Außenministertreffen in Reykjavik
im Mai. Gerade im Hinblick auf die Bündniswahlfreiheit
der baltischen Staaten werden entscheidende Weichenstellungen vorgenommen werden. Es wird darauf ankommen, das Verhältnis der NATO zur Russischen Föderation
neu zu justieren. Wir halten eine Kooperation, besonders
im Bereich der Terrorbekämpfung und der Antiterrorkoalition, mit Russland für notwendig. Das ist bisher unbefriedigend behandelt worden.
Ich möchte jetzt nicht untersuchen, wieso der NATORussland-Rat nicht funktioniert hat. Aber ich habe den
Eindruck, dass das nicht allein die NATO-Strukturen betrifft. Ich möchte auch an die russische Seite appellieren,
noch einmal genau zu überlegen, mit welchem Impetus
man an solche Veranstaltungen herangeht. Nur von 19
plus 1 auf 20 umzustellen, wird das Problem nicht lösen.
Man muss sich von der Haltung verabschieden, man
könne alles allein entscheiden, die anderen hätten zu folgen. Nein, so wird es nicht sein und nicht sein können.
Trotzdem bejahen wir eine neue Struktur, die Russland
näher an uns heranführt und eine Leitlinie für unser Handeln darstellt.
Ich glaube, dass die amerikanische Sicherheitsberaterin Condi Rice Recht hat, als sie sagte, dass ein Beitritt
Russlands zur NATO gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung stehen kann.
({1})
- Es gibt aus verschiedenen Richtungen, unter anderem
aus Ihrer, ab und zu Vorstellungen, die etwas anderes wollen. Ich meine, dass wir uns sehr genau überlegen sollten,
wie wir mit Russland umgehen. Aber das Thema des Beitritts sollten wir im Augenblick nicht diskutieren. Wenn
ich „im Augenblick“ sage, dann meine ich damit die
nächsten Jahre und möglicherweise auch Jahrzehnte. Es
geht darum, dass wir verhindern, dass aus der NATO eine
OSZE wird. Es geht darum, dass wir die Frage, die sich
durch die Erweiterung um sieben Staaten stellen wird,
nämlich wie das Konsensprinzip effektiv aufrechterhalten
werden kann, beantworten müssen. Es wird innerhalb der
NATO eine Strukturdebatte geben. Ich fordere, dass bereits im Mai in Reykjavik anhand der Frage der Zusammenarbeit mit Russland über diese interne NATO-Frage
diskutiert wird und entsprechende Vorschläge entwickelt
werden.
({2})
- Das ist zum Beispiel die Frage, ob die Europäer insgesamt in der NATO stärker auftreten sollten oder nicht.
Momentan geht man ja von der Formel 19 plus 1 gleich
20 aus. Vielleicht wäre 1 plus 1 plus 1 die bessere Perspektive.
({3})
- Herr Minister, in diesen Fragen ist in den letzten Jahren
nur wenig gelaufen. Wir möchten Butter bei die Fische.
Es geht jedenfalls nicht, neue Staaten nacheinander an
das bisherige System anzuflanschen, ohne sich zu überlegen, wie man mit 26 NATO-Mitgliedern oder mehr eine
vernünftige, entscheidungsfähige und den Amerikanern
vermittelbare Politik machen kann. Das ist doch das Problem, das wir gegenwärtig in der NATO haben. Wieso ist
denn der Bündnisfall im Zusammenhang mit dem 11. September zwar ausgerufen, aber nie eingefordert worden?
Wieso hat er denn nicht zu Konsequenzen geführt?
Kollege Pflüger hat vor einiger Zeit einen sehr interessanten Vorschlag gemacht. Er hat gesagt, wir bräuchten eigentlich so etwas wie einen neuen Harmel-Bericht. Dieser Bericht führte 1967 zur Neujustierung des
Zusammenspiels von politischen und militärischen Fähigkeiten. In der Tat hat sich die Welt so verändert, dass die
NATO wohl einen neuen Harmel-Bericht herausgeben und
sich über die Frage Gedanken machen muss - diese hat sie
ansatzweise bereits auf ihren Gipfeln von Madrid bis
Washington in ihrer neuen Strategie berücksichtigt -, wie
man die Notwendigkeit der Binnenstabilisierung Europas,
also eine stark politische Komponente, mit einer möglichen Befriedung an der Peripherie, mit der Erhaltung der
militärischen Schlagkraft und auch der militärischen Interventionsfähigkeit der NATO verknüpfen kann. Gegenwärtig sind die Amerikaner - wer mag es ihnen verdenken der Meinung, mit den Europäern sei nicht viel anzufangen,
wenn sie den Vertrag über die Defense Capability Initiative - auf Deutsch: Verteidigungsfähigkeitsinitiative -, den
sie unterschrieben hätten - die militärischen Fähigkeiten
sollten in 58 Punkten verbessert werden -, nicht erfüllten.
({4})
- Ich möchte ja Abstand davon nehmen, den Rücktritt von
Herrn Scharping zu fordern. Den fordert die Koalition
zwischenzeitlich schon selber. Die Situation ist misslich,
weil mit dem Mann - so ist jedenfalls mein Eindruck überhaupt nicht mehr zu reden ist. Vielleicht sagt ihm ja
der eine oder andere in Washington wieder einmal, um
was es wirklich geht.
Christian Schmidt ({5})
Es geht darum, dass die NATO nach der bevorstehenden Erweiterungsrunde und aus der Diskussion, die in
Reykjavik geführt werden wird, als ein Bündnis hervorgeht, das militärisch und politisch handlungsfähig ist. Das
Bündnis ist gegenwärtig militärisch nur beschränkt handlungsfähig. Das wiederum beschränkt die außenpolitischen Fähigkeiten unseres eigenen Landes und unseres
Kontinents. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Deswegen muss sich hier etwas verändern. Dies steht neben dem
Beitritt der genannten Länder auf der Tagesordnung.
Ich bin überzeugt davon, dass es viel Unterstützung für
die baltischen Staaten, für Slowenien, für die Slowakei
mit den genannten Kautelen, für Bulgarien und Rumänien
geben wird. Diese Länder werden unseren Kontinent mit
stabilisieren und in der Lage sein, einen militärischen Beitrag zu leisten, wenn sie den Membership Action Plan der
NATO entsprechend erfüllen. Nur, man tut sich gegenwärtig etwas schwer, diesen Ländern zu sagen: Ihr müsst
dieses und jenes machen. Denn es könnte ja sein, dass
diese zurückfragen: Wie haltet ihr es denn selber mit euren Zusagen und Fähigkeiten?
In diesem Sinne schließe ich meine Rede und bitte um
Unterstützung für unseren Antrag.
({6})
Der Kollege
Dieter Schloten spricht jetzt für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingangs möchte ich an eine Episode erinnern, die vielen von Ihnen nicht mehr gegenwärtig sein dürfte: Auf Initiative der Parlamentarischen
Versammlung der NATO kam es im Frühjahr 1988 auf der
schönen Insel Madeira zu einer wichtigen und richtungweisenden, allerdings höchst umstrittenen Entscheidung.
Sie bestand darin, den damaligen Staatssekretär im ungarischen Außenministerium namens Gyula Horn einzuladen, auf der Herbsttagung des selben Jahres im Hamburger Rathaus zu den Mitgliedern des Politischen und des
Verteidungsausschusses zu sprechen. Das war 1988. Ein
Jahr später war es ebenfalls Gyula Horn, der den Eisernen
Vorhang durchschnitt.
Mit der Einladung eines Politikers, der dem Warschauer Pakt angehörte, leiteten die Parlamentarier des
Bündnisses eine bahnbrechende Entwicklung ein. Bereits
ein Jahr später, am 9. Oktober 1989, also einen Monat vor
dem Fall der Mauer, sprachen der Oberbefehlshaber der
NATO und der des Warschauer Paktes, die Herren Generäle Galwin und Lobow, vor demselben Gremium der
Nordatlantischen Versammlung in Rom. Der damit eingeschlagene Weg gipfelte in der Römischen Erklärung für
Frieden und Zusammenarbeit beim Treffen der Staatsund Regierungschefs am 7. und 8. November 1991. Hier
wurde das neue strategische Konzept verabschiedet. Dieser Gipfel sandte an die Länder Mittel- und Osteuropas
ein deutliches Signal zur Möglichkeit einer späteren engeren Zusammenarbeit und sogar einer Mitgliedschaft.
Drei Jahre nach dem Beitritt Polens, Ungarns und der
Tschechischen Republik steht die NATO nun vor der Entscheidung über das Ausmaß der nächsten Erweiterungsrunde. Auf das Treffen der Außenminister in Reykjavik
wird am 28. Mai der NATO-Russland-Gipfel in Rom folgen, der eine neue Form unserer Zusammenarbeit mit der
Russischen Föderation festschreiben wird. Ende November wird der Gipfel in Prag dann Gewissheit über die
zukünftigen Umrisse des Bündnisses bringen.
Herr Kollege Schmidt, ich teile nicht Ihre Meinung von
einer Tabuisierung. Im politischen Raum ist es schon fast
zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass die Erweiterung der NATO fortschreitet. Ich glaube nicht, dass irgendjemand Probleme hat, darüber zu sprechen. Ich
werde das gleich an einem anderen Beispiel belegen. Dieses Jahr ist jedenfalls für die NATO ein wichtiges Jahr, ein
Jahr der Reformen und ein Jahr der Anpassung an die
weltpolitischen Veränderungen.
Die NATO ist nicht nur eine Militär-, sondern in erster
Linie eine Wertegemeinschaft. Im grundlegenden Dokument des Bündnisses, dem Nordatlantikvertrag von 1949,
heißt es: Das Bündnis beruht auf „den Grundsätzen der
Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft
des Rechts“. Es hat sich erwiesen, dass die Aussicht auf
eine NATO-Mitgliedschaft und die Einbindung in die
Heranführungsprogramme „Partnerschaft für den Frieden“ sowie den Mitgliedschaftsaktionsplan, MAP, Instrumente demokratischer Reformen für die Kandidatenländer Mittel- und Osteuropas waren und sind.
Die Beratung und die praktische Unterstützung bei der
Ausbildung haben Früchte getragen. Besonders möchte
ich in diesem Zusammenhang das NATO Defence College in Rom erwähnen, in dem seit 1991 Parlamentariern,
Diplomaten, Offizieren und Beamten aus Mittel- und Osteuropa gemeinsam mit Kollegen aus NATO-Ländern die
Grundwerte und demokratisches Engagement vermittelt
wurden.
Die NATO hat bewusst keine starren, quasi einklagbaren Kriterien für die Mitgliedschaft festgeschrieben. Es
gibt aber eine Messlatte für die so genannte Beitrittsreife.
Wenn die Beitrittskandidaten die Voraussetzungen erfüllen, sollte die Erweiterungsrunde so großzügig wie möglich ausfallen. Die Anstrengungen der Kandidaten sowie
ihre erfolgreichen Reformbemühungen sollten honoriert
werden. Ich möchte auch erwähnen, dass die erfolgreichen Anstrengungen Rumäniens und Bulgariens, die
während der gesamten Balkankrise zur Stabilisierung beigetragen haben, in diesen Zusammenhang gehören. Dennoch halte ich eine Spekulation über eine ganz bestimmte
Anzahl von Kandidatenländern und die Nennung der Namen an dieser Stelle und in diesem Kontext für fehl am
Platze, zumal nicht alle Kandidaten - der Kollege
Schmidt hat das erwähnt - die militärischen Voraussetzungen erfüllen.
Klar ist, dass diese Erweiterungsrunde umfangreicher
sein wird, als vor einem Jahr vermutet wurde. Klar ist
auch, dass das Entgegenkommen Russlands und die veränderte Weltlage nach dem 11. September 2001 die Entscheidungsbildung beeinflusst haben. Wir begrüßen eine
große Erweiterung, die über die relativ sicheren Kandidaten Slowenien und wahrscheinlich auch Slowakei hinausgeht. Darin stimmen wir mit den Forderungen Ihres AnChristian Schmidt ({0})
trags überein. Wir halten es aber für wenig sinnvoll, in
diesem Stadium bereits abschließend eine Gruppe von
sieben Staaten zu benennen und Rumänien, wo die Reformen noch nicht so weit sind wie bei anderen, quasi als
Anhängsel zu bezeichnen. Das gehört, wie ich glaube, in
einen solchen Antrag nicht hinein.
Ich muss Sie von der CDU/CSU noch auf etwas anderes hinweisen: Ihr bayrischer Ministerpräsident hat ja
heute Morgen fälschlicherweise beklagt, es sei in der
Nahost-Frage keine ausreichende Abstimmung mit den
USA in Bezug auf die Ideen des Fischer-Planes erfolgt.
({1})
Nun vermisse ich das: Ich glaube nicht, dass Sie die Namen der Länder, für deren Aufnahme in der nächsten
Runde zu sorgen Sie der Regierung in Ihrem Antrag aufgeben, bereits mit den USA abgestimmt haben.
({2})
Wir sind zufrieden, dass der Vorschlag, Herr von
Stetten, nicht weiter verfolgt wird, zunächst nur einen der
baltischen Staaten, nämlich den NATO-Anrainer Litauen,
gewissermaßen als Testfall für eine mögliche Belastung
der Beziehungen zu Russland aufzunehmen. Die baltischen Staaten als europäische Kernländer sollen in ihrer
Gesamtheit gleichzeitig Mitglieder der NATO werden.
({3})
Dies ist eines der vorrangigen Ziele unserer Außenpolitik.
Es entspricht ihren Fortschritten in den letzten Jahren.
Dieses Ziel sollte von uns auch nicht zuletzt aufgrund unserer historischen Verantwortung ihnen gegenüber unterstützt werden.
({4})
Es ist auch die logische Fortschreibung der militärischen
Kooperation untereinander, die die baltischen Länder mit
Unterstützung der NATO in den letzten Jahren erfolgreich
betrieben haben.
Die jüngsten Entwicklungen im Verhältnis der NATO
zu ihrem russischen Partner stimmen durchaus optimistisch. Die Absicht, so eng wie möglich in einer Weise zusammenzuarbeiten, die über das aktuelle Forum des
NATO-Russland-Rates weit hinausgeht, unterstützen
wir. Eine NATO-Mitgliedschaft im eigentlichen Sinne
wird auch von Russland zurzeit nicht gewollt.
({5})
Über den Anspruch auf ein begrenztes russisches Vetorecht
bei Militäreinsätzen oder Manövern der NATO gibt es in
Moskau offenbar unterschiedliche Ansichten. Wenn jedoch
im Rahmen einer Gruppe, bisher noch der 19 plus 1,
Russland in wichtigen Fragen ein Mitspracherecht erhält,
etwa bei den Themen Abrüstung, Rüstungskontrolle, Antiterrorkampf, Nichtverbreitungspolitik und Konfliktprävention, ist das ein Gewinn. Dabei muss klar sein, dass
Russland in diesem Zusammenhang auch Verantwortung
tragen und Pflichten erfüllen muss und sicherlich keine
uneingeschränkte Vetomacht in der NATO werden kann.
Durch eine engere Anbindung erreichen wir eine dauerhafte Stabilisierung und - wie abzusehen ist - wohl
auch eine größere russische Akzeptanz beim Überschreiten der so genannten roten Linie, also der Erweiterung der
NATO hin auf ehemaliges Territorium der Sowjetunion.
Der Direktor des Russischen Rates für Außen- und Sicherheitspolitik, Andrej Fjodorow, erklärte am Montag
dieser Woche, die Aufnahme der baltischen Staaten in die
NATO sei unausweichlich und bedeute Moskau - ich zitiere - „nicht mehr allzu viel“.
({6})
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein
Wort zur Erweiterung von EU und NATO: Da gibt es eine
weit gehende inhaltliche Parallelität, nicht aber eine zeitliche. EU-Mitglieder und Beitrittskandidaten, die dies
wollen, sollten NATO-Mitglieder werden dürfen. Aufgrund der erweiterten Kriterien und Inhalte der EU-Mitgliedschaft kann dies natürlich nicht automatisch umgekehrt gelten. Die Verwirklichung der ESVP schreitet
voran, und je intensiver der europäische Einigungsprozess auf politischer Ebene wird, desto mehr drängt sich
die Diskussion auf, wie die politische und militärische Zukunft der EU letztlich aussehen wird. Es liegt doch gewissermaßen in der Folgelogik der Einigung, ein Beistandsbündnis - analog zu Art. 5 des WEU-Vertrages - zu
werden, dem alle Mitgliedsländer angehören sollten.
Nun ein letzter Aspekt, auf den auch der Kollege
Schmidt eingegangen ist. Es gibt das Argument, die Erweiterung gerade um kleinere, militärisch wenig zur Einsatzkraft der NATO beitragende Staaten bedeute eine
Schwächung, eine Verwässerung des Bündnisses. Gewiss
muss die NATO handlungsfähig bleiben und Entscheidungsfindungen dürfen nicht noch komplizierter werden.
Politisch ist die Erweiterung ein Gewinn. Sie läuft auf eine
Aufwertung des politischen Charakters der NATO gegenüber dem rein Militärischen hinaus. Damit ergibt sich aber
zugleich die Pflicht zum Nachdenken über eine bessere
Verteilung der Aufgaben. Mit Blick vor allem auf die
OSZE stehen wir vor der Notwendigkeit einer klaren Aufgabenabgrenzung. Eine unnütze Doppelung im großen europäischen Sicherheitssystem muss vermieden, eine vernünftige Aufgabenteilung vorgenommen werden. Wir als
erfahrene Europäer im Deutschen Bundestag sollten für
die Neujustierung unserer europäischen Organisationen so
bald wie möglich konkrete Vorschläge machen.
Die Europäer wollen keine Aufweichung des Bündnisses. Die NATO bleibt die transatlantische Sicherheitsgarantie. Sie darf nicht zum Bestandteil oder zur Alternative
beliebig neuer Koalitionen werden.
Die Kriterien, die sich die NATO setzt, müssen allerdings von allen Mitgliedern eingehalten werden. Das bedeutet, dass wir neue Anstrengungen unternehmen müssen, um den europäischen Pfeiler des Bündnisses zu
stärken. Dies geht nur, indem die einzelnen nationalen Beschaffungs-, Rüstungs- und Verteidigungspolitiken stärker koordiniert werden, mit dem Ziel, eine gemeinsame
europäische Verteidigungspolitik aufzubauen.
Die Erfahrungen unserer Vergangenheit lehren uns: Die
Erweiterung der NATO, die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitsraumes sowie die Stärkung der
transatlantischen Beziehungen sind für eine friedliche und
demokratische Zukunft unseres Kontinents unverzichtbar.
Ich danke Ihnen für Ihre - teils geteilte - Aufmerksamkeit.
({7})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Werner Hoyer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So viel Richtiges ist gesagt worden. Es gibt Gott sei Dank einen so weit gehenden Grundkonsens, dass man jetzt, um Abweichungen festzustellen,
Nuancierungen herausarbeiten müsste. Das könnte man
natürlich im Hinblick auf Mazedonien und Albanien.
Man könnte es aber auch im Hinblick auf die Frage: Beitritt der sieben Kandidaten mit einer zeitlichen Perspektive oder sofort? Wir sind uns darüber einig: Die Grundrichtung stimmt. Deswegen möchte ich mich gerne auf
einen anderen Aspekt konzentrieren.
Es wird im Herbst höchstwahrscheinlich bei sehr viel
mehr Staaten in Mittelost- und Südosteuropa, als es vor einiger Zeit noch erwartet worden ist, viel Freude geben.
Für sie geht ein Traum in Erfüllung. Es ist angesichts des
unglaublich attraktiven Angebots, das die Europäische
Union macht, ein bisschen ungerecht, wenn diese Staaten
sagen: Die NATO-Mitgliedschaft ist das Allerwichtigste;
sie brauchen wir zuerst. Wenn man sich vergegenwärtigt,
welch risikoreichen, welch mutigen Weg diese Länder in
den letzten zwei Jahrzehnten gegangen sind, dann muss
man das aber verstehen.
({0})
Die NATO war und ist dabei die ersehnte Rückversicherungspolice.
Bald werden diese Staaten also Mitglieder der NATO
sein. Es stellt sich nur die Frage: In welcher NATO eigentlich? Die NATO ist nicht nur das erfolgreichste sicherheitspolitische Bündnis der Weltgeschichte. Sie ist neben
den Vereinigten Staaten und, mit Einschränkungen, Russland der einzige handlungsfähige Akteur mit logistischer
Fähigkeit, Kommandostruktur und operativen Kapazitäten,
der sich möglichen neuen Herausforderungen stellen kann.
Nach der längsten Friedensperiode, die die NATO zumindest dem größten Teil Europas beschert hat, müssten wir
von allen guten Geistern verlassen sein, wenn wir dieses Instrument leichtfertig aus der Hand gäben. Ein schlichtes
„Weiter so!“ kann es aber eben auch nicht geben; deswegen
muss der Gipfel in Prag nicht nur ein Erweiterungsgipfel,
sondern auch ein Transformationsgipfel werden.
Die NATO hat sich bereits nachhaltig verändert und
wird dies auch weiterhin tun. Am krassesten ist das dadurch zum Ausdruck gekommen, dass der NATO-Rat den
Bündnisfall nicht auf Initiative der Amerikaner, sondern
des Generalsekretärs Robertson festgestellt hat, ohne
dass im Rahmen der NATO anschließend noch etwas Entscheidendes passiert ist. Das mag aus amerikanischer
Sicht auf den ersten Blick verständlich erscheinen. Wir
alle kennen die Argumente. In der Tat erwarten die Europäer Einbindung und Abstimmung, auch wenn das
mühsam ist.
Dieser Umgang mit den einzigartigen, erprobten, leistungsfähigen Strukturen der militärischen Integration der
NATO könnte sich nach meiner Auffassung eines Tages
noch als kurzsichtig erweisen. Eine noch so pragmatisch
erscheinende grundsätzliche Abstützung auf so genannte
„coalitions of the willing“ birgt nämlich die Gefahr einer
Renationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in sich. Das wäre ein historischer Rückschritt.
({1})
Wir müssen uns immer wieder klar machen: Einer der
größten Fortschritte, der mit der nicht nur politischen,
sondern auch militärischen NATO-Integration einherging, ist das Abrücken von einem Nationaldenken in der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Eine Renationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wäre
ein historischer Rückschritt und könnte in die Katastrophe
führen.
Die beispiellos tiefe militärische Integration in die
NATO war und ist Friedensgarant für Europa; denn durch
sie gewährleistet das Bündnis zum einen als System kollektiver Verteidigung den Schutz nach außen. Zum anderen aber führt diese Tiefe der militärischen Integration zur
garantierten strukturellen Nichtangriffsfähigkeit der
Partner untereinander. Angesichts der Geschichte Europas in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist das ein
großartiger Fortschritt.
({2})
Die NATO hat einen einzigartigen „Friedensraum“ geschaffen. Das ist natürlich auch für die neuen Mitglieder
von großer Bedeutung und macht das Bündnis für sie
noch attraktiver.
Einen Denkfehler, der vorhin schon einmal indirekt angesprochen wurde, sollte man allerdings nicht begehen,
wenn man jetzt an die Weiterentwicklung der NATO geht.
Durch diese Eigenschaft, auch nach innen friedenserhaltend und stabilisierend zu wirken, wird die NATO selbst
nicht zu einem System kooperativer Sicherheit wie die
OSZE oder die UNO; vielmehr bleibt sie im Kern ein System kollektiver Verteidigung. Ihre Aufgabe ist es im
Zweifel, Angriffe von außen abzuwehren, während die
Systeme kooperativer Sicherheit zunächst einmal die
Aufgabe haben, Konflikte im Inneren auf zivilisierte Art
und Weise zu beherrschen und zu entschärfen. Deswegen
muss die NATO im Kern ein System kollektiver Verteidigung bleiben. Das heißt natürlich nicht, dass sie ihre einzigartigen Fähigkeiten nicht in den Dienst von Systemen
kooperativer Sicherheit wie der UNO oder der OSZE stellen könnte, was sie auch schon sehr erfolgreich getan hat.
({3})
Wir stehen also erst am Anfang einer Debatte über die
Weiterentwicklung der NATO. Diese Debatte findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem wir auch die große und historisch bedeutsame Debatte über die Weiterentwicklung
der Europäischen Union und die Hinzufügung einer wirklichen sicherheits- und verteidigungspolitischen Dimension des europäischen Integrationsprozesses führen. Deswegen sollte man das im Zusammenhang sehen. Das
Problem bei den großen Krisen der letzten Zeit bestand
doch nicht darin, dass es zu viel Amerika gegeben hätte,
sondern darin, dass zu wenig Europa da war.
({4})
In Bosnien war zunächst deutlich geworden, wie
Europa politisch gefordert war. Aber im Kosovo wurde
schon klar, dass wir auch auf militärischem Gebiet unseren Beitrag leisten müssen. Deswegen gehören die
Debatten über die Entwicklung der NATO und die der
EU zusammen, und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Schonung finanzieller und personeller
Ressourcen - dies gilt ohnehin; Herr Kollege Scholten,
Sie haben es angesprochen -, sondern auch ganz
grundsätzlich.
Das ist auch von großem Interesse für unsere neuen
Partner in der NATO und mit gewisser Verzögerung in der
Europäischen Union. Wir müssen jetzt eben nicht nur entschlossene Reformschritte in den EU-Altländern machen,
um die Herausforderungen anpacken und allein schon
wirtschaftlich bestehen zu können, sondern wir müssen
auch in der europäischen Integration entschlossene und
beherzte Sprünge nach vorn machen, vor allem im Hinblick auf die Sicherheitspolitik.
Kollege Meckel hat als Berichterstatter für die Nordatlantische Versammlung hier einen Bericht abgegeben, in
dem diese Herausforderungen sehr genau aufgelistet sind.
Ich frage mich manchmal, ob das hinreichend gelesen
wird, Herr Kollege Meckel; denn darin finden sich alle
diese Themen, denen wir uns in der sicherheitspolitischen
Diskussion in Deutschland nach meiner Auffassung nicht
in der angemessenen Tiefe zuwenden. In den Partnerländern wird diese überaus heikle Debatte über Begriffe wie
„prevention“ und „preemption“ längst geführt. Wer führt
diese Debatte eigentlich bei uns? Wollen wir in diese
Richtung gehen? Können wir das eigentlich? Welche Voraussetzungen müssen wir in verfassungsrechtlicher und
europarechtlicher Hinsicht schaffen?
({5})
Welche Kompetenzen und gegebenenfalls auch Souveränitäten sind wir bereit zur Disposition zu stellen, wenn wir
solche Schritte machen? Ich denke, wir brauchen eine
ernsthaftere Diskussion über dieses Thema.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
zum letzten Aspekt. Alles, was wir im Bereich der Weiterentwicklung der NATO wie im Bereich der Weiterentwicklung der Europäischen Union tun, setzt Bündnisfähigkeit voraus - Bündnisfähigkeit der Europäischen
Union gegenüber ihren Partnern draußen, wenn sie globaler Sicherheitsakteur sein will, aber eben auch Bündnisfähigkeit der Mitgliedsländer von NATO und EU. In
dieser Hinsicht haben wir in der letzten Zeit ein ziemlich
schlechtes Bild abgegeben.
({6})
Die Debatte, die wir gestern im Haushaltsausschuss
geführt haben, und das, was sich gestern Abend und heute
angeschlossen hat, macht uns deutlich, wie ernst die Lage
im Hinblick auf das Ernstgenommenwerden Deutschlands als sicherheitspolitischer Akteur in EU und NATO
ist. Wenn der Sprecher des französischen Verteidigungsministeriums uns heute über die Nachrichtenagenturen
mitteilt, dass Deutschland nur noch 20 oder 25 A400M
bekommt, sofern es bei der gegenwärtigen Beschlusslage
bleibt, dann zeigt das, dass wir an der Grenze der Bündnisfähigkeit angelangt sind.
({7})
Das Wort hat die
Abgeordnete Rita Grießhaber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
CDU/CSU hat ihre Irrungen und Wirrungen des letzten
Jahres überwunden und zu einer einheitlichen Linie bei
der Frage der NATO-Erweiterung gefunden.
({0})
Während sich Volker Rühe im Januar explizit gegen und
Friedbert Pflüger zwei Monate später für die Aufnahme
der baltischen Staaten ausgesprochen hat, haben Sie jetzt
den Maßstab gefunden - ich zitiere -: „Soweit es die jeweilige innenpolitische Lage und die Aufrechterhaltung
der uneingeschränkten Handlungsfähigkeit des Bündnisses erlauben“, sollen nun möglichst sieben Staaten in der
nächsten Erweiterungsrunde dabei sein. - Herzlichen
Glückwunsch! Wären Sie unserer Politik schon früher gefolgt, hätten Sie sich nicht so verzetteln müssen.
({1})
Inhaltlich sind wir uns weitgehend einig. Die erste Erweiterungsrunde war positiv. Polen, Ungarn und die
Tschechische Republik sind jetzt im Bündnis fest verankert. Für die Stabilität in Europa ist das ein Gewinn.
Bereits im Vorfeld der zweiten Runde sind bedeutende
Stabilitätstransfers nach Mittel- und Südosteuropa festzustellen. Dabei hat sich der „Membership Action Plan“ als
besonders wertvoll und nützlich erwiesen; denn mit diesem Plan wurden nicht nur militärische Voraussetzungen
für die Mitgliedschaft im Bündnis, sondern auch ökonomische und politische Erwartungen an die potenziellen
Mitglieder festgelegt.
Die NATO ist bekanntlich eine Wertegemeinschaft
gleich gesinnter Staaten, die sich nicht nur zum Zweck der
Verteidigung, sondern zum Erhalt von Sicherheit und
Stabilität zusammengetan haben. Kollege Schloten hat es
schon erwähnt: Zu den Grundprinzipien des Washingtoner Vertrages zählen Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Im „Membership Action Plan“ werden die
Beitrittskandidaten genau auf diese Grundprinzipien verpflichtet, ebenso wie auf die Einhaltung der OSZE-Normen und -Prinzipien. Für uns sind das keine Leerformeln.
Ganz besonders wichtig sind die friedliche Beilegung ethnischer Konflikte und die Unterstellung der Streitkräfte
unter zivile Kontrolle durch die Aspiranten.
Die Ergebnisse zeigen: Bereits jetzt sind die Aspiranten besser vorbereitet als die Kandidaten der ersten
Runde. Wir können die Reduzierung der Streitkräfte gerade in südosteuropäischen Beitrittsländern wie Rumänien und Bulgarien feststellen, vor allem aber die positive
Entwicklung bei der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte. Die Botschaft ist klar: Es gab enorme Anstrengungen; das Bündnis hat sie gezielt unterstützt. Aber die
Beitrittskandidaten haben es selbst in der Hand. Es liegt
in ihrer Verantwortung, ob sie beitrittsfähig sind. Wir
wünschen uns und ihnen, dass sie weiterhin Fortschritte
erzielen.
({2})
Eine Debatte zur NATO auf die anstehende Erweiterung zu reduzieren wäre sehr kurz gedacht. Die weltpolitischen Ereignisse des letzten Jahres haben uns neue Erkenntnisse, vor allem aber viele neue Fragen beschert.
Zum ersten Mal in seiner 50-jährigen Geschichte hat der
NATO-Rat am 12. September letzten Jahres den Bündnisfall ausgerufen. Wir befinden uns mitten in der Debatte
über Ziele und Funktionen des Bündnisses, und die Analysen reichen von „Militärisch ist die NATO weitestgehend bedeutungslos geworden“ bis hin zu „Wir brauchen
eine neue NATO“.
Art. 2 des Nordatlantikvertrages legt fest, dass die
NATO nicht nur Militärorganisation ist. Sie ist gleichzeitig ein politisches Bündnis - übrigens ein Aspekt, den die
Franzosen schon immer so gesehen haben. Interessant
wird es, in welche Richtung sie ihn weiter verfolgen. Jedenfalls wird dieser politische Aspekt eine immer größere
Bedeutung erlangen, vielleicht sogar zu sehr in der Form,
wie die Grünen ihn sich früher als „OSZEtisierung“ der
NATO gewünscht haben.
Spätestens seit dem Balkankrieg bewertet der amerikanische Partner die Rolle der NATO neu. Der Nutzen der
Allianz liegt für ihn und für uns nicht zuletzt in der politischen Stabilisierung Europas. Dafür sind die Einbindung der mittel- und osteuropäischen Staaten und die
Neugestaltung der Beziehungen zu Russland und anderen
GUS-Staaten geeignete Instrumente.
Das bewirkt eine Politisierung der NATO - die Zusammenarbeit, auch innerhalb der roten Linie - mit früheren Gegnern, die natürlich nicht nur eine militärische sein
kann. Zum strategischen Ziel einer gesamteuropäischen
Sicherheitsarchitektur, deren Bestandteil eine erweiterte NATO ist, gehört aber vor allem die Stärkung des
EU-Pfeilers in der NATO. Deshalb brauchen wir dringend
Fortschritte in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik; denn mit der Bekämpfung des Terrorismus wurde klar, dass sich der Charakter der militärischen
Auseinandersetzung verändert hat. Der rein militärische
Nutzen der NATO für die USA ist begrenzt. Für unseren
Partner mit Hang zum Unilateralismus sind die Mitspracherechte der Verbündeten, freundlich ausgedrückt, eher
zeitraubend.
Mit diesen veränderten Rahmenbedingungen gilt es,
produktiv umzugehen. Aber unabhängig davon, wann
alle Beitrittskandidaten aufgenommen werden, haben
wir auf lange Sicht nur eine gemeinsame Chance, nämlich die einer gesamteuropäisch-transatlantischen Sicherheitsstruktur.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der vorangegangenen Debatte ist parteiübergreifend so viel Falsches gesagt worden, dass selbst ich das nicht in 5 Minuten korrigieren
kann. Deswegen beschränke ich mich auf einige Punkte.
({0})
Ich will für mich festhalten: Mehr NATO heißt weniger Sicherheit, weniger Stabilität und mehr Dominanz der
USA in Europa. Deswegen bleiben wir als PDS bei unserem Nein zur NATO und sagen auch Nein zu ihrer Erweiterung.
({1})
Die NATO hat ihre Aufgaben nach dem Kalten Krieg
1999 inmitten des Kosovo-Krieges grundlegend verändert. Aus einem Verteidigungsbündnis wurde ein Bündnis, das weltweite Interventionen für Naturressourcen,
Handelswege, geostrategische Interessen auf seine Tagesordnung geschrieben hat.
({2})
In der NATO ist die Dominanz der USA derart gewachsen, dass die USA die NATO ein- und ausschalten
können, wie sie es wollen.
({3})
Der Umgang mit dem Bündnisfall - „NATO einschalten“ - und die anschließende Kooperation ausschließlich
mit ausgewählten Staaten - „NATO ausschalten” - sprechen hier Bände.
Es ist auch notwendig, darauf hinzuweisen, dass die
USA ihre Militärstrategie grundlegend geändert haben,
und sie ändern sie weiter. Das so genannte Raketenabwehrsystem spaltet die Welt und Europa in Zonen unterschiedlicher Sicherheit. Die USA wollen Waffen im WeltRita Grießhaber
raum stationieren, kündigen Rüstungskontrollverträge
und debattieren eine neue Atomstrategie, welche die
Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen herabsetzen
will.
Ich glaube, daraus ist die Schlussfolgerung zu ziehen,
dass sich Europa auf keinen Fall in ein neues Wettrüsten
mit den USA hineinziehen lassen darf.
({4})
Dass die USA auf dieses Wettrüsten drängen, wissen wir
alle. Ich glaube, das wäre schlimm für die europäische Sicherheit und tödlich für die Sozialstaaten in Europa.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die PDS-Bundestagsfraktion folgt der Sicherheitsanalyse des sozialdemokratischen Sicherheitsvordenkers Egon Bahr. Ich darf aus seiner Dresdner Rede zu diesem Thema zitieren - hören Sie
gut zu, sozialdemokratische Kolleginnen und Kollegen -:
Wo die NATO bestimmt, kann Europa nicht bestimmen. Wenn die große Abschreckung die NATO in
Europa zu ihrem Instrument gewinnt, werden gesamteuropäische Überlegungen, europäische Selbstbestimmung, NATO-Russland-Akte und OSZE zu
Fragen nachgeordneter Spielfelder, und zwar umso
mehr, je mehr die NATO erweitert wird.
Wir, die PDS, nehmen es ernst, wenn Altbundeskanzler Helmut Schmidt die NATO-Erweiterung für die Europäische Union als eher schädlich bezeichnet - ich zitiere
auch ihn; auch hier bitte ich Sie, zuzuhören -, „weil sie
den Amerikanern nicht ein Mitspracherecht, sondern ein
Übersprachrecht über europäische Dinge beschert.“
({5})
Ich finde es schon interessant: Die PDS macht sich die
Analyse des sozialdemokratischen Sicherheitsexperten
Egon Bahr zu Eigen, greift in vielem auf das Denken des
Ex-SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine zurück - auch in
der Außen- und Globalisierungspolitik -,
({6})
bittet den Bundestag, auf die Warnungen des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt zu hören, während die sozialdemokratische Fraktion diese Warnungen in den Wind
schlägt und sich auf einer Linie bewegt, die in Widerspruch zu ihrem eigenen Programm steht.
({7})
Das möchte ich gerne festgehalten wissen.
({8})
Ich finde, der CDU/CSU-Antrag ist insofern logisch,
als das Ihre Politik war und geblieben ist.
({9})
Den sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen
will ich sagen: Passen Sie auf, dass die Wählerinnen und
Wähler das Original und nicht die Kopie wählen. In dieser Falle sitzen Sie. Wir brauchen eine Änderung der
Sicherheitspolitik.
Zum Schluss. Wenn ich Zyniker wäre
({10})
und die Linke mehr Humor hätte, dann würde ich Ihnen
sagen, wir folgen Ihren Anträgen. Den Brocken, den Sie
in die NATO aufnehmen werden, werden Sie schwer verdauen können.
({11})
Weil ich aber kein Zyniker bin und die Linke in NATOFragen keinen Humor hat, sage ich ernsthaft: Wir werden
Ihren Antrag auf Erweiterung der NATO ablehnen.
({12})
Das richtet sich nicht gegen die Länder, sondern auf mehr
Sicherheit und mehr Stabilität in Europa.
({13})
Hören Sie auf Helmut Schmidt, auf Egon Bahr, auf
Oskar Lafontaine.
({14})
Oder haben Sie diese Namen und deren Verdienste
schon längst vergessen?
({15})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister, Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
hier gewiss nicht die sozialdemokratische Fraktion in
Schutz zu nehmen, wohl aber auf einige Widersprüche der
PDS hinzuweisen. Ich finde es gut, dass Sie sich zu Egon
Bahr bekennen, aber ich weiß nicht, ob Sie wissen, was
Sie gerade getan haben. Denn Egon Bahr ist mit allem
Nachdruck dafür, dass es eine starke europäische militärische Komponente gibt. Wenn das neuerdings die Position
der PDS ist, eine starke militärische Europäische Union
statt einer NATO-Erweiterung, dann hätten Sie Egon Bahr
in der Tat gerade zu Recht zitiert. Ich will Ihnen aber nicht
unterstellen, dass das die Position der PDS ist. Dasselbe
gilt selbstverständlich für Helmut Schmidt.
Die Debatte darüber, wie weit sich eine NATO-Erweiterung mit einer Stärkung des europäischen Pfeilers und
der europäischen Integration, auch und gerade in der
Außen- und Sicherheitspolitik, verträgt, ist eine, wie ich
finde, sehr wichtige und zentrale Debatte. Der Beitrag der
PDS besteht allerdings darin, dass sie zu allem Nein sagt.
Es ist auch nichts Neues, wenn Sie, Herr Kollege
Gehrcke, behaupten, dass die NATO jetzt, nach dem Ende
des Kalten Krieges, nicht mehr in erster Linie für Sicherheit stehen würde. Sie waren ja auch schon vorher,
während des Kalten Krieges, dieser Meinung, weil Sie ja
damals eher den Warschauer Pakt vertreten haben, wenn
Sie ehrlich sind; das dürfen wir nicht vergessen. Ich
möchte da nicht nachkarten; darum geht es hier nicht.
Aber Sie sollten sich hier nicht mit dem Gestus des Ehrlichen hinstellen. Sie machen hier Innenpolitik und Wahlkampf; das ist Ihr gutes Recht. Aber das hat mit der Debatte nichts zu tun.
({0})
Wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung, der Entscheidung über die NATO-Erweiterung. Die NATO-Erweiterung wird kommen. Das ist etwas, was im deutschen
und europäischen Interesse liegt. Ein sich vereinigendes
Europa wird, gerade aus deutscher Sicht, immer ein Interesse an einer starken transatlantischen Bindung, einer
starken transatlantischen Rückversicherung haben müssen. Denn die Präsenz der Vereinigten Staaten von Amerika - wir dürfen das nicht vergessen - ist in den Zeiten
des Kalten Krieges nicht nur unter dem Sicherheitsgesichtspunkt der Abwehr expansiver Vorstellungen seitens
der damaligen Sowjetunion zu sehen gewesen, sondern
war vor allen Dingen auch für die innere Stabilität des sich
vereinigenden Europas von zentraler Bedeutung.
Deutschland wäre, wenn die USA auf diesem Kontinent nicht mehr präsent wären, sofort in einer anderen Situation. Nie wird das klarer, als wenn Sie mit polnischen
Freunden über diese Situation in Europa sprechen. Insofern haben wir ein Interesse daran - unbeschadet dessen,
wie wir die Politik der jeweiligen Regierungen bewerten - dass die Sicherheit in Europa und einem sich vereinigenden Europa durch die transatlantischen Beziehungen dauerhaft, auch in Zukunft, gewährleistet wird.
Ich kann nur nochmals unterstreichen: Wenn weitere
Kandidaten in die NATO aufgenommen werden wollen,
dann müssen wir das ernst nehmen und die notwendigen
Bedingungen prüfen. Die Kandidaten müssen die notwendigen Bedingungen schaffen. Es zeichnet sich ab
- viele Kollegen haben das erwähnt, ohne dass ich mir das
heute schon abschließend als Standpunkt der Bundesregierung zu Eigen machen kann -, dass es eine große Erweiterungsrunde geben wird, in der Größenordnung, wie
das verschiedene Kollegen hier schon dargestellt haben.
Ich betone nochmals: Dies liegt im europäischen, im deutschen und im transatlantischen Interesse;
({1})
denn wir werden damit mehr Stabilität und Sicherheit bekommen.
Ich behaupte, dass die Diskussion dann erst beginnt.
Sie findet in einem doppelten Spannungsverhältnis statt;
denn die Erweiterung wird die NATO selbstverständlich
transformieren. Diese Transformation wird nicht in Richtung OSZE erfolgen. Aber es wird sich eine Reihe von relevanten Fragen ergeben, die nicht kurzfristig zu beantworten sein werden.
Dieser Transformationsprozess ist durch die historische Zäsur, die sich aus dem Ende des Kalten Krieges, aus
dem Verschwinden der Sowjetunion und damit aus dem
Zusammenwachsen Europas ergab, in Gang gesetzt worden. Ich sage in Ihre Richtung - ich möchte jetzt keine innenpolitische Debatte darüber führen, wer für die Kürzung des Verteidigungshaushaltes und für den jetzigen
Zustand der Bundeswehr verantwortlich ist -: Wir müssen
feststellen, dass der Transformationsprozess von der auf
den Kalten Krieg ausgerichteten Bundeswehr hin zu einer
Bundeswehr, die den neuen - auch den europäischen - Erfordernissen und den strategischen Herausforderungen
gerecht wird, eben nicht in dem Maße in der Vergangenheit vorangebracht wurde, wie es notwendig gewesen
wäre. Die Weizsäcker-Kommission hat in der Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder und unter
Verteidigungsminister Rudolf Scharping die Grundlagen
für diese Transformation herausgearbeitet.
Mir geht es um etwas anderes. Wenn Sie sagen, die
NATO sei nur eingeschränkt handlungsfähig, dann muss
ich fragen: Auf was beziehen Sie diese Aussage? Beziehen Sie sie auf die Handlungsfähigkeit der einzigen globalen Macht, nämlich der USA? In diesem Sinne war die
NATO in der Vergangenheit immer nur eingeschränkt
handlungsfähig, es war immer asymmetrisch und wird es
auch in der Zukunft sein. Oder beziehen Sie Ihre Aussage
auf etwas anderes, nämlich auf die Tatsache, dass wir bestimmte Kapazitäten wie zum Beispiel im Bereich der
Langstreckentransporter - während des Kalten Krieges
brauchten wir sie nicht, weil die Frontlinie in Deutschland
sozusagen in Fußmarschweite lag; Gott sei Dank gibt es
diese Situation nicht mehr - noch nicht haben? Wenn das
der Fall ist, dann müssen wir darüber sprechen. Aber die
Frage, die Sie aufwerfen, weckt zugleich die Illusion, dass
die NATO nur dann voll einsatzfähig wäre, wenn das
Niveau der wichtigsten europäischen Mitgliedstaaten
innerhalb der NATO mit dem Niveau der global handelnden USA mithalten könnte. Ich halte diese Auffassung
für schlichtweg illusionär und für politisch nicht erstrebenswert.
({2})
Für uns ist ganz entscheidend, dass diese Erweiterung
solide gemacht wird. Weitere wesentliche Punkte, um die
es dabei geht, sind, dass es eine Integration geben muss,
dass die Kohäsion der NATO in ihren wesentlichen Elementen erhalten bleibt und dass das Sicherheitssystem
nicht gelockert wird.
Aber selbstverständlich gibt es, meine Damen und
Herren von der Opposition, noch ein zweites Problem, das
hier schon angeklungen ist. Das ist das Verhältnis von
NATO und Europäischer Union. Ich habe das grundsätzliche Spannungsverhältnis schon erwähnt. Ich bin der
Meinung, dass die USA für die Sicherheit und Stabilität
auch in einem sich vereinigenden oder sogar in einem
schon vereinigten Europa unverzichtbar sind.
Klar ist aber auch: Wir werden die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die ja nicht Aufgaben
nach Art. 5 des NATO-Vertrages umfasst, nicht vernachlässigen. Wir werden die Entwicklung einer europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der Europäischen Union als die zentrale Herausforderung neben
der Erweiterung anzugehen haben.
Da habe ich eine gewisse Sorge; denn wir stehen jetzt
vor sehr wichtigen Fragen. Die NATO-Erweiterung ist
relativ einfach, vergleicht man sie mit der EU-Erweiterung, bei der es um das Zusammenführen ganzer Volkswirtschaften und um die Überwindung großer Unterschiede hinsichtlich der Mentalitäten geht. Im Rahmen
dieser Erweiterung liegen noch schwierige Kompromisse
vor uns. Wir werden gleichzeitig die NATO-Erweiterung
haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es eine große
Runde geben. Wir werden dann in beiden Bereichen vor
der Frage der Handlungsfähigkeit, der Integration und der
Absorption stehen. Das heißt, die Frage hinsichtlich der
institutionellen Handlungsfähigkeit - in Bezug auf die
NATO wurde sie schon angesprochen - wird sich in Bezug auf die EU noch wesentlich zuspitzen. Die finanzielle
Dimension, die ab dem Jahr 2006 aktuell wird, verlangt
sehr schwierige Kompromisse.
Wir haben heute morgen die Situation im Nahen Osten
diskutiert. Angesichts dieser aktuellen weltpolitischen
Lage muss man hinzufügen, dass wir nicht nur eine hoch
gefährliche Zuspitzung im iraelisch-palästinensischen
und im iraelisch-arabischen Konflikt haben. Man muss
ehrlicherweise hinzufügen, dass die Gefahr des islamistischen Terrorismus mitnichten vorüber ist. Afghanistan
stellt noch große Herausforderungen an uns. Das heißt,
wir bewegen uns in einem alles andere als stabilen und sicheren Umfeld.
Insofern nützt es überhaupt nichts, wenn wir die Augen
davor verschließen, dass wir vor sehr herausfordernden
und historisch zu nennenden Schritten stehen. Bestimmte
Wahlergebnisse in Europa kann ich nicht dahin gehend interpretieren, dass es einen Integrationsschub gibt.
Das ist die Lage, in der wir uns befinden. In dieser internen Großwetterlage Europas und vor dem Hintergrund
der Herausforderungen müssen wir die Zuordnung der
vor uns liegenden Schritte vornehmen.
Herr Kollege Gehrcke, ich kann Ihnen nur sagen: In einer solchen Lage eine Position wie Sie einzunehmen bedeutet wirklich, aus innenpolitischen und wahltaktischen
Gründen den Kopf in den großen Sandhaufen zu stecken
und in diesem beide Hände vor die fest zugekniffenen Augen zu halten, damit man garantiert nichts wahrnimmt.
({3})
Die Menschen in unserem Lande wissen, dass wir es
uns in unserer Zeit nicht leisten können, wegzuschauen.
Die nächste Erweiterung der NATO und die Verbindung
zu den USA werden einen großen Diskussionsbedarf mit
sich bringen. Wir werden strategische Fragen zu diskutieren haben. Die Europäer müssen ihre Leistungen auf dem
Balkan und an anderer Stelle mit einem entsprechenden
Selbstbewusstsein klar zum Ausdruck bringen.
Die nächste Erweiterungsrunde liegt im europäischen
Interesse. Die Bundesregierung wird sich im europäischen und im NATO-Rahmen dafür einsetzen, dass sowohl die Erweiterung der NATO als auch die Erweiterung
der EU erfolgreich angegangen und in integrative Schritte
umgesetzt werden.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die
NATO, über deren weitere Öffnung wir heute sprechen,
hat eine beispiellose Erfolgsgeschichte hinter sich.
Während des so genannten Kalten Krieges, also während
der Konfrontation der Militärblöcke, war sie 40 Jahre lang
Garant für Stabilität und Frieden in Europa.
Nach dem weltgeschichtlichen Umbruch von 1989/90
sorgte sie bis heute - sie wird es auch weiterhin tun - für
Partnerschaft und Kooperation mit den ehemaligen Gegnern, vor allem mit Russland. Außerhalb des Bündnisgebietes steht die NATO für Stabilität, für den Abbau von
Konflikten und für Wiederaufbau. Konfliktprävention
und Krisenmanagement sind Aufgaben, denen sich das
Bündnis - legitimiert durch die UNO - mit Erfolg stellt.
Die Erfolgsgeschichte des Bündnisses setzt sich in der
Aufnahme neuer Mitglieder fort. Polen, die Tschechische
Republik und Ungarn, drei ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes, wurden am 50. Gründungstag der NATO
im Jahre 1999 aufgenommen. Mit dieser konsequenten
Vorgehensweise hat die NATO maßgeblich zur Überwindung der Spaltung unseres Kontinents beigetragen.
({0})
Die Aufnahme dieser Mitgliedstaaten vor nunmehr genau
drei Jahren hat sich als großer Gewinn für die Stabilität
und Sicherheit Europas erwiesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, jetzt stehen wir vor der zweiten Öffnung. Ich
spreche bewusst von Öffnung, um deutlich zu machen,
dass die NATO nicht von sich aus auf andere Staaten zugreift, sondern vielmehr den Wünschen beitrittswilliger
Staaten Rechnung trägt. Diese zweite Runde müssen und
werden wir ebenfalls zum Erfolg führen. Sie bietet die
Chance, Frieden und Stabilität in Europa weiter zu vertiefen. Auch nach dem nächsten Öffnungsschritt muss die
Tür des Bündnisses für weitere Mitglieder offen bleiben.
Gerade auf diese Feststellung lege ich besonderen Wert.
Meine Fraktion bekennt sich voll und ganz zu dieser
zweiten Beitrittsrunde, in der, soweit - das ist in der Tat
richtig - es die jeweilige innenpolitische Lage erlaubt, sieben europäische Länder, nämlich Bulgarien, Estland,
Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakische Republik und
Slowenien, aufgenommen werden. Das ist doch ein ganz
wichtiges, politisch bedeutsames Ereignis für die NATO.
Deshalb habe ich, Herr Bundesaußenminister, überhaupt
kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung in den
zurückliegenden Wochen und Monaten so wenig getan
hat, um von sich aus eine Initiative zu ergreifen.
({1})
Sie hat auch nichts dazu getan, eine öffentliche Debatte
über Sinn und Nutzen der Öffnung der NATO zu führen.
Aber genau das ist wichtig.
({2})
Welche Chancen sich hier auftun, genau dies müssen wir
den Menschen in unserem Land darlegen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Stetten?
Bitte
schön.
Es
geht mir um die baltischen Staaten, um die drei Staaten Litauen, Lettland und Estland. In der Vergangenheit gab es
Irritationen - auch zum Teil seitens der CDU/CSU. Man
meinte, diese drei Staaten aus Rücksicht auf Russland
bzw. Putin vielleicht nicht gleich in der ersten Runde mit
aufnehmen zu sollen. Sind Sie mit mir der Ansicht, dass
diese Bedenken inzwischen ausgeräumt sind und dass die
Aufnahme gerade für diese drei Staaten aus innenpolitischer Sicht wichtig ist, damit sie keine Angst mehr haben
müssen, Spielball in Europa zu werden?
Vielen
Dank, Herr Kollege von Stetten. Ich möchte Ihnen in
Ihrem ersten Aspekt zustimmen. Ich würde es insbesondere unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten sehr
begrüßen, wenn die baltischen Staaten, die den Wunsch
haben, Mitglied der NATO zu werden, diesen Weg auch
gehen könnten.
Das Zweite ist - ich spreche hier als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO -: Wir waren vor
wenigen Wochen mit einem kleinen Kreis in Moskau und
haben auch und gerade über diese Frage, wie Russland
reagiert, mit unseren Kollegen in der russischen Staatsduma gesprochen. Nach all diesen Gesprächen hatten wir
den Eindruck, dass sich die russischen Gesprächspartner
bereits auf die mögliche Aufnahme der baltischen Staaten
in die NATO eingestellt hatten. Herr Außenminister, die
Russen sind in dieser Frage sehr realistisch. Größere
Ängste und Befürchtungen konnten wir in unseren Gesprächen vor wenigen Wochen in Moskau eigentlich nicht
feststellen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich habe deutlich gemacht,
dass wir, Herr Minister, über den Sinn und Nutzen der
Öffnung der NATO auch öffentlich miteinander sprechen
müssen. Man muss den Menschen sagen, welche Chancen
sich hier für den Zuwachs an Stabilität und Sicherheit auf
dem Balkan, aber auch in ganz Europa auftun. Hier muss
Deutschland vorangehen. Sie haben das versäumt.
Doch blicken wir nach vorne: Die von uns genannten
Länder haben beachtliche Erfolge auf dem Weg zu
Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft erzielt. In
diesen Völkern lebt die große Hoffnung, in die Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien, in die NATO und
in die Europäische Union, aufgenommen zu werden. Aber
auch für uns ist dies eine großartige Entwicklung. Hier
vollzieht sich Stück um Stück die Wiedervereinigung
Europas in enger Partnerschaft und Freundschaft mit
Amerika und allen übrigen Nachbarstaaten.
Manche verengen diesen historischen Prozess allerdings schon wieder auf das Thema Geld. Sie sprechen von
Lasten, die eine weitere Bündnisöffnung mit sich bringen
wird. Diese Skeptiker sollten bedenken, dass sich alle
Horrormeldungen vor der ersten Beitrittsrunde, in denen
von astronomischen Zahlen die Rede war, als falsch und
völlig überzogen erwiesen haben.
({1})
Es geht um Freiheit, es geht um Sicherheit und es geht um
Stabilität. Das zahlt sich aus; das rechnet sich.
Das Bündnis wird durch die zweite Beitrittsrunde auch
nicht geschwächt, wie einige Pessimisten prophezeien, im
Gegenteil: Das Bündnis wird gestärkt. Wir stolpern doch
nicht in diesen Prozess hinein. Wir, jedes einzelne Land
für sich und das Bündnis selbst, sind gut vorbereitet.
Es wird schließlich auch keine unlösbaren Probleme
mit Russland geben. Ich habe es gerade Herrn von Stetten
gesagt: Die Russen sind realistisch. Sie haben gespürt,
dass sich die NATO gegen niemanden - auch und gerade
nicht gegen Russland - richtet. Wer schon bei der ersten
Öffnung eine Konfrontation mit Russland als Gefahr beschworen hat, sieht sich heute eines Besseren belehrt. Das
partnerschaftliche Miteinander, die Zusammenarbeit mit
Russland im NATO-Russland-Rat, hat an Intensität eher
gewonnen. Auch die Kündigung des ABM-Vertrages
durch die USA hat nicht zu der viel beschworenen Katastrophe geführt.
Wegen der bevorstehenden Aufnahme der baltischen
Staaten werden jetzt erneut Konflikte beschworen. Dazu
sage ich: Wer derartige Ängste schürt, hat die Chance verwirkt, zu vernünftigen Zukunftslösungen zu kommen.
Die baltischen Staaten wollen in die NATO und - das sage
ich klar - sie gehören in die NATO.
({2})
Auch dies wird Russland in keiner Weise negativ
berühren. Wir leben in einer veränderten Welt, die auf
Miteinander ausgerichtet ist. Das Gegeneinander gehört
der Vergangenheit an. Auch das weiß die heutige russische Führung.
Der Stabilitätsraum Europa wird durch den Beitritt der
sieben Länder insgesamt größer werden. Davon bin ich fest
überzeugt. Mit der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens
wird ein weiterer Markstein gesetzt, um die Krisenregionen des Balkans zu befrieden. Dies fügt sich sinnvoll
ein in die laufenden Bemühungen um die Stabilisierung
Südosteuropas. Rumänien und Bulgarien sind bereits
heute Stabilitätsanker in diesem labilen Umfeld. Ein
NATO-Beitritt wird - davon sind wir überzeugt - erheblich zur Stabilisierung dieser Region insgesamt beitragen.
Insbesondere nach dem 11. September 2001 erscheint
es mir richtig, den strategischen Fokus des Bündnisses
nach Südosten auszurichten. Für Europa hat sich das GeDr. Karl A. Lamers ({3})
fährdungspotenzial in Richtung Süden bzw. Südosten verlagert. Konflikte tun sich auf im Krisenbogen nördliches
Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und im Kaukasus.
Ich meine, dass wir mit der nächsten Beitrittsrunde aus
dieser Entwicklung die richtigen Konsequenzen ziehen.
Das Ganze hat auch strategisch eine große Bedeutung,
schließt sich doch mit der Aufnahme Bulgariens und
Rumäniens die Landverbindung zwischen Westeuropa
und der Türkei bzw. Griechenland. Dies gilt auch mit
Blick auf Slowenien und die Slowakei als Bindeglied zwischen Bündnispartnern. Der Stabilitätsraum südöstliches
Europa wird so zur Wirklichkeit. Das ist es, was man den
Menschen sagen muss, was sich mit der NATO-Öffnung
verbindet, was Nutzen und Sinn und dessen Bedeutung
ausmacht.
Meine Damen und Herren, der europäische Pfeiler
der NATO erhält zusätzliches Gewicht. Meine Fraktion
hält daran fest, dass die Europäische Union und die
GASP/ESVP mit dem Atlantischen Bündnis fest verzahnt
sein und bleiben muss. Alle Länder der Europäischen
Union müssen die Möglichkeit haben, der NATO beizutreten. Die neuen Mitglieder werden den europäischen
Pfeiler im Bündnis stärken. Jedes neue Mitgliedsland
wird sich die Frage stellen müssen, welchen spezifischen
verteidigungspolitischen Beitrag es zur Erfüllung der
Bündnisaufgaben leisten kann. Da gibt es Erwartungen.
Ich bin überzeugt, dass die neuen Mitglieder ihre Pflichten erfüllen werden. Wir legen die Verantwortung auf
mehr Schultern und damit teilen wir zugleich die Lasten.
Das größere Gewicht Europas im Bündnis stärkt die
NATO insgesamt. Wir brauchen ein Mehr an europäischer
Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber zugleich eine
stringente Verzahnung mit dem Atlantischen Bündnis.
Keinesfalls darf sich bei der Europäischen Union eine
neue Bürokratie und eine neue Struktur auf dem Gebiet
der Sicherheit und Verteidigung entwickeln, die mit der
NATO konkurriert oder gar auf deren Kosten durchgesetzt
wird. Ich sehe uns da in einem guten Miteinander, aber
dies erfordert Augenmaß für die Zukunft.
Meine Damen und Herren, die NATO bleibt auch im
21. Jahrhundert Garant deutscher und europäischer
Sicherheit. Sie ist tragender Teil der Sicherheitsarchitektur in Europa. Sie hat wesentlich zur Überwindung der
Teilung Europas beigetragen. Die NATO bindet unsere
amerikanischen Partner an Europa und trägt so zur Konsolidierung der Vision des transatlantischen Sicherheitsraumes bei. Die NATO schafft Stabilität. Diese Stabilität
im Innern strahlt aus auf ganz Europa und ist so Voraussetzung für Frieden und Freiheit.
Aus all diesen Gründen ist die zweite Öffnungsrunde
der NATO für neue Mitglieder unverzichtbar. Wir setzen
uns aus Überzeugung voll und ganz dafür ein.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Markus Meckel.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass in
den Grundfragen dessen, was wir heute hier behandeln,
eine sehr große Einigkeit besteht.
({0})
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, wenn wir an das
denken, was der Bundesaußenminister hier sehr klar und
deutlich gesagt hat: Diese Erweiterung liegt in unserem Interesse. Sie liegt im Interesse von Deutschland als einem
Land im Zentrum Europas und sie liegt im Interesse der
Staaten, die beitreten und für die - das sollten wir nicht
vergessen - sich hier ein Kreis schließt, der 1989/90 mit
dem Kampf um und dem Durchsetzen von Freiheit und
Demokratie in diesen Ländern begonnen hat. Sie gehören
dann zu dieser Wertegemeinschaft und ihren Institutionen.
Nach allem, was man heute weiß, wird Ende dieses
Jahres eine große Entscheidung zur Europäischen Union
fallen, ebenso im November zur NATO. Ich denke, das ist
ein ganz zentraler Punkt: Zwölf Jahre nach diesem Ereignis ist ein großer Teil dann wirklich auch in Strukturen
und gemeinsame Institutionen umgesetzt. Dies macht
nicht nur mich allein, sondern, wie ich glaube, sehr viele
in diesem Haus froh. Es liegt, wie gesagt, in deutschem
Interesse.
({1})
Die erste Runde der NATO-Erweiterung war ein Erfolg. Darüber ist gesprochen worden. Die NATO ist relativ spät darauf gekommen, dass sie sich erweitern sollte.
Sie glaubte am Anfang, andere Strukturen der Kooperation und der Kommunikation würden reichen. Ich glaube,
dass die Entscheidung, die 1997 endlich fiel, richtig war,
nämlich eine umfassende Erweiterung der NATO vorzubereiten. 1993 in Travemünde wurde noch überlegt, mit
der „Partnerschaft für den Frieden“ eine Alternative zur
künftigen Mitgliedschaft zu schaffen. Das ist vom Tisch.
Wir sind künftig in einer größeren Runde.
Wir haben heute leider über zwei Anträge zu entscheiden. Der einzige Unterschied in den Anträgen gründet
sich darauf, dass wir uns nicht einigen konnten, ob es
sinnvoll ist, die Bundesregierung heute durch einen Beschluss des nationalen Parlamentes festzulegen. Wir sind
der Meinung: Es ist gut, dass man, wie die NATO beschlossen hat, keinen Wettlauf macht, sondern im Kreis
der Mitgliedstaaten einen Konsens sucht.
Sie wissen, dass ich zu denen gehöre, die von Anfang
an der Meinung waren: Wir brauchen die europäische und
die transatlantische parlamentarische Debatte. Wir haben
sie auf verschiedenen Ebenen geführt. Herr von Stetten,
Sie kennen ja die verschiedenen Initiativen.
Er möchte eine
Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die?
Ja. Das war Ihr Stichwort.
({0})
Ich danke sehr, Herr Kollege Meckel. Sie waren einer
Dr. Karl A. Lamers ({0})
derjenigen, die schon sehr frühzeitig für die Aufnahme der
drei Staaten Litauen, Lettland und Estland in die NATO
waren; zumindest haben Sie das erklärt.
Ich bedauere, dass wir zwei Anträge haben. Die Sache
ist ein wenig schwierig nach außen zu erklären. Wir haben wenigstens einen parlamentarischen Weg gefunden:
Der eine wird überwiesen, über den anderen wird abgestimmt.
Können Sie, wenn Sie die Rücksicht, die man als Regierungspartei gegenüber der Regierung nehmen muss,
außer Acht lassen, bestätigen, dass Ihre Meinung ist, dass
gerade die drei baltischen Staaten den NATO-Beitritt
nicht nur verdient, sondern auch nötig haben?
Sehr geehrter Herr Kollege
von Stetten, ich möchte, weil diese Zeit mir nicht angerechnet wird, die Gelegenheit dieser Frage nutzen, um
festzustellen, dass Ihr Engagement für die baltischen
Staaten - gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen
in der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe - ganz
wesentlich war, und zwar zu einer Zeit, in der Ihr und unser aller Kanzler dies noch gar nicht für so gut und wichtig hielt. Für dieses Engagement für die baltischen Staaten, das wir und viele Kollegen hier im Raum teilen,
möchte ich mich bei Ihnen bedanken.
({0})
Ich glaube, dies war eine ganz wichtige Tätigkeit. Da Sie
aus dem Bundestag ausscheiden, möchte ich dies an
dieser Stelle erwähnt haben.
Meine Position kennen Sie. Sie wissen, dass ich schon
lange dafür eintrete. Ich muss aber gleichzeitig sagen: Ich
halte eine parlamentarische Debatte darüber für notwendig. Ich glaube auch, dass wir bei dem Zusammentreffen
der NATO-Parlamentarier in Sofia in der Resolution die
Namen aller sieben Beitrittskandidaten nennen sollten,
wie wir dies hier schon öfter getan haben.
({1})
Übrigens sind im Augenblick noch die amerikanischen
Kongresssenatoren dagegen, dass wir dort Namen nennen. Es gibt also unterschiedliche Verständnisse von einer
parlamentarischen Diskussion. Ich bin dafür, dass die Parlamentarier ihre Positionen beschreiben und die Regierungen sich erst kurz vorher festlegen.
Ich sage Ihnen auch, weshalb ich es für gut halte, diese
Frage offen zu halten. Ich denke dabei an die Slowakei.
Schon zu Beginn der Debatte habe ich gesagt, dass die
Slowakei dazugehört. Mittlerweile ist dies für niemanden strittig. Am Anfang schien es sogar so, als ob nur die
Slowakei und Slowenien die sicheren Kandidaten seien.
Angesichts des in der Slowakei zu befürchtenden Wahlergebnisses muss man jedoch deutlich sagen: Ich kann
mir überhaupt nicht vorstellen, dass ein NATO-Gipfel
mit Herrn Meciar stattfindet. Dies halte ich angesichts
der Erfahrungen, die wir mit Herrn Meciar gemacht haben, für schlichtweg unmöglich. Da aber an die HZDS
ohne Herrn Meciar kaum zu denken ist, muss man allen
möglichen Koalitionspartnern der HZDS in der Slowakei
sagen: Seid vorsichtig, das ist kein Weg in die Zukunft
und schon gar nicht in die europäische und transatlantische Integration. Solche Botschaften sind wichtig. Wir
müssen erst abwarten, was dort passiert, und können erst
kurz vor dem NATO-Gipfel in Prag eine wirklich klare
und verbindliche Aussage dazu machen, wer eingeladen
wird.
({2})
Diese Frage der Einladung ist von zentraler Bedeutung. Allerdings steht außer Frage - wie dies auch der
Kollege Lamers mit Recht gesagt hat -, dass die NATO
auch danach offen bleiben muss. Natürlich ist es wichtig, Kroatien, das hinsichtlich seiner demokratischen
Entwicklung nach den Wahlen große Fortschritte gemacht hat, klarzumachen, dass es, wenn die Regierung
es möchte, auch in die NATO kann. Die Regierung hat
aber den Antrag im Rahmen des „Membership Action
Plan“ noch nicht gestellt. Dies muss noch kommen,
wenn die Regierung es möchte. Insofern ist noch einiges
zu tun.
Aber auch Mazedonien und Albanien, die in diesen
Kreis gehören,
({3})
brauchen diese Perspektive für den Fall, dass sie die
Voraussetzungen erfüllen. Dabei handelt es sich nicht nur
um militärische Voraussetzungen, sondern zuallererst um
die Demokratie, die Stabilität und die Orientierung in
diesen Ländern betreffende Fragen. Alle Probleme, die
wir mit Mazedonien im Laufe des letzten Jahres hatten,
machen deutlich, wie schwierig dieser Weg in diesen Ländern oft ist.
Für die NATO selber ist in den letzten Monaten immer
wieder die Frage gestellt worden: Welche Rolle spielt die
NATO eigentlich noch? Unmittelbar nach dem 11. September 2001 haben wir den Bündnisfall - darüber wird
heute noch diskutiert werden - beschlossen, weil die
NATO gesagt hat: Dies ist ein ganz zentraler Punkt. Hier
müssen die NATO-Staaten zusammenstehen. Zur großen
Verwunderung Russlands, das glaubte, Art. 5 des NATOVertrages für sich gepachtet zu haben, hat die NATO in einem ganz anderen Kontext den Bündnisfall gemäß Art. 5
des NATO-Vertrages beschlossen. Dies war wichtig.
Viele sagen: Dass die USA dies nicht entsprechend wahrgenommen haben, werde den Beschluss nichtig machen.
Ich halte das für falsch.
Es geht nicht nur darum, dass wir dort unsere AWACS
zur Entlastung der Amerikaner und für unsere eigene
Sicherheit stationiert haben. Vielmehr müssen wir auch
deutlich machen, dass für die Amerikaner auch in der Vergangenheit die Perspektive immer schon eine andere war.
Für diese, die sich schon immer als globaler Akteur verstanden haben, war die NATO ein Instrument für die
transatlantische bzw. euroatlantische Sicherheit. Aber
wenn sie es für notwendig hielten, haben sie auch schon
vorher woanders ohne die NATO eingegriffen und sind
militärisch aktiv gewesen.
Für uns als Europäer war die Frage der transatlantischen und euroatlantischen Sicherheit immer auf diese
Region, auf den euroatlantischen Raum, beschränkt. Uns
ist lange Zeit nicht wirklich klar gewesen, dass Bedrohungen von ganz anderen Teilen der Welt auf uns zukommen könnten, sodass die Frage der globalen Rolle der
NATO eine für uns durchaus schwierige und zu diskutierende Frage ist. Nicht umsonst heißt es im strategischen
Konzept der NATO: Ziel der NATO ist die Sicherheit für
den transatlantischen, den euroatlantischen Raum. Dies
ist das Ziel, woher auch immer die Bedrohung kommt. Insofern spielt für uns Europäer die NATO für unsere eigene
Sicherheit eine viel zentralere Rolle, als dies etwa für die
Amerikaner der Fall ist.
Das müssen wir in zweierlei Hinsicht deutlich machen.
Auch darüber ist heute schon gesprochen worden. Zum einen geht es um die Handlungsfähigkeit und Stärkung
der NATO. Auch im Rahmen der Erweiterung ergeben
sich eine ganze Reihe von Fragen: Ich nenne neben der
Handlungsfähigkeit - der Bundesaußenminister hat davon gesprochen - die Straffung der Strukturen und der
Entscheidungsabläufe, die Reduktion der Zahl von Koordinierungsausschüssen und militärischen Kommandos,
aber eben auch die Frage, ob man dem Generalsekretär
nicht mehr Kompetenzen geben sollte. All das wird zurzeit diskutiert.
Interessanterweise geschieht dies relativ spät. Vor einem Jahr noch hieß es dazu in der NATO: Das funktioniert
doch alles; das ist anders als bei der Europäischen Union.
Inzwischen ist man sich darüber klar geworden, dass die
Frage der Strukturen innerhalb der NATO ein Thema ist.
Ich denke, bis zum Herbst wird man zu gemeinsamen Vorschlägen kommen, sodass für den November nicht allein
die Erweiterung, sondern eben auch die Straffung der
Strukturen und die Handlungsfähigkeit innerhalb der
NATO im Zentrum steht.
Zum anderen geht es um die Frage, welche Rolle
die NATO im Kampf gegen den Terrorismus spielen
kann und welches ihre globalen Aufgaben sind. Es ist
für uns wichtig, deutlich zu machen, dass die NATO
nicht klein geredet werden darf, weil sie im Rahmen der
Terrorismusbekämpfung nur eine begrenzte Aufgabe
hat. Es ist klar: Mit militärischen Mitteln lassen sich
viele Fragen zum Terrorismus gar nicht beantworten.
Darüber ist in diesem Hause in den letzten Monaten viel
gesprochen worden. Die Bundesregierung ist auf diesem Feld sehr aktiv gewesen, auch im Rahmen der internationalen Institutionen und gemeinsam mit den
Amerikanern.
Klar ist: Wenn die Rolle der NATO im Zusammenhang
mit der Terrorismusbekämpfung nur begrenzt ist, dann
kann das noch lange nicht heißen, dass sie für uns etwa an
Bedeutung verloren hätte.
({4})
Deshalb bin ich dem Kollegen Hoyer sehr dankbar, dass
er diese Fragen vorhin sehr deutlich angesprochen hat.
Schon 1989/90 war es für die mittel- und osteuropäischen Staaten eine zentrale Frage, ihre Sicherheit nicht
nur national zu organisieren. Auch wir hatten daran ein Interesse. Zum einen nämlich sind nationale Sicherheitsorganisationen immer teurer, zum anderen schüren sie - besonders angesichts der Geschichte dieser Länder und ihres Verhältnisses zueinander - die Gefahr der Instabilität.
Das haben wir wahrhaftig zuhauf erfahren. Was wir brauchen, sind integrierte Strukturen zur Stabilisierung des
transatlantischen Verhältnisses.
Die Frage für uns lautet, wie wir als Europäer unsere
Sicherheit organisieren wollen, um dann die notwendigen
Schritte auch im Haushalt einzuleiten. Das Wichtigste in
dieser Frage ist aber der politische Wille. Hier muss ich
gestehen, dass wir mit den Kolleginnen und Kollegen der
anderen europäischen Parlamente und den anderen europäischen Regierungen noch viel zu tun haben, um zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Das soll nicht etwa
ein Bündnis gegen die Amerikaner sein, sondern wir wollen mit ihnen gemeinsam für Frieden und Sicherheit nicht
nur im transatlantischen Raum, sondern auch weltweit
sorgen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Damit schließe
ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU sowie der FDP auf Drucksache 14/8835 mit dem Titel „Die zweite Runde
der NATO-Erweiterung auch als Beitrag zur Stabilisierung Südosteuropas konzipieren“. Wer stimmt für diesen
Antrag? ({0})
- Kommen Sie bitte zu mir nach vorne.
({1})
- Da hierüber offensichtlich Unklarheit herrscht und es
unterschiedliche Informationen gibt, stelle ich diese Abstimmung zurück. Es gibt noch eine Reihe anderer Abstimmungen, mit denen wir jetzt fortfahren.
({2})
- Ich werde am Ende der nun folgenden Abstimmungen
über die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b abstimmen
lassen. Bis dahin kann die Verwaltung das in Ruhe klären.
Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Ich rufe die Tagesordnungs-
punkte 34 a bis 34 i und 20 c sowie die Zusatzpunkte 4 a
bis 4 d auf:
34 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Harald
Friese, Anni Brandt-Elsweier, Christel RiemannMarkus Meckel
Hanewinckel, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD, den Abgeordneten Beatrix
Philipp, Renate Diemers, Maria Eichhorn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU,
den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk,
Volker Beck ({3}), Monika Knoche, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten
Ina Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Wolfgang
Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung anonymer Geburten
- Drucksache 14/8856 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Monika
Griefahn, Hermann Bachmaier, Eckhardt Barthel
({5}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Kerstin Müller ({6}), Rezzo Schlauch
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung der Preisbindung bei Verlagserzeugnissen
- Drucksache 14/8854 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 30. November 2000 zur Änderung
des Europol-Übereinkommens
- Drucksache 14/8709 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 16. Januar
1992 zum Schutz des archäologischen Erbes
- Drucksache 14/8710 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer
Vorschriften ({10})
- Drucksache 14/8771 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung der Gewerbeordnung und sonstiger
gewerberechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/8796 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Konkrete Schritte gegen die Bedrohung durch
biologische Waffen
- Drucksache 14/8698 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Förderung der Energiespeicherforschung
- Drucksache 14/5576 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2001
- Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({13}) -
- Drucksache 14/8729 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
20 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Schauerte, Dagmar Wöhrl, Kurt-Dieter Grill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Fairen Wettbewerb im Strom- und Gasmarkt
effektiv und effizient sichern
- Drucksache 14/7614 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({15})
- Drucksache 14/8860 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({16})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fortentwicklung der sozialen Pflegeversicherung
- Drucksache 14/8864 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({17})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Matthias Wissmann, Kurt-Dieter Grill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Kein Emissionszertifikatehandel zum Nachteil
des Wirtschaftsstandortes Deutschland
- Drucksache 14/8852 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Dirk Fischer ({19}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Verbraucherschutz im Bereich des öffentlichen
Personenverkehrs noch immer unzureichend
- Drucksache 14/8853 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({20})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 j sowie die Zusatzpunkte 5 a
und 5 b. Auch hier handelt es sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 35 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. September 2000 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Tschechischen Republik
über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen und schweren Unglücksfällen
- Drucksache 14/7096 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({22})
- Drucksache 14/8868 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Graf ({23})
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/8868, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung einstimmig angenommen
worden.
Tagesordnungspunkt 35 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft über gemeinschaftliche
Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen
für Agrarerzeugnisse ({24})
- Drucksache 14/8526 ({25})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({26})
- Drucksache 14/8811 Berichterstattung:
Abgeordneter Ulrich Heinrich
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 14/8811, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, aufzustehen, wenn
Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustimmen
wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist auch in der dritten Lesung einstimmig
angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 35 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft über die Etikettierung von
Fischen und Fischereierzeugnissen ({27})
- Drucksachen 14/7726, 14/8196 ({28})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({29})
- Drucksache 14/8810 Berichterstattung:
Abgeordneter Ulrich Heinrich
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte Sie erneut, aufzustehen, wenn Sie in der dritten Beratung bei Ihrem Votum
bleiben wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 35 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den
Auswärtigen Dienst ({30})
- Drucksache 14/8225 ({31})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({32})
- Drucksache 14/8833 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({33})
Reinhard Freiherr von Schorlemer
Dr. Helmut Haussmann
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/8833, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch
dieser Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Wer zustimmen möchte, möge
sich erheben. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 35 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 14/8450 ({34})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({35})
- Drucksache 14/8895 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann ({36})
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei
Enthaltung der FDP angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen worden.
Wir kommen zu den Sammelübersichten des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 378 zu Petitionen
- Drucksache 14/8801 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 378 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 35 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 379 zu Petitionen
- Drucksache 14/8802 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 379 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 35 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 380 zu Petitionen
- Drucksache 14/8803 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 380 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 35 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 381 zu Petitionen
- Drucksache 14/8804 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 381 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 35 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 382 zu Petitionen
- Drucksache 14/8805 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 382 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses bei Gegenstimmen der PDS angenommen worden.
Wir kommen nun zu den weiteren abschließenden Beratungen ohne Aussprache.
Zusatzpunkt 5 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Grundstoffüberwachungsgesetzes
- Drucksache 14/8387 ({42})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({43})
- Drucksache 14/8882 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 14/8882, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden.
Zusatzpunkt 5 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesundheitsstrukturgesetzes
- Drucksache 14/7462 ({44})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({45})
- Drucksache 14/8882 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust
Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates
zur Änderung des Gesundheitsstrukturgesetzes, Drucksache 14/7462. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt
auf Drucksache 14/8883, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig
angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter
Lesung einstimmig angenommen worden.
Wir haben uns geeinigt: Bei den Tagesordnungspunkten 17 a und 17 b wird jetzt um Überweisung gebeten.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Wir verfahren so und haben das damit für heute erledigt.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu den Wachstumsprognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten 2002
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Abgeordneten Matthias Wissmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt in dieser Woche zwei Gutachten,
die Anlass zum Nachdenken und zu einer tief greifenden
Kurskorrektur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik geben, Herr Bundesfinanzminister Eichel.
Das eine ist das Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland, in dem diese davon
ausgehen, dass wir in diesem Jahr einen mäßigen Aufschwung mit 0,9 Prozent Wachstum des realen Bruttosozialproduktes, keine Veränderung am Arbeitsmarkt, nur
weitere Veränderungen zum Schlechten haben und in
Sachen Staatsdefizit Schlusslicht in Europa bleiben.
Noch aufrüttelnder ist die gestern veröffentlichte Frühjahrsprognose der EU-Kommission, die das „Handelsblatt“ heute unter den Überschriften „EU liefert Stoiber
Wahlmunition“ und „Rote Laterne für Deutschland“ veröffentlicht hat
({0})
und in der deutlich wird, dass wir beim Wachstum, beim
Staatsdefizit und bei der Beschäftigung weiterhin die rote
Laterne besitzen und sie auch bei Fortführung der gegenwärtigen Politik nicht abgeben werden. Das ist für uns
Anlass zu sagen: Wer in einer solchen Situation seine
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Überlegungen für die Zukunft unter das Motto „Weiter
so!“ wie gestern Gerhard Schröder stellt, hat sich mit der
roten Laterne abgefunden.
({1})
Das kann doch wohl keine Wirtschafts- und Finanzpolitik
für Deutschland und, da wir die größte Industrienation
Europas sind, für Europa sein.
Meine Damen und Herren, nach Angaben des Bundesfinanzministeriums sind allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres die Konsumausgaben des Bundes um
5,5 Prozent gestiegen, die Investitionsausgaben, Herr
Eichel, aber um 13,8 Prozent zurückgefahren worden.
Was für ein Signal gerade im Hinblick auf die neuen Bundesländer!
({2})
Was für ein Signal im Hinblick auf eine bessere Struktur
des Bundeshaushalts! Wir stellen an allen entscheidenden
Weichenstellungen leider Fehlverhalten, Schwäche und
falsche Anlage der Wirtschafts- und Finanzpolitik fest.
Wir müssen diesen Kurs ändern, wenn wir die Schlusslichtposition verlassen wollen.
({3})
Die Folgen dieser verfehlten Wirtschaftspolitik lassen
sich an dem absehbaren neuen Rekord an Unternehmensinsolvenzen festmachen. Nach Berechnungen der
Gutachter von Creditreform werden in diesem Jahr rund
40 000 Unternehmen ihre Pforten schließen müssen.
Hinzu kommen rund 20 000 Personeninsolvenzen.
60 000 Pleiten insgesamt, das ist ein absoluter Rekord und
es bedeutet vor allem, dass grosso modo 550 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Gerade im
Mittelstand greift die Sorge um sich. Bei einem Drittel
aller kleinen und mittleren Betriebe liegt der Umsatz unter der Ertragsschwelle. Bei einem weiteren Drittel liegt
der Umsatz gerade an der Grenze, sodass sie noch überleben können. Das letzte Drittel aller kleinen und mittleren
Unternehmen, bei denen Jobs entstehen könnten, befindet
sich in positivem Fahrwasser.
Die Gutachter der Wirtschaftsforschungsinstitute haben also Recht, wenn sie uns mahnen, die grundlegenden
Reformen anzugehen: Deregulierung des Arbeitsmarkts,
Erneuerung und Strukturreform des Gesundheitswesens.
Sie haben Recht, wenn sie die kritische Frage stellen: Wie
wollt ihr eigentlich die Schieflage im Haushalt - Investitionen herunter, konsumtive Anteile herauf - nachhaltig
reparieren? Darauf gibt es keine Antworten.
Das gestern vorgestellte SPD-Wahlprogramm steht unter der Überschrift: „Kanzler, Konzept und Kompetenz“ drei K.
({4})
Ich kann gegenwärtig nur feststellen - ich sage das mit
Bedauern -: Unsere Lage ist durch drei andere K gekennzeichnet: Krise, Klüngel und Konkurse.
({5})
So kann es nicht weitergehen. Deswegen brauchen wir
einen kraftvollen Neubeginn in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dazu mahnt uns die EU-Kommission. Dazu
mahnen uns die Wirtschaftsforschungsinstitute. Wer aus
diesen Gutachten Bestätigung herausliest, der hat sich mit
der roten Laterne abgefunden. Wir finden uns damit nicht
ab. Wir wollen Deutschland wieder in die Spitzengruppe
der führenden Industrienationen bringen.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Wend.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wissmann, ich bedauere es ein bisschen, dass auch Sie heute wieder der
Versuchung erlegen sind, den Wirtschaftsstandort
Deutschland schlecht zu reden, dass Sie auch heute wieder der Versuchung erlegen sind, eine Rote-Laterne-Debatte zu führen. Warum ist Ihnen das Thema „rote Laterne“ eigentlich nicht bis 1998 eingefallen, als Sie fünf
Jahre hintereinander in derselben Situation gewesen sind?
({0})
Sie sagen nach Auslegung der Berichte der Institute,
wir müssten eine Kehrtwende unserer Politik machen. Es
mag sein, dass wir unterschiedliche Berichte bekommen
haben. Ich zitiere einmal:
Für eine nachhaltige Aufwärtsentwicklung kommt es
nun darauf an, dass die einzelnen Bereiche der Wirtschaftspolitik ihre mittelfristige Orientierung beibehalten.
Das ist genau das, was uns die Wirtschaftsforschungsinstitute sagen. Wir haben noch einen Weg vor uns. Es
kann kein Zweifel darin bestehen, dass auch wir darüber
nachdenken müssen, was im einen oder anderen Bereich
zu tun ist; aber die grundlegenden politischen Veränderungen, die wir in den letzten Jahren herbeigeführt haben,
sind richtig.
Die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute empfehlen uns eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die uns allen
- das sage ich hier ganz offen - sehr schwer fallen wird.
Ich zitiere noch einmal aus dem Bericht der Institute:
Vor einer besonderen Herausforderung steht die Finanzpolitik in Deutschland.
Weiter heißt es:
Gleichwohl sollten von dem Konsolidierungskurs
keine Abstriche gemacht werden.
Es wird in den nächsten Jahren nicht leicht sein, den
begonnenen Konsolidierungskurs, der schmerzhaft ist,
fortzuführen. Die Institute selbst sagen: Wir müssen aufpassen, dass wir die Konjunktur durch die weiteren finanzpolitischen Konsolidierungsmaßnahmen nicht zu
sehr dämpfen. Das bedeutet, zu versuchen, bei den Investitionen möglichst wenig zu sparen und bei der Konsolidierung in die konsumtiven Ausgaben zu gehen. Jeder ist
geneigt, sofort zu sagen: Jawohl, das müssen wir machen.
Ich will das nicht bestreiten; es stimmt. Aber das ist unglaublich schwer, denn konsumtive Ausgaben sind Ausgaben für Bildung und Forschung und Ausgaben für die
Sozialpolitik, um nur zwei Bereiche zu nennen. Das wird
ein verdammt schwieriger Weg, übrigens für uns alle,
nicht nur für uns Sozialdemokraten. Dennoch ist dieser
Weg unausweichlich, auch wenn er schmerzhaft ist, weil
konsolidierte öffentliche Haushalte die Voraussetzung für
eine weitere wirtschaftliche Gesundung sind.
Ich habe freimütig eingeräumt: Dieser richtige Konsolidierungskurs wird uns nicht leicht fallen. Ich richte die
Frage an die Opposition, insbesondere an die CDU/CSU:
Was ist Ihre Alternative? Das Lippenbekenntnis Ihrer Politik heißt Sparen. Ihre politischen Alltagsforderungen
weisen genau in die entgegengesetzte Richtung.
({1})
Weitere Ausgaben für Verteidigung, weitere Ausgaben für
Familiengeld, weitere Ausgaben für Mittelstandsprogramme, weitere Ausgaben für die Senkung des Spitzensteuersatzes - das sind nur vier Forderungen aus den letzten Tagen, die Milliarden und Abermilliarden kosten. Es
kennzeichnet die Unsolidität Ihrer Politik, Sparen zu fordern und alltäglich mehr Ausgaben einzufordern. Diesen
Widerspruch müssen Sie aufklären.
({2})
Auch auf diesen Punkt wird sich die Diskussion im Wahlkampf bis zum Herbst beziehen.
Es gibt auf der einen Seite einen klaren Konsolidierungskurs der Bundesregierung, der von allen Wirtschaftsforschungsinstituten gestützt wird, die dazu Aussagen machen. Es gibt auf der anderen Seite einen Kurs
der Union, der Sparen fordert und in der Alltagspolitik populistische Ausgaben auf die Tagesordnung setzt.
({3})
Diesen Widerspruch werden wir den Bürgerinnen und
Bürgern erklären.
({4})
Der Bundeskanzler hat Recht, wenn er sagt: Es kann
nicht richtig sein, dass wir uns unter großen Schwierigkeiten über Monate hinweg bemühen, den Schuldenstaat,
den Sie uns hinterlassen haben, durch Haushaltskonsolidierung in den Griff zu bekommen,
({5})
und uns von Ihnen hier vorwerfen lassen müssen, wir
würden nicht genug sparen,
({6})
während Sie zusätzliche Ausgaben in Milliardenhöhe fordern. Die Bürger merken dies. Hören Sie auf damit!
({7})
Machen Sie lieber gemeinsam mit uns eine sachorientierte, schwierige Konsolidierungspolitik. Wir haben es
alle nicht leicht, aber Ihr billiger Populismus wird entlarvt
werden; dessen können Sie sicher sein.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.
({0})
Herr Baron, willkommen auf
der Arbeitsebene.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frühjahrsgutachten, OECD-Prognose, EU-Wirtschaftsbericht
zeigen es: Deutschland bleibt hinten. Da hilft es nicht,
denjenigen, die die Fakten nennen, vorzuwerfen, sie redeten das Land schlecht. Nein, diejenigen, die gesundbeten und die Realität nicht zur Kenntnis nehmen, versündigen sich am Land. Das ist die Tatsache.
({0})
- Der rote Baron ist immer eine Bereicherung. Ich finde
es schön, dass der Neofeudalismus durch Sie dokumentiert wird.
Vor einem Jahr träumte Herr Eichel noch von 2,5 Prozent realem Wachstum.
({1})
Er musste seine Prognose Schritt für Schritt revidieren.
Lassen Sie doch die Finger davon, kurz vor der Bundestagswahl die Prognose wieder hochdrehen zu wollen. Wer
so daneben lag, sollte nicht ständig an der Prognose fummeln. Sie haben in diesem Punkt keine Glaubwürdigkeit.
({2})
Die Konjunktur dümpelt. In England beträgt das Wachstum rund 2 Prozent, in Spanien ebenso, Frankreich hat ein
Wachstum von 1,5 Prozent. Die Ausrede, die Probleme der
Weltwirtschaft seien so schlimm, zieht nicht. Herr Eichel,
ich kann Ihnen versichern, England, Frankreich und Spanien operieren im gleichen weltwirtschaftlichen Rahmen
wie wir, denn es gibt nur eine Weltwirtschaft. Deshalb kann
man sich damit nicht herausreden. Hier ist vielmehr die
Strategie falsch; wir sind falsch aufgestellt.
Ich trage ein Zitat aus dem Gutachten vor:
Höher als angekündigt ist die Belastung mit Steuern
und Sozialabgaben; sie sollte eigentlich spürbar gesenkt werden. Insofern wurden die selbst gesetzten
Ziele der Finanzpolitik verfehlt.
Tatsache ist: Sie haben nicht entlastet, sondern wir haben
in den nächsten Jahren 9 Milliarden Euro Zusatzbelastung. Per saldo haben Sie keine steuerliche Entlastung
vorgenommen,
({3})
sondern durch Ökosteuer, Tabaksteuer und Versicherungsteuer die Leute mehr belastet. Das ist die Kernursache
dafür, dass wir in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht
vorankommen.
({4})
Sie sollten aufhören mit Verdrängungsaussagen wie:
„Wenn wir die Bauwirtschaft herausrechnen, stehen wir
besser da“. „Wenn wir Ostdeutschland herausrechnen,
stehen wir besser da“. Natürlich, Herr Baron: Wenn wir
die Arbeitslosen aus der Statistik herausrechnen, haben
wir Vollbeschäftigung.
({5})
Das wäre die Lösung des Problems. Das sind Ihre Tricksereien. Damit konnte der Adel früher über die Runden
kommen, Herr Baron, aber in der Republik kommen Sie
damit nicht weiter.
({6})
Deshalb lieber die Stunde der Wahrheit und nicht
Rückfall in den alten Feudalismus, wo man die Leute an
der Nase herumgeführt hat. Sie schieben und schieben.
Sie machen keine Reformen, weil Sie Angst vor den Gewerkschaften haben. Sie machen keine Gesundheitsreform, denn Sie haben Angst vor dem Gesundheitssektor.
Sie machen nichts. Bei Ihnen gilt das Prinzip Hoffnung:
Die Amerikaner machen es besser, und wir werden über
den Export mitgezogen. Sie selbst machen es nicht. Aber
mit dem Prinzip Hoffnung kommen Sie nicht weiter.
Das Gutachten macht auch eine interessante Aussage
zu der aktuellen Tarifauseinandersetzung. Es sagt:
2,5 Prozent Lohnerhöhung. Das ist die Basis aufgrund einer Prognose, die schon sehr bescheiden ist. Es dümpelt
ja alles, von Aufschwung ist nichts zu spüren.
({7})
Schon der Abschluss in der Chemieindustrie liegt deutlich
über diesen 2,5 Prozent. Was die Herren von der IG Metall installieren, ist wahrlich kein Beitrag zur Reduzierung
der Arbeitslosigkeit. Sie sind da gefangen, weil die meisten von Ihnen Gewerkschaftssekretäre sind.
({8})
Die Arbeitslosen in Deutschland haben keine Gewerkschaft. Da verhandeln nur die, die drin sind, zulasten derer, die draußen sind, die aber auch ein Stück Hoffnung
und Perspektive haben wollen.
({9})
Tatsache ist: Wir haben einen Pleitenrekord. Wir kommen
nicht voran beim Abbau der Arbeitslosigkeit. Sie haben
steuerlich nicht entlastet. Per saldo haben Sie zusätzlich
draufgeknallt. Wir haben einen Rekord bei der Schwarzarbeit.
({10})
- Da hilft auch kein Schreien. Sie sollten sich lieber schämen. - Wir haben ein mieses Klima im Mittelstand. Der
Mittelstand verzweifelt immer mehr.
({11})
- Die Zahlen sprechen Bände. Ich sage noch einmal: Pleitenrekord. Sie als Abgeordneter haben damit kein Problem. Sie kriegen Ihre Diäten oder haben vielleicht als
Feudalist noch Latifundien.
({12})
Aber die Menschen, die auf ihr Arbeitseinkommen angewiesen sind, sind nicht in Ihrer Position, sondern in dieser
miserablen Situation, die uns nicht weiterführt.
Was wir brauchen, ist eine Steuerreform II. Wir müssen weiter entlasten. Der Fehler war, dass man nicht
rechtzeitig gehandelt hat. Deshalb ist Herr Eichel in der
Haushaltsmisere. Hätte er früher und umfassender steuerlich entlastet, hätten wir mehr Wachstum, mehr Beschäftigung, weniger Arbeitslosigkeit und eine bessere Haushaltssituation. Die Untätigkeit ist die Ursache der
Haushaltsmisere.
({13})
Ich kann den Menschen draußen nur zurufen: Halten
Sie einfach durch bis zum 22. September! Am 22. September ist in Deutschland Freiheitstag.
({14})
Dann können Sie wählen. Dann können Sie eine bessere
Politik wählen, Sie können sich für eine freiheitliche Lösung entscheiden, Sie können steuerliche Entlastung
wählen, Sie können Arbeitsmarktchancen wählen.
({15})
Tun Sie es, damit das Land an der Unfähigkeit von GrünRot nicht verzweifelt.
({16})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
habe mich gefragt, was die Opposition, was die Union bewogen hat, diese Aktuelle Stunde zu beantragen. Zunächst
hatte ich die Vermutung, Sie würden diese Gelegenheit für
einen Strategiewechsel nutzen, weil Sie zu der Überzeugung gekommen sind, dass Sie allein mit Schlechtreden
des Standortes und mit Trübsalblasen eben nicht über den
Sommer kommen. Das zumindest hat Ihnen das Frühjahrsgutachten vor Augen geführt.
({0})
Aber Sie haben sich offenbar entschlossen, die SonthofenStrategie in der Wirtschaft fortzusetzen. Sie suchen das
Haar in der Suppe, um es hier rhetorisch zu spalten.
({1})
Herr Wissmann, wir haben nicht nur zwei Gutachten zu
beachten. Sie sollten sich vielleicht zusätzlich einmal die
Expertise von EU-Wirtschaftskommissar Pedro Solbes
vornehmen,
({2})
wenn Sie das Frühjahrsgutachten der EU und das Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute auswerten.
Die rote Laterne, die sie der Bundesregierung so gerne
überreichen wollen, hängt am Zug der deutschen Einheit.
Sie hängt dort, seitdem Sie die Einheit falsch finanziert
haben.
({3})
Ein Drittel der Wachstumsschwäche geht auf die falsche
Finanzierung der deutschen Einheit zurück. Es sind etwa
0,3 Prozent Wachstum, die uns auf diese Art und Weise
verloren gehen. Das sind etwa 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, das wir nach wie vor für den Osten bereitstellen müssen, und zwar nicht nur in Form von Investitionen, sondern im Grunde auch durch Sozialtransfers.
Das andere Drittel ist die falsche Konjunkturlokomotive, die sie vor den Zug der deutschen Einheit gehängt
haben. Ich weise nur auf die überhitzte und überdimensionierte Bauindustrie hin, deren Überkapazitäten jetzt
abgebaut werden müssen. Das macht ein weiteres Drittel
dieser Wachstumsschwäche aus. Das sind noch einmal
0,3 Prozent.
Das übrige Drittel sind die nach wie vor ausstehenden
Reformen. Die Reformen stehen nach wie vor aus, weil
Sie den Zug der deutschen Einheit in einen Verschiebebahnhof gefahren haben. Nicht umsonst war „Reformstau“ einmal das Wort des Jahres. Diesen Reformstau haben wir übernommen. Natürlich ist das noch nicht alles
abgebaut.
Zwei Drittel der Wachstumsschwäche gehen eindeutig
auf Ihr Regierungskonto zurück. Über ein Drittel können
wir uns streiten. Wir sind momentan dabei, das abzubauen.
({4})
Da haben wir einiges zu bieten, etwa bei der Steuerreform. Ich erinnere Sie nur daran: Wären wir dem Blitzprogramm von Herrn Brüderle gefolgt, dann hätten wir im
Herbst ein Aktionsprogramm auflegen und einen hektischen Aktionismus betreiben müssen.
({5})
Nein, wir haben Kurs gehalten. Das Frühjahrsgutachten
der Forschungsinstitute bestätigt, dass es richtig war, das
zu tun. Selbst Forschungsinstitute haben sich jetzt dem
Kurs der Regierung angeschlossen und gesagt, dass das so
in Ordnung ist, dass es keinen Spielraum für weitere
Steuersenkungen gibt.
Wie Sie die Steuersenkungen nach dem 22. September
realisieren wollen, bleibt Ihr Geheimnis. Ich glaube, Sie
werden nach der Methode Pieper vorgehen, nach dem
Motto: Höppner geht, die Arbeit kommt und Frau Pieper
flüchtet. Es war eine „Piepshow“, die Sie in SachsenAnhalt abgezogen haben. Das ist eine große Täuschung.
Wir werden darauf noch zurückkommen.
({6})
Es ist kein Spielraum für Steuersenkungen vorhanden.
Im Gegenteil, die Forschungsinstitute fordern uns auf,
weiter zu sparen.
({7})
- Herr Hinsken, man könnte die drei K, die Herr
Wissmann vorgetragen hat, auch anders übersetzen. Es
fehlt an Kalkulation, es fehlt an Korrektheit und es liegt
noch nicht einmal in dieser Richtung ein Konzept vor.
({8})
Das, was Sie da so vollmundig verkünden, Sie wollten
beispielsweise beim Familienlastenausgleich einmal so
24 Milliarden herausstreuen, ist überhaupt nicht zu verwirklichen. Das können Sie nicht finanzieren; auch nicht
Steuersenkungen und weitere Versprechungen von sozialen Wohltaten.
({9})
- Zur Konjunktur? Die Konjunktur sieht relativ günstig
aus.
({10})
Wir haben allen Grund, optimistisch zu sein. Wir rechnen
mit 0,9 Prozent Wachstum. Im nächsten Jahr werden wir
etwa 2,3 Prozent Wachstum bekommen. Herr Schauerte,
egal, ob Sie das jetzt zum Lachen bringt oder nicht, es ist
einfach so. Das sind die Fakten.
({11})
Es wird Ihnen nicht gelingen, das schlecht zu reden. Das
reicht nicht für die Zeit bis zum 22. September.
({12})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schulz, schauen wir mal.
Werner Schulz ({0})
Schauen wir mal, wer deutscher Fußballmeister wird.
Jede Mannschaft, die es noch werden will, wird sich auch
für die letzten Spiele noch anstrengen müssen.
Wenn man das Gutachten liest, dann finde ich die Haltung der Bundesregierung, die heute von der CDU/CSU
thematisiert wird, schon erstaunlich; denn unabhängig
davon, wie die Gutachten in den letzten Jahren auch ausgefallen sind, fühlt sich Rot-Grün in seiner Politik immer
bestätigt. Das ist schon ein besonderer Blick auf die Realität.
({1})
Man muss wirklich sagen: Die Realität ist alles andere
als rosig. Die Bundesrepublik hat keine Chance, die rote
Laterne in Europa in diesem Jahr abzugeben. Wie es dann
im nächsten Jahr aussehen wird, bleibt abzuwarten.
Wenden wir uns den Realitäten zu. Erstens. Die Arbeitslosigkeit steigt auch in diesem Jahr. Im Vergleich
zum Vorjahr haben wir in den Monaten März und April
160 000 arbeitslose Menschen mehr. Das ist eine Steigerung der Arbeitslosenquote von 9,8 auf 10 Prozent. Dahinter stehen viele, viele Schicksale. Ein Ende der Talsohle ist auch laut Aussage der Bundesanstalt für Arbeit
nicht in Sicht.
Zweitens. Die Zahl der Insolvenzen spricht eine deutliche Sprache in Bezug auf die wirtschaftliche
Entwicklung. Im vergangenen Jahr gab es 32 278 Insolvenzen, ein Nachkriegsrekord. Befürchtet wird, dass es in
diesem Jahr einen neuen Rekord geben wird, und zwar mit
37 200 Insolvenzen, so die Schätzung des Bundesverbandes Deutscher Inkassounternehmen. Damit sind wiederum 550 000 bis 600 000 Arbeitsplätze bedroht. Nur ein
Bruchteil dieser Insolvenzen entfällt auf spektakuläre
Pleiten wie bei Herlitz und Kirch. Betroffen sind vor allem kleine und mittlere Unternehmen.
Diese zwei Beispiele sollten ausreichen, um zu zeigen,
dass die rot-grüne Koalition und die rot-grüne Regierung
sich nun endlich von ihrem gescheiterten Konzept - nur
massive Steuerentlastung der Konzerne, der Besserverdienenden und der Vermögenden - verabschieden müssen. Denn genau dieses Konzept hat nicht zu Wachstum
und mehr Beschäftigung geführt. Ihre Steuerreform war
und bleibt ein Flop.
({2})
Diesen Bankrott rot-grüner Wirtschafts- und Finanzpolitik
muss man sich erst einmal eingestehen. Die Realität spricht
eine deutliche Sprache. Dann müssen - das ist notwendig daraus endlich die Konsequenzen gezogen werden.
Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die öffentlichen Haushalte mit Ihrer Finanzpolitik in den Ruin
getrieben werden. Geld für öffentliche Investitionen ist
nicht vorhanden. Um das festzustellen, reicht ein Blick in
den Bundeshaushalt dieses Jahres. Der Anteil der investiven Ausgaben beträgt im Jahr 2002 noch rund 10 Prozent. Das ist Nachkriegstiefstand.
Insbesondere die Kommunen befinden sich durch Ihre
Finanzpolitik in einer sehr schweren Situation. Nehmen
wir einmal ein drastisches Beispiel: die Stadt Gütersloh,
bekanntermaßen Sitz des Medienkonzerns Bertelsmann.
Bertelsmann hatte im vergangenen Jahr 20 Milliarden Euro Umsatz und einen Gewinn erwirtschaftet. Die
Stadt Gütersloh muss aber an den Konzern 15 Milliarden Euro für das Jahr 2001 an Steuern zurückzahlen.
({3})
- Entschuldigung, das kann ja einmal passieren. Es ist
schön, dass Sie zuhören und mich korrigieren.
({4})
Die geschilderte Situation bedeutet für die Stadt
Gütersloh und ihre Bürgerinnen und Bürger drastische
Sparmaßnahmen und eine Haushaltssperre.
Das ist kein Einzelfall. In den neuen Bundesländern ist in
ganz vielen Kommunen inzwischen auch die soziale
Infrastruktur bedroht. Das, was an notwendigen sozialen Infrastruktureinrichtungen, ob das die Frauen- oder Jugendarbeit oder die Betreuung älterer Bürgerinnen und Bürger
betrifft, noch vorhanden ist, ist massiv bedroht, weil die
Kommunen nicht mehr ihren Anteil an der Gegenfinanzierung aufbringen können. Was das alles im Endeffekt kostet,
können wir uns heute noch gar nicht ausmalen.
Die Binnennachfrage stagniert. Sicher wird Herr
Eichel, der nach mir spricht, wieder sagen, wie toll die
Steuerreform und die Steuerentlastung für jede Familie
waren.
({5})
Dabei werden meistens die Ökosteuer und die Erhöhung
anderer Steuern vergessen. Man muss leider feststellen,
dass sich die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten 20 Jahren nicht erhöht hat, auch
unter Ihrer Regierung nicht. Das ist die Realität.
({6})
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie das endlich ändern würden. Machen Sie Schluss mit dieser Steuersenkungspolitik für Besserverdienende, Vermögende und
Konzerne! Gehen Sie endlich zu einer nachhaltigen Finanzpolitik über!
({7})
Da unterscheide ich mich wesentlich von der rechten Opposition in diesem Hause. Sie sollten sich endlich einmal
der Einnahmenseite zuwenden. Setzen Sie doch bitte
Ihren Kopf ein; in der Politik ist Fantasie gefragt. Ich
glaube, es stünde uns sehr gut zu Gesicht, wenn wir uns
nicht nur von der Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne
bei Kapitalgesellschaften verabschieden würden,
({8})
sondern uns wieder auch anderen Finanzierungsquellen
zuwenden würden. Was ist denn mit einer Reform der
Erbschaftsteuer? Sie verweigern sich hier. Was ist denn
mit einer Vermögensbesteuerung? Nichts! Große KonDr. Barbara Höll
zerne wie Daimler-Benz zahlen de facto keine Steuern,
aber jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer zahlt
brav die Lohnsteuer. Das kann es nicht sein; das ist kontraproduktiv. Es muss vielmehr darum gehen, die Binnennachfrage zu stärken und aktiv Maßnahmen zu verwirklichen, die dafür sorgen, dass Wachstum einsetzt und dass
Arbeitsplätze geschaffen werden.
Sie haben noch Zeit bis zur Wahl. Die Bevölkerung erwartet Taten.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesfinanzminister, Hans Eichel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifelsfrei steht fest - das ergibt sich aus dem Gutachten der
Wirtschaftsforschungsinstitute; das sagen im Übrigen
auch alle internationalen Institutionen -, dass der Aufschwung begonnen hat. Sie haben jetzt ein strategisches
Problem: Wollen Sie bis zur Bundestagswahl immer noch
so tun, als säßen wir in der Malaise? Oder haben Sie die
Chuzpe von Gerhard Schröder aus dem Jahr 1998 - die haben Sie nicht -, zu erklären, der Aufschwung sei Ihrer? Sie
haben sich entschieden, bis zum 22. September schwarz zu
malen. Ich sage Ihnen: Diese Strategie geht nicht auf.
({0})
Herr Brüderle, natürlich ist ein Wachstum von 0,9 Prozent nicht besonders hoch. Aber wir haben in den letzten vier
Jahren - der Kollege Müller hat es Ihnen vorgerechnet mit durchschnittlich 1,6 Prozent Wachstum mehr erreicht
({1})
als Sie während Ihrer Regierung seit 1992. Sie lagen immer unter diesem Wert.
({2})
Weil Sie so ungeheuer gerne das Bild des Trainers im
Fußball benutzen, sage ich Ihnen: Der Trainer, der die
Mannschaft auf den letzten Platz geführt hat - das waren
Sie in den 90er-Jahren -, ist nicht derjenige, der den Aufstieg schafft.
({3})
Wir werden das schaffen. Im Jahr 2000 haben wir uns das
erste Mal verbessert. Auch die Europäische Kommission
sagt, dass wir uns im Jahr 2003 wenigstens - auch das
reicht mir noch nicht - auf Platz 11, gemeinsam mit zwei
anderen Staaten, verbessern.
({4})
- Nein, wir haben nicht nur Portugal überholt, sondern
auch Österreich und die Niederlande. Wenn Sie sich damit beschäftigen wollen, müssen Sie sich die Zahlen einmal genauer ansehen.
Ich möchte klarstellen - Herr Schulz hat in diesem
Punkt völlig Recht -, dass wir dieses Problem nicht hätten, wenn Sie wie Frankreich und Großbritannien ab 1996
- dort unter konservativen Regierungen - eine anständige
Finanzpolitik gemacht hätten, also zu einer Zeit, als Sie
den anderen Staaten zu Recht den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgedrängt haben.
({5})
Der Unterschied zwischen den Konservativen in Deutschland und in anderen Ländern war, dass sich die anderen um
eine solide Finanzpolitik bemüht haben, Sie aber nicht.
({6})
- Ach, der blaue Brief! Hätten wir jetzt Ihren Haushalt
von 1998, dann würde das gesamte Defizit, das für den
Gesamtetat erlaubt ist, schon allein im Bundeshaushalt
liegen. Wir aber haben den Bundeshaushalt konsolidiert.
({7})
Ihr Haushalt von 1998 hätte uns nämlich weit über die
Grenze von 3 Prozent gebracht. Der Fortschritt, den wir
erreicht haben, liegt darin, dass dies nicht der Fall war.
({8})
Im Übrigen müssen Sie sich einmal klar machen, was
hinter der Wachstumsrate von drei viertel Prozent steckt.
Weil wir erst jetzt aus dem Tief des vergangenen Jahres
herauskommen - dieses Tief hatten auch alle anderen -,
bedeutet dies, dass wir im Jahresverlauf eine gewaltige
Beschleunigung beim Wirtschaftswachstum haben werden, was auch die Forschungsinstitute vorhersagen: Im
dritten Quartal, spätestens aber im vierten Quartal liegen
die Wachstumsraten bei denen des Jahres 2000, die zwischen 2,5 und 3 Prozent lagen.
({9})
- Prognosen sind eben Prognosen. - In Ihren Reden widersprechen Sie den Auffassungen der gesamten internationalen Fachwelt und der deutschen Institute.
({10})
Hinsichtlich der notwendigen Reformen sage ich Ihnen
- Frau Fischer wird ja später noch sprechen -: Hätten Sie
die Gesundheitsreform nicht gleich am Anfang dieser
Wahlperiode im Bundesrat blockiert, dann wären wir an
dieser Stelle ein Stück weiter.
({11})
Die Rentenreform haben wir durchbekommen. Aber man
muss festhalten, dass Sie die Gesundheitsreform kaputtgemacht haben.
({12})
Sowohl die Institute wie auch der Sachverständigenrat
sagen uns, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden.
Nicht hektischer Aktionismus à la Brüderle, sondern eine
stetige und solide Finanzpolitik führt uns konsequent aus
der Schuldenfalle.
({13})
Genau diesen Weg gehen wir. Ich bin dankbar dafür, dass
die Länder diesen Weg mitgehen. Die entsprechenden
Maßnahmen muss aber jeder in seiner eigenen Verantwortung umsetzen. Wir werden das mit dem Bundeshaushalt 2003 und 2004 tun und eine stetige und konsequente
Finanzpolitik betreiben, die auch Steuersenkung bedeutet.
Frau Höll, ich lasse es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie
jetzt das vergangene Jahr als Bezugspunkt wählen. Bei der
Diskussion darüber, wie alternative Konzepte aussehen,
müssen wir auch festhalten, dass wir - es ist das erste Mal
nach dem Zweiten Weltkrieg - mit 500 000 Arbeitslosen
weniger aus der Konjunkturkrise herauskommen. Bei der
letzten Konjunkturkrise, die in der Zeit der vorherigen Regierung stattgefunden hat, sah das noch ganz anders aus.
({14})
Wir halten fest, dass wir im Sommer des vergangenen
Jahres den höchsten Beschäftigungsstand in Deutschland
nach der Wiedervereinigung hatten.
({15})
Noch heute liegt der Beschäftigungsstand um 1 Million
höher als zu der Zeit, als Sie die Regierung verlassen
mussten. Das ist die Wahrheit.
({16})
- Das ist doch keine Statistik, das sind konkrete Menschen, sehr verehrter Herr Wissmann.
({17})
Das ist typisch. In dem Augenblick, in dem man über konkrete Menschen redet, weichen Sie in die Statistik aus.
Was für ein Unsinn!
({18})
Wir können also auf einen weitaus höheren Beschäftigungsstand verweisen, als Sie ihn uns hinterlassen haben.
({19})
Zusätzlich ist die Arbeitslosigkeit weitaus niedriger als
zur Zeit unserer Regierungsübernahme. Das haben wir
trotz des Konjunkturabschwungs erreicht. Bei uns war
der Anstieg der Arbeitslosigkeit übrigens sehr viel geringer als in dem von Ihnen so gepriesenen Amerika;
dort ist ein viel höherer Anstieg zu verzeichnen. Diesen
neuen Aufschwung werden wir weiterführen. Ihre Propaganda wird Sie nicht bis zum 22. September tragen,
da die Ausgangsposition weitaus besser sein wird als
1998.
({20})
Herr Brüderle, es ist in der Tat ein dolles Stück; denn
Sie haben der Steuerreform zugestimmt. Man müsste die
Rede nachlesen, die Sie damals, bevor Sie hier im Bundestag der Steuerreform zugestimmt haben, gehalten haben. Sie müssen ja auch den zusätzlichen Belastungen zugestimmt haben. Ich verstehe das alles gar nicht. Ich
verstehe im Übrigen auch nicht, wie Sie gleichzeitig sagen können, dass die öffentlichen Kassen leer wären,
wenn wir die Steuerlast erhöht hätten.
({21})
Das alles ist Unfug, Herr Brüderle. Sie wissen das auch;
denn Sie sind intelligenter, als es Ihre Rede, die Sie hier
abgeliefert haben, vermuten lässt.
({22})
Deswegen wollen wir eines festhalten: Wir gehen mit
einer drastisch gesenkten Steuerlast in den Wahlkampf.
Damals betrug der Eingangssteuersatz 25,9 Prozent, bis
zum 31. Dezember 2001 beträgt er 19,9 Prozent. Ab dem
1. Januar 2003 liegt er bei 17 Prozent. Der Spitzensteuersatz betrug damals 53 Prozent, während er heute bei
48,5 Prozent liegt. Die Körperschaftsteuer liegt nicht
mehr bei 45 Prozent, sondern bei 25 Prozent.
Mit anderen Worten - das werden Sie nie kaputtreden
können -: Die Beschäftigung ist höher als die, die Sie uns
hinterlassen haben, und die Arbeitslosigkeit sowie die
Steuern sind niedriger als zur Zeit Ihrer Regierungsverantwortung. Das ist unsere Bilanz, die Sie auch bis
zum 22. September nicht kaputtreden können.
({23})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kollegen! Herr Finanzminister, wer so redet, dem schwimmen gerade die Felle davon. Deswegen
ist man so nervös.
({0})
Ich nehme an, dass Ihnen das sachsen-anhaltinische Wahlergebnis noch immer in den Knochen steckt. Vor diesem
Hintergrund hatte ich eigentlich mehr als eine solch aufgeregte Rede, die Sie hier gehalten haben, von Ihnen
erwartet.
({1})
Die zentrale Botschaft des Frühjahrsgutachtens lautet,
dass sich die weltwirtschaftliche Lage bessert. Die Institute erwarten eine leichte Besserung der wirtschaftlichen
Situation in Deutschland. Wir freuen uns für die betroffenen Menschen. Herr Bundesfinanzminister, wir malen
überhaupt nicht schwarz.
({2})
Ich weiß nicht, wie Sie bei dieser wirtschaftlichen Lage
mit einer solch unbekümmerten Fröhlichkeit herumtollen
können, anstatt sich mit den Fakten zu beschäftigen.
({3})
Das leichte Wachstum ist nicht der Erfolg dieser Bundesregierung, sondern die Folge eines stärkeren Wachstums in anderen Länder. Zum Beispiel wird im Jahre 2003
das Wachstum in den USA3,7 Prozent, in Kanada 3,5 Prozent, in Irland 5 Prozent und in anderen Ländern noch
mehr betragen. Deutschland bleibt mit einem Wachstum
von 2,4 Prozent im kommenden Jahr zum dritten Mal hintereinander Schlusslicht.
({4})
Deutschland profitiert nur von der Stärke anderer.
Deutschland ist ohne eigenen Wachstumsbeitrag. Das ist
die Realität.
({5})
Der Grund: Die rot-grüne Bundesregierung hat die
Wachstumsgrundlagen in unserem Lande schwer beschädigt. Wir werden sie wieder in Ordnung bringen.
({6})
In Deutschland macht zurzeit jede Viertelstunde - das ist
die Realität; wir reden nichts herbei - ein Unternehmen
Pleite. Täglich gehen im Mittelstand 1 500 Arbeitsplätze
verloren. 37 Prozent aller Unternehmen in Deutschland
haben kein Eigenkapital mehr. Die Belastungsgrenze der
Wirtschaft - die Älteren werden sich erinnern - ist überschritten. Die Lage im Einzelhandel und im Versandhandel ist verheerend. Die Lage im Bauhandwerk ist katastrophal. Eine Regierung, die eine solche Bilanz als
Erfolg verkauft, Herr Bundesfinanzminister, betrügt die
Menschen in unserem Land und verschleiert die Notwendigkeit von Reformen. Sie sind beratungsresistent.
({7})
Keine Prognose ohne Risiko! Jeder vorsichtige Unternehmer weiß: Die Institute erwarten, dass der Ölpreis wieder deutlich sinkt. Vor welchem Hintergrund? Niemand
weiß, wie sich die Situation im Nahen Osten entwickeln
wird. Niemand weiß, wie lange der Kampf gegen den Terror dauern wird. Seit Ludwig Erhard wissen wir: Konjunktur besteht zu einem großen Teil auch aus Psychologie.
({8})
Deswegen verstehe ich den Optimismus der Institute. Nur
so ist er vor dem Hintergrund der Realität erklärbar.
Schon der Lohnabschluss im Chemiebereich geht weit
über das wirtschaftlich Vernünftige hinaus.
({9})
3,6 Prozent wurden beschlossen. Die IG Metall bläst zum
Arbeitskampf.
({10})
Das alles sind Rahmenbedingungen, die uns vorsichtig
machen sollten. Wirtschaft und Mittelstand in Deutschland müssen derzeit mit vielfältigen Risiken leben: von A
wie Arafat bis Z wie Zwickel
({11})
- das ist ein schönes Bild und macht Spaß; wir sind darüber hinaus eben auch kreativ -, mit Risiken von Grün über
Rot bis Rot-Rot.
In Berlin dürfen die Postkommunisten ungestraft ihr
Unwesen in der politischen Verantwortung treiben. Wirtschaftssenator Gysi - ich habe das gerade wieder gehört will für nicht ausbildende Betriebe eine Zwangsabgabe
einführen. Als ob wir wirtschaftliche Probleme mit noch
mehr Steuern und Abgaben lösen könnten!
({12})
Das Konzept der CDU/CSU lautet: Herunter mit der
Steuerlast, insbesondere für mittelständische Betriebe!
Herunter mit Abgaben und Lohnkosten durch mutige Reformen der Sozialsysteme! Weg mit der erdrückenden
Bürokratie, mit der Gängelung von Betrieben und Bürgern! Weg mit dem Stillstand auf dem Arbeitsmarkt hin zu
einer Politik des Förderns und Forderns!
({13})
Weg von der rot-grünen Politik der Gewerkschaftsfunktionäre hin zu einer Politik der Stärkung der mittelständischen Wirtschaft! Weg mit dieser Bundesregierung zum
Wohle dieser Bürger!
({14})
- Herr Rechtsanwalt, Sie vertreten alles und jedes gegen
jede Realität; das wird klar, wenn ich Ihre Reden höre.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die sechs führenden
wirtschaftswissenschaftlichen Institute, die gestern ihr
Gutachten veröffentlicht haben, beginnen das Kapitel
über die Entwicklung in Deutschland mit dem Satz:
Die deutsche Wirtschaft befindet sich im Frühjahr
2002 am Beginn eines Aufschwungs.
Sie fahren fort, dass dieser Aufschwung im Laufe des
Jahres an Dynamik gewinnen wird und dass sich die
Wachstumsrate nach einem anfänglich schwächeren
Wachstum verstärken wird.
({0})
Der Durchschnittssatz von 0,9 Prozent bezüglich des
Wachstums bedeutet, dass wir im Herbst einen richtig
kräftigen Aufschwung in der Größenordnung von 3 Prozent haben werden.
({1})
Was sagt die CDU/CSU dazu? - Sie malt alles schwarz,
weil gute Nachrichten für unser Land Sie, Herr Wissmann
und Herr Doss, unglücklich machen.
({2})
Ich nenne nur ein Beispiel. Institute wie die Deutsche
Bundesbank haben herausgestrichen, dass es der deutschen
Wirtschaft trotz Abschwächung der Weltkonjunktur im vergangenen Jahr gelungen ist, ihre Exporte weiter zu steigern.
Dass unser Anteil am Welthandel sich weiter erhöht hat,
kommt doch nicht von ungefähr, das ist ein Erfolg.
({3})
Was sagen Sie dazu? Noch gestern gibt Herr Wissmann
eine Presseerklärung. Er kommentiert das mit der Bemerkung, die deutsche Wirtschaft hänge am Tropf,
({4})
am Tropf der anderen Länder.
({5})
Das ist so, als wenn Sie einem Olympiasieger, der auf dem
Treppchen steht, statt ihm zu gratulieren, vorwerfen, dass
er sich bei den Kreismeisterschaften gedrückt hat. Das ist
Ihr Kommentar!
({6})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Sie können das natürlich
weitermachen. Sie können auch weiter versuchen, mit
Herrn Brüderle in eine Konkurrenz zu treten, wer das kürzeste Gedächtnis hat.
({7})
Das wird Ihnen aber nichts nutzen, weil sich die Menschen in Deutschland von Ihrer Art, eine schwarze Laterne zu schwenken, nicht beeindrucken lassen werden.
({8})
Ihre schwarze Laterne entwickelt übrigens überhaupt
keine Leuchtkraft.
Ich möchte, weil das leider in der bisherigen Debatte
- zumindest von den Kollegen Ihrer Fraktion - überhaupt
nicht aufgegriffen wurde, noch etwas präziser darauf
zurückkommen, was denn wirklich in dem Gutachten der
Institute steht. Die Institute sagen, dass alle wichtigen
Komponenten der Nachfrage im Laufe dieses Jahres wieder kräftig zulegen.
({9})
Es ist erstens das klassische Muster eines Konjunkturaufschwungs in Deutschland fast immer gewesen, dass die
Auslandsnachfrage steigt, weil wir erfolgreich sind, weil
wir ein wettbewerbsfähiges, auch preislich wettbewerbsfähiges Angebot haben.
Zweitens - lesen Sie doch auch einmal das Gutachten greifen wieder, gerade auch vor diesem Hintergrund, die
Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen.
Die dritte Komponente: Die private Verbrauchsnachfrage nimmt zu, nicht ausschließlich, aber auch dadurch,
dass im nächsten Jahr die nächste Stufe der Steuerreform
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zusätzliches
Geld in der Tasche lassen wird. Das wird sich ebenso wie
die Zunahme der Beschäftigung in einer Zunahme von
Kaufkraft und von Verbrauch niederschlagen.
Die Institute haben zum ersten Mal seit langem auf das
deutliche Signal verwiesen, dass die Industrie in Ostdeutschland es geschafft hat, die Wachstumsraten zu steigern. Nach wie vor gibt es in Ostdeutschland Probleme
mit der Bauwirtschaft, aber die Industrie hat höhere
Wachstumsraten als in Westdeutschland. Es gelingt ihr in
zunehmendem Maße, auch international erfolgreich zu
sein. Was ist Ihr Kommentar? - Das Schwenken der
schwarzen Laterne.
Meine letzte Bemerkung betrifft den Arbeitsmarkt, wie
sich nämlich, was Sie so gern verschweigen, die Arbeitslosenzahlen und die Beschäftigungszahlen unter Ihrer
Verantwortung entwickelt haben. Es war ein allgemeiner
Niedergang des deutschen Arbeitsmarktes. Seit 1998 verzeichnen wir eine Zunahme der Beschäftigung in
Deutschland von gut 1 Million Menschen.
({10})
- Das ist überhaupt keine Fälschung. Wir haben genau die
gleichen Kriterien.
({11})
- Das wissen Sie auch, Herr Schauerte.
({12})
Dass Sie das wider besseres Wissen immer wieder falsch
darlegen, hätte ich Ihnen eigentlich nicht zugetraut.
Wir haben nach den gleichen Kriterien wie vorher eine
Zunahme der Beschäftigung um gut 1 Million zu verzeichnen, und wir haben zum ersten Mal seit langem die
Situation, dass am Beginn eines neuen Aufschwungs
- man kann auch sagen, am Ende eines Abschwungs - die
Sockelarbeitslosigkeit niedriger ist als am Ende des vorherigen Konjunkturzyklus.
Jetzt kommt es auf Stetigkeit, Verlässlichkeit und Konsolidierung des Haushaltes an. Das soll meine Schlussbemerkung sein: Sie reden hier immer vom Schlusslicht;
aber unter Ihrer Verantwortung war das genauso wie
heute.
({13})
Moment, der
Kollege muss jetzt wirklich zum Schluss kommen.
Machen Sie einmal einen
Wettlauf, wenn Sie eine Zentnerlast tragen: 80 Milliarden
DM Zinsen jedes Jahr!
({0})
Wenn Sie uns diese Schulden nicht hinterlassen hätten,
wären wir Weltmeister - auch bei der Binnenkonjunktur.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die hektische
Rede des Bundesfinanzministers war kein besonders souveräner Auftritt eines Bundesministers der ehemaligen
Führungsnation in Europa. Er wirkte eher wie ein Schüler,
der ertappt wurde, weil in Brüssel heute schon wieder die
Diskussion über den nächsten blauen Brief begonnen
worden ist.
({0})
Herr Bundesfinanzminister, Sie müssten sich wirklich
schämen,
({1})
wenn Sie hier vor dem Deutschen Bundestag einen
falschen Eindruck hinsichtlich der EU-Kommission erwecken. Die EU-Kommission ist nun wirklich nicht verdächtig, christdemokratisch geprägt zu sein.
({2})
Das sind in großer Mehrheit sozialdemokratische und sozialistische Parteigänger. Der Deutschlandbericht der EUKommission, gestern veröffentlicht, stellt im ersten Satz
fest: Die Wachstumsrate im Jahre 2001 beträgt 0,6 Prozent. Das ist die schlechteste Performance der deutschen
Wirtschaft seit 1993.
({3})
- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist die
Wahrheit. Das ist der erste Satz im Deutschlandbericht der
EU-Kommission. Das ist die Bilanz Ihres Scheiterns.
({4})
Die EU-Kommission sagt nicht nur, dass Deutschland im Jahr 2001 ein mieses wirtschaftliches Ergebnis
- Schlusslicht in Europa - vorlegt. Sie sagt auch, dass es
im Jahre 2002 zu keiner wesentlichen Verbesserung kommen wird. Sie teilen uns heute mit, dass man wenigstens
Portugal bei den Wachstumsraten überholen werde. Herzlichen Glückwunsch, Deutschland! Wir sind gerade einmal stärker als Portugal. Ist das wirklich eine wirtschaftspolitische Erfolgsbilanz?
Der Ifo-Geschäftsklima-Index, der anzeigt, wie es in
der deutschen Wirtschaft weitergeht, ist heute wieder eingebrochen. Über die Agenturen läuft die Meldung, dass
das Geschäftsklima unerwartet wieder pessimistisch ist.
({5})
Hier redet keiner schlecht. Wir sagen nur die Wahrheit.
Wir täuschen nicht. Wir tricksen nicht, wir informieren
die deutsche Öffentlichkeit über die wirtschaftliche Lage.
({6})
Herr Bundesfinanzminister, was liefern Sie ab? Sie
tricksen, Sie täuschen. Gestern, als die EU-Kommission
diese Watsche für Ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik ausgeteilt hat, saßen Sie im Haushaltsausschuss. Sie haben
sich nicht getraut, uns darüber zu informieren. Sie haben
über Gott und die Welt und über die Frage diskutiert, ob
1,25 Prozent mehr oder weniger als 1 ¼ Prozent sind.
Aber Sie haben sich zu dem Zeitpunkt, als die EU-Kommission Sie abgewatscht hat, nicht getraut, sich vor
dem Haushaltsausschuss und vor der Öffentlichkeit dieser
vernichtenden wirtschaftspolitischen Bilanz Ihrer sozialistischen Parteifreunde aus Brüssel zu stellen.
({7})
Dass Sie auch zukünftig auf diese Art und Weise vorgehen wollen, konnten wir kürzlich in der Wirtschaftspresse lesen. Ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ von vor zwei Wochen: Eichel bemüht sich um
ein statistisch höheres Wachstum. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren, wir brauchen keinen Finanzminister,
der sich um die Statistik kümmert, der die Statistik fälschen und manipulieren möchte.
({8})
Wir brauchen eine erfolgreiche Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung in unserem Land.
({9})
Auch das Frühjahrsgutachten, das Sie vorhin hier als
Referenz herangezogen haben, sagt, die eichelsche Finanzpolitik wirke dämpfend auf die wirtschaftliche Entwicklung.
({10})
Die selbst gesetzten Konsolidierungsziele Ihrer Politik
werden nicht erreicht. Lediglich der Geldpolitik schreibt
das Frühjahrsgutachten expansive Impulse zu. Diese wird
ja von einer Gott sei Dank unabhängigen Europäischen
Zentralbank gemacht.
Sie greifen heute die Opposition an. Da ruft doch der
Täter: Haltet den Dieb! - Das lassen wir Ihnen nicht
durchgehen. Wir brauchen endlich eine Offensive für
mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland.
({11})
Das Ziel des gesamtwirtschaftlich ausgeglichenen
Haushalts, das Sie vor einigen Wochen im Finanzplanungsrat angegeben haben, setzt voraus, dass der Bund in
den nächsten Jahren ein Konsolidierungsprogramm in einer Größenordnung von 16 Milliarden Euro auflegen
muss. Heute vor dem Deutschen Bundestag gab es kein
Wort über dieses gegebene Versprechen! Es gibt keine
Perspektive - und dies, obwohl Ihnen, sehr geehrter Herr
Bundesfinanzminister, trotz hoher Steuereinnahmen beispielsweise sämtliche Tilgungsleistungen im Fonds
„Deutsche Einheit“ gestreckt werden. Der dadurch entstandene große finanzpolitische Spielraum müsste Ihnen
eigentlich für ein Feuerwerk reichen. Sie aber täuschen,
tricksen und stellen die Wirklichkeit verzerrt dar.
({12})
Wenn man eine Konsolidierung erreichen möchte,
braucht man in erster Linie eine Wachstumsorientierung.
Der Kollege Doss hat insbesondere den Arbeitsmarkt angeführt. Wir müssen die Schranken für mehr Beschäftigung in Deutschland wegräumen und Möglichkeiten für
betriebliche Bündnisse für Arbeit schaffen. Wir brauchen
eine Offensive für Entbürokratisierung. Es kann nicht
sein, dass eine Industrieanlage zu bauen in diesem Land
genauso schwierig ist, wie einen Schweinestall aufzubauen. Die Vorschriften müssen durchlüftet werden.
({13})
Wir müssen vor allen Dingen etwas für den Mittelstand
tun. Der Chef der Handwerksorganisation, Philipp, hat zu
Protokoll gegeben
Herr Kollege,
achten Sie ein bisschen auf Ihre Redezeit.
- ich komme sofort
zum Schluss, Frau Präsidentin -,
({0})
Bitte.
- dass Bayern hinsichtlich Kapitalisierung, Wachstum und Überlebensfähigkeit über dem Bundesdurchschnitt liegt.
Unsere Politik wird nach dem 22. September 2002
dazu führen, dass es den Unternehmen in Gesamtdeutschland so gut wie dem Handwerk in Bayern geht.
Daran wirken wir gemeinsam aktiv mit.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Kampeter, nach
Ihrem Auftritt brauchen Sie jetzt nicht mehr darüber zu reden, wer hier souverän und cool ist. Das ist offenkundig
geklärt.
({0})
Die ganze Zeit haben Sie gesagt, Sie wollten auf gar
keinen Fall tricksen und täuschen, wir aber täten dies. Wir
sollten uns die diversen Zahlen, die wir uns hier alle um
die Ohren hauen, ein bisschen genauer ansehen. Niemand
bestreitet, dass die Lage besser sein könnte. Wir hätten
alle gern ein höheres Wachstum.
({1})
- Nun seien Sie doch einmal ruhig. - Es stellt sich die interessante Frage, ob die Lage wirklich so desaströs ist
oder ob Ihnen die rote Laterne eines Tages krachend auf
die Füße fällt, wenn Sie noch lange mit ihr fuchteln.
Wenn man sich den Bericht der EU-Kommission genauer anschaut, stellt man fest: Der zuständige Kommissar sagt, er sei optimistisch, dass es im nächsten halben
Jahr besser gehe. Ich würde Sie gern bitten, noch weiter
zuzuhören. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass der Kollege Brüderle den Ifo-Index bemüht hat, um zu beweisen,
dass die Lage schlecht ist.
({2})
- Herr Brüderle, seien Sie ganz ruhig. Auch dies fällt Ihnen auf die Füße. - Der Chefvolkswirt des Ifo-Instituts
sagt zu dem Einbruch bei den aktuellen Zahlen des Ifo-Index, dass dies ein kurzzeitiger Dämpfer sei. Tendenziell
gehe es weiter nach oben. Es wäre auch geradezu ein Wunder, wenn dieser Index immer nur nach oben gehe. An dem
langfristigen Pfad sei aber nichts zu deuteln. Der Index ist
zurzeit auch deutlich besser als im vergangenen Jahr.
({3})
Das Statistische Bundesamt hat uns gerade Zahlen vorgelegt, die zeigen, dass die Exporte wieder deutlich steigen, dass sie inzwischen nur noch 0,5 Prozent unter den
Zahlen von Februar liegen und der Rückgang der Exporte
nach wie vor im Wesentlichen auf den Einbruch der Nachfrage nach dem 11. September 2001 zurückzuführen ist.
Man ist optimistisch - dies gilt nicht nur für das Statistische Bundesamt, sondern auch für andere volkswirtschaftliche Fachleute -, dass der Welthandel in diesem
Jahr deutlich zulegt. Davon wird vor allen Dingen
Deutschland profitieren, weil es hauptsächlich um Einkäufe bei Vorleistungs- und Investitionsgütern geht und
weil Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre seine Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessert hat.
Ich will Ihnen noch eine letzte Zahl nennen, damit Sie
wissen, warum ich glaube, dass Sie sich hinter der roten
Laterne eher verstecken, als dass Sie uns damit heimleuchten könnten. Die ausländischen Direktinvestitionen
sind von 1998 bis heute von 5 Milliarden DM auf rund
45 Milliarden DM gestiegen.
({4})
Soviel dazu, dass dieses Land - ({5})
- Wir sagen nicht, dass es keine Probleme gibt. Das steht
nicht zur Debatte.
({6})
- Meine Herren, nun seien Sie doch einmal ganz gelassen.
Ich kann hier nur noch einmal feststellen: Sie stellen
die These auf, die Lage sei so verzweifelt, dass man am
besten so etwas wie Sie wählen sollte. Dann müsste sie in
der Tat sehr verzweifelt sein.
({7})
Wir wären gut beraten, nicht so verzweifelt zu sein, zu einem so falschen Mittel zu greifen. Ich habe eben gesagt:
Von mir aus kann die Lage besser sein. Natürlich ist niemand von uns damit zufrieden, dass wir beim Abbau der
Arbeitslosigkeit nicht so weiterkommen, wie wir das alle
wollen.
Aber was sind denn Ihre Rezepte? Sie wollen die
Staatsquote, die Sozialversicherungsbeiträge und den
Spitzensteuersatz senken.
({8})
Das ist sicherlich ein richtig geniales Programm. Auf der
einen Seite gibt es weniger Einnahmen, weil weniger Einkommensteuer eingenommen und die Ökosteuer ausgesetzt wird. Auf der anderen Seite haben wir mehr Ausgaben, zum Beispiel beim Kindergeld, bei dem Sie völlig
aberwitzige Dinge versprechen.
({9})
Ich erinnere mich an die Rentendebatten mit Ihnen, bei
denen Sie immer noch etwas draufsatteln wollten, wenn
Sie begründen mussten, warum Sie nicht mitmachen. Sie
wollen in der Gesundheitspolitik zwar sparen, dies aber in
einer Art und Weise tun, für die Sie 1998 abgewählt wurden. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.
({10})
All das wird weniger Einnahmen auf der einen Seite
und mehr Ausgaben auf der anderen Seite mit sich bringen, und zwar in einer gewaltigen Größenordnung. Das
soll dann - das entnehme ich einem Interview mit Herrn
Schäuble - mit Wirtschaftswachstum finanziert werden.
Das nenne ich das Prinzip Hoffnung.
({11})
Ich glaube nicht, dass wir gut beraten wären, uns dem
anzuschließen. Der Wähler wird sich davon nicht täuschen lassen. Es funktioniert nicht, immer weniger Geld
einzunehmen und immer höhere Ausgaben zu machen.
Vielleicht haben Sie die Idee im Kopf, dass die Leute
hinterher freiwillig Steuern spenden oder ähnliche
Scherze machen sollen. Wenn Sie solche innovativen
Gedanken haben, dann würden wir sie gerne hören. Aber
mit dem Programm, das Sie uns vortragen, glaube ich
nicht, dass Sie das Wachstum in irgendeiner Form
stimulieren könnten. Sie werden damit nur einen Einbruch erreichen.
({12})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion.
Andrea Fischer ({0})
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Prognostiziert wurde ein Wachstum von 0,9 Prozent. Verkauft wird das als Aufschwung. In Ihrem Bericht ist immer noch von 0,75 Prozent die Rede. Warum revidieren
Sie diese Zahl nicht, wenn Sie so sehr an den Aufschwung
glauben? Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa.
Sie haben einen großen Fehler gemacht: Sie haben Ihre
Reformen nicht in guten Zeiten angepackt, als sie noch
möglich gewesen wären, nämlich im Jahr 2000.
Es wird immer vom Geschäftsklimaindex gesprochen.
Wenn Sie sich wirklich intensiv mit dem Geschäftsklimaindex auseinander gesetzt hätten, dann würden Sie sehen,
dass er vom Export getragen wird. Schauen Sie sich den
Handel an. In diesem Bereich gab es ein Minuswachstum
von über 10 Prozent. Was zeigt uns das? - Das zeigt, dass
unser Problem die Binnenkonjunktur ist. Sie haben in diesem Bereich keine Reform angepackt, um hier Verbesserungen auf den Weg zu bringen.
Sie verweisen immer nur auf Dritte, zum Beispiel auf
die Weltwirtschaft. Das ist ein reines Ablenkungsmanöver. Ihre wirtschaftlichen Negativzahlen sind keine Naturereignisse, die plötzlich hereingebrochen sind. Vielmehr
ist der Grund eine große Zahl von sozialpolitischen Fehlentscheidungen, die Sie zu verantworten haben.
({1})
Sie haben falsche Diagnosen gestellt. Wenn man falsche
Diagnosen stellt, dann kann man nicht zu einer richtigen
Therapie kommen.
({2})
Bei Ihnen zeigt sich immer wieder eine eklatante Unkenntnis über wirtschaftspolitische Zusammenhänge. Das
zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre ganze Wirtschaftspolitik.
({3})
Warum spricht die „Financial Times“ davon: Do something, Germany! Ich kann Ihnen nur zurufen: Tun Sie endlich etwas!
({4})
Nehmen Sie endlich Ihre Hände aus dem Schoß! Werden
Sie aktiv! Harren Sie nicht der Dinge, die irgendwelche
Dritte für Sie erledigen sollen, die Sie aber längst hätten
machen müssen.
Die Achillesferse ist Ihre verfehlte Mittelstandspolitik
während Ihrer ganzen Regierungszeit. Ich finde in dieser
Bundesregierung keinen einzigen Menschen, der sich für
den Mittelstand einsetzt.
({5})
Wenn Sie in einer Diskussionsrunde außerhalb dieses Parlamentes fragen würden: Kann mir jemand eine Person
nennen, die in der jetzigen Regierung für den Mittelstand
steht?, dann würde sich - darin bin ich mir sicher - keine
Hand rühren; denn es gibt keine Person, die in dieser Regierung für den Mittelstand steht.
({6})
Das einzig Neue, das Sie momentan in die Diskussion eingebracht haben, ist Ihr Vorschlag, eine Mittelstandsbank
einzurichten. Wahrscheinlich haben Sie das nur vorgeschlagen, weil Sie das Wort „Mittelstand“ wieder in den
Mund nehmen wollten.
({7})
Was haben Sie denn gemacht? Sie haben den Arbeitsmarkt für den Mittelstand noch mehr zubetoniert und
noch unbeweglicher gemacht. Sie werden jetzt bestimmt
sagen: Jetzt kommt sie schon wieder mit den 630-DMJobs an. Aber das ist ein wichtiger Punkt. Deswegen spreche ich ihn wieder an. Eine der ersten Maßnahmen, die
wir auf den Weg bringen werden, wenn wir wieder an der
Regierung sind, ist, dass die Arbeitnehmer 400 Euro cash
verdienen können, ohne Sozialversicherungsbeiträge zahlen zu müssen.
({8})
Das wird nicht nur für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch für die Nebenbeschäftigungsverhältnisse gelten.
({9})
Denn es gibt auch andere Riesenprobleme: In Deutschland ist die Kaufkraft viel zu gering. Für die Steigerung
der Kaufkraft sind auch die 325-Euro-Jobs wichtig. Wir
müssen nicht nur im Niedriglohnsektor neue Wege gehen.
Auch im ehrenamtlichen Bereich und in vielen anderen
Bereichen spielen die 325-Euro-Jobs eine wichtige Rolle.
Was haben Sie mit Ihrem Gesetz zur Regelung des Teilzeitanspruchs tatsächlich erreicht? Sie haben uns Frauen
mit diesem Gesetz gelockt und argumentiert, dass es mehr
Teilzeitarbeitsplätze für Frauen geben müsse. Das ist vollkommen richtig. Teilzeitarbeitsplätze sind sehr wichtig.
Aber die ersten Ergebnisse nach Einführung dieses Gesetzes haben gezeigt, dass sich dies als ein Bumerang für
die Frauen erwiesen hat. Wen werden die Unternehmer
heute denn als Vollzeitkraft einstellen, wenn sie sich zwischen einem Mann und einer Frau entscheiden müssen?
Es ist doch klar, dass die Unternehmer den Mann einstellen wollen, weil sie genau wissen, dass die Frau irgendwann einmal ihren Teilzeitanspruch geltend machen wird.
Ich erwähne nur dieses Beispiel. Es ist nur eines von vielen für Ihre verfehlte Politik.
({10})
Der Minister hat vorhin angesichts der Arbeitslosenzahlen davon gesprochen, wie er den Arbeitsmarkt entlastet habe. Er hat darauf hingewiesen, dass es 500 000
weniger Arbeitslose gebe. Ich habe das Gefühl, von dem
Wort Demographie hat diese Regierung noch nichts
gehört. Sie sollten sich das Gutachten des IAB noch einmal zu Gemüte führen, das 1998 veröffentlicht worden ist.
Dort heißt es, nur aufgrund des demographischen Faktors
werde es in den nächsten vier Jahren 1 Million Arbeitslose
weniger geben.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Wir sind in der Aktuellen Stunde.
Das heißt, wenn Sie
nichts getan hätten, hätten Sie allein 1 Million weniger
Arbeitslose und nicht nur 500 000.
({0})
Ich kann nur eines sagen: Sie haben nicht mehr viel
Zeit. Aber nützen Sie wenigstens die verbleibende Zeit bis
zur Wahl! Bringen Sie endlich etwas auf den Weg!
Vielen Dank.
({1})
Nun erteile ich für die
SPD-Fraktion das Wort der Kollegin Nina Hauer.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Frau Kollegin Wöhrl, Sie wissen nicht,
wer in der Bundesregierung oder in der SPD für den Mittelstand zuständig ist?
({0})
Ich sage es Ihnen: Hans Eichel - er sitzt auf der Regierungsbank -,
({1})
Werner Müller, Ditmar Staffelt, Joachim Poß. Soll ich
diese Liste fortsetzen oder können Sie sich so viele Namen nicht merken?
({2})
Es geht aufwärts mit der Konjunktur in Deutschland.
Das bescheinigen uns die Wirtschaftsforschungsinstitute.
Das bedeutet für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU: Ihre Wahlkampfstrategie ist im Eimer. Die
Debatte über das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland werden Sie verlieren.
({3})
Das Geschäftsklima hat sich verbessert. Die Erwartungen der Unternehmen verbessern sich.
({4})
Die Investitionen und auch die Exporte in die USA nehmen zu. Das bedeutet natürlich einen Aufschwung für unsere Wirtschaft. Das können Sie an den Gewinnerwartungen erkennen, die die großen Unternehmen heute bekannt
gegeben haben. Das sind gute Nachrichten für den Standort Deutschland. Die Menschen haben wieder mehr Geld
in der Tasche. Alleine im Jahr 2001 hatten sie durch unsere Steuerreform 45 Milliarden DM mehr zur Verfügung.
Das macht sich auch beim privaten Konsum bemerkbar.
Wenn Sie das Gutachten richtig lesen, dann werden Sie
das auch erkennen.
Wir stehen vor einem Konjunkturaufschwung. Dieser
Aufschwung wird im Laufe des Jahres an Geschwindigkeit zunehmen. Davon wird auch der Arbeitsmarkt profitieren. Das Gutachten bescheinigt uns eine Trendwende
im Sommer dieses Jahres. Dass wir in den letzten drei Jahren 1 Million zusätzlicher Arbeitsplätze für Deutschland
erreicht haben,
({5})
ist ein guter Anfang, an dem wir anknüpfen werden.
({6})
- Wissen Sie, Ihr Geblöke stört mich überhaupt nicht.
({7})
Ich habe früher kleine Jungs unterrichtet. Da ist man es
gewohnt, dass ab und zu einer dazwischenblökt. Deswegen wird Ihre Strategie nicht aufgehen.
({8})
Das Beste ist immer,
wenn man einander zuhört. Ich gebe der Kollegin Hauer
Recht, dass die Art und Weise, in der Zurufe gemacht werden, ein bisschen störend ist. Wir sollten uns darauf verständigen, dass wir etwas mehr zuhören. Sie wissen, dass
ich eine ganz eifrige Zwischenruferin bin. Aber manchmal ist es einfach zu laut, Herr Kampeter, wenn ich mir
diese Bemerkung erlauben darf.
({0})
Frau Kollegin Hauer, Sie haben das Wort.
Das Gutachten stärkt die Wirtschaftspolitik der SPD-Regierung unter Gerhard
Schröder. Insoweit wäre es jetzt ein günstiger Zeitpunkt
für Sie, mit uns einen Ideenwettbewerb für die Zukunft zu
eröffnen.
({0})
Aber Sie haben keine Ideen. Wenn ich mir das wenige anschaue, das von Ihnen kommt - man weiß ja nie, ob es von
der CDU oder von der CSU kommt; Sie sind sich nicht
einig und niemand weiß, was Ihr Kandidat am nächsten
Morgen sagen wird -,
({1})
dann stellt man fest, dass Sie sich darauf verlegen, im
Deutschen Bundestag das schlecht zu reden, was unsere
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie die Unternehmen leisten.
({2})
Daran kann man schon erkennen, dass Sie keine wahren
Partner des Mittelstandes sind.
({3})
Anderenfalls würden Sie die Leistungen, die in einer weltpolitisch schwierigen Situation erbracht werden, besser
honorieren, statt sie in Grund und Boden zu reden.
Die Verwirklichung Ihrer Vorschläge würde Milliarden
Euro kosten. In diesem Gutachten steht, der Haushaltskonsolidierungskurs von Hans Eichel sei der einzig gangbare Weg - dies gelte auch für das Wirtschaftswachstum -,
während Sie mit der von Ihnen geplanten höheren Verschuldung eine Katastrophe anrichten würden. Das ist einer der wichtigen Gründe, die deutlich machen, dass Sie
im Hinblick auf die nächsten vier Jahre kein konstruktives Angebot machen können.
({4})
Ich komme zur Steuerpolitik. Das, was Ihr Kandidat
dazu sagt, kann uns eigentlich nur freuen. Er sagt, er
werde die Steuerreform nicht zurückdrehen und die von
uns durchgesetzten Entlastungen bis 2005 beibehalten.
Zusätzlich will er den Spitzensteuersatz senken. Das kennen wir noch aus der Debatte über die Steuerreform; auch
seinerzeit haben Sie sich vor allen Dingen dem Spitzensteuersatz gewidmet. Ich frage gerade diejenigen von Ihnen, die sich noch dafür interessieren, welche Steuern der
Mittelstand zahlt.
({5})
Welcher Handwerker kommt mehrere Jahre hintereinander
auch nur in die Nähe des Spitzensteuersatzes? Was hat es
mit einem Programm für den Mittelstand zu tun, wenn Ihr
Kandidat erklärt, der Spitzensteuersatz müsse herunter?
({6})
Meine Damen und Herren, Ihre Politik würde die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bremsen.
({7})
Ich sage noch etwas zu dem, was Herr Stoiber auch immer ins Feld führt: die Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne. Ich weiß, sie ist Ihnen ein Dorn im Auge. Das liegt
vermutlich daran, dass Sie immer noch nicht verstanden
haben, warum wir sie eingeführt haben. Unser international wettbewerbsfähiges Steuerrecht - die Wettbewerbsfähigkeit wird auch durch das Halbeinkünfteverfahren
gestärkt - wird in diesem Gutachten gelobt. Dass Veräußerungsgewinne steuerfrei sind, hat nicht nur etwas mit
Steuersystematik zu tun, sondern auch damit, dass man
dann, wenn man sie besteuerte, auch die Verluste absetzbar machen müsste. Überlegen Sie sich einmal, was dies
für die deutsche Wirtschaft und vor allen Dingen für unseren Haushalt bedeutete!
Meine Damen und Herren, Sie haben wirtschaftspolitisch nichts in der Tasche.
({8})
Für uns ist die Botschaft klar: Ihre Wahlkampfstrategie ist
im Eimer. Mit dem wirtschaftlichen Wachstum in
Deutschland geht es bergauf. Unsere Politik wird bestätigt. Wir sind auf dem richtigen Wege.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt hat der Kollege
Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute zeigt sehr deutlich das Versagen der rot-grünen Politik in der Vergangenheit auf.
({0})
Am besten wird das eben mit der roten Laterne zum Ausdruck gebracht, die von Ernst Hinsken zu Recht der Bundesregierung überreicht wurde.
({1})
Ausdruck dieser Politik sind die verfehlten Schritte - Frau
Kollegin Wöhrl hat schon darauf hingewiesen - beim
325-Euro- bzw. 630-Mark-Gesetz, bei der Diskussion um
Scheinselbstständigkeit, beim Betriebsverfassungsgesetz
und beim Teilzeitarbeitsgesetz. Hierbei handelt es sich um
eine politische Fehlentscheidung nach der anderen.
Ihrer Klage, Herr Bundesfinanzminister, von vorhin,
wir hätten die Gesundheitspolitik der Koalition zu Beginn
dieser Legislaturperiode blockiert
({2})
- Sie taten ganz überrascht -, müssen wir mittlerweile
die Erkenntnis entgegensetzen: Sie haben die richtige
und sozial verantwortbare Gesundheitsreform von Herrn
Seehofer unter der Regierung von Helmut Kohl in einzelnen Schritten zurückgeführt, was jetzt zu Mehrbelastungen für die Versicherten und darüber hinaus zu weiteren
Defiziten bei den gesetzlichen Krankenkassen geführt hat.
({3})
Dies ist genau der Punkt; denn auch im Gutachten wird
angemahnt, dass gerade in diesem Bereich unbedingt Reformen umgesetzt werden müssen, durch die man die
Ausgaben in den Griff bekommt und die Beitragszahler
nicht zu Unrecht weiter zusätzlich belastet.
Das Wirtschaftsgutachten zeigt auch sehr deutlich,
dass Rot-Grün noch in vielen anderen Politikbereichen
versagt hat. So wurde hier beklagt, dass die Investitionen
zu gering ausfallen. Von staatlicher Seite her kennen wir
es: Rot-Grün kann nicht sparen,
({4})
und wenn Sie sparen, sparen Sie bei den Investitionen. Das
ist letztendlich eines der Übel. Auch die Investitionen in
der Bauwirtschaft sind rückläufig. Dies ist in einem engen
Zusammenhang mit einer Mietrechtsreform zu sehen, die
dem privaten Wohnungsbau keine zusätzlichen Impulse
verleiht, sondern ihn im Gegenteil einschränken wird.
({5})
Darüber hinaus ist sicherlich auch die schlechte Rentenreform zu beklagen. Was hat sie gebracht? - Steigende
Beitragszahlungen für die Versicherten und die Belastung
durch die Ökosteuer. Sie wollen - angebliche - Reformen
in der Rentenpolitik nur über zusätzliche Einnahmen
durchführen, die zu steuerlichen Belastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land führen.
Dies kann nicht gut gehen.
Das zeigen sehr deutlich auch die jetzigen Ergebnisse
des Gutachtens: Zukünftig müssen große Anstrengungen
unternommen werden, um 16 Milliarden Euro - der Kollege Kampeter hat schon darauf hingewiesen - einzusparen. Zugleich sind auch mögliche Steuerausfälle in Höhe
von 12 Milliarden DM in diesem Jahr aufgrund des Rückgangs der wirtschaftlichen Tätigkeit in unserem Land zu
bewältigen.
({6})
Verehrte Damen und Herren, das zeigt, dass die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat.
({7})
Sie ist auch nicht bereit, diese Hausaufgaben zu erledigen.
({8})
Die Kollegin Hauer hat ja eben einen Ideenwettbewerb
unter den Parteien eingefordert. Da fragt man sich natürlich: Wie kann ein Ideenwettbewerb angesichts eines
Bundestagswahlprogramms stattfinden, das im Prinzip
nur die Überschrift trägt: Gerhard statt Inhalt?
({9})
Auf diese Weise können keine Ideen für die Zukunft entwickelt werden.
Wir wollen Sachaussagen einbringen. Die bringen wir
- die Kollegin Wöhrl hat bereits darauf hingewiesen -: Wir
werden Reformen im Niedriglohnbereich und beim
325-Euro-Gesetz tätigen und sind auch bereit, steuerliche
Belastungen zurückzuführen, indem wir bei der unsozialen Steuerreform, die Sie in Gang gesetzt haben und die nur
die Großkonzerne von der Körperschaftsteuer befreit, aber
den breiten Mittelstand und die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in unserem Land belastet hat, umsteuern.
({10})
Es geht nicht allein um die wirtschaftlichen Rahmendaten, sondern es geht natürlich auch um die ideologisch
verbrämte Politik von Rot-Grün.
({11})
Wenn Rot-Grün einen einseitigen Beschluss zum Ausstieg aus dem Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie fasst, dann bedeutet das ein Minus von
200 000 Arbeitsplätzen in unserem Land und ein Minus
hinsichtlich der Wirtschaftskraft, das dadurch entsteht.
Wenn die SPD in einzelnen Bundesländern bereit ist,
mit einer Partei wie der PDS zusammenzuarbeiten, dann
ist auch das nicht dazu angetan, die wirtschaftlichen
Kräfte in unserem Land zu stärken. Im Gegenteil: Mit einer Partei, die letztendlich weiterhin einer Verstaatlichung
der Betriebe frönt, kann man keinen Staat machen und
keine wirtschaftlichen Impulse setzen.
({12})
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Jawohl. - Deshalb ist
es Zeit, dass die Regierung abgelöst wird - die Wählerinnen und Wähler haben am vergangenen Sonntag in
Sachsen-Anhalt dementsprechend gehandelt -,
({0})
damit die Wirtschaftsinstitute zukünftig wieder bessere
Daten und bessere Zukunftsprognosen im Sinne der Menschen in unserem Land liefern können.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als letztem Redner in
dieser Aktuellen Stunde erteile ich das Wort dem Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aufschwung in Deutschland gewinnt kräftig an Fahrt. Das ist die wesentliche Botschaft
des Gutachtens. Das können Sie nicht herunterreden.
Dass das nicht in das Wahlkampfkonzept von Herrn
Stoiber passt, ist das Problem der CDU/CSU, nicht der
Menschen in Deutschland.
({0})
Wir müssen uns sowohl über die im Gutachten aufgeführten Indikatoren, die den Aufschwung anzeigen, als
auch über die Ursachen des Aufschwungs unterhalten.
Jenseits dessen, was hier zum Teil vorgetragen wurde,
will ich Fakten nennen. Wir haben - das sagt auch das
Gutachten aus - eine verbesserte Geschäftserwartung. Sie
hat sich - das will ich deutlich sagen - im Frühjahr verbessert, und zwar fünfmal hintereinander. Wir haben eine
Situation, in der nicht nur der Export, sondern auch der
private Konsum anzieht. Auch das steht im Gutachten.
({1})
- Auch der Konsum. Lesen Sie - wie auch immer Sie
heißen - doch das Gutachten!
Außerdem verzeichnen wir im April einen kräftigen
Rückgang der Arbeitslosigkeit. Auch das ist festzustellen.
Bei allem, was wir uns noch wünschen würden - die Kollegin Fischer hat darauf hingewiesen -, müssen wir feststellen, dass wir weitaus weniger Arbeitslose als 1998 haben. Das sind die Tatsachen.
({2})
Ich will darauf eingehen, warum sich die Konjunktur
im letzten Jahr eingetrübt hat.
({3})
Sie versuchen immer, uns das mit den altbekannte Parolen in die Schuhe zu schieben. Das Gutachten nennt die
Ursachen ganz deutlich - ich bitte Sie, dem wissenschaftlichen Sachverstand zu vertrauen -: Der Abschwung in
den USA nach acht Jahren stetigen Wachstums hat
Deutschland aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung
mit den USA besonders getroffen, der hohe Rohölpreis
und nicht zuletzt die Terroranschläge am 11. September
haben uns belastet. Ich will aber auch sagen - das gehört
ebenfalls zur Ehrlichkeit -, dass die Ursachen für den Aufschwung, der da ist, im Wesentlichen mit einer verbesserten weltwirtschaftlichen Lage zu tun haben.
({4})
Wer will denn das bestreiten?
({5})
Dass sich der Aufschwung in Deutschland entfalten
kann, Herr Kollege - ich weiß Ihren Namen immer noch
nicht -, liegt auch daran, dass wir unsere wirtschaftspolitischen Hausaufgaben gemacht haben. Wir haben eine
Steuerreform durchgesetzt,
({6})
wir haben die Altersversorgung in Deutschland modernisiert und wir haben - im Gegensatz zu Ihnen - mit der
Konsolidierung des Haushalts begonnen.
({7})
Warum haben Sie diesen Weg nicht 1996 beschritten, den
Hans Eichel erst 1999 mit unserer Unterstützung einleiten
konnte? Warum haben Sie das nicht getan? Da Sie das
nicht getan haben, sollten Sie dazu schweigen.
Ich will etwas zu der Kollegin Wöhrl sagen, die vorhin
gefragt hat, was in dem Entwurf unseres Wahlprogramms
zum Thema Mittelstand steht. Wir sind uns im Wirtschaftsausschuss doch unter denjenigen, die sich damit
beschäftigen, einig, dass es in Deutschland aufgrund einer
Mittelstandskultur, die hier anders als in anderen Ländern
ist, im Bereich des Mittelstandes ein Problem hinsichtlich
der Eigenkapitalquote gibt.
({8})
Wir sind uns auch darin einig, dass es in diesem Bereich
Probleme mit der Kreditversorgung gibt. Wir müssen gemeinsam - Stichwort Basel II - etwas tun, damit kleine
und mittelständische Unternehmen in Deutschland Kredite erhalten können, um die notwendigen Investitionen
zu tätigen. Das bestreitet niemand.
Die Frage ist: Was können wir tun? Der Bund hat zwei
Förderbanken, die KfW und die DtA, die gute Arbeit leisten. Wir diskutieren darüber, wie wir diese Arbeit, zum
Beispiel durch die Gründung einer Mittelstandsbank aus
diesen Banken heraus, noch besser machen können.
({9})
- Herr Kollege, ich habe mit Ihrem Kollegen Schauerte im
Wirtschaftsausschuss eigentlich Konsens in dieser Frage
erzielt. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist.
({10})
Ich finde, er ist ein drolliges Kerlchen.
Es geht tatsächlich darum, dass wir das Problem der
Mittelstandsfinanzierung in Angriff nehmen. Da können
Sie zehnmal „Unsinn“ rufen. Das ist ein wichtiges Thema.
({11})
Ich komme zu den Standortvorteilen, die dieses Land
ungeachtet aller Schlechtrederei hat, die Sie praktizieren.
Dieses Land und seine Wirtschaft sind durch die soziale
Marktwirtschaft, durch die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie
({12})
Wissenschaft und Forschung und nicht zuletzt durch den
sozialen Frieden groß geworden. Ich gebe zu, alle diese
drei Standortvorteile müssen modernisiert werden. Wir
haben damit angefangen und wollen das fortsetzen.
Sie unterschätzen einfach den dritten Standortvorteil,
den sozialen Frieden.
({13})
Er ist nicht nur gut für die demokratische Entwicklung
dieses Landes, sondern auch für unsere Wirtschaft und die
Investitionssicherheit.
({14})
- Was haben Sie gegen die IG Metall?
({15})
- Gucken Sie einmal in Ihren Wahlkreis. Da gibt es ein
großes Stahlwerk. In meinem Wahlkreis gibt es ebenfalls
einen Standort dieses Unternehmens. Unterhalten Sie sich
einmal mit den Kolleginnen und Kollegen, bevor Sie hier
weiter herumschreien.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen zum
Schluss: Hören Sie auf, unser Land und die Leistungen
der Menschen in diesem Land krankenhausreif zu reden!
({16})
Und sich dann noch als Notarzt anzubieten, das geht nicht.
Sie versuchen den Menschen weiszumachen, man
könne mehr Geld ausgeben, gleichzeitig die Steuern senken und über all das hinaus noch mehr Geld ausgeben. Mit
diesem Versprechen sind Sie 1998 gegen die Wand gefahren. Das wird sich am 22. September wiederholen. Ich
freue mich auf den Kater, den Sie dann haben werden.
Schönen Tag noch!
({17})
Herr Kollege, Sie
suchten den Namen des Kollegen Kampeter.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Peter Eckardt, Jörg Tauss, Klaus
Barthel ({1}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Christian
Simmert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes
({2})
- Drucksache 14/8361 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({4})
- Drucksache 14/8732 ({5})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Pia
Maier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({6})
- Drucksache 14/8295 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8})
- Drucksache 14/8878 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Eckardt
Dr. Reinhard Loske
Maritta Böttcher
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({9})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ein neues Hochschuldienstrecht für eine moderne, leistungsfähige und attraktive Bildung
und Forschung in Deutschland
- Drucksachen 14/7077, 14/8878 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Eckardt
Dr. Reinhard Loske
Maritta Böttcher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Herren und Damen! Die Bundesregierung
ist mit dem Versprechen angetreten, das Studium an unseren Hochschulen attraktiver zu machen. Dieses Versprechen lösen wir ein.
({0})
Das Sechste Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
Erstens schaffen wir mit der vorliegenden Gesetzesnovelle in Deutschland Studiengebührenfreiheit für das
Erststudium. Die Länder hatten und haben sich zwar inhaltlich auf einen Kompromiss verständigt, aber keine
feste Regelung getroffen und damit leider nicht allen die
notwendige Sicherheit gegeben. Das Hin und Her vor allem aus den Reihen der CDU/CSU und der FDP hat Abiturienten, Studierende und Eltern sehr stark verunsichert.
({1})
Deshalb ist es notwendig, dass wir diese Gesetzesnovelle
vorlegen und hier im Deutschen Bundestag beschließen,
damit Studierende, Familien und Abiturienten diese Sicherheit haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
CDU/CSU, wenn ich mir Ihre Stellungnahmen ansehe,
verstehe ich Ihr Problem sehr gut, vor allen Dingen, nachdem ich den Entwurf für Ihr Wahlprogramm gelesen habe,
({2})
das Herr Stoiber am Montag der Öffentlichkeit vorstellen
will. Es ist deshalb kein Wunder, dass Sie sich hinter Nebensächlichkeiten und Verfahrensfragen verschanzen,
statt in der Sache Stellung zu nehmen.
({3})
Es ist die Nagelprobe für Jugendpolitik und Familienpolitik, wie man sich hinsichtlich der Studiengebühren
positioniert. Man kann nicht auf der einen Seite Familienförderung fordern - das setzen wir im Gegensatz zu Ihnen, die Sie dies jahrelang nicht gemacht haben, um - und
gleichzeitig die Familien mit Studiengebühren belasten
und damit den Generationenvertrag aufkündigen. Das ist
nicht nur familienfeindlich, sondern zutiefst unsozial.
({4})
Man darf nämlich nicht vergessen, dass ein Studium die Familien heute schon mindestens 33 600 Euro kostet. Das
kann man ganz schnell ausrechnen: Pro Monat braucht man
ungefähr 1 400 DM oder 700 Euro. Das sind 8 400 Euro im
Jahr und dann eben rund 33 600 Euro für ein Studium,
({5})
je nach Lebenshaltungskosten häufig auch noch etwas
mehr.
Wenn vor diesem Hintergrund Familien mit einem sehr
geringen Einkommen von brutto 3 000, 2 000 oder
1 500 Euro auch noch ein Darlehen aufnehmen sollen,
kann ich Ihnen liebe Frau Flach, nur sagen: Herzlichen
Glückwunsch!
({6})
Das ist wirklichkeitsfremd. Sie kennen ganz offensichtlich nicht die reale Situation vieler Familien in diesem
Land.
({7})
33 600 Euro betragen die Kosten für das Studium eines
Kindes. Ich möchte aber sicherstellen, dass es sich die Familien auch in Zukunft leisten können, zum Beispiel zwei
Kinder studieren zu lassen
({8})
oder auch drei. Deshalb hat die Bundesregierung jetzt gehandelt. Nachdem wir das BAföG erhöht hatten, das Sie
in den 80er- und 90er-Jahren regelrecht in Grund und Boden gewirtschaftet haben,
({9})
schreiben wir nun den Grundsatz der Studiengebührenfreiheit in das Hochschulrahmengesetz.
({10})
Das gilt für ein Studium bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss sowie für ein Studium mit einem konsekutiven Abschluss, der bis zu einem berufsqualifizierenden Abschluss führt. Ausnahmen sind nur in eng
definierten Grenzen zulässig.
({11})
Frau Ministerin, ich
bitte Sie, einen Augenblick zu warten.
Würden Sie bitte das Plakat einrollen und den Saal verlassen? Ich bitte die Saaldiener, dies zu veranlassen. Danke schön.
Damit schaffen wir gleichzeitig die
Grundlage für neue Modelle wie Studienkonten oder Bildungsgutscheine. Diese Modelle kommen den Studierenden und den Hochschulen gleichermaßen zugute.
({0})
Sie schaffen nämlich Anreize für die Hochschulen, das
Studium zu optimieren, sodass ein zügiges Studium möglich ist. Sie schaffen aber auch Anreize für Studierende,
das Studium zügig abzuschließen, um den Bonus noch für
ein Weiterbildungsstudium nutzen zu können.
Zum zweiten Punkt der HRG-Novelle: Bachelor- und
Masterstudiengänge werden aus dem Erprobungsstadium in das Regelstudienangebot der Hochschulen
überführt. Schon heute gibt es an deutschen Hochschulen
mehr als 1 000 Studiengänge, die mit einem Bacheloroder Mastergrad abgeschlossen werden. Diese EntwickBundesministerin Edelgard Bulmahn
lung ist so erfolgreich, dass wir sie nun langfristig rechtlich absichern wollen.
({1})
Wir schaffen damit mehr Verlässlichkeit für die Studierenden und wir stärken die internationale Ausrichtung der
Hochschulen.
Drittens. Wie im Koalitionsvertrag beschlossen, wird
es künftig an allen deutschen Hochschulen verfasste
Studierendenschaften geben.
({2})
Mitbestimmung und demokratische Vertretung studentischer Belange müssen in allen Bundesländern gewährleistet sein. Auch das gehört zur Attraktivität unserer
Hochschulen. Eine starke bundesweite Vertretung der
Studierenden ist im Übrigen auch ein wichtiger Gesprächspartner für die Fortsetzung unserer Reformen an
den Hochschulen.
({3})
Diese Reformen setzen an vielen Punkten gleichzeitig
an und verbinden Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit mit Effizienz und Leistungsorientierung. Das ist
unsere Grundidee und unsere Grundstrategie. Die HRGNovelle ist ein wichtiges Element dieser Strategie.
Wie wichtig gerade diese Verbindung ist, zeigt ein
Blick auf die Zahl der Studienanfänger in Deutschland.
Mit einem Anteil von 28 Prozent liegen wir deutlich unter dem internationalen Durchschnitt. In den USA beginnen 44 Prozent aller Jugendlichen nach der Schule ein
Studium. In Finnland sind es sogar 58 Prozent. Wenn es
nicht gelingt, dass mehr junge Menschen bei uns ein Studium beginnen und auch erfolgreich abschließen, dann
werden uns in Deutschland bis zum Jahre 2010 eine Viertelmillion Akademiker fehlen. Wir brauchen also mehr
gut ausgebildete Hochschulabsolventen. Allgemeine Studiengebühren würden zusätzliche soziale Barrieren gegen
die Aufnahme eines Studiums errichten. Deshalb ist es genau das falsche Signal.
Das Studium an unseren Hochschulen muss für junge
Menschen aus dem Inland und aus dem Ausland attraktiver werden. Deshalb hat diese Bundesregierung - im Gegensatz zu der CDU/CSU-FDP-Regierung - die Investitionen in Bildung und Forschung auf das Rekordvolumen
von 8,8 Milliarden Euro angehoben.
({4})
Wir sind mit einem ehrgeizigen Reformprogramm für die
Hochschulen durchgestartet, und zwar durch eine stärkere
internationale Ausrichtung der Hochschulen, durch das
virtuelle Studium, mit dem die weltweite Vernetzung unserer Hochschulen vorangetrieben wird, durch die intensive Förderung von Nachwuchswissenschaftlern und
durch die Dienstrechtsreform, mit der wir die Juniorprofessur und eine leistungsbezogene Besoldung für unsere
Hochschullehrer einrichten.
Da - teilweise durch Fehlinformationen und zum Teil
auch durch sehr unsachliche Diskussionen - gerade hinsichtlich der Dienstrechtsreform in den letzten Monaten
Verunsicherung eingetreten ist, haben wir im Hochschulrahmengesetz selbst ausdrücklich klargestellt, dass junge
Wissenschaftler, die ihre Tätigkeit bereits unter der Geltung der alten Regelung aufgenommen haben, also wissenschaftliche Mitarbeiter, Promovenden, Habilitanden,
aber auch diejenigen, die gerade die Habilitation beendet
haben, bis zum 28. Februar 2005 Vertrauensschutz genießen. Damit sind jegliche Interpretationsspielräume zulasten der jungen Wissenschaftler ausgeschlossen.
({5})
Planbarkeit und Verlässlichkeit sind das A und O für
die Nachwuchsförderung. Sie sind deshalb auch gerade
dort erforderlich, wo es um Studienentscheidungen von
jungen Menschen geht. Das BAföG ist hier ein ganz entscheidender Punkt. Wir sehen die Erfolge. Wir haben es
geschafft bzw. schaffen es, zusätzlich 81 000 junge Menschen gerade aus Familien mit mittlerem und niedrigem
Einkommen in das BAföG hineinzubekommen und damit
zum Studium zu bewegen. Das zeigen die uns vorliegenden Zahlen.
Studiengebührenfreiheit und Ausbildungsförderung sind zwei Seiten einer Medaille. Wir haben mit der
BAföG-Reform eine echte Chancengleichheit geschaffen.
Nunmehr nehmen wir die zweite Seite der Medaille in Angriff, nämlich die Absicherung der Studiengebührenfreiheit für das erste Studium. Wir dürfen nämlich nicht mit
der einen Hand geben und mit der anderen Hand das Gleiche wieder aus dem Portemonnaie herausziehen.
({6})
Das wäre nicht nur widersinnig, sondern würde auch unser Ziel konterkarieren, mehr junge Menschen für ein Studium zu motivieren.
Es ist schon besonders dreist, meine Damen und Herren von der Opposition, den Familien auf der einen Seite
finanzielle Versprechungen zu machen,
({7})
sie auf der anderen Seite in erheblichem Umfang für die
Ausbildung ihrer Kinder zur Kasse zu bitten.
({8})
Studierende und ihre Eltern brauchen verlässliche Rahmenbedingungen für ihre Zukunftsplanung.
({9})
Schon die öffentliche Debatte über die Einführung von
Studiengebühren schreckt diese Familien ab und verunsichert sie.
({10})
Das zeigen im Übrigen auch internationale Vergleiche; man muss nur über die Grenze schauen. Die Zahl der
Studierenden in Österreich ist seit der Einführung von
Studiengebühren, die noch gar nicht lange zurückliegt,
um 20 Prozent gesunken.
({11})
- Unsere ist inzwischen gestiegen, Frau Flach. Die Zahl
der Studierenden ist unter dieser Regierung gestiegen.
({12})
Unter Ihrer Regierung ist die Zahl allerdings gesunken; da
haben Sie Recht.
({13})
Irland hat die Studiengebühren gerade wieder abgeschafft, weil sie zu solch verheerenden sozialen Wirkungen führen. Die Länder, die in ihren Bildungsanstrengungen besonders erfolgreich sind, wie zum Beispiel
Finnland, kennen keine Studiengebühren.
({14})
Wir haben es in den letzten dreieinhalb Jahren endlich
geschafft, das Studium wieder deutlich attraktiver zu machen. Deshalb werden wir Ihren Anstrengungen, das
durch die Einführung von Studiengebühren wieder zu
konterkarieren, einen Riegel vorschieben.
({15})
Schauen Sie in Ihren Entwurf für das Wahlprogramm,
schauen Sie sich die Äußerungen der FDP an, die auf einmal für Studiengebühren offen ist und dafür plädiert!
({16})
- Nein, Herr Rachel. Bei uns in Niedersachsen sagt man
dazu: Raus aus den Kartoffeln, rein in die Kartoffeln. Bei
Ihnen war das: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Familien und Studierende brauchen Verlässlichkeit. Genau die stellen wir damit her.
({17})
Es ist abzusehen, dass bei unterschiedlichen Regelungen in den verschiedenen Ländern ein Run auf gebührenfreie Hochschulen einsetzen würde. Kapazitätsengpässe
und damit schlechtere Bedingungen für die Studierenden
wären die Folge. Das wollen wir verhindern.
Es wäre schon ein Stück aus dem Tollhaus - lassen Sie
mich das als Forschungs- und Bildungsministerin sagen -,
wenn Studierende in Deutschland nicht mehr ohne Probleme von der Universität Greifswald zur Universität
München oder zum Beispiel von Hannover nach Stuttgart
wechseln könnten.
({18})
- Weil in einigen Städten Studiengebühren erhoben werden
würden, zum Beispiel in Stuttgart. Dort hat die Wissenschaftsministerin das befürwortet. In Europa kämpfen wir
für vergleichbare Studienbedingungen. Gleichzeitig würden wir dann in Deutschland neue Grenzen in Form von
Studiengebühren ziehen. Das kann doch wohl nicht angehen.
({19})
Wenn ich mir allerdings Ihren Programmentwurf anschaue, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
dann wundert mich vieles nicht mehr. Denn wie ich Ihrem
Programmentwurf entnehmen konnte, wollen Sie zusammen mit der FDP das HRG abschaffen.
({20})
Hat Ihnen das eigentlich die bayerische Staatskanzlei aufgeschrieben?
({21})
Wissenschaft und Forschung müssen im internationalen
Kontext betrachtet werden, aber Sie wollen den Hochschulen jetzt ein solch provinzielles Konzept überstülpen.
Das darf wirklich nicht wahr sein.
({22})
Es ist eine gute europäische Tradition, dass junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und ihren
finanziellen Möglichkeiten studieren können. An dieser
guten Tradition, an dieser Errungenschaft in unserem
Land wollen wir festhalten.
({23})
Die 6. HRG-Novelle ist dafür ein wichtiger Schritt.
Ich würde mich freuen, meine sehr geehrten Damen
und Herren von der Opposition, wenn Sie in dieser Debatte endlich klar Stellung nehmen würden,
({24})
statt sich auf Verfahrensfragen zurückzuziehen. Sind Sie
für Studiengebühren oder sind Sie dagegen? Wollen Sie
eine funktionierende studentische Selbstverwaltung oder
nicht? Unterstützen Sie den Ausbau der internationalen
Bachelor- und Masterstudiengänge oder wollen Sie auch
hier zum Bremser werden?
({25})
Es ist höchste Zeit, hier klare Position zu beziehen. Wenigstens das sind Sie den Menschen schuldig.
({26})
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Thomas Rachel.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 6. Hochschulrahmengesetznovelle ist ein Armutszeugnis für die
rot-grüne Bundesregierung.
({0})
Die Unterschrift von Bundespräsident Rau unter Ihr
5. Hochschulrahmengesetz ist erst seit wenigen Tagen
trocken, schon beantragen Sie wieder eine Änderung des
gleichen Gesetzes. Das ist reine Flickschusterei.
({1})
Ihre Änderungen hätten Sie bereits in der fünften Novelle
einbringen können. Ihr Vorgehen zeigt: Die rot-grüne Regierung ist konfus und konzeptlos.
({2})
Bildungsministerin Bulmahn will ihr neues Hochschulgesetz als große bildungspolitische Errungenschaft
verkaufen. In ihrer Pressemitteilung behauptet sie, dass
künftig „für das Erststudium in Deutschland keine Studiengebühren erhoben werden dürfen“. So kurz vor Ende
der Legislaturperiode ist das reines Wahlkampfmanöver.
Mit dieser öffentlichen Ankündigung täuschen Sie die
Wähler; denn entgegen Ihrer Ankündigung dürfen laut
Gesetzestext in Ausnahmebereichen sehr wohl Studiengebühren erhoben werden. Damit verstoßen Sie, Frau
Bulmahn, gegen den klaren Beschluss des SPD-Bundesparteitages. Wo bleiben Wahrheit und Klarheit, Frau Ministerin?
({3})
Was ist von Ihrem neuen Gesetz zu halten?
({4})
Sie wollen per Bundesgesetz in allen Bundesländern
Studiengebühren im Erststudium verbieten. Das ist eine
unzulässige Einmischung in die Angelegenheiten der
Länder und zeigt altes Denken. Nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes liegt die Kompetenz im
Bereich der Hochschulfinanzierung eindeutig bei den
Bundesländern. So ist übrigens auch die Realität: 89 Prozent aller Hochschulausgaben werden von den Ländern
finanziert, nur 9 Prozent vom Bund und 2 Prozent von den
Stiftern.
Ich finde es schon relativ dreist, wenn die Bundesregierung angesichts einer solchen Finanzverteilung den
Bundesländern vorschreiben will, wie sie die Hochschulen finanzieren sollen bzw. sagt, wie sie sie nicht finanzieren dürfen.
({5})
Zu Recht betont deshalb der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Landfried:
Für ein solches Gesetz besteht erstens kein Bedarf
und zweitens hat der Bund dafür nicht die Zuständigkeit.
({6})
Sie führen hier eine Geisterdebatte, Frau Bulmahn; denn
kein Bundesland hat bisher die Einführung von Studiengebühren beantragt.
Das sieht übrigens auch Ihr niedersächsischer Wissenschaftsminister Oppermann so. In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 5. März dieses Jahres sagt er zu Ihrem Studiengebührenverbot: „Diese Regelung ist auf Bundesebene
überflüssig.“
({7})
Es sollte in Ihren Ohren klingeln, Frau Bulmahn. Ihr eigener Wissenschaftsminister sagt offen:
Prinzipiell bin ich für moderate Studiengebühren,
wenn wir ein Stipendiensystem ... haben.
Als SPD-Landesvorsitzende haben Sie sich, Frau
Bulmahn, noch nicht einmal in Ihrem eigenen Landesverband durchsetzen können. Das ist ein schwaches Bild!
({8})
Im Gegensatz zu Ihnen hat Herr Oppermann Recht;
denn das rot-grüne Gesetz zeugt von obrigkeitsstaatlichem Denken,
({9})
anstatt Modernisierung und Wettbewerb für eine Hochschullandschaft des 21. Jahrhunderts zu ermöglichen. Ein
Verbot von Studiengebühren ist ein Akt staatlicher Gängelung.
({10})
Sie wollen Denk- und Handlungsverbote. Der Generalsekretär der Hochschulrektorenkonferenz, Jürgen Heß,
bezeichnet dies als einen „Akt bildungspolitischer Selbstverstümmelung“.
({11})
Daran sehen Sie, dass die Hochschulrektorenkonferenz
von Ihrer Bildungspolitik nichts hält, Frau Bulmahn.
({12})
Sie wollen mit Ihrem Gesetz verfasste Studierendenschaften bundesweit vorschreiben. Das verstößt gegen
die im Grundgesetz garantierten Kompetenzen der Länder. Ohnehin verfügen die Studentenparlamente in den
Bundesländern, in denen Zwangskörperschaften existieren, bei einer Wahlbeteiligung von 5 bis höchstens 15 Prozent über eine äußerst dünne demokratische Legitimation.
Interessant ist doch die Beobachtung, dass das Engagement der Studierenden sehr unterschiedlich ist. In den
verfassten Studierendenschaften ist es sehr gering, aber in
den Fachschaften sehr intensiv und engagiert. Das zeigt
doch, dass der von Ihnen verfolgte Weg der falsche ist.
Auch wir unterstützen eine stärkere Mitwirkung der Studierenden an den Hochschulen und in den politischen
Hochschulorganisationen.
({13})
Der von Ihnen vorgeschlagene Zwangsweg aber ist fantasielos; er verfehlt die angestrebten Ziele und ist altmodisch.
({14})
Die Studierendenschaften haben heute ein hochschulpolitisches Mandat, sodass sie zu allen hochschulrelevanten
Themen Stellung beziehen können. Wer aber Ihr Gesetz
aufmerksam liest, der wird feststellen, dass es Ihnen um etwas anderes geht, nämlich um ein allgemeinpolitisches
Mandat. Dieses ist aber mit der Zwangsmitgliedschaft in einer Studierendenschaft unvereinbar. Asta-Kampagnen zum
Ausländerrecht, Kampagnen gegen die Bundeswehr und
Globalisierung, für die studentische Gelder zweckwidrig
ausgegeben werden, waren und sind rechtswidrig.
({15})
Deshalb nehme ich es dieser Regierung übel, dass sie im
Gesetz Formulierungen benutzt hat, die den Missbrauch
des politischen Mandats begünstigen.
({16})
Äußerst bedauerlich ist, dass Sie, Herr Tauss, nicht nur
im Plenum nicht zuhören, sondern auch in der Anhörung
nicht zugehört haben. Denn die konstruktive Kritik in der
Anhörung des Bundestages haben Sie nicht aufgenommen. Die Sachverständigen waren sich in der Ablehnung
der sofortigen Überführung der Bachelor- und Masterstudiengänge in das Regelangebot der Hochschulen einig; denn sie ist verfrüht.
Wir sind die Anhänger der Bachelor- und Masterstudiengänge. Es waren nämlich nicht Sie, Frau Bulmahn, sondern es war die christlich-liberale Bundesregierung, die
1998 die Rahmengesetzgebung geändert hat, um diese
Studiengänge überhaupt zu ermöglichen. 1 000 sind mittlerweile geschaffen worden, was wir sehr begrüßen.
({17})
Wir nehmen auch zur Kenntnis, dass die Qualitätssicherung der neuen Studiengänge durch ein Akkreditierungssystem erst einen kleinen Teil dieser Studiengänge
erfasst hat. Wir haben bisher nur eine geringe Zahl von
Bachelor-Absolventen. Deshalb sollten wir die Kirche im
Dorf lassen und über die Einstufung als Regelangebot in
zwei oder drei Jahren in aller Gelassenheit entscheiden.
Ihre Nervosität und Hektik am Ende dieser Legislaturperiode verträgt sich nicht mit der Notwendigkeit einer soliden und langfristig ausgerichteten Hochschulpolitik.
({18})
Sehr geehrte Frau Bulmahn, mit Ihrer Regelung bezüglich der befristeten Stellen in der 5. HRG-Novelle haben Sie einen wahren Rohrkrepierer erzeugt. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hat am 31. Januar Folgendes
geschrieben:
({19})
Kahlschlag: Wie das Bundesbildungsministerium die
Zukunft von jungen Wissenschaftlern aufs Spiel
setzt.
Nachwuchswissenschaftler haben in großen Anzeigen in
deutschen Tageszeitungen Ihren Rücktritt gefordert, weil
sie sich durch Ihr Gesetz von der Arbeitslosigkeit bedroht
sehen. Als Reaktion sagten Sie, dies sei eine „verantwortungslose Panikmache“.
({20})
Ihren Stil gegenüber den Betroffenen beschreibt die
„FAZ“ so:
Den Betroffenen wird, wie jüngst auf einem Berliner
Podium, von der Ministerin erklärt, dass die Probleme, die sie sehen, gar nicht existieren.
Frau Bulmahn, warum ändern Sie heute Ihr Gesetz, wenn
die Probleme doch gar nicht existieren? Da stimmt doch
irgendetwas nicht.
Die Art und Weise, wie Sie mit den Beschäftigten an
den Hochschulen umgegangen sind, spottet jeder Beschreibung.
({21})
Der „Tagesspiegel“ beschreibt Ihren Auftritt bei einer
Diskussion in der Berlin-Brandenburgischen Akademie
der Wissenschaften folgendermaßen:
({22})
Doch für ihre Aufklärungsarbeit erntete Ministerin
Bulmahn bis zum Schluss der Veranstaltung immer
wieder abfälliges Stöhnen, hämisches Gelächter und
Zwischenrufe.
Das ist die Reaktion auf Ihre Politik.
Die Unionsfraktion hat sich zu vielen Gesprächen mit
den Betroffenen zusammengesetzt. Uns ging es nicht um
die öffentliche Schlagzeile. Wir wollen konstruktive Lösungen
({23})
und die Beseitigung der von Ihnen in der 5. HRG-Novelle
verursachten Schäden erreichen. Dazu gehört dringend
eine Übergangsregelung.
({24})
Deshalb beantragen wir, dass bis zum Dezember 2004 befristete Arbeitsverträge nach altem Recht abgeschlossen
werden können. Außerdem wollen wir den Juniorprofessoren helfen, für die nach erfolgreichem Abschluss nicht
unmittelbar eine Professur frei ist. Sie sollen für die Dauer
von drei Jahren als Hochschullehrer auf Zeit beschäftigt
werden können, damit sie ihre Bewerbungsphase durchlaufen können.
({25})
Sehr geehrte Frau Ministerin, in Wirklichkeit beschließen wir heute ein Gesetz, mit dem wir Ihr 5. Hochschulrahmengesetz reparieren.
({26})
Durch Ihre verfehlte Hochschulrahmengesetzgebung hat
sich das Klima an den deutschen Hochschulen verschlechtert. Auch in der 6. HRG-Novelle greifen Sie
Randthemen auf, anstatt die Hochschulen umfassend in
Richtung Leistung und Wettbewerb zu modernisieren.
({27})
Die „FAZ“ hat am 13. Februar getitelt:
Bulmahns Hochschulreform wiederholt die Fehler
der 70er-Jahre.
({28})
Treffender kann man das nicht formulieren. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler spricht in der „Zeit“ - das ist
sicherlich kein Organ der CDU ({29})
von der „Arroganz der Macht als neumodischer Variante
sozialdemokratischer Bildungspolitik“. Ich glaube, auch
das sollte in Ihren Ohren klingeln.
({30})
Die „FAZ“ schreibt:
Anfangs das am wenigsten bekannte Mitglied im
Kabinett Schröder, ist Edelgard Bulmahn nach wie
vor das blasseste.
Weiter heißt es:
Jene programmatische Blässe ergibt sich aus einer
Kombination administrativer Umtriebigkeit ihres
Hauses mit der Schwierigkeit, der Ministerin einen
erklärten politischen Willen zuzuordnen.
Ich denke, hier wird deutlich, wo die Schwierigkeit Ihrer
Regierungstätigkeit liegt.
Schade, dass in den letzten vier Jahren keine klare bildungspolitische Linie erkennbar war, die konzeptionelle
Kraft nicht reichte und ein schaler Geschmack von Kontur- und Farblosigkeit verbleibt.
Die Hochschulen brauchen mehr Freiheit und Autonomie. Nicht Gleichmacherei darf bildungspolitisches Leitbild sein, sondern der Wille zur Leistungsorientierung,
zur Profilbildung und zur Wettbewerbsorientierung.
({31})
In der nächsten Parlamentsperiode werden wir den
Hochschulen diese Freiheit und diese Luft zum Atmen
geben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({32})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Reinhard Loske für das Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rachel, als ich Ihnen zugehört habe, habe ich gedacht: Wie gut, dass es Presseausschnittsdienste gibt!
({0})
Ich will aber im Gegensatz zu Ihnen nicht wie bei einer Perlenkette ein Zitat an das andere reihen, sondern die
Meinung meiner Fraktion zur 6. HRG-Novelle begründen. Wir haben in dieser 6. HRG-Novelle vier Bereiche
geregelt: erstens die Überführung von BA- und MA-Studiengängen aus der Erprobungsphase in die Regelphase,
zweitens das Thema „verfasste Studierendenschaft“, drittens die Gebührenfreiheit für das Erststudium und viertens die Befristungsregelungen im Rahmen der Dienstrechtsreform.
Ich beginne mit dem Thema „verfasste Studierendenschaft“. Wir wollen - das regeln wir mit dem zu verabschiedenden Gesetz -, dass in Zukunft demokratische
Beteiligungsrechte für Studierende nicht an der bayerischen und baden-württembergischen Grenze Halt machen, sondern dass sie für alle gelten.
({1})
Wenn es dort ein Einsehen gegeben hätte, hätten wir das
nicht bundeseinheitlich regeln müssen. Aber es kann nicht
sein, dass man zwar an der Universität Düsseldorf seine
Rechte ausschöpfen kann, dass man dies aber dann, wenn
man nach München wechselt, nicht mehr tun kann. Das
wollen wir nicht.
({2})
Es ist ein unerträglicher Zustand, dass studentische Organe, wenn sie sich an Aktionen gegen Fremdenfeindlichkeit oder Intoleranz beteiligen, vor den Kadi gezerrt
werden und möglicherweise dafür zahlen müssen. Noch
unerträglicher ist es, wenn extremistische Studentengruppen aufseiten der Rechten darüber frohlocken, es qua
Gerichtsbeschluss erwirken zu können, dass die studentischen Organe einen Maulkorb verpasst bekommen. Das
wollen wir nicht mehr.
({3})
Wir hatten gestern im Ausschuss die vom Kollegen
Friedrich angestoßene Diskussion darüber, ob die Einführung der verfassten Studierendenschaft ein Rückfall in
das Mittelalter darstelle. Ich glaube, so war Ihre Formulierung.
({4})
Sie würden bei mir offene Türen einrennen, wenn dies
stimmen würde. Denn auch ich bin ein großer Skeptiker,
was den westdeutschen Korporatismus betrifft, bei dem
der große Staat mit der großen Industrie und den großen
Gewerkschaften oft zulasten Dritter und oft am Parlament
vorbei große Absprachen trifft. Das ist nicht besonders demokratisch. Das heißt, wenn das zuträfe, würde ich Ihnen
beipflichten.
Aber Ihr Argument ist in diesem Zusammenhang aus
zweierlei Gründen überhaupt nicht stichhaltig:
Erstens. Wenn es so wäre, dann wünschte ich mir, dass
Sie auch an anderer Stelle gegen die Gilden und Zünfte
ankämpfen würden. Ich habe aber noch nie vonseiten der
CDU/CSU die Forderung gehört, die Industrie- und Handelskammern abzuschaffen. Im Gegenteil: Dazu fehlt Ihnen der Mut. Wahrscheinlich wäre es auch nicht vernünftig.
Zweitens. Was wir hier einführen - dieses Argument ist
wichtiger -, ist keine Rückkehr zu den alten Kämpfen
zwischen MSB, SHB, RCDS und was es da so alles gibt.
Wir wollen vielmehr ein modernes hochschulpolitisches
Mandat. Wir wollen die Mitwirkung an hochschul- und
wissenschaftspolitischen Fragestellungen und das Eintreten für aktive Toleranz, für Grund- und Menschenrechte
sowie für die Integration ausländischer Studierender ermöglichen. Dazu sage ich: Wer das Eintreten für diese
Ziele nicht zulassen will, der, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU, ist in Wahrheit vormodern und steht
mit beiden Beinen im Mittelalter.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr
Kollege Loske, würden Sie mir zustimmen, dass der Vergleich bezüglich der Gewerkschaften deshalb falsch ist,
weil man in einer Gewerkschaft freiwillig Mitglied wird,
Sie aber vorsehen, dass Studenten zwangsweise Mitglied
werden? Geben Sie zu, dass auch Taxifahrer demokratische Mitwirkungsrechte haben, obwohl wir keine
Zwangskörperschaft für Taxifahrer eingeführt haben?
Meine Anmerkung bezog sich im Wesentlichen auf den
Korporatismus an sich, auf das Problem, dass Organisationen bzw. Großgruppen in unserer Gesellschaft nicht
mehr den sowohl im Wirtschafts- als auch im gesellschaftlichen Leben bestehenden Realitäten gerecht werden. Dagegen gibt es Skepsis. Ich habe die Gewerkschaften als Aufhänger genommen, um Ihren Vorwurf, wir
würden eine neue Zwangskorporation einführen, zurückzuweisen. Denn das tun wir nicht.
({0})
Ich mache darunter einen Strich und stelle fest: Wir sollten froh sein, wenn sich heute junge Menschen in ihrem
Gestaltungsbereich für demokratische Ziele einsetzen.
Das macht das vorliegende Gesetz möglich.
({1})
Ganz kurz zu BA und MA. Der springende Punkt ist
der: CDU/CSU und FDP argumentieren, die Zeit, dies
einzuführen, sei noch nicht reif, weil man nicht genau
wisse, wie der Markt das annehme; wenn ich Sie richtig
verstanden habe. Aber wir wissen natürlich umgekehrt
ganz genau, dass die große Zurückhaltung gegenüber diesen Abschlüssen gerade bei öffentlichen Arbeitgebern
maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass das Ganze
noch im Erprobungsstadium ist und keinen Regelcharakter hat. Deswegen wird umgekehrt ein Schuh daraus. Dadurch, dass wir diese Unsicherheit beseitigen, erhöhen
wir die Akzeptanz dieser Abschlussformen und werden
auch international anschlussfähig. Insofern ist das sehr
vernünftig.
({2})
Ich akzeptiere und finde es auch richtig, dass wir Qualitätssicherung betreiben müssen, dass wir bei der Akkreditierung weiterkommen müssen - eine ganz wichtige
Sache - und dass wir deshalb das gesamte Thema Sicherung von Qualitätsstandards und anderes mehr auch politisch verstärkt pushen müssen, etwa durch die Einrichtung
einer Stiftung für Bildung, die Sie ja ebenfalls wollen.
Das dritte Thema, Studiengebühren, ist ein weites Feld;
ich kann es lediglich antippen. Ich will nur so viel sagen:
Wir stellen in diesem Gesetz - was auch durch anders lautende Behauptungen nicht falsch wird - die Gebührenfreiheit des Erststudiums sicher. Ich glaube, das ist ein
Schritt in die richtige Richtung.
({3})
Wenn so getan wird, als gäbe es niemanden, der versuchte, in diese Richtung zu marschieren, möchte ich
doch noch einmal feststellen, dass in vielen Bundesländern, wie in Baden-Württemberg, im Saarland und in
Hamburg, im Moment Langzeitstudiengebühren eingeführt werden. Unsere Anhörungen und Diskussionen haDr. Reinhard Loske
ben ganz klar gezeigt, dass dieser Weg der Langzeitstudiengebühren vollends falsch ist.
({4})
- Ja, nun, das findet aber statt. Es wird hier behauptet, es
gebe niemanden, der Studiengebühren einführen wolle.
Ich berichte jetzt darüber, dass es das sehr wohl gibt und
dass bei dem Modell der Langzeitstudiengebühren von
dem Menschenbild des Studierenden als Bummelanten
ausgegangen wird, den es an die Kandare zu nehmen
gelte. Das ist aber ein falsches Denken.
({5})
Es wurzelt einzig und allein im Bestrafungsgedanken und
nicht im Qualitätsgedanken. Wir brauchen aber eine Qualitätsdebatte und keine Bestrafungsdebatte. Ich glaube,
das ist sehr wichtig.
({6})
Unser Hauptproblem sind nicht die Langzeitstudenten;
das sagt einem doch jeder Hochschulrektor. Natürlich gibt
es auch Bummelanten. Das ist doch überall so im Leben.
Warum sollen wir das jetzt gesondert regeln? Unser
Hauptproblem sind die hohen Abbrecherquoten. Deswegen ist es einseitig, das Problem der langen Studienzeiten
einzig und allein bei den Studierenden abzuladen. Es gibt
auch schlecht strukturierte Studiengänge. Es gibt lange
Wartezeiten bei Seminaren. Es gibt die Notwendigkeit
oder auch den Wunsch, nebenbei zu arbeiten. Es gibt
bestimmte biografische Realitäten. Deswegen geht es
um Verbesserungen auch auf der Angebotsseite. Wir können dieses Problem nicht einseitig bei den Studierenden
abladen.
({7})
Deswegen glaube ich, dass es das richtige Modell ist,
in Richtung Bildungsgutscheine zu gehen, auch wenn
hier Protest dagegen laut geworden ist.
({8})
Es konkurriert im politischen Raum mit dem Modell der
Langzeitstudiengebühren. Etwa bei den Modellen in
Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und SchleswigHolstein hat man eine großzügige Ausstattung mit staatlich finanzierten Bildungsgutscheinen. Das stärkt die
Position der Studierenden und gibt ihnen ein Anspruchsrecht. Das übt Qualitätsdruck auf die Hochschulen aus.
Das schafft bei den Studierenden - was durchaus wichtig
ist - ein Ressourcenbewusstsein, ein Bewusstsein dafür,
dass man mit der Ressource Bildung schonend umgeht.
Wenn man diese Scheine auf Semesterwochenstundenbasis ausgibt, entspricht das auch den biografischen Realitäten und ermöglicht es den Studierenden, dies flexibel
zu handhaben. Ich glaube, das ist ein guter Ansatz und ein
gutes Konzept.
An die PDS gerichtet, Frau Böttcher, weil ich leider vor
Ihnen spreche: Ich nehme Bezug auf Ihre Presseerklärung
von heute. Es ist immer wieder die gleiche Leier: Bildungsgutscheine seien Studiengebühren. - Das sind sie
nicht. Das Gegenteil ist zutreffend. Sie schreiben in Ihrer
Pressemitteilung von heute:
SPD und Grüne stellen die soziale Öffnung der
Hochschule in Frage.
Ja, meine liebe Frau Böttcher, die Realität ist doch, dass
in den frühen 70er-Jahren die Türen der Universitäten
weit aufgestoßen worden sind und dass sie in den
80er- und 90er-Jahren von den Herrschaften auf der rechten Seite zugestoßen wurden. Wir wollen die Türen doch
wieder aufmachen. Dazu trägt dieses Gesetz bei, genauso
wie die BAföG-Novelle.
({9})
Ich würde mir manchmal wünschen, dass bei der PDS
Wort und Tat deckungsgleich wären. Es wird bei Gesprächen von mehr Geld für die Wissenschaft geredet.
Aber kaum ist man in Berlin an der Regierung, wird das
Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung, das
Institut für Zukunftstechnologien oder das Klinikum
Benjamin Franklin angetastet. Bei Ihnen passen Wort und
Tat nicht zusammen. Das ist ein großes Problem. Aber das
ist ein Thema, über das wir jetzt nicht reden.
Man kann über Studiengebühren sprechen. Noch einmal
an die Adresse der Union: Wir wissen, dass viele bei Ihnen
dafür sind. Ich halte sie aber für einen gefährlichen Irrweg.
Solange wir keine Stipendienkultur haben und solange wir
nicht sicher sind, dass wir soziale Selektion ausschließen,
ist es vollkommen falsch, über dieses Thema zu reden. Deswegen ist es auch richtig, dass wir an dieser Stelle ein
Stoppsignal setzen. Wir wollen mehr Studenten und nicht
weniger. Wir wollen die Leute nicht verschrecken.
Letzter Punkt, Dienstrechtsreform: Die Dienstrechtsreformdebatte hatten wir bei der fünften Novelle HRG. Es
ist ein Gesetz, das einen echten Schritt nach vorn darstellt.
Wir haben eine klare Strukturierung der Qualifizierungsphase, wir haben eine frühere Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Nachwuchses, wir haben eine Vielfalt
von Zugangswegen, wir haben leistungsorientierte Besoldung. Dieses Gesetz verdient also ohne jeden Zweifel die
Attribute „modern“ und „zeitgemäß“.
Es gibt allerdings zwei Problemgruppen. Das trifft zu
und ist auch richtig beschrieben worden, wenngleich man
teilweise auch den Eindruck hatte, es würde, wenn ich das
vorsichtig ausdrücken darf, maßlos übertrieben.
Es gibt also zwei Gruppen, die Probleme haben: Das
sind zum einen diejenigen, die gerade im Begriff sind zu
promovieren bzw. sich zu habilitieren und die Sechsjahresgrenze überschritten haben oder denen erst später eine
Professur winkt. Für diese Gruppen haben wir jetzt eine
Übergangsregelung von drei Jahren, übrigens eine längere als Ihre von zwei Jahren, geschaffen.
({10})
Ich glaube, diese Gruppe kann mit dieser Regelung gut
leben. Das ist eine Sache, für die wir uns sehr eingesetzt
haben. Ich bin froh, dass wir das erreicht haben.
Zweitens geht es natürlich um die grundsätzliche Frage
des Wissenschaftsarbeitsmarktes, um Menschen, die
sozusagen lang anhaltende Projektkarrieren immer wieder auf der Basis von Drittmitteln haben. Zu fragen ist, ob
diese mit der neuen gesetzlichen Regelung Schwierigkeiten haben oder ob es im Rahmen des Teilzeit- und Befristungsgesetzes auch möglich ist, jenseits der Qualifizierungsphase, also jenseits der zwölf Jahre, weiterhin
befristet beschäftigt zu bleiben. Ich will an dieser Stelle
ganz klar sagen: Wenn sich jemand für diesen Weg entscheidet, dann soll ihm dieser Weg offen stehen.
({11})
Deshalb begrüßen wir auch, dass das Ministerium jetzt
angekündigt hat, dass man eine arbeitsrechtlich autorisierte Fassung vorlegen und als Handreichung an die
Universitätsverwaltungen und an die Verwaltungen der
außeruniversitären Forschungseinrichtungen geben wird,
damit diese das auch wirklich handeln können. Perspektivisch sollten wir uns dafür einsetzen, dass wir auf diesem
Feld einen Wissenschaftstarifvertrag bekommen. Denn
ich glaube in der Tat, dass die Realitäten auf dem hoch dynamischen und hoch flexiblen Wissenschaftsarbeitsmarkt
etwas andere sind als auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Ein Wissenschaftstarifvertrag könnte insoweit mehr Klarheit bringen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Ulrike Flach.
({0})
Mit den Grünen?
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur Weniges lässt so klar erkennen, welche politische Grundhaltung zur Hochschule dieses Hauses umtreibt, wie das
Hochschulrahmengesetz: auf der einen Seite Freiheit und
Autonomie der Universitäten und auf der anderen Seite
der tiefe Glaube an Regulierung und die Weisheit des
Staates. Das ist es, liebe Kollegen, was uns unterscheidet,
und das prägt ganz offensichtlich auch die heutige Debatte
und die vorliegenden Anträge.
({1})
SPD und Grüne wollen den Hochschulen weitere
Fesseln anlegen. Frau Bulmahn hat das eben sehr deutlich
gemacht: die gesetzliche Einführung von verfassten Studierendenschaften, die Studiengebühr und die Regeleinführung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Die
PDS geht in der Person von Frau Böttcher sogar noch wesentlich weiter in ihren Knebelungen und die Unionsfraktionen sprechen sich gegen die vorgeschlagenen Regelungen des Bundes aus,
({2})
aber nicht, um den Universitäten mehr Autonomie zu geben, sondern weil sie erneut Angst um ihre Länder haben,
lieber Herr Dr. Friedrich, und diese Fragen erneut über das
Landesrecht regeln wollen.
Die FDP stellt die Freiheit und die Autonomie der
Hochschulen in den Mittelpunkt.
({3})
Nicht das Hineinregieren in die Universitäten, sondern die
Festsetzung von Rahmenbedingungen ist die Maxime
liberaler Hochschulpolitik. Sie ist es immer gewesen und
sie ist es auch zum heutigen Zeitpunkt.
Genau den gegenteiligen Weg beschreiten Sie, Frau
Bulmahn, heute mit Ihrer erneuten Reparaturnovelle
zum wiederholten Male. Statt darüber nachzudenken,
ob das HRG noch zeitgemäß ist, regulieren Sie munter
weiter.
({4})
Nehmen wir das Beispiel des Verbots von Studiengebühren. Lassen Sie doch die Hochschulen selbst entscheiden, Frau Bulmahn, ob sie einen Teil der Ausbildungskosten von ihren Kunden, den Studenten, einfordern
wollen.
({5})
Es ist nicht unsere Aufgabe, hier in Berlin zu bestimmen,
ob privates Geld in Form von Gebühren in die Universitäten fließt oder nicht. Das muss die Universität vor Ort
entscheiden,
({6})
im Wettbewerb zu anderen Standorten und natürlich auch
angesichts einer Kundschaft, die sehr genau prüfen wird,
welche Qualität sie dort geboten bekommt.
({7})
Wie genau sie das prüft, haben Sie, Frau Bulmahn, ja eben
dort oben gesehen. Sie haben gesehen, dass Sie zwischen
den Stühlen sitzen.
Natürlich haben die Studenten ein feines Gespür dafür,
dass das Ganze nur Wahlkampfpolemik ist und nicht
mehr.
({8})
Sie lassen die Studiengebühren durch Ländergesetze zu
und versuchen vor Ort so zu tun, als würden Sie ein Wahlkampfversprechen einhalten.
({9})
- Ja, wir bestellen die immer, Herr Tauss.
Wir sehen auch keine Notwendigkeit, die verfassten
Studierendenschaften gesetzlich vorzuschreiben. Wir sind
sehr für die Mitwirkung der Studenten - wir kommen
übrigens alle aus diesem Bereich; das wissen Sie -, aber
wir alle kennen die Frustrationen über die real existierenden StuPa- und AStA-Sitzungen.
({10})
Herr Rachel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich
nur 10 Prozent der Studenten an den Wahlen beteiligen.
Dies ist ein wirklich demokratisches Dilemma.
Die deutsche Regelung der Zwangsmitgliedschaft,
die Sie uns heute vorschlagen, ist wieder einmal ein
Sonderweg. Die meisten Studentenschaften in Ländern
der westlichen Welt sind freiwillige Zusammenschlüsse, in deren Rahmen sich Studenten natürlich
auch zu allgemeinen Themen äußern können. Wir haben
also gar nicht diese Sorgen, die Sie umtreiben. Ich weiß
überhaupt nicht, was Sie mit Ihrer Version der Zwangskooperation wollen. Wollen Sie wirklich durch die
Hintertür das allgemeine politische Mandat wieder einführen? Sie wissen, dass dies nicht geht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich deutlich dagegen ausgesprochen.
({11})
Wir halten auch die vorschnelle Festschreibung der Regeleinführung von Bachelor- und Masterstudiengängen für falsch. Dabei muss deutlich gesagt werden - Herr
Rachel hat vorhin schon darauf hingewiesen -, dass es
natürlich eine CDU/FDP-Regierung war, die diese Studiengänge möglich gemacht hat. Wir wollen diese Studiengänge, selbstverständlich! Aber die Umsetzungsfrist in
den Landeshochschulgesetzen ist erst vor einem Dreivierteljahr abgelaufen. Das wissen Sie, Frau Bulmahn.
Der Akkreditierungsrat hat erst einen Bruchteil der neuen
Studiengänge zertifiziert. Nun lassen Sie diese Studienabgänger doch erst einmal auf den Arbeitsmarkt. Erst dann
können wir sehen, ob hier etwas Vernünftiges geschaffen
worden ist. Erst dann sind wir in der Lage, Regelstudiengänge einzuführen.
({12})
Mit der unseligen Neuregelung des § 57 HRG haben
Sie, Frau Ministerin, eine ganze Generation von Wissenschaftlern massiv verunsichert. Die nachgereichte Übergangsregelung ist nicht ausreichend, auch wenn Sie
Tag für Tag scheibchenweise nachlegen. Eine schlechte
Regelung wird nun einmal nicht dadurch besser, Frau
Bulmahn, dass man sie später anwendet.
Es ist für uns nicht einsichtig, warum der Staat es Wissenschaftlern verbieten sollte, sich auch nach zwölf Jahren noch auf eine befristete, aus Drittmitteln finanzierte
Stelle zu bewerben.
({13})
Sicher ist es nicht der Traum eines Forschers, immer wieder ein befristetes Arbeitsverhältnis einzugehen. Dennoch
gibt es viele, die darin eine Möglichkeit für eine flexible
Lebensplanung sehen.
({14})
Liebe Kollegen von der SPD, eine Drittmittelkarriere
ist auch um vieles besser, als arbeitslos auf der Straße zu
stehen.
({15})
So geht es diesen jungen Leuten im Augenblick aber. Dies
wird jeden Tag anhand der geschalteten Anzeigen deutlich.
({16})
Wir schlagen deshalb vor, in § 57 c HRG zwei sachliche Gründe für eine weitere befristete Beschäftigung
nach Ausschöpfen der bislang höchstzulässigen Befristungsdauer festzuschreiben. Dies wäre erstens, wenn der
Mitarbeiter besondere Kenntnisse und Erfahrungen vorübergehend in Lehre oder Forschung einbringen soll,
oder zweitens, wenn der Mitarbeiter aus Drittmitteln vergütet wird.
({17})
Ich glaube, diese Regelung ist sehr im Sinne der Betroffenen. Sie ist europafest und besser als eine halbherzige Gnadenfrist, die Sie heute mit Ihrem Vorschlag eingebracht haben.
Wir werden unsere Änderungsanträge hier zur Abstimmung stellen. Wenn sie keine Mehrheit finden, werden
wir selbstverständlich Ihrem „Verregelungsgesetz“ nicht
zustimmen.
Die FDP will keine Strangulierung der Hochschule.
Wir wollen die entfesselte, autonome, wettbewerbs- und
vor allen Dingen leistungsorientierte Uni.
({18})
Die - das verspreche ich Ihnen - werden Sie nach dem
22. September bekommen.
({19})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist Wahlkampf; das ist zu
spüren. SPD und Grüne versuchen, sich als wackere
Kämpfer gegen Studiengebühren in Szene zu setzen.
({0})
- Herr Loske, Sie können erzählen, was Sie wollen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen Welten: Wahlkampfwelten.
({1})
Die von der Koalition vorgelegte Novelle ist kein Gesetz gegen Studiengebühren; das wissen Sie. Es ist ein Gesetz, das vorhandene Gebühren nachträglich legitimiert
und sogar die Einführung neuer Gebühren absichert.
Was geschieht, wenn Sie, Frau Ministerin, Ihr Gesetz
durchkriegen? Werden CDU und FDP in Baden-Württemberg die Strafgebühren für Langzeitstudierende
abschaffen? Werden die Sozialdemokraten in Niedersachsen sowie SPD und Bündnisgrüne in Schleswig-Holstein
ihre bereits beschlossenen Gebührenpläne zurücknehmen? - Nichts wird passieren.
({2})
Im Gegenteil, Herr Tauss: Ihr Gesetzentwurf gibt ausdrücklich grünes Licht für die Entwicklung neuer Gebührenmodelle, wie sie etwa in Nordrhein-Westfalen oder
Rheinland-Pfalz geplant sind.
({3})
Neue Begriffe, wie Studienkonten oder Bildungsgutscheine, sollen das verschleiern. Wer sein Studienkonto
verbraucht hat, Herr Loske, wer seinen letzten Bildungsgutschein eingelöst hat, wird in Zukunft in Mainz, Düsseldorf, Trier oder Münster wie schon heute in Heidelberg
oder Tübingen zur Kasse gebeten werden. Die von der
Bundesregierung vorgelegte Novelle wird dies nicht verhindern, weil sie es gar nicht verhindern will.
Aber es kommt noch schlimmer: Die in Ihrem Gesetzentwurf enthaltene unbestimmte Ausnahmeregelung
schließt sogar Gebühren ab dem ersten Semester nicht
aus. Das wissen Sie auch.
({4})
Studentinnen und Studenten spüren genau: 30 Jahre nachdem auch die alte Bundesrepublik Studiengebühren abgeschafft hat, stellen nun nach Union und FDP auch SPD
und Grüne die soziale Öffnung der Hochschulen infrage.
Das steht auch in meiner Presseerklärung.
({5})
Das war lange ein Markenzeichen sozialdemokratischer
Bildungspolitik, Herr Loske.
({6})
Bildungspolitiker wissen: Die studentischen Organisationen streiten sich über vieles, aber nicht über Studiengebühren. Diese müssen verboten werden, und zwar ohne
Wenn und Aber.
({7})
Die Studierenden lehnen Ihr Gesetz klar ab. In dieser
Frage sprechen der Dachverband der Studierendenvertretungen, fzs, die Juso-Hochschulgruppen und die GrünenHochschulgruppen mit einer Stimme. Dass das die Regierung nicht hören will, kann ich verstehen. Selbst die klaren
Beschlüsse Ihrer eigenen Partei ignorieren Sie souverän.
Auch ich möchte Sie daran erinnern, dass es der Bundesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war, der noch im November 2001 gegen das ausdrückliche Votum von SPD-Bundespolitikern auf einer
uneingeschränkten Sicherung der Gebührenfreiheit bestanden hat.
({8})
Damit setzen Sie nicht nur Ihre eigene Glaubwürdigkeit,
sondern auch die der parlamentarischen Demokratie aufs
Spiel. Wenn heute eine Tür aufgestoßen wird, Herr Loske,
dann ist es höchstens ein kleiner Spalt. Aber durch diesen
Spalt werden die Studierenden nicht gehen.
Die Alternativen liegen auf dem Tisch. Die PDS hat einen eigenen Entwurf für eine 6. HRG-Novelle vorgelegt.
Erstens. Wir bleiben bei der klaren Forderung nach einer Sicherung der Gebührenfreiheit des Studiums.
Deutschland braucht in Zukunft nicht weniger - das ist
richtig -, sondern mehr gut ausgebildete Akademikerinnen und Akademiker.
({9})
Die schrittweise Einführung von Studiengebühren
schreckt junge Leute, insbesondere aus Familien mit geringem Einkommen von der Aufnahme eines Studiums
nachweislich ab.
Zweitens. Wir fordern die Absicherung der verfassten
Studierendenschaften in allen Bundesländern mit dem
Recht, zu gesellschaftlichen Fragen Stellung zu beziehen.
({10})
Drittens. Wir befürworten die Einführung neuer Bachelor- und Masterstudiengänge, soweit die Durchlässigkeit zwischen den Studiengängen gewährleistet ist.
Viertens. Wir haben einen Vorschlag für eine Übergangsregelung zum neuen Fristvertragsrecht vorgelegt
und freuen uns, dass die Koalitionsfraktionen diesen Vorschlag aufgegriffen haben.
Noch ein Wort zur FDP. Heuern und Feuern darf nicht
zum Normalfall an Hochschulen werden. Die PDS wird
daher den Änderungsantrag der FDP ablehnen. Liebe
Frau Flach,
({11})
auf der einen Seite reden Sie von einer Entrümpelung des
Hochschulrahmengesetzes. Auf der anderen Seite wollen
Sie detaillierte Regelungen zur Befrisung von Arbeitsverträgen ins Gesetz schreiben. Das passt nun wirklich nicht
zusammen und verträgt sich schon gar nicht mit unserer
und Ihrer Zielsetzung, endlich wieder die Tarifpartner
zum Zuge kommen zu lassen.
Zwischen dem Entwurf der Regierungsfraktionen und
dem der PDS liegen bis auf die gravierende Ausnahme der
Studiengebühren keine Welten. Genau das aber ist der
Grund dafür, dass wir Ihrem Gesetzentwurf heute nicht
zustimmen werden. Wer Sicherheit für die Studierenden
will, muss dem Alternativentwurf der PDS zustimmen.
({12})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Um das noch einmal
klar zu machen: Die sozialdemokratische BundestagsMaritta Böttcher
fraktion ist für ein Verbot von Studiengebühren bis zum
ersten berufsqualifizierenden Abschluss. Diese Position
steht auch in der 6. HRG-Novelle. Alle anderen Interpretationen gehen fehl und dienen nur der Absicht, ein generelles Studienverbot - das gilt für alle, auch für die ausländischen Weiterbildungsstudien - zu diskreditieren.
Ich möchte vorweg auch noch auf etwas zu sprechen
kommen, was Herr Rachel und Frau Flach gesagt haben.
Ich denke nicht, dass die Autonomie der Hochschulen
- das sollten eigentlich alle beherzigen, die sich mit Hochschulpolitik beschäftigen - von dem Recht abhängt, von
denjenigen, die sich ein Studium selber nicht leisten können, auf deren Begabung wir aber angewiesen sind, Studiengebühren zu verlangen. Die Autonomie der Hochschulen auf diesen Bereich zu konzentrieren scheint mir
eine Fehlinterpretation der Verpflichtung der Hochschulen in Deutschland gegenüber den nachfolgenden Generationen zu sein.
({0})
Ich möchte noch etwas anderes deutlich machen
- darauf wird in der Diskussion immer wieder hingewiesen -: Es gibt natürlich auch sozialdemokratische Hochschulpolitiker, die andere Vorstellungen von der Funktion
der Universitäten, von deren Rechtssituation und deren
Möglichkeiten haben, Geld zu bekommen. Aber jetzt rede
ich und ich bin der Meinung, die ich Ihnen eben dargestellt habe.
({1})
- Wir werben für unsere Position. Auch ich werde versuchen - Sie wissen ja, aus welchem Bundesland ich
komme -, weiterhin dafür zu werben. Wir werden sehen,
wie das ausgeht.
({2})
Die 6. Novelle zum Hochschulrahmengesetz, über die
wir heute diskutieren, verwirklicht in einem wichtigen
Bereich die hochschulpolitischen Ziele der Koalition und
rundet noch in dieser Legislaturperiode die Reformpolitik
der Regierungsparteien sowie der Bildungsministerin in
Wissenschaft und Forschung ab. Die Festschreibung von
bundesweiter und uneingeschränkter Gebührenfreiheit ist
das Kernstück dieser Reform und ein notwendiges bildungspolitisches Signal an Eltern, Studierende sowie an
Schülerinnen und Schüler, dass in Deutschland ein zügiges Erststudium bis zum Prüfungsabschluss keine zusätzlichen finanziellen Belastungen bringen wird.
Die Argumentation, Studiengebühren seien antiquiert
und sozial ungerecht, würden aber den Hochschulen die
notwendigen Finanzmittel zuführen, die sie zur Verbesserung ihrer Infrastruktur dringend benötigten, geht fehl.
({3})
Antiquiert waren die Bedingungen zu meiner Studienzeit.
Noch zu Beginn der 70er-Jahre wurden in der damaligen
Bundesrepublik einheitlich 150 bis 160 DM Studiengebühren pro Semester erhoben. Lediglich in Hessen galt für
Landeskinder Gebührenfreiheit. Die Kritiker der jetzigen
Regelung können ja einmal nachschauen, wie sich die
Zahlen der Studierenden an den hessischen Hochschulen
in den 60er-Jahren und nach Ende der Studiengebühren an
den Hochschulen des ganzen Landes entwickelt haben.
({4})
- Mit dem Babyboom lässt sich noch nicht erklären, dass
der Prozentsatz an Abiturienten bei denjenigen höher war,
die zur Babyboomgeneration gehören.
({5})
Herr Rachel, ich weiß gar nicht, ob Sie nun für oder gegen Studiengebühren waren. Oder habe ich Sie einfach
nicht richtig verstanden?
({6})
- Ich glaube, dass Sie ein kräftiges Jein gesagt haben und
dass Sie sich erst noch rückversichern müssen. Ist das so
richtig?
({7})
- Gut, dann habe ich das nicht verstanden.
Auch prominente Verfechter von Studiengebühren haben in den 70er- und 80er-Jahren als Erste aus ihren
Familien an einer Hochschule gebührenfrei studiert und
fordern jetzt Studiengebühren, wenn auch sozial verträgliche. Wie man hört, hat auch Baden-Württemberg
Schwierigkeiten, für die Abgrenzung des Sozialverträglichen eine glaubhafte Definition zu finden.
Eine wichtige Regelung der 5. HRG-Novelle für
befristete Arbeitsverhältnisse wird in der 6. Novelle
noch einmal klargestellt. § 57 b des HRG enthält eine
Übergangsregelung, die viele Fragen der unmittelbar Betroffenen aus den Hochschulen beantwortet und bei Interessenkonflikten zwischen Hochschulverwaltungen und
Bediensteten einen klärenden Eingriff möglich macht.
Diese Übergangsregelung beträgt für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler drei Jahre sowie für studentische
Hilfskräfte ein Jahr. Befristete Arbeitsverhältnisse spielen
an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen, wie
alle wissen, eine wichtige, aber in vielen Bereichen eine
andere Rolle als in der privaten Wirtschaft. Die Stelleninhaber haben in Forschung und Lehre wichtige Aufgaben:
Sie werben Drittmittel ein und leisten einen großen Beitrag zum Ansehen unserer Hochschulen. Das Verhältnis
befristeter zu unbefristeten Stellen im akademischen Mittelbau sollte aber ausgewogen sein und sich nicht zugunsten der lebenslang befristet Beschäftigten verschieben.
({8})
Nachdem ich mit vielen gesprochen habe, appelliere
ich auch hier an die Personalabteilungen der deutschen
Hochschulen, die möglicherweise falsch verstandene
Regelung der befristeten Arbeitsverhältnisse nicht dazu
zu benutzen, in manchen Fachbereichen Personalabbau
zu betreiben, indem sie keine befristeten Arbeitsverhältnisse mehr unterschreiben, weil sie befürchten, vor
Arbeitsgerichten Klagen von Betroffenen auf dauerhafte
Anstellung zu verlieren. Die jetzigen Regelungen des HRG
und ihre Klarstellungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz
reichen völlig aus, um dieses Problem zu lösen.
Die 5. und die 6. HRG-Novelle ermöglichen es den
Hochschulen, ihrer gesellschaftlichen Aufgabe unter
geänderten internationalen und nationalen Bedingungen
gerecht zu werden und ihre Leistungsfähigkeit weiter
zu steigern. Daher bitte ich Sie, unserer Novelle zuzustimmen.
Danke schön.
({9})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Gerhard Friedrich für die CDU/CSUFraktion.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Flach, Sie haben uns hier einen sehr langen Antrag
vorgelegt, der in den Ausschuss gehört. Ich bin nicht in
der Lage, in einer Stunde sieben Seiten zu beurteilen.
Aber ich sage Ihnen, warum ich den Antrag ablehne.
({0})
Auf Seite 1 Ihres Antrags ist von umfassender Autonomie
der Hochschulen die Rede. Ich empfehle Ihnen, einmal
mit dem bayerischen Wissenschaftsminister Zehetmair
darüber zu reden, wohin das führt. In Bayern sind wir
stolz darauf, dass sich die Besten nach Bayern berufen lassen - nicht alle, aber viele.
({1})
Würden wir in Bayern immer die Vorschläge der Fakultäten berücksichtigen, würden wir nicht immer die Besten
berufen. Da gibt es Seilschaften und von manchem wird
die eigene Klientel bedient.
({2})
- Dabei muss man nicht immer mitmachen. Ich bin für
mehr Autonomie, aber nicht für die totale Autonomie.
Wegen dieses völlig falschen Satzes kann ich Ihrem Antrag, der im Übrigen sehr viel Richtiges enthält, nicht zustimmen.
({3})
90 Prozent Ihres Antrages würde ich zustimmen. Aber da
in ihm ein völlig falscher Satz enthalten ist, kann ich nicht
mehr zustimmen.
({4})
Wenn wir über die Hochschulreform reden, sollten wir
uns darüber verständigen, welche Ziele wir verfolgen.
Wenn ich mich richtig entsinne, haben wir bei der so genannten Rüttgers-Reform,
({5})
der Sie ja zugestimmt haben, Frau Bulmahn, gesagt, wir
wollten mehr Leistung durch mehr Wettbewerb. Das ist
die Zielsetzung. Mit der Kollegin Flach und der FDP bin
ich der Auffassung, dass es Wettbewerb zwischen einzelnen Hochschulen, aber auch zwischen den verschiedenen
Hochschulsystemen der Länder geben muss. Wettbewerb
kann es aber ohne gewisse Spielregeln nicht geben.
Deshalb ist meine Arbeitsgruppe nicht der Auffassung,
dass man das Hochschulrahmengesetz ersatzlos abschaffen kann. Wir diskutieren ebenso wie die SPD über den
richtigen Inhalt von Wahlprogrammen. Bei uns wird über
dieses Thema in der nächsten Woche entschieden. Vielleicht werde ich zu den Verlierern gehören; das werde ich
dann gelassen ertragen. Aber ich setze mich nicht für die
ersatzlose Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes
ein; denn Wettbewerb ohne Spielregeln kann nicht funktionieren.
({6})
Ich komme zum nächsten Thema, das Sie in Ihrer Novelle ansprechen, Frau Bulmahn, nämlich zum Verbot von
Studiengebühren. Herr Loske, obwohl Sie sonst ein
nachdenklicher Mensch sind, haben Sie heute die Zuhörer verwirrt, indem Sie gesagt haben, Studiengebühren für
Langzeitstudenten seien schlecht, dies aber in Ihrem Gesetzentwurf nicht verboten haben. Es geht um Studiengebühren für das Erststudium. Hier bin ich mit Ihnen der
Meinung, dass es so wie gegenwärtig nicht gehen kann.
Wir brauchen wegen der sozialen Abfederung - man
kann es auch anders beschreiben - entweder ein völlig
neues Stipendiensystem oder eine Regelung, wonach
Studiengebühren so lange gestundet werden, bis derjenige, der studiert hat, im Beruf, beispielsweise als Chefoder Oberarzt, kräftig verdient.
({7})
In diesem Punkt sind wir uns noch nicht einig. So müssten wir uns zunächst intensiv mit dem so genannten australischen Modell befassen. Wenn wir diese Dinge geprüft
haben, dann kann ich sagen, ob ich für oder gegen Studiengebühren bin.
({8})
Ich will nachdenken, Frau Ministerin, Sie aber wollen das
Denken verbieten. Das verstehe ich nicht.
({9})
Auch der zuständige niedersächsische Minister will nachdenken. Auch Herr Glotz, Ihr Vorgänger als bildungspolitischer Sprecher der Fraktion, ist für Studiengebühren.
({10})
- Er muss nicht Recht haben, aber setzen wir doch einmal
den Streit fort.
Es ist wirklich seltsam: Kein Land hat, soweit ich weiß,
ernsthaft die Absicht, in den nächsten Jahren Studiengebühren für das Erststudium einzuführen.
({11})
- Nein. - Damit verbieten Sie etwas, was niemand zurzeit
machen will. Das ist doch abwegig.
({12})
- Regen Sie sich doch nicht so auf!
Diese Debatte wird in ungefähr drei Jahren beendet
sein, dann werden der Kollege Rachel und ich wissen, ob
wir für Studiengebühren sind.
({13})
Ich könnte Ihnen jetzt eine Schlagzeile vorlesen, in der an
Herrn Berninger, den ich sehr schätze, die Frage gestellt
wird: „Herr Berninger, seit wann sind Sie denn für Studiengebühren?“ Die Grünen haben das doch in der Fraktion
diskutiert; auch Herr Berninger, nicht gerade der unbedeutendste Bildungspolitiker der Grünen,
({14})
sondern einer der besten,
({15})
hat ernsthaft über Studiengebühren nachgedacht. Warum
sollte man ihm das denn verbieten, Frau Ministerin
Bulmahn? Ich verstehe das nicht.
({16})
Damit es zu keiner Verleumdung kommt, möchte ich
festhalten, dass ich zurzeit weder für noch gegen Studiengebühren bin, sondern dafür, dass wir die noch nicht abgeschlossene Diskussion fortsetzen.
({17})
Irgendwann werden wir entscheiden müssen. Es gibt bei
uns wie auch bei der SPD unterschiedliche Meinungen.
Zurzeit sitzt Frau Bulmahn zwischen allen Stühlen.
({18})
Der Parteitag ist für das Verbot aller Studiengebühren;
Herr Glotz ist für Studiengebühren;
({19})
der Wissenschaftsminister von Niedersachsen ist eigentlich für Studiengebühren. Lassen Sie den Mann doch
nachdenken.
({20})
Nebenbei möchte ich noch auf das Problem der Bildungsgutscheine eingehen, weil man auch dabei aufpassen muss. Es gibt zweierlei Arten von Bildungsgutscheinen: zum einen das Modell aus Rheinland-Pfalz - darüber
kann man diskutieren -, das Gebührenfreiheit während
des Erststudiums sichert, wenn man zügig studiert.
({21})
Ich bin dafür, auch über ein weiteres Modell zu diskutieren. Nach diesem Modell werden die Beträge für die
Grundfinanzierung der Hochschulen gekürzt, dafür wird
aber jedem Abiturienten ein Gutschein ausgehändigt, den
er dort, wo er studiert, abliefern muss. Hier geht es um etwas anderes als bei dem Modell aus Rheinland-Pfalz. Das
Problem aber ist, dass nicht alle Länder mitmachen. Berlin wäre beispielsweise dafür, weil es mehr Studenten importiert als exportiert und davon profitieren würde. Frau
Bulmahn, lassen Sie uns die Dinge doch in Ruhe diskutieren und verbieten Sie die Dinge nicht.
({22})
Jetzt noch eine letzte Anmerkung zu den Studierendenschaften. Das Wort sollte man verbieten. Ich verstehe
nicht, wie man die deutsche Sprache so verhunzen kann.
({23})
Außerdem bleibe ich, Herr Kollege Loske, bei meinem
Standpunkt, dass dieses nicht progressiv, sondern reaktionär ist. Sie führen den Ständestaat in Deutschland wieder ein. Das ist mittelalterlich.
({24})
Darauf sind Sie noch stolz. Lesen Sie einmal in der Staatslehre - das ist keine Polemik ({25})
nach, woher die Zwangskörperschaften kommen. Sie
kommen - ich erinnere an Zünfte usw. - aus dem Mittelalter. Dennoch sind Sie stolz darauf, das in Deutschland
vorzuschreiben.
({26})
- Die haben doch vernünftige Aufgaben, Herr Kollege.
Ich war vier Jahre im Studentenparlament. Wir hatten
doch keine vernünftigen Aufgaben. Was haben wir gemacht? Wir haben das Geld, das man uns gegeben hat, für
jeden möglichen Unsinn ausgegeben.
({27})
Wir haben damals, 1968/69, über Vietnam diskutiert. Ich
weiß nicht, ob die Amerikaner jemals erfahren haben, was
wir im Erlanger Studentenparlament im Hinblick auf
Vietnam beschlossen haben.
({28})
Dr. Gerhard Friedrich ({29})
- Nein, Herr Kollege Loske. - Ich betone: Auch die Taxifahrer gehören keiner Zwangskörperschaft aller Taxifahrer an; dennoch haben sie demokratische Beteiligungsrechte in diesem Staat.
({30})
In den verfassten Studentenschaften passiert permanent
Missbrauch. Frau Ministerin Bulmahn, Sie lösen ein Problem, das den meisten Studenten gar nicht bekannt ist. Einem Aufruf zur Teilnahme an einer Demonstration für die
verfasste Studierendenschaft würden in meinem Wahlkreis
20 linke Hochschulstudenten und zehn altlinke 54-jährige
Lehrer, die sich an die 68er-Zeiten erinnern können, folgen.
Zwar sieht sonst kein Mensch irgendein Problem; aber Sie,
Frau Bulmahn, lösen es. Dafür habe ich kein Verständnis.
({31})
Jetzt hat der Kollege
Jörg Tauss für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich war 1968 15 Jahre alt. Damals
war ich noch nicht in irgendeinem Studentenparlament.
Damals waren wir im Schülerparlament hochaktiv und
haben Schülerarbeit gemacht. Herr Kollege Friedrich,
man sieht an uns allen, dass dabei etwas Ordentliches herausgekommen ist. Wenn junge Menschen diskutieren,
dann kann das nicht schaden.
Was hier vorgetragen worden ist, ist zum Teil schon
putzig. Lieber Kollege Rachel, zunächst möchte ich Ihnen
eine kleine Geschichte erzählen. Ich habe kürzlich einen
fehlgeleiteten Brief bekommen, den ich mir trotzdem
- ich gebe es zu - angeschaut habe. Der Brief war vom
Ring Christlich-Demokratischer Studenten. Der Brief
enthielt die Bitte, dem RCDS Argumente zu liefern, mit
denen er ein Plakat gegen die Bundesregierung gestalten
könne. Dieser Brief ist versehentlich bei der SPD gelandet. Mittlerweile weiß ich: Der RCDS wäre von Ihnen
falsch informiert worden. Also habe ich den Ring Christlich-Demokratischer Studenten über unsere Hochschularbeit aufgeklärt. Ich nehme an, man war von dieser Aufklärung außerordentlich beeindruckt. Kollege Rachel, ich
habe allerdings vergessen, Ihnen eine Kopie dieses
Schreibens zukommen zu lassen; deswegen möchte ich an
dieser Stelle eine kleine Nachhilfestunde geben.
({0})
- Sie müssen sich die Bilanz schon in Ruhe anhören.
Nachdem Sie an unserer Bilanz herumgemäkelt haben
- das stört mich generell -, möchte ich Ihnen nun mitteilen, was wir hochschulpolitisch getan haben. Jetzt hören
Sie einmal zu! Wir haben ein neues Dienstrecht auf den
Weg gebracht. Herr Kollege Friedrich, nachdem in den
Jahren Ihrer Regierungszeit der Muff unter den Talaren
herrschte, haben wir uns gesagt: Wir müssen die verkrusteten Strukturen aufbrechen.
({1})
Das geschah übrigens mit Zustimmung eines Teils der
Professorenschaft.
Herr Rachel, Sie gehören im Grunde genommen - ich
weiß, es wird in Ihren Reihen sehr differenziert gesehen zur Lobby der Professoren. Dazu zählen nicht viele. Es gab
leider noch zu viele Professoren, die ihre Assistenten, die
jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, bis ins
hohe Alter in Abhängigkeit gehalten haben. Das war ihnen
recht und billig. Sie waren relativ preiswerte Arbeitskräfte.
Wir haben die Juniorprofessur eingeführt und die Hochschuldienstrechtsreform durchgeführt, damit diejenigen,
die in jungen Jahren eine internationale wissenschaftliche
Karriere machen wollen, nicht mehr ins Ausland, in die
USA, gehen müssen. Dies sind wichtige Erfolge der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition.
({2})
Wir haben das BAföG erhöht. Auch darüber haben wir
schon geredet.
({3})
Wir haben mit dem Bildungskredit ein völlig neues Instrumentarium geschaffen. Frau Kollegin Flach, Ihrerseits
hat es damals an Fantasie gefehlt, solche neuen Instrumente zu schaffen. Gähnen Sie nicht! Hören Sie zu! Wir
haben all das getan, was Sie damals nicht getan haben. Ich
wiederhole: Wir haben den Bildungskredit auf den Weg
gebracht.
({4})
- Man kann es nur immer wieder formulieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Hochschulbau, der unter Ihrer Regierungsverantwortung jahrelang stagniert hat, vorangebracht. Sie standen bei den Ländern in der Kreide; Sie haben das Geld an die Länder nicht
mehr überwiesen, Sie haben den Hochschulbau an die
Wand gefahren. Wir haben die Mittel für den Hochschulbau in diesem Land um 20 Prozent erhöht. Das ist Fakt.
({5})
Die Mittel flossen in Großgeräte.
({6})
- Ja, wo leben Sie denn? Ich habe eine Uni vor der Haustür, fünf Minuten von meinem Büro entfernt; ich sehe,
was in Karlsruhe gebaut wird. Aus dem Bundesetat werden gerade wieder 60 Millionen für die Nanotechnologie
bereitgestellt.
Schauen Sie sich auch in den Hochschulen in Bayern
an, in welchem Umfang Mittel des Bundes nach Bayern
fließen. Ich weiß, Sie machen damit Öffentlichkeitsarbeit,
aber wir geben das Geld, damit auch in Bayern die Besten
nicht gehen, sondern bleiben.
({7})
- Ein paar Leute gibt es, die Sie der Hochschule aufs Auge
drücken wollen, CDU/CSU-Spezis, aber das ist eine spezielle Situation.
({8})
Dr. Gerhard Friedrich ({9})
- Peter Glotz ist ein hervorragender Mann; das ist doch
völlig klar. Ich bin doch nicht so vermessen zu sagen, ich
wäre besser als Peter Glotz.
({10})
Aber auch Peter Glotz kann irren; hinsichtlich der Studiengebühren ist das der Fall. Sonst irrt er nicht, aber in dem
Punkt tut er es.
({11})
Wir haben das Hochschulmarketing gebündelt. Herr
Kollege Friedrich, Sie waren dabei: Als wir in dieser fantastischen Sitzung über internationales Hochschulmarketing sprachen, kam Herr Rüttgers auf die Idee - Sie kennen seine bedächtige Art; er ist beim Reden immer fast
eingeschlafen -, wir könnten vielleicht eine CD-ROM
machen, um deutsche Hochschulen im Ausland vorzustellen. Das war der Höhepunkt dessen, was Ihnen zum
Thema Hochschulmarketing einfiel.
({12})
Wir haben Millionenbeträge in das Hochschulmarketing
gesteckt, damit die Hochschulen eine Chance haben, sich
auch im Ausland zu präsentieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Friedrich?
Aber selbstverständlich, lieber
Kollege Friedrich. Ich bin immer noch bei der Bilanz; ich
trage sie wirklich gern vor.
Ja, bei
der Bilanz sind Sie tatsächlich, aber nicht bei der Sache.
({0})
Herr Kollege Tauss, weil Sie gerade über Hochschulmarketing geredet haben, frage ich Sie: Wie erklären Sie
sich, dass die meisten Studenten zum Beispiel aus Asien
in Länder gehen, die Studiengebühren erheben, zum Beispiel in die USA?
Um bei Karlsruhe zu bleiben: Wir
haben dort im Bereich Informatik einen hervorragenden
Anteil von ausländischen Studierenden, knapp 25 Prozent. Sehr viele davon kommen aus Asien.
Die Entscheidung, ob jemand ein Studium in einem anderen Land aufnimmt, hängt doch nicht davon ab, ob Studiengebühren erhoben werden. Sie hängt von der Qualität
der jeweiligen Hochschule ab. Seit wir dafür gesorgt haben, dass die Hochschulen besser werden, kommen auch
wieder mehr ausländische Studierende.
({0})
Heute Morgen haben wir von Herrn Ministerpräsident
Stoiber wieder gehört: Er hat Angst vor Ausländerinnen
und Ausländern auch an den Hochschulen. Wenn Sie aufhören, das Zuwanderungsgesetz in der Form zu blockieren, wie Sie es getan haben, dann ist die Chance, dass wir
Ausländerinnen und Ausländer für ein Studium in
Deutschland gewinnen können, noch viel besser.
({1})
Australien ist ein gutes Beispiel. Es ist richtig, dort gibt es
in der Tat eine starke Zunahme von Studierenden aus asiatischen Ländern. Parallel dazu ist - ähnlich wie in Österreich und in anderen Ländern - der Anteil australischer
Studierender aus sozial schwächeren Elternhäusern in den
Universitäten dramatisch zurückgegangen. Auch das ist
eine Folge des australischen Modells. Ich bitte Sie also,
nicht nur die eine Seite zu betrachten, sondern auch die
andere.
Zurück zu unserer Hochschulreform: Die erfolgreiche
Bilanz, die wir in diesem Zusammenhang nach vier Jahren vorzutragen haben, wird durch die heute zur Beratung
vorliegende weitere Novelle abgerundet. Ich weiß gar
nicht, was Sie daran herumkritteln.
Wir haben gesagt, wir machen eines nach dem anderen,
erst die vierte, dann die fünfte und anschließend die sechste Änderung des Hochschulrahmengesetzes; wir werden
die Probleme der Reihe nach angehen, die Sie uns in Form
eines Reformstaus hinterlassen haben.
({2})
Nach der Dienstrechtsreform wenden wir uns nun der
Frage der Studiengebühren und der Frage der verfassten
Studierendenschaft zu.
Meine Kolleginnen und Kollegen und insbesondere
Herr Kollege Friedrich, ich weiß nicht, wo Sie während
der Anhörung gewesen sind.
({3})
In wirklich beeindruckenden Worten haben uns die Studierenden Fälle geschildert, dass Studierendenvertreter
im Rahmen ganz normaler gesellschaftspolitischer Tätigkeit, die sogar zu ihren Studiengängen gehört hat, von
rechtsradikalen Studierendenorganisationen mit Prozessen wegen Veruntreuung und anderer Delikte überzogen
worden waren. Wir stoppen diesen Unfug und sagen: Es
gibt auch an der Hochschule eine Demokratie und Artikulationsmöglichkeiten.
({4})
Aus diesem Grund werden wir bundesweit dafür sorgen,
dass Studierende verantwortungsbewusst in demokratischen Gremien mitwirken. Sie tun es heute übrigens verantwortungsbewusster, als es zu Ihren Zeiten war. 1968
war ja nicht alles ganz in Ordnung, wie man gehört hat;
ich habe es von weitem verfolgt. Dagegen sind die heutigen Studierenden doch wirklich brav. Heute sind ein paar
Flugblättchen geflogen; aber das ist alles, was da gelegentlich geschieht. Wir sollten den heutigen Studierenden
nicht vorwerfen, sie würden das politische Mandat in irgendeiner Form missbrauchen. Wir geben es ihnen auch
nicht, sondern sie haben die Möglichkeit, sich hier ordnungsgemäß zu betätigen.
Ob Sie die Studiengebühren wollen oder nicht wollen, weiß ich nicht. Sie reden viel über Familiengeld, Sie
erzählen den Leuten, was sie alles kriegen. Ich glaube,
heute wäre es notwendig gewesen, klar zu sagen, was Sie
eigentlich wollen.
({5})
Wenn Sie ein Familiengeld wollen, was Sie angekündigt
und propagiert haben - ganz abgesehen davon, dass es
nicht finanzierbar ist -, und parallel dazu den Leuten sagen, dass Sie es ihnen über Studiengebühren an den Hochschulen wieder wegnehmen, wenn ihre Kinder studieren,
dann halte ich das für eine familienpolitische Rosstäuscherei. Das müssen Sie sich an der Stelle schon vorwerfen lassen.
({6})
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
({0})
Schade, ich muss zum Schluss
kommen.
({0})
- Danke für Ihren Beifall. Sie haben jetzt begriffen, wie
erfolgreich unsere Bilanz ist. Die Fragen, die uns zu Beginn der Legislaturperiode gestellt worden sind, haben
wir positiv beantwortet. Die Bilanz ist gut. Mit der heute
vorliegenden Novelle - ich bitte um Zustimmung schließen wir das Thema ab. Frau Kollegin Böttcher, Sie
haben immer kritisiert, wir würden unser Versprechen
nicht halten. Wir haben es gehalten.
({1})
Was uns verfassungsrechtlich möglich ist, machen wir.
Also loben Sie uns. Das muss nicht immer sein, aber sagen Sie nichts Falsches.
({2})
Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen
Nächsten: Das gilt auch für die PDS.
({3})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über
den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die
Grünen eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache
14/8361 zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8878, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der FDP vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/8905? - Gegenprobe! ({0})
Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der FDP ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der
PDS ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
dagegen ist, möge sich jetzt erheben. - Wer enthält
sich? - Bei gleicher Stimmenverteilung wie eben ist der
Gesetzentwurf angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8878 empfiehlt der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 14/8732 zur
Änderung des Hochschulrahmengesetzes für erledigt zu
erklären. - Sie sind alle für diese Beschlussempfehlung.
Dann ist es so beschlossen.
Nun kommt die Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8295 zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8878, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - An so einem Nachmittag müssen wir klare
Entscheidungen treffen. Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8878 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7077
mit dem Titel „Ein neues Hochschuldienstrecht für eine
moderne, leistungsfähige und attraktive Bildung und Forschung in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP
bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel - HerausJörg Tauss
forderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“
- Drucksache 14/8800 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Walter Link für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Schlussbericht
der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“,
den wir hier heute diskutieren, findet eine parlamentarische Arbeit von fast zehn Jahren, die sich über drei Wahlperioden erstreckt hat, ihren Abschluss. Frau Präsidentin,
das gibt mir die Gelegenheit, da Sie genau vor zehn Jahren als Vorsitzende den Startschuss gegeben haben, Ihnen
dafür heute herzlich zu danken.
({0})
Im Jahre 1992 hat die erste Enquete-Kommission ihre
Arbeit aufgenommen. Diese und die in der 13. Wahlperiode erneut eingesetzte Kommission haben im Juni 1994
und im September 1998 zwei umfangreiche Zwischenberichte vorgelegt. Der jetzige Bericht ist mit seinen neuen
Schwerpunkten zugleich ein Abschluss der zehnjährigen
Arbeit.
Mein besonderer Dank gilt darum den sachverständigen Mitgliedern unserer Kommission, die aus der gesamten Wissenschaft kommen und maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Arbeit erfolgreich abgeschlossen
werden konnte.
({1})
Die Damen und Herren Wissenschaftler, die zum Teil
zehn Jahre mitgearbeitet haben, sitzen bei der heutigen Debatte auf der Tribüne. Ihnen rufe ich besonderen Dank zu.
({2})
Ich weiß, dass der eine oder andere jetzt gern hier vorne
stehen und seine Erfahrungen schildern würde. Leider
lässt das die Geschäftsordnung unseres Hauses nicht zu.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog ist, dass man sich gegenseitig zuhört. Politiker und Wissenschaftler haben dies getan. So entstand
eine konstruktive Arbeitsatmosphäre. In der Tat gehört
das fruchtbare Zusammenwirken von Wissenschaft und
Politik, wie ich es als Vorsitzender der Kommission über
zwei Wahlperioden erlebt habe, für mich zu den nachhaltigsten positiven Erfahrungen in meiner politischen
Arbeit.
Mein besonderer Dank gilt auch jeder Mitarbeiterin
und jedem Mitarbeiter aus unserem Sekretariat, die, ohne
nach Zeit und Stunden zu schauen, stets vollsten Einsatz
gezeigt haben.
Angesichts von acht Jahren Vorsitz hat man viel zu
danken. Insofern will ich meinen Dank auch an die Sprecherinnen und Sprecher richten, die in den Obleute-Gesprächen immer sehr konstruktiv zusammengearbeitet
haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Altersstruktur in Deutschland wird sich in den nächsten Jahren
stark verändern. Immer weniger jungen Menschen stehen
immer mehr ältere Menschen gegenüber. Es ist schlimm,
wenn in diesem Zusammenhang von einer vergreisenden
oder vergrauten Gesellschaft oder gar von einem Rentnerberg gesprochen wird. Wir haben weder eine alte,
graue Gesellschaft noch einen Rentnerberg, sondern wir
haben Probleme, die mit den von der Kommission erarbeiteten Handlungsempfehlungen gelöst werden können.
Die rasanten Veränderungen wecken ebenfalls Befürchtungen im Hinblick auf die Beziehungen zwischen
den Generationen. Es wird vor einer Verschlechterung des
Verhältnisses zwischen Jüngeren und Älteren gewarnt.
Der Blick auf die tatsächlichen Beziehungen zeigt jedoch,
dass solche Befürchtungen wenig realistisch sind. In den
Familien machen sich die Folgen des demographischen
Wandels zwar bemerkbar. Dies hat sich jedoch nicht unbedingt nachteilig auf die gelebte Solidarität in der Familie ausgewirkt. Selbst wenn die Familienmitglieder nicht
mehr an einem Ort zusammenleben, bleiben die Kontakte
und die emotionalen Bindungen häufig eng. Das stimmt
mich hoffnungsfroh.
Politik muss darauf ausgerichtet sein, diese Bindungen
und dieses Hilfepotenzial zu stärken. Der Schlussbericht
der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“
analysiert und bewertet die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen anhand von fünf Themenbereichen. Diese sind: das Verhältnis der Generationen, Arbeit
und Wirtschaft, Zuwanderung und die Integration der Zugewanderten, die Alterssicherung sowie die Bereiche Gesundheit, Pflege und soziale Dienste. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um
für die Gesellschaft und den Einzelnen grundlegende,
sondern auch um hochaktuelle politische Tagesfragen
handelt. Umso mehr freut mich darum, dass von der Kommission die fachliche Analyse zu allen Themenbereichen
vorgenommen wurde. Sogar die politischen Handlungsempfehlungen wurden zu einem Großteil einvernehmlich beschlossen.
Allerdings haben der nahende Wahlkampf und die aktuellen politischen Kontroversen dazu beigetragen, dass
bei einigen Themen die unterschiedlichen Auffassungen
in Sondervoten zum Ausdruck kamen, so zum Beispiel bei
der Gesundheit oder bei der Zuwanderung. Trotzdem sind
die wesentlichen Unterschiede bei den Empfehlungen
nicht so groß, wie die Anzahl der Sondervoten im Bericht
es vielleicht vermuten lässt. An dieser Stelle fordere ich
schon jetzt den nächsten Deutschen Bundestag auf, unsere
Handlungsempfehlungen zu realisieren.
Die Ergebnisse der Kommission können dazu beitragen, die Diskussion über die Folgen des demographischen Wandels zu entdramatisieren. Eine optimale Bevölkerungsgröße und Altersstruktur gibt es nicht. Was es
gibt, ist die Herausforderung an die Gesellschaft und an
Vizepräsidentin Anke Fuchs
die Politik, veränderte demographische Rahmenbedingungen zur Kenntnis zu nehmen und sich ihnen zu stellen.
Handlungsbedarf für die Politik - das ist keine neue Erkenntnis - besteht bei vielen politischen Themen im Bereich der Wirtschaft und der Arbeit ebenso wie in den verschiedenen Zweigen der sozialen Sicherung. Überall
muss das Verhältnis der Generationen neu überdacht
werden.
Keine Frage: Der demographische Wandel in der Bundesrepublik Deutschland wird zu gravierenden Änderungen in allen Bereichen führen müssen. Es wird aber keine
Katastrophe geben, wenn jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Dies kann nur geschehen, wenn
es den Politikern zusammen mit den Wissenschaftlern gelingt, in den von mir genannten Politikfeldern zu einem
vernetzten politischen Handeln zu kommen; denn alle
Bereiche bedingen einander. Die Enquete-Kommission
„Demographischer Wandel“ legt in ihrem Schlussbericht
dar, dass die Politik diese Aufgaben bewältigen kann.
Zum Abschluss will ich noch einmal allen Mitgliedern
der Kommission ein herzliches Wort des Dankes sagen.
Wir haben, glaube ich, bewiesen - das sage ich mit einem
gewissen Stolz -, dass man die schwierigsten politischen
Themen in einer guten Atmosphäre aufgreifen und diskutieren kann, um die Ergebnisse zu erreichen, die Politik
und Wissenschaft gemeinsam umsetzen können.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Herr Kollege Link,
Sie haben mich freundlicherweise erwähnt. Das gibt mir
Gelegenheit, der ganzen Kommission sehr herzlich dafür
zu danken, dass sie meine Arbeit fortgesetzt hat. Es ist
eine wichtige Arbeit. Wir hoffen, dass alle Mitglieder des
Deutschen Bundestages den ganzen Bericht lesen und
sich zu Herzen nehmen. Dann würden wir parteiübergreifend eine gute Politik machen. Herzlichen Dank
für Ihr Engagement!
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Gabriele Iwersen für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! In zeitaufwendigen Diskussionen
ist nach gemeinsamen Denkansätzen gesucht worden.
Sondervoten waren nur bei wirklich unüberbrückbaren
Meinungsverschiedenheiten akzeptiert worden. Die elf
Sachverständigen als ständige Mitglieder der Kommission haben dazu beigetragen, dass Handlungsoptionen auf
wissenschaftlicher Grundlage jenseits von parteipolitischen Rangeleien und Spekulationen entwickelt werden
konnten. Von der Zusammenarbeit haben wohl alle profitiert; ich hoffe, auch Sie da oben. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Sachverständigen und bei den überaus
effizienten Mitarbeitern des Sekretariats bedanken.
Der von uns bearbeitete Zeitraum von fünf Jahrzehnten zwingt zu Objektivität, denn der Bericht stellt ein wissenschaftliches Fundament für die Zukunftsplanung dar.
Außerdem begleitet der Bundestag eine sich ständig wandelnde Gesellschaft, in der sich Werte und Normen ändern
und nicht nur der demographische Aufbau. Dieser aber
wird vieles beschleunigen, wird zu Veränderungen über
den aktuellen Handlungsbedarf hinaus zwingen. Das
Grundprinzip unserer demographischen Entwicklung ist
inzwischen weitgehend bekannt: Geburtenrückgang auf
ein Niveau von etwa einem Drittel unter dem
Generationenersatz bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung führt zu einer zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Ohne phasenweise erhebliche Zuwanderung
seit Kriegsende wäre die Bevölkerung in Deutschland
schon seit Anfang der 70er-Jahre zurückgegangen.
Betrachtet man den Zeitraum bis 2050, so kann man
feststellen, dass die Einwohnerzahl von heute 82 Millionen auf wahrscheinlich unter 60 Millionen sinken wird.
Das bedeutet: immer weniger Kinder, nur noch 27 Millionen Personen im erwerbfähigen Alter zwischen 20 und
60 Jahren im Vergleich zu heute, wo 46 Millionen erwerbsfähig sind. Nur heute bereits geborene Mädchen
können in 20 Jahren Mütter werden. Um die Bevölkerungszahlen stabil zu halten, müssten von 1 000 Frauen
2 080 Kinder geboren werden; es sind aber nur 1 370. Ein
durchgreifender Sinneswandel erscheint mir mehr als
unwahrscheinlich.
Wie aber steht es mit den Zuwanderern? Auch hier findet ein Wandel statt. Sowohl das Verhältnis von Zuzügen und Fortzügen wie auch das Geburtenverhalten der
Neubürger ändert sich ständig. Während bei den deutschen Staatsangehörigen die Anzahl der Zuzüge im Mittel von circa 200 000 im Jahr mit circa 116 000 Fortzügen
verrechnet werden muss - es entsteht also ein Saldo von
84 000 pro Jahr als Wanderungsüberschuss -, schwanken
die Zahlen bei ausländischen Staatsangehörigen erheblich. 1997 und 1998 zogen jeweils mehr Personen fort als
hinzukamen. 1997 zeigte der Wanderungssaldo ein Minus
von 22 000 und 1998 sogar von 33 000. Im Jahr 2000 dagegen war wieder ein Wanderungsüberschuss von 86 000
zu verzeichnen.
Auch die Geburtenhäufigkeit bei den ausländischen
Staatsangehörigen geht zurück. Wurden 1992 auf
1 000 deutsche Einwohner 9,5 Kinder lebend geboren, so
brachten 1 000 ausländische Mitbürger bei uns damals
15,8 Kinder zur Welt. 1999 dagegen sind nur noch 13 Kinder auf 1 000 ausländische Einwohner geboren worden.
Hier findet also ein sehr schneller Anpassungsprozess statt.
Auffällig ist die stetige Zunahme des Anteils von kinderlosen Frauen schon seit Jahrzehnten. Von dem Jahrgang 1935 blieben 9,2 Prozent der Frauen kinderlos. Von
dem Jahrgang 1960 werden es 23 Prozent sein. Das sind
also fast ein Viertel der Frauen.
Das hat nicht nur statistische Auswirkungen. Erkennbar wird die Teilung der Gesellschaft in zwei Gruppen mit
sehr unterschiedlichen Ansprüchen und Chancen. Das beginnt im Arbeitsleben, wo die Kinderlosen im Vorteil sind,
erscheint in der Statistik der gesetzlichen Krankenversicherung, weil Singles häufiger den Arzt bemühen, und
setzt sich bei den Alten und Hochbetagten ohne familiale
Beziehungen fort, für die jede Hilfeleistung viel Geld erfordert. Lesen Sie dazu das Kapitel „Gesundheit, Pflege
Walter Link ({0})
und soziale Dienste“. Prävention, Rehabilitation, Verzahnung, verbindliche Versorgungsziele und Personalentwicklung - das sind die entsprechenden Stichworte. Darüber sollten Sie sich genau informieren.
Es stellt sich die Frage, wie sich die Veränderung der
Altersstruktur mit der damit einhergehenden Verminderung der Zahl der erwerbsfähigen Personen auswirken
wird: als Vorteil, durch Abbau der Arbeitslosigkeit, oder
als Nachteil, weil diese Entwicklung zu einem Mangel an
Arbeitskräften führt oder Auslöser für sterbende Städte
und verödende Landstriche ist. Vielleicht liegt hierin auch
die Chance für eine neu zu gestaltende Umwelt einer
selbstbewussten Gesellschaft, die viele Wurzeln und viele
Gemeinsamkeiten hat.
Sie finden in unserem Bericht eine Betrachtung des
Generationenverhältnisses, weil hier eine wesentliche
Grundlage unseres in Jahrhunderten gewachsenen Gesellschaftssystems der gegenseitigen Verantwortung der
Generationen füreinander zum Ausdruck kommt. Obwohl
Probleme zwischen den familialen Generationen immer
zu politischen und kulturellen Generationenkonflikten
führen können, bleibt doch offensichtlich die Arbeits- und
Funktionsteilung zwischen den Generationen erhalten.
Davon zu unterscheiden ist das Generationenverhältnis,
das sich mit den Umverteilungszusammenhängen etwa
zwischen Erwerbstätigen und Rentnern auseinander setzt.
Das ist ein sich durchaus kritisch entwickelnder Bereich.
Zur Beschreibung der wechselseitigen, vor allem der
materiellen Abhängigkeiten und Leistungsverpflichtungen der verschiedenen Generationen hat sich der Begriff
„Generationenvertrag“ eingebürgert, auch wenn es kein
Vertrag im Sinne des BGB ist. Der Generationenvertrag
bezeichnet eine auf gesellschaftlichen Normen und Werten basierende und nur zum Teil gesetzlich festgelegte
Übereinkunft, derzufolge die mittlere Generation für den
Unterhalt sowohl der Kinder als auch der nicht mehr erwerbstätigen Älteren sorgt. Wurde dieses Vertragsverhältnis früher innerhalb der Familie erfüllt, handelt es sich seit
Einführung der Sozialversicherung um eine Umverteilung zwischen gesellschaftlichen Generationen im Laufe
eines vollständigen Lebenszyklus.
Das System bleibt nur lebensfähig, wenn das Prinzip
der intergenerationellen Solidarität aufrechterhalten
bleibt. Das heißt: Jedes Gesetzgebungsverfahren muss
unter dem Gesichtspunkt mittel- und langfristiger
Politikfolgenabschätzung erarbeitet werden. Nur so können wir die Solidarität zwischen den Generationen erhalten, ohne ständig aufzurechnen; denn wir müssen bedenken, dass im Jahre 2030 die geburtenstärksten Jahrgänge
im Rentenalter sind. Viele von ihnen haben dann noch
eine weitere Lebenserwartung von 20 bis 25 Jahren.
Das kann also nur funktionieren, wenn sich diese Generation darauf verlassen kann, dass sich die Jüngeren an
diesen Generationenvertrag halten. In diesem Zusammenhang sollten wir sehr sorgfältig überlegen, ob der
Umgang mit den Jüngsten und mit den Heranwachsenden
den zukünftigen Anforderungen entspricht.
Wir haben Grund zur Annahme, dass die Frauen heute
- und auch in Zukunft - ein immer stärkeres Interesse daran haben, ihre Existenz und damit auch ihre Altersversorgung selbst zu sichern. Das lässt sich mit dem Wunsch
nach eigenen Kindern nur dann gut verbinden, wenn eine
zuverlässige Kinderbetreuung öffentlich verantwortet
und vor allem gesellschaftlich akzeptiert wird. Beispiele
dafür finden wir in Skandinavien und Frankreich - alles
Länder, die höhere Geburtenraten und bessere PISABilanzen aufweisen.
({1})
Handelt es sich bei der Betreuung der Kleinen nur um
eine soziale Einrichtung, um die Eltern zu entlasten, oder
folgt die Erziehung einem Bildungsauftrag, der Chancengleichheit unabhängig von sozialer und ethnischer Herkunft vor dem Eintritt in die Grundschule schaffen soll?
Lesen Sie dazu bitte auch das Kapitel „Migration und Integration“; denn die Integration fängt bei den Kleinsten an.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat am 19. April
gezeigt, dass noch viel getan werden muss, bis Frauen in
Deutschland Beruf und Familie mit gutem Gewissen miteinander vereinbaren können. Stephan Dietrich schreibt
- ich zitiere -:
Katastrophal ist nicht das Fehlen von Krippenplätzen, wie Schröder meint, katastrophal könnte sich
ihre ausnahmslose Einführung auswirken. Niemand
kann übersehen, dass Jugendkriminalität, Gewaltbereitschaft und politischer Extremismus gerade dort
am besten gediehen sind, wo die angeblich erstrebenswerte Säuglingsbetreuung schon seit Generationen verwirklicht ist und sogar die DDR überdauert
hat.
Lassen Sie sich von solchen Kommentaren nicht von
Ihrem Weg abbringen!
Während eine allgemeine Akzeptanz der Kindergärten
stattgefunden hat, wird der ganztägige Besuch von Kindertagesstätten noch immer als Notlösung betrachtet. Die
Mutter, die dies verantwortet, gilt allzu schnell als karrieresüchtig oder wird als sozial schwach eingestuft und
damit in gewisser Weise abgestempelt.
Für die kommenden Jahre ist also nicht nur die Schaffung von mehr Plätzen wünschenswert. Dies wird jetzt
glücklicherweise von allen Fraktionen in diesem Hause
gefordert. Wünschenswert ist auch eine Ganztagsbetreuung für Kinder, die noch nicht schulpflichtig sind, und solche bis zum 12. Lebensjahr. Noch viel wichtiger ist aber
die gesellschaftliche Anerkennung berufstätiger Frauen
und einer pädagogisch wertvollen Erziehung für die
Jüngsten.
({2})
Unsere Gesellschaft wird es sich nicht mehr leisten können, 15 Prozent eines jeden Jahrgangs als nur bedingt förderfähig einzustufen.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ gehen
heute mit der Debatte über den Schlussbericht zu Ende.
Zwei Zwischenberichte und ein Schlussbericht zu einer
zentralen Zukunftsfrage liegen nun vor.
Auch ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich
bedanken: bei unseren elf Experten und meinen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen, aber vor allen Dingen auch beim Vorsitzenden, lieber Herr Kollege
Link, zum einen für Ausdauer und Beharrlichkeit, zum
anderen aber auch für engagiertes fachliches Streiten und
vor allem für Fairness - nicht immer, aber immer öfter.
({0})
Im Jahre 2010 werden über 300 000, im Jahre 2030 über
500 000 Personen in Deutschland mehr sterben, als geboren werden. Ohne weitere Zuwanderung werden die Bevölkerung in Deutschland bei gleich bleibender Geburtenrate bis zum Jahre 2050 auf weniger als 60 Millionen und
die Anzahl der Personen im erwerbsfähigen Alter von
heute 46 auf 27 Millionen sinken. Gleichzeitig nimmt die
Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich zu: bis
zum Jahre 2050 um mindestens vier Jahre. Dann wird sich
der Anteil der 80-Jährigen vervierfacht haben. Da weniger
Kinder geboren werden, wird im Jahre 2040 mehr als die
Hälfte der Bevölkerung 50 Jahre und älter sein.
Anschaulich ausgedrückt: Das Bild der Altersschichtung verändert sich von der bekannten Bevölkerungspyramide zum Bevölkerungspilz. Dies ist eine dramatische Entwicklung mit viel Sprengkraft und hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, auch auf die Lebensumwelt des Einzelnen und der Familie. Dies ist aber keine
Katastrophe, wenn die Politik jetzt richtig reagiert und
den Wandel gestaltet.
Im vorliegenden Schlussbericht wird die Entwicklung
des demographischen Wandels bis zum Jahre 2050 aufgezeigt und versucht, für alle relevanten Politikfelder Antworten und Empfehlungen zu geben. Alle im Bundestag
vertretenen Parteien haben sich bemüht - davon hat der
Vorsitzende berichtet -, die Handlungsempfehlungen der
Kommission gemeinsam, also möglichst über die Parteigrenzen hinweg, zu gestalten. Dies war in den meisten Politikfeldern möglich, in manchen etwas weniger.
So haben wir uns zum Beispiel im Kapitel „Arbeit und
Wirtschaft“ auf grundsätzliche Empfehlungen zur Verbesserung von Bildung und Ausbildung, zu Reformperspektiven der beruflichen Ausbildung sowie zur Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung verständigen
können. Das zeigt aber auch: Wir greifen zu kurz, wenn
wir die demographische Entwicklung nur unter dem
Aspekt des Alters sehen.
Im Elften Kinder- und Jugendbericht wurde aus diesem
Grunde der demographische Wandel und dessen Herausforderung für die Gesellschaft als ein Schwerpunkt herausgearbeitet und ein höherer Stellenwert sowie eine
größere öffentliche Verantwortung von Kinder-, Jugendund Familienpolitik, die eine Querschnittspolitik ist, gefordert. Kollegin Iwersen hat in diesem Zusammenhang
einige Punkte angerissen.
Wir greifen aber auch zu kurz, wenn wir Alter nur mit
Problemen gleichsetzen. Das Gegenteil wird der Fall sein:
Die Älteren bieten unserer Gesellschaft erhebliche Ressourcen. Deshalb ist für uns die Erhöhung der Arbeitsmarktchancen von älteren Menschen von ganz großer Bedeutung. Ihr erhebliches Arbeitsmarktpotenzial für die
Wirtschaft muss erschlossen werden. Eine betriebliche Innovationsfähigkeit ist weniger vom Alter, aber umso mehr
vom Qualifikationspotenzial der Belegschaft abhängig.
Den Vorsprung an Energie, Dynamik und Ehrgeiz der Jüngeren können die Älteren durch Wissen, Erfahrung und
Zuverlässigkeit, aber vor allem auch durch soziale Kompetenz ausgleichen.
Das erfordert eine neue Vorgehensweise der Wirtschaft
bei der Personalentwicklung. Der Jugendwahn muss ein
Ende haben. Es ist notwendig, von einer reaktiven Politik
zu einer präventiven, lebenslauforientierten und altersneutralen Politik der Beschäftigungsförderung und
-sicherung zu kommen. Daher sollten für ältere Arbeitnehmer zum Beispiel Erleichterungen beim Abschluss befristeter Arbeitsverträge geschaffen werden. Auch die
Instrumente des Arbeitsförderungsrechtes für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten überdacht und
die sozialrechtlichen Anreize zur Frühverrentung abgebaut werden.
Die Zuwanderung nimmt natürlich bei der Reaktion
der Politik auf die demographische Entwicklung einen
zentralen Platz ein. Hier konnte sich die Kommission
leider nicht auf ein fraktionsübergreifendes Konzept einigen, sodass die FDP-Bundestagsfraktion ihr Zuwanderungskonzept als Handlungsempfehlung in den Schlussbericht eingebracht hat.
Unabdingbar für eine gesellschaftlich akzeptierte Zuwanderung in der Bundesrepublik Deutschland ist ein
Dreiklang aus dem eigenen Interesse unseres Landes, der
Wahrung der humanitären Verpflichtung Deutschlands
und vor allem der Verbesserung der Integrationsbemühungen. Hierbei sollte sich Zuwanderung möglichst
flexibel und unbürokratisch am Arbeitsmarkt ausrichten.
Die FDP spricht sich für eine Integrationspolitik aus, die
zu einer gleichberechtigten Teilnahme der Zugewanderten am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in unserer Gesellschaft führt.
Im Bereich des Kapitels „Alterssicherung“ kommt es
uns darauf an, unsere grundsätzlichen Positionen deutlich
zu machen: Eine grundlegende Reform der Altersversorgung in Deutschland ist weiterhin dringendst notwendig. Auch nach der Rentenreform 2001 sind die unzureichende Generationengerechtigkeit, eine mangelnde
Beitragsstabilität, die fehlende Steuerbefreiung aller Versorgungsbeiträge sowie die deutlich zu komplizierte Gestaltung zu bemängeln.
Die FDP will eine moderne Altersvorsorge, die auf drei
Säulen fußt: erstens eine als Grundversorgung gestaltete
gesetzliche Rente, zweitens eine deutlich gesteigerte kapitalgedeckte private Rente und drittens eine betriebliche
Altersvorsorge.
Renten- und Steuerpolitik sind aber so verflochten, dass
nur durch grundlegende Reformen in beiden Bereichen die
Stabilität der Altersversicherung in Deutschland nachhaltig gewährleistet wird. Dieser Ansatz ist durch das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zur unterschiedlichen Besteuerung von Renten und Pensionen bestätigt worden.
Notwendig ist aus unserer Sicht jetzt eine durchgreifende
Steuerreform mit einheitlichen Steuersätzen für sämtliche
Einkommensarten. Dies gibt den Bürgern mehr Spielraum
für ihre persönliche kapitalgedeckte Eigenvorsorge.
Gestatten Sie noch ein Wort zum Kapitel „Gesundheit,
Pflege und soziale Dienste“. Die FDP-Bundestagsfraktion hat hier ein eigenes Votum abgegeben, weil sich unser Ansatz hier doch von allen anderen unterscheidet. Die
demographische Entwicklung stellt die gesetzliche
Krankenversicherung vor erhebliche Probleme, die
durch die kostenintensiven Auswirkungen des medizinischen Fortschritts noch verschärft werden. Beide Entwicklungen lassen Beitragssätze von über 20 Prozent erwarten. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben
gezeigt, dass die Beitragssätze trotz einer sich immer
schneller drehenden Spirale interventionistischer Maßnahmen nicht stabilisiert werden können. Die FDP steht
für eine Gesundheitspolitik, die den Wettbewerb zur Findung effizienter, patientengerechter Lösungen in den Mittelpunkt stellt, ohne dass dabei die soziale Schutzfunktion
infrage gestellt wird.
Auch im Bereich der Pflege ist aus unserer Sicht der
systematische Aufbau einer privaten kapitalgedeckten
Säule in der gesetzlichen Pflegeversicherung notwendig.
Herr Kollege,
ich muss Ihnen sagen, dass Sie Ihre Redezeit schon sehr
weit überschritten haben.
Mein letzter Satz: Der Schlussbericht nach zehn Jahre Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ zeigt eines ganz deutlich: Die Zeit
zu analysieren und zu debattieren ist vorbei. Wir müssen
jetzt handeln - konstruktiv, entschlossen und mit Konzentration auf das Wesentliche. Wir machen mit.
Danke.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie werden sich die Bevölkerungszahlen in
den nächsten 50 Jahren entwickeln? Wie wird der Arbeitsmarkt mit einem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials fertig? Oder: Wie können die sozialen Sicherungssysteme bei abnehmender Erwerbspersonenzahl
und zunehmender Zahl von Leistungsempfängern zukunftstauglich gemacht werden? Welchen Beitrag kann
dabei die Zuwanderung leisten? Das waren die Leitfragen
der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“.
Ein Blick in das Jahr 2050 zeigt: Die Bevölkerung wird
aufgrund der Geburtenrate von durchschnittlich nur etwas
mehr als 1,3 Kindern je Frau um mindestens 22 Millionen
abnehmen. Durch die gleichzeitig steigende Lebenserwartung - heute geborene Mädchen werden nach Professor Bomsdorf durchschnittlich 87 Jahre alt werden - wird
es eine gravierende Veränderung der Altersstruktur geben.
Deutschland schrumpft und ergraut. Oder - Herr Link, für
Sie etwas freundlicher -: Ohne Kinder sieht unsere Gesellschaft alt aus.
Sind heute 23 Prozent der Menschen über 60 Jahre alt,
wird deren Anteil im Jahre 2050 fast doppelt so hoch sein.
Auch wenn es einige immer noch nicht wahrhaben wollen: Um den Alterungsprozess unserer Gesellschaft abzumildern und um unseren Wohlstand zu erhalten, brauchen
wir Zuwanderung. - Kein Beifall?
({0})
In einem Gutachten für die Enquete-Kommission wurden 300 000 Personen pro Jahr vorgeschlagen. Aber die
Frage ist: Woher kommen sie? In den Jahren 1997 und
1998 verließen mehr Migrantinnen und Migranten
Deutschland, als zu uns gekommen sind. Erst 1999 gab es
einen positiven Saldo. Im Jahre 2000 waren es gerade einmal 86 000 Personen. Selbst bei einer jährlichen Nettozuwanderung von 100 000 Personen wird die Bevölkerung
bis 2050 um 17 Millionen Menschen zurückgehen. Künftig werden die Staaten um Migranten und Migrantinnen
konkurrieren. Da bin ich sicher. Auch deshalb brauchen
wir ein Zuwanderungsgesetz, das neben unseren humanitären Verpflichtungen auch Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen ermöglicht.
({1})
Eine weitere Antwort auf den demographischen Wandel wäre eine Erhöhung der Geburtenrate. Obwohl die
letzte Shell-Jugendstudie belegt, dass sich die meisten
jungen Paare Kinder wünschen, ist jede dritte 1965 geborene Frau kinderlos geblieben. Die Frauen sind in einen
stillen Gebärstreik getreten; die Bevölkerung und die Politik haben es nur noch nicht bemerkt. Die Frauen wollen
sich nicht entscheiden müssen zwischen Beruf oder Familie, sie wollen beides: Erwerbsarbeit und Kinder,
manchmal auch Karriere - wie Männer eben auch. Geht
das nicht, verzichten sie auf Kinder, wie wir sehen. Darum
ist Politik gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen,
sodass diejenigen, die einen Kinderwunsch haben, diesen
auch realisieren können.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schlussbericht
bestätigt in eindrucksvoller Weise die grüne Gleichstellungs- und Familienpolitik: Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, Kindererziehung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich Staat, Wirtschaft,
Gesellschaft und nicht zuletzt die Väter beteiligen. Flexible Arbeitszeiten für Eltern, flächendeckende ganztägige Kinderbetreuung und Ganztagsschulen sind das Gebot der Stunde. Damit wird endlich auch eine gerechtere
Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter
Familienarbeit zwischen den Geschlechtern möglich.
Länder mit einer höheren Frauenerwerbsquote, wie zum
Beispiel Frankreich oder die skandinavischen Staaten,
machen es uns vor. Nebenbei: Dort ist die Geburtenrate
höher als bei uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der immense Rückgang an Erwerbspersonen spätestens ab dem Jahre 2020
stellt die Arbeitswelt vor neue Herausforderungen. Eine
bessere Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials, das
heißt eine höhere Frauenerwerbsquote, ist durch mehr
Chancengleichheit und bessere Rahmenbedingungen für
ein Leben mit Kindern möglich. So könnte Deutschland
endlich seine Schlusslichtposition in Europa verlassen.
({3})
Aber auch bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen tragen wir in Europa die rote Laterne. Nur 38 Prozent der über 55-Jährigen sind erwerbstätig. Ursächlich dafür, so haben wir herausgefunden, ist
die seit vielen Jahren gehandhabte Frühverrentungspraxis, die den Staat horrende Summen an Steuergeldern gekostet und den demographischen Effekt verstärkt hat.
Jetzt suchen wir Lösungen, wie die Beschäftigung von
Älteren gesteigert und deren Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt nutzbar gemacht werden können. Eine ständige Aktualisierung des Wissens ist die Voraussetzung.
Lebenslanges Lernen darf nicht länger ein Schlagwort
bleiben. Darum brauchen wir mittelfristig auch eine Weiterbildungsoffensive mit Anreizen für Ältere. Bei einer
steigenden Lebenserwartung und entsprechender Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt müssen Ältere motiviert werden, länger im Erwerbsleben zu bleiben.
({4})
Heute gehen die Beschäftigten im Durchschnitt statt
mit 65 Jahren schon mit knapp 60 Jahren in den Ruhestand. Diese Lücke gilt es zunächst zu schließen. Aber
langfristig wird eine stufenweise minimale Erhöhung des
Renteneintrittsalters sowohl aus Arbeitsmarktgründen als
auch zur Aufrechterhaltung der sozialen Sicherung nicht
mehr auszuschließen sein. Das wird nicht zulasten der
jungen Menschen gehen, wie uns die Sachverständigen
bestätigten.
Vor 50 Jahren wurde ein soziales Alterssicherungssystem geschaffen, das auf dem Generationenvertrag aufbaute. Voraussetzung dafür war ein zahlenmäßig ausgewogenes Verhältnis zwischen der erwerbstätigen Generation,
die ihre Beiträge entrichtet, und der Rentnergeneration, deren monatliche Rente daraus finanziert wird. Dieses Umlagesystem funktioniert aber nur, wenn die Bevölkerungszahl und die Bevölkerungsstruktur relativ stabil bleiben.
Davon kann schon jetzt keine Rede mehr sein.
Ein Blick in das Jahr 2050 zeigt den erheblichen Reformbedarf eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems. Der Altersquotient, das ist die Altersgruppe
derjenigen, die 65 Jahre und älter sind, im Verhältnis zu
den 20- bis 64-Jährigen, also den Erwerbstätigen, wird
von heute 26 Prozent auf 62 Prozent im Jahre 2050 ansteigen. Der damit verbundene enorme Rückgang der
Zahl der Beitragszahler und Beitragszahlerinnen sowie
die enorme Verlängerung der Zeiten, für die Leistungsansprüche bestehen, bedeuten aber für ein Umlagesystem
den Kollaps. Es wird nicht mehr allein in der Lage sein,
den Lebensstandard der Rentnerinnen und Rentner im Alter zu sichern. Darum brauchen wir verschiedene Maßnahmen der Alterssicherungspolitik wie beispielsweise
ergänzende betriebliche oder private Formen und eine
Ausweitung des Versichertenkreises der gesetzlichen
Rentenversicherung. Erste Schritte wurden bereits mit der
Rentenreform 2001 gemacht.
Aber auch die Aufwendungen für Gesundheits- und
Pflegeleistungen werden, bedingt durch die demographische Entwicklung und den medizinisch-technischen Fortschritt, rapide steigen: Krankenversicherungsbeiträge von
25 Prozent und Pflegeversicherungsbeiträge von 5 Prozent sind für das Jahr 2050 keine Utopie.
Der Grund für die hohe Steigerung bei den Pflegeversicherungsleistungen ist die steigende Zahl der älteren pflegebedürftigen Menschen und die stärkere Inanspruchnahme
professioneller Hilfe. Familienangehörige, die heute vielfach die Pflege ihrer Eltern und anderen Verwandten übernehmen - heute noch zu 80 Prozent weiblich, also Töchter
oder Schwiegertöchter -, werden, entweder wegen eigener
Erwerbstätigkeit oder weil sie selbst schon zu alt sind, dann
nicht mehr in dem Maße wie heute zur Verfügung stehen.
Wenn eine 90-jährige Schwiegermutter von einer 68-Jährigen gepflegt werden muss, ist dies in vielen Fällen schon
schwierig. Darum sind auch hier Reformen unumgänglich.
Das Modell der Bündnisgrünen, eine steuerfinanzierte
Pflegeabsicherung einzuführen, wäre ein zukunftstauglicheres Mittel als das derzeitige Versicherungsmodell gewesen, da es bedarfsabhängig hätte gezahlt werden können. Der Staat hätte nur Personen mit geringem
Einkommen unterstützen müssen, was bei einem Versicherungsmodell nicht möglich ist.
Um den durch den demographischen Wandel hervorgerufenen Anforderungen in der Gesundheitspolitik
Rechnung zu tragen, müssen Prävention, Qualität und
Wirtschaftlichkeit ausgebaut werden. Wirtschaftlichkeitsreserven sollten über eine flexiblere Gestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen Krankenversicherungen und
Leistungserbringern sowie eine Verzahnung der ambulanten und stationären Behandlung erschlossen werden. In
einer Anhörung haben wir von den Sachverständigen
gehört, dass hier 25 Milliarden Euro einzusparen wären.
Warum nutzen wir dieses nicht?
Ich muss aber auch sagen: Ohne eine Ausweitung der
Versicherungspflicht und der Beitragsbemessungsbasis
auf weitere Einkommen wird das solidarische Krankenversicherungssystem langfristig nicht überleben.
Dies waren einige Antworten auf die durch den demographischen Wandel hervorgerufenen Fragen. Es bleibt
eine Vielzahl von Fragen übrig, zum Beispiel die: Wie
werden sich unsere Städte verändern, wenn immer mehr
Wohnungen leer stehen? Werden Spielplätze und Kindergärten zu Alteneinrichtungen umgebaut? Wird die Politik
den Interessenausgleich zwischen Jung und Alt leisten
oder wird sie nur auf die Mehrheit schielen? Werden die
Immobilien- und Kapitalmärkte zusammenbrechen, wenn
es ein Viertel weniger Konsumenten und Konsumentinnen gibt als heute? Hierauf hat die Politik bis heute noch
keine Antworten. Trotzdem muss sie sich darauf einstellen. Denn eines wird sie nicht sagen können: sie habe es
nicht gewusst.
Lassen Sie mich zu guter Letzt noch einen Dank aussprechen. Ich bedanke mich bei allen, die am Gelingen
dieses heutigen Berichts beteiligt waren, für die bündnisgrüne Fraktion insbesondere bei Margherita Zander und
Gudrun Honnef.
Recht herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Heidemarie Lüth.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Seit vielen Jahren versuchen
die Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen einen Hilferuf auszusenden: Schaut her, so wie hier im Bundestag
wird die altersmäßige Zusammensetzung ab 2020 in der
gesamten Bundesrepublik sein. Aber auf uns hört ja keiner.
({0})
Ich danke daher den Abgeordneten aller Fraktionen,
dass sie es für richtig hielten, über drei Wahlperioden hinweg diese Enquete-Kommission ins Leben zu rufen und
sie nicht nur mit Abgeordneten, sondern vor allem mit
Wissenschaftlern aus allen Bereichen zu besetzen, die gemeinsam an einem Thema gearbeitet haben, das in einer
Wahlperiode nicht zu bewältigen ist, nicht durch einen Antrag oder einen Aufruf und schon gar nicht über ein Wahlprogramm, egal, welcher Partei und welcher Fraktion.
({1})
In den gemeinsamen Beratungen in der Enquete-Kommission mit den Sachverständigen und Mitarbeitern habe
ich in den vergangenen Jahren viel mehr als in mancher
Debatte hier im Bundestag gelernt. Dafür meinen herzlichen Dank.
({2})
Demographischer Wandel hat für mich zunächst eine
familiäre Perspektive. Im Februar dieses Jahres wurde
mein zehntes Enkelkind, das dritte Kind meiner jüngsten
Tochter, geboren. Ich hatte als Mitglied dieser Kommission über Rahmenbedingungen aller Lebensbereiche
nachzudenken, die meinen Enkel von der Geburt bis zum
50. Lebensjahr begleiten; Rahmenbedingungen, die seiner Mutter die Hoffnung erhalten, dass ihr Sohn sie im
Jahr 2052 mit 81 Jahren im Rollstuhl durch ein Altersheim
fährt oder er - noch besser - die Möglichkeit hat, gemeinsam mit seinen Eltern in einem Wohnprojekt mehrerer Generationen zu leben; Rahmenbedingungen, die es
mir ermöglichen, bei strotzender Gesundheit und, wenn
nötig, bei guter Pflege bis ins hohe Alter das Leben meiner Kinder und Enkel begleiten zu können, möglichst
ohne Demenz.
({3})
Was wissen wir über den demographischen Wandel eigentlich genau? Wir kennen die Geburtenzahlen und
können nahezu exakt berechnen, wie lange wir leben. Ein
Sachverständiger hat das für einige von uns ganz brillant
und genau gemacht. Wir tappen aber im Dunkeln, wenn
es um die konkrete Frage des Bedarfs an Arbeitskräften in
den kommenden Jahren geht. Wir tappen im Halbdunkeln, wenn wir erfahren wollen, wie sich der Gesundheitszustand der Generationen in den kommenden Jahren
entwickeln wird. Letztlich wissen wir nicht, wie sich die
Menschen in den kommenden Jahren unter den neuen Gegebenheiten verhalten werden und verhalten können.
Im Gegensatz dazu kennen wir die Probleme von heute
und die der kommenden Wahlperiode. Nichts wäre fataler, als aus der Sicht von heute mit dem Handwerkszeug
von heute die Probleme der Jahre nach 2020 anpacken zu
wollen.
({4})
Noch fataler wäre es, den demographischen Wandel mit
einer Dramatik vor sich herzutragen, um heute den sozialen Sicherungssystemen den letzten Stoß ins Jenseits zu
versetzen.
({5})
Wenn wir aber wissen, dass die Bevölkerung in den
nächsten Jahren aufgrund der rückläufigen Anzahl der
Geburten, die pro Generation um ein Drittel sinkt, abnehmen wird und dies besonders in den neuen Ländern mit
der Abwanderung vieler junger Menschen und vor allem
selbstbewusster junger Frauen gekoppelt sein wird, dann
muss man schneller tätig werden und kann nicht sagen: In
30 Jahren wird sich das alles erledigt haben, dann haben
wir uns angeglichen.
({6})
Mit dem Schlussbericht und den Handlungsempfehlungen der Kommission an uns, den politischen Verantwortlichen, liegen auch die Minderheitenvoten meiner
Fraktion vor. Was wollten wir dabei bedacht wissen? Es
handelt sich nicht nur um Veränderungen in der Alterspyramide, sondern um einen Struktur- und vor allem auch
Bedeutungswandel des Alters. Es geht um mehr als nur
um einen qualitativen Zuwachs des Alters. Es geht nicht
nur um den Lebensabschnitt ab 60, sondern alle Lebensabschnitte und Bereiche sind hiervon betroffen. Mit einem Wort: Jede und jeder muss sich auf diesen Wandel
einstellen und auf ihn einlassen.
Politik gestalten für und durch ältere Menschen heißt
auch, die individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen
für ein unabhängiges und aktives Leben in einer differenzierten Gestaltung zu beachten. Akteure müssen dabei alle
Generationen sein. Demographische Entwicklung ist kein
unbekanntes Phänomen, sondern dieses Phänomen ist in
den nächsten Jahrzehnten durchaus planbar. So besteht
auch die Möglichkeit, die Politik darauf einzustellen.
Ziel muss es sein, Gerechtigkeit und Ausgleich innerhalb und zwischen den Generationen zu fordern und zu
fördern. Die Schwierigkeit besteht darin, die individuellen wie gesellschaftlichen Ebenen zu erfassen und die
Chancen und Risiken aller Generationen zu debattieren
und zu bestimmen. Dies muss auch deshalb geschehen,
weil der Umgang mit dem demographischen Wandel
mehr und mehr zur Überlebensfrage des Sozialstaates
wird. In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, wie
das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Familie zu regeln
ist. Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zwischen
Jung und Alt, Frauen und Männern sowie Einkommensschwachen und Besserverdienenden haben wir unter dem
Gesichtspunkt des demographischen Wandels genauer zu
betrachten.
Ein letztes Wort zu dem interfraktionellen Entschließungsantrag: Meine Fraktion wird diesen Antrag unterstützen. Ich habe namens meiner Fraktion keinen Nachantrag formuliert, da ich ein solches Spiel - keinen Antrag
gemeinsam mit meiner Fraktion, der PDS-Fraktion - derartig kleinkariert und politisch völlig sinnlos finde, dass
ich es nicht noch durch einen eigenen Antrag adeln
möchte.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christa Lörcher.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demographie ist
spätestens seit der Bevölkerungskonferenz in Kairo 1994
ein Thema in den Industrie- und den Entwicklungsländern - in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Manche
Regierungen haben die Bedeutung des Themas noch nicht
wirklich erkannt oder sie kennen sie, es wird aber nicht offen darüber diskutiert. Ein Beispiel: In Russland, wo die
Geburtenquote niedriger ist als bei uns und die Lebenserwartung der Männer bei 59 Jahren und die der Frauen
bei 72 Jahren liegt, leben 2,8 Millionen Kinder auf der
Straße. Offen darüber zu reden ist nicht erwünscht.
Die Situation bei uns: Schon vor Kairo wurde die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ eingesetzt. Nach zwei Legislaturperioden waren wir fast am
Ende der Arbeit. Es gab nur leider keine Einigung in Fragen der Alterssicherung und von Migration und Integration. Jetzt, nach einer weiteren Legislaturperiode Arbeit,
ist tatsächlich ein Abschlussbericht entstanden. Dafür
herzlichen Dank an alle, die dazu beigetragen haben. Das
waren nicht wenige.
({0})
Geburtenquote, Lebenserwartung und Wanderungsbewegungen beeinflussen Größe und Altersstruktur der Bevölkerung eines Landes. Geburtenquote und Lebenserwartung sind nur längerfristig beeinflussbar und bleiben
oft über Jahre hinweg weitgehend konstant. Wanderungen
in ein Land und aus einem Land sind dagegen eine Variable, die kurzfristig und sehr stark schwanken kann. Deswegen ist eine zukunftsweisende Regelung so dringend
nötig, damit für die Migrantinnen und Migranten wie auch
für die Aufnahmegesellschaft Perspektiven und Zusammenleben gestärkt werden.
Die Arbeitsgruppe Migration/Integration der EnqueteKommission hat in großer Einigkeit Daten und Analysen
erstellt. Ich danke allen, besonders Kai-Uwe Beger aus
dem Sekretariat, der die meiste Arbeit damit hatte. Einigkeit bestand bei der Bedeutung von Integration, Sprache,
Bildung, Ausbildung und Gesundheit für die persönliche
Entwicklung und die beruflichen Chancen der zu uns
Kommenden. Einigkeit gab es auch über die Notwendigkeit von mehr interkultureller Kompetenz in Bildungseinrichtungen und sozialen Diensten für Junge und Ältere.
Keine Einigkeit gab es - das verwundert nach der
Zuwanderungsdebatte in diesem Hause vor einigen Wochen nicht - bei so konkreten Fragen wie dem Nachzugsalter von Kindern, der Übernahme von Integrationskosten
oder zur Situation von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus.
Im Europarat wird über Demographie in vielen Zusammenhängen diskutiert. Im letzten Jahr haben wir eine
Entschließung zu demographischem Wandel und nachhaltiger Entwicklung verabschiedet. In dieser Woche haben wir einen Bericht zum Stand der Weltbevölkerung in
dem zuständigen Ausschuss beschlossen. Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, dass viele Länder den in
Kairo eingegangenen finanziellen Verpflichtungen bei der
Entwicklungshilfe nicht annähernd nachkommen. Leider
gehören auch wir dazu.
Vor wenigen Jahren wurde für alle Staaten ein Aktionsplan des Europarates mit der Zielrichtung: „diversity
and cohesion“ entwickelt, auf Deutsch: Vielfalt und Zusammenhalt. Die Vielfalt wird größer werden, weil die
Mobilität zunimmt, bei uns und in anderen Teilen der
Welt. Für den Zusammenhalt müssen jedoch wir sorgen;
Verantwortung haben Politik und Gesellschaft. Wir haben
mit dieser Aufgabe begonnen. Es ist ein langer und mühsamer Weg. Aber er ist ohne Alternative.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Arne Fuhrmann.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorweg zwei Wahrheiten:
Heidemarie Lüth, bei Einsetzung der Kommission war ich
zehn Jahre jünger.
({0})
Die zweite Wahrheit gilt Herrn Professor Dr. Naegele, der
irgendwo da oben sitzt: Dieser Bericht ist kein dicker
Schinken, sondern eine wohl zu verdauende Kleinigkeit
auf vorzüglich gefertigten Blättern, die leicht lesbar ist.
({1})
- Ja, Herr Haupt, man könnte sagen, es sind kleine, feine
Schinkenhäppchen.
Zu Beginn meiner Ausführungen sage ich denjenigen,
die aktiv mit uns gearbeitet haben, noch einmal meinen
herzlichen Dank: den Experten, wie unser Vorsitzender zu
sagen pflegt, und all denjenigen, die in den Fraktionen
und im Sekretariat für uns tätig waren. Ich wünsche ihnen
von Herzen viel Glück und eine schöne und für sie befriedigende Anschlusstätigkeit; denn die Arbeit der Enquete-Kommission ist mit dem heutigen Tage mehr oder
weniger beendet.
({2})
Friedrich der Große hat einen Absatz seines politischen
Testaments wie folgt abgefasst:
Diese Nation ist schwer und träge. Es sind zwei Fehler, gegen die die Regierung unentwegt ankämpfen
muss. Es sind die Massen, die sich auf euren Anstoß
hin in Bewegung setzen und die anhalten, wenn man
einen Augenblick nachlässt, sie anzustoßen. Niemand kennt etwas anderes als die Gewohnheiten seiner Väter, man liest wenig und ist kaum begierig danach, sich zu unterrichten, sodass alles Neue sie
erschreckt, und von mir, der ihnen immer nur Gutes
getan hat, denken sie, dass ich ihnen das Messer an
die Kehle setzen will, sobald es sich darum handelt,
eine nützliche Reform oder eine notwendige Änderung vorzunehmen.
So weit mein persönliches Vorwort, das ich einer Schrift
Friedrichs des Großen entnommen habe.
1992 wurde die Enquete-Kommission eingesetzt.
Diese Kommission hat sorgfältig gearbeitet. Sie hat die
Zukunft nicht ins Blaue hinein beschrieben und auch keinen futurologischen Exkurs zu Papier gebracht, sondern
sie hat sich an Schätzungen, Vorausberechnungen und
ganz vorsichtigen Prognosen orientiert und sich sachlich
fundiert und zurückhaltend geäußert. Sie ist für mich ein
Beispiel für sachbezogene und über die Jahre hinweg kontinuierliche Politikberatung, die deutlich macht, welche
dicken Bretter es zu bohren gilt.
Ein gutes Beispiel für eine stärkere Akzeptanz dieses
Themas in der Gesellschaft ist die Zustimmung der Bevölkerung zur Rentenreform; denn hier wurden bereits
praktische Konsequenzen aus der demographischen Entwicklung gezogen. Es wurde darauf geachtet, dass die
nachfolgende Generation nicht über Gebühr belastet wird.
Bei näherer Betrachtung der intergenerativen Umverteilung erweist sich sogar, dass die nachfolgenden Generationen eher entlastet werden, wenn wir diesen Weg kontinuierlich weiterbeschreiten.
({3})
Die Demographie wird zu unserem Schicksal. Es gibt
aber kein allgemeines, für alle Zeit und für alle verschiedenen Sozialsysteme gültiges Bevölkerungsgesetz. Damit ist auch die Möglichkeit eingeschränkt, langfristige
Aussagen über Fertilität und Bevölkerungsgröße bzw.
-struktur abzugeben. Wir sollten allerdings keine Ängste
schüren. Weder gibt es in einer freien, offenen Gesellschaft eine optimale Bevölkerungszahl noch darf es eine
irgendwie geartete Instrumentalisierung der Familie geben. Die Entscheidung für Kinder ist und bleibt
grundsätzlich eine private Angelegenheit.
({4})
Kinder dürfen nicht zum Armutsrisiko werden; darüber sind wir uns im Klaren. In diesem Zusammenhang
lohnt sich - das wurde bereits mehrfach gesagt - der Blick
auf unsere skandinavischen Nachbarn. Dort hat die Geburtenzahl absolut nichts damit zu tun, dass mehr Frauen
berufstätig sind. Dies hat offensichtlich auch August
Bebel schon geahnt, als er schrieb:
Intelligente und energische Frauen haben - von Ausnahmen abgesehen - in der Regel keine Neigung, einer größeren Anzahl Kinder als einer „Schickung
Gottes“ das Leben zu geben und die besten Lebensjahre im Schwangerschaftszustande oder mit dem
Kinde an der Brust zu verbringen.
Aus diesen Gründen ist eine unideologische, pragmatische und vernünftige Familienpolitik erforderlich.
({5})
Junge Familien wollen beides, nämlich Kinder und Beruf.
Darauf hat die Enquete-Kommission bereits in ihrem ersten und zweiten Zwischenbericht Rücksicht genommen.
Im Schlussbericht haben wir uns sehr ausführlich damit
beschäftigt.
Kofi Annan hat bereits vor der Konferenz von Madrid
das Wort einer „stillen Revolution“ in die Welt gesetzt.
Ulrich Klose sprach bereits vor zehn Jahren von einer
schleichenden Revolution. Meinhard Miegel spricht in seinem Buch „Die deformierte Gesellschaft“ von einer „Zeitbombe“. Ihr und unser Kollege Friedrich Merz schreibt in
seiner Festschrift für Rita Süssmuth vom „Altersbeben“.
Die Gesellschaft schrumpft insgesamt. Die Deutschen
sterben deshalb aber noch lange nicht aus. Viele reden
schon von Vergreisung und Überalterung. Diese Begriffe sind politisch unkorrekt und unüberlegt. Die Wortwahl ist bedenklich, weil in ihr der Kern einer negativen
und menschenfeindlichen Wertung deutlich wird, die das
Alter zur Angriffsfläche macht. Jeder Mensch hat in jedem Alter seine eigene Würde. Jedes Alter und jede Generation haben ihre jeweiligen Stärken und Schwächen.
Das Wort von der „Gesellschaft zwischen Rentnerschwemme und Jugendwahn“ mag wohl griffig formuliert
sein; es sagt über die tatsächlichen Herausforderungen
wenig aus.
({6})
Auf welche Entwicklung werden wir uns eigentlich einlassen müssen? Es wird ein anderes Wachstum geben, eine
andere Nachfrage, eine andere Wohnstruktur, ein anderes
Wohnumfeld, eine andere Stadtplanung, zum Teil Umbau
und Rückbau, weitere Hilfs- und Pflegenetze, Professionalisierung von Diensten aufgrund des Strukturwandels
der Familie. Auch das Ehrenamt wird wieder zu mehr Ehren kommen. Die abnehmende Bevölkerungsdichte bewirkt weniger Zersiedelung. Wahrscheinlich werden auch
die Umweltbelastungen zurückgehen. Hinzu kommen
natürlich die Fragen der Mobilität. Welche Anforderungen
stellen ältere Menschen an die Mobilität, und überhaupt,
wie kann man für Ältere ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben in Würde ermöglichen und gestalten?
Welche Voraussetzungen sind dafür, insbesondere auf
kommunaler Ebene, erforderlich? Welche Barrieren gilt es
abzubauen und - im übertragenen Sinne - welche möglichen Diskriminierungen müssen aus der Welt?
In der Zuwanderungsfrage - darauf ist mehrfach eingegangen worden - konnte sich die Enquete-Kommission
erwartungsgemäß nicht einigen. Dabei wissen wir, dass
durch eine gesteuerte Zuwanderung die Probleme der demographischen Alterung nicht gelöst werden können,
sondern allenfalls abgemildert werden. Allerdings sind
Migrationshindernisse auf dem Arbeitsmarkt immer noch
vorhanden. Egal, wo ausländische Mitbürger tätig sind:
Sie leisten einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt, zum
Wachstum, zum Steueraufkommen und leisten Beiträge
zur sozialen Sicherheit.
({7})
Bei allem Bemühen, das Ganze auf eine vernünftige
Schiene zu bringen, urteilt ein ausländischer Beobachter
im Hinblick auf die Zuwanderungsregelung allerdings
folgendermaßen:
Aus Sicht der Einwanderer, die Sie ins Land holen
möchten, kommt auf jeden Paragraphen, der zur Einwanderung einlädt, ein Dutzend Paragraphen, die
„Bleibt draußen!“ sagen.
Der Artikel hat bezeichnenderweise die Überschrift „Ihr
habt nichts zu bieten - Wer im Leben was will, will nicht
nach Deutschland“; er ist in der „FAZ“ vom 13. April
2002 zu lesen und stammt vom ehemaligen US-Offizier
und Autor Ralph Peters.
Auch im Bereich der Perspektiven des Gesundheitswesens gehen die Meinungen zwischen Koalition und
Opposition auseinander. Das ist gut so; denn es gibt keinen Königsweg zur Lösung der Probleme. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten. Sich mit diesen Möglichkeiten auseinander setzen lohnt.
Ich hoffe, dass insgesamt deutlich geworden ist, dass
der demographische Wandel, die demographische Alterung nicht von vornherein von Übel sind. Der demographische Wandel ist keine Katastrophe. Alter ist nicht
gleichbedeutend mit Krankheit, Pflegebedürftigkeit und
Siechtum, einem unheilvollen Schicksal oder einer düsteren Zukunft.
({8})
US-Werbestrategen verdeutlichen diesen Sachverhalt, indem sie die Älteren als „Silverkids“ bezeichnen und somit
wieder eine Verbindung zum Jugendkult schlagen. Allerdings ist mir die Sinnfälligkeit einer solchen Werbestrategie nicht ganz klar geworden. Die Amerikaner wissen offensichtlich nicht so ganz, was sie damit sagen wollen.
„Silverkids“ hat aber einen tollen Klang.
Die Arbeit der Enquete-Kommission ist zu Ende, aber
die politisch-parlamentarische Arbeit im engeren Sinne
muss weitergeführt werden. Wir müssen - die gesellschaftliche Dimension der demographischen Alterung
verlangt das auch - jetzt unsere Konsequenzen ziehen
und politische Entscheidungen treffen oder zumindest in
die Wege leiten. Dabei müssen wir uns auch grundsätzlich
Fragen und strukturellen Problemen zuwenden und neue
Antworten finden, die zukunftsfähig sind und die zugleich
Rücksicht auf kommende Generationen nehmen.
Entscheidend wird sein, dass Politikerinnen und Politiker aller Fraktionen, in allen Parlamenten und in jeder
Position begreifen, dass demographischer Wandel nicht
nur ein Schlagwort ist, mit dessen Hilfe politische Zustimmung, Ablehnung oder Verschiebung möglich, sondern real ist. Der demographische Wandel wird unsere
Gesellschaft weltweit beeinflussen und verändern. Je eher
wir darauf reagieren, umso mehr können wir an seiner Gestaltung teilnehmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Andreas Storm.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Über das Thema demographischer Wandel wurde drei Legislaturperioden lang diskutiert. Auch ich möchte zunächst den Kollegen für die Arbeit
in dieser Kommission, vor allen Dingen den Sachverständigen und den Mitarbeitern im Sekretariat sehr herzlich
danken.
Der demographische Wandel kommt, so war schon zu
hören, als Revolution auf leisen Sohlen. Droht gar ein
„Altersbeben“? Was macht die Dramatik der Situation
aus? Es sind zunächst einmal drei grundsätzliche Trends,
mit denen sich unser Land in den nächsten Jahrzehnten
auseinander setzen muss:
Der erste Trend ist eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung. Derzeit hat Deutschland etwa 82,5 Millionen
Einwohner. Die mittleren Varianten der Prognoserechnungen, die der Kommission vorgelegen haben, besagen,
dass Deutschland in fünf Jahrzehnten etwa 65 bis 70 Millionen Einwohner haben wird. Sterben die Deutschen aus,
wie es in manchen dramatisch klingenden Buchtiteln behauptet wird? Im Jahr 1950, also vor fünf Jahrzehnten,
hatte Deutschland ebenfalls 69 Millionen Einwohner auf
dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik.
Ist das, was uns bevorsteht, also nur eine Umkehr der
Entwicklung der letzten fünf Jahrzehnte? Ganz so einfach
ist es nicht, denn die Altersstruktur - das ist der zweite
Trend - ändert sich dramatisch; das ist heute schon mehrfach zum Ausdruck gekommen: Die Anzahl älterer Menschen nimmt deutlich zu. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland wird sich bis zum Jahr 2050 auf
48 Jahre - derzeit liegt es bei 41 Jahren - erhöhen. Wir
werden vor allen Dingen nicht nur viel mehr Menschen
haben, die dann im Ruhestand sind, sondern auch wesentlich mehr Menschen, die hochbetagt sind. Die Anzahl der
über 80-Jährigen wird von 5,8 Millionen auf über 11 Millionen im Jahr 2050 steigen.
Ein dritter Trend kennzeichnet diese Entwicklung.
Dieser Trend ist die Abkehr von der Dreigenerationenfamilie, hin zu Singlehaushalten. In der Stadt Frankfurt
am Main lebt die Mehrheit der Bevölkerung bereits in
Singlehaushalten. Was bedeutet das für eine Gesellschaft,
die in dem Ausmaß wie die deutsche altert und in der immer mehr Menschen in Singlehaushalten leben? Das
macht deutlich, dass in der Tat eine Umwälzung stattfindet - wir befinden uns eigentlich schon mittendrin -, die
alle Bereiche des Lebens erfassen wird. Sie wird beispielsweise auch die Wohnungsbaupolitik beeinflussen.
Wir müssen uns darauf einrichten, dass es in den nächsten Jahrzehnten insgesamt zwar weniger Menschen, allerdings wesentlich mehr ältere Menschen geben wird, die
auf der einen Seite unmittelbar nach dem Eintritt in den
Ruhestand für lange Zeit sehr aktiv sein können, später jedoch, als Hochbetagte, wesentlich mehr als in der Vergangenheit auf die Hilfe von anderen angewiesen sein werden.
Wohnformen wie betreutes Wohnen werden eine Rolle
spielen. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob
wir, extrem ausgedrückt, „Altengettos“ oder eine Vermischung der älteren mit der jüngeren Generation wollen?
({0})
Dass diese Auswirkungen alle Lebensbereiche betreffen, können Sie sich etwas augenzwinkernd anhand eines
Beispiels verdeutlichen: In der Werbung dominieren heute
die Dreißigjährigen, die angeblich so Dynamischen, Agilen, während 2035 wahrscheinlich die Fünfundsechzigjährigen auch in diesem Bereich dominieren werden, weil
sie die größte Konsumentengruppe sein werden. Das Interessante daran ist, dass es vermutlich die gleichen Models wie heute sein werden, die dann mit gealtert sind.
({1})
Was bedeutet das für die Hauptbereiche der Politik? Wir
müssen uns in den nächsten Jahren auch im Deutschen
Bundestag des Bereiches Arbeitsmarkt annehmen. Seine
Entwicklung wird davon geprägt sein, dass - beginnend
in etwa zehn bis 15 Jahren - wesentlich mehr Menschen
aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als Jüngere nachrücken werden. Dann wird es entscheidend darauf ankommen, dass ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt
eine Chance haben.
Warum ist die Situation für ältere Arbeitnehmer heute
so dramatisch, dass Arbeitslose, die 55 Jahre oder älter
sind, faktisch keine Chance mehr haben? Das hat vor allen Dingen zwei Gründe. Zum einen gibt es massive sozialrechtliche und finanzielle Anreize für Unternehmen,
sich von älteren Arbeitnehmern zu trennen. Dieser Trend
muss gestoppt werden.
({2})
In dieser Hinsicht gab es Gott sei Dank Einvernehmen in
dieser Enquete-Kommission.
Ein Beispiel hierfür ist die geblockte Altersteilzeit. Als
man Altersteilzeitmodelle einführte, lag dem der Gedanke
zugrunde, dass man langsam aus dem Erwerbsleben ausgleiten, die Arbeitszeit schrittweise bis zum 65. Lebensjahr
abbauen soll, dabei aber die Erfahrung der Älteren auch
den Jüngeren im Betrieb zur Verfügung stehen soll. Modelle, nach denen man beispielsweise bis zum 60. Lebensjahr Vollzeit arbeitet und danach überhaupt nicht mehr, jedoch in der gesamten Zeit ein reduziertes Einkommen
erhält, waren als absolute Ausnahme gedacht. Dies ist aber
zum Regelfall geworden. Modelle mit geblockter Altersteilzeit stellen eine Perversion des Gedankens des Ausgleitens aus dem Arbeitsleben dar. Deswegen sollte unter
diese Praxis sehr rasch ein Schlussstrich gezogen werden.
Es gibt einen weiteren Grund, warum die Älteren im
Moment keine Chance haben. Er besteht in dem weit verbreiteten Eindruck, ältere Arbeitnehmer seien den sich
rasch wandelnden Anforderungen im Arbeitsleben
nicht mehr gewachsen. Dieser Eindruck ist oftmals falsch.
Manches Mal stellt allerdings der technologische Wandel
in der Tat Anforderungen, die permanente Weiterbildung
erfordern.
Deshalb ist es nicht nur für die Älteren wichtig, dass
wir dem Thema „Lebenslanges Lernen“ in der Politik eine
ganz andere Priorität einräumen, als das bislang der Fall
gewesen ist. Von jemandem, der mit 28 Jahren zum letzten Mal eine Weiterbildungsphase durchlebt hat, kann
man kaum erwarten, dass er mit 58 Jahren noch einmal
mit Erfolg Weiterbildung absolviert. Deswegen müssen
regelmäßige Weiterbildungsphasen zum Standard werden. Die Art und Weise, wie wir das in Deutschland organisieren und finanzieren, muss nach der Bundestagswahl
ein Topthema sein.
({3})
Employability, über die im angelsächsischen Raum immer wieder diskutiert wird - in Deutschland gibt es dafür
kaum ein Wort; „Beschäftigungsfähigkeit“ trifft das Gemeinte eigentlich nur näherungsweise -, also Überlegungen dazu, wie man Arbeitnehmer beschäftigungsfähig
halten kann, müssen ebenfalls zum Gegenstand unserer
Arbeitsmarktpolitik werden. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass auch die Qualität der Ausbildung der jungen
Menschen deutlich verbessert werden muss - die PISAStudie hat das angemahnt -, denn wenn junge Menschen
heute schlecht ausgebildet werden, dann sind, drastisch
gesprochen, die Langzeitarbeitslosen von morgen vorprogrammiert.
Ein ganz wichtiger Punkt, die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, wurde bereits angesprochen. Die Arbeit der Kommission in den letzten Jahren hat eines deutlich gemacht: Es gibt zwar in allen europäischen Ländern einen Grundtrend, dass die Geburtenrate in den
70er-, spätestens aber in den 80er-Jahren gegenüber der
Ausgangssituation nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich
zurückgegangen ist. Einige Länder haben es jedoch geschafft, diesen Grundtrend wenn nicht umzukehren, so
doch zumindest zu stoppen, beispielsweise in Skandinavien. Alle diese Länder haben es verstanden, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser zu ermöglichen, als
es bei uns der Fall ist. Deswegen brauchen wir auch an
dieser Stelle ein Umdenken.
({4})
Stichwort „Alterssicherung“. In den letzten Jahren
wurde sehr viel Vertrauen in die Verlässlichkeit der
Rentenpolitik, aber auch der anderen Alterssicherungssysteme zerstört. Aussetzen von Rentenanpassungsformeln, Absenken der Schwankungsreserven - all dies ganz
kurzfristig. Ein wichtiges Ergebnis der Kommissionsarbeit war, dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg die
Forderung erheben: Es soll ein unabhängiger Alterssicherungsrat eingerichtet werden, der in wichtigen rentenpolitischen Fragen gehört werden muss, zum Beispiel immer
dann, wenn die Rentenformel, die Altersgrenzen, die Beitragssätze oder die Regelungen zur Schwankungsreserve
geändert werden sollen. Meine feste Überzeugung ist,
dass wir es nur dann, wenn wir ein solches unabhängiges
Expertengremium mit wichtigen Befugnissen einschalten, schaffen werden, das Vertrauen in die Alterssicherungspolitik zurückzugewinnen.
Stichwort „Gesundheitspolitik“. Hier hat die Anhörung der Kommission gezeigt, dass wir vor wirklich dramatischen Entwicklungen stehen, weil der demographische Wandel im Gesundheitswesen mit der expansiven
Tendenz des medizinisch-technischen Fortschritts zusammentrifft und sich beides wechselseitig verstärkt. Die
Konsequenz ist, dass ohne strukturelle Reformen die Beitragssätze auf Größenordnungen von über 20, wenn nicht
gar 30 Prozent des Bruttoeinkommens explodieren würden, also eine Verdopplung gegenüber heute im Zeitraum
bis 2040 nicht mehr unrealistisch ist.
Ähnlich dramatisch ist die Entwicklung auch in der
Pflege. Nach den Berechnungen des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2050 von heute 1,9 Millionen auf
4,7 Millionen ansteigen. Aber wir haben bereits heute
massive Probleme. Beispielsweise sind die Leistungen
der Pflegeversicherung seit 1995 nicht mehr angehoben
worden. Das bedeutet eine schleichende Entwertung dieser Leistungen. Das macht sich mittlerweile auch darin
bemerkbar, dass der Anteil der Sozialhilfeempfänger unter Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen seit
1998 dramatisch gestiegen ist. Er lag 1998 bei 160 000
und liegt mittlerweile bei über 200 000. Deswegen ist eine
wichtige Forderung der Kommission, dass die Leistungen
der Pflegeversicherung an die Kostenentwicklung seit
1995 angepasst und in Zukunft regelgebunden dynamisiert werden müssen.
Außerdem ist es wichtig, dass die Überlegungen, Krankenversicherung und Pflegeversicherung besser miteinander zu verzahnen, als das bisher der Fall ist, vom
nächsten Bundestag aufgegriffen werden, sogar die Überlegung, ob man in einem späteren Schritt nicht beide Sozialversicherungssysteme zusammenfassen soll.
Stehen wir vor einem Altersbeben? Ob es so kommt
oder nicht, hängt ganz wesentlich auch von uns und von
den Abgeordneten des künftigen Bundestages nach dem
22. September ab. Die Aufgabe der Enquete-Kommission
war es, das Themenfeld umfassend wissenschaftlich zu
analysieren und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Diese
Handlungsoptionen haben wir aufgezeigt. Es ist nicht zu
spät. Wir können alles dafür tun, dass es nicht zu einem
Altersbeben kommt, sondern dass das Verhältnis zwischen den Generationen partnerschaftlich sein wird, dass
es durch Vertrauen zueinander geprägt sein wird. Aber
dafür müssen wir gemeinsam handeln. Es liegt an uns.
Packen wir es an!
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Andrea Nahles.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Kolleginnen und Kollegen! Das Generationenverhältnis weiter zu verbessern, war im Bericht der EnqueteKommission ein Kapitel wert. Deswegen erlaube ich mir
heute, das Generationenverhältnis der Familie Nahles ein
bisschen aufzuwerten und meine Eltern zu begrüßen, die
auf der Besuchertribüne Platz genommen haben.
({0})
Ich möchte mich auf das Kapitel Arbeit und Wirtschaft
konzentrieren. Es gibt einen Zielkonflikt, nämlich eine
sehr unterschiedliche Entwicklung, die sich in zwei Phasen darstellen lässt. Bis zum Jahre 2010 werden wir einen
Arbeitskräfteüberhang haben. Damit wird das Problem
einer strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland eine
der wesentlichen Herausforderungen unserer Politik sein.
Nach 2010 - in Schritten, spätestens aber 2020 - werden
wir wahrscheinlich dem umgekehrten Problem, nämlich
einer Arbeitskräfteknappheit, einem Fachkräftemangel,
ins Auge blicken müssen. Daher könnte es kurz- und langfristig dazu kommen, dass politische Zielvorgaben in
Konflikt geraten. Ich will das an dem Beispiel der älteren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich machen.
Die Erwerbsbeteiligung von Älteren nimmt zurzeit ab.
Vorruhestandsregelungen haben in den letzten Jahren
dazu beigetragen, dass junge Arbeitnehmer in die Betriebe nachrücken konnten. Mittelfristig aber kann diese
Politik nicht fortgeführt werden. Wir haben einen Konsens darüber erzielt, dass wir den Weg, der in NRW beschritten wurde, nämlich den Strukturwandel über Vorruhestandsregelungen zu bewältigen, in dieser Form auch
aus Kostengründen nicht weitergehen können. Gleichwohl müssen wir darauf achten, dass wir den jungen Menschen nicht die Zugangschancen und Zukunftschancen
auf dem Arbeitsmarkt verbauen.
Das bedeutet für mich aber nicht unbedingt, dass man
jetzt damit beginnt, Herr Storm, Altersteilzeit einfach aufzugeben.
({1})
Das Problem muss vielmehr intelligenter gelöst werden.
Ich meine, die von uns vorgeschlagene Beschäftigungsbrücke Ost, die vorsieht, dass sowohl junge Menschen
als auch ältere Beschäftigte Teilzeit arbeiten, ist ein sehr
intelligentes Modell, um genau diesen Konflikt zu lösen.
({2})
Die Frauenerwerbsquote hat in Deutschland leider
ein mediterranes Niveau, das heißt ein schlechtes. Die
Quote liegt im Osten immerhin noch bei 72 Prozent, im
Westen dafür aber nur bei 57 Prozent.
({3})
Das ist etwas, was wirklich nicht so bleiben kann und was
auch den Lebensansprüchen von jungen Frauen überhaupt nicht gerecht wird.
({4})
Interessant ist, dass unsere Untersuchungen ergeben
haben - wie dem Bericht zu entnehmen ist -, dass allein
die Verbesserung der finanziellen Situation von Frauen
und Familien nicht zu einer höheren Erwerbsbeteiligung
von Frauen führt, sondern dass nur dann mehr Frauen eine
Erwerbstätigkeit aufnehmen, wenn auch die infrastrukturellen Voraussetzungen verbessert werden, wenn Kinderbetreuung, Horte, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen zur Verfügung gestellt werden.
({5})
Ich als Rheinland-Pfälzerin darf an dieser Stelle sagen:
Das ist eine Sache, die erwiesenermaßen von der Bevölkerung positiv aufgenommen wird. Deswegen werden wir
in der nächsten Legislaturperiode 4 Milliarden Euro zur
Schaffung von 10 000 zusätzlichen Ganztagsschulen in
Deutschland bereitstellen. Das ist bereits ein positives
Ergebnis aus dem Bericht, das sich in Form von Handlungen zeigt.
({6})
Man könnte jetzt einwenden, wenn mehr Frauen arbeiten, dann versperren sie in den nächsten zehn Jahren
womöglich den jungen Leuten die Chance, einen Arbeitsplatz zu finden. Ich sage einmal, was die Ergebnisse unserer Untersuchungen sind.
In den Ländern, in denen es eine hohe Frauenerwerbsquote gibt, gibt es geringe Arbeitslosenzahlen; dies zeigt
ein Blick nach Skandinavien. Warum ist das so? Weil
die Frauen, die arbeiten, die Eigenarbeit zu Hause stark
zurückfahren. Das heißt, personenbezogene und haushaltsbezogene Dienstleistungen werden stärker nachgefragt. Bezahlte Frauenarbeit ist Triebfeder für den Dienstleistungssektor. Auch das ist eine positive Konsequenz,
die wir aus unserem Bericht ziehen können.
({7})
Ich möchte hervorheben, dass wir sehr viel Einigkeit erreicht haben. Das stimmt mich für die Arbeit nach dem
22. September sehr hoffnungsfroh. Auch bei der Qualifizierung sind wir uns einig. Sie nutzt denen, die heute ihre
Jobchancen verbessern wollen, aber sie ist auch das
Zukunftskapital einer alternden Gesellschaft. Eine hohe
Frauenerwerbsquote ist nicht nur der Wunsch der Frauen,
sondern sie ist auch dringend geboten, wenn die Arbeitskräfteknappheit ab 2020 voll zuschlägt. Die Zuwanderung
muss geregelt erfolgen, ja; aber sie muss erfolgen, und zwar
jetzt, weil es Zeit braucht, bis wir sie erreicht haben.
({8})
Außerdem brauchen wir einen Chancenausgleich zwischen Jung und Alt, wie wir ihn mit der Beschäftigungsbrücke Ost schaffen.
Letzte Bemerkung. In Rheinland-Pfalz gibt es eine Gesellschaft zur Förderung des Lesens, die auch Vorschläge
annimmt, was man lesen kann. Ich denke, im Sinne des
ganzen Hauses zu sprechen, wenn ich diesen Bericht zum
Lesen vorschlage, und hoffe, dass das gute Früchte trägt.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe damit die Aussprache.
Ich gehe davon aus, dass Sie den Schlussbericht auf
Drucksache 14/8800, wenn auch noch nicht gelesen, so
doch zur Kenntnis genommen haben.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache
14/8881. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit einstimmig angenommen
worden.
({0})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wolf-Michael
Catenhusen, Andrea Fischer ({1}) und weiteren
Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes
im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung
menschlicher embryonaler Stammzellen ({2})
- Drucksache 14/8394 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4})
- Drucksache 14/8846 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Hans-Josef Fell
Angela Marquardt
Es liegen inzwischen vier Änderungsanträge vor. Ich
weise darauf hin, dass wir voraussichtlich über einen der
Änderungsanträge sowie über den Gesetzentwurf namentlich abstimmen werden. Das ist jedenfalls der letzte
Stand.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Damit ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Margot von Renesse.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach einer wirklich großen Debatte, mit der er nach
allgemeinem Urteil Ehre eingelegt hat, hat der Deutsche
Bundestag am 30. Januar 2002 die Frage des Imports von
embryonalen menschlichen Stammzellen entschieden so dachten jedenfalls alle. Wir hatten als Initiatoren des
Antrags, der die Mehrheit bekam, diese Entscheidung als
Auftrag begriffen und legen unsere Erledigung hiermit
vor.
Zunächst haben wir einen Auftrag erfüllt, nämlich den,
das Gesetz unverzüglich vorzulegen. Wann hat es das
schon einmal gegeben, dass die Legislative, die Parlamentarier selbst, das Gesetz machen, wie sich das nach
der Verfassung gehört? - Eine großartige Erfahrung. Sie
gehört zu den Highlights meines politischen Lebens.
({0})
Dennoch wird uns vorgeworfen, wir seien von dem Beschluss abgewichen. Damit will ich mich auseinander setzen, wenn ich Ihnen hier Rechenschaft darüber ablege, inwieweit wir den Parlamentsauftrag erfüllt haben - loyal,
wie sich das für diejenigen gehört, die als Mitglieder
dieses Hauses die Entscheidung umzusetzen haben und
hatten.
Im Zentrum der Entscheidung steht der Satz, den, wie
wir wissen, nicht nur dieses Haus, sondern auch die Bevölkerung mehrheitlich teilt: Für deutsche Forschung hat
kein Embryo sein Leben zu lassen. Diesen Satz umzusetzen, und zwar so, dass er im In- und Ausland, soweit es
uns möglich ist, gilt, jedenfalls durch Deutsche nicht gebrochen wird, war unser Auftrag. Ihn haben wir erfüllt.
Aber auch die embryonalen Stammzellen sind ethisch
nicht unproblematisch, auch in den Augen der Mehrheit
nicht, die diesen Beschluss getragen hat, und zwar deswegen nicht, weil, wenn sie auch nach der Verfassung
nicht, wie Embryonen für viele in diesem Hause, unantastbar sind, da sich aus den embryonalen Stammzellen
kein ganzer Mensch mehr entwickeln kann, hinter ihnen
doch der Tod eines Embryos steht. Dieses bedeutete für
uns, dass wir sowohl den Stichtag halten mussten, um sicherzustellen, dass der von mir vorhin zitierte Satz eingehalten wird, als auch Bedingungen und Regeln aufstellen
mussten, die die Verwendung von embryonalen Stammzellen, so weit sie schon existieren, an strenge Voraussetzungen knüpft.
Jetzt komme ich zu den Vorwürfen.
Der erste Vorwurf galt dem Beschluss des Bundestages, was den Begriff der elterlichen Zustimmung angeht.
In meinen kühnsten - ich muss schon sagen - Albträumen
hätte ich als Familienrechtlerin nicht gedacht, dass dieser
Begriff familienrechtlich verstanden wird, nämlich als die
Zuerkennung eines Verfügungsrechts der Eltern über das
Leben des eigenen Nachwuchses. Ich befinde mich in bester Gesellschaft: Auch die Justizministerin und der Parlamentarische Staatssekretär im Justizministerium, Professor Pick, kamen nicht auf diese Idee.
Gleichwohl mussten wir diesen Vorwurf ernst nehmen;
denn auch Benda, eine gewichtige Stimme in der bioethischen Debatte, teilte diese Bedenken hinsichtlich der
Missverständlichkeit einer solchen Formulierung. Seinem Rat sind wir gefolgt und haben den Begriff „elterliche Zustimmung“ - ich gebe gerne zu: entgegen dem
Bundestagsbeschluss - wegen des Verdachts der Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung nicht verwendet. Wir
haben daher auf den Ordre public verwiesen, nämlich auf
die tragenden Grundlagen und Grundsätze der deutschen
Rechtsordnung, zu denen als einer der klassischsten und
feststehendsten Grundsätze im Medizinrecht das Prinzip
gehört, dass ohne den Informed Consent keine Manipulation an Körper und Körpersubstanzen eines Menschen
möglich sind. Es handelt sich also um eine klare Angelegenheit. In diesem Punkt gibt es keine Aufweichung, sondern eher eine Verschärfung des Bundestagsbeschlusses,
weil mit dem Ordre public auch noch andere Grundsätze
gemeint sein können.
Zweiter Vorwurf. Es wird uns vorgeworfen, wir seien
vom Bundestagsbeschluss abgewichen. Der vorgesehene
§ 13 Abs. 3 hätte im Zusammenhang mit § 9 Abs. 2 Satz 2
des Strafgesetzbuches eine verquere Wirkung zur Folge
gehabt. Wir hätten dem Bundestagsbeschluss Genüge getan, wenn wir nur den Import verboten hätten. Wir haben
aber mehr getan. Wir haben darüber hinaus die Strafbarkeit auf die Verwendung ausgeweitet, weil uns bekannt
ist, dass es in Deutschland schon Stammzelllinien gibt,
die nicht illegal importiert worden sind. Es war uns wichtig, dies auszuschließen. Damit und nicht mit dem Importverbot, mit dem wir den Bundestagsbeschluss voll
umgesetzt hätten, entstand das Problem der Auslandstat.
Ich spreche jetzt auch Herrn Naumann an, der heute
über dieses Thema in der „Zeit“ geschrieben hat: Machen
Sie sich bitte klar, dass die verquere Rechtslage schon für
das Embryonenschutzgesetz gilt. Die verquere Rechtslage, die Herr Naumann uns in die Schuhe schiebt, besteht
schon seit zehn Jahren. Ein deutscher Wissenschaftler, der
in Boston Stammzelllinien kreiert - das heißt, der Embryonen dafür tötet - bleibt straflos und kann in Deutschland in Anwesenheit von Staatsanwälten darüber berichten, ohne rechtliche Folgen befürchten zu müssen. Das
wissen Sie alle.
({1})
Ein Professor, der einen Mitarbeiter ins Ausland
schickt, ist wegen Anstiftung einer Straftat möglicherweise strafbar, obwohl ich anmerken muss, dass es diesbezüglich noch nie ein Ermittlungsverfahren gegeben hat,
weil die Beweislage sehr schwierig sein dürfte.
Fährt dieser Professor mit seinem Assistenten nach
Boston und führt ihn an Ort und Stelle in seine Arbeit ein,
bleiben beide straflos. Wenn der Professor seine AnweiVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
sungen von einer Telefonzelle aus drei Schritte hinter der
deutschen Grenze - beispielsweise in Dänemark oder in
Frankreich - gibt, dann interessiert sich auch dafür kein
Staatsanwalt.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren: Dieses macht
junge Wissenschaftler nicht beständig in ihrem Wertbewusstsein; es macht sie zynisch. Wir wollten dieses ändern, aber nicht in Bezug auf das Embryonenschutzgesetz; damit mögen sich andere beschäftigen. So haben wir
gedacht. Aber für die erweiterte Strafbarkeit, die insbesondere auch mit Kooperationen im Ausland zu tun hat,
wollten wir diesen offensichtlichen Blödsinn abschaffen.
Die bestehende Rechtslage bedeutet nämlich, dass sich
ein Institut in Schweden in Deutschland von den verantwortlichen Behörden eine Genehmigung erteilen lassen
muss, damit deutsche Wissenschaftler mit ihm zusammenarbeiten können. An dieser Stelle wird es doch
vollends absurd.
({2})
Wir haben jetzt nicht die Zeit, diese Vorschrift allen zu
erläutern, obwohl dieser juristische Firlefanz vielen nicht
klar ist. Hinzu kommt die Diskussion über das 6. Rahmenprogramm der EU.
Ich sage für mich, dass ich es trotz der Absurdität dieser Rechtslage aufgegeben habe. Der nächste Bundestag
mag an § 9 des Strafgesetzbuches gehen, der die Wurzel
des Übels ist. Er mag dort Bereinigungen herbeiführen,
sodass es endlich zu einer konsistenten Rechtslage
kommt. Dieser Paragraph stammt nämlich aus einer Zeit,
als am deutschen Wesen noch die Welt genesen sollte.
Schauen Sie es sich bitte an. Ich werde dem Bundestag
nicht mehr angehören; andere sollten sich aber mit dem
Problem befassen.
Es kann nicht so weiter gehen, dass wir so tun, als lebten wir auf einer Insel. Wir müssen es uns mit den Konflikten in Recht und Ethik schwer machen, damit andere
es leichter haben und damit das Wertbewusstsein erhalten
wird. Dieses Wertbewusstsein darf nicht - quasi aufgrund
der Pontius-Pilatus-Moral nach dem Motto, dass man sich
die Hände nicht schmutzig macht, weil man es ja nicht
gewesen ist - anderen überlassen bleiben. Ich finde, dass
das nicht unser Auftrag ist. Dafür werden wir nicht bezahlt.
({3})
Ich möchte keine Neuauflage der Diskussion, die wir
am 30. Januar hervorragend geführt haben. Ich finde, das
Parlament ist seiner Aufgabe gerecht geworden. Es hat jedes Argument geprüft. Wir waren die Vertreter des ganzen
Volkes mit all seinen Bedenken, Ängsten, Hoffnungen
und Sorgen. Wir erwarten, dass jede und jeder in der Bevölkerung den Entscheidungen gegenüber, die wir in diesem Hause treffen, Gehorsam leistet. Wir haben den Beschluss am 30. Januar auf der Grundlage individueller
Gewissensentscheidungen gefasst.
Ich habe sehr dafür gekämpft, dass das Parlament der
Ort der Entscheidung ist. Es war nicht immer einfach, das
durchzusetzen. Machen Sie sich bitte klar, was passiert,
wenn wir die Entscheidung drei Monate später selber konterkarieren. War es dann eine Gewissensentscheidung
oder war es eine Entscheidung, die sich nach der Stimmung richtete?
Nehmen wir uns ernst. Wir haben unsere Aufgabe getan.
Zur Diskussion kamen Menschen mit verschiedenen Anschauungen und Erfahrungen zusammen. Sie waren verschiedenen Alters und kamen aus unterschiedlichen Generationen. Ich finde, wir haben unsere Arbeit - ich kann den
Prozess nur als unglaublich positiv bezeichnen - in einer
guten Weise geleistet. Wir waren offen für Kritik. Wir wollten allen Menschen - also weit über die Grenzen dieses
Hauses hinaus - die Möglichkeit geben, vor dem Hintergrund eines Wertdissenses miteinander zu existieren.
Ich darf mit einem Satz aus der Bergpredigt, der mir
sehr wichtig ist, schließen. In den Seligpreisungen steht
nicht: „Selig sind die Rechthaber“, sondern: „Selig sind,
die Frieden stiften.“
Danke sehr.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Lensing.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Der
Ihnen vorliegende Gesetzentwurf ist natürlich auf der
Basis unseres Mehrheitsbeschlusses vom 30. Januar dieses Jahres in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe, deren
Geist unglaublich - ich muss es so sagen dürfen - fair,
konstruktiv und sachkundig war, in der Tat aus der Mitte
des Parlaments entstanden. Das ist schon einmal etwas
sehr Gutes.
Diese gesetzliche Regelung steht in völligem Einklang
mit der rechtlichen und ethischen Wertentscheidung, welche dem hohen Schutzniveau des Embryonenschutzgesetzes zugrunde liegt. Zudem beachtet sie das Grundrecht
der Freiheit von Wissenschaft und Forschung und trägt
zugleich dem berechtigten und verständlichen Interesse
kranker Menschen an der Entwicklung neuer Heilungschancen Rechnung.
Wegen der mir nur knapp bemessenen Zeit möchte ich
diese Aussage an sechs Punkten festmachen:
Erstens. Bekanntlich stellt Art. 1 unseres Grundgesetzes apodiktisch und zweifelsfrei fest: „Die Würde des
Menschen ist unantastbar.“ Diese Grundaussage findet in
dem vorliegenden Gesetzentwurf eine uneingeschränkte
Bestätigung. Sie verblasst nicht etwa zu einer reinen Verfassungslyrik.
Zweitens. Der vorgelegte Entwurf beinhaltet ein
grundsätzliches, klar nachvollziehbares Einfuhr- und Verwendungsverbot von humanen embryonalen Stammzellen. Damit wird dem von vielen befürchteten Dammbruch
eindeutig und wirksam begegnet.
({0})
Drittens. Durch die Begrenzung des Verbots auf das
Maß, das durch den Embryonenschutz gerechtfertigt ist,
ist der Gesetzentwurf verfassungsrechtlich in keiner
Weise zu beanstanden.
Viertens. Es wird sichergestellt, dass alle - auch die
durch Klonen erzeugten - humanen totipotenten Zellen
als Embryonen anzusehen sind und somit in den Schutzbereich dieses Gesetzes gehören.
Fünftens. Durch den heute vorgelegten Änderungsantrag zu § 13 Abs. 3 des Gesetzentwurfes - Frau Kollegin
Renesse ist bereits ausführlich darauf eingegangen - soll
die Strafbarkeit einer in Deutschland begangenen Anstiftung und Beihilfe zu einer im Ausland erfolgten, dort jedoch nicht strafbaren Verwendung von embryonalen
Stammzellen festgelegt werden.
Sechstens. Mit der Festlegung eines präzisen Stichtages wird allen jeglicher Anreiz genommen, Embryonen zu
töten, um daraus Stammzellen für die Forschung in
Deutschland zu gewinnen.
Kurzum: Unser Gesetzentwurf ist ausgewogen und
praxistauglich, was ich für besonders wichtig erachte.
Dieser Entwurf hat natürlich seine Kritiker gefunden.
Aber wer hier von doppelter Moral spricht, sagt etwas
Falsches, weil dieser Entwurf konsequent, rechtlich sauber formuliert und letztlich sogar unvermeidlich ist, und
zwar deswegen, weil wir ein Einfuhr- und Verwendungsverbot benötigen, um Embryonen vor Begehrlichkeiten in
Deutschland zu schützen, unvermeidlich aber auch deswegen, weil Stammzellen - ich beziehe diese Gedanken
ausdrücklich auf die bereits vor dem Stichtag gewonnenen Stammzellen - nun einmal keine Embryonen sind. Insofern existiert im Hinblick auf diese Stammzellen kein
unmittelbarer Grundrechtschutz, der der Forschungsfreiheit entgegenzuhalten wäre.
Wir nehmen im Übrigen - ich will deutlich darauf hinweisen - Forscherinnen und Forscher in die Pflicht und
setzen ihren Forschungen klare Grenzen. Daher finde ich
es überhaupt nicht angemessen, wenn sich einige der vehementesten Gegner des Konsenses vordergründig auf das
formalistische Argument einer wortwörtlichen Umsetzung
berufen; sollten wir uns doch unabhängig von unserem
Standpunkt allemal darauf verständigen können, dass kein
Parlamentarier daran gehindert wird, sich beispielsweise
im Rahmen einer Anhörung über neue Probleme zu informieren und Bereitschaft zu zeigen, seinen gewonnenen Erkenntniszuwachs verantwortungsvoll zu nutzen.
({1})
Eines möchte ich im Hinblick auf frühere Änderungsvorschläge, die selbst die nur ausnahmsweise mögliche
und restriktiv regulierte Einfuhr von Stammzellen noch
hätten vereiteln können, deutlich sagen: Der Vorschlag
der Gruppe um die Kollegen Dr. Wolfgang Wodarg,
Monika Knoche und Hubert Hüppe zeigt nunmehr offen,
was wirklich angestrebt wird: ein absolutes Importverbot,
das bereits am 30. Januar 2002 von diesem Hohen Haus
mehrheitlich abgelehnt wurde.
Ich fasse zusammen, indem ich eine führende Tageszeitung zitiere:
Trotz mancher Schwächen im Detail: Besser und
sachkundiger lässt sich der Konflikt um Embryonenschutz, Forschungsfreiheit und neue Therapien nicht
auflösen.
Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung: Keiner
der Beteiligten, wo immer er stehen mag - dessen Standpunkt respektiere ich selbstverständlich -, sollte meinen,
er allein habe die Moral gepachtet. Dies zu beachten gebietet uns der Respekt vor der Gewissensentscheidung eines jeden Einzelnen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In
den letzten Monaten, seit ich mich auf den Weg gemacht
habe, mit den inzwischen von mir so sehr geschätzten
Kolleginnen und Kollegen den heute vorliegenden Gesetzentwurf zu erstellen, habe ich mich immer wieder
selbst geprüft. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt: Rücke ich hier in unvertretbarer Weise von meinen
Positionen ab, ja verrate ich diese Positionen sogar, indem
ich mich auf diesen Antrag einlasse?
Ich habe mir diese Frage natürlich auch anhand der kritischen Einwände gestellt, die uns gegenüber immer wieder gemacht wurden, auch nach der Abstimmung am
30. Januar. Deren gewichtigster lautet mit Sicherheit, dass
es bei Leben und Tod keinen Kompromiss gibt. Das ist
richtig; diese Auffassung teile ich. Deswegen betone ich
hier noch einmal: In diesem Sinne haben wir heute keinen
Kompromiss vorgelegt. Vielmehr haben wir das Embryonenschutzgesetz nicht nur bekräftigt, sondern wir haben
eine lange bestehende Lücke geschlossen. Aber den strengen Schutzstandard des Embryonenschutzgesetzes wollen wir auf Dauer und in die Zukunft festschreiben. Das
halte ich für die zentrale Botschaft, die oft zu gering geschätzt worden ist.
Der zweite sehr gewichtige Einwand ist natürlich, dass
eine Ausnahme doch irgendwie auch schon der Anfang
vom Ende dieses Embryonenschutzgesetzes sein könnte.
Ich betone noch einmal: Dieser Einwand gilt deswegen
nicht, weil wir diese grundlegende Position gehalten und
sogar bekräftigt haben und weil wir uns mit der Ausnahme
ausschließlich auf die Vergangenheit, die für uns unabänderlich ist, beziehen und dementsprechend, wenn wir
dies so tun, nicht unserem Ziel zuwiderlaufen, für die Zukunft die verbrauchende Embryonenforschung ausschließen zu wollen.
Deswegen, Kollegin Flach, ist Ihr Änderungsantrag
mit dem Grundgedanken unseres Gesetzentwurfs völlig
unvereinbar. Er verkehrt unseren Grundgedanken in sein
Gegenteil. Das ist der entscheidende Punkt, warum ich
meine, dass er überhaupt nicht kompatibel mit diesem Gesetzentwurf ist und deshalb auch nicht zustimmungsfähig
ist.
Dann gibt es den eher praktischen Einwand: dass wir
den hohen Anspruch, den wir aufgestellt haben, deswegen
in der Praxis nicht einhalten könnten, weil wir weder die
Menge noch die Herkunft der Stammzellen und der
Stammzelllinien kontrollieren könnten. Ich verweise darauf, dass die Frage der Menge für die Grundentscheidung, die wir getroffen haben, irrelevant ist. Wir haben
gesagt, dass wir eine Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft machen.
Ich verweise zum anderen darauf, dass wir einen
Schwerpunkt unserer Beratungen auf das Problem der
Kontrolle gelegt haben. Die entsprechende Regelung im
Gesetzentwurf ist sehr eindeutig. Natürlich wird es im
Einzelnen nicht immer einfach sein, dies zu machen. Aber
versuchen wir doch jetzt einmal, lebenspraktisch an die
Sache heranzugehen. Ein Forscher, der sich die Mühe
macht, einen Antrag bei einer Behörde zu stellen, wird
sehr wohl schon aus Eigeninteresse darauf achten, den
Import von einer Institution zu beantragen, die reputierlich ist und die man überprüfen kann. Dass es andere in
der Welt gibt, wissen wir. Das ist aber von diesem Gesetz
völlig unberührt. Das könnte man heute schon missbräuchlich unterlaufen. Die Möglichkeit, dass sich jemand nicht an ein Gesetz hält, ist meines Erachtens kein
gutes Argument gegen ein Gesetz.
Dann stellt sich immer noch die Frage: Wieso überhaupt eine Ausnahme? Warum nicht einfach sagen, das
wollen wir nicht, niemals?
({0})
Mein Ausgangspunkt für diese Überlegung war das Verfassungsrecht. Gleiches ist von den Vorrednern bereits betont worden. Wäre es das Verfassungsrecht allein, könnte
man noch sagen: Wir sind der Gesetzgeber, wir entscheiden und wollen wir doch einmal sehen, wer stärker ist;
außerdem haben Juristen immer verschiedene Meinungen.
Bei mir ist der Prozess, eine Ausnahmeregelung zu erarbeiten, immer stärker zu dem Versuch geworden, sich
diesen Widersprüchen zu stellen, von denen ich glaube,
dass wir alle gut beraten sind, sich ihnen zu stellen. Wir
wissen doch, dass viele Menschen eine hohe Erwartung
an die Forschung haben, die hier zur Debatte steht. Wir
wissen genauso, dass es völlig offen ist, ob diese Erwartungen erfüllt werden können. Nur werden wir das nie
erfahren, wenn wir nicht wenigstens die Grundlagenforschung zulassen.
({1})
Gerade diejenigen, die die ganze Zeit sagen, sie wollten, dass wir an ethisch unbedenklichen Alternativen forschen, haben es argumentativ nicht ganz leicht gegenüber
dem Argument, dass diese Grundlagenforschung auch
benötigt wird, um besser zu verstehen, wie diese ethisch
unbedenklichen Alternativen verwendet und genutzt werden können. Auch vor diesem Hintergrund sollte man ein
großes Interesse daran haben.
Ich will noch eine persönliche Bemerkung machen. In
der Debatte am 30. Januar ist mir etwas aufgefallen. Da
habe ich nicht wenige von denen, die für das absolute
Nein sprachen, das Argument gehört, dass man diese Forschung nicht brauche, weil man ja Alternativen habe. Dieses Argument ist in der Tat zunächst einmal ein eher
schwaches. Denn im Umkehrschluss hieße das natürlich:
Wenn sie denn erfolgreich wäre, müsste man alles zulassen. Ich glaube, die Frage des Erfolgs kann für die Beurteilung dieses Sachverhalts bestenfalls eine notwendige,
aber keine hinreichende Bedingung sein, um eine Entscheidung zu treffen.
Wir als Parlament, als Politikerinnen und Politiker, haben während der ganzen Debatte - schon lange vor den
Entscheidungen, die wir zu treffen hatten und haben - von
den Forschern verlangt, dass sie den Souverän und seine
Entscheidungen respektieren. Sie wissen alle, dass das
nicht immer unstrittig war. Aber wir können doch heute
feststellen, dass sich die Forschung an diese Forderung
gehalten hat. Sie hat ihre Anträge so lange zurückgestellt,
bis der Bundestag entschieden hat. Ich glaube, das ist eine
gute Ausgangsvoraussetzung für uns, ebenfalls zu überlegen, wie wir Brücken bauen - nicht nur zur Forschung;
die macht es nicht nur aus Eigeninteresse -, sondern auch
zu den Menschen, die andere Interessen damit verbinden,
die Hoffnungen darauf setzen und diesbezüglich Erwartungen hegen.
Ich bin absolut überzeugt davon - nach den letzten Monaten der Selbstprüfung immer mehr -, dass es klug ist,
wenn wir uns in einer pluralistischen Gesellschaft unserer
moralischen Gemeinsamkeiten in der Weise vergewissern, dass wir von niemandem die vollständige Unterwerfung unter die Mehrheitsmeinung verlangen.
Unsere Debatte - ich habe dieses Argument selber oft
genug bemüht - ist immer wieder bestimmt von der
Sorge, mit einem Schritt, den wir tun, könnten wir den
Dammbruch einleiten. Meine Damen und Herren, wir
selber sind es, die diese Dämme errichten. Und wir haben hier einen sehr festen Damm errichtet. Das ist schon
gesagt worden. Das heißt, wir selber sind es, die uns selber und den von uns gemeinsam getroffenen Verabredungen trauen müssen. Dies liegt ausschließlich an uns.
Ich glaube aber, dass es mit einer solch tragfähigen
Grundlage, die berücksichtigt, dass es unterschiedliche
Positionen gibt, ohne damit in die Beliebigkeit des
„anything goes“ zu verfallen, möglich ist, gegenseitig
Vertrauen zu haben. Wenn wir dieses Vertrauen nicht haben können und nicht daran arbeiten, es miteinander zu
entwickeln, dann werden auch diese Gesetze nicht lange
halten.
Vor diesem Hintergrund werbe ich um Ihre Zustimmung.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Andrea Fischer ({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Der Bundestag hat am 30. Januar nach langer
und sehr umfangreicher Debatte - die ich genau wie Sie,
Frau von Renesse, für eine der besten Debatten halte, die
in den letzten dreieinhalb Jahren stattgefunden haben eine Grundsatzentscheidung gefällt, die deutlich sagt,
dass der Import embryonaler Stammzellen grundsätzlich
zu verbieten ist. Aber es sollen Ausnahmen zugelassen
werden, wenn wissenschaftliche Gründe belegen, dass es
sich um hochrangige Forschung für die Entwicklung von
Therapien gegen schwere Krankheiten handelt.
Gelegentlich, liebe Kollegen, muss man sich ins Gedächtnis rufen, was der Sinn dieser Ausnahmeregelung
vom Verbot sein soll: nicht die Erfüllung ungeduldiger
Forscherwünsche, sondern der klare Wille der Mehrheit
dieses Hauses, kranken Menschen mithilfe der Stammzellforschung Hoffnung und eventuell Heilung zu geben.
({0})
Das Stammzellgesetz soll diese Grundsatzentscheidung des Parlamentes in Recht umsetzen. Es geht also
- auch insoweit schließe ich mich Ihnen, Frau von
Renesse, vollkommen an - heute nicht mehr um den Import an sich - Sie wissen, dass die FDP hier eine ehrlichere
und klarere Lösung für eine Forschung in Deutschland für
die bessere gehalten hätte -,
({1})
sondern es geht nur noch darum, wie die gesetzliche
Regelung aussieht. Dabei steht für uns ganz klar im Vordergrund, dass diese Regelung die größtmögliche Chance
dafür bieten muss, schnelle Erfolge in der Grundlagenforschung und dann auch der Therapieentwicklung zu erzielen.
Leider, Frau Fischer, Frau von Renesse, hat der nun
eingebrachte Gesetzentwurf genau in dieser Hinsicht einige Mängel. Er ist mit Bürokratie überladen
({2})
und er ist, weil er von so vielen unterschiedlichen Antragstellern eingebracht wurde, nicht der Maxime gefolgt,
ein Verfahren zu wählen, welches funktioniert und nicht
ein Hemmnis für deutsche Forscher bedeutet.
({3})
Die Stichtagsregelung - 1. Januar 2002 - ist - das hat
die Expertenanhörung unseres Ausschusses ganz deutlich
ergeben - alles andere als anwender-, als therapiefreundlich. Sie ist auch - das hat zum Beispiel Professor Taupitz
ausgeführt - zumindest hart an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit. Zudem begeben wir uns faktisch in die
Abhängigkeit eines einzelnen kommerziellen Anbieters,
denn die Zahl der zur Verfügung stehenden Stammzelllinien ist nicht sehr groß.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat uns in der
Anhörung darauf hingewiesen, dass nur wenige der im
NIH-Register gelisteten Stammzelllinien dem Forschungsanspruch genügen und damit nur für die Grundlagenforschung, nicht aber für die für uns alle wichtigste
Forschung, nämlich die therapieorientierte Forschung,
reichen wird.
Mit unserem Antrag möchten wir verhindern, dass wir
in kurzer Zeit wieder eine gesetzliche Regelung brauchen,
wenn nämlich die Forschung so weit ist, dass man in die
Therapie einsteigen könnte, dazu aber Stammzelllinien
von einer Qualität braucht, die es vor diesem Stichtag
nicht gab. In die Therapie wollen wir aber einsteigen, Frau
von Renesse, wie dies auch in § 5 des Gesetzentwurfes
klar formuliert wird.
Wir schlagen deshalb eine Regelung vor, die sicherstellt, dass der Forschung für die Therapie geeignete
Stammzellen zur Verfügung stehen, ohne Gefahr zu laufen, Stammzellen auf Bestellung zu produzieren. Zwischen der Entstehung im Herkunftsland, zum Beispiel bei
der künstlichen Befruchtung, und einem Antrag auf Import
nach Deutschland muss nach unserer Vorstellung ein Zeitraum von einem halben Jahr liegen. Dies ist ein Vorschlag
- die Kundigen unter Ihnen wissen dies -, über den auch
im Ethikrat diskutiert wurde. So weit zu unserem Antrag.
Es ist gut, Frau von Renesse, dass die Einbringer des
Gesetzentwurfes nach der Anhörung im Ausschuss noch
einige Ungereimtheiten ausgeräumt haben. Leider - das
muss ich auch deutlich sagen - gibt es aber auch eine gegenteilige Entwicklung, und zwar den zweiten Änderungsantrag, den Sie jetzt eingebracht haben.
({4})
Bezeichnenderweise hat sich Herr Catenhusen ausgeklinkt. Dieser Antrag könnte, wenn er angenommen
würde, das ganze Gesetz gefährden.
Sie wollen die Regelung des § 13 Abs. 3 Ihres eigenen
Gesetzentwurfes streichen. Was bedeutet dies? Sie haben
die Frage anhand eines Beispiels eben selbst klar beantwortet: Dann würde § 9 des Strafgesetzbuches gelten. Bei
einer einfachen Forschungskooperation zwischen Deutschen und Indern gerieten deutsche Forscher nur aufgrund
dieser Kooperation sehr schnell in die Gefahr einer Bestrafung. Auf diese Art und Weise würden wir diese Kooperationen, die es auch heute schon gibt, sehr stark behindern. Selbst die Vergabe von Lizenzen, Frau von
Renesse, zur Nutzung patentierter Verfahren an ausländische Wissenschaftler könnte nach Ihrem Vorschlag als
Beihilfe bewertet werden. Was Sie jetzt machen, bedeutet
eine erhebliche Erschwerung internationaler Forschungskooperationen unter deutscher Beteiligung. Und Sie wissen das, Frau von Renesse.
Machen wir uns noch einmal klar, warum wir den Beschluss am 30. Januar diesen Jahres gefasst haben. Es geht
um hochrangige Forschungsvorhaben, die dazu dienen
sollen, Grundlagen der Zellprogrammierung zu erkennen,
um Therapien gegen genetisch bedingte Krankheiten zu
entwickeln. Dass dies ethisch-moralisch vertretbar ist, hat
dieses Haus mit Mehrheit entschieden.
Die Menschen erwarten jetzt von uns, dass wir diesen
Beschluss umsetzen; natürlich in ethisch verantwortbarer
Form - das leistet das vorliegende Gesetz; das ist so, Frau
von Renesse -, aber doch auch so, dass Erfolge nicht von
vornherein behindert werden.
Deshalb wird die FDP-Fraktion die Änderungsanträge
von Herrn Dr. Wodarg bzw. Herrn Dr. Wodarg, Herrn
Hüppe und anderen ablehnen, die die damals getroffene
Entscheidung aufheben wollen.
({5})
Wir werden auch den Änderungsantrag von Frau
Böhmer, Frau Fischer, Frau von Renesse und Herrn
Lensing ablehnen, weil er Deutschland von der internationalen Forschungskooperation abkoppelt.
({6})
Ich werbe bei Ihnen für unseren Änderungsantrag eines praktikablen Stichtages. Wir wollen Forschung zugunsten Kranker. Aber ich sage Ihnen auch ganz klar:
Selbst wenn diese für uns optimale Lösung nicht durchkommt, werden wir Ihrem Gesetzentwurf zustimmen. Wir
als FDP werden nicht auf der Seite der Forschungsverweigerer stehen.
Deshalb bekommen Sie unser Ja zu Ihrem Antrag mit
großen Bauchschmerzen, Frau von Renesse, weil ich
weiß, dass wir der Forschung nur einen kleinen Dienst
und nicht den Dienst erweisen, den wir uns als
Forschungspolitiker vorstellen. Aber wir wollen die Tür
zumindest leicht öffnen. Wir wollen den Menschen ein
Signal senden, die darauf hoffen, dass ihnen diese Forschung irgendwann einmal Linderung bringt.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Frau von Renesse, ich habe den Auftrag an uns anders als Sie verstanden. In Ihrem Gesetzentwurf steht es auch anders, als Sie es dargestellt haben.
Die Vermeidung der Tötung von Embryonen zum Zwecke
der Stammzellforschung ist in Ihrem eigenen Gesetzentwurf erst der zweite Punkt, nicht der Hauptpunkt.
Der Hauptpunkt ist - ich darf das zur allgemeinen
Kenntnisnahme wiederholen -, die Einfuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen zu verbieten. Sie haben
ein „grundsätzlich“ hineingebracht. Dies ist dann die Einleitung für den dritten Punkt, nämlich die Ausnahme. Den
Auftrag, dies zu verbieten, haben wir deshalb, weil wir die
Menschenwürde als unantastbar ansehen. Das ist das
oberste Gebot der Verfassung.
Es stellt sich in Ihrem eigenen Gesetzentwurf jedoch
heraus, dass das eine mit dem anderen nicht zu vereinbaren ist. Sie müssen eine Konstruktion finden, die so tut, als
ob die Tötung von Embryonen nicht stattfindet, um im
Nachhinein zu sanktionieren: Wenn es denn schon geschehen ist, dann kann es nicht mehr geändert werden und
ist hinzunehmen.
Frau Fischer, ich finde Ihren Diskussionsbeitrag, der
nachdenklich stimmt und viele Bedenken in verständlicher und nachvollziehbarer Weise aufgegriffen hat, wesentlich zielführender. Sie kommen aber zu einem anderen Ergebnis als ich. Nachher wird noch begründet werden, warum wir einen gemeinsamen Antrag eingebracht
haben, um den Import vollkommen zu verbieten. Frau
Fischer, Ihre Fragestellungen werden von einem großen
Teil der Bevölkerung geteilt. Ich finde jedoch die Berufung auf die Mehrheiten immer etwas problematisch.
Ich will es ausdrücklich sagen: Wenn für uns das Gebot der Würde des Menschen über allem steht, dann
glaube ich nicht, dass man solche Kompromisse machen
kann. Ich benutze das Bild vom Dammbruch, Frau
Fischer, nicht gern. Sie haben es benutzt und sich für das
Bauen eines Dammes ausgesprochen. Das ist in Ordnung.
Ich benutze in diesem Zusammenhang lieber das Bild von
der Tür, die entweder zu, einen Spalt offen oder ganz offen ist. In diesem Zusammenhang könnte man sagen: Sie
versuchen, die Tür einen kleinen Spalt zu öffnen, gleichzeitig aber zu verhindern, dass alles durchgeht, was
durchgehen kann. Das zu sagen kann ich Ihnen nicht ersparen, Frau von Renesse und die übrigen Antragstellerinnen und Antragsteller, die sicherlich nicht traurig
sind, wenn ich sie nicht alle aufzähle.
In § 5 des vorliegenden Gesetzentwurfes wird deutlich,
was seine Initiatoren wirklich wollen. Dort heißt es:
Forschungsarbeiten an embryonalen Stammzellen
dürfen nur durchgeführt werden, wenn … sie hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer
Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer,
präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen dienen …
Sagen Sie mir bitte einmal, warum in dem einleitenden
Hauptsatz ein „nur“ steht? Sie haben in diesem Paragraphen doch fast alles aufgezählt.
({0})
- Entschuldigen Sie bitte, in diesem Paragraphen wird
doch alles aufgelistet, von der Grundlagenforschung über
die therapeutische Forschung bis hin zur Anwendungsforschung.
Frau Flach hat auch noch gefordert, in diese Auflistung
nicht nur die therapeutische Forschung, sondern auch die
Therapie aufzunehmen. Das ist das Einzige, was Sie in § 5
Ihres Gesetzentwurfes nicht aufgenommen haben. In der
Anhörung ist ja deutlich geworden: Die Begrenzung auf
die Grundlagenforschung ist etwas völlig anderes als die
von Ihnen vorgeschlagene Erweiterung; denn eine solche
Erweiterung heißt nicht, die Tür einen Spalt breit zu öffnen, sondern Scheunentore aufzumachen. Dahinter befinden sich schon die nächsten Türen. Frau Flach hat eine davon angedeutet.
Wir wissen von den Forschern der Deutschen Forschungsgemeinschaft und anderer wissenschaftlicher Institutionen, wohin sie eigentlich wollen. Insofern ist das
Sich-Berufen auf Menschen, die krank sind und die Linderung, Heilung oder zumindest Hoffnung von der Forschung
an embryonalen Stammzellen erwarten, vielleicht sehr populär.Aber, Frau Flach, Sie glauben mir sicherlich, dass ich
mit sehr vielen Menschen zusammenkomme, die chronisch
krank oder behindert sind und die mit ihren Beeinträchtigungen gut oder schlecht leben. Diese antworten mir, wenn
ich sie frage: Wollt ihr wirklich diese erste Tür aufmachen,
wisst ihr, welche Türen dann dahinter sein werden, glaubt
ihr wirklich, dass dann, wenn die erste Tür geöffnet worden
ist, die nächsten Türen verschlossen bleiben?
({1})
- ich habe nur gesagt, dass ich dieses Bild nicht gerne benutze; ich habe nicht gesagt, dass ich das nicht so sehe -,
ja, du hast Recht. Lass uns lieber Gesetze machen, die es
uns ermöglichen
({2})
- Entschuldigung, Herr Tauss, ich darf hier meine Meinung genauso äußern wie Sie; dass Sie keine Redezeit von
Ihrer Fraktion bekommen haben, ist nun wirklich nicht
mein Problem -, mit unseren Krankheiten, Behinderungen und Beeinträchtigungen besser zu leben. Wir wollen
nicht als Alibi für das Öffnen von Scheunentoren in eine
bestimmte Richtung herhalten.
({3})
- Entschuldigung, das haben wir alles schon einmal erlebt. Ich habe heute - das ist reiner Zufall gewesen - mit
den Vertreterinnen des Bundes der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten geredet. Sie warten noch
heute auf ihre Entschädigung. Ich finde das empörend. Sie
haben mir auch berichtet, dass es in der Nazizeit mit dem
Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses begann. Danach waren dann die unheilbar Kranken und die
chronisch Kranken dran. Später wurden soziale Kriterien
eingeführt. Wohin das geführt hat, wissen wir alle.
Wenn Sie mir so kommen - dieses Argument wollte ich
eigentlich nicht bringen -, dann muss ich doch zumindest
sagen dürfen, wovor ich Angst habe. - Entschuldigung,
dass ich mich jetzt so echauffiert habe.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Wodarg.
Sehr verehrte Damen
und Herren! Am 30. Januar 2002 hat dieses Haus mit
großer Mehrheit festgestellt, dass menschliche Embryonen für die Forschung nicht getötet werden dürfen - nicht
in Deutschland und nirgendwo auf dieser Welt. Da waren
wir uns alle einig. Außerdem sollten von Deutschland
keine Anreize ausgehen, dass es irgendwo auf der Welt
verbrauchende Embryonenforschung gibt.
Im zweiten Anlauf der Debatte gab es einen Zusammenschluss derer, die behaupteten, man könne dies alles
trotz einer Importerlaubnis gesetzlich regeln. Dann haben
wir den Gesetzentwurf vorgelegt bekommen. Wir haben
eben von der Kollegin von Renesse und auch von anderen
Kollegen und Kolleginnen gehört, welche Verrenkungen
der Gesetzgeber machen muss, damit er diese widersprüchlichen Dinge unter einen Hut bekommen kann.
({0})
Man kann es einen bioethischen Eiertanz nennen, wenn
ich die Deutlichkeit von Frau von Renesse einmal für
mich in Anspruch nehme. In einem stimme ich mit Frau
Flach überein: dass dieser Gesetzentwurf wirklich nicht
das hält, was er verspricht. Nur, wir beide meinen das unterschiedlich.
Der Gesetzentwurf zeigt, dass der Import von embryonalen Stammzellen zwar grundsätzlich verboten wird,
dass aber Stammzellen importiert werden dürfen, die „in
Kultur gehalten werden“ - wie es dort heißt - „oder im
Anschluss daran kryokonserviert gelagert werden“. Wir
haben hier am 30. Januar versucht, etwas näher abzuschätzen, wie viele Stammzellen und Linien das denn
sein könnten. Es ist deutlich geworden, dass es sich nach
Herrn Hintze um zwei bis drei Linien handelt; das kann
man im Protokoll nachlesen. René Röspel, seines Zeichens Molekularbiologe, hat die Aufzählung von George
Bush präsentiert: Das waren zwischen 60 und 70 Linien,
von denen aber nur etwa über 20 für die Forschung überhaupt brauchbar seien. In der Debatte ist gesagt worden,
dass es etwa 7 Mäusezelllinien gibt, mit denen die Forschung arbeitet.
Dann hat der Deutsche Bundestag dazu gesagt: Ja,
okay, wir begrenzen - das war der Kompromiss - unsere
Importerlaubnisse auf bestimmte Stammzelllinien, die zu
einem bestimmten Zeitpunkt etabliert worden sind. Etabliert ist ein Begriff, der nicht definiert ist.
({1})
Jetzt wird versucht, zu definieren, was Stammzelllinien
sind. Das wird in diesem Gesetz auch gemacht. Diese
Definition gibt es bisher nicht.
({2})
- Stammzelllinien sind gesetzlich nicht definiert und sie
werden von Wissenschaftlern und übrigens auch von
George Bush unterschiedlich definiert, je nachdem, wie
man es gerade haben möchte.
Durch das, was jetzt im Gesetz definiert wird - alle
Stammzellen, die in Kultur gehalten werden, und alle
Stammzellen, die kryokonserviert werden, dürfen im
portiert werden, wenn sie den weiteren Kriterien entsprechen -, gibt es plötzlich Zigtausende von Stammzelllinien
auf dieser Welt. Denn alle Stammzellen, die Embryonen
entnommen werden, werden irgendwo in ein Medium getan oder eingefroren, damit sie nicht zerstört werden.
Wenn man sie untersuchen möchte, kann man das nur machen, wenn sie in ein Medium kommen. Das heißt, es handelt sich immer um Kulturen, wenn sie gekennzeichnet
oder irgendwie beschrieben werden müssen.
({3})
In den Vereinigten Staaten sind es über 100 000 Embryonen, die jedes Jahr für die Forschung zur Verfügung
gestellt werden. In England gibt es in den Kühlschränken
inzwischen über 50 000 Embryonen, die für die Forschung zur Verfügung stehen. In Australien sind es über
60 000 Embryonen. Diese liegen dort in Kühlschränken
und sind in Laborbüchern dokumentiert. Aber wann die
Stammzellen daraus gewonnen worden sind, könnte man
höchstens den Laborbüchern entnehmen. Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar. Die Engländer versuchen,
jetzt ein Gesetz zu verabschieden, um die vielen Stammzellen, die dort in Kultur vorhanden sind, zu registrieren.
Das sind viele. Ich denke, dass unsere Forscher das natürlich sehr genau wissen.
Meine Meinung ist es, dass wir im Deutschen Bundestag am 30. Januar über etwas anderes debattiert haben.
Wir haben von den Stammzelllinien gesprochen, die für
die Forschung schon als gut beschrieben zu Verfügung
stehen. Ich darf hier die als Molekularbiologin - auch als
Abgeordnete - bei uns mitarbeitende Carola Reimann zitieren. Sie hat hier gesagt - sie vertritt ebenfalls diesen
Gesetzentwurf -:
Einmal etablierte Stammzelllinien gelten als unbegrenzt vermehrbar. Deshalb genügt es der Forschung, wenn der Import bereits etablierter, aber vermehrbarer Stammzelllinien ermöglicht und zugleich
auf diese Linien begrenzt wird.
Ob Stammzellen, die in Kultur gehalten werden, überhaupt vermehrbar sind, wie lange sich eine solche Kultur
hält und ob sie wieder anwächst, wenn man sie einmal
eingefroren hat - all das weiß man nicht. Das heißt, hier
sollen nur solche Stammzelllinien infrage kommen, von
denen man weiß, dass sie reproduzierbare Forschungsergebnisse ermöglichen. Was im Gesetz steht, erlaubt aber
die Herstellung eigener Stammzelllinien in Deutschland.
Das Material, das weltweit zur Verfügung steht und dieser
Definition entspricht, ermöglicht es, in Deutschland eigene Stammzelllinien herzustellen, sie zu definieren und
zu stabilisieren. Das kann man wollen; Frau Flach hat dies
damals mit ihrem Antrag ehrlich angesprochen. Der Deutsche Bundestag aber hat es nicht gewollt. Er wird hier
durch eine Definition, die - das gebe ich zu - nicht einfach zu verstehen ist, hinters Licht geführt. Das muss hier
deutlich zu Protokoll gegeben werden. Ich denke, dass wir
die Chance haben müssen, hier darauf zu pochen, den Beschluss vom 30. Januar umzusetzen. Deshalb gibt es
Änderungsanträge.
({4})
Der erste Änderungsantrag versucht nicht nur zu beschreiben, was eine Stammzelllinie ist, sondern auch, was
eine etablierte Stammzelllinie im Sinne unseres Kompromisses vom 30. Januar sein kann. Der zweite Änderungsantrag bietet denjenigen eine Chance, die darauf reagieren
wollen, dass die Gesetzesantragsteller den Kompromiss
verlassen haben, die aber gleichzeitig nicht wollen, dass
es einen gesetzlosen Zustand gibt.
Herr Kollege Wodarg, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich muss leider zwei
Anträge begründen.
Die Zeiten sind vereinbart.
Ein Satz noch. - Sie
bekommen die Chance, durch die Zustimmung zu diesem
zweiten Antrag zu sagen, dass auch sie von dem Kompromiss zurücktreten und ein Importverbot durchsetzen
wollen.
Es ist schade, dass für dieses Thema zu wenig Redezeit
vorgesehen wurde. Ich bedauere das sehr.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hubert Hüppe von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Am 30. Januar hat die Mehrheit meiner Fraktion gegen den Import embryonaler Stammzellen
gestimmt - zu Recht; denn wir können eine Forschung,
die auf der Tötung von menschlichen Embryonen basiert,
nicht akzeptieren. Wir haben am 30. Januar auch deshalb
dagegen gestimmt, weil wir die Befürchtung haben, dass,
wenn wir den Import erst einmal zulassen, dieselben Argumente, die dafür gebracht werden, bald für die Tötung
weiterer Embryonen - auch in Deutschland - benutzt werden. Nur einen Tag später haben zahlreiche Forderungen
aus Forschung und Politik diese Befürchtung bestätigt.
({0})
Zeigt aber nicht schon der heute vorliegende Gesetzentwurf, dass sich die ethische Wanderdüne in Bewegung
gesetzt hat? Ein Beispiel: Der Beschluss vom 30. Januar
sah ausdrücklich die Einwilligung der Eltern vor; darauf
wurde schon eingegangen.
({1})
Im vorliegenden Entwurf ist dies gestrichen. Die Initiatoren - Frau Renesse vorneweg - begründen das damit, dass
nicht der Eindruck entstehen dürfe, Eltern könnten frei
über das Leben ihres Nachwuchses verfügen.
({2})
Ich habe Sie hoffentlich richtig wiedergegeben. Aber
- das darf man fragen - ist es denn wirklich ethischer,
wenn allein der Reproduktionsmediziner über den Embryo verfügt?
({3})
- Wer verfügt denn letztendlich, dass daraus Stammzellen
gewonnen werden? Einer muss es doch veranlassen.
({4})
- Liebe Kollegin, lassen Sie mich ausreden. Ich habe Sie
auch ausreden lassen. Sie können sich zu einer Frage melden. Ich bin gern bereit, dann zu antworten.
Stellen Sie sich vor, ein ausländischer Embryo sei zu
Stammzellen verarbeitet worden, mit denen in deutschen
Labors legal experimentiert wird. Nun erfahren davon die
Eltern, die nie gefragt worden sind und nie eine Einwilligung zu dem, was passiert ist, erteilt haben. Ich frage auch
einmal: Was müssen eigentlich die Geschwister denken,
die nur durch Zufall im Reagenzglas ausgesucht worden
sind, um geboren zu werden? Wie müssen sie sich fühlen,
wenn sie davon hören? Nach dem vorliegenden Entwurf
wäre das möglich.
({5})
Frau von Renesse, ich muss Ihnen widersprechen,
wenn Sie sagen, Sie hätten Kritik gerne aufgenommen.
Ich habe in den Ausschussberatungen mit mehreren Änderungsanträgen versucht - das ist mir wirklich nicht
leicht gefallen -, den Entwurf wenigstens auf die Grundlage des 30. Januar zurückzuführen.
({6})
Diese Anträge wurden noch nicht einmal einzeln beraten.
Sie wurden entweder überhaupt nicht beraten
({7})
oder sie wurden in einem Paket samt und sonders abgelehnt.
({8})
Noch nicht einmal derAntrag, dass der so genannten Ethikkommission ein Ethiker mehr angehören soll, wurde angenommen. Jetzt sitzen in der Zentralen Ethikkommission, die
die Wissenschaft kontrollieren soll, fünf Wissenschaftler,
aber nur vier Ethiker. Damit ist klar, wo die Mehrheit ist.
Was könnte deutlicher zeigen, dass ein Kompromiss nicht
möglich und wohl auch nicht gewollt war.
Daher lege ich mit den Kolleginnen und Kollegen aus
fast allen Fraktionen heute einen Änderungsantrag vor,
der das Verbot des Imports embryonaler Stammzellen
vorsieht. Die reine Ablehnung des Gesetzentwurfs der
Kolleginnen von Renesse, Fischer und anderer würde in
der Tat bedeuten, dass wir eine rechtliche Lücke lassen.
Heute stellen sich folgende zentrale Fragen: Wollen
wir eine Forschung, die die Tötung menschlicher Embryonen zur Voraussetzung hat? Wollen wir heute einer
Entwicklung den Weg bereiten, die nach aller Voraussicht
nicht bei der Nutzung ausländischer Embryonen Halt machen wird? Kann eine Forschung so hochrangig sein, dass
sie es wert ist, dafür die Grundsätze unserer Rechtsordnung auszuhebeln? Unsere heutige Entscheidung ist eine
Wegmarke. Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu!
Vielen Dank.
({9})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Knoche vom Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen!
Lang hallte der gute Ruf nach, den die Debatte vom 30. Januar in der Bevölkerung hatte. Gut ist noch in Erinnerung,
mit welchen Argumenten hier, in diesem Haus, für das
prinzipielle Instrumentalisierungsverbot des Menschen
geworben wurde. Gerne denke ich selbst daran, dass es
die überwältigende Mehrheit des Hauses war, die keinen
Zweifel daran gelassen hat, dass der Embryo in vitro
Menschenwürde hat und dass er nicht verfügbar ist.
({0})
Das ist das große Credo dieses Hauses gewesen. Deshalb
habe ich den Argumenten von Frau von Renesse und Frau
Fischer mit großer Aufmerksamkeit zugehört. Von dieser
Linie ist schon jetzt in beträchtlichen Nuancen nicht mehr
die Rede gewesen.
Ich beziehe mich ganz auf die Aussagen und die Begründungen, die am 30. Januar gegeben worden sind. Da
ist Folgendes für mich sehr zentral: Von der Menschenwürde und vom Lebensschutzkonzept ausgehend, wurde
von den Abgeordneten, die den so genannten Kompromissantrag gestellt haben, gesagt: Wir würden den Import
ganz und gar verbieten, wenn wir es denn könnten,
({1})
wenn nicht die Forschungsfreiheit als ein Grundrecht dagegenstünde und wenn nicht die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes eine Lücke aufwiesen,
({2})
die es uns nicht ermöglicht, den Import strafrechtlich zu
verbieten. Das war die zentrale Argumentation, nicht eine
forschungspolitische, die von dem vermeintlichen
zukünftigen Nutzen der Forschung, die auf Embryonenvernutzung aufbaut, ausgeht. Diese Argumentation wurde
heute eingeführt.
({3})
Sie war damals nicht präsent. Damals wurde auf die Alternativen in der und zu der embryonalen Stammzellforschung abgehoben und darauf, dass wir in Deutschland
hierauf größten Wert legen.
({4})
Noch etwas: Das Verbot der fremdnützigen Forschung
als Tabu ist das für mich wertvollste zivilisatorische Gut,
das wir aufgrund der historischen Erfahrungen haben.
({5})
Von diesem Geist ist das Embryonenschutzgesetz als
Strafgesetz geprägt.
Lassen Sie mich nun noch etwas zu den zwei zentralen
Argumenten sagen. Die Menschenwürde als Verfassungsgut ist ein universelles Prinzip. Sie ist nicht territorial begrenzbar. Wie anders ließen sich unsere Regelungen zum Asylrecht und zur Nichtauslieferung bei
drohender Todesstrafe begründen? Selbst im Strafrecht
haben wir Regelungen, die die Bestrafung von im Ausland
begangenen Straftaten vorsehen. Es gibt hierbei also
keine völlig neuen Sachverhalte, die wir heute erstmalig
diskutieren müssten.
Nun zum Embryonenschutzgesetz. Als der Gesetzgeber
dieses Gesetz erließ, gab es die Stammzellforschung, die
Embryonenvernutzung nicht. Er hat aber eindeutig den
Geist und den Bestimmungsgehalt festgelegt, indem er
sagte: Embryonen dürfen für keinen anderen Zweck erzeugt
werden als den, in die Gebärmutter einer Frau zu kommen.
({6})
Dieser Bestimmungszweck, der den Geist des Gesetzes
wiedergibt, und die Tatsache, dass für den Import von und
die Forschung mit embryonalen Stammzellen, die aus einer Verzweckung stammen, keine Strafnorm besteht, bedeuten keinesfalls, dass der Import nach gültigem Embryonenschutzgesetz nicht rechtswidrig ist. Er ist
lediglich nicht strafbewehrt. Das ist ein entscheidender
qualitativer Unterschied.
({7})
Sie haben dem Parlament heute ein Stammzellgesetz
als Importverbotsgesetz vorgelegt. Dies haben Sie mit
eben diesen beiden hohen Normen, der Menschenwürde
und dem Embryonenschutz, begründet. Entgegen den Ergebnissen der Anhörung im Bundestag haben Sie sich
nicht auf eine ausnahmslose Verbotsregelung verständigt,
die Sie aber vom Begründungsgang Ihres Gesetzes und
von der Gesetzesnotwendigkeit her hätten treffen können;
denn die verfassungsrechtlichen Argumente sind eindeutig vollkommen unstrittig.
Selbstverständlich ist die Forschungsfreiheit durch die
Menschenwürde begrenzt.
({8})
- Lesen Sie bitte § 1 Ihres Antrages laut vor! Ich argumentiere auf dem Boden Ihrer Gesetzesbegründung.
Eine letzte Bemerkung: Sie haben ein Stammzellimportverbotsgesetz vorgelegt. Die Änderung, die wir dem
Hause vorschlagen, besagt, dieses Stammzellimportverbot als ein ausnahmsloses Verbot zu gestalten. Niemand
kann dann noch sagen, es gebe eine Rechtslücke im deutschen Recht. Lassen Sie uns diese klare Botschaft geben!
Die Bevölkerung - das weiß ich gewiss - ist zu über
80 Prozent mit der embryonalen Stammzellforschung, die
auf Embryonenverbrauch basiert, nicht einverstanden.
({9})
Es gibt einen ganz festen Wertekonsens in der deutschen
Bevölkerung. Lassen Sie uns dieses Vertrauen bestätigen!
({10})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Carola Reimann von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte noch einmal nachdrücklich für den
vorliegenden Gesetzentwurf der Kolleginnen Böhmer,
Fischer und Renesse werben.
Am 30. Januar hat der Deutsche Bundestag in einer
denkwürdigen Debatte einen tragfähigen Kompromiss erzielt. Dieser Kompromiss war für uns in den letzten Wochen bei der Erarbeitung des jetzt vorliegenden Entwurfs
immer festes Fundament und Basis. Ziel des Gesetzes ist
in erster Linie, einen Import und die Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen grundsätzlich zu verbieten. Es soll vor allem verhindert werden, dass Deutschland Grund und Anlass gibt für die Tötung von Embryonen
zur Gewinnung neuer embryonaler Stammzellen.
Wir haben uns aber auch der Aufgabe gestellt, deutschen Forschern die Arbeit mit embryonalen Stammzellen
zu ermöglichen, die bereits existieren. Dafür haben wir
restriktive Bedingungen formuliert, die der von vielen befürchteten Aufweichung des Lebensschutzes entgegenwirken. Unser Gesetzentwurf bietet meiner Meinung nach
eine Lösung an, die der Politikauffassung von der Kunst
des Möglichen am ehesten entspricht. Vielleicht bewegen
wir uns auf einem schmalen Grat, aber auch eine schwierige Passage ist immer besser als völlige Bewegungslosigkeit und Stillstand.
({0})
Zu dem vorgeschlagenen Kompromiss gibt es für
mich keine Alternative. Die Mehrheit des Hauses ist mit
uns der Auffassung, dass an dem hohen Schutzniveau des
Embryonenschutzgesetzes nicht zu rütteln ist. Dazu hat
sich der Deutsche Bundestag am 30. Januar klar und deutlich bekannt. Eine unbegrenzte Freigabe des Imports und
der Verwendung von embryonalen Stammzellen gerät zu
diesem Votum in einen ethischen Widerspruch, ein generelles Verbot des Umgangs mit und des Imports von vorhandenen Stammzellen jedoch ebenfalls.
In unserem Land ist die Freiheit der Wissenschaft als
Wert in der Verfassung festgeschrieben. Der Gesetzgeber
ist daher verpflichtet, diese Freiheit auch zu gewährleisten. Wir sind also in der Pflicht, die Konsequenzen unserer Gesetzgebung genau zu prüfen, damit sich die guten
Absichten nicht am Ende in staatliche Bevormundung
von Wissenschaft und Forschung verkehren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die gesellschaftliche und auch die politische Debatte um die
Stammzellforschung hat klar gezeigt, dass einfache Lösungen nicht zu erwarten waren. Stattdessen brauchen wir
eine Regelung, die zwischen dem Wert des Lebensschutzes einerseits und der Freiheit der Forschung andererseits vermittelt. Ich denke, der Gesetzentwurf entspricht diesen Anforderungen.
Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Aufgabe als
Politikerinnen und Politiker, so lange zu verhandeln und
zu streiten, bis ein von der Mehrheit getragener Kompromiss vorliegt. Ich verstehe deshalb nicht ganz, warum in
diesem Fall Kompromiss immer sofort mit Aufweichen
gleichgesetzt wird.
({1})
Deshalb will ich auf einen Kritikpunkt eingehen. Natürlich kann man aus naturwissenschaftlicher Sicht Unterschiede zwischen Stammzellen und Stammzelllinien definieren. In der ausführlichen Anhörung zu diesem Gesetz
wurde aber deutlich, dass Begriffe wie Stammzellen und
Stammzelllinien in wissenschaftlichen Publikationen synonym verwendet werden und nicht streng zwischen
Stammzellen und Stammzelllinien differenziert wird.
Wenn man jetzt beim Begriff Zelllinien die Kriterien anlegt, die zum Beispiel bei etablierten Zelllinien im Bereich von Gewebekulturen erfüllt werden müssen, muss
man wissen, dass die Stammzelllinien und Stammzellen,
die am NIH, am amerikanischen National Institut of
Health, registriert sind und die wir für die Forschung nutzbar machen wollen, nicht alle diese Kriterien erfüllen.
Sicher gibt es auch den Wunsch der Forscher, mit stabilen reproduzierbaren Zelllinien zu arbeiten, Wolfgang
Wodarg. Sicher kann man aber heute auch nicht auf jahrelange Kultivierbarkeit zurückweisen. Wie kann man sie
dann zur Voraussetzung für den Import machen?
({2})
Ich muss auch daran erinnern - das habe ich bereits in
der letzten Debatte gesagt -, dass es sich hierbei um
Grundlagenforschung handelt, die in den Anfängen
steckt. Das ist die naturwissenschaftliche Seite.
Schauen wir uns doch einmal die rechtliche Seite an.
Rechtlich ist der Begriff „etablierte Zelllinie“ nicht definiert. Das hat der Kollege Wodarg gerade noch einmal betont.
Schauen wir uns die ethische Seite an. Ethisch ist diese
Unterscheidung nicht von Belang. Ethisch entscheidend
ist der Zeitpunkt, zu dem die Stammzellen aus dem Embryo gewonnen worden sind.
({3})
Dieser Zeitpunkt wird durch den Stichtag definiert. Der
Stichtag ist kontrollierbar. Der Stichtag 1. Januar 2002 ist
genauso kontrollierbar wie der Stichtag 9. August 2001 in
den USA.
Ethisch entscheidend ist der Stichtag; denn ungeachtet
dessen, ob wir es Stammzellen oder Stammzelllinien nennen, das Leben der Embryonen, aus denen sie gewonnen
wurden, ist bereits vor dem Stichtag beendet worden.
Kein noch so strenger Lebensschutz in unserem Land
kann daran etwas ändern. Durch die Einführung eines
Stichtags können wir aber gewährleisten, dass keine weiteren Embryonen für die Stammzellforschung verbraucht
oder erzeugt werden. Das gehört zu den Bedingungen, die
wir als Voraussetzung für den Import formuliert haben.
Kolleginnen und Kollegen, Kontroversen wie in dieser
Diskussion sind Ausdruck der Vielfalt von Meinungen,
Gestaltungsentwürfen und Interessen. Kompromisse sind
Ausdruck einer Verständigung zwischen diesen verschiedenen Meinungen und Interessen. Am 30. Januar haben
wir uns in diesem Haus verständigt. Ich bitte Sie, diesem
Gesetzentwurf als Ergebnis dieser Verständigung zuzustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Mit dem Stammzellgesetz
machen wir den Weg frei für die wichtigste Basisinnovation des 21. Jahrhunderts. Wir wollen den Wissenschaftlern in Deutschland eine klare rechtliche Grundlage für
ihre Grundlagenforschung geben.
({0})
Ihre Forschung zielt auf die Heilung von Krankheiten, denen wir bislang ohnmächtig gegenüberstehen. Ich will
hier klar sagen: Diese Forschung ist medizinisch notwendig und ethisch geboten.
({1})
Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf dieses Anliegen gleich zu Beginn klar zum Ausdruck bringt. In § 1 bekennen wir uns ausdrücklich zur Freiheit der Forschung
und zu unserer Verpflichtung, die Würde des Menschen
zu achten und zu schützen. Menschenwürde kann durch
Tun, aber auch durch Unterlassen verletzt werden. So, wie
wir fragen: „Darf der Mensch alles tun, was er kann?“,
müssen wir auch fragen: Darf der Mensch unterlassen,
was er kann?
Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist es, dem menschlichen Leben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenzubringen und den Schwerkranken die gebotene Hilfe nicht
zu verweigern.
In dieser Debatte haben einige Redner die seltsame Unterscheidung zwischen Wissenschaftlern und Ethikern gemacht. Das ist die absurdeste Unterscheidung, die ich in
der gesamten Debatte je gehört habe.
({2})
Unsere Wissenschaftler haben bereits ein hohes Maß an
ethischer Verantwortung bewiesen. Sie haben von der
rechtlichen Möglichkeit des Imports und der Forschung
ausdrücklich keinen Gebrauch gemacht, sondern diesem
Bundestag Raum und Zeit für eine ausführliche Debatte
und für die Gesetzgebung des heutigen Tages gegeben.
Unsere Wissenschaftler verdienen keine Verdächtigungen. Sie verdienen die Anerkennung dafür, dass sie in hoher ethischer Verantwortung handeln.
({3})
Deswegen dürfen wir das Vertrauen, das die Wissenschaft
in uns setzt, auch heute nicht enttäuschen. Verlässlichkeit
ist das Gebot der Stunde. Deswegen geht es jetzt auch darum, dass wir ihnen die klare rechtliche Grundlage für ihre
wichtige Arbeit nicht vorenthalten.
Natürlich - Frau Kollegin Flach hat darauf hingewiesen - sind wir damit nicht am Ende aller Fragen. Die Praxis wird erweisen, ob unsere Stichtagsregelung den Zugang
zu qualitativ hochwertigen Stammzelllinien ermöglicht
oder versperrt und ob wir dieses Thema nach einer angemessenen Zeit erneut aufgreifen müssen. Für mich ist es
schwer verständlich, wie wir hier Wissenschaft verstehen
und in welchem Maße der internationale Kontext doch
von einigen ignoriert wird. Die von uns angestrebte vergleichende Forschung mit adulten und embryonalen
Stammzellen setzt gerade international vergleichbare Bedingungen und eine vernünftige internationale Kooperation
voraus.
({4})
Deswegen ist es eine echte Verschlechterung des Gesetzentwurfes, wenn § 13 Abs. 3 wider besseres Wissen gestrichen werden soll.
({5})
Viele Unterstützer unseres forschungsfreundlichen
Ansatzes, den Katherina Reiche und ich zusammen mit
der Kollegin Flach und anderen im Januar formuliert
haben, tun sich heute sehr schwer, diesem Gesetz zuzustimmen,
({6})
weil wir es in vielen Punkten als zu kleinmütig empfinden, weil wir die Forschung als zu sehr unter Verdacht gestellt empfinden und weil wir es als eine wissenschaftliche Zumutung empfinden, wenn sich der Gesetzgeber an
die Stelle der Wissenschaft setzen will, womit er sich immer überhebt.
Dabei ist die fragwürdige Stichtagsregelung der
größte Stein des Anstoßes. Auch der behauptete moralische Mehrwert eines in der Vergangenheit liegenden
Stichtages verkehrt sich bei näherer Betrachtung in sein
Gegenteil.
Ich habe mich nach einer Güterabwägung doch für ein
Ja zu diesem heute vorliegenden Gesetzentwurf entschieden, damit wir als Deutscher Bundestag uns selber treu
bleiben, damit wir in der Logik unserer Grundsatzentscheidung vom Januar bleiben und damit wir das Signal aussenden, dass der Deutsche Bundestag den Willen und die Kraft
hat, zu dem ethischen Urteil der eigenen Grundsatzentscheidung zu stehen. Die Wissenschaft hat verdient, dass
wir heute diese Entscheidung treffen, und das hat auch die
Öffentlichkeit verdient, die diesen Diskurs verfolgt.
Wir werden die Gesetzesentscheidung heute in dem
Bewusstsein treffen, dass solche Entscheidungen, auch
wenn sie von grundsätzlicher Bedeutung sind, immer Entscheidungen auf Zeit sind. In der ethischen Urteilsbildung
gilt immer das Verhältnis von Norm und Situation, auch
im Hinblick auf die jeweilige Erkenntnisfähigkeit. Es mag
sein, dass sich in einigen Jahren neue wissenschaftliche
Wege zeigen und wir dann auch neu entscheiden müssen.
Aber heute sollten wir unserer Selbstverpflichtung gerecht werden und dieses Gesetz verabschieden.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolf-Michael Catenhusen von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hans Jonas hat mit seinem „Prinzip Verantwortung“ vor gut 20 Jahren zutreffend unsere Situation in einer immer stärker von Wissenschaft und Technik geprägten Gesellschaft und Umwelt
gekennzeichnet.
({0})
- Ich kannte ihn, im Unterschied zu dir, Wolfgang, persönlich und er kannte mich. Spar dir diese dummen Bemerkungen!
Wissenschaft und Technik sind, so Hans Jonas, das
Werk unserer Freiheit, unserer Freiheit zu denken, unserer Freiheit zu fragen, unserer Freiheit, immer mehr wissen zu wollen und wissen zu können. Wissenschaftsfreiheit ist eine Frucht der Aufklärung. Das sollten wir auch
in diesen Debatten nicht vergessen.
({1})
Es ist nicht unethisch, darauf hinzuweisen, dass leistungsfähige und freie Forschung für Innovationskraft und
Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft unverzichtbar
sind und dass wir eine leistungsfähige biomedizinische
Forschung auch in Deutschland brauchen.
Damit wachsen uns immer neue Einsichten und Handlungsmöglichkeiten zu, die die Zukunft unserer Umwelt
insgesamt und natürlich auch die Zukunft unserer Gattung, der Gattung Mensch, berühren. Denn mit diesem
Zuwachs an Wissen und Können übernehmen wir immer
umfassender selbst die Verantwortung für unsere Zukunft.
Wir haben dabei schmerzhaft lernen müssen, dass der
wissenschaftliche und technische Fortschritt nicht immer
automatisch gesellschaftlichen Fortschritt bringt, wenn
wir ihm nicht eine Richtung geben.
Die moderne biomedizinische Forschung konfrontiert uns in besonderer Weise mit dem Prinzip Verantwortung. So kann durch die Retortenbefruchtung der
menschliche Embryo von Beginn an für die Forschung
verfügbar gemacht werden. Mit den Spätfolgen dieser
neuen Entwicklung setzen wir uns auch heute bei der Entscheidung über dieses Gesetz auseinander.
Ende der 80er-Jahre hatte der Bundestag entscheidenden Anteil daran, dass ein Embryonenschutzgesetz verabschiedet wurde. Ich stimme der Kollegin Knoche
durchaus zu: Das Gesetz geht von dem Verständnis aus,
dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei
und Samenzelle beginnt. Es stellt die Nutzung technischer
Hilfen zur Erfüllung eines Kinderwunsches in die freie
Entscheidung der Eltern, schließt aber den Missbrauch
der Fortpflanzungsmedizin zu anderen Zielen als der Erfüllung eines Kinderwunsches aus.
In dieser Diskussion ist - wie damals auch - eines klar
geworden: Auf der einen Seite sind die Grundpositionen
dieses Gesetzes bis heute in unserer Gesellschaft breit
verankert. Aber auf der anderen Seite gibt es nach wie vor
unterschiedliche Auffassungen, wie etwa bezüglich des
Umfanges des Schutzes des vorgeburtlichen menschlichen Lebens in bestimmten Abwägungssituationen. Diese
Unterschiede treten auch in den Debatten innerhalb der
Kirchen zutage.
Es geht bei diesen Abwägungsentscheidungen, auch
bei der heutigen, nicht um Unmoral oder Moral;
({2})
es geht auch nicht um mehr oder um weniger Moral. Es
geht allein um die unterschiedlichen Ergebnisse, zu denen
wir nach schwierigen Abwägungsentscheidungen gekommen sind. Ich appelliere an diejenigen, die anderer Auffassung sind und Worte wie „tricksen“ und „Wanderdüne“
benutzen: Nehmen Sie die ethische Überzeugung anderer
ernst!
({3})
Mit Ihren Worten stellen Sie nämlich den gegenseitigen
Respekt vor unterschiedlichen ethischen Auffassungen
infrage. Diese Entwicklung sollten wir im Deutschen
Bundestag nicht kommentarlos hinnehmen.
({4})
Ich möchte vorsichtig darauf hinweisen, dass wir auch
in Grundfragen hinsichtlich Leben und Tod immer wieder
vor Abwägungsentscheidungen stehen. Das gilt für die
Abtreibungsfrage ebenso wie etwa für die Frage der Organtransplantation. Diese schmerzhaften Abwägungen,
die im Streit ausgetragen wurden, führten aber auch zu Ergebnissen. Die in diesem Zusammenhang gemachten
Kommentare wie „bioethischer Eiertanz“ und „Verrenkung“ verdeutlichen, dass sich einige im Parlament nicht
ernsthaft mit anderen bioethischen Überzeugungen auseinander setzen wollen.
({5})
Ich bin mir sicher: Heute schließen wir ein schwieriges,
bisweilen quälendes Ringen um den Umgang mit dem
möglichen Import embryonaler Stammzellen mit der Verabschiedung des Stammzellgesetzes ab. Wir müssen heute
zu einem Ergebnis kommen; das können die Öffentlichkeit
und auch die Wissenschaft mit Recht von uns erwarten.
Wir haben dazu am 30. Januar die notwendigen Grundlagen geschaffen. Ich denke, sie werden vom Gesetzentwurf,
der uns heute in der Fassung des federführenden Ausschusses vorliegt, angemessen aufgegriffen.
Wir erhöhen mit dem Stammzellgesetz das Schutzniveau des Embryonenschutzgesetzes, weil der bisher erlaubte Import und die Verwendung embryonaler Stammzellen so eingeschränkt werden, dass jeder Anreiz zur
Zerstörung weiterer Embryonen im Ausland zu Forschungszwecken in Deutschland unterbunden wird.
Frau Kollegin Knoche, Sie können ja davon überzeugt
sein, dass nur Ihre Verfassungsinterpretation die einzig
mögliche ist. Aber ich muss Ihnen entgegenhalten, dass
unser Dilemma bei dem Umgang mit embryonalen
Stammzellen darin besteht, dass im Unterschied zum Embryo selbst die embryonale Stammzelle, die dem Embryo
entnommen wird, nur mittelbaren Grundrechtsschutz genießt
({6})
und damit die Abwägung zwischen Forschungsfreiheit
und Menschenwürde schwieriger ist als die Durchsetzung
der Auffassung, dass der Schutz der Menschenwürde bei
einer möglichen Nutzung des Embryos immer Vorrang
haben muss. Deshalb muss es auch nach wie vor Grundüberzeugung in unserem Parlament sein, dass wir gegen
die Erzeugung und den Verbrauch von Embryonen zu Forschungszwecken sind.
({7})
Wir führen dazu eine Stichtagsregelung ein: Wir wollen diese Importkontrolle in Anlehnung an die amerikanische Stichtagsregelung praktizieren. Die kritischen Hinterfragungen der Kollegin Knoche und des Kollegen
Wodarg sollen den Eindruck erwecken, dass die amerikanische Regelung bezüglich des Imports von Stammzellen
reiner Schwachsinn und reine Show sei. Dies können weder die Wissenschaftler noch die Kirchen in Amerika bestätigen. Wenn man von der Ernsthaftigkeit des amerikanischen Vorgehens überzeugt ist, dann kann man sich mit
gutem Gewissen bezüglich der Praktikabilität an der
amerikanischen Regelung orientieren. Das gilt im Übrigen auch für die entsprechende Definition.
Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund meiner Erfahrung mit dem Gentechnikgesetz noch
auf eine schwierige Frage hinweisen. Zwei Jahre nach InKraft-Treten des Gentechnikgesetzes im Jahr 1992 kam es
zu einer schweren Akzeptanzkrise, weil sich die dort beschriebenen Verfahren als zu bürokratisch und in manchen Fällen als nicht ausreichend kalkulierbar erwiesen.
Ich sage deshalb auch, dass ich - ausschließlich aufgrund
von Fragen bezüglich der Praktikabilität - Bedenken gegen den Vorschlag habe, § 13 Abs. 3 des Gesetzentwurfes
zu streichen. Es geht mir nicht um die Intention, die ich
voll teilen kann. Es geht mir vielmehr um die Frage, ob
die Regelung dieses Paragraphen anwendbar ist.
Ich will einige Sätze dazu sagen. Wir sollten nicht ohne
Not eine Situation herbeiführen, in der das Risiko von Wissenschaftlern, sich strafbar zu machen, für die Forscher
selbst nicht mehr kalkulierbar ist. Anders als beim Embryonenschutzgesetz können sie sich hier bei ihrer Zusammenarbeit nicht an einem klar abgrenzbaren Forschungsgegenstand orientieren. Ob man an einem Embryo
forscht oder nicht, ist ein ganz klarer Sachverhalt. Hier ist
der Sachverhalt aber sehr viel komplizierter; denn es gibt
zum Beispiel kein unterschiedliches Know-how für die
Forschung an adulten oder embryonalen Stammzellen.
Bei der internationalen Zusammenarbeit wird es
schwer sein, zu ermitteln, ob die embryonale Stammzellenforschung in Schweden vor oder nach unserem Stichtag stattgefunden hat. Wer soll das eigentlich nachweisen?
Soll ein Wissenschaftler aus Deutschland, der seinem
Kollegen in Schweden Ratschläge erteilt, gleichzeitig
nachweisen, ob die Zelle vor oder nach dem Stichtag in
Schweden gewonnen worden ist?
({8})
Macht sich ein Wissenschaftler strafbar, wenn er seinem
Doktoranden die Möglichkeit verschafft, im Ausland an
einem weltweit renommierten Institut für Stammzellenforschung an einem Forschungsprojekt zu arbeiten, das
die Arbeit an in Deutschland nicht zugelassenen Stammzellen einschließt? Darf ein deutscher Wissenschaftler im
Rahmen seiner Kontakte zum Beispiel einem Kollegen in
Schweden telefonisch Erfahrungen vermitteln, die dieser
in einem Forschungsprojekt, bei dem es um embryonale
Stammzellen geht, die nach unserem Stichtag erzeugt
worden sind, verarbeitet?
Ich teile die ethische Intention. Ich möchte aber alle
Kolleginnen und Kollegen noch einmal herzlich bitten,
die Frage der Praktikabilität in ihrem Abstimmungsverhalten zu bedenken.
Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu dem Verhältnis
zwischen Politik und Wissenschaft. Sie wissen, dass ich
mich hier seit über 20 Jahren bemühe, zu einem angemessenen Umgang zwischen Wissenschaft und Politik
beizutragen. Natürlich ist das Erkenntnisinteresse der
Wissenschaft strukturell grenzenlos. Natürlich gibt es
auch in Deutschland Stimmen, die für das gezielte Anpassen von Ethik und Moral an den biomedizinischen
Fortschritt plädieren und die die Embryonenforschung
durch die Entmoralisierung des Embryos legitimieren
wollen. Diese Stimmen prägen aber nicht das Selbstverständnis der Wissenschaft in Deutschland.
({9})
Ich messe die Qualität unserer politischen Elite auch
nicht nach irgendwelchen Stimmen von Außenseitern. Es
darf selbstverständlich keine vom Forschungsinteresse
gesteuerte Ethik geben. Natürlich hat es in der Geschichte
aber immer ein Wechselverhältnis zwischen den Ergebnissen der Wissenschaft und unserem Menschenbild gegeben. Darauf hat beispielsweise der Kollege Schäuble
bereits in der letzten Debatte hingewiesen.
Ich denke, dass wir in diesem Fall gut beraten sind, an
der Erarbeitung von Grenzen für die Wissenschaft, die
sich am Schutz von Mensch und Umwelt orientieren, mitzuwirken, die Wissenschaft zur Teilnahme an dieser Diskussion einzuladen und deren Kritik an unseren Forderungen auszuhalten. Wir brauchen diesen Diskurs, weil
wir nur so mit bestem Wissen und Gewissen die Folgen
unseres Tuns einschätzen und der Wissenschaft Grenzen
für einen verantwortlichen Umgang mit ihren Erkenntnissen vorgeben können.
Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung
schließen. Kolleginnen und Kollegen, das Thema
Bioethik hat immer wieder Sternstunden im Deutschen
Bundestag heraufbeschworen. Es hat unser Parlament
nämlich immer ausgezeichnet - das galt für das Gentechnikgesetz, für das Embryonenschutzgesetz und auch für
diese Debatte -, dass wir ohne Vorgaben aus unseren Parteiprogrammen, die wie die Parteien diesen Diskussionen
hinterherlaufen, im persönlichen Gespräch und unabhängig von Parteigrenzen die Kraft zu einem angemessenen
Umgang der Demokratie mit der Wissenschaft in unserer
Wissensgesellschaft gefunden haben. Das zeichnet unser
Parlament aus. Dafür bin ich sehr dankbar.
Danke schön.
({10})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch zwei Wortmeldungen. Ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren, damit diese Kollegen noch Gehör finden können.
Als nächster Redner hat der Kollege Hermann Kues
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der soeben erfolgten Stimmkartenausgabe habe ich gehört, dass diese Fraktion blaue und jene rote Karten braucht. Ganz so einfach
ist es diesmal nicht; denn jeder muss sich selbst Gedanken
darüber machen, wie er abstimmen möchte.
({0})
Ich meine, das ist eine gute und positive Entwicklung.
Ich selbst werde dem Gesetz nicht zustimmen, weil es
eine Richtungsentscheidung vom 30. Januar als Grundlage hat, mit der die Weichen für die Stammzellenforschung in Deutschland falsch gestellt wurden.
Ich stelle weiter fest: Das war an einer Weggabelung
ein Schritt in die falsche Richtung. Ich werde zwar inhaltlich diese Richtung nicht akzeptieren. Ich werde
allerdings die Mehrheitsentscheidung, die hier im Bundestag fällt, respektieren. Dass ich diese respektiere, heißt
auch, dass ich keine Abänderungsanträge unterstütze - da
bin ich mir mit meinem Freund Jochen Borchert einig -,
die erneut eine Grundsatzdiskussion hervorrufen. Ich
weiß, dass wir in den kommenden Monaten und Jahren
noch häufig ähnliche Fragestellungen erörtern werden
und müssen; das sollten wir auch tun. Aber wir müssen
uns als Parlament auch verpflichtet fühlen, auf praktische
Art und Weise Regelungen zu finden.
Weshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab? Es wurde
schon darauf hingewiesen: Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Ihm
schulden wir die volle Würde. Dieses Leben hat Anspruch
auf ungeteilten Schutz. Ich glaube, dass es ein Widerspruch ist, den man nicht auflösen kann, wenn man die
Tötung von Embryonen in Deutschland ablehnt, aber den
Import von Stammzellen, die im Ausland aus getöteten
Embryonen gewonnen worden sind, gestatten will. Das
passt nicht zusammen.
Ich sage ein Weiteres: Ich bin nicht bereit, für eine ganz
bestimmte Forschungsrichtung, um die es in diesem Fall
geht, nämlich für die Nutzung menschlicher embryonaler
Stammzellen, unser Rechts- und Personenverständnis,
das wir über viele Jahrzehnte entwickelt haben, über Bord
zu werfen.
({1})
Meiner Meinung nach muss man sagen: Auch die Medizin mit ihren Zielsetzungen, die wissenschaftliche Forschung, unterliegt höheren ethischen Ansprüchen, höheren Kriterien. Das heißt, ganz obenan steht die
Menschenwürde. Das muss der Maßstab für die Bewertung sein.
Ich fühle mich durch die Diskussionen der letzten Wochen insofern bestätigt, als ich glaube, dass ein Einbruch
im Hinblick auf die im Januar dieses Jahres getroffene
Regelung mit neuen Begehrlichkeiten verbunden sein
wird. Das Wort „Türöffner“ ist in diesem Zusammenhang
gefallen. Es gibt sogar Wissenschaftler, die davon sprechen, dass eine solche Entscheidung als eine Art Trojanisches Pferd genutzt werden könnte. Deswegen sage ich
ganz klar: Dies war eine falsche Weichenstellung. Ich
werde deswegen den Gesetzentwurf, der daraus resultiert,
nicht unterstützen.
Wir als deutsches Parlament müssen den Naturwissenschaftlern, den Forschern, ganz klar sagen: Wir erkennen
die Leistung der Forscher an. Wir wissen sie zu schätzen.
Aber wir wollen klare ethische Maßstäbe. Die überwältigende Mehrheit des deutschen Parlamentes wird nicht
die Hand zu ethischer Beliebigkeit reichen.
Wir wissen und können feststellen, dass es bei uns auch
bislang beim Schutz des ungeborenen Menschen Widersprüchlichkeiten gibt. Bestehende Widersprüchlichkeiten
rechtfertigen es aber nicht, neue zu schaffen. Sie müssen
uns vielmehr anspornen, diese alten Widersprüchlichkeiten zu beseitigen. Dabei will ich etwas ganz Konkretes ansprechen: Wir alle empfinden die so genannten Spätabtreibungen vermutlich als Skandal. Ich bedauere es sehr,
dass wir es nicht schaffen, hier fraktionsübergreifend zu
Regelungen zu kommen.
({2})
Denn es ist nicht sonderlich überzeugend, wenn man bei
der Frage des Lebensbeginns und beim Schutz des
menschlichen Lebens einen sehr grundsätzlichen, ganzheitlichen Ansatz wählt und in Teilbereichen, die einem
gerade wichtig erscheinen, eine Ausnahme macht. Wenn
dieser grundsätzliche Ansatz gelten soll, dann muss unser
Vorgehen insgesamt in sich konsequent und schlüssig
sein. Dazu gehört, dass wir diese Widersprüchlichkeiten
gemeinsam, also seitens aller Fraktionen, anpacken.
({3})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in absehbarer
Zeit ein Fortpflanzungsmedizingesetz benötigen, in dem
all diese Fragestellungen in sich schlüssig aufgegriffen
werden. Denn diese Widersprüche werden uns zu schaffen machen. Wir müssen uns Schritt für Schritt entscheiden und uns an Lösungen herantasten, so wie es Ethikkommissionen in Krankenhäusern auch bei anderen
Fragen tun.
Ich will des Weiteren feststellen: Den Antrag Böhmer
und Renesse zum Wegfall des § 13 Abs. 3 des Gesetzentwurfes, über den wir gleich ebenfalls abstimmen, unterstütze ich ausdrücklich, weil er unsere Position stärkt. Darauf hinzuweisen ist mir wichtig.
({4})
Den Antrag von Frau Flach und anderen werde ich ablehnen, weil er nach meinem Verständnis noch stärker in
die falsche Richtung geht als das, was wir ansonsten hier
vorliegen haben.
Insofern bitte ich auch hier um Verständnis und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich bitte
die Kolleginnen und Kollegen, noch einmal Platz zu nehmen. Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Dr. Maria Böhmer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen am Ende
nicht nur der heutigen Debatte, sondern auch einer Debatte, die wir über viele Monate hinweg mit großer Intensität und Nachdenklichkeit geführt haben. Denn es geht
um eine Grundfrage menschlichen Lebens, es geht um die
Grundfrage unserer Werteordnung, es geht um den Schutz
menschlichen Lebens und es geht um das Menschenbild,
von dem wir uns leiten lassen. Es war für uns, die wir diesen Antrag am 30. Januar eingebracht haben, der dann die
Mehrheit im Deutschen Bundestag gefunden hat, und
auch diesen Gesetzentwurf heute einbringen, der leitende
Gedanke, dass wir den Schutz der Menschenwürde und
den Schutz des menschlichen Lebens über alles stellen
und von daher ganz klar sagen: Keine verbrauchende Embryonenforschung in unserem Land!
({0})
Es gibt immer wieder Kolleginnen und Kollegen, die
bezweifeln, dass wir diesen Antrag eins zu eins umgesetzt
haben. Ich möchte heute am Schluss dieser Debatte noch
einmal festhalten: Es ist uns durch die Anhörungen, durch
viele Gespräche und Beratungen gelungen, eine sehr
präzise Umsetzung dieses Mehrheitsbeschlusses des
Deutschen Bundestages zu erreichen. Das Gesetz wird
tragfähig sein und sicherstellen, dass es zu keiner verbrauchenden Embryonenforschung in unserem Land
kommt. Denn wir haben ein Kernelement eingeführt:
Durch die Einführung eines Stichtages erreichen wir, dass
es eben nicht zu einem Kompromiss kommt, sondern dass
die klare Linie verfolgt wird, dass auch zukünftig kein
Embryo für die deutsche Forschung sterben muss. Damit
wird es möglich sein, den Embryonenschutz in Deutschland zu verstärken, zugleich aber auch die Grundlagenforschung in unserem Land zu betreiben.
({1})
Das bedeutet für mich, dass wir all das, was an uns an Sorgen und Bedenken herangetragen worden ist, sehr wohl
erwogen haben.
Ich möchte noch einmal auf drei Punkte eingehen, die
mir wesentlich erscheinen auch für manche Entscheidung
bei Änderungsanträgen und bei der Schlussentscheidung.
Vorher möchte ich den Herrn Präsidenten bitten, noch
einmal für etwas Ruhe zu sorgen; wir stehen ja nicht vor
irgendeiner Entscheidung.
Ich werde
es probieren, Frau Kollegin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte darum, die
letzten fünf bis sechs Minuten doch noch aufmerksam zuzuhören. Dann kommen wir zu einem komplizierten Abstimmungsverfahren, das Ihre Aufmerksamkeit ebenfalls
erfordern wird. Frau Fischer, Herr Schmidt, bitte nehmen
Sie Platz und hören Sie Frau Böhmer noch einmal zu.
Herzlichen Dank,
Herr Präsident, für diese unterstützenden Worte.
Ich möchte an dieser Stelle den ersten Punkt noch einmal herausgreifen. Wir schließen die Lücke im Embryonenschutzgesetz; denn wenn dieses Stammzellgesetz
heute nicht angenommen wird, bleibt es bei der Lücke.
Das heißt, der Import menschlicher embryonaler Stammzellen könnte jederzeit durchgeführt werden.
({0})
Wir gehen sogar noch über diesen Punkt hinaus. Wir regeln nicht nur die Frage des Imports, sondern wir stellen
uns auch der Frage der Verwendung der menschlichen
embryonalen Stammzellen. Das heißt, wir haben eine Linie gefunden, die Import und Verwendung unter klaren
ethischen Prinzipien gemäß dem Gesichtspunkt „Keine
verbrauchende Embryonenforschung in Deutschland“ in
diesem Gesetz erfasst.
Zweitens. Wir haben Kritik erfahren, weil wir an einem
Punkt eine Klarstellung bzw. eine Präzisierung vorgenommen haben; dazu sage ich: Wir dürfen auch klüger
werden und wir sind klüger geworden durch entsprechende Anhörungen und Beratungen. Das betrifft den
Punkt, dass wir die Zustimmung der Eltern, wenn es um
die Gewinnung von Stammzelllinien aus Embryonen
geht, jetzt nicht mehr festschreiben. Das haben wir aus einem guten Grund getan. Mich hat sehr die Sorge umgetrieben, dass es, würden wir dieses Kriterium beibehalten,
in unserer Gesellschaft zu dem fatalen Missverständnis
käme, dass nämlich Menschen über andere Menschen
verfügen dürften, was ihr Leben angeht. Kein Mensch hat
aber das Verfügungsrecht über einen anderen. Menschliches Leben ist unverfügbar. Deshalb haben wir von dieser
Formulierung Abstand genommen und dafür eine neuen
Passus eingeführt, in dem wir - die Kollegin von Renesse
hat dies sehr deutlich gemacht - den klaren und tragenden
Grundsätzen unserer Rechtsordnung Rechnung tragen
und daran auch die Gewinnung embryonaler Stammzellen
orientieren. Das ist für uns ein wesentlicher Grundsatz.
({1})
Drittens. Wir werden heute in einem Punkt einen Änderungsantrag vorlegen. Ich weiß, dass dieser Änderungsantrag hier kontrovers erörtert worden ist. Für uns ist er
aber von ganz wesentlicher Bedeutung, um unsere Grundlinie deutlich zu machen: Das, was wir hier in Deutschland
erreichen wollen, wollen wir über unser Land hinaus tragen. Wir haben immer gesagt: Wir wollen keinen Anreiz
geben, dass Embryonen für die deutsche Forschung getötet werden. Deshalb sprechen wir, Frau von Renesse, Frau
Fischer, der Kollege Werner Lensing und ich, uns in einem
Änderungsantrag dafür aus, dass § 13 Abs. 3 gestrichen
wird. Diese Streichung führt dazu, dass die Strafbewehrung bei illegalem Import und bei illegaler Verwendung
von menschlichen embryonalen Stammzellen ausnahmslos gilt. Ich stehe dazu, trotz aller Problematik, die soeben
von Herrn Catenhusen aufgezeigt worden ist.
Warum stehe ich dazu? Die Probleme sind schon seit
langer Zeit vorhanden, auch noch nach Einführung des
Embryonenschutzgesetzes. Denn auch heute stehen Forscher vor folgender Situation: Wer als deutscher Forscher
ins Ausland geht, in Baltimore forscht, ist straffrei, wenn
er dort der verbrauchenden Embryonenforschung nachgeht. Tut er es hier, ist dies strafbewehrt, gibt er von hier
aus einen Anstoß, dann ist dies ebenfalls strafbewehrt.
({2})
Deshalb haben wir erkennen müssen, dass dies keine
Frage ist, die im Embryonenschutzgesetz, das ein hohes
Schutzniveau hat, oder im Stammzellgesetz, mit dem wir
ein ebenso hohes Schutzniveau erreichen wollen, zu regeln
ist. Wir müssen vielmehr in das Strafrecht gehen und uns
des § 9 des Strafgesetzbuches annehmen; denn nur dort
kann diese Frage befriedigend geklärt werden. Das wollen
wir über diesen Tag hinaus tun. Aber an dieser Stelle ist es
richtig, wenn § 13 Abs. 3 des Stammzellgesetzes fällt und
damit eine ausnahmslose Strafbewehrung eingeführt wird.
Ich weiß, dass viele Kollegen von der Sorge umgetrieben werden, dass, da das grundsätzliche Importverbot mit
einer Ausnahmeregelung für die Stammzelllinien verbunden ist, die vor dem Stichtag erzeugt worden sind, die Tür
heute ein klein wenig geöffnet ist und morgen weit aufgestoßen wird. Die Schreckensvision einer nicht mehr zu erfassenden Stammzellforschung steht im Raum. Aber ich
glaube, wir müssen uns sehr bewusst sein, dass es doch in
unserer Hand liegt, welchen Weg wir hier im Deutschen
Bundestag gehen wollen.
({3})
Wir haben am 30. Januar dieses Jahres diesen Weg
nicht nur markiert, sondern ihn mit großer Mehrheit im
Deutschen Bundestag favorisiert. Ich bin mir auch
bewusst, dass wir seit über zehn Jahren ein Embryonenschutzrecht, das Embryonenschutzgesetz haben, das seinesgleichen sucht. Wir bekräftigen diesen Embryonenschutz, wir verstärken ihn und wir führen ihn fort in die
Zukunft. Es liegt in unserer Entscheidungsmacht, daran
festzuhalten. So, wie wir die Entscheidung getroffen haben, können wir wohl darauf vertrauen, dass dieser Bundestag und dass auch die Bevölkerung, die hinter dieser
Entscheidung steht, in Zukunft dafür Sorge tragen werden, dass kein Embryo für die deutsche Forschung sterben
muss und dass wir an diesen Grundsätzen festhalten.
({4})
Bei der heutigen Entscheidung - lassen Sie mich dies
bitte zum Abschluss sagen - bin ich von drei Erwartungshaltungen getragen.
Die erste ist, dass der Rahmen, den wir heute mit diesem Gesetz geben, von Gesellschaft und Wissenschaft
dauerhaft angenommen wird.
Meine zweite Erwartungshaltung ist, dass die Wissenschaft das, was sie im Zuge der Stammzelldiskussion endlich praktiziert hat, nämlich aus ihren Labors herauszugehen, ihre Forschung transparent zu machen, den Dialog zu
suchen, fortsetzt, denn gerade in der Bio- und Gentechnologie begeben wir uns auf einen Weg, wo dies in Zukunft noch notwendiger sein wird.
Ich bin mir sicher - das ist meine dritte Erwartung, die
ich hier äußere -, dass wir Dank dieses Rahmens weiterkommen werden. Professor Ho von der Universität Heidelberg hat heute noch einmal deutlich gemacht, dass die
adulte Stammzellenforschung die vergleichende Forschung im embryonalen Bereich braucht. Wir haben uns
klar für den Vorrang der adulten Stammzellenforschung
vor der embryonalen Stammzellenforschung ausgesprochen. Wir geben ihr heute einen Rahmen, von dem ich
sage: Mit dem Stammzellgesetz werden wir es schaffen,
dass gerade die adulte Stammzellenforschung und die daraus erwachsenden Therapien den Menschen Möglichkeiten eröffnen, um schneller an greifbare und ethisch unproblematische Therapien heranzukommen.
In diesem Sinne bitte ich alle sehr herzlich um Zustimmung zu unserem Stammzellgesetzentwurf.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung
über den von den Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, WolfMichael Catenhusen, Andrea Fischer ({0}) und weiteren Abgeordneten eingebrachten Gesetzentwurf zur
Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen, Drucksachen 14/8394 und 14/8846.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu setzen.
Da wir nicht nach Fraktionen abstimmen, wird es sonst
für das Präsidium schwierig, die Mehrheitsverhältnisse zu
erkennen.
Wir kommen zunächst zum Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Andrea Fischer, Margot
von Renesse und Werner Lensing. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/8876? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist nach
einhelliger Meinung im Präsidium angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg,
Hubert Hüppe, Monika Knoche, Axel Fischer und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 14/8922 mit der folgenden Maßgabe: Soweit die Streichung des § 13 Abs. 3 des
Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung beantragt wird,
hat sich der Änderungsantrag in diesem Punkt erledigt, da
dies bereits Gegenstand des Änderungsantrags war, über
den soeben abgestimmt worden ist.
Zu diesem Änderungsantrag liegt ein Antrag der Kollegin Monika Knoche vor, die Abstimmung namentlich
durchzuführen. Nach § 52 Satz 1 unserer Geschäftsordnung kann eine namentliche Abstimmung von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages
verlangt werden. Das sind 34 Abgeordnete. Ich bitte diejenigen, die das Verlangen auf namentliche Abstimmung
unterstützen wollen, um das Handzeichen. - Das Verlangen hat die erforderliche Unterstützung erhalten. Wir
stimmen deshalb jetzt über den Änderungsantrag auf
Drucksache 14/8922 namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich den Wahlgang und
bitte um Auszählung.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder
Platz zu nehmen. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Wodarg, Hubert Hüppe, Monika Knoche,
Axel E. Fischer und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 14/8922 bekannt: Abgegebene Stimmen 563. Mit Ja
haben gestimmt 164, mit Nein haben gestimmt 374, Enthaltungen 25. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 560;
davon
ja: 164
nein: 372
enthalten: 24
Ja
SPD
Dr. Axel Berg
Lothar Binding ({0})
Anni Brandt-Elsweier
Hans Büttner ({1})
Dieter Dzewas
Hans Forster
Harald Friese
Monika Griefahn
Wolfgang Grotthaus
Monika Heubaum
Ulrich Kasparick
Konrad Kunick
Christine Lambrecht
Waltraud Lehn
Götz-Peter Lohmann
({2})
Erika Lotz
Manfred Opel
Bernd Reuter
Christel RiemannHanewinckel
Dr. Hermann Scheer
Horst Schmidbauer
({3})
Walter Schöler
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({4})
Wolfgang Spanier
Dr. Konstanze Wegner
Dr. Ernst Ulrich
von Weizsäcker
Dr. Margrit Wetzel
Engelbert Wistuba
Hanna Wolf ({5})
Uta Zapf
CDU/CSU
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Meinrad Belle
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({6})
Wolfgang Dehnel
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Albrecht Feibel
Axel E. Fischer
({7})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Georg Girisch
Dr. Wolfgang Götzer
Hansgeorg Hauser
({9})
Ernst Hinsken
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Georg Janovsky
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Ulrich Klinkert
Rudolf Kraus
Werner Kuhn
({10})
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Ursula Lietz
Wolfgang Lohmann
({11})
Julius Louven
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Dr. Gerd Müller
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Anton Pfeifer
Peter Rauen
Christa Reichard ({12})
Erika Reinhardt
Klaus Riegert
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({13})
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Heinz Schemken
Dr. Gerhard Scheu
Christian Schmidt ({14})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm Josef Sebastian
Dr. Wolfgang Freiherr
von Stetten
Dorothea Störr-Ritter
Matthäus Strebl
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Hans-Peter Uhl
Peter Weiß ({15})
Gerald Weiß ({16})
Klaus-Peter Willsch
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({17})
Marieluise Beck ({18})
Angelika Beer
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Amke Dietert-Scheuer
Katrin Göring-Eckardt
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Kerstin Müller ({19})
Winfried Nachtwei
Simone Probst
Christine Scheel
Albert Schmidt ({20})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({21})
FDP
Hans-Michael Goldmann
PDS
Wolfgang Bierstedt
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Klaus Grehn
Dr. Bärbel Grygier
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Ursula Lötzer
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Fraktionslose
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel ({22})
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({23})
Bernhard Brinkmann
({24})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Annette Faße
Lothar Fischer ({25})
Gabriele Fograscher
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Lilo Friedrich ({26})
Anke Fuchs ({27})
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({28})
Angelika Graf ({29})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Hubertus Heil
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Reinhold Hiller ({30})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Walter Hoffmann
({31})
Iris Hoffmann ({32})
Frank Hofmann ({33})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({34})
Johannes Kahrs
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Brigitte Lange
Christian Lange ({35})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Gabriele Lösekrug-Möller
Dieter Maaß ({36})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({37})
Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({38})
Jutta Müller ({39})
Christian Müller ({40})
Franz Müntefering
Volker Neumann ({41})
Dr. Edith Niehuis
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Reinhold Robbe
René Röspel
Michael Roth ({42})
Birgit Roth ({43})
Gerhard Rübenkönig
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Ulla Schmidt ({44})
Wilhelm Schmidt ({45})
Dr. Frank Schmidt
({46})
Heinz Schmitt ({47})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({48})
Brigitte Schulte ({49})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({50})
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({51})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({52})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({53})
Jochen Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({54})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({55})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({56})
Barbara Wittig
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff ({57})
Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Renate Blank
Antje Blumenthal
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen ({58})
Wolfgang Bosbach
Dr. Ralf Brauksiepe
Hartmut Büttner
({59})
Peter H. Carstensen
({60})
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({61})
Ilse Falk
Ulf Fink
Dirk Fischer ({62})
Klaus Francke
Herbert Frankenhauser
({63})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Peter Götz
Kurt-Dieter Grill
Gottfried Haschke
({64})
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Detlef Helling
Joachim Hörster
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Eckart von Klaeden
Eva-Maria Kors
Dr. Martina Krogmann
Karl Lamers
Helmut Lamp
Vera Lengsfeld
Peter Letzgus
Walter Link ({65})
Dr. Manfred Lischewski
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({66})
Erwin Marschewski
({67})
Dr. Martin Mayer
({68})
Dr. Angela Merkel
Bernd Neumann ({69})
Günter Nooke
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Dr. Bernd Protzner
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Rönsch
({70})
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl-Heinz Scherhag
Norbert Schindler
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({71})
Andreas Schmidt ({72})
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr
von Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Gerhard Schulz
Clemens Schwalbe
Bärbel Sothmann
Wir kommen nun zum Änderungsantrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 14/8869. Hierüber stimmen wir
im einfachen Verfahren ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
({73})
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg auf Drucksache 14/8925 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist
ebenfalls abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen ÄndeVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Margarete Späte
Erika Steinbach
Max Straubinger
Thomas Strobl ({74})
Dr. Rita Süssmuth
Edeltraut Töpfer
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({75})
Hans-Otto Wilhelm ({76})
Bernd Wilz
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Matthias Berninger
Dr. Thea Dückert
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({77})
Michaele Hustedt
Cem Özdemir
Rezzo Schlauch
Jürgen Trittin
FDP
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({78})
Ernst Burgbacher
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({79})
Rainer Funke
Joachim Günther ({80})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({81})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Enthalten
SPD
Eckhardt Barthel ({82})
Christel Deichmann
Helga Kühn-Mengel
Dr. Edelbert Richter
Dr. Ernst Dieter Rossmann
({83})
Regina Schmidt-Zadel
CDU/CSU
Ilse Aigner
Sylvia Bonitz
Hubert Deittert
Maria Eichhorn
Dr. Hans Georg Faust
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Manfred Heise
Susanne Jaffke
Dr. Norbert Lammert
Wolfgang Meckelburg
Norbert Otto ({84})
Dr. Peter Paziorek
Andrea Voßhoff
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Grietje Bettin
Ulrike Höfken
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({85})
Behrendt, Wolfgang Bindig, Rudolf Bühler ({86}), Klaus Haack ({87}), Karl-Hermann
SPD SPD CDU/CSU SPD
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Jäger, Renate Lintner, Eduard
CDU/CSU CDU/CSU SPD CDU/CSU
Dr. Lippelt, Helmut Dr. Lucyga, Christine Michels, Meinolf Müller ({88}), Manfred
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD CDU/CSU PDS
Neumann ({89}), Gerhard Onur, Leyla Palis, Kurt Rupprecht, Marlene
SPD SPD SPD SPD
von Schmude, Michael Zierer, Benno
CDU/CSU CDU/CSU
rung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen.
Es ist angekündigt worden, dass der Wunsch besteht,
trotz Annahme einer Änderung sofort in die dritte Bera-
tung einzutreten. - Herr Kollege Schmidt signalisiert, wir
möchten von der in der Geschäftsordnung vorgesehenen
Frist absehen und direkt in die dritte Beratung eintreten.
Ein solcher Antrag bedarf der Zweidrittelmehrheit. Ich
bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Das war die erforderliche Mehrheit. Damit ist der Antrag
angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
über den Gesetzentwurf. Hier ist wiederum namentliche
Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle
Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Ab-
stimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratungen fort. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen oder
den Saal zu verlassen?
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang
Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines ...
Strafrechtsänderungsgesetzes ({90})
- Drucksache 14/4558 ({91})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({92})
- Drucksache 14/8379 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Volker Beck ({93})
Dr. Evelyn Kenzler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Joachim Stünker von der SPD-Fraktion.
({94})
- Die Geschäftsführer haben mir die Liste so vorgelegt.
Eigentlich hätte der Antragsteller zuerst das Wort. Aber
wenn Sie das entschuldigen - ({95})
Bitte schön, Herr Stünker.
Herr Präsident! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in
zweiter und dritter Lesung einen Gesetzentwurf der
Unionsfraktion, der davon ausgeht, dass der Schutz von
Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereini-
gungen sowie ihrer religiösen und weltanschaulichen
Überzeugungen nur unzureichend im Strafgesetzbuch
- nicht in anderen gesetzlichen Bestimmungen; wir reden
hier über Strafrecht - geregelt sei.
Wir wissen aus der Geschichte, dass sich Glaubens-
fragen sehr gut für eine Polarisierung eignen. Ich hoffe
nicht, dass es Absicht der Antragsteller ist, dass wir die-
sen Gesetzentwurf, der aus dem November des Jah-
res 2000 stammt, so kurz vor der Bundestagswahl in zwei-
ter und dritter Lesung beraten.
Ich will nicht bestreiten, dass es in der Tat geschmack-
lose Entgleisungen gegenüber Religionsgemeinschaften
gibt, sehe allerdings keine rechtspolitische Notwendig-
keit, deshalb das Strafgesetzbuch in § 166 - um den geht
es hier - hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals des öf-
fentlichen Friedens zu ändern. Ich habe das bereits in der
ersten Lesung gesagt; ich habe das in den Ausschussbera-
tungen gesagt. Die Einschätzung der SPD-Fraktion dazu
hat sich auch nicht geändert.
Nach der geltenden Fassung des § 166 StGB dient das
Strafrecht nicht der ethisch-moralischen Bevormundung.
Das ist auch nicht die Aufgabe des Strafrechts. Die Straf-
vorschriften, welche sich auf Religion und Weltanschau-
ung beziehen, müssen allein den öffentlichen Frieden in
unserem Land gewährleisten. § 166 StGB stellt, rechts-
dogmatisch gesehen, ein so genanntes Eignungsdelikt dar.
Bei der Änderung der Strafvorschrift im Jahre 1969 hat
der Reformgesetzgeber bewusst auf den Tatbestand der
Gotteslästerung verzichtet, um dem Missverständnis vor-
zubeugen, dass Gott als solcher Gegenstand eines weltli-
chen Schutzgutes sein könnte. Das geschah vor allen Din-
gen, um Diskussionen über den Gottesbegriff im
Gerichtssaal zu vermeiden. Stattdessen sollte durch die
Ausgestaltung der Norm als Eignungsdelikt den Schwie-
rigkeiten Rechnung getragen werden, die der Feststellung,
ob eine Friedensstörung eingetreten ist, begegnen können.
Eine wirkliche Friedensstörung verlangt das Gesetz
also nicht. Es reichen vielmehr schon solche Zustände
aus, die konkret geeignet sind, eine Friedensstörung zu
bewirken. Friedensstörende Beschimpfungen und Belei-
digungen sind also auch heute durch das Strafrecht abge-
deckt. Deshalb kann keine Rede davon sein, wie es die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Seite 23231 D
Verfasser des Gesetzentwurfs behaupten, dass die Anwendung der Norm von friedensstörenden Demonstrationen und damit vom Faustrecht der Beschimpften abhängt.
Eine solche Auffassung verkennt den Eignungscharakter
der Norm und wird von der Wissenschaft und der Praxis
nicht geteilt.
Des Weiteren kann die These in der Begründung des
Gesetzentwurfs, die Klausel habe sich praktisch zum Instrument der Beseitigung des Tatbestands entwickelt,
nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre
nicht bestätigt werden.
Auch die vom Rechtsausschuss in seiner 91. Sitzung am
27. Juni des letzten Jahres, also im Sommer des vorigen
Jahres, bereits durchgeführte öffentliche Anhörung hat
keine neuen rechtstatsächlichen Erkenntnisse ergeben,
warum die im Rahmen der Strafrechtsreform 1969 gefundene Fassung heute geändert werden sollte, im Gegenteil:
Die Sachverständigen sprachen sich in der Mehrzahl gegen
den vorliegenden Gesetzentwurf aus und plädierten für die
Beibehaltung der seit Jahrzehnten gültigen Strafvorschrift.
Der durchgehende Tenor besagt, dass es im modernen
Strafrecht kein Schutzgut „religiöses Empfinden“ geben
könne; noch weniger könne ein säkulares Strafrecht
auf den Schutz religiöser Inhalte abstellen. Tragfähiges
Rechtsgut für die Religionsdelikte könne deshalb allein der öffentliche Friede sein. Das sehen wir ebenso. Die
Sachverständigen haben weiter ausgeführt, der Gesetzentwurf liefere keine neuen Gesichtspunkte, welche die
verfassungsrechtliche Tragfähigkeit eines anderen Rechtsgutes belegt hätten.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten
immer wieder versucht worden ist, teilweise aus Bayern,
aber auch von der CDU/CSU-Fraktion, entsprechende
Änderungen durchzubringen. Doch sogar in den 16 Jahren der Kohl-Regierung ist Ihnen das mit Ihrem Koalitionspartner nicht gelungen.
In Deutschland wird niemand daran gehindert, seinen
Glauben auszuüben. Wenn eine Beschimpfung den Gläubigen persönlich trifft, greift das Strafrecht ein, weil
eine Beleidigung oder Schmähung der persönlichen Religionsausübung vorliegt. Die geltende Fassung des
§ 166 StGB verfolgt das Ziel der Stärkung des Toleranzgebotes in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße. Ich
sehe keine Notwendigkeit, den den Kirchen gebührenden
Respekt - es ist unstreitig, dass ihnen Respekt gebührt mit den Mitteln des Strafrechts durchzusetzen - wir reden
über das Strafrecht -, im Gegenteil: Interreligiöse Auseinandersetzungen könnten sich an staatlich vorgegebene
Maßstäbe gebunden fühlen, die ihr Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung
in Verbindung mit Art. 140 GG berühren würden. Mit verletzender Kritik sollte sich die Religion vielmehr selbst
auseinander setzen.
Das Strafrecht ist sicherlich kein geeignetes Mittel, um
für Toleranz zu werben. Toleranz kann man nicht herbeistrafen. Die Verfasser des Gesetzentwurfs verkennen
meiner Meinung nach den Charakter des Strafrechts als
Ultima Ratio im Instrumentarium staatlicher Konfliktbewältigung. Intolerante Äußerungen als solche können
eine Strafverfolgung nicht rechtfertigen. Hinzutreten
muss immer, dass die Meinungsfreiheit derjenigen gefährdet wird, die von diesen Äußerungen betroffen sind.
Diese Bedingung wird in einer Gesellschaft, in der der öffentliche Diskurs funktioniert und in der blasphemische
Äußerungen auf öffentliche Kritik und Ablehnung stoßen,
wie es bei uns, in der Bundesrepublik, der Fall ist, nicht
vorliegen.
Bei aller Anerkennung, die Kirche und religiöses Leben in unserem Land genießen, leben wir dennoch in einem säkularisierten Staat, in dem Religion Privatsache ist.
Der Einzelne als Träger seiner religiösen Überzeugung
muss geschützt werden, nicht aber die Abstraktion, die
Religion als solche.
Wenn man den Gesetzentwurf, der uns vorliegt, zu
Ende denkt, kann man zu der Vorstellung gelangen,
dass in seiner Folge ein Salman Rushdie zukünftig in
Deutschland - möglicherweise wäre das regional unterschiedlich - strafrechtlich verfolgt werden könnte. Ich
muss Ihnen ehrlich sagen, dass diese Vorstellung für mich
nur schwer zu ertragen wäre.
({0})
Lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen:
Die Intention - darüber haben wir in den Beratungen ausführlich diskutiert - ist fraglos vorhanden, Erscheinungen
religiöser Schmähungen in unserer Gesellschaft, die verabscheuungswürdig sind, gemeinsam zurückzuweisen.
({1})
Aber hier geht es darum, was wir pönalisieren, was wir
unter Strafe stellen wollen. Strafrechtliche Verbote sind
kein Mittel, um bei den Betroffenen eine innere Einstellung der Toleranz zu fördern.
({2})
Toleranz können Sie nicht durch strafrechtliche Regelungen bzw. Verbotsnormen in die Gesellschaft hineinerziehen. Dafür bedarf es gelebter Vorbilder, dafür bedarf es
der Erziehung, dafür bedarf es auch angemessener Formen des Umgangs miteinander, damit öffentlich Beispiele
gegeben werden, aber dafür brauchen wir nicht das Strafrecht.
Vielen Dank.
({3})
Bevor ich
dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über
den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und
Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen bekannt. Das sind die Drucksachen 14/8394 und 14/8846.
Abgegebene Stimmen 559. Mit Ja haben gestimmt 360,
mit Nein haben gestimmt 190, Enthaltungen 9. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 559;
davon
ja: 360
nein: 190
enthalten: 9
Ja
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel ({0})
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({1})
Bernhard Brinkmann ({2})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Annette Faße
Lothar Fischer ({3})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Lilo Friedrich ({4})
Anke Fuchs ({5})
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({6})
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Klaus Hasenfratz
Hubertus Heil
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Reinhold Hiller ({8})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Walter Hoffmann
({9})
Iris Hoffmann ({10})
Frank Hofmann ({11})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({12})
Johannes Kahrs
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({13})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dieter Maaß ({14})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({15})
Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({16})
Jutta Müller ({17})
Christian Müller ({18})
Franz Müntefering
Volker Neumann ({19})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Michael Roth ({20})
Birgit Roth ({21})
Gerhard Rübenkönig
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Ulla Schmidt ({22})
Silvia Schmidt ({23})
Dagmar Schmidt ({24})
Wilhelm Schmidt ({25})
Dr. Frank Schmidt
({26})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({27})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Brigitte Schulte ({28})
Reinhard Schultz
({29})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({30})
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({31})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({32})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({33})
Dr. Ernst Ulrich
von Weizsäcker
Jochen Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({34})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({35})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({36})
Barbara Wittig
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({37})
Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Günter Baumann
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Renate Blank
Antje Blumenthal
Wolfgang Börnsen
({38})
Dr. Ralf Brauksiepe
Hartmut Büttner ({39})
Anke Eymer ({40})
Ulf Fink
Herbert Frankenhauser
({41})
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Gottfried Haschke
({42})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Detlef Helling
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Eckart von Klaeden
Dr. Martina Krogmann
Dr. Norbert Lammert
Vera Lengsfeld
Peter Letzgus
Walter Link ({43})
Erich Maaß ({44})
Erwin Marschewski
({45})
Dr. Martin Mayer
({46})
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Bernd Neumann ({47})
Günter Nooke
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Dr. Bernd Protzner
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Katharina Reiche
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Rönsch
({48})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl-Heinz Scherhag
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({49})
Andreas Schmidt ({50})
Dr. Erika Schuchardt
Gerhard Schulz
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Erika Steinbach
Max Straubinger
Thomas Strobl ({51})
Dr. Rita Süssmuth
Edeltraut Töpfer
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Heinz Wiese ({52})
Hans-Otto Wilhelm ({53})
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Matthias Berninger
Dr. Thea Dückert
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({54})
Uli Höfken
Michaele Hustedt
Cem Özdemir
Rezzo Schlauch
Jürgen Trittin
FDP
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({55})
Ernst Burgbacher
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({56})
Rainer Funke
Joachim Günther ({57})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({58})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Nein
SPD
Brigitte Adler
Dr. Axel Berg
Lothar Binding ({59})
Anni Brandt-Elsweier
Hans Büttner ({60})
Dieter Dzewas
Hans Forster
Harald Friese
Monika Griefahn
Wolfgang Grotthaus
Monika Heubaum
Ulrich Kasparick
Konrad Kunick
Waltraud Lehn
Götz-Peter Lohmann ({61})
Bernd Reuter
Dr. Hermann Scheer
Horst Schmidbauer
({62})
Ewald Schurer
Wolfgang Spanier
Dr. Konstanze Wegner
Dr. Margrit Wetzel
Engelbert Wistuba
Hanna Wolf ({63})
Uta Zapf
CDU/CSU
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({64})
Peter H. Carstensen
({65})
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Dirk Fischer ({66})
Axel E. Fischer
({67})
Klaus Francke
Dr. Hans-Peter Friedrich
({68})
Erich G. Fritz
Dr. Jürgen Gehb
Georg Girisch
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Hansgeorg Hauser
({69})
Manfred Heise
Ernst Hinsken
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Ulrich Klinkert
Eva-Maria Kors
Rudolf Kraus
Werner Kuhn
({70})
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Ursula Lietz
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({71})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Hans Michelbach
Dr. Gerd Müller
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Norbert Otto ({72})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Peter Rauen
Christa Reichard ({73})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({74})
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Heinz Schemken
Dr. Gerhard Scheu
Christian Schmidt ({75})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wilhelm Josef Sebastian
Johannes Singhammer
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
({76})
Gleichzeitig teile ich Ihnen mit, dass wir 38 Erklärun-
gen gemäß § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll ge-
nommen haben, Ihr Einverständnis vorausgesetzt.1) - Vielen Dank.
Nun fahren wir in der Aussprache fort. Das Wort hat jetzt
der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die im Parlament geführte Diskussion über die Frage eines besseren Schutzes
des religiösen Bekenntnisses wird in der Öffentlichkeit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dorothea Störr-Ritter
Matthäus Strebl
Dr. Susanne Tiemann
Dr. Hans-Peter Uhl
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({0})
Gerald Weiß ({1})
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({2})
Marieluise Beck ({3})
Angelika Beer
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Amke Dietert-Scheuer
Katrin Göring-Eckardt
Gerald Häfner
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Kerstin Müller ({4})
Winfried Nachtwei
Simone Probst
Christine Scheel
Albert Schmidt ({5})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({6})
FDP
Hans-Michael Goldmann
PDS
Wolfgang Bierstedt
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Klaus Grehn
Dr. Bärbel Grygier
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Ursula Lötzer
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Fraktionslose
Enthalten
SPD
Eckhardt Barthel ({7})
Ernst Küchler
Dr. Edelbert Richter
Dr. Ernst Dieter Rossmann
CDU/CSU
Rainer Eppelmann
Norbert Schindler
Bernd Wilz
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Grietje Bettin
PDS
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({8})
Behrendt, Wolfgang Bindig, Rudolf Bühler ({9}), Klaus Haack ({10}), Karl-Hermann
SPD SPD CDU/CSU SPD
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Jäger, Renate Lintner, Eduard
CDU/CSU CDU/CSU SPD CDU/CSU
Dr. Lippelt, Helmut Dr. Lucyga, Christine Michels, Meinolf Müller ({11}), Manfred
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD CDU/CSU PDS
Neumann ({12}), Gerhard Onur, Leyla Palis, Kurt Rupprecht, Marlene
SPD SPD SPD SPD
von Schmude, Michael Zierer, Benno
CDU/CSU CDU/CSU
1) Anlagen 2 bis 5
sehr genau verfolgt. Gestern hat der Deutsche Akademikerinnen-Verband Herrn Vizepräsidenten Seiters ein
Paket mit über 100 000 Unterschriften übergeben und damit zum Ausdruck gebracht, dass es um einen besseren
Schutz des religiösen Bekenntnisses in unserer Gesellschaft gehen muss.
Art. 4 Grundgesetz gewährleistet die freie Religionsausübung. Das ist nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber
dem Staat, sondern beinhaltet zweifellos und unbestritten
auch eine Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung
dieser freien Religionsausübung. Sie ist aber dann nicht
möglich, wenn diejenigen, die die Religion ausüben, ständig damit rechnen müssen, dass sie mit Häme und Hassgefühlen konfrontiert werden.
Es gilt das Wort des Sachverständigen und Strafrechtlers Lenckner, der gesagt hat: Jeder soll nach seiner Fasson selig werden, ohne dafür ins Abseits gestellt zu werden. Das ist, wie ich meine, in Deutschland nicht mehr der
Fall. Jedenfalls ist dies das Empfinden vieler Christen.
Die Meinungsfreiheit soll überhaupt nicht beeinträchtigt werden. Aber es gibt keine Meinungsfreiheit zur Beschimpfung.
({13})
Meinungsfreiheit und Beschimpfung sind nicht das Gleiche. Es gibt keine Freiheit, die Ehre des anderen, seine
Würde zu verletzen. Es gibt keine Freiheit zur Verletzung
der Menschenwürde und der Menschenrechte. Aber in der
deutschen Gesellschaft wird eine Freiheit in Anspruch genommen, die sehr wohl verletzend wirkt und die auch
dazu beiträgt, dass sich viele nicht mehr frei fühlen, in der
Öffentlichkeit das christliche Bekenntnis tatsächlich zu
leben. Das gilt nicht für den mosaischen Glauben und den
Islam. In Deutschland wird jeder, der den mosaischen
Glauben oder den Islam verächtlich zu machen versucht,
von der Öffentlichkeit ganz entschieden zurückgewiesen
und er hat auch mit einer starken Reaktion des Staates zu
rechnen. Darüber empfinden wir Genugtuung.
Aber es besteht eine seltsame Schizophrenie, wenn es
um den christlichen Glauben geht. Hier haben wir nicht
die gleiche Situation. Wir erleben immer und immer wieder, wie sehr das Christentum und Symbole von Christen
- nicht nur in privaten Zirkeln, nicht nur in Zeitungen mit
völlig zu vernachlässigenden Auflagen, sondern in aller
Öffentlichkeit - lächerlich gemacht werden. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen:
Ungestraft darf im Hessischen Rundfunk die katholische Kirche als „Verbrechersyndikat“ dargestellt werden.
Die Anzeige des Bischofs von Limburg dagegen wird abgewiesen. Unbehelligt darf der gekreuzigte Jesus Christus
als „Balkensepp“ und ein anderes Mal als „Lattengustl“ in
der Öffentlichkeit beleidigt werden. Die Anzeige gegen
ein Bild auf dem Titelblatt eines Magazins, das den gekreuzigten Christus als Toilettenpapierhalter darstellt,
hatte keinen Erfolg. Das Theaterstück „Der Vaterschaftsprozess des Zimmermanns Joseph“, in welchem
der Heilige Geist als Tattergreis, der Erzengel Michael als
Schwuler und der Apostel Johannes als Hippie auftreten,
kann ungestört aufgeführt werden. Entsprechende Anzeigen bleiben erfolglos. In Köln werden zwei Galeristen
freigesprochen, die ein Bild ausgestellt hatten, auf dem
eine Nonne dem Gekreuzigten unter den Lendenschurz
greift. Entsprechende Anzeigen des Erzbischofs von Köln
bleiben erfolglos. Die Anzeigen gegen das Theaterstück
„Corpus Christi“ verpuffen vor dem Argument der Staatsanwaltschaft, der öffentliche Friede sei nicht gefährdet.
Dies hat zu der Bemerkung eines Kirchenmannes aus
den neuen Bundesländern geführt, dass so hämisch und
widerwärtig noch nicht einmal die SED-Medien mit den
christlichen Symbolen und Inhalten umgegangen seien.
Die Anzeigen von betroffenen Christen werden von der
Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis zurückgewiesen, der
öffentliche Friede sei nicht gestört. In der Tat haben
90 Prozent aller Anzeigen aus diesem Grund keinen Erfolg gehabt.
Dies führt dazu, dass die Christen im Land und die Kirchen resignieren. Viele haben das Empfinden, dass sie in
Deutschland ihren Glauben nicht mehr frei bekennen dürfen, ohne dafür lächerlich gemacht und ins Abseits gestellt
zu werden.
({14})
Dies ist in der Tat das Empfinden vieler Menschen
draußen im Land. Beide großen Kirchen unterstützen aus
diesem Grund den Gesetzentwurf.
({15})
Aber nicht nur die Christen nehmen an dieser Situation
Anstoß. Der Rechtsdezernent des Zentralrates der Juden
hat in der Anhörung seine Schockierung darüber zum
Ausdruck gebracht, in welcher Weise man in Deutschland
mit christlichen Symbolen umgeht. Der Generalsekretär
der islamischen Gemeinden hat sich in dieser Anhörung
gleichermaßen geäußert.
Nach meiner Auffassung liegt, rechtlich gesehen - es gibt
viele andere Gründe, das will ich nicht verschweigen -, ein
Grund darin, dass im Zuge der Strafrechtsreform von 1969
das Gebot der Toleranz gegenüber den Bekenntnissen von
Religion und Weltanschauung in § 166 StGB durch den
Schutz des öffentlichen Friedens ersetzt wurde. Es wurde
ein neues Schutzgut definiert. Jetzt kann eine Beschimpfung
nur noch bestraft werden - es geht nicht um eine Geschmacklosigkeit, es geht auch nicht um Kritik; eine Beschimpfung ist etwas anderes -, wenn dadurch der öffentliche Friede gefährdet wird.
Dies war 1969 noch ziemlich eindeutig; denn damals
waren weit über 90 Prozent der Menschen in Deutschland
kirchlich gebunden. Damals durfte der Gesetzgeber zweifellos annehmen, dass eine Gefährdung des Friedens
gleichbedeutend ist mit der Beschimpfung der christlichen Religion. Heute haben wir aber eine ganz andere Situation. Die Mehrheit der Deutschen ist konfessionslos
oder sind erklärte Atheisten. Außerdem haben wir drei
Millionen Muslims und eine Zunahme des mosaischen
Glaubens.
({16})
- Frau Nickels, Sie können das nachher aus Ihrer Sicht
darstellen.
Auf jeden Fall haben wir eine entschieden andere Situation - das wird niemand bestreiten - als 1969. Der Gesetzgeber ist damals also von anderen Voraussetzungen
ausgegangen. Er hat gesagt, die Störung des öffentlichen
Friedens ist im Grunde gleichbedeutend mit der Verunglimpfung; denn wenn jemand den christlichen Glauben
verunglimpft, verunglimpft er den Glauben von über
90 Prozent der Deutschen. Heute ist das nicht mehr der
Fall. Man mag sich über die Zahlen streiten. Ich habe
nicht nachgeforscht, ob die Zahlen, die mir genannt worden sind, richtig sind. Auf jeden Fall sinkt die Zahl der
Christen dramatisch. Wir haben längst nicht mehr so viele
Christen im Land wie 1969.
Wenn sich diese Situation geändert hat, dann muss sich
natürlich auch der Gesetzgeber Gedanken darüber machen. Er kann diese Situation nicht einfach an sich vorbeigehen lassen.
({17})
Ich bin deshalb der Meinung, Herr Stünker, dass das alte
Gebot der Toleranz sehr wohl wieder in das Gesetz aufgenommen werden kann. Ich bin der Meinung, dass in einer freiheitlichen Gesellschaft Toleranz eine der Voraussetzungen dafür ist, dass sie überhaupt funktionieren
kann.
Herr Kollege Geis, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Nickels?
Bitte sehr.
Bitte
schön, Frau Nickels.
Herr Kollege Geis, stimmen Sie mir zu, dass durch die
Steuererklärungen und auch durch amtliche Statistiken
zweifelsfrei belegt ist, dass in Deutschland immer noch
80 Prozent der Bevölkerung konfessionell an den christlichen Gauben gebunden sind? Es gibt Unterschiede zwischen den neuen und den alten Bundesländern. Aber wenn
Sie es mitteln, sind es immer noch 70 bis 80 Prozent. Das
ist meine erste Frage.
Zweite Frage: Stimmen Sie mir darin zu, dass es, wenn
man wirklich wieder Ehrfurcht vor Glauben in der Gesellschaft verankern will - ich stimme Ihnen zu, dass das
nötig ist -, doch viel wichtiger wäre, dass die vielen Christinnen und Christen in einen interkulturellen Dialog mit
sich selbst eintreten, um das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Ehrfurcht vor dem Heiligen etwas ist, was
eine Gesellschaft zusammenhält?
In der ersten Frage
stimme ich Ihnen nicht zu. Ich habe andere Zahlen.
In der zweiten Frage stimme ich Ihnen zu. Ich halte
dies in der Tat für wesentlich. Ich bin der Meinung, dass
dadurch gegenseitige Achtung gefördert werden kann.
Das hindert uns allerdings nicht daran, dass wir uns Gedanken darüber machen, ob eine Norm im Gesetz so stehen bleiben kann. Sie ist nämlich im Grunde genommen
das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Diese Norm verpufft. Deswegen haben die Grünen ja auch den Antrag gestellt, diese Norm völlig zu streichen. Also müssen wir,
wenn wir diese Norm beibehalten wollen, uns Gedanken
darüber machen, wie wir sie verbessern können. Ich vertrete die Auffassung, Frau Nickels, dass wir die Norm
dann verbessern, wenn wir den Toleranzgedanken wieder
als Schutzziel dieser Norm herausstellen.
Ich meine, man muss sich sehr wohl Gedanken darüber
machen, ob man das strafrechtlich lösen kann. Insoweit
hat Herr Stünker Recht. Aber wenn Toleranz eine der Voraussetzungen für das Funktionieren einer pluralistischen
Gesellschaft ist, wenn sie Voraussetzung für eine freie Gesellschaft ist, dann muss die freie Gesellschaft um ihrer
selbst willen diejenigen zur Räson bringen, die diese Toleranz beschädigen. Wenn sie in einem solch schweren
Maß beschädigt wird, wie dies im Augenblick in Deutschland immer wieder der Fall ist, dann muss die Gesellschaft nach meiner Auffassung mit dem schärfsten Mittel
antworten, das sie hat. Das ist das Mittel des Strafrechtes. Das haben wir in anderen Fällen auch getan.
Ich bin also sehr wohl der Meinung, dass mit dem
Strafrecht durchaus erreicht werden kann, dass das Toleranzgebot beachtet wird. Dies ist nach meiner Auffassung
auch in anderen Fällen so. Warum soll es in dieser wichtigen Frage nicht ebenfalls so sein?
Es gibt noch einen zweiten Grund. Es geht nicht nur um
die Toleranz gegenüber dem Glaubensverständnis des
Einzelnen. Es geht nicht um eine individuelle Frage, sondern es geht auch darum, dass die Kirchen selbst in ihrer
Stellung nicht beschädigt werden. Insofern ist es wiederum ein verfassungsrechtliches Gebot: Der Staat ist aufgrund unseres Staatskirchenrechts zweifellos verpflichtet,
alles zu tun, damit die Kirchen in ihrer Stellung nicht beschädigt werden.
Es gibt noch einen dritten Grund. Ich meine, der Satz,
dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht
garantieren kann, hat eine große Bedeutung. Das ist ein
wirklich wichtiger Satz, den Böckenförde niedergeschrieben hat. Wenn es aber um Voraussetzungen des Staates
geht und der Staat diese selbst nicht garantieren kann,
dann brauchen wir Institutionen, die diese Voraussetzungen immer wieder erneuern, die die Bevölkerung immer
wieder darauf hinweisen. Das sind unter anderem ganz
gewiss die Kirchen. Wenn wir aber zulassen, dass die Kirchen lächerlich gemacht und von der Jugend nicht mehr
ernst genommen werden, dann sägen wir, auf Dauer gesehen, an dem Ast, auf dem wir sitzen.
Danke schön.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Helmut Wilhelm von Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Mit ihrem Gesetzentwurf will die CDU/CSUFraktion das tatbestandliche Korrektiv in § 166 StGB,
nämlich die Worte „in einer Weise ..., die geeignet ist, den
öffentlichen Frieden zu stören“, gestrichen wissen. Der
vorliegende Entwurf geht auf eine CSU-Initiative zurück.
Er hat noch in der letzten Wahlperiode im Bundesrat die
nötige Mehrheit verfehlt. Ganz zu Recht: Die vorgeschlagene Änderung ist überflüssig; kriminalpolitisch bedeutet
sie ein Zurück ins 19. Jahrhundert.
Nur zur Erinnerung: 1871 wurde der so genannte Gotteslästerungsparagraph im Strafgesetzbuch festgeschrieben. 1969 hat ihn der Gesetzgeber unter der großen Koalition mit den Stimmen der CDU/CSU reformiert und um
das Tatbestandsmerkmal angereichert, das die Union jetzt
wieder streichen will. Dabei war 1969 allen klar: Wer - im
Sinne des heutigen Unionsentwurfes: uferlos - jede Form
zum Beispiel gotteslästerlicher Äußerungen rückhaltlos
unter Strafe stellen will, verletzt das Grundgesetz; denn
Meinungs- und Kunstfreiheit wären dann in bedenklicher
Weise tangiert, religions- und kirchenkritische Äußerungen nahezu verboten.
Will man als Strafgesetzgeber in diesem Bereich überhaupt reagieren, so braucht man deshalb tatbestandliche
Korrektive. Bei § 166 ist dies die Eignung zur Störung
des öffentlichen Friedens. Würden wir an dieser notwendigen Strafbarkeitsschwelle nicht festhalten, könnten wir
gleich ein Gesetz zur Bekämpfung sämtlicher Geschmacklosigkeiten auf den Weg bringen.
Den Strafrichtern an den Gerichten täten wir damit
wohl kaum einen Gefallen, müssten sie doch künftig auch
Verfassungsrichter spielen. In jedem Einzelfall wäre zu
prüfen, ob Meinungs- oder Kunstfreiheit nicht höherwertig einzuschätzen ist. Dann könnte genau das passieren,
was auch Sie von der Union nicht wollen können: So
manche geschmacklose Aktivität würde quasi per Richterspruch überregional publiziert und damit hoffähig gemacht. Schlimmer noch: Jedes Sich-betroffen-Fühlen ultrareligiöser und religiös-fanatischer Gruppierungen
- unter denen gibt es auch in christlichen Kreisen so einige; ich will hier keine Namen nennen - könnte dann zur
Veranlassung strafrechtlicher Verfolgung führen. Jetzt ist
geschütztes Rechtsgut der öffentliche Frieden in seiner religiösen und weltanschaulichen Ausprägung durch den
Toleranzgedanken; aber würde man Ihrem Antrag folgen,
wäre geschütztes Rechtsgut nicht etwa das Toleranzgebot,
sondern, wie schon vor 1969, das wie auch immer geartete religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis anderer,
sei es das einer Kirche, Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsvereinigung sowie einer losen Gemeinschaft, aber selbst das eines Einzelnen. So ist es nachzulesen bei Schwarz Dreher, Kommentar zum StGB,
31. Auflage oder älter, also aus meiner lange zurückliegenden Studienzeit. Manchmal lohnt es sich, alte Bücher
aufzubewahren. Sie können es auch in Creifelds’„Rechtswörterbuch“ unter „Religionsvergehen“ nachlesen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das können Sie doch nicht ernsthaft wollen. Ihre Amtsvorgänger
waren im Jahre 1969 bestens beraten, dem damaligen
Ersten Strafrechtsreformgesetz zuzustimmen und das tatbestandliche Korrektiv des öffentlichen Friedens einzuführen. Lassen wir es doch dabei bewenden!
Selbst das Kommissariat der deutschen Bischöfe
scheint von Ihrem Gesetzentwurf nicht so ganz begeistert
zu sein; denn mit Schreiben vom 4. Februar 2002, das
auch Ihnen zugegangen ist, wird vorgeschlagen, keine
Streichung vorzunehmen, sondern stattdessen § 166 StGB
lediglich um eine Definition der Störung des öffentlichen
Friedens zu ergänzen.
({0})
Genau dies aber hat die Rechtsprechung getan. An dieser
Rechtsprechung orientiert sich der Vorschlag der
Bischöfe. Einer Erinnerung unserer unabhängigen und
fachlich hoch qualifizierten Justiz an ihre eigene Rechtsprechung bedarf es wohl in keiner Weise.
({1})
Vor allem aber, meine Damen und Herren von der
Union, empfehle ich etwas mehr Gelassenheit. Sie tun
wirklich so, als ob heutzutage jede Beschimpfung religiöser Bekenntnisse oder jede Störung der Religionsausübung vom Gesetzgeber geduldet würde. Das ist doch
nicht so. Wer in einer Kirche unerlaubte Nacktaufnahmen
macht, macht sich nach § 167 StGB wegen Störung der
Religionsausübung strafbar. Wer zum Beispiel ein
Schwein ans Kreuz nagelt und dieses Bild im Internet verbreitet, der ist nach § 166 Strafgesetzbuch strafbar.
({2})
So urteilt die Rechtsprechung. Der Vollständigkeit halber:
Manche Fälle erfüllen auch den Tatbestand der Volksverhetzung oder den der Beleidigung. Die Vorschrift des geltenden § 166 StGB ist also keinesfalls zu eng gefasst.
Wenn eine geschmacklose Aktion einmal nicht strafrechtlich geahndet werden kann, dann führt auch das noch
lange nicht zum Untergang des Abendlandes. Das sage ich
nur zur Klarstellung.
({3})
Auch ich will nicht, dass religiöse Gefühle anderer verletzt werden. Aber für Toleranz ist das Strafrecht wohl
kaum das geeignete Mittel.
Meine Damen und Herren von der Union, ich bin wirklich überzeugt, dass Sie diese Gesetzesänderung gar nicht
ernsthaft wollen,
({4})
sondern recht glücklich sind, wenn Ihr Gesetzentwurf in
einigen Minuten abgelehnt wird. Seien Sie doch ehrlich:
Er dient letztendlich nur der Akquisition von Wählerschichten mit extrem religiösem Sendungsbewusstsein.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle zunächst einmal grundsätzlich
fest, dass wir eine sehr viel ernsthaftere Debatte als in der
ersten Lesung haben. Insbesondere ist mir aufgefallen,
Herr Stünker, dass Sie diesmal andere Worte gewählt haben, die dem Thema sehr viel angemessener sind.
({0})
- Ich habe sie nicht nur nachgelesen, sondern ich war sogar anwesend, als Sie geredet haben.
({1})
Ich war über den Ton entsetzt, den Sie damals angeschlagen haben.
Wer eine wirkliche Lagebeschreibung vornehmen will,
der muss feststellen, dass manches, was der Kollege Geis
hinsichtlich der Situation von Christen in unserem Lande
gesagt hat, so nicht zutrifft. Christen sind bei uns keine
verfolgte Minderheit.
({2})
Das ist auch gut so. Ich selbst bin praktizierender Katholik und kann nicht feststellen, dass ich irgendwelche
Nachteile dadurch zu erleiden oder zu befürchten habe.
({3})
Wir sollten als Christen auch selbstbewusst sein und uns
nicht in eine Situation hineinreden, in der wir in diesem
Land Gott sei Dank nicht sind. Das scheint mir wichtig zu
sein.
Aber gerade als Liberaler - ich habe schon in meiner
Rede zur ersten Lesung gesagt, wie wichtig mir das Toleranzgebot des Grundgesetzes ist - nehme ich Anstoß an
manchem, was wir in diesem Bereich gegen den christlichen Glauben und gegen die Kirchen erleben. Sie wissen, dass ich aus dem Justizbereich komme. Ich weiß daher, dass bei der notwendigen Abwägung zwischen
verschiedenen Verfassungspositionen - Freiheit der Religion auf der einen Seite und Meinungs- und Kunstfreiheit auf der anderen Seite - meine staatsanwaltschaftlichen Kollegen immer sehr schnell zur Meinungs- und
Kunstfreiheit neigten. Das ist auch einfacher. Wer es
wagt, anzuklagen, sieht sich sehr schnell in vielen Zeitungen angegriffen. Wer einstellt, ruft Gegrummel bei denen, die eine Anzeige erstattet haben, hervor und findet
Ärger bei den Kirchen. Das hat aber längst nicht die Wirkung wie der öffentliche Angriff, dem man sich ausgesetzt
sieht, wenn man es wagt, in diesen Fällen anzuklagen und
es zu einem öffentlichen Prozess kommen zu lassen.
Wenn man das tut, ist man ultrakonservativ, ein christlicher Radikaler - oder was auch immer als Vorwurf in der
Presse zu lesen ist; man hat kein Interesse für Kunst und
all die anderen Dinge. Das Ergebnis ist, dass es sich die
Kollegen im Regelfall leicht machen und mit der Meinungs- oder Kunstfreiheit arbeiten.
Von daher sehen wir als Liberale nach der Diskussion
in unserer Fraktion durchaus Handlungsbedarf.
({4})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU um Nachsicht, dass wir trotzdem nicht zustimmen werden, weil wir in der Anhörung gehört haben,
dass das, was von Ihnen vorgeschlagen worden ist, und
auch das, was als Kompromissvorschlag in die Diskussion eingebracht worden ist, nicht wirklich hilft. Um die
Abwägung, die ich gerade beschrieben habe, kommen wir
nämlich nicht herum, egal, wie der jeweilige Straftatbestand ausgestaltet ist.
({5})
- Es ist leider wahr, Edzard Schmidt-Jortzig sagt es.
Von daher wird das Übel, das ich gerade beschrieben
habe, nicht beseitigt, egal, welche Änderung wir auch immer vornehmen. Deshalb haben wir - das muss, wie ich
finde, ehrlich festgestellt werden - bisher keinen wirklich
vernünftigen Weg gefunden, wie wir diesem Übel beikommen können. Ich bitte um Nachsicht, dass eine Rechtsstaatspartei wie die FDP nur einer Lösung zustimmen kann,
die einem aufgezeigten Problem Abhilfe verschafft.
Es hilft nichts, dass wir suggerieren, wir hätten eine
Gesetzesänderung herbeigeführt, die zu einer neuen Situation und zu einem notwendigen, besseren Schutz der
christlichen Kirchen und der religiös überzeugten Menschen in unserem Lande - das will ich noch einmal unterstreichen - führen wird. Deshalb werden wir uns bei der
Abstimmung enthalten. Wir wollen damit das Signal setzen, dass sich zwar etwas ändern muss, wir bisher aber
noch nicht den richtigen Weg gefunden haben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Fink von der PDS-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns in einer ernsthaften Debatte, die nach einer gesellschaftlichen
Veränderung fragt, nämlich nach der Veränderung im
Umgang der Menschen miteinander. Wir machen im Augenblick deutlich, dass wir diese Veränderung brauchen.
Ich bin mir nicht sicher, ob Christen wirklich mehr diskriminiert werden als bisher. Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob das vorgeschlagene Strafrechtsänderungsgesetz
wirklich einer Stärkung der Toleranz dienlich ist. Toleranz beginnt erst, wenn es uns gelingt, ertragen zu können,
was uns persönlich schmerzt. Wir müssen uns damit auseinander setzen. Kinder sollten dazu erzogen werden. Letztendlich trägt die Erziehung der Kinder zu Toleranz zum
Kennenlernen des anderen bei. Gegenrede und Streit müssen möglich sein. Die Auseinandersetzung sollte aber nicht
mit dem Strafgesetzbuch in der Hand geführt werden.
Natürlich fragen wir, ob Tucholsky Recht hat, wenn er
fragt, wie weit Satire gehen darf, und er antwortet, dass
Satire alles darf. Ich meine, der Deutsche Bundestag sollte
nicht hinter Tucholsky zurückgehen. Aber auch die Karikatur „Christus mit der Gasmaske“ von George Grosz war
letztendlich eine Demonstration der Freiheit gegen den
Krieg. Müssen wir am Ende dem Todesurteil gegen Dante
mit Verständnis begegnen? Schließlich konnten auch
seine Richter geltend machen, dass er in seiner „Göttlichen Komödie“ die religiösen Gefühle der Menschen
verunglimpft hat.
Um es noch weiter zuzuspitzen - der Kollege Stünker
hat es schon gesagt -: Könnten wir, wenn wir unser Strafrecht wie vorgeschlagen ändern würden und es in
Deutschland zu einem Fall Rushdie käme, ihm eigentlich
Asyl gewähren?
({0})
Schließlich ist es unzweifelhaft, dass der Dichter
religiöse Gefühle verletzt hat. Dies waren und sind allerdings Gefühle von Moslems. Wenn denjenigen, die
diesen Gesetzentwurf eingebracht haben, deren verletzte
religiöse Gefühle ebenso viel wie die von Christen
bedeuten, dann gehörten nicht nur das in Baden-Württemberg als Skandalstück wahrgenommene „Corpus
Christi“, sondern auch die „Satanischen Verse“ von
Rushdie inkriminiert.
({1})
Allerdings ist der Tatbestand Gotteslästerung in der
Bundesrepublik 1969 glücklicherweise abgeschafft worden. Dies war vernünftig. Ich halte es hier mit Karl Barth,
der meinte: Ein Gotteslästerer kann eigentlich nur jemand
sein, der an Gott glaubt. - Wir sind hier gehalten, eine Güterabwägung zwischen dem Toleranzgebot und der Freiheit der Kunst vorzunehmen. Ich bin überzeugt: Letzteres
wiegt schwerer.
Das vor wenigen Monaten auch hierzulande stark angegriffene Plakat zu dem Film „Stellvertreter“ von CostaGavras, das eine symbolische Verschränkung von Kreuz
und Hakenkreuz zeigte, zog in Frankreich eine Klage von
Katholiken nach sich, die bis vor das oberste Gericht ging.
Dort wurde sie aber mit der Begründung abgewiesen, dass
der Papst selbst ja bedauert habe, dass das damalige
Schweigen der katholischen Kirche zum Judenmord
während der Nazizeit ein nicht wieder gutzumachender
Fehler gewesen sei.
Ich könnte jetzt auf einen neuen Skandal hinweisen:
auf den von Haderer. Er wurde ja schon angesprochen.
Trotzdem kann meine Schlussfolgerung nur lauten:
Wer immer es für geboten hält, sich mit einem Kunstwerk
oder mit dem, was sich dafür hält, auseinander zu setzen,
sollte dies im öffentlichen Diskurs tun, solange kein gläubiger Mensch persönlich angegriffen und der öffentliche
Friede nicht gestört wird.
Wir leben in einem per Grundgesetz säkularisierten
Staat, in dem übrigens laut jüngster Shell-Studie nur noch
17 Prozent der Jugend religiös orientiert sind. Wer immer
diesen Prozentsatz wieder steigern will, sollte es nicht mit
Verboten tun. Toleranz kann immer nur durch Toleranz
gefördert werden, niemals durch Strafe.
Die PDS-Fraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({2})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Alfred Hartenbach von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Im Evangelium nach Markus,
Kap. 2 Vers 23 bis 28 findet sich folgende Stelle:
An einem Sabbat ging er
- der Herr durch die Kornfelder und unterwegs rissen seine
Jünger Ähren ab. Da sagten die Pharisäer zu ihm:
Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat verboten. Er antwortete: Habt ihr nie gelesen, was
David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig
waren und nichts zu essen hatten - wie er ... in das
Haus Gottes ging und die heiligen Brote aß, die außer
den Priestern niemand essen darf, und auch seinen
Begleitern davon gab? Und Jesus fügte hinzu: Der
Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch
für den Sabbat.
Ich sage: Kirche, Glauben und Weltanschauung sind
für die Menschen da und nicht die Menschen für Kirche,
Glauben und Weltanschauung.
({0})
Diese harmlose Äußerung von Jesus damals - ({1})
- Herr Geis, ich habe bei diesem Thema, das Ihnen sehr
ernst ist, ganz bewusst auf Zurufe verzichtet. Wenn Sie
dokumentieren wollen, dass Sie das Thema ernst nehmen,
wäre es vielleicht ein vornehmes Gebot, ebenfalls auf Zurufe zu verzichten.
({2})
Diese harmlosen Äußerungen damals haben dazu geführt, dass Jesus vor den Hohen Rat gezerrt wurde, man
ihn dort der Gotteslästerung bezichtigte und er schließlich von Pilatus zum Tode verurteilt wurde. Ich führe dies
an, um zu zeigen, wohin es gehen kann, wenn man die
Religion zu sehr in den Vordergrund stellt. Ich denke,
dass wir als Christen - ich zähle mich dazu - heute genau
das bei dem von der CDU/CSU vorgelegten Gesetzentwurf betrachten und beachten müssen. § 166 StGB, so
wie wir ihn jetzt haben, schützt das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis in ausreichendem Maße. Es ist
nicht erforderlich, dass jede öffentliche Äußerung, die
man als Verunglimpfung ansehen könnte, auch gleich
strafbar ist.
Wie ist das zum Beispiel mit den deftigen bayerischen
Flüchen, Herr Singhammer, Herr Geis, wenn denn der
Schutz des öffentlichen Friedens entfällt? Muss man
nicht auch dann den Staatsanwalt rufen? Oder wie ist es
denn, wenn sich ein Kunstwerk ernsthaft mit Religion
auseinander setzt? Bisher war es doch so, dass nicht nur
das eigene Empfinden, sondern auch der öffentliche Frieden gestört sein musste. Das war das Korrektiv dafür,
dass es eben nicht nur auf die Empfindung des Einzelnen
ankam, sondern darauf, wie weit hier der öffentliche
Frieden gestört ist. Von daher bekommt auch wieder das
Wort vom Sabbat, das ich eben gesagt habe, diese Bedeutung: Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht
der Mensch für den Sabbat. Oder sagen wir es doch mit
einfachen Worten: Lassen wir die Kirche im Dorf!
Lassen Sie mich noch etwas anführen. Geschützt von
§166 StGB ist nicht nur die Religion, das religiöse Empfinden, sondern auch die Weltanschauung.
({3})
Dazu gehört zum Beispiel ganz einfach auch das Empfinden eines Atheisten. Wenn Sie hier die Schutzfunktion der
Störung des öffentlichen Friedens herausnehmen, müssen
Sie, so meine ich, mit manchen Worten sehr, sehr vorsichtig umgehen. Zur Weltanschauung gehört auch, was
politische Parteien machen. Da möchte ich Sie, verehrter
Kollege Geis - ich mache das bewusst mit großer Ernsthaftigkeit -, daran erinnern, wie Sie mit uns umgesprungen sind, als wir das Lebenspartnerschaftsgesetz damals
im Rechtsausschuss beraten haben. Damals hat uns der
Kollege Geis als „ehrlos“ bezeichnet, er hat das wiederholt und hat sogar Frau von Renesse als „ehrlos“ bezeichnet. Hätte man damals Ihr Gesetz angewandt, hätten Sie
sich strafbar gemacht. Natürlich waren Sie durch die Indemnität geschützt.
({4})
Sie sehen daraus, dass wir uns auch weiterhin zurückhalten sollten, wenn wir den Religionsfrieden schützen
wollen.
({5})
Wir schützen das religiöse Empfinden ausreichend, aber
wir wollen es nicht übertreiben. Wir würden es übertreiben und würden die Kirche und die Weltanschauung
überhöhen, wenn wir heute Ihrem Gesetz zustimmen
würden. Ich meine, dass wir bisher, auch was die Rechtsprechung zeigt - Herr Wilhelm hat es eben angeführt -,
immer wieder ausreichenden Schutz von Glaube, Religion und Weltanschauung gehabt haben. Wenn Sie die
Störung des öffentlichen Friedens herausnehmen, veranlassen Sie Amtsrichter und Staatsanwälte dazu, gegen
Menschen vorzugehen, die nichts Böses im Sinn gehabt
haben.
({6})
Ich gehe davon aus, dass es in der Tat so ist, wie es Herr
Wilhelm gesagt hat: dass Sie hier eine bestimmte Klientel
ansprechen wollen.
({7})
Ich darf Ihnen, verehrter Kollege Geis, und den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU zum Schluss ganz
freundlich zurufen: Ich hoffe, ich muss hier nicht ein weiteres Zitat einer Aussage von Jesus Christus anwenden.
({8})
Ich sage es trotzdem: Herr, vergib Ihnen, denn sie wissen
nicht, was sie tun.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Johannes Singhammer für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Worum
geht es? Es geht um massivste Angriffe und Verhöhnungen von religiösen Symbolen und Glaubensinhalten in
Wort, Schrift und Bild, die zugenommen haben und die
jegliches Maß an Toleranz und Achtung vor den Überzeugungen anderer vermissen lassen. Das ist der Punkt.
({0})
Davon betroffen sind insbesondere christliche Bekenntnisse. Millionen von Mitgliedern fühlen sich verächtlich
gemacht, geschmäht und vom Staat nicht mehr ausreichend geschützt.
Beispiele gibt es doch genug: Im Internet werden
T-Shirts angeboten, auf denen ein ans Kreuz genageltes
Schwein mit der Aufschrift „Wieso“ zu sehen ist. Die
Staatsanwaltschaft Regensburg stellt ein Ermittlungsverfahren ein, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für eine
Straftat nicht erfüllt sind. Da wird ein Theaterstück mit
dem Titel „Die Zwerge vom Berge“ aufgeführt, in dem Jesus sturzbetrunken am Kreuze hängt, die Schar der Jünger
als verrückt dargestellt wird und die Kirche als Irrenanstalt erscheint. Das Oberlandesgericht Braunschweig hat
keine Schutzmöglichkeit gesehen.
Um diese schwerwiegendsten Angriffe geht es, nicht
um die Beeinträchtigung der Kunst- und Meinungsfreiheit.
({1})
Es geht nicht um den guten Geschmack und es geht
auch nicht darum, die Äußerungen von Satire, Ironie oder
Meinungsfreiheit einzuschränken. Vielmehr geht es um
massivste Angriffe und Attacken. Immer mehr Menschen
in Deutschland, denen ihre eigene religiöse Überzeugung
wichtig ist, die aber genauso Respekt und Toleranz gegenüber den Überzeugungen anderer haben, fühlen sich
vogelfrei. Empört und betroffen reagieren Bürgerinnen
und Bürger, aber auch kirchliche Stellen oftmals mit
Strafanzeigen, Eingaben und Beschwerden, die meist völlig wirkungslos bleiben. Jeder, der ein bisschen weiter
denkt, weiß doch, dass nicht nur christliche Konfessionen,
sondern auch andere Religionen vor diesen massivsten
Attacken auf Dauer nicht geschützt sind.
Der fortwährende Tabubruch verändert schwerwiegend nicht nur das Gespür für die Grenzen des Zumutbaren, sondern provoziert seinerseits immer zügellosere,
schlimmere Übergriffe, weil immer nur noch der Gehör
findet, der einem Tabubruch noch eins draufsetzt.
({2})
Ich weiß - auch das hat die Debatte ergeben -, dass
nicht alle die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung einsehen. Ich bitte aber alle, doch Folgendes zu bedenken:
Anders als vor 20, 30 oder 40 Jahren leben heute in
Deutschland mehr Religionsgemeinschaften, mehr Menschen unterschiedlichster Bekenntnisse zusammen. Deshalb wachsen auch die Anforderungen an Respekt, an
wechselseitige Rücksichtnahme und vor allem an gegenseitige Toleranz. Wir brauchen in den kommenden Jahren
nicht weniger, sondern mehr Toleranz. Deshalb wirken
blasphemische Angriffe zerstörerischer und gefährlicher
als früher.
({3})
Auch deshalb brauchen wir eine staatliche Stärkung des
Toleranzgebotes. Zu Recht haben deshalb in der
Anhörung des Deutschen Bundestages, die schon zitiert
worden ist, die Vertreter der katholischen Kirche, die Vertreter der evangelischen Kirche, die Vertreter des Zentralrates der Juden und auch die islamische Seite einmütig für
einen wirksameren Schutz plädiert. Dahinter verbirgt sich
nicht engstirnige Kirchen- und Religionspolitik, sondern
eben die große Sorge, dass das Zusammenleben vergiftet
wird, wenn Verhöhnung und Beschimpfung religiöser
Überzeugungen als gesellschaftlich akzeptiert erscheinen.
({4})
Unser Gesetzentwurf beschneidet weder Meinungsnoch Kunstfreiheit. Unser Gesetzentwurf wirkt Bewusstsein bildend für Toleranz und gegenseitigen Respekt. Unser Gesetzentwurf schützt den inneren Frieden in unserem
Land, und das brauchen wir dringend.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes auf Drucksache 14/4558. Der
Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/8379, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen
von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung des Stiftungsrechts
- Drucksache 14/8277 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des Stiftungsrechts
- Drucksache 14/8765 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({2}), Rainer
Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des
Stiftungszivilrechts ({3})
- Drucksache 14/5811 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 14/8894 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Antje Vollmer
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen zur Modernisierung des Stif-
tungsrechts liegen ein Entschließungsantrag der Fraktio-
nen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die
Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor.
Die Kolleginnen und Kollegen Alfred Hartenbach,
Freiherr von Stetten, Antje Vollmer, Rainer Funke,
Heinrich Fink sowie der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Eckhart Pick haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1) - Ich sehe keinen Widerspruch im Hause.
Deshalb kommen wir sofort zur Abstimmung, und
zwar zuerst über den von den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf
zur Modernisierung des Stiftungsrechts. Es handelt sich
um die Drucksache 14/8277. Der Rechtsausschuss
1) Anlage 6
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/8894, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU
und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8926. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des gesamten Hauses
angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8923. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Jetzt kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 14/8894 zu dem von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Modernisierung des Stiftungsrechts. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 14/8765 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP für eine Reform des
Stiftungszivilrechts auf Drucksache 14/5811. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8894, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
bei Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungpunkt 10 sowie Zusatzpunkt 7
auf:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus
Kinkel, Dr. Helmut Haussmann, Günther Friedrich
Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP sowie der Abgeordneten Hans-Dirk
Bierling, Dr. Wolfgang Bötsch, Monika Brudlewsky,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Landminen ohne integierte Selbstneutralisierungs- oder Selbstzerstörungsmechanismen
ächten - Minenräum- und Minenopferhilfe
deutlich erhöhen
- Drucksache 14/8654 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Ernstberger, Uta Zapf, Rainer Arnold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Angelika Beer, Rita
Grießhaber, Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Für eine Weiterentwicklung der humanitären
Rüstungskontrolle bei Landminen
- Drucksache 14/8858 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Kolleginnen und Kollegen Hans-Dirk Bierling,
Uta Zapf, Dr. Klaus Kinkel, Angelika Beer, Heidi
Lippmann sowie Vera Wohlleben haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1) - Auch hierzu gibt es keinen Wider-
spruch im Hause.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8654 und 14/8858 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches
- Drucksache 14/8524 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({9})
- Drucksache 14/8892 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({10})
Dr. Norbert Röttgen
Volker Beck ({11})
Dr. Evelyn Kenzler
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung des Römischen Statuts des
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 7
Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli
- Drucksache 14/8527 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({13})
- Drucksache 14/8888 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({14})
Dr. Norbert Röttgen
Volker Beck ({15})
Dr. Evelyn Kenzler
Zum Gesetzentwurf zur Einführung des Völkerstrafge-
setzbuches liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Da jedoch alle Kolleginnen und Kollegen ihre Reden
zu Protokoll gegeben haben - die Namen werden im Pro-
tokoll nachzulesen sein1) -, kommen wir sofort zu den Ab-
stimmungen.
Ich lasse nun über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Einführung des Völker-
strafgesetzbuches in der Ausschussfassung abstimmen,
Drucksachen 14/8524 und 14/8892. Es liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir
zuerst abstimmen werden. Wer stimmt für den Ände-
rungsantrag auf Drucksache 14/8919? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der
PDS abgelehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Jetzt stimmen wir über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8924 ab. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Gibt
es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Ent-
schließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Frak-
tion abgelehnt.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Aus-
führung des Römischen Statuts des Internationalen Straf-
gerichtshofes vom 17. Juli 1998, Drucksachen 14/8527
und 14/8888. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist ein-
stimmig angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({16}), Dirk Fischer
({17}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Untersuchung von Seeunfällen ({18})
- Drucksache 14/8108 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({20})
- Drucksache 14/8707 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Wolfgang Börnsen ({21})
Helmut Wilhelm ({22})
Hans-Michael Goldmann
Dr. Winfried Wolf
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({23}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({24}),
Dirk Fischer ({25}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU Bildung einer Leitstelle für See-
sicherheit
- Drucksachen 14/5450, 14/8611 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christine Lucyga
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold
Hiller ({26}), Reinhard Weis ({27}), Petra
Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD, der Abgeordneten Renate Blank, Wolfgang
Börnsen ({28}), Georg Brunnhuber, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der
Abgeordneten Gila Altmann ({29}), Franziska
Eichstädt-Bohlig, Albert Schmidt ({30}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Horst Friedrich ({31}), Hans-Michael
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 8
Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Wolfgang
Gerhardt und der Fraktion der FDP
Maritime Sicherheit auf der Ostsee
- Drucksache 14/8855 Auch hier bekomme ich das Signal, dass alle Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben haben: Annette Faße, Reinhold Hiller ({32}), Wolfgang
Börnsen ({33}), Helmut Wilhelm ({34}),
Hans-Michael Goldmann sowie Dr. Winfried Wolf.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Un-
tersuchung von Seeunfällen der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 14/8108. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache
14/8707, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthal-
tung der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen auf Drucksache 14/8611 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Bildung einer Leit-
stelle für Seesicherheit“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/5450 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP mit dem Titel: „Maritime
Sicherheit auf der Ostsee“. Wer stimmt für den Antrag auf
Drucksache 14/8855? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d sowie
den Zusatzpunkt 8 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Angelika
Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Afrikas neues Denken unterstützen
- Drucksache 14/8859 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({35}) zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Afrika darf nicht zu einem vergessenen Kontinent werden
- Drucksachen 14/2571, 14/4970 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. R. Werner Schuster
Hans-Christian Ströbele
Joachim Günther ({36})
Carsten Hübner
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({37})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner
Schuster, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika
Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele,
Kerstin Müller ({38}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-AKP-Zusammenarbeit - bewährte
Partnerschaft mit großer Zukunft
- zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Reform der EU-Entwicklungszusammenarbeit ist bislang Stückwerk und muss konsequent vorangetrieben werden
- Drucksachen 14/3396, 14/3771, 14/8617 Berichterstattung:
Abgeordnete Detlef Dzembritzki
Dr. Ralf Brauksiepe
Angelika Köster-Loßack
Joachim Günther ({39})
Carsten Hübner
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim
Günther ({40}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Afrikapolitik der Bundesregierung
- Drucksachen 14/4181, 14/5582 ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({41}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim
Günther ({42}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für eine europäische Ausrichtung der deut-
schen Afrikapolitik
- Drucksachen 14/5090, 14/8849 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Tappe
Carl-Dieter Spranger
Dr. Helmut Haussmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-
Fraktion hat der Kollege Reinhold Hemker.
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 9
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung des Themas,
über das wir jetzt diskutieren, ist offensichtlich nicht nur
im Bewusstsein vieler Mitglieder dieses Hauses fest verankert. Das scheint sich auch heute Abend zu bestätigen.
Es hat einige gegeben, die im Vorfeld vorgeschlagen haben, diesen Tagesordnungspunkt abzusetzen, da erwartet
wurde, dass wir zu mitternächtlicher Stunde über dieses
Thema diskutieren werden. Auch ich habe erst vor fünf
Minuten erfahren, dass nun doch über diesen Tagesordnungspunkt diskutiert werden soll. Ich bin gebeten worden, ein paar Anmerkungen darüber zu machen, was wir
- ich sage das mit allem Ernst und vor dem Hintergrund
dessen, was mein verstorbener Freund Werner Schuster
immer zu dieser Thematik gesagt hat - für Afrika, diesen
vergessenen und geprügelten Kontinent, tun können.
Ich bedanke mich beim Bundeskanzler, dass er eine erfahrene Kollegin berufen hat, sich im Konzert der G-8Staaten dieser breiten Thematik anzunehmen. Ich wünsche Ihnen, Kollegin Eid, insbesondere für die in den
nächsten Wochen beginnenden Arbeiten zur Vorbereitung
des nächsten G-8-Gipfels in Kanada alles Gute und - ich
denke, das ist im Sinne Werner Schusters - Gottes Segen.
({0})
Meine guten Wünsche sind notwendiger denn je; denn
trotz der wichtigen Beantwortung einer Großen Anfrage
der CDU/CSU, der Einbringung eines durchaus in die
richtige Richtung weisenden Antrages der FDP und trotz
der Bemühungen der letzten Monate war es möglich, einen solchen Tagesordnungspunkt einvernehmlich, also
mit Zustimmung aller Fraktionen, an das Ende der Tagesordnung zu setzen. Wir als Entwicklungspolitiker und
Freunde Afrikas müssten - das sage ich auch an die
Adresse der Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktion - einmal deutlich machen, dass auch wir - ich sage
das vor dem Hintergrund, dass es heute Morgen eine Regierungserklärung zur Lage im Nahen Osten und eine
Diskussion über die dortige Krise, den Krieg und die
Grausamkeiten gegeben hat - sicherlich eine gebündelte
Debatte zur Unterstützung unserer Forderungen im Hinblick auf den G-8-Gipfel brauchen.
({1})
Was ist geschehen? Einige führende Kräfte in Afrika
haben gesagt: Wir brauchen ein neues politisches Modell
der Partnerschaft für die Entwicklung unseres Kontinents.
Das ist also nicht von uns, sondern von afrikanischen Führern ausgegangen, die vielleicht in ihren Ländern schon
gute Erfahrungen mit der politischen Entwicklung gemacht haben und die deshalb ein Rahmenkonzept vorlegen wollen. Ich freue mich, dass Sie, Kollegin Eid, darauf
so reagiert haben, wie Sie es getan haben, dass einige Kolleginnen und Kollegen Überlegungen dazu angestellt haben, wie wir vonseiten der Entwicklungspolitik reagieren
können, und dass die Kolleginnen und Kollegen der FDP
die Frage aufgeworfen haben, wie man die Menschen in
Deutschland und Europa ansprechen kann, damit sie dazu
beitragen, dass Firmen in Afrika unter dem neuen Aspekt
investieren. Das ist in einigen Ländern, in denen es stabile
Verhältnisse gibt, beispielsweise in Botswana, schon geschehen.
In einem Informationsdienst des Evangelischen Entwicklungsdienstes hat der Vorstandsvorsitzende Konrad
von Bonin Folgendes geschrieben - das könnte eine Einleitung für all das sein, was wir in den nächsten Monaten
im Hinblick auf den G-8-Gipfel tun können -:
Dauerhafte Sicherheit ist nicht ohne Frieden und
dauerhafter Frieden nicht ohne ein Mindestmaß an
Gerechtigkeit möglich. Gerechtigkeit setzt andererseits ein Mindestmaß an Sicherheit, an gesicherten
Lebensverhältnissen voraus. Zwischen beidem besteht ein untrennbarer Zusammenhang. Die Situation
in Ländern wie Angola, Somalia oder Kongo, in denen kaum eine die Bürger schützende Staatsgewalt
vorhanden ist, illustriert dies mehr als deutlich.
Unter anderem diese Überlegungen haben zu der Initiative - es ist eine Art Vertrag - mit dem Titel „Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas“ geführt, über die
wir heute diskutieren.
Ich spreche in aller Kürze drei Aspekte an, die wir in unserem Antrag als wichtig herausgestellt haben. Eine der
Kernfragen für Frieden und Gerechtigkeit in Afrika wird
sein, dass in den einzelnen afrikanischen Ländern unter
unterschiedlichen Voraussetzungen Landreformen
durchgeführt werden. Dafür aber müssen - Kollegin Eid,
das wird Thema auf dem G-8-Gipfel sein - ausreichend
Gelder bereitgestellt werden, damit gut ausgebildete Bäuerinnen und Bauern dieses Land bewirtschaften können.
({2})
Es gab in Ansätzen bereits Landreformen. Es ist dann aber
auf dem Grund und Boden, der in neuen Besitz von Genossenschaften, kleinen Gesellschaften und Familien gekommen ist, nicht anders als früher weitergearbeitet worden. Darum empfehle ich, dass dieses Thema in den
Vordergrund aller Überlegungen gerückt wird.
Zweitens ist es unbedingt notwendig, dass angesichts
der Tatsache, dass in den meisten afrikanischen Ländern
Raubbau an der Biomasse, insbesondere an Holz, getrieben wird, der dezentrale Ausbau erneuerbarer Energien
vorangebracht wird. Auch zu diesem Thema habe ich bereits vor einiger Zeit gemeinsam mit dem leider verstorbenen Kollegen Werner Schuster ein Arbeitspapier vorgelegt, das vom Bundestag verabschiedet worden ist und in
Ihrem Hause, Kollegin Eid, vorliegt. Das sind kleine Bausteine für das, was ich Entwicklungspartnerschaft nenne
und was unsere Partnerinnen und Partner in den verschiedenen NGOs in Afrika benötigen.
Drittens. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten und sicherlich noch über viele Jahre darüber sprechen, dass Menschen aus anderen Ländern als Migranten
zu uns kommen: als qualifizierte Arbeitskräfte oder als
Menschen, die bei uns ausgebildet und qualifiziert werden. Wir müssen aber auch verstärkt darüber reden, wie
wir die Menschen unterstützen, die bereit sind, in ihre
Heimatländer zurückzukehren oder bereits zurückgekehrt
sind. Ich empfehle deswegen - auch das ist Teil unseres
Antrags -, sich dieser Zielgruppe anzunehmen. Es handelt
sich um Menschen, die sich in ihren Heimatländern schon
organisiert haben, nachdem sie aus Deutschland, wo sie
ausgebildet wurden, zurückgekommen sind. Von den Reisen, die wir im Auftrag des Bundestages unternommen
haben, wissen wir, dass viele von ihnen arbeitslos sind
und ihre Existenz nicht sichern können. Sie suchen Kontakt mit den deutschen Partnerorganisationen und deutschen Freunden. Leider haben wir keine ausreichenden
Instrumentarien, um diese Menschen beim Aufbau ihrer
Länder zu unterstützen. Diese Menschen haben schon bei
uns in kleineren oder größeren Nichtregierungsorganisationen gearbeitet und uns Entwicklungspolitikern und
-politikerinnen geholfen, das Bewusstsein für die EineWelt-Arbeit wach zu halten. Oft können sie in ihren Ländern nicht entsprechend eingesetzt werden.
Ich habe von dem, was wir zum Thema Entwicklungszusammenarbeit aufgeschrieben haben, nur drei Punkte genannt. Wir haben einen ganzen Katalog vorgelegt. Im Übrigen, lieber Herr Kollege Hedrich - ich sage das auch mit
Blick auf die anderen Fraktionen -: Das sind Ideen, die es
auch in anderen Anträgen in den letzten Jahren gegeben hat.
Entscheidend ist jetzt - da die Chance besteht, dass all
das eine andere Qualität bekommt -, dass Afrika auch Gegenstand der Verhandlungen auf dem G-8-Gipfel wird.
Afrika muss dort zum Thema gemacht werden, wie die
Kollegin Eid es möchte, wie wir alle es möchten und wie
wir es in der Unterstützung der Bundesregierung voranbringen wollen.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Marlies Pretzlaff.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Erfreulicherweise erscheint
nach langer Zeit Afrika heute einmal wieder für 45 Minuten auf der Tagesordnung. Herr Kollege Hemker hat es
schon gesagt: „Wir sind zu früh dran“, ich hatte mir vorhin
nämlich aufgeschrieben, dass es für Afrika schon fünf vor
zwölf ist. Nun ist es hier nicht ganz so spät geworden. Für
Afrika bleibt aber in der Tat nicht mehr sehr viel Zeit. Auch
das ist ein Grund, warum wir unsere Reden zu dem Thema
Afrika nicht einfach zu Protokoll geben können, wenn es
denn schon einmal auf der Tagesordnung steht.
({0})
„Die Afrikapolitik ist der politische Schwerpunkt der
Schröder-Regierung im Jahr 2000“, so Staatsminister
Dr. Ludger Volmer zur so genannten neuen Schwerpunktsetzung 2000; dieses Zitat stammt aus der Antwort auf die
Große Anfrage der FDP-Fraktion. Ich fand es schade, dass
Rot-Grün diesen Kontinent nur für ein Jahr als Schwerpunktthema ausgewählt hat. Ich fand es auch schade, wie
diese neue Schwerpunktsetzung ausgestaltet wurde: unter
anderem mit diversen Kurzzeittrips auf den afrikanischen
Kontinent, meist zu Konferenzen und zur Unterzeichnung
von Papieren, mit intensiven politischen Dialogen in
Afrika, in Berlin, aber auch in Hannover bei den jeweiligen
Ländertagen auf der EXPO 2000, zu denen übrigens nicht
nur die afrikanischen Staatsoberhäupter angereist sind,
und - was mich nun wirklich geärgert hat - mit einem traditionellen Abendessen der afrikanischen Außenminister
am Rande der UNO-Vollversammlung in New York. Prost
Mahlzeit: Mindestens 200 Millionen Afrikaner sind chronisch unterernährt, darunter 23 Millionen Kinder, und der
Bundesminister Joseph Fischer gibt ein Essen. Was, um
Himmels willen, hat das Auswärtige Amt zu dieser exemplarischen Aufzählung von Neuigkeiten bewogen? Selbst
Rechtfertigungen von Haushaltskürzungen in der EZ und
Botschaftsschließungen in Afrika werden als Nachweis der
neuen Schwerpunktsetzung angepriesen.
Auch die gesamte Auflistung deutsch-afrikanischer
Entwicklungszusammenarbeit, wie sie seit Jahrzehnten
praktiziert wird, ist nicht unbedingt ein neuer Schwerpunktansatz für Afrika. Zugegeben, in der Entwicklungspolitik hat sich seit 1998 einiges verändert. Es ist aber betrüblich - zumindest aus meiner Sicht -, mit welcher
Leichtfertigkeit das Auswärtige Amt im Namen der Bundesregierung auf berechtigte Fragen der Opposition antwortet. Das ist, meine ich, der Bedeutung Afrikas und seiner 800 Millionen Menschen nicht angemessen.
Deshalb möchte ich an unseren Appell, den wir in unserem Antrag an alle gerichtet haben, erinnern: Afrika darf
nicht zum vergessenen Kontinent werden! Dieser Appell
ist heute noch genauso aktuell wie vor zwei Jahren, als berechtigterweise Osttimor und das Kosovo im Zentrum unserer Debatten standen und unsere ungeplanten Handlungen rechtfertigten. Mit Recht nehmen zurzeit die
Terrorbekämpfung in Afghanistan und die schrecklichen
Auseinandersetzungen im Nahen Osten unsere Aufmerksamkeit und unser Engagement in Anspruch. Dennoch
muss Afrika auf der Tagesordnung bleiben und darf nicht
nur Schwerpunkt eines Jahres sein.
({1})
Zahlreiche Krisenherde und Konflikte, Gewalt und Terror beuteln diesen Kontinent nach wie vor mit zum Teil
ebenfalls weltweiten Auswirkungen. Ich erinnere nur an die
Blutdiamanten oder an die Flüchtlingsströme. Insgesamt
hat Afrika mit Langzeitproblemen schwer zu kämpfen.
Alle Anträge äußern sich in ihrem Feststellungsteil
ohne große Unterschiede zur problematischen Lage in
Afrika. Ich denke dabei an die Großen Seen und an die
Aidsproblematik. Zur Sprache kommen in den Anträgen
aber durchaus auch positive Dinge. Ich werde auf diese
Aspekte kurz eingehen. Die nächsten Redner können sich
dann darauf beziehen.
Die Lage im Bereich der Großen Seen hat sich trotz aller
Bemühungen nicht wesentlich verbessert. Der innerkongolesische Dialog ist nach mehr als 50-tägigen Gesprächen vor
einigen Tagen beendet worden. Es gab leider nur eine bilaterale Vereinbarung zwischen einem Teil der Rebellenorganisationen und der Regierung Kabila. Es ist zu befürchten,
dass dort ein bewaffneter Konflikt ins Haus steht.
Mugabe ist dabei, Simbabwe zugrunde zu richten. Wir
sollten ernsthaft darüber nachdenken, welchen Handlungsspielraum wir für uns dort möglicherweise in Anspruch nehmen. Die Solidaritätsbezeugungen diverser
afrikanischer Staatsvertreter zugunsten von Präsident
Mugabe sind für uns unverständlich; sie widersprechen
den innerafrikanischen Bemühungen um mehr Entwicklung und Wirtschaftswachstum.
({2})
Madagaskar steht am Rande eines Bürgerkrieges. Die
Situation in Nigeria ist nicht sehr beruhigend und Angola
ist auch nach dem Tod Savimbis noch lange nicht befriedet. Ich erinnere an 4 Millionen Binnenflüchtlinge, an
11 Millionen Landminen, an 45 000 demobilisierte
UNITA-Soldaten und an ein völlig zerstörtes Land.
Die Hälfte der Bevölkerung Afrikas lebt in Armut.
Nur rund 45 Prozent der Menschen haben einen Zugang
zu sauberem Trinkwasser. Dort sterben zehnmal so viel
Menschen wie durch Krieg. Die zunehmende Verschmutzung gefährdet die Wasservorräte, obwohl schon mit einfachen Mitteln - es müssen nicht immer große finanzielle
Transaktionen gestartet werden - die Reinigung und sogar die Wasserversorgung in den ländlichen Regionen
verbessert werden könnte.
Inzwischen sterben in Afrika mehr Menschen an Aids
als durch seine Bürgerkriege. Von den weltweit etwa
40 Millionen Infizierten leben rund 70 Prozent in den
Ländern Afrikas südlich der Sahara. Die uns allen bekannten Defizite bei Seuchen, bei Dürren, beim Bildungsbedarf und bei der Gesundheitsversorgung brauche
ich jetzt nicht gesondert zu erwähnen.
Es häufen sich demokratische Präsidentenwechsel, wie
in Senegal und Ghana. Das ist ein erfreuliches Zeichen.
Erfreulich ist auch, dass die Staaten südlich der
Sahara ihre politischen und wirtschaftlichen Integrationsbemühungen auf zwischenstaatlicher Ebene intensivieren
und dass regionale Organisationen erfolgreich tätig sind.
Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die angestrebten
Entwicklungsziele in den Ländern Afrikas südlich der Sahara bisher nicht in dem erhofften Umfang erreicht wurden, ja, dass die Armut und die Instabilität vielerorts sogar gestiegen sind.
Ich komme auf den SPD-Antrag zu sprechen. Von der
HIPC-Initiative, in die 28 Länder einbezogen sind, profitieren 21 afrikanische Länder. Bei aller Befürwortung
dieser Initiative besagt diese Tatsache, dass die ärmsten
Länder der Welt in Afrika südlich der Sahara liegen. Die
Schuldenerleichterungen für diese Staaten sind in erster
Linie für die Budgets der Regierungen hilfreich. Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft ebenso wie die Umschichtung der Haushalte, die eigenständige Erarbeitung
von Armutsbekämpfungsprogrammen und vor allem die
Umsetzung zum Wohle der Bevölkerung sind nachdrücklich einzufordern; denn all das steht in den meisten Ländern bisher nur auf dem Papier.
Frau Kollegin
Pretzlaff, ich muss Sie jetzt leider an die Redezeit erinnern.
({0})
- Hat sie schon.
({1})
Okay, dann lese ich
jetzt etwas schneller.
In früheren Zeiten war es guter Brauch, zu Afrikadebatten interfraktionelle Anträge einzubringen und in
diesem Hause mit einer Stimme zu sprechen. Seit einem
Zeitraum von zwei Jahren liegen uns Anträge aus verschiedenen Fraktionen mit eigentlich begrüßenswerten Vorschlägen und mit Initiativen vor. Unsere Befürchtung ist
nur, dass es bei Worthülsen bleibt. Vielmehr sollten wir uns
bemühen, das, was wir wohl alle für Afrika anstreben, in die
Tat umzusetzen. Wir befürchten, dass vollmundigen Ankündigungen des Kanzlers, des Außenministers oder auch
der Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit keine
konkreten Taten und keine sichtbaren Ergebnisse folgen.
Afrika eignet sich nicht zum Schlagabtausch zwischen
Parteien in Deutschland. Jede Initiative vom Kleinstprojekt
einer Schulpartnerschaft bis zur Förderung einer gemeinsamen Afrikapolitik der EU ist begrüßenswert. Insofern ist
auch jeder Afrikatrip eines Ministers immer noch besser als
gar kein Afrikabesuch. - Das als Ausgleich für vorhin.
Wir sollten gemeinsam dafür Sorge tragen, dass Afrika
Schwerpunktregion unserer Entwicklungspolitik bleibt.
Afrika ist die Wiege der Menschheit. Wir alle hoffen, dass
sich das bewahrheiten wird, was auf der letzten BerlinKonferenz anklang: Afrika ist im Kommen.
Danke schön.
({0})
Ein bisschen Redezeit
ist für Herrn Hedrich auch noch übrig geblieben.
Jetzt spricht die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Uschi Eid.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Pretzlaff, Sie wissen, ich schätze Sie sehr, aber ich glaube,
Sie haben nicht beobachtet, dass es seit Hans-Dietrich
Genscher gute deutsche Tradition ist, die afrikanischen
Außenminister am Rande der UNO-Generalversammlung
zum Abendessen einzuladen. Ich danke ganz herzlich,
dass unser Außenminister Joschka Fischer diese Tradition
fortgesetzt hat;
({0})
denn es wäre jenseits dessen, was sonst in der Welt passiert, nicht zu vertreten, wenn er dies nicht getan hätte,
weil dieses traditionelle Abendessen Bestandteil unserer
Afrikakontakte ist. Deswegen bitte ich Sie, zur Kenntnis
zu nehmen, dass wir in diesem Punkt in sehr guter Tradition der Vorgängerregierung stehen.
Frau Staatssekretärin,
wie Sie bemerkt haben, gibt es genau dazu jetzt eine
Nachfrage von Frau Pretzlaff.
Bitte schön.
Ich möchte ein Missverständnis ausräumen. Ich habe bemängelt, dass als Begründung für dieses traditionelle Abendessen die Präsentation der Schwerpunktsetzung 2000 angegeben wurde. Ich
finde, das ist angesichts der Probleme Afrikas einfach zu
wenig. Würden Sie mir in dieser Einschätzung zustimmen?
Nein, sehr geehrte Frau Pretzlaff, nicht nur der
Außenminister führt einen Dialog. Vielmehr führen wir
alle, seit wir an der Regierung sind, wo immer wir sind, den
Dialog mit afrikanischen Kolleginnen und Kollegen, allen
voran die Entwicklungsministerin, der Außenminister, der
Bundeskanzler, wie die Justizministerin, die Bildungsministerin, der Wirtschaftsminister. Daher finde ich es falsch,
nur einen Minister und ein Ereignis herauszugreifen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt sehr
gute Gründe, sich heute Abend mit Afrika zu beschäftigen. Eine wachsende Zahl afrikanischer Staatsführer bekennt sich zur Verantwortung für die eigene Entwicklung,
zu den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten. Herr Hemker hat darauf hingewiesen, dass
es NePAD gibt, die neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung, eine Initiative reformorientierter afrikanischer
Regierungschefs. Sie bietet die Chance, eine maßgebliche
und ausgewogene Plattform für die Lösung zentraler Entwicklungsfragen des Kontinents zu sein.
Zu Recht haben die Staats- und Regierungschefs der
G 8 daher beim letzten Gipfel in Genua entschieden, diese
Initiative zu unterstützen. Ich sage ganz klar „zu unterstützen“ und nicht „etwas an ihre Stelle zu setzen“. Wir
können nämlich nur das tun, was die Afrikaner selber wollen und was sie in diesem Konzept auch dargestellt haben.
Zu diesem Zweck erarbeiten die persönlichen G-8Afrika-Beauftragten derzeit einen solchen Aktionsplan.
Wie Sie wissen, hat mich der Bundeskanzler im letzten
Oktober mit dieser Arbeit betraut. Herr Hemker, ich darf
Ihnen zusagen, dass ich die Anliegen, die uns hier im
Deutschen Bundestag vereinen, auch dort zur Geltung
bringen werde.
Der Bundeskanzler hat am Montag dieser Woche einen
hochrangig besetzten Afrika-Wirtschaftstag eröffnet.
Ich bin dem Bundeskanzler sehr dankbar für die Klarstellung, Afrika sei nicht nur als Krisenkontinent wahrzunehmen, sondern sei zum Beispiel für die deutsche Wirtschaft
auch ein interessanter und zukunftsträchtiger Industrie-,
Investitions- und Handelspartner.
Mit NePAD haben sich die Afrikaner mit einem ehrgeizigen Entwicklungskonzept zu Wort gemeldet, mit
dem sie dem Afropessimismus eine neue Perspektive entgegensetzen. Die Länder Afrikas engagieren sich verstärkt auf der weltpolitischen Bühne, gestalten die politischen Rahmenbedingungen mit und setzen internationale
Regelwerke auf dem eigenen Kontinent um.
Dies zeigt sich zum Beispiel bei der aktuellen WTODoha-Runde. Auch die Staaten Afrikas positionieren sich
in Genf. Sie wollen und werden politischen Einfluss auf
die Verhandlungen nehmen. Bei den Agrarverhandlungen
sind ihre Forderungen sehr konkret: weitere Öffnung der
Märkte der Industrieländer für ihre Produkte, insbesondere im Bereich der Weiterverarbeitung. Die EU stellt sich
auf diese Forderungen ein und wir bemühen uns um konkrete Antworten. Die Bundesregierung kommt der afrikanischen Bitte um verstärkte Unterstützung im Handelsbereich nach. Wir haben für den entsprechenden Fonds
bereits 2 Millionen Euro zugesagt.
Auf Einladung der südafrikanischen Regierung wird in
wenigen Monaten der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg stattfinden. Wir erwarten uns
zehn Jahre nach der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung wichtige Impulse von diesem Gipfel. Die Bundesregierung ist bereit, Afrika auch hier eine strategische
Partnerschaft anzubieten.
Im Bereich des Ressourcenschutzes hat die OAU ein
afrikanisches Modellgesetz zum sicheren Umgang mit
moderner Biotechnologie auf dem Kontinent vorgelegt,
und Afrika trägt so zur Umsetzung der Vorgaben des
Cartagena-Protokolls bei, in dem Anfang 2001 erstmals
völkerrechtlich verbindliche Mindeststandards geschaffen wurden. Die Bundesregierung wird die Umsetzung in
nationales Recht fördern.
Frau Staatssekretärin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Günther?
Ja.
Frau Staatssekretärin, nachdem Sie hier die Vielfalt der Initiativen, die Sie
gestartet haben, aufgezählt und dargelegt haben, mit welchem Engagement Sie für Afrika kämpfen, habe ich die
Frage, wie in diesem Verhältnis die Tatsache zu sehen ist,
dass wir in Afrika die größte Anzahl von Botschaften und
die meisten Goethe-Institute geschlossen haben und
warum wir diese wichtige Debatte in den späten Abendstunden führen, obwohl wir im Ausschuss einstimmig
dafür waren, sie zu einem ordentlichen Zeitpunkt zu
führen. Ich gebe meine Rede zu Protokoll, weil ich es
nicht angemessen finde, in dieser Abendstunde über dieses wichtige Thema zu diskutieren.
Herr Kollege Günther, ich glaube, Sie haben
überhört, dass ich nicht von unseren Initiativen gesprochen habe. Ich habe versucht, anhand von Beispielen darzulegen, wie die Afrikaner selber die globalen Strukturen
politisch mitgestalten. Ich habe nicht gesagt, dass wir dies
tun, sondern dass es die Afrikaner sind und dass zunächst
einmal gar nicht die Rede davon sein kann, dass die
Afrikaner die Vergessenen sind, dass sie an den Rand gedrückt sind. Ich habe an ganz klaren Beispielen dargelegt,
was die Afrikaner im Rahmen dieser neuen Entwicklungsinitiative selber auf der internationalen Bühne einbringen. Sonst habe ich nichts gesagt.
({0})
Ich habe also nicht unsere Initiativen dargestellt; denn wir
selber initiieren nichts. Wir unterstützen die Reformmaßnahmen und -schritte der Afrikaner. Sie müssen ihre Initiativen in Afrika ergreifen.
({1})
Wir können nur politische Maßnahmen, die dort gewünscht werden, unterstützen.
Die Beispiele, die ich eben genannt habe zeigen: Afrika
entwickelt sich bereits heute im Rahmen von NePAD. Es
gibt viele Aktivitäten auch im globalen Kontext. Diese
Initiativen zeigen: Afrika will sich nicht spalten lassen,
sondern Afrika vertritt auch gemeinsame Interessen. Dies
ist eigentlich das Wichtige in der neuen Entwicklungsvision von NePAD.
({2})
Sie sehen, es bewegt sich etwas auf dem afrikanischen
Kontinent. Ich glaube, wir tun den Afrikanern keinen Gefallen, wenn wir immer so tun, als könnten sie nur etwas
durchführen, wenn wir sie dabei anstoßen. Das ist einfach
nicht so. Wir müssen einen Perspektivenwechsel vornehmen. Wir müssen einfach hinschauen und würdigen,
was die Afrikaner selbst tun.
Deutschland und die G 8 werden deshalb im Juni in
Kanada eine Partnerschaft mit Afrika beschließen. Ich begrüße es sehr, dass NePAD ein sehr facettenreicher Entwicklungsansatz zugrunde liegt, der vor allem die Eigenverantwortung dieser Länder betont.
({3})
In vielen Feldern dieser Initiative gibt es gute Anknüpfungspunkte für unsere Entwicklungspolitik. Deshalb wird
Afrika auch weiterhin ein besonderer Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik bleiben. Er ist mit 30 Prozent des
Entwicklungsetats der bilateralen Entwicklungshilfe bereits jetzt der größte Empfängerkontinent.
({4})
Die von der Bundesregierung beim Kölner G-8-Gipfel
mitinitiierte erweiterte HIPC-Entschuldungsinitiative
führt für 22 Länder Afrikas zu einer bereits beschlossenen
Entlastung des nominalen Schuldendienstes von 32,5 Milliarden US-Dollar. Die Ausarbeitung der nationalen Armutsbekämpfungsstrategien, die Voraussetzung für die
endgültige Schuldenerleichterung sind, hat zudem in vielen Ländern zu einer stärkeren Beteiligung von Bürgerorganisationen am politischen Prozess geführt und somit
indirekt die Demokratie gefördert.
Zu den gravierenden Problemen des afrikanischen
Kontinents gehört die fortschreitende Desertifikation.
Die davon erfassten Länder Afrikas gehören zu den
Schlusslichtern der von UNDP erstellten Rangliste zur
menschlichen Entwicklung. Von circa 250 Projekten zur
Bekämpfung der Wüstenbildung, die wir gegenwärtig
weltweit in einer Größenordnung von 1,5 Milliarden Euro
fördern, werden rund 60 Prozent in Afrika durchgeführt.
Dies ist ein signifikanter Beitrag zur Umsetzung der Konvention zur Wüstenbekämpfung.
Da Frauen der Motor von Entwicklung in Afrika sind,
unterstützen wir in vielfältiger Weise ihre Lobbyarbeit für
Frauenrechte und mehr Beteiligung, zum Beispiel mittels
des afrikanischen Frauennetzwerks Femnet. Besonderen
Stellenwert hat eine verbesserte Geschlechterorientierung
nationaler Mittelverwendung im Rahmen öffentlicher
Haushalte, um Frauenbelange stärker zu berücksichtigen.
Dabei legen wir allergrößten Wert darauf, dass wir den
Süd-Süd-Erfahrungsaustausch fördern, wie zum Beispiel
den Austausch zwischen Südafrika und Marokko.
Frau Pretzlaff, Sie sehen - das zeigen diese Beispiele -,
dass die Entwicklungsministerin und der Außenminister
nicht nur große Versprechungen machen, sondern dass sie
diese Dinge in der Tat umsetzen. Von daher folgen auf unsere Ankündigungen auch Taten.
Ich komme zum Schluss. Sie sehen, es gibt Anlass genug, dass wir den pauschalen Afrika-Pessimismus hinter
uns lassen. Das heutige Afrika in seiner ganzen Vielfalt ist
eine Herausforderung an unser eigenes Afrika-Bild, das
die Potenziale dieses Kontinents allzu oft ausblendet. Die
beschriebenen Entwicklungen und vor allem NePAD
selbst bieten uns einen Rahmen für eine handlungs- und
zukunftsorientierte Zusammenarbeit. Wir werden diese
Chance nutzen.
Herzlichen Dank.
({5})
Die Kollegen Joachim
Günther, FDP, und Carsten Hübner, PDS, haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.1) Deshalb ist die nächste Rednerin die Kollegin Ingrid Becker-Inglau für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Auch zu dieser späten Stunde, denke ich, ist
es wichtig, Reden zu Afrika nicht zu Protokoll zu geben,
sondern zu Afrika zu sprechen.
({0})
Wirtschaftswachstum um 5 Prozent und mehr - da
muss doch jeder sagen, dass sich das gut anhört. Das finde
ich auch. Das ist keine Zahl aus den USA, aus Japan oder
Europa. Vielmehr belegt sie die Wachstumsraten der Wirt-
schaft von afrikanischen Ländern wie Guinea-Bissau,
Uganda oder Mosambik. In Mosambik waren es 1997 und
1) Anlage 10
1998 sogar 10 Prozent Wirtschaftswachstum. In 42 der
48 Staaten Subsahara-Afrikas haben in den 90er-Jahren
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter Beteiligung
mehrerer Parteien stattgefunden. Die Alphabetisierungsrate
hat sich fast verdreifacht, die Einschulungsrate fast verdoppelt. Ich denke, das sind gute Meldungen über Afrika.
({1})
Afrika verdient diese guten Meldungen. Ich möchte
dabei keinesfalls in Schönfärberei verfallen. Afrika hat
weiterhin enorme wirtschaftliche, bildungspolitische und
bevölkerungspolitische Probleme, die - das wissen wir
alle - nicht von heute auf morgen zu lösen sind.
Ich möchte hier aber entschieden dem ungerechtfertigten Afrika-Pessimismus entgegentreten. Denn wir kennen
es von uns selbst am besten: Wird etwas schlechtgeredet,
geht keiner mehr hin und macht keiner mehr etwas. Neben allen konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der
Situation ist es also auch eine Frage der Einstellung, eine
Frage, wie wir an Afrika herangehen.
Anfang dieser Woche hat zu meiner ganz besonderen
nachträglichen Freude hier in Berlin der Afrika-Wirtschaftstag mit dem Motto „Afrika ist im Kommen“ stattgefunden. Die Konferenz mit großer Beteiligung aus
Politik und Wirtschaft, aus Afrika genauso wie aus der
Bundesrepublik, wurde von Bundeskanzler Schröder
eröffnet. Zum einen zeigt diese Konferenz den hohen
Stellenwert, den Afrika vor allem in der rot-grünen Politik einnimmt.
({2})
Zum anderen haben die Beiträge deutlich gemacht, dass
es guten Grund für Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas gibt.
({3})
Der Ruf Afrikas als Investitionsstandort ist besser - so
wurde es da jedenfalls formuliert - als allgemein angenommen. Besonders Länder, die ihre Regierungsführung
verbessert und nachhaltige marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt haben, zeigen seit Mitte der 90er-Jahre
Erfolge auf. Sie konnten ihr Wirtschaftswachstum steigern und gleichzeitig die Armut der Bevölkerung reduzieren.
Natürlich wollen und müssen wir weiter an einer
Verbesserung der Rahmenbedingungen arbeiten, um positive Entwicklungen zu unterstützen und die Armut zu
bekämpfen. Es gibt eine Reihe von Dingen, die wir dazu
schon beigetragen haben. Ich nenne hier an erster Stelle die
in Köln beschlossene Entschuldungsinitiative, die auch
Frau Eid schon genannt hat. Bereits heute stehen die ersten 20 oder 21 afrikanischen Staaten fest, die um insgesamt
27,5 Milliarden US-Dollar entlastet werden. So kann nun
zum Beispiel, um nur ein Land zu nennen, Sambia
267 Millionen US-Dollar eigene Mittel in die Armutsbekämpfung investieren. Ich denke, das ist ein Erfolg.
({4})
Des Weiteren nenne ich das Cotonou-Abkommen,
durch das 48 Länder Afrikas beteiligt sind und in dessen
Rahmen die Europäer bis 2005 13,8 Milliarden Euro bereitstellen werden. Ich denke, auch das ist eine Zahl, die
man nicht einfach übersehen kann.
Aber die besten Rahmenbedingungen von außen nützen gar nichts, wenn nicht die Bedingungen in Afrika und
von Afrika selbst so gestaltet werden, dass eine nachhaltige Entwicklung stattfinden kann. Afrika - das sage ich
ganz deutlich - kann und muss selbst mehr Verantwortung übernehmen. Dazu haben wir unsere Partner in
Afrika in den Regierungen und auch in der Zivilgesellschaft immer wieder ermutigt. Ich glaube, die, die
gemeinsam in Afrika waren, können das sicherlich bestätigen.
Jetzt haben sich die Afrikaner selbst zu Wort gemeldet,
und zwar mit der „Neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung“, kurz: NePAD. Damit wird ein neues Bild von
Afrika gezeichnet: Afrika als ein Kontinent, der seine Zukunftsgestaltung selbst in die Hand nimmt, um seine politischen, wirtschaftlichen und sozialen Chancen in einer
globalisierten Welt zu verbessern. NePAD zeigt, dass und
wie die Afrikanerinnen und Afrikaner diese Chancen für
sich nutzen können und wollen. Das ist meines Erachtens
die richtige Einstellung.
({5})
Verantwortliche Regierungsführung, klare Prioritätensetzung und Eigenverantwortung sind die Grundprinzipien dieser politischen Initiative. Sie benennt klar die
Defizite und Versäumnisse, die Afrika selbst zu verantworten hat. NePAD steht für den wachsenden Willen,
Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu
sichern, Armut und soziale Ungerechtigkeit zu überwinden und als gleichberechtigter Partner aktiv an der
Gestaltung der globalen Rahmenbedingungen für eine
nachhaltige Entwicklung mitzuwirken. Die NePAD ist
ehrgeizig; aber sie braucht Zeit. Diese müssen wir ihr
auch einräumen.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die G-8-Staaten in
Genua entschieden haben, die Initiative durch einen konkreten Aktionsplan zu unterstützen. Dieser soll, wie hier
schon häufig formuliert wurde, im Juni 2002 in Kanada
beschlossen werden.
An dieser Stelle möchte ich mich bei der Afrikabeauftragten des Bundeskanzlers, unserer Parlamentarischen
Staatssekretärin Frau Dr. Eid, sehr herzlich bedanken.
({6})
Denn sie hat maßgeblich an der Erarbeitung des Aktionsplans mitgewirkt. Mit unserem Antrag, liebe Frau Dr. Eid,
wollen wir Sie unterstützen und unsere Regierung auffordern, ihre Bemühungen für und um Afrika weiter zu intensivieren.
Ich persönlich blicke heute auf zehn Jahre Politik und
Arbeit für Afrika zurück. Deshalb bin ich überzeugt:
Wenn wir es gemeinsam schaffen, diesen Plan umzusetzen, wird sich das Leben der Menschen in Afrika weiter
und grundlegend verbessern. Dann wäre Afrika wirklich
im Kommen. Dazu braucht Afrika weiterhin uns als
Freunde und Partner.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Leider hat
Frau Eid wieder einmal Fragen, zum Beispiel die des Kollegen Günther, nicht beantwortet. Was ist das für ein Bekenntnis zu Afrika, wenn man falsch getroffene Entscheidungen nicht korrigiert? Ich erinnere in diesem
Zusammenhang an die Schließung deutscher Botschaften,
an die Schließung von Goethe-Instituten, an das Herunterfahren von Zuschüssen für die deutschen Auslandsschulen in Afrika. Wenn man es mit Afrika wirklich ernst
nehmen würde, dann würde man alles tun, wozu Deutschland in der Lage ist. Aber Sie tun es nicht, erwecken hier
aber einen anderen Eindruck.
Was wir hinsichtlich NePAD diskutieren, ist ja nichts
Neues. Ich erinnere an die Global Coalition for Africa: Sie
ist im Sande verlaufen. Ich erinnere an die Entscheidung
von Cotonou. Diesbezüglich müssen wir uns mehr an die
eigene Brust schlagen als die Afrikaner. Milliarden und
Abermilliarden Euro liegen auf den Konten der Europäischen Union und fließen nicht ab. Natürlich ist das auch
der Fall, weil manche afrikanischen Staaten nicht in der
Lage sind, die Mittel entsprechend aufzunehmen und zu
verwenden. Aber vorrangig ist es die Unfähigkeit der Europäischen Kommission, diese Mittel einem der ärmsten
Kontinente der Welt zukommen zu lassen. Es handelt sich
also um ein Fehlverhalten, das bei uns liegt.
({0})
Ich nenne ferner die HIPC-Initative. Sie hat einige
Entlastungen mit sich gebracht; aber auch diese hängen
indirekt mit Cotonou zusammen. Es gibt keine wirklich
nachhaltigen Auflagen. Der größte Fehler bei dem Erlass
von Schulden ist, dass keine Transparenz erkennbar ist. Es
wird beschworen, dass Herr Museveni in Uganda zusätzliche Mittel für Armutsbekämpfung und Gesundheitsprojekte in seinem offiziellen Haushalt einstellt. Die Europäische Gemeinschaft und die UNO machen sich aber
überhaupt keine Gedanken darüber - nein, sie machen
sich viele Gedanken, ziehen aber keine Konsequenzen daraus. Was Herr Museveni mit den vielen Hunderten Millionen Dollar macht, die er aus dem Kongo stiehlt und mit
denen er seine Waffen bezahlt, wird in dem Gesamtkontext hinsichtlich der Bewertung der Offenlegung öffentlicher Finanzen überhaupt nicht berücksichtigt. 30 bis
40 Millionen, die im Rahmen der HIPC-Initiative in den
öffentlichen Haushalt eingestellt werden, spielen dann
eine untergeordnete Rolle. Das Kriegsmanöver und die
militärischen Abenteuer eines Landes wie Uganda - diese
sind ja kein Einzelfall - gehen weiter.
Ich komme zum letzten Punkt, nämlich NePAD. Vom
Grundsatz her kann doch niemand ernsthaft bestreiten,
dass Eigeninitiativen von Entwicklungsländern zur Verbesserung ihrer internen und äußeren Rahmenbedingungen vernünftig sind. Da sind wir völlig d‘accord. Das gilt
übrigens auch für andere Länder und Kontinente.
Die Kolleginnen und Kollegen, die insbesondere in
Monterrey dabei waren - wir haben darüber auch in den
zuständigen Fachausschüssen diskutiert -, werden sich
daran erinnern, dass wir mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben, dass eine der ersten Formulierungen des
Monterrey-Protokolls, also des Monterrey-Konsensus,
die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer beschreibt. Dies ist positiv. Staatsführer in Afrika ziehen nur
aus Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen sind,
Konsequenzen. Insofern ist NePAD also nichts Neues,
sondern - ich wiederhole mich - die Konsequenz aus getroffenen Zusagen.
Schauen wir uns einmal die Pappenheimer an. Frau
Becker-Inglau hat dankenswerterweise - das darf man aus
Ausschusssitzungen gerade noch zitieren - bei der im
Fachausschuss geführten Debatte über Nigeria am gestrigen Tage darauf hingewiesen, welche besonderen
Schwierigkeiten wir mit Nigeria haben. Auch die Bundesregierung hat darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds seine Gespräche mit Nigeria gerade
aus einem ganz simplen Grund abgebrochen hat. Der jetzige Staatspräsident bzw. die jetzige Führung in Nigeria
ist nicht gewillt, die Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds zu erfüllen. Dazu gehören zum
Beispiel eine gute Regierungsführung, eine konsequente
Haushaltspolitik, eine konsequente Armutsbekämpfungspolitik und übrigens auch eine ausgewogene Politik zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen in diesem
Lande. Nigeria ist nicht irgendein Land. Nigeria ist, wie
wir alle wissen, das größte Land in Afrika mit 110 bis
120 Millionen Einwohnern. Die Situation in Nigeria hat
gewaltige Auswirkungen auf die Situation in Afrika.
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung: Die deutsche Bundesregierung hat - ich sage es bewusst - in
einem nicht ausreichenden Maße dagegen protestiert,
dass viele afrikanische Staatsführer - auch solche, die die
NePAD-Initiative mit ins Leben gerufen haben -, zum
Beispiel ein Mann wie Mugabe, eine Wahl mit undemokratischen Repressionsmechanismen manipulieren und
fälschen. Nein, sie haben ihm manchmal sogar Telegramme geschickt, bevor das Ergebnis ausgezählt war.
({1})
Über diese Punkte muss im Zusammenhang mit
NePAD diskutiert werden. Deshalb sprechen wir nicht
von einem Skeptizismus, sondern von einem afrikanischen Realismus. Der ist auch notwendig.
Herzlichen Dank.
({2})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Joachim Tappe für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie oft hat jeder von uns, die wir uns
für Afrika engagieren, schon die Frage gestellt bekommen,
wie man eigentlich noch an Afrika glauben kann? Mir erging es erst am letzten Wochenende so. Als bekannt wurde,
dass die Friedens- und Versöhnungsgespräche für den
Kongo im südafrikanischen Sun City gescheitert waren und
damit die Gefahr - Frau Pretzlaff hat darauf hingewiesen für eine weitere grausame und blutige Auseinandersetzung
in der Mitte Afrikas heranwächst, wurde mir die Frage
mehrfach gestellt. Diese Frage wird in der Zwischenzeit
- ich finde das sehr schade - auch von Wohlmeinenden aus
Wissenschaft und Journalismus gestellt.
In der Tat ist das in den Medien immer noch transportierte Afrikabild desaströs: gewaltsame Konflikte, ethnische Säuberungen, Millionen von Flüchtlingen, wirtschaftlicher Niedergang, Aushöhlung demokratischer
Prozesse, Staatszerfall, Korruption und staatlich verordneter Terrorismus. Es ist leider wahr: Auch das ist Afrika.
Aber Afrika ist mehr als die Aufzählung dieser Befunde.
Als ich vor acht Wochen, bewacht von 35 schwer bewaffneten Sicherheitskräften - es war ein komisches Gefühl -, durch die Ruinen und Trümmer der Altstadt von
Mogadischu fuhr - Mogadischu war noch vor zehn Jahren eine der schönsten afrikanischen Hauptstädte -, da
habe ich mir die Frage selbst gestellt: Hat Afrika noch eine
humane Zukunft?
Erst jüngst ist ein Buch von Peter Scholl-Latour mit
dem Titel „Afrikanische Totenklage“ und dem Untertitel
„Der Ausverkauf des Schwarzen Kontinents“ erschienen;
viele von uns haben es vielleicht gelesen. Ich will hier
deutlich sagen: Ich halte dieses Buch für kontraproduktiv,
ja für schädlich,
({0})
weil es weder uns in unseren afrikapolitischen Bemühungen hilft noch diesem geschundenen Kontinent einen
Schimmer an Hoffnungen lässt. Eine solch eingeengte
Betrachtungsweise verstellt den Blick für Entwicklungen,
die es in Afrika zuhauf gibt; Kollegin Becker-Inglau hat
das dargestellt. Dies sind Entwicklungen, die Hoffnungen
machen und meinen persönlichen Afrikaoptimismus eher
wachsen als schrumpfen lassen.
Dem Untertitel des Buches von Scholl-Latour kann ich
allerdings zustimmen. Denn das, was international agierende Konsortien an ausbeuterischen und Land und Leute
zerstörenden Aktivitäten im Zusammenspiel mit kleptokratischen und korrupten afrikanischen Politikern im rohstoffreichen Afrika entfalten, das kann einem schon die
Sprache verschlagen.
({1})
Ich behaupte, Afrika wäre in seiner Entwicklung sehr viel
weiter, wenn wir mit dafür Sorge trügen, dass in unseren
Ländern die Fluchtgelder afrikanischer Potentaten, aber
auch afrikanischer Geschäftsleute keine Heimat fänden.
({2})
Bei allen Problemen, die Afrika hat, überwiegt bei mir
der Optimismus. Ich habe die seltene Gelegenheit gehabt,
in den letzten zehn Jahren mehr als 35 afrikanische Länder zu besuchen. Ich weiß, wovon ich spreche. Deshalb
bin ich davon überzeugt, dass Afrika eine positive Entwicklung machen wird, selbst wenn es noch ein schwieriger und langwieriger Prozess sein wird, der nicht frei von
Rückschlägen sein wird.
Ich gründe diesen Optimismus im Wesentlichen darauf, dass eine neue afrikanische Elite in die Verantwortung wächst, die weiß, dass die Probleme Afrikas nur dadurch gelöst werden können, dass man die Lösung in die
eigenen Hände nimmt, so wie das Kennedy vor mehr als
40 Jahren für seine Landsleute gesagt hat. Mit diesen
neuen Verantwortungsträgern in Afrika wächst ein neues
politisches Denken heran. Ich gehe so weit, zu sagen, dass
für mich erst damit die eigentliche Unabhängigkeit der
afrikanischen Länder begonnen hat. Das Ganze wird mittelfristig in eine gleichberechtigte Partnerschaft für eine
nachhaltige Entwicklung einmünden.
Wichtiger Ausdruck dieses neuen Denkens - das ist am
heutigen Abend mehrfach betont worden - ist eine eigenafrikanische Initiative, die NePAD, die New Partnership
For Africa´s Development, die von der Einsicht geleitet
wird, dass zur Implementierung der Fülle von Ideen und
Maßnahmen zur Verbesserung der politischen, sozialen
und wirtschaftlichen Verhältnisse ein friedliches Umfeld,
Formen demokratischer Transparenz, Kontrolle und ein
rechtsstaatliches System notwendig sind. Deshalb will ich
anerkennend herausstellen, dass weder die Bundesregierung noch der Deutsche Bundestag in das Klagelied mancher - und leider zu vieler - einstimmen, sondern durch
vielfältige Aktivitäten dieses neue Denken unterstützen.
Ich freue mich schon heute auf den Afrikatag im
Paul-Löbe-Haus am 7. Juni, den die G-8-Beauftragte für
Afrika, unsere Kollegin Uschi Eid, im Auftrag des Bundeskanzlers gerade vorbereitet. Ich bin sicher, dass von
diesem Tag ein neuer Schub ausgehen wird für unsere
Einsicht, dass der Schwarze Kontinent unsere uneingeschränkte Unterstützung verdient.
({3})
Lassen Sie mich schließen mit einem Wunsch. Ich
hoffe und wünsche, dass im 15. Deutschen Bundestag
mehr „Afrikaner“ sitzen werden, die bereit sind, sich anstecken zu lassen von der Krankheit, die ich den Virus africanus nenne; denn dieser Kontinent hat unsere Unterstützung voll verdient.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Afrikas neues Denken unterstützen“. Wer stimmt
für den Antrag auf Drucksache 14/8859?
({0})
- Ich nehme zur Kenntnis, dass alle Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer für Überweisung
dieses Antrages sind. Hier steht etwas anderes. Dann überweisen wir diesen Antrag mit Zustimmung aller Fraktionen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 14/4970 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Afrika darf nicht zu einem vergessenen Kontinent werden“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2571 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Jetzt kommen wir zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 14/8617 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „EU-AKP-Zusammenarbeit - bewährte
Partnerschaft mit großer Zukunft“ sowie zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Reform der
EU-Entwicklungszusammenarbeit ist bislang Stückwerk
und muss konsequent vorangetrieben werden“. Der
Ausschuss empfiehlt, die Anträge auf den Drucksachen 14/3396 und 14/3771 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/8849 zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine europäische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5090
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/
CSU und FDP angenommen.
Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 14:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von
Renten aus Beschäftigungen in einem Getto
und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 14/8583 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Getto und zur Änderung des
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 14/8602 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3})
- Drucksache 14/8823 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
Die Kolleginnen und Kollegen Ulrike Mascher,
Claudia Nolte, Ekin Deligöz, Dr. Irmgard Schwaetzer so-
wie Dr. Ilja Seifert haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1) - Große Begeisterung bei allen Kolleginnen und
Kollegen.
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die von
den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP sowie von der Fraktion
der PDS eingebrachten Gesetzentwürfe zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Getto
und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/8823, die zu einem Gesetzentwurf zusammengefassten Gesetzentwürfe anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Wolfgang Gehrcke, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Bündnisfall aufheben
- Drucksache 14/8664 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile der Kollegin Heidi Lippmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In un-
serem vorliegenden Antrag geht es nicht darum, dass der
so genannte Kampf gegen den Terrorismus eingestellt wird
oder nicht, sondern darum, den am 4. Oktober letzten Jah-
res vom NATO-Rat beschlossenen Bündnisfall aufzuhe-
ben. Wir alle wissen, dass die NATO im Rahmen der Ope-
ration „Enduring Freedom“, bei der sich auch mehrere
Tausend Soldaten der Bundeswehr im Einsatz befinden,
militärisch eine eher randständige und politisch nahezu un-
bedeutende Rolle spielt und dass nahezu alle Absprachen
bilateral zwischen den USA und Einzelstaaten getroffen
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 11
werden. Meines Erachtens hatte der Beschluss, den Bündnisfall auszurufen, eine eher symbolische Bedeutung,
quasi als nochmalige Verstärkung der uneingeschränkten
Solidarität mit den USA.
Heute stehen wir vor dem Problem, dass der NATORat damals versäumt hat, ein klares Ziel, einen Ausweg,
eine so genannte Exitstrategie zu definieren. Deswegen
fragen sich immer mehr Politiker quer durch alle Fraktionen und Militärs - auch weltweit -: Wie lässt sich ein solcher Beschluss wieder rückgängig machen? Es gibt dafür
keinen Präzedenzfall. Es gibt dafür auch keine verbindlichen Regelungen. Eigentlich ist der Bündnisfall dann
beendet, wenn der Krieg gewonnen ist.
Was heißt das aber bei einem Krieg gegen den Terrorismus? Vor allem in den USA gibt es einige Fraktionen,
die gerne einen solchen Zustand permanenter gesellschaftlicher und militärischer Mobilisierung auf Dauer
hätten. Das macht das Regieren einfach, sichert Mehrheiten und gestattet weit reichende Eingriffe in Grundrechte
und Freiheiten. Und auch hier in diesem Land ist innenpolitisch so ziemlich alles möglich, da ja der Bündnisfall
ausgerufen ist.
Das wollen wir ganz und gar nicht. Wir wollen - auch
im internationalen Maßstab - nicht diesen endlosen Zustand zwischen Krieg und Frieden, der dafür herhalten
soll, weit reichende Militäraktionen ohne große Abwägungen zu ermöglichen. Im Fall eines Krieges gegen den
Irak bedarf es keiner großen Debatte über eine mögliche
Beteiligung Deutschlands oder nicht, denn dieser ist vom
NATO-Ratsbeschluss bereits gedeckt, ebenso wie übermorgen auch der übernächste Krieg gedeckt sein wird.
Der Verteidigungsfall als Dauerzustand bildet bereits
jetzt die Legitimation für weit reichende Auf- und Umrüstungsprogramme, für eine Neuauflage der Politik militärischer Abschreckung und auch für militärische Interventionen gegen Regime, die man schon lange loswerden
wollte.
Die PDS hat es von Anfang an für falsch gehalten, gegen terroristische Fundamentalisten einen militärischen
Krieg zu führen und damit genau deren Kalkül zu entsprechen.
({0})
- Herr Staatsminister, setzen Sie sich nach vorne, wenn
Sie mich kritisieren möchten!
({1})
- Entschuldigung. Dann kam der Zuruf wohl von rechts
außen. Ich entschuldige mich bei Ihnen.
({2})
Terroranschlägen muss mit Maßnahmen der Verbrechensbekämpfung und nicht mit mehr oder weniger beliebigen Luftangriffen - heute auf Afghanistan, morgen
auf den Irak, übermorgen auf Nordkorea - begegnet werden. Auch die Ursachen für Gewaltbereitschaft kann man
ebenso wenig wie soziale Missstände mit militärischen
Angriffen wegbomben.
Besonders der Blick in Richtung Nahost hat uns gezeigt, wie unter dem Deckmantel der Behauptung, Terrorismus bekämpfen zu wollen, Gewalteskalation betrieben
werden kann und damit der Boden für neue Gewalttaten
bereitet wird.
Zu dem Anschlag auf Djerba, deren Opfern und ihren
Angehörigen unser tiefes Mitgefühl gehört, und zu den
Inhaftierungen der letzten Tage lassen Sie mich eines sagen: Kein Mensch denkt darüber nach, deswegen jetzt
Tunesien zu bombardieren oder gegen mutmaßliche Terroristen im Inland mit Panzern vorzugehen. Zur Verbrechensbekämpfung braucht es keinen NATO-Beschluss.
Wir warnen davor, weiterhin einen zeitlich und lokal
unbegrenzten Krieg gegen den Terror führen zu wollen.
Statt einer fortgesetzten militärischen Angriffsbereitschaft brauchen wir eine zivil und sozial orientierte Politik der Besonnenheit, in der das Primat der Politik und der
Diplomatie im Vordergrund steht. Dies geht nur unter der
Federführung der Vereinten Nationen.
Wir wollen, dass der weltweite Kampf gegen terroristische Bedrohungen unter der Regie der Vereinten Nationen geführt wird. Nur dies gewährleistet, dass diese
Auseinandersetzung auf einer wirklich umfassenden multilateralen Grundlage geführt wird. Nur so kann eine
Schranke gegen machtpolitischen Missbrauch des Selbstverteidigungsrechts aufgerichtet werden. Nur dadurch
kann der Weg hin zu einem kohärenten, zivil geprägten
Konzept der Gewalteindämmung beschritten werden.
({3})
Ich schließe die Aus-
sprache, denn die Kollegen Markus Meckel, Eckart von
Klaeden, Ludger Volmer und Hildebrecht Braun haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8664 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf morgen, Freitag, den 26. April 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.