Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile dem Kollegen Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Parteispendenaffären der Vergangenheit und der Gegenwart haben
Vertrauen gekostet. Wenn wir dieses Vertrauen zurückgewinnen wollen, dann genügen nicht Worte, Rhetorik und
Gesten, sondern dann müssen Konsequenzen gezogen werden.
({0})
Ehrliche Konsequenzen zu ziehen ist das Gebot und
der Maßstab. Ehrliche Konsequenzen beziehen sich auf
zwei Bereiche, erstens auf die Aufklärung von Verstößen
und Parteispendenaffären. Das erste Gebot ist also, dass
hier Konsequenzen gezogen werden müssen. Weil das so
ist, bedauern wir die mangelnde Aufklärungsbereitschaft
der SPD im Hinblick auf ihre Parteispendenaffäre in
Nordrhein-Westfalen. Das geht so nicht, meine Damen
und Herren!
({1})
- Ich weiß nicht, warum Sie sich so empören. Nach aller
Lebenserfahrung gibt es nämlich nur eine Alternative,
was das Verhalten Ihres Generalsekretärs Müntefering anbelangt:
({2})
Entweder hat Generalsekretär Müntefering bewusst gelogen oder er hat sein Nichtwissen bewusst organisiert.
({3})
Zu lügen oder zu vereiteln, dass die Wahrheit ans Licht
kommt, steht politisch, moralisch und rechtlich auf der
gleichen Stufe und ist in gleicher Weise verwerflich. Das
müssen Sie sich vor Augen halten.
({4})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen;
({5})
denn Herr Müntefering sieht das ja ganz gelassen. Er hat
ja schon einmal eine Falschaussage gemacht: vor der
Bundespressekonferenz im Jahre 1998. Diese Falschaussage erfolgte nach Auffassung der Mitglieder der Bundespressekonferenz entweder wider besseres Wissen oder aus
Unkenntnis - eine auffällige Parallele im Verhalten von
Herrn Generalsekretär Müntefering.
({6})
Er hat sich, nachdem dies herausgekommen war, wie
folgt geäußert. Er hat der „Hannoverschen Allgemeinen“
gesagt:
Ich bin eben eine Art Indianer, der manchmal Spuren
verwischt.
Das ist das Amtsverständnis von Generalsekretär
Müntefering!
({7})
Auch Ihr heutiger Fraktionsvorsitzender hat in der
„Hessischen Allgemeinen“ Verständnis für die Zwickmühle, in die sein Genosse unversehens geraten war, gezeigt. Zitat Struck:
Ein Bundesgeschäftsführer muss auch einmal entgegen seinen eigenen Erkenntnissen etwas verkünden,
was nicht ganz der Wahrheit entspricht, wenn es der
Partei dient.
Das ist das Amtsverständnis der Herren Struck und
Müntefering!
({8})
Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Wir weisen den Versuch der Legitimierung der Lüge als politische Methode
zurück. Diese Einstellung steht nämlich dahinter.
({9})
Man schafft es durch kein Parteiengesetz, diese Einstellung zu sanktionieren; das muss vielmehr der Bürger
übernehmen. Er hat bald Gelegenheit dazu, nämlich am
22. September.
({10})
Es müssen Konsequenzen aus den Unzulänglichkeiten
der gesetzlichen Regelung der Parteienfinanzierung gezogen werden. Das Parteiengesetz, das wir heute beschließen, wird dieser Anforderung gerecht. Am Ende eines langen Diskussionsprozesses steht ein gemeinsamer
Gesetzentwurf. Das heißt nicht, dass wir alle in allen
Punkten einer Meinung sind. Es ist aber ein tragfähiger
Kompromiss. Eben wurde die Parteispendenaffäre in
Köln angesprochen. Diese hat die Kompromissfindung
erheblich beschleunigt; so sind wir schneller zu diesem
Ergebnis gekommen.
Die erste Konsequenz, die bei diesem Parteiengesetz
gezogen wurde, betrifft das Verfahren, in dem dieses Gesetz auch dem Inhalt nach entstanden ist.
({11})
Es war die CDU/CSU-Fraktion, die durch ihre Initiative
im vergangenen Sommer ein parlamentarisches Verfahren
erzwungen hat. Es hat nicht mehr die Schatzmeisterrunde
hinter verschlossenen Türen gegeben,
({12})
sondern wir haben ein ordentliches parlamentarisches
Wettbewerbsverfahren durchgeführt. Diesen Zwang hat
die CDU/CSU-Fraktion in diesem Gesetzgebungsverfahren erzeugt. Das war gut so und ist diesem Gesetz gut bekommen.
({13})
Parteiengesetzgebung ist Gesetzgebung in eigener Sache.
Da muss die Transparenz im Verfahren beginnen. Das ist
besser geworden.
({14})
In der Sache ziehen wir Konsequenzen in drei Bereichen: bei den Spenden, bei den Sanktionen und bei der
wirtschaftlichen Betätigung. Ich betone, dass Spenden
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
erwünschte politische Betätigung der Bürger sind. Das
Verfassungsgericht wünscht, dass Parteien in der Bevölkerung verankert sind, und auch, dass es finanzielle Rückkoppelungen zwischen Parteien und Bevölkerung gibt.
Darum ist es ein erwünschtes und legitimes Verhalten,
wenn Bürger spenden. Gerade weil das so ist, muss auch
Missbrauch verhindert und Transparenz geschaffen werden.
({15})
Zum Stichwort Transparenz bei den Parteifinanzen
gibt es übrigens die verfassungsrechtliche Problematik
des Reichtums der SPD. Das Verfassungsgericht sagt, die
Parteien müssen darauf angewiesen sein, sich rückzukoppeln. Eine Partei, die über ein milliardenschweres Unternehmen gebietet, wie es die SPD tut, hat Parteispenden
und Mitgliedsbeiträge gar nicht nötig.
({16})
Das ist die verfassungsrechtliche Problematik des Reichtums der SPD.
({17})
Wir haben aber auch bei den Spenden für Transparenz
gesorgt:
({18})
Barspenden über 1 000 Euro sind verboten, Großspenden müssen unverzüglich veröffentlicht werden und
Parteien ist es in Zukunft verwehrt, über den Umweg öffentlicher Unternehmen an Parteien zu spenden.
({19})
Hier ist noch mehr Transparenz im Bereich der Spenden
erzielt worden.
Zweitens. Wir brauchen - auch das ist unsere Forderung im Gegensatz zum Koalitionsentwurf - ein lückenloses Sanktionssystem bei Verstößen gegen das Parteiengesetz.
({20})
- Nein, es ist gut, dass es am Anfang den Gesetzentwurf
gegeben hat. In Ihrem Koalitionsentwurf gab es dieses
lückenlose Sanktionssystem eben nicht.
({21})
Das kann man anhand Ihres Gesetzentwurfes nachweisen.
Die Sanktionen reichen von finanziellen Maßnahmen
bis zur Strafbarkeit. Die Strafbarkeit unterstreicht die Bedeutung des Rechtsgutes der Transparenz. Sie erfasst präzise die schweren Verstöße; das ist auch richtig so. Aber
sie stellt andererseits sicher, dass nicht ehrenamtliche politische Tätigkeit unter Generalverdacht gestellt wird. Es
ist ein Gebot des Gesetzgebers, das sicherzustellen.
Darüber hinaus wird die bisherige rechtmäßige Praxis
der Bundestagsverwaltung, dass die Partei, die sich von
sich aus offenbart, sanktionsfrei bleibt, kodifiziert und
konkretisiert. Das ist ein Anreiz für Selbstreinigung; das
ist eine vernünftige Regelung.
Ich komme zum dritten Punkt, bei dem unbedingt Konsequenzen gezogen werden mussten. Es geht um den Bereich der wirtschaftlichen Betätigung. Die wirtschaftliche
Betätigung der Parteien war bislang völlig ungeregelt.
Nichts, kein Absatz, kein Paragraph, kein Halbsatz, kein
Wort galt der wirtschaftlichen, der unternehmerischen
Betätigung von Parteien. Das hat sich grundlegend geändert.
Allerdings möchte ich betonen: Obwohl wir nun einen
gemeinsamen Gesetzentwurf haben, haben wir in der
Grundsatzfrage keine Einigkeit. Wir sind der Auffassung,
dass sich Parteien nicht als Medienunternehmer betätigen
sollten. Die Presse hat die Funktion öffentlicher Kritik
und Kontrolle.
({22})
Daher kann es nicht richtig sein, dass die zurzeit größte
Regierungspartei einer der größten Medienunternehmer
des Landes ist.
({23})
Frau Wettig-Danielmeier hat den Wert allein der Medienbeteiligungen der SPD im Untersuchungsausschuss
mit 750 Millionen DM angegeben. Die Auflage der Tageszeitungen, an denen Sie beteiligt sind, beträgt 2,5 Millionen. Es kann doch nicht richtig sein, dass sich die Parteien, die durch die Presse kontrolliert werden sollen, ihre
Kontrolleure kaufen! Das ist doch keine Gewaltenteilung
und keine öffentliche Kontrolle.
({24})
Wir haben zurzeit in diesem Haus noch nicht die Mehrheit.
Herr Kollege Röttgen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt?
Ja, bitte.
({0})
Herr Kollege
Röttgen, ich habe zwar nachher noch Gelegenheit, darauf
zu antworten; aber das geht mir jetzt über die Hutschnur.
Deswegen frage ich Sie: Warum haben Sie und warum hat
die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf mitgetragen? Wenn Sie dagegen sind, seilen Sie sich doch endlich
ab, damit klare Fronten entstehen!
Herr Kollege
Schmidt, diese Frage kann ich Ihnen eindeutig beantworten; ich hatte ohnehin vor, gleich darauf zu kommen. Ich
habe gerade den Dissens in der Grundsatzfrage des Verhältnisses von Parteien und Presse betont.
({0})
Wir sind der Auffassung, dass hier eine grundsätzliche
Trennung erfolgen muss: Auf der einen Seite sind die Parteien und auf der anderen Seite kontrolliert die Presse die
Parteien. Da darf es keine Verquickung geben.
({1})
Ich sage Ihnen - ich erläutere Ihnen das gleich ausführlicher -, weswegen wir diesen Gesetzentwurf mittragen:
weil wir substanziell etwas erreicht haben. Aber die
CDU/CSU und die FDP, die das genauso sieht, haben nicht
die Mehrheit im Parlament. Solange das so ist, appellieren
wir an Sie um der eben von Ihrer Fraktion beschworenen
politischen Kultur in unserem Land willen: Trennen Sie
sich freiwillig von diesen Medienunternehmen,
({2})
legen Sie das Geld bei Daimler-Benz oder sonstwo an,
aber nicht in Medienunternehmen!
Nun erkläre ich Ihnen, warum wir, obwohl wir in der
Grundsatzfrage einen Dissens haben, dem Gesetzentwurf
zustimmen können: weil wir, was das Verhältnis von Parteien, Presse und Öffentlichkeit anbelangt, das Minimum
erreicht haben. Das Minimum ist Transparenz; es bedeutet, dass Sie wenigstens nicht mehr mit verdecktem Visier
arbeiten, dass die Bürger über diesen Sachverhalt informiert werden.
({3})
Transparenz wird überall beschworen; es ist das wichtigste Stichwort der Parteiengesetzgebung und der Parteienfinanzierung.
({4})
Aber dort, wo die SPD wirtschaftlich massiv engagiert ist,
sollen die Bürger nichts erfahren.
Was haben wir an Transparenz erreicht?
({5})
Erstmalig müssen Einnahmen aus Unternehmensbeteiligungen angegeben werden. Erstmalig ist im neuen Parteiengesetz eine Vermögensbilanz mit Erläuterungsteil vorgesehen, den es bislang nicht gegeben hat.
({6})
In diesem Erläuterungsteil muss die SPD wie eine Kapitalgesellschaft Angaben über ihre mittelbaren und unmittelbaren Beteiligungen machen: Höhe des Anteils und des
Eigenkapitals und das Ergebnis aus dem letzten Geschäftsjahr.
({7})
Sie müssen darüber hinaus die Unternehmensbeteiligungen im Bereich von Medienunternehmen angeben
und Sie müssen nach dem neuen Gesetz darlegen, welche
Zeitungen die Unternehmen, an denen Sie beteiligt sind,
herausgeben. Wir schaffen mit diesem Gesetz also Transparenz.
({8})
Darüber hinaus muss alle fünf Jahre der wirtschaftliche
Wert der Unternehmensbeteiligungen bewertet werden.
Das heißt, die Bevölkerung wird nicht mehr mit Angaben
über Buchwerte, die nicht realistisch sind, abgespeist,
sondern sie erhält einen Einblick in den wirtschaftlichen
Wert der Unternehmensbeteiligungen.
Letzter großer Fortschritt: Alle diese Angabepflichten
sind sanktionsbewehrt. Aber Sie wollten genau diese
Sanktionen aus Ihrem Gesetzentwurf herausnehmen.
Diese Angaben sind nun durchgehend sanktionsbewehrt.
Herr Friese hat eben die entsprechenden Sanktionen genannt.
Herr Schmidt, ich komme zur Antwort auf Ihre Frage,
warum wir zustimmen.
({9})
Weil wir so viel erreicht haben, können wir diesem Gesetz
zustimmen.
Herr Kollege Röttgen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin EichstädtBohlig?
Ich bin gerne bereit, Ihre Zwischenfrage zu beantworten.
Ich möchte Ihnen eine ganz einfache Frage
stellen. Ist das, was wir heute gemeinsam verabschieden
werden, nicht Anlass, Selbstkritik zu üben,
({0})
und zwar sowohl im Hinblick auf den Umgang zwischen
Parteien und Medien als auch im Hinblick auf den Umgang zwischen Parteien und Spendern? Ich glaube, das
sind wir alle am heutigen Tag der Bevölkerung schuldig.
Ich frage Sie daher, ob Sie bereit sind, das ernst zu nehmen.
({1})
Mein erster Satz
lautete, dass die Parteispendenaffären und die Verstöße
gegen das Parteiengesetz in der Vergangenheit und in der
Gegenwart Vertrauen gekostet haben.
({0})
Der Maßstab unseres Gesetzes ist die Ehrlichkeit der
Konsequenzen.
({1})
Aus den erkannten Missständen müssen die Konsequenzen gezogen werden. Mit diesem Gesetzentwurf wurde in
puncto Konsequenzen viel erreicht. - Ich darf Sie bitten,
stehen zu bleiben, während ich Ihre Frage beantworte.
Aber es besteht auch Uneinigkeit. Es gibt keine völlige
Übereinstimmung der Meinungen. Wir haben hinsichtlich
des Verhältnisses von Presse und Parteien eine Grundsatzposition, die nicht die rot-grüne Position ist. Es ist
nicht angebracht, in diesem Fall der Bevölkerung Harmonie vorzuspielen.
({2})
Interessanterweise fällt der Wettbewerb unter den Parteien beim Parteiengesetz, das uns selber betrifft, aus.
Meiner Meinung nach müssen aber auch die Unterschiede
in den einzelnen Positionen dargelegt werden.
({3})
- Dass Sie das nicht gerne hören, glaube ich Ihnen gern.
Aber wir sprechen die Unterschiede dennoch aus.
({4})
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen, die
wichtig ist.
({5})
Das Parteiengesetz ist ein Ordnungsrahmen für die politische Auseinandersetzung. Dieser Rahmen ist besser
geworden und Konsequenzen sind gezogen worden. Darum stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. Er entspricht
nicht hundertprozentig unseren Vorstellungen. Aber viele
dieser Vorstellungen sind realisiert worden. Wir wünschen, dass die Parteien in dem Geist, in dem dieses Gesetz entstanden ist, die Vorschriften befolgen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Röttgen hat den wahren Grund nicht genannt,
warum die CDU/CSU dem Gesetzentwurf doch zustimmt. Herr Kollege Röttgen, ich erinnere mich sehr gut
an die Verhandlungen und auch an die Entwicklung der
Verhandlungen. Am Anfang waren Sie es, der ganz strikt
gegen jede strafrechtliche Sanktion in diesem Parteiengesetz gewesen ist.
({0})
Sie mussten von allen anderen zum Jagen getragen werden. Wissen Sie, warum Sie jetzt zustimmen? Weil auch
Sie festgestellt haben, dass die Bevölkerung wie bei keinem Gesetz vorher von uns allen verlangt, dass wir etwas
tun und alle gesetzgeberischen Möglichkeiten nutzen, um
in Zukunft solche Spendenskandale, solche Korruption
und solche Ereignisse der gekauften Politik einer Bundesregierung zu verhindern.
({1})
Das ist die Forderung an uns, den Gesetzgeber. Dieser
Forderung konnten Sie sich nicht entziehen.
({2})
Herr Kollege Röttgen, wir haben ja gestern im Ausschuss dazu noch einmal eine Auseinandersetzung gehabt. Um es gleich zu Beginn zu sagen: Auch ich bin dafür,
dass die Kollegin Wettig-Danielmeier und der Kollege
Müntefering noch einmal im Ausschuss gehört werden.
Aber verschweigen wir doch nicht, dass bei ihnen niemals
der Verdacht bestanden hat, dass sie von einem Waffenhändler eine Einflussspende in Höhe von 100 000 DM bekommen haben und dass sie diese 100 000 DM zunächst
ein Jahr verborgen gehalten haben, bis sie sie aus dem Tresor herausgeholt und versucht haben, sie in das Rechenwerk der Partei zu schmuggeln. Da besteht ein entscheidender Unterschied.
({3})
Es gibt Leute, die hier Parallelen ziehen wollen, weil es
sich auf der einen, aber auch auf der anderen Seite um eine
Schatzmeisterin handelt. Bei der SPD besteht jedoch ein
entscheidender Unterschied zu dem, was wir von der
CDU gewohnt gewesen sind.
Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versucht, ganz konkret anhand der einzelnen Fälle die
Konsequenzen aus den Parteispendenskandalen der
letzten Jahre und auch der letzten Wochen zu ziehen. Ich
sage Ihnen: Wenn es das Gesetz in dieser Form bereits
1994 gegeben hätte, wenn also bei der letzten Novellierung des Parteiengesetzes so etwas beschlossen worden
wäre, dann müssten wir heute nicht darüber rätseln, ob
Frau Baumeister, Ihre ehemalige Schatzmeisterin, oder
Herr Dr. Schäuble Recht hat bzw. welche Variante in Bezug auf die 100 000-DM-Spende des Waffenhändlers
Schreiber stimmt. Wenn das Gesetz schon damals in der
heute vorgesehenen Form gegolten hätte, hätten sie eine
Barspende, von mehr als 1 000 Euro gar nicht annehmen
dürfen. Eine Einflussspende hätten sie überhaupt nicht annehmen dürfen. Übrigens durften sie das auch schon nach
dem alten Gesetz nicht.
Wenn ein Betrag von mehr als 50 000 Euro gespendet
worden wäre, hätten sie dies sofort und unverzüglich an
den Bundestagspräsidenten melden müssen und der hätte
dies veröffentlichen müssen. Wir hätten dann schon bei
der Wahl von 1994 von der Schreiber-Spende an Schäuble
gewusst. Frau Baumeister und Herr Dr. Schäuble hätten
sich schon 1994, hätte es die neuen gesetzlichen Bestimmungen bereits gegeben, strafbar gemacht. Wir bringen
einen solchen Gesetzentwurf ein, damit so etwas, wie wir
es von Ihrer Seite 1994 erlebt haben und jetzt mühsam
aufarbeiten, nicht wieder vorkommt.
({4})
Wenn dieses Gesetz 1994 gegolten hätte, dann hätte der
damals amtierende Bundeskanzler in seinem Amtszimmer nicht mit der einen Hand wichtige Gesetze zur deutschen Einheit unterschreiben können und mit der anderen
Millionenbeträge in bar annehmen können. Er wäre dann
nämlich nicht straflos geblieben. Wenn dieses Gesetz
1994 gegolten hätte, dann hätte Herr Dr. Kohl eine
Straferwartung gehabt, die in etwa an die Höchstgrenze
von drei Jahren, die in unserem neuen Gesetz vorgesehen
ist, gereicht hätte, weil er das Gesetz, wenn es schon damals gegolten hätte, mehrfach und beharrlich über Jahre
hinweg gebrochen hatte
({5})
und die Absicht hatte, die Herkunft dieser Spenden zu verschleiern und die Rechenschaftslegung zu umgehen.
({6})
Wir haben eine ganze Reihe von Erfahrungen auch aus
den letzten Wochen berücksichtigt. Auch die Herren
Rüther und Biciste wären nach diesem Gesetz strafbar.
Die Staatsanwaltschaft in Köln hätte keine Probleme.
Denn die Herren Rüther und Biciste haben vorsätzlich,
um die Herkunft der Spenden zu verschleiern, Beträge gestückelt und falsch verbuchen lassen. Auch die, die in
Kenntnis dieses Vorganges mitgewirkt haben, zum Beispiel weil sie Spendenquittungen angenommen haben,
obwohl sie überhaupt keine Spende gemacht haben,
wären im Rahmen der dortigen Vorgänge wegen Beihilfe
strafbar. Das heißt, wir haben die Strafvorschriften noch
in den letzten Wochen aus den Erkenntnissen heraus, die
wir jede Woche neu gewonnen haben, verschärft und eine
Strafbarkeit auch auf der untersten Ebene eingerichtet. Da
war die Einsicht da, dass wir uns dem Willen der Bevölkerung nicht entziehen können.
({7})
Wir haben auch der CSU eine eigene Vorschrift gewidmet. Wir haben in den Gesetze ntwurf nämlich eine
Vorschrift aufgenommen, nach der dann, wenn die Werber
mehr als 25 Prozent der eingeworbenen Spende erhalten,
die Spende nicht angenommen werden darf. Das ist richtig und schon deshalb zwingend erforderlich, weil wir wissen, dass jede Partei für die eingeworbenen Spenden einen staatlichen Zuschuss in nicht unbeträchtlicher Höhe
erhält. Das heißt, Sie bei der CSU haben eine Praxis ausgeübt, nach der Spenden eingeworben worden sind, 40 bis
60 Prozent davon an Werber abgegeben worden sind, Sie
aber dafür die vollen Subventionen aus der Staatskasse, also
aus Steuermitteln, einkassiert haben. Das war - unabhängig
davon, ob es strafbar ist - nicht in Ordnung.
({8})
Wir haben in dem neuen Gesetz, das ab 1. Juli dieses
Jahres gelten soll, eine Vorschrift, nach der es in Zukunft
nicht mehr möglich ist, das zu tun, was Herr Kanther und
Prinz zu Sayn-Wittgenstein in Hessen praktiziert haben,
nämlich Gelder in Höhe von mehrstelligen Millionenbeträgen in der Schweiz zu waschen, sie zurückzuführen
und immer vor Wahlkämpfen, immer wenn sie Geld
brauchten, in Deutschland in die Kassen der CDU mit der
unverschämten Behauptung hineinzuschmuggeln, es handele sich hier um Erbschaften oder Vermächtnisse jüdischer Herkunft.
({9})
Das wird es in Zukunft nicht mehr geben. Dieser Praxis
haben wir einen Riegel vorgeschoben, weil jetzt im Gesetzentwurf steht, dass Vermächtnisse und Erbschaften
mit dem Namen und der Adresse des Erblassers genannt
werden müssen. Diese Praxis werden Sie nicht mehr fortsetzen können, weder in Hessen noch sonstwo.
({10})
Wir haben das Selbstverständliche in den Gesetzentwurf hineingeschrieben. Wir mussten es hineinschreiben,
weil das Verwaltungsgericht in Berlin die Auffassung vertreten hat, auch ein unrichtiger Rechenschaftsbericht
würde die Voraussetzungen für eine wirksame Einreichung eines Rechenschaftsberichtes erfüllen.
({11})
Jetzt steht das Selbstverständliche im Gesetzentwurf.
Natürlich muss ein Rechenschaftsbericht wahrheitsgemäß
sein, nach bestem Wissen und Gewissen der Personen, die
diesen Rechenschaftsbericht unterschrieben haben.
({12})
Es stimmt zwar, dass das, was die Sozialdemokraten
zum Teil praktiziert haben - ich sage das ausdrücklich und
habe es immer wieder gesagt -, nicht gegen das geltende
Parteiengesetz verstoßen hat. Aber mit dem Grundgedanken des Art. 21 des Grundgesetzes war nicht zu vereinbaren, dass sie ihre Vermögensverhältnisse und ihre Einkommen aus Vermögen nicht schonungslos dargelegt
haben, dass sie saldiert haben, sodass die Bürgerinnen und
Bürger, die diese Rechenschaftsberichte gelesen haben,
nicht wissen konnten, wieviel Geld nun tatsächlich der
Sozialdemokratischen Partei zugewachsen ist. Es ist richtig und wichtig, dass in Zukunft jeder Bürger und jede
Bürgerin weiß, woher sich eine Partei finanziert, und dass
sie diese Kenntnis bzw. dieses Wissen bei ihrer Wahlentscheidung berücksichtigen können.
Die Sozialdemokraten - das muss ich aus meiner Erfahrung aus allen Verhandlungen sagen - haben sich von
der ersten Minute an, seit wir über dieses Gesetz diskutiert
und es beraten haben - lange bevor Sie von der CDU/CSU
dabei gewesen sind -, mit dieser Regelung einverstanden
erklärt. Ich erinnere mich an eine der Verhandlungen der
letzten Tage: Sie haben sich auch damit einverstanden erklärt, dass nicht nur ihre Beteiligungen an Unternehmen,
die Presseerzeugnisse herausgeben, offen gelegt werden,
sondern sie haben auch angeboten - von Ihnen kam die
Aussage, dass das ein sehr gutes Angebot sei, das Sie erfreut annehmen -, dass die Hauptprodukte dieser jeweiligen Unternehmen im Rechenschaftsbericht genannt
werden müssen.
Damit wird die Forderung, die im Grundgesetz steht,
dass die Hintergründe und die Herkunft des Vermögens
der Parteien transparent gestaltet werden müssen, sodass
alle wissen können, was hinter einer Partei steht, was hinter einer Zeitung steht und ob es da Zusammenhänge gibt,
tatsächlich erfüllt.
({13})
Abschließend stelle ich fest: Die Bündnisgrünen, früher
die Grünen, haben in den 80er-Jahren durch zwei Klagen
beim Bundesverfassungsgericht mit dafür Sorge getragen,
dass die Finanzen der Parteien immer mehr so gestaltet
worden sind, dass sie der Verfassung, dem Grundgesetz,
entsprechen. Zwei Klagen beim Bundesverfassungsgericht
waren dafür erforderlich.
Die Bündnisgrünen haben in der letzten Legislaturperiode Vorschläge gemacht, wie man die Transparenz der Finanzen der Parteien verbessern kann. In dieser Legislaturperiode haben die Bündnisgrünen mit dafür gesorgt, dass
die Parteifinanzen transparent sind und die Herkunft der
Mittel und das Vermögen einer Partei, wie es das Grundgesetz vorschreibt, offen gelegt werden. Wir wollen dort weitermachen, weil wir natürlich wissen, dass auch die Vorschriften, die wir heute beschließen, nicht alles verhindern
können. Sie können keinen Gesetzesbruch verhindern und
können auch nicht verhindern, dass immer wieder neue
Schlupflöcher gesucht werden.
Wir werden aber wachsam sein und, wenn es erforderlich ist, erneut einen Untersuchungsausschuss fordern,
auch im nächsten Deutschen Bundestag. Dann werden wir
Nachbesserungen fordern. Wir sehen uns gegenüber der
Bevölkerung verpflichtet, das Grundgesetz ernst zu nehmen und allen Wählerinnen und Wählern rechtzeitig mitzuteilen, wer finanziell hinter welcher Partei steckt. Das
ist für eine Wahlentscheidung nicht nur wichtig, sondern
kann sogar ausschlaggebend sein.
Herr Kollege
Ströbele, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die Fraktionen des Deutschen Bundestags waren nach dem Parteispendenskandal
der CDU und dem jetzigen der SPD entgegen dem Bild,
das die heutige Debatte bisher vermittelt hat, durchaus in
der Lage, hinter verschlossenen Türen, im Kreise von Experten vernünftig miteinander zu besprechen, wo die Fehler der bisherigen Parteiengesetzgebung gelegen sind und
wie man dieses Gesetz verbessern kann, damit die verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt werden.
({0})
Es war vermutlich ein wenig zu naiv, zu denken, dass
alle Diskussionsredner das gemeinsam gefundene Ergebnis dieser Beratungen so sachlich darstellen würden wie
der Herr Kollege Friese, der die Arbeitsgruppe geleitet
hat.
({1})
Ich sehe auch ein, dass unmittelbar vor einer Bundestagswahl in einer solchen Plenardebatte Platz für eine gewisse Polemik sein muss. Aber, Herr Kollege Ströbele,
Sie haben vorhin den Begriff von der gekauften
Bundesregierung gebraucht.
({2})
Sie versuchten damit wieder einmal zu insinuieren, die
Regierung Kohl sei korrupt gewesen.
({3})
Das machen Sie hier im Plenum des Deutschen Bundestages, nachdem sich ein Untersuchungsausschuss dieses
Hauses zwei Jahre lang mit diesen Vorwürfen befasst hat
und das Ergebnis der Untersuchungen eindeutig ist: Der
Vorwurf der Korruption ist haltlos.
({4})
Wenn Sie das in dieser Form einführen, geht das über eine
zulässige Polemik zum neuen Parteiengesetz hinaus.
({5})
Eine verblüffende These hat zuvor der Kollege Röttgen
aufgestellt. Er hat gesagt, dass Reichtum zu Volksferne
führt. Darüber kann man in der Tat nachdenken. Das
würde bedeuten, dass Minoritenorden bessere Vertreter in
einer Demokratie wären als die Parteien, wie sie sich bei
uns herausgebildet haben. Herr Kollege Röttgen, ich darf
Ihnen aber eines versichern: An dem von Ihnen angelegten Maßstab kann sich mein bayerischer Landesverband
der FDP sehr wohl messen lassen. Wir sind hinreichend
arm, um auch noch volksnah sein zu können.
({6})
Was Herr Röttgen sagte, hatte aber natürlich einen
ernsthaften Hintergrund. Er bezog sich auf die Vermögensbeteiligungen der SPD. Meine Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, ich finde, Sie machen es sich in
diesem Punkt zu leicht. Sie haben mir hier auch eine Spur
zu aufgeregt auf die Ausführungen des Kollegen Röttgen
reagiert.
({7})
Ich sage Ihnen auch, warum.
({8})
- Nein. Das ist ein Punkt, über den Sie in aller Ruhe nachdenken müssten. Sie haben schließlich verhindert, dass
der Gesetzgeber hier entscheidende Konsequenzen zieht.
Sie waren nicht bereit, hier mitzumachen.
Sie müssen sich schon die Frage stellen lassen, ob
es nicht ein ernsthaftes Problem der Gewaltenteilung
ist, wenn diejenigen, die die Politik kontrollieren sollen,
also die so genannte vierte Gewalt, die Presse und die
Medien,
({9})
ihrerseits unter der Kontrolle der Politik stehen, und sei es
nur über eine Vermögensbeteiligung.
({10})
Ich sage Ihnen eines: Dies ist in Wahrheit das moderne
Problem der Gewaltenteilung und Gewaltentrennung. Die
Diskussion darüber mutet auch oft recht lächerlich an. Wir
hatten zum Beispiel im Innenausschuss durch eine Gesetzeskorrektur das Problem zu lösen, dass Feuerwehrleute
nicht Mitglieder von Gemeinderäten werden durften, weil
dies ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung sei. Da fragt
man sich in der Tat, ob hier die Relationen noch stimmen.
Die Verquickung von Politik und Medienbeteiligungen ist das Problem, über das in diesem Zusammenhang zu reden gewesen wäre. Dass Sie hier nicht zu einer
echten Lösung bereit waren, führte zu einem wirklichen
Schönheitsfehler dieses Gesetzes. Immerhin gibt es in Zukunft wenigstens mehr Transparenz.
({11})
Kollege Stadler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
Bitte.
Zum Ersten: Kollege Stadler, würden Sie mir zustimmen, dass angesichts
der Tatsache, dass Medien heute in erster Linie Wirtschaftsunternehmen sind, die Diskussion darüber, welche
Rolle Medien in einer Demokratie spielen, und über die
Kontrollmöglichkeiten der Medien angesichts der Diskussion über innere Pressefreiheit, über die Freiheit der
Journalisten und ihrer Unabhängigkeit von ihren Brötchengebern, für die Demokratie mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger ist als das, was Sie sagen?
Zum Zweiten: Im Grundgesetz ist die Pressefreiheit als
eine Ableitung der Meinungsäußerungsfreiheit formuliert.
Diese wiederum ist abhängig von der wirtschaftlichen
Macht über die Medien. Wenn wir schon darüber reden,
würden Sie mir dann darin zustimmen, dass man generell
darüber reden müsste, welche Rolle Medien als immer
größer werdende Wirtschaftsunternehmen in der Demokratie und der Gesellschaft spielen, und nicht nur scheinheilig darüber sprechen darf, wer an was beteiligt ist?
({0})
Herr Kollege Büttner, Sie versuchen, hier von einem Problem, das bei der Neufassung
des Parteiengesetzes zu lösen gewesen wäre, abzulenken,
indem Sie andere, auch gewichtige Probleme hier in die
Diskussion einführen. Das ist dieser Fragestellung nicht angemessen. Wir als Liberale gehen doch nicht mit Schaum
vor dem Mund an diese Problematik heran. Wir respektieren es, dass die Sozialdemokratie eine bestimmte Historie
hat und früher, in der Kaiserzeit, auf Medienbeteiligungen
angewiesen war, weil sie sonst keine Chance gehabt hätte,
sich darzustellen. Dies liegt aber 100 Jahre zurück.
Jetzt entsteht jedoch ein modernes Problem der Gewaltenteilung, das wesentlich gewichtiger ist als viele
Formalismen, die wir unter dem Aspekt der Gewaltenteilung diskutieren. Dies müssen Sie erkennen.
({0})
Kollege Stadler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Sehr gerne.
Herr Kollege Stadler, geben Sie mir Recht, dass
das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht
von vier, sondern von drei Gewalten spricht?
({0})
Geben Sie mir auch Recht, dass das hohe Gut der Pressefreiheit keine vierte Gewalt ist, auch wenn es manchmal
von den Medien so bezeichnet wird, und dass die Abhängigkeit der Politik von diesen Medien unabhängig davon,
ob es eine Besitzbeteiligung einer Partei gibt, mindestens
genauso problematisch ist, wenn etwa ein Großverleger
oder Großunternehmer wie Kirch ganze Medienlandschaften in der Bundesrepublik Deutschland bestimmt
und mit denen Politik betreibt?
Geben Sie mir auch darin Recht, dass, wenn es überhaupt
einer Einschränkung bedarf, insgesamt eine Neuregelung
bzw. überhaupt eine Regelung auf den Gebieten der Medienbeteiligung und der Ausübung von Medienmacht in der
Bundesrepublik geschaffen werden müsste und dass das mit
dem Parteiengesetz überhaupt nichts zu tun hat?
({1})
Herr Kollege Ströbele,
zunächst einmal bin ich äußerst erstaunt darüber, dass gerade Sie als Linker und 68er hier eine Diskussion über die
Begriffe erste, zweite, dritte und vierte Gewalt führen,
({0})
wonach es eine vierte Gewalt angeblich nicht gäbe, weil
sie in dem klassischen Schema von Montesquieu nicht
vorkommt.
({1})
Ich bin wirklich verblüfft darüber, dass Sie an einer solch
konservativen Betrachtungsweise des Demokratieproblems
festhalten und nicht einen soziologischen Ansatz wählen,
nämlich die Gesellschaftswirklichkeit mit einbeziehen.
({2})
Die Grünen haben sich ja in vielerlei Hinsicht geändert. Es heißt - auch aus unseren Kreisen - immer wieder,
dass Ströbele immer derselbe geblieben ist. Ihre Zwischenfrage war jedoch ein Beweis dafür, dass auch Sie
sich ändern. Verblüffenderweise legen Sie jetzt allerdings
eine wissenschaftliche Denkweise an den Tag, die ich nur
als sehr konservativ bezeichnen kann.
In der Sache selbst stimme ich Ihnen nicht zu. Im Rahmen der Diskussion über das Parteiengesetz muss darüber
gesprochen werden, wie die Parteien, die nach dem Grundgesetz eine hervorgehobene Rolle bei der politischen Willensbildung innehaben, diese ausfüllen sollen und was ihnen dabei erlaubt ist und was nicht. Man kann etwa darüber
diskutieren, ob es zur Rolle der Parteien gehört, dass sie
ein Reisebüro betreiben, durch das nicht etwa nur verdiente Parteifunktionäre nach Kuba verschickt werden,
sondern durch das schlicht und einfach Geld verdient wird.
Darüber kann man nachdenken.
({3})
Herr Kollege Ströbele, ich bin mit meiner Antwort aber
noch nicht fertig.
({4})
Noch einmal: Wichtiger ist in der Tat, dass Sie nicht zu einer ehrlichen Diskussion darüber, ob die historisch gerechtfertigte und sich entwickelt habende Vielfalt der
Medienbeteiligungen der SPD heute noch in das Verfassungsgefüge passt, bereit gewesen sind. Dass Sie zugestimmt haben, in dem Bereich mehr Transparenz zu schaffen, zeigt immerhin, dass Ihnen bei dieser Angelegenheit
nicht ganz wohl ist.
({5})
Dieser erste Schritt ist nach unserer Meinung aber nicht
ausreichend.
({6})
Hans Büttner ({7})
Herr Kollege Stadler,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Friese?
Bitte sehr.
Herr Kollege Stadler, ich habe
Ihre Auffassung zur Kenntnis genommen. Kennen Sie die
Auffassung der Kommission der unabhängigen Sachverständigen? Diese macht gerade zu diesem Thema folgende Ausführungen:
Einschränkungen eines unternehmerischen Engagements der Parteien im Pressewesen könnten nur mit
Rücksicht auf Art. 21 GG gerechtfertigt sein. Die
Aufgabe der Parteien ist es aber gerade, „auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss ({0}) nehmen“ ({1}). Es wäre also widersinnig,
Parteien ausgerechnet im Bereich des Pressewesens
eine Betätigung verwehren zu wollen.
Das ist die Position der Kommission. Können Sie dazu
Stellung nehmen?
({2})
Lieber Herr Kollege Friese,
Ihre Zwischenfrage gibt mir erstens Gelegenheit, jetzt
eine Mahnung zu beherzigen, die mir von meinen Parteifreunden für diese Rede mit auf den Weg gegeben worden
war. Mir wurde nämlich gesagt, dass ich auf keinen Fall
vergessen dürfe, der unabhängigen Kommission des Bundespräsidenten für ihre verdienstvolle Vorarbeit zu danken, was ich hiermit tun möchte.
({0})
Zweitens hat der einleitende Satz, den Sie zitiert haben,
immerhin das Problembewusstsein der Kommission offenbart. Es wurde in derselben Weise, wie ich es hier formuliert habe, als ein verfassungsrechtliches Problem angesehen. Die Parteien sollen selbstverständlich an der
politischen Willensbildung mitwirken. Dazu haben sie
vielfach Gelegenheit, zum Beispiel bei den Debatten in
diesem Haus. Durch Ihre Zwischenfragen erhält man ja
erfreulicherweise Gelegenheit, hier manche Punkte ausführlicher zu erörtern, als man das sonst hätte tun können.
Das ist der eine Punkt.
({1})
Parteien sollen aber auf die politische Willensbildung
nicht mit Tarnkappen, sozusagen vermummt, Einfluss
nehmen. Zumindest in dem Punkt, dass das künftig nicht
mehr möglich sein soll, sind wir uns einig.
({2})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie haben
mich nun daran gehindert, meine Kernthese zu diesem
Gesetzentwurf vortragen zu können. Man überlegt sich ja
immer einen Satz, der vielleicht zitierfähig ist, sei es in der
wirklich unabhängigen Presse,
({3})
sei es in der Presse, an der Sie beteiligt sind.
({4})
Weil meine Redezeit allmählich zu Ende geht, komme
ich jetzt zu folgender Bewertung. Wir alle wissen - das
war nicht verwunderlich -, dass nach den Spendenskandalen der CDU und jetzt auch der SPD in der Öffentlichkeit, auch in der Fachöffentlichkeit, der Ruf nach einer
wirklich umwälzenden Neuordnung des Parteiengesetzes
laut geworden war. Gleich wird Frau Kollegin Kenzler
sprechen. Sie wird einige Reformvorschläge vortragen,
die, wie wir aus den Ausschussberatungen wissen, viel
weiter als das gehen, was wir für richtig gehalten haben.
Ich komme zu dem Ergebnis: Das, was wir gemeinsam
gemacht haben - dabei sind Streitpunkte offen geblieben -,
ist keine Revolution des Parteienrechts, aber eine beachtliche Reform. Das, was uns aufgegeben ist, nämlich für
mehr Transparenz zu sorgen, den Missbrauch von Spenden als Einflussmöglichkeit auf politisches Handeln so
gut es geht zu verhindern, ist durch die vielfältigen Maßnahmen, die ich aus Zeitgründen nicht mehr darstellen
kann, in diesem Gesetzentwurf verwirklicht worden.
Wir hatten unter Leitung von Klaus Kinkel eine interne
Arbeitsgruppe, die zu diesem Gesetzgebungsverfahren
27 Vorschläge formuliert hat. 23 davon finden sich jetzt in
diesem Gesetzentwurf wieder. Man sieht also: Es ist nicht
etwa alles beim Alten geblieben, sondern es gibt ganz beachtliche Änderungen, aber wir sind bei dem Grundprinzip geblieben. Ich halte es auch für gut, dass man sich
ganz offen dazu bekennt: Es ist richtig, dass sich Parteien
natürlich durch Mitgliedsbeiträge finanzieren. Sie brauchen für ihre vielfältigen Aufgaben aber nach wie vor
staatliche Zuwendungen. Spenden sind ebenfalls legitim,
wenn die Regeln eingehalten werden. Die Regeln haben
wir verbessert. Das machen wir, damit auch das Ansehen
der Politik verbessert wird. Es liegt jetzt an uns, durch
eine sinnvolle und strikte Praktizierung des neuen Rechts
dafür zu sorgen, dass dieses Ziel erreicht wird.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile der Kollegin Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Stadler, vielen
Dank für die freundliche Ansage, auch wenn ich nicht in
allen Punkten mit Ihnen übereinstimme. Aber ich muss
Sie enttäuschen: Ich werde heute nicht die sozialistische
Revolution ausrufen.
Der interfraktionelle Gesetzentwurf zur Änderung des
Parteiengesetzes liegt nun nach zähem Ringen auf dem
Tisch. Allenthalben herrscht trotz der heute aufgeregten
Debatte große parteipolitische Erleichterung, aber nicht
bei der PDS. Meine Fraktion wird dem Gesetzentwurf
nicht zustimmen. Wir werden ihn ablehnen, und zwar aus
guten Gründen.
Die Ablehnung bedeutet aber nicht, dass die PDS gegen eine längst überfällige Reform des Parteiengesetzes
ist. Es wäre Nonsens, das zu behaupten. Die PDS hat
bereits im Frühjahr 2000, das heißt vor über zwei Jahren,
einen eigenen Gesetzentwurf zur Reform des Parteiengesetzes vorgelegt, in dem wir zum Teil viel konsequentere und auch weitgehendere Änderungen als im jetzigen
Entwurf gefordert haben. Unsere zentralen Forderungen
wurden nicht aufgenommen. Das ist zum einen ein generelles Verbot von Unternehmensspenden, zum anderen
die Einführung einer Obergrenze für Spenden.
Das Änderungsgesetz - es gehört zur politischen Ehrlichkeit, das deutlich zu sagen - enthält durchaus gangbare
und praktikable Vorschläge, zum Beispiel mehr Transparenz der Rechenschaftslegung, mehr Kontrollen bei den
Spendeneinnahmen und auch die Einführung strafrechtlicher Sanktionen, was wir besonders begrüßen;
denn auch dazu haben wir Vorschläge unterbreitet. Der
Entwurf enthält also eine Menge kleiner Schritte in die
richtige Richtung. Aber nötig wäre ein richtiger Sprung
gewesen. Ein großer struktureller Schnitt, der an den Ursachen der beiden großen Spendenaffären von SPD und
CDU und nicht erst bei den Spendenmanipulationen ansetzt, fehlt in diesem Gesetzentwurf.
({0})
Jetzt sind deutliche Einschnitte in das Parteienrecht unumgänglich, die über „Knopfloch-Chirurgie“ hinausgehen.
Der Gesetzentwurf wird jedenfalls die allenthalben herrschende Politikverdrossenheit nicht mindern. Die Bekämpfung von Korruption, Filz- und Vetternwirtschaft ist nicht
nur Sache des Strafrechts, sie ist auch Sache des Parteienrechts.
Die Möglichkeiten zur Korruptionsbekämpfung sind
im vorliegenden Entwurf bei weitem noch nicht ausgeschöpft, sondern lediglich vorsichtig gestreift worden. Ich
erläutere das kurz an einem Beispiel: Der Entwurf sieht
das Verbot von Spenden nur für die Unternehmen vor, die
sich mit mehr als 25 Prozent in öffentlicher Hand befinden. Damit wurde auf halbem Wege stehen geblieben.
Notwendig wäre ein generelles Verbot von Spenden durch
Unternehmen. Die Ursachen der beiden Spendenaffären
sind eben nicht schwarze Kassen und Geheimkonten,
auch nicht die Stückelung von Spenden oder die Scheinspender. Die Ursache sind vielmehr Unternehmensspenden mit dem Geruch konkreter politischer Einflussnahme
oder des Danksagens für öffentliche Aufträge, weshalb
die Spenden dann auch verschleiert werden mussten. Solche Einflussspenden sind bereits jetzt verboten. Es hat sie
aber trotzdem gegeben. Deshalb müssen Unternehmensspenden grundsätzlich verboten werden; hier hilft leider
alles nichts.
({1})
Der SPD-Spendenskandal hat beispielsweise gezeigt,
dass in der Kölner Müllbranche ein ganzes Netzwerk aufgebaut wurde, mit dem in der Schweiz gemeinsame
Schmiergeldkassen mit Millionenbeträgen aufgebaut wurden. Damit wurde bewusst und ganz gezielt versucht, Politiker und öffentliche Entscheidungsträger zu „beatmen“,
wie es heißt. Natürlich sind wir keine Illusionisten und
wissen, dass man illegale Geldflüsse mit unseren Vorschlägen nicht völlig ausschließen kann. Aber man kann
sie erheblich erschweren und deutliche öffentliche Signale
in diese Richtung aussenden.
Aufgrund der Zeit kann ich nicht auf alle unsere Vorschläge eingehen. Einen muss ich hier aber nennen: Wir
fordern, dass bei schweren strafrechtlich sanktionierten
Verstößen gegen das Parteiengesetz die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, sowie das passive Wahlrecht
zeitlich befristet aberkannt werden. Die jetzt vorgesehene
weitere Anhebung der absoluten Obergrenze für die staatliche Parteienfinanzierung - das hat heute noch keine
Rolle gespielt - ist dagegen zum jetzigen Zeitpunkt ein
falsches Signal.
Es geht uns nicht um sozialistische Illusionen oder um
billigen Populismus. Nein, wir sind schlicht und einfach
für eine konsequentere und radikalere Reform des Parteiengesetzes, die sich im Konfliktfall auch hart gegen uns
selbst richtete.
({2})
Mit unseren Forderungen stehen wir nicht allein. In der
Anhörung fanden wir Zuspruch von prominenter Seite;
ich erinnere an die Professoren Mahrenholz, Schneider
und Naßmacher. Auch in der Politik gibt es eine Reihe von
Fürsprechern für unsere Vorschläge. Ich denke hier nur an
Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der bereits vor zwei
Jahren das Verbot von Unternehmensspenden gefordert
hat, oder an Heiner Geißler, der sogar verlangte, „das ganze
Unwesen der Parteienfinanzierung durch Spenden zu verbieten“. Die hessischen Grünen haben noch eins darauf
gesetzt und im Falle schwerer Verstöße gegen das Parteiengesetz die Streichung von Diäten gefordert. Die FDP
hat im Juli 2001 gefordert, dass zusätzlich zur strafrechtlichen Sanktionierung keine führenden Parteiämter mehr
ausgeübt werden dürften.
Ich kann mich hier nur „Transparency“ anschließen.
Diese Organisation äußerte gestern:
Das Gesetz zieht nicht die notwendigen Konsequenzen, die nach den Spendenskandalen der letzten Zeit
zu erwarten gewesen sind.
Genau so sieht es meine Fraktion. Daher müssen wir den
Gesetzentwurf ablehnen.
({3})
Ich erteile der Kollegin Inge Wettig-Danielmeier, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Eingangs eine Bemerkung,
die nicht zum Parteiengesetz gehört, mit der ich aber auf
Herrn Röttgen eingehe: Sie haben gesagt, Herr Müntefering habe bewusst gelogen oder sein Nichtwissen bewusst
organisiert.
({0})
Ich kann das in jedem Punkt widerlegen. Aber das werden
wir dem Untersuchungsausschuss vorbehalten.
({1})
- Das dauerte zu lange; dann könnte ich zum Parteiengesetz nicht mehr viel sagen. Außerdem kenne ich all Ihre
Fragen nicht im Einzelnen. Ich bitte Sie daher, noch eine
knappe Woche zu warten. Dann werden wir das aufklären.
({2})
Unter den heutigen Rednern bin ich wohl die Einzige,
die dieses Thema hier schon einmal behandelt hat und
schon 1993 die Zusammenarbeit der im Bundestag vertretenen Parteien mit organisiert hat. Diesmal war auch
die PDS von Anfang an an den Diskussionen beteiligt.
Diese Art der Zusammenarbeit an einem für die Demokratie grundlegenden Gesetz ist in öffentlichen Kommentaren bis hin zu Stellungnahmen der Wissenschaft immer
wieder als Kungelei, als politischer Filz denunziert worden, manchmal sogar aus diesem Hause, nach dem Motto:
Gleiche Brüder, gleiche Kappen.
Ich glaube, dass diese Kritik am politischen Konsens,
am politischen Kompromiss ein deutscher Grundirrtum
ist. Die deutsche Geschichte zeigt, wie schwierig es ist,
Demokratie durchzusetzen und zu erhalten. Sie zeigt
auch, wie wichtig es ist, dass die demokratischen Kräfte
sich über die zentralen Fragen des demokratischen Systems verständigen.
({3})
Die Rede von Herrn Röttgen hat gezeigt, dass zumindest er sich mit dieser Konsensfindung und diesem Kompromiss sehr schwer tut.
({4})
Wer ein Gesetz nur als vorläufigen Kompromiss, als abgeleiteten Schwur mittragen zu können meint, der gefährdet diesen Kompromiss von Beginn an. Ich muss gestehen: Wenn ich nicht wüsste, dass eine große Zahl von
Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion das nicht ganz so sehen, wie es hier vorgetragen worden ist, dann würde ich
sagen: Das Gesetz muss zurück in die Ausschüsse. Das ist
nicht der Kompromiss, über den wir wirklich reden können.
Sie wissen, dass zu den für die Demokratie konstitutiven Gesetzen das Parteiengesetz und die Wahlgesetze
gehören. In diesem Zusammenhang sollten wir immer
versuchen, große Parteien nicht in die Minderheit zu
drängen. Die Großen sollten nicht versuchen, die Kleinen
zu umgehen oder gar zu erledigen, wie wir das früher
schon erlebt haben,
({5})
wie es aber glücklicherweise nie gelungen ist. Ich denke
an das Grabenwahlrecht und das Mehrheitswahlrecht. Sie
sehen, die Demokratie setzt sich auch gegenüber den
Kleinen sehr positiv durch.
Deshalb plädierte ich 1992 sehr nachdrücklich dafür,
die Grünen an der Vorbereitung der Novelle zu beteiligen
und ihre Vorstellungen und Anregungen aufzunehmen. Es
hat diesmal mehr Schwierigkeiten gegeben, alle Fraktionen dieses Hauses in die Arbeit einzubeziehen. Ich begrüße, dass sich schließlich alle an den Tisch gesetzt haben. Der Streit um die richtige Lösung ist in diesen Fragen
so notwendig wie das Zusammenfinden in gemeinsamen
Positionen.
Nach den Eruptionen des Spendenskandals hatten wir
dieses Mal allerdings auch Vorschläge der Parteienkommission des Bundespräsidenten auf dem Tisch, die jedenfalls praxisnäher waren als die 1993 unterbreiteten. Auch
wenn wir sie nicht eins zu eins umzusetzen hatten und umsetzen konnten, sind wir doch dem Geist ihrer Empfehlungen und in sehr großem Umfang den Einzelempfehlungen
gefolgt. Noch nie hat eine Kommission einen so großen
Einfluss auf die Gesetzgebung genommen wie dieses Mal.
Ich glaube, das kann man ohne Abstriche sagen.
Verlangte schon das alte Gesetz mehr Transparenz als
alle anderen Parteigesetze der Welt, so ist infolge der Diskussion seit 1999 und als Folge der Empfehlungen der
Kommission und fast aller Parteien die Transparenz, die
Forderung nach Offenlegung der Finanzströme und der
Finanzquellen, so umfassend verwirklicht wie nie zuvor.
Wir begrüßen, dass Union und FDP trotz der hier vorgetragenen Bedenken auf Forderungen verzichtet haben,
die eine kalte Enteignung insbesondere der SPD bedeutet
hätten, und wir uns stattdessen in § 24 Abs. 7 auf eine weitgehende Offenlegung der Vermögen verständigt haben.
Mit dieser Gesetzgebung wird einvernehmlich erreicht
werden, dass auch die mittelbaren Beteiligungen der Unternehmen, an denen die Parteien unmittelbar beteiligt sind,
aufzuführen sind, und dies zur Klarheit so, dass die Angaben aus dem Jahresabschluss des entsprechenden Unternehmens übernommen werden, an dem die Partei unmittelbar beteiligt ist. Damit wird das, was die SPD seit zwei
Jahren freiwillig tut, zur rechtlichen Pflicht; Herr Friese
hat schon darauf hingewiesen.
Hinzugekommen ist die Regelung, dass auch die
Hauptprodukte von Medienunternehmen benannt werden
sollen. Das betrifft die SPD als Partei, die im Übrigen das
vergleichsweise geringste Spendenaufkommen hat. Nur
die SPD liegt hinsichtlich des Spendenaufkommens bei
10 Prozent; alle anderen Parteien liegen deutlich höher.
Ich werde Herrn Röttgen eine Aufstellung zukommen lassen. Vielleicht ist das besser, als sich hier mit ihm auseinander zu setzen. Wenn er die Zahlen hat, wird er sehen,
dass das Spendenaufkommen der CDU/CSU unendlich
höher ist
({6})
als unsere Zusatzeinnahmen aus den Vermögensbeteiligungen mit den Spendeneinnahmen zusammengenomInge Wettig-Danielmeier
men, dass also die Balance und die Chancengleichheit erhalten worden sind.
Ich möchte zu den Medienbeteiligungen festhalten
- das habe ich auch schon mehrfach ausgeführt -: Ich habe
nichts gegen allgemeine Regelungen für alle Medienunternehmen. Wir werden uns dem nicht nur unterwerfen,
sondern sehr konstruktiv daran mitarbeiten. Aber eine Enteignung ist auch nach dem Grundgesetz nicht möglich,
auch nicht bei Parteien. Sie sind ein Grundrechtssubjekt
wie alle anderen auch.
({7})
Wir haben auch in den Fragen der Grundorganisation
der Parteien zusammengefunden. Es ist uns gelungen, den
sehr unterschiedlichen Organisationsstrukturen gerecht
zu werden. Dabei haben bei allen Regelungen der Schutz
und die Ermöglichung des politischen Ehrenamts eine
wichtige Rolle gespielt. Wir wollten weder durch zu komplizierte Rechnungslegungsvorschriften noch durch exzessive Bestrafung von Fehlern Mitglieder von der Übernahme eines Ehrenamtes abhalten. Das galt über alle
Parteien hinweg.
Dennoch erschienen uns allen nach den Skandalen, die
wir 1993 noch für unmöglich gehalten hätten, Strafandrohungen bei Verstößen gegen das Transparenzgebot bzw.
gegen die Regeln der Rechenschaftslegung zumindest bei
absichtlicher Regelverletzung als unerlässlich. Kern des
neuen Parteiengesetzes ist das Strafrecht allerdings nicht,
auch wenn das hier einige - ebenso eine Tageszeitung in ihrer gestrigen Ausgabe - meinen. Kernpunkte bleiben die
Arbeitsfähigkeit der Parteien nach innen und der Schutz
der ungestörten Arbeit sowie die Transparenz nach außen.
Diese beiden Ziele können durchaus in Widerspruch geraten. Wer Parteien ausforscht, macht ihre Arbeit unmöglich. Wer ihre Arbeitsweise, ihre innerparteilichen Strukturen, die Einflüsse, unter denen sie stehen, und ihre Finanzen
nicht offen legt, macht Demokratie unmöglich und erschwert das Urteil des Bürgers und der Bürgerin. Diese Balance haben wir seit Jahrzehnten nicht erreicht. Ich hoffe,
dass wir ihr mit diesem Gesetz deutlich näher kommen.
Als wir 1993 die Parteigesetznovelle verabschiedeten,
behaupteten Kritiker, sie sei verfassungswidrig und würde
kein Jahr überdauern. Selbst der Bundespräsident hatte
Probleme und hat lange gebraucht, um sie zu unterzeichnen. Allen Vorhersagen zum Trotz hat sich dieses Gesetz
in den zentralen Punkten erstaunlich gut bewährt und gilt
im internationalen Vergleich als beispielgebend. Darauf
haben wir jetzt aufgebaut.
Ich meine, die Anregungen der PDS, die wir diskutiert
haben, sind an einigen Stellen nicht der Praxis förderlich.
Ich wünsche dem neuen Gesetz, dass es nicht nur beispielgebend ist, sondern auch in der Praxis die Verbesserungen
bringt, die wir alle für notwendig halten und ohne die die
Aktionsfähigkeit der Parteien nicht gegeben sein kann.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine verehrten Damen und Herren! Meine Kolleginnen
und Kollegen! Ich meine, wir sollten heute mit Ihnen,
Frau Wettig-Danielmeier, schonend umgehen und nicht
auch noch aus unseren Reihen Angriffe auf Sie starten,
nachdem Sie schon in den eigenen Reihen massiv unter
Beschuss sind.
({0})
Ich finde es nicht gerecht, wenn ausgerechnet Sie in dem
Konflikt mit Herrn Müntefering - darauf komme ich
nachher noch zu sprechen - das Ersatzopfer sein sollen
und wenn schon jetzt aus Ihren Reihen genüsslich die Namen der Nachfolger im Amt des SPD-Schatzmeisters
- die Rede ist von Herrn Diller und von Herrn Poß - kolportiert werden. Das ist nicht fair.
Wir haben gut zusammengearbeitet und einen Kompromiss gefunden, mit dem sich der Reformstau auflösen
lässt und sich die Probleme mit dem derzeit geltenden
Parteiengesetz lösen lassen, obwohl der erste rot-grüne
Gesetzentwurf bewusst auf die Verschleierung der Unternehmensbeteiligungen der SPD abzielte und die CDU/
CSU daran hindern sollte, mehr Spenden einzusammeln.
({1})
Herr Schmidt, erst nach dem Bestechungs- und Spendenskandal der SPD in Köln und in anderen nordrheinwestfälischen Städten hat sich Ihre Lage über Nacht dramatisch verändert. Sonnte sich die SPD anfangs noch in
der Rolle des Richters über fremdes Fehlverhalten, wurde
ihr die Robe des Richters entrissen und sie musste ertragen, dass ihr das hehrende Büßergewand des Angeklagten
übergestülpt wurde.
({2})
Erst in dieser Verfassung war die SPD zu einem Kompromiss mit uns bereit. Die SPD hat erstmals den Verfassungsauftrag ernst genommen, der wie folgt lautet - ich
zitiere Art. 21 Abs. 1 Satz 4 des Grundgesetzes, Herr
Ströbele -: Die Parteien „müssen über die Herkunft und
Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben“. Das war bisher nicht der Fall.
Ich möchte nur eine Kostprobe der bisherigen Verschleierungsversuche geben: Während der Wert der Unternehmensbeteiligungen im Rechenschaftsbericht der SPD
des Jahres 2000 noch auf knapp 100 Millionen DM heruntergerechnet wurde, schätzte der „Spiegel“ diesen Wert
auf über 500 Millionen DM. Der „Focus“ ging sogar von
1 Milliarde DM aus. Im Untersuchungsausschuss sagte
Frau Wettig-Danielmeier vage, dass der Wert der Unternehmensbeteiligungen der SPD bei ungefähr 750 Millionen DM liege. So kann man mit Millionen auch umgehen.
({3})
Deswegen bin ich froh darüber, dass ab heute Schluss ist
mit der Heuchelei vom jahrzehntelang gepflegten Image
einer bettelarmen SPD.
({4})
Ständig wurde uns das Bild vorgegaukelt, dass die SPD
nur sparsamste Wahlkämpfe finanzieren könne, weil sie ja
nur über die wenigen Groschen verfüge,
({5})
die sich ihre Mitglieder, die armen Arbeiter und Rentner,
vom Munde absparten. Dieses Image ist nun zerstört.
({6})
Herr Kollege Dr. Uhl,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin WettigDanielmeier?
Eigentlich gerne.
Da mir aber meine Redezeit gekürzt worden ist, möchte
ich im Kontext fortfahren.
Wir haben den ersten Schritt in Richtung Transparenz
getan, obwohl die SPD Unternehmensbeteiligungen von
unter 20 Prozent nach wie vor nicht angeben muss.
Warum gibt es eigentlich einen so krassen Unterschied
zwischen der Vermögenssituation der SPD und der der anderen Parteien? Das ist ganz einfach: Die SPD ist deswegen so reich, weil sie sowohl nach dem Zweiten Weltkrieg
als auch nach der Wiedervereinigung ihr altes Vermögen
zurückbekommen hat, während die Union und andere
Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg vermögenslos neu
gegründet wurden.
({0})
- So ist es. Das müssen Sie doch zugeben. - Zu dieser ererbten wirtschaftlichen Macht der SPD kommt noch die
politische Medienmacht hinzu, die - das wurde bereits
vom Kollegen Stadler sehr treffend dargestellt - verfassungsrechtlich sehr problematisch ist. Medien berichten
unter anderem über das Verhalten der Parteien. Deswegen
dürfen Parteien nicht Eigentümer von Medien sein.
Die Kontrollierten dürfen keinen Einfluss auf die Kontrolleure haben.
({1})
Ich dachte, dass wir diesen schlichten Rechtsgedanken
seit der Französischen Revolution verinnerlicht hätten.
({2})
Eigentlich ist das Ganze ein Verbraucherschutzthema.
Ich vermisse es, dass sich Frau Künast in die Diskussion
einschaltet. Sie müsste dafür sorgen, dass ebenfalls im Bereich der Medienberichterstattung der Satz gilt: Was drin
ist, muss auch außen drauf stehen.
({3})
Wenn innen SPD-Parteipolitik gemacht wird, muss außen
„SPD“ stehen. Das ist der Punkt.
({4})
Wir werden nicht müde, zusammen mit der FDP, mit
Herrn Stadler und, so hoffe ich, auch mit Teilen der Grünen für das Presserecht ein Vermummungsverbot einzufordern.
({5})
Herr Stadler hat darauf hingewiesen: Es darf keine Tarnkappenpolitik und keine Vermummung von Parteien im
Pressewesen geben.
({6})
Während die Haupteinnahmen der Sozialdemokratie
traditionell aus Grundvermögen und Firmenbesitz
stammen, haben die bürgerlichen Parteien diese Einnahmen typischerweise nicht. Sie leben mehr von den
Spenden.
({7})
Das heißt, dass jemand, der so reich wie die SPD ist, nicht
sammeln gehen muss. Wenn Herr Stadler jetzt das Bild
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Ärmste im
ganzen Land?“ zeichnet, dann muss ich sagen, dass zwischen der sozialdemokratischen Partei und den anderen
Parteien in Deutschland ein essenzieller Unterschied besteht. Von der PDS will ich hier aus verständlichen Gründen nicht weiter reden.
({8})
Ihre Probleme und Ihr Vermögen werden im „Spiegel“
und anderen Medien sehr dezidiert abgehandelt.
({9})
Als Folge verschiedener Spendenskandale ist das Spendenaufkommen bei allen Parteien dramatisch zurückgegangen. Das ist kein Wunder; denn welcher Spender
möchte schon das Risiko eingehen, auf dem Medienmarktplatz an den Pranger gestellt zu werden. Deswegen muss
- diese Worte richte ich an Sie von der SPD - mit der generellen Diskriminierung von Spendern Schluss gemacht
werden.
({10})
- Herr Ströbele, zu Ihnen komme ich gleich.
Dieses Gesetz, dem Sie zustimmen werden, bekennt
sich zum Spenden. Das ist richtig so, obwohl wir alle wissen, dass es vonseiten der Wirtschaft immer wieder Versuche gab und auch in Zukunft geben wird, auf die politische Macht über Geld Einfluss auszuüben.
({11})
Das ist so banal, dass man es kaum auszusprechen wagt.
Deswegen müssen Spenden begrenzt werden und transparent sein.
({12})
Herr Ströbele, Politik darf niemals käuflich sein. Politik war unter der Regierung von FDP und Union niemals
käuflich!
({13})
Es ist eine Ungeheuerlichkeit, dass Sie nicht müde werden, diese Behauptung immer wieder als notorischer Verleumder aufzustellen. Wenn der Landesverband der Berliner Grünen Sie nicht mehr auf einen aussichtsreichen
Listenplatz gesetzt hat, dann kann ich nur auf den Berliner
Leitsatz hinweisen: Und das ist gut so!
({14})
Als der Generalsekretär Müntefering - jetzt komme ich
auf Sie, Herr Schmidt, zu sprechen - von dem Bestechungs- und Spendenskandal der Kölner SPD erfuhr, rief
er mit gespielter Naivität aus: Ich dachte, Sozialdemokraten machen so etwas nicht.
({15})
Der Sozialdemokrat - der höherwertige Mensch! Das
hätte Herrn Müntefering so gepasst.
({16})
Wo es Menschen gibt, da menschelt es. Fehlverhalten gibt
es auch dort, wo Menschen sich in sozialdemokratischen
Parteien organisiert haben. Wie alt musste Herr Müntefering werden, um diese Binsenweisheit zu erkennen? Nein,
auch dort, wo Sozialdemokraten regieren, gibt es kriminelles Verhalten. Es ist nicht richtig, dass der Scheinaufklärer
Müntefering im Untersuchungsausschuss behauptete, er
kenne die Liste der Rechtsbrecher nicht, obwohl sie eine
Woche lang auf seinem Tisch lag, und der kenne zudem
auch niemanden, der diese Liste kenne.
({17})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Trotz all dieser
Scheinaufklärungsbemühungen von Herrn Müntefering
werden wir und wird die Öffentlichkeit nicht darauf hereinfallen. Das wird ihm noch schwer zu schaffen machen.
Ich halte es für ungerecht, dass, weil Herr Müntefering
als Knappe von Schröder für den Wahlkampf noch gebraucht wird, jetzt Sie, Frau Wettig-Danielmeier, als Ersatzopfer über die Klinge springen sollen. Das ist nicht
fair.
({18})
Trotz alldem können wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({19})
Bei allem Kompromiss bringt die Novellierung mehr
Transparenz in die Parteienfinanzierung. Erstmals muss
auch das wahre Vermögen einer Partei, also auch das
wahre Vermögen der SPD, offen gelegt werden.
({20})
Ich erteile dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es fällt außerordentlich
schwer - das will ich sehr deutlich sagen -, hier noch einen auf Gemeinsamkeit zu machen, die wir über fünf offizielle und mindestens ein halbes Dutzend weiterer inoffizieller Verhandlungsrunden miteinander zustande
gebracht haben. Ich bin nicht nur tief enttäuscht, sondern
geradezu sauer darüber, wie sich Herr Röttgen und Herr
Uhl dem Vermummungsverbot entziehen. Sie kommen
als Biedermänner und entpuppen sich als Brandstifter.
({0})
Unglaublich, was sie hier abgeliefert haben!
({1})
Nach den beiden Reden, die offensichtlich der innerparteilichen Karriere dienen sollen - anders machen sie
eigentlich überhaupt keinen Sinn; nur so wird man in
Ihren Reihen in den nächsten Monaten und Jahren offensichtlich etwas ({2})
und von Ihrem Fraktionsvorsitzenden so geduldig angehört worden sind, ist nach meiner Einschätzung von Ihrer Seite eigentlich nur noch eine Konsequenz zu ziehen:
Sie sollten sich wirklich überlegen, ob Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen. Ich fordere Sie auf, das zu überprüfen.
({3})
Ich finde, dass hier vonseiten der CDU/CSU ein untauglicher, aber in den letzten Wochen und Monaten leider immer wieder festzustellender Versuch unternommen wird,
in Angelegenheiten, die alle Parteien treffen, einseitige
Schuldzuweisungen vorzunehmen. Sie haben Ihren Skandal. Wir haben unseren Skandal. Daraus ist in dem neu gestalteten Parteienrecht die Lehre gezogen worden. Nehmen Sie das doch bitte wenigstens als Grundlage zur
Kenntnis und versuchen Sie nicht, daraus einseitig Kapital zu schlagen
({4})
und damit wiederum einen Beitrag dazu zu leisten, dass
die Parteien insgesamt in diesem Land Schaden nehmen!
Durch die Art, wie Sie den Gesetzentwurf behandeln, ist
das der Fall.
({5})
Ich wende mich jetzt gerade an die Vertreter der FDP,
Herr Stadler, und der CDU/CSU. Wir haben uns bei der
Frage, wie wir mit der Strafbarkeit bei Verstößen gegen
das Parteiengesetz umgehen, die wir neu in das Gesetz
hineinnehmen, unglaublich schwer getan, und zwar deswegen, weil wir nicht das Kind mit dem Bade ausschütten wollten.
({6})
Es gibt doch ein unglaublich hohes bürgerschaftliches
Engagement in der Kommunalpolitik.
({7})
Da sitzen Tausende und Abertausende von Menschen, die
sich mit persönlichem Engagement, zum Teil unter Aufwendung eigener Finanzmittel, dafür einsetzen, dass die
Kommunalpolitik und unser Gemeinwesen funktionieren.
Und Sie tun hier so, als wenn über den Kölner Skandal hinaus alle in der politischen Klasse auf dieser Ebene in
Deutschland mit getroffen werden müssten! Nein, das war
eine Ausnahme, ebenso wie übrigens auch - das gestehe
ich Ihnen zu - in Bonn und in Ratingen. Werfen Sie das
bitte nicht als einseitige Verfehlung der SPD in das Feld,
um so alle kommunalpolitischen Aktivitäten, gerade bei
der SPD, zu diskreditieren! Im Interesse der Kommunalpolitik lasse ich das nicht zu.
({8})
Ich finde es außerordentlich selbstgerecht - ich will
mich durchaus ein bisschen zurücknehmen, weil ich
nicht in die gleiche Kerbe hauen möchte -, dass Sie, Herr
Uhl und Herr Röttgen, in den Mittelpunkt Ihrer beiden
Reden wiederum die Unternehmens- und Medienbeteiligungen der SPD gestellt haben. Erstens wissen Sie ganz
genau, dass das verfassungsgemäß ist. Zweitens wissen
Sie, dass wir freiwillig schon seit Jahren mehr offen legen und transparent machen, als es das Gesetz bisher gefordert hat.
({9})
Drittens wissen Sie ganz genau - Herr Merz, Sie auch -,
dass wir in unserem Gesetzentwurf von Anfang an eine
starke Erweiterung der Transparenz und Offenlegung vorgesehen haben. Tun Sie nicht so, als wenn Sie uns erst
treiben mussten, um zu diesen Regelungen zu kommen!
Das haben wir freiwillig gemacht und das nehmen wir
auch ganz bewusst für uns selbst in Anspruch.
({10})
Meine Damen und Herren, damit auch das klar ist: Wir
wollen - obwohl es uns jetzt nach diesen Reden sehr
schwer fällt - die Gemeinsamkeit; denn natürlich kann
man das eine oder andere, was sich in den vergangenen
Jahrzehnten seit Bestehen des Parteiengesetzes ereignet
hat, ganz unterschiedlich sehen. Müsste nicht tatsächlich,
wie von vielen Seiten in der Öffentlichkeit immer wieder
ins Gespräch gebracht, intensiver - Herr Ströbele hat es,
wie ich finde, zu Recht angedeutet - über die Frage diskutiert werden, Privatspenden, Unternehmensspenden
und das Spendenwesen insgesamt ein wenig mehr mithilfe von Obergrenzen oder ähnlichen Regelungen zu ordnen? Wenn es aber so gekommen wäre, wären die
CDU/CSU und die FDP - auch das will ich hinzufügen auf einen Schlag pleite gewesen.
({11})
Auch an dieser Stelle haben wir also Gemeinsamkeiten im
Auge gehabt.
Tun Sie also bitte nicht so, als ob irgendwelche Teilskandale oder Skandale, die nur Sie sehen, im Mittelpunkt
der Entwicklung dieses Gesetzeswerkes gestanden hätten.
({12})
Es gab ein Geben und Nehmen auf allen Seiten. Ich warne
Sie davor, in den nächsten Wochen und Monaten und kurz
vor der nächsten Bundestagswahl die Vorkommnisse zu
einem parteipolitischen Getöse auswachsen zu lassen.
Das können wir uns in diesem Lande um der Demokratie
und des bürgerschaftlichen Engagements in den Parteien
willen nicht leisten. Ich fordere Sie auf, dieses zu lassen.
({13})
Zum Schluss, meine Damen und Herren, Herr Präsident, will ich noch einmal ein Dankeschön an die Mitglieder der unabhängigen Kommission, aber auch an Sie,
Herr Bundestagspräsident, sagen. Ich will ausdrücklich
darauf hinweisen, dass Sie als Mittel verwaltende und
kontrollierende Instanz Ihre Aufgabe in den vergangenen
Jahren exzellent wahrgenommen haben. Diese Aufgabe
werden Sie auch auf der Basis des neuen Gesetzes wahrnehmen können; wir setzen auch darauf.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der FDP eingebrachten Entwurf eines Achten
Wilhelm Schmidt ({0})
Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes auf Drucksache 14/8778.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8824, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Korrektur zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8826 ab. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/8824 zu dem von den Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Parteiengesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/7778 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/8824 zu dem von der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Parteiengesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/7441 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Enthaltungen? - Wer
stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über den von der Fraktion der PDS eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2719 zur
Änderung des Gesetzes über die politischen Parteien. Der
Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8824, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Bernd Neumann ({1}), Dr. Norbert Lammert,
Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Zukunft des deutschen Auslandsrundfunks
- Drucksachen 14/6954, 14/8208 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Bernd Neumann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn der Debatte
über die Deutsche Welle ein paar Fakten, die diese Legislaturperiode betreffen:
Im Koalitionsvertrag von Rot-Grün von 1998 heißt es:
„Das Ziel bleibt ... eine Reform der medialen Außenrepräsentanz.“
1998 kündigt Staatsminister Naumann unmittelbar
nach seinem Amtsantritt eine Reform der Deutschen
Welle für die nächsten Wochen an; eine Verbesserung sei
dringend nötig.
In den Jahren 1999 und 2000 herrscht dazu seitens der
Bundesregierung Funkstille.
Im September 2000 bringt das BKM ein so genanntes
Hanten-Papier zur Neugestaltung des deutschen Auslandsrundfunks in die Diskussion.
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSUFraktion in Verbindung mit diesem Papier heißt es im November 2000:
Die Bundesregierung beabsichtigt entsprechend der
Koalitionsvereinbarung, in dieser Legislaturperiode
die Außendarstellung Deutschlands in den Medien
zu reformieren.
Dieses Hanten-Papier des BKM stieß allerdings allseits auf massiven Protest, weil es mit seinen Zielsetzungen eindeutig das Gebot der Staatsferne verletzte und
zum Teil falsche und widersprüchliche Aussagen enthielt.
Deshalb verschwand dieses Papier noch schneller, als es
vorher verbreitet worden war, wahrscheinlich im Papierkorb.
Wir sind damit im Jahr 2001. Da herrschte zunächst
wiederum Funkstille.
Im November 2001 schließlich kommt Herr NidaRümelin als neuer Staatsminister ins Amt und erklärt, dass
die Reform der medialen Außenrepräsentanz erst in der
nächsten Legislaturperiode erfolgen werde.
Die groß angekündigte Reform der medialen Außendarstellung Deutschlands wird also auf die Zeit nach der
Wahl vertragt. Nun kann man sagen: Gott sei Dank, denn
dann werden Sie von Rot-Grün dafür wahrscheinlich
nicht mehr mehrheitlich die Verantwortung haben.
({0})
Präsident Wolfgang Thierse
Aber es ist festzustellen, dass es innerhalb der Bundesressorts kaum einen Bereich gibt, in dem Versprechen und
Wirklichkeit so auseinander klaffen wie in Ihrer Medienpolitik. Obwohl im Hinblick auf gravierende Veränderungen in
Deutschland und in der Welt eine Reform und Verbesserung
der medialen Außenrepräsentanz dringlich geboten wäre,
hat die rot-grüne Bundesregierung trotz fester Versprechungen konzeptionell nichts zustande gebracht. Wenn
man bedenkt, dass die Deutsche Welle etwa ein Drittel des
gesamten Etats des BKM ausmacht, wird die Dimension
des Versagens noch deutlicher.
Falsch wäre allerdings, zu behaupten, in diesem Bereich sei gar nichts passiert. Im Gegenteil, beim wichtigsten Instrument medialer Außendarstellung, bei der
Deutschen Welle also, hat die rot-grüne Koalition ohne
jedwedes Konzept einen finanziellen Kahlschlag vorgenommen: Kürzung der Mittel von für 1999 geplanten
635 Millionen DM auf jetzt 564 Millionen DM; weitere
Kürzungen um 20 Millionen DM bis zum Jahr 2004 sollen folgen. 400 Mitarbeiter der Deutschen Welle verlieren
dadurch ihre Arbeitsplätze, und dies in einer Zeit, in der
der Erklärungs- und Aufklärungsbedarf in Bezug auf
Deutschland mit seiner zunehmenden Verantwortung in
der Welt dringlicher und größer ist als jemals zuvor. Das
ist medienpolitisch wie außenpolitisch unverantwortlich.
({1})
In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSUFraktion, die wir heute debattieren, versucht die Bundesregierung vom eigenen Versagen bei der Reform des
Auslandsrundfunks abzulenken, indem sie auf den inzwischen im Rahmen von Pay-TV installierten gemeinsamen
Auslandskanal von ARD, ZDF und Deutscher Welle, das so
genannte German TV, als wichtigen Reformschritt hinweist.
Wer die Hintergründe dieses Vorgangs kennt, muss
sich schon wundern. Die Idee, ein zusätzliches Pay-TVProgramm durch die Deutsche Welle anzubieten - allerdings überall nur als Pay-TV -, hatte der frühere Intendant
der Deutschen Welle, Dieter Weirich. Er verfolgte sie zielstrebig. Staatsminister Naumann dagegen hatte während
seiner Amtszeit dieses mehrfach öffentlich kategorisch
mit der Begründung abgelehnt, man dürfe dem öffentlichrechtlichen Rundfunk nicht auf diese Weise den Weg ins
Pay-TV ermöglichen.
In Wahrheit hatten Sie, meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen, bei der Forderung nach einer
Reform des Auslandsrundfunks natürlich primär nie an
ein Pay-TV-Informations- und Unterhaltungsprogramm
gedacht, sondern natürlich an die originäre Deutsche
Welle mit ihren Hörfunkprogrammen in 30 Sprachen sowie an das 24-stündige Fernsehprogramm. Ich füge hinzu:
Wir im Übrigen auch. Das ist richtig; denn der originäre
Auftrag der Deutschen Welle im Hinblick auf alle anzusprechenden Zielgruppen - weltweit - wird nach wie vor
durch diese Programme erfüllt. Deswegen dürfen diese
Programme finanziell durch das neue Experiment mit
Pay-TV in den USA nicht gefährdet werden.
Leider müssen wir nach der Antwort auf unsere Große
Anfrage davon ausgehen. Warum? Zum einen ist die
finanzielle Kalkulation bei dem Projekt gewagt, ja,
zu gewagt. Es sollen in den nächsten sechs Jahren
70 000 Abonnenten in den USA gewonnen werden. Diese
müssen zum Empfangen des Programms circa 400 Dollar
für eine Antenne und dann monatlich 15 Dollar bezahlen.
Das ist eine hohe Hürde. Vergleichbare Auslandssender,
die seit vielen Jahren entsprechende Pay-TV-Angebote
haben, liegen deutlich darunter.
Dann soll German TV nach dem Willen der Bundesregierung über die USA hinaus weltweit im Wesentlichen
im Free-TV-Programm angeboten werden. Dafür fordert
die Deutsche Welle mit Recht zusätzlich 15,4 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt, um die Anlaufkosten
zu finanzieren. Die Bundesregierung lehnt dieses mit dem
Hinweise ab, das sei gegebenenfalls aus eigenen Mitteln
der Deutschen Welle zu bezahlen. Woher denn? Im Übrigen halten Fachleute bei weltweiter Ausstrahlung des Programms im Free-TV die anfallenden Kosten für deutlich
höher; denn man braucht zusätzliche, teurere Satelliten.
Die weltweiten Rechte sind im Free-TV um ein Vielfaches höher als im Pay-TV.
Zu diesen Fragen erwarten wir eine klare Antwort, Herr
Staatsminister. Wie wollen Sie das finanzieren? Oder haben Sie vielleicht vor, das bisherige Fernsehprogramm der
Deutschen Welle durch das deutschsprachige Gemeinschaftsprogramm von German TV zu ersetzen? Wenn das
so wäre: Mit welchem Fernsehprogramm sollen dann die
nicht deutsch sprechenden Multiplikatoren in der Welt,
die als Zielgruppe für Deutschland am wichtigsten sind,
erreicht werden? Angesichts Ihrer Antwort unter 4.8.
könnte man meinen, Sie wollten diese Gruppe nur mit einem Onlineangebot bedienen. Das wäre inakzeptabel. Ein
Onlineangebot ist zwar wichtig. Aber es kann zu einem
Fernsehprogramm immer nur ergänzend sein, zumal auf
absehbare Zeit nur ein Bruchteil der Menschen in der Welt
erreicht werden kann.
({2})
Alle diese Fragen werden in der Antwort der Bundesregierung offen gelassen. Ich sage Ihnen: Sie haben bis
heute kein finanziell und inhaltlich seriöses Konzept. So
kann man keine Medienpolitik machen.
({3})
Im Übrigen darf bei allen notwendigen Diskussionen
über das Fernsehen der Hörfunk nicht vergessen werden.
Er ist das eigentliche Flaggschiff der Deutschen Welle.
Mit einem Programmangebot in 29 Sprachen erreicht der
Hörfunk wirklich flächendeckend fast alle Regionen in
der Welt. Die immens wichtigen Sprachkurse sind nur
über Hörfunk möglich. Hier steht die Digitalisierung vor
der Tür. Sie wird viel Geld kosten, aber die Qualität des
Hörfunkprogramms entscheidend verbessern. Sie ist deshalb unvermeidbar.
Durch den finanziellen Kahlschlag, den Sie bei der
Deutschen Welle vorgenommen haben, ist auch für den
Hörfunk der Deutschen Welle das Ende der Fahnenstange
praktisch erreicht. Finanzielle Spielräume für zusätzliche,
möglicherweise aus politischen Gründen notwendige Programmangebote in Krisenregionen der Welt sind nicht
mehr vorhanden.
Bernd Neumann ({4})
Meine Damen und Herren, zu der sowohl von der
CDU/CSU als auch vom neuen Intendanten gestellten
Forderung, für die Deutsche Welle eine verlässliche,
mehrjährige finanzielle Planungssicherheit zu schaffen
und damit Staatsferne zu sichern, äußern Sie sich nebulös.
Sie wollen dies prüfen, obwohl dieses Thema schon seit
zwei oder drei Jahren auf der Agenda steht.
({5})
Herr Staatsminister Nida-Rümelin, welche Meinung
haben Sie selbst als Medienminister dazu? Können Sie
sich wie wir vorstellen, eine Art KEF, also eine politisch
unabhängige Kommission, zu installieren, die dem Parlament bei der Ermittlung des Finanzbedarfs einen Vorschlag unterbreitet? Auch hierzu erwarten wir eine klare
Aussage.
Abschließend beziehe ich mich auf die Aussage der
Bundesregierung, nach der ein im Rahmen des Programms der Deutschen Welle vorgesehener interkultureller Dialog durch eine neue Definition des Programmauftrages auch im Inland möglich sein sollte. Dies hat zu
Irritationen geführt. Für die CDU/CSU-Fraktion ist klar:
Der Bund hat ausschließlich die Kompetenz für den Auslandsrundfunk.
({6})
Damit kann sich der Programmauftrag der Deutschen
Welle nur auf das Ausland beziehen. Rundfunk im Inland
ist Ländersache. Die Bundesregierung erweist sich mit
solchen Forderungen einen Bärendienst und belastet das
notwendigerweise gute kooperative Verhältnis zwischen
Bund und Ländern sowie zu ARD und ZDF.
({7})
Herr Staatsminister, ich wäre dankbar, wenn Sie zu den
von mir gestellten Fragen konkrete Antworten geben.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile Staatsminister Julian Nida-Rümelin das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Heute früh zwischen 9 und 10.30 Uhr haben
wir das - jedenfalls für mich - merkwürdige Schauspiel
erlebt, dass eine Änderung des Parteiengesetzes - diese
Änderung wurde einstimmig vorgenommen;
({0})
sie beruhte, wenn man den Rednerinnen und Rednern
glauben kann, auf sehr konstruktiven Beratungen - zu einer heftigen und zum Teil sachlich schwer nachvollziehbaren Polemik in diesem Hohen Hause geführt hat.
({1})
Mein persönlicher Eindruck ist: Wir tun den Bürgerinnen
und Bürgern mit diesem Stil der Schauspielerei, die durch
den Wahlkampf veranlasst ist, keinen Gefallen.
({2})
Meine Empfehlung ist, dass wir - jedenfalls im Kulturbereich - das fortsetzen, was wir zum Beispiel im Kulturausschuss vorbildlich praktizieren, nämlich sehr sachlich
zu beraten und keine Nebelkerzen zu werfen.
Herr Julian NidaRümelin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lammert?
Ja.
Herr Staatsminister Nida-Rümelin, könnten Sie mir und dem Hohen
Hause vielleicht einmal erläutern, was Sie als jemand, der
nicht Mitglied des Deutschen Bundestages ist, veranlasst,
als Zensor einer gerade zu einem anderen Tagesordnungspunkt geführten Debatte aufzutreten?
({0})
Ich beteilige mich hier an einer Debatte um
die Reform der Deutschen Welle. Ich plädiere dafür, dass
wir diese Debatte so führen, wie wir es gegenüber den
Bürgerinnen und Bürgern verantworten können. Das,
denke ich, kann ich hier tun.
({0})
Die Reform der Deutschen Welle, des deutschen Auslandsrundfunks - dazu gehört vor allem das Radio, aber
auch das Fernsehen; das haben Sie, Herr Neumann, zu
Recht betont - ist ein großes Projekt. Es kann keine Rede
davon sein, dass wir in der Zeit, in der ich dafür Mitverantwortung trage, von der Zeitplanung abgegangen sind.
Ich habe noch einmal nachgesehen: Im November 2000
wurde in der Antwort auf eine damalige Kleine Anfrage
der Union nicht angekündigt, dass ein Entwurf zur Reform des Deutsche-Welle-Gesetzes noch in dieser Legislaturperiode eingebracht wird, sondern dass die Reformschritte beraten werden und man dann sehen wird, was in
dieser Legislaturperiode verwirklichbar ist.
Seit Oktober des vergangenen Jahres haben wir einen
neuen Intendanten. Ich persönlich hätte es als keinen
guten Stil empfunden, wenn wir eine grundlegende Reform
der Deutschen Welle, des deutschen Auslandsfernsehens
Bernd Neumann ({1})
und -hörfunks, durchgeführt hätten, bevor der neue Intendant sein Amt angetreten und sich ein Bild von der Deutschen Welle gemacht hat.
({2})
Deswegen war meine Empfehlung, dass in klarer Verantwortungsteilung der Intendant für sein Haus, auch für das
Programm zuständig ist. Herr Neumann, Sie fragen mich:
Wie stellen Sie sich das vor? - Das ist eine Verwechslung
der Zuständigkeiten.
({3})
Das Programm der Deutschen Welle wird vom Intendanten verantwortet, von niemandem sonst.
({4})
Was wir zu verantworten haben - ich bitte sehr darum,
dass das in den weiteren Beratungen genau auseinander
gehalten wird -, ist der Rahmen, innerhalb dessen der Intendant auf der Basis der von der Verfassung garantierten
Pressefreiheit agieren und seine eigenen Akzente setzen
kann. Deswegen habe ich mich unmittelbar nach dem
Amtsantritt von Herrn Bettermann - er sitzt ja hier auf der
Zuschauertribüne - mit ihm zusammengesetzt und mich
mit ihm sehr intensiv über die Zukunftsperspektiven der
Deutschen Welle beraten.
Die Reform des deutschen Auslandsfunks ist ein
großes Projekt. Es hat überhaupt keinen Sinn - ich verwende jetzt einmal einen bayerischen Ausdruck -, zu hudeln und in dieser Legislaturperiode womöglich noch
schnell unseriöse Vorschläge zu unterbreiten.
({5})
Ich habe in der Antwort auf die Frage 4 Ihrer Großen
Anfrage detailliert dargelegt, wie ich mir in etwa den inhaltlichen Rahmen, den Auftrag der Deutschen Welle vorstelle. Dazu gehört zweierlei: nämlich einerseits klare
Zielgruppen und regionale Schwerpunkte sowie andererseits ein finanzieller Rahmen. Sie haben Recht: Die Deutsche Welle ist aufgrund des verengten finanziellen Rahmens in keiner einfachen Situation. Er entspricht übrigens
dem generellen Konsolidierungsziel.
({6})
- Nein, nein. Das sind 12,5 Prozent in vier Jahren, die genau dem entsprechen, was damals als generelles Konsolidierungsziel formuliert worden ist. Es stimmt: Es ist eine
große Belastung für die Deutsche Welle. Das ist uns allen
bewusst. Gleichzeitig gibt es einen großen Reformbedarf.
Es werden aber auch die Leistungen anerkannt, die die
Deutsche Welle in Bereichen erbringt, die vom bisherigen
Programmauftrag, der ja übrigens erst 1997 formuliert
wurde, gar nicht abgedeckt sind: Beispielsweise ist die
Deutsche Welle besonders erfolgreich bei Suchprogrammen für Kosovo-Albaner. Diese Programme haben eine
große Akzeptanz bei den Albanerinnen und Albanern im
Kosovo.
({7})
Das ist eine bedeutende Leistung. Auch wurde jetzt in Afghanistan rasch reagiert. Die Wahrnehmung von Angeboten des Radioprogramms der Deutschen Welle in Afrika
ist, wenn man den sehr spärlichen Daten glauben darf, relativ gut.
Ich schlage vor - da gehe ich etwas über die Formulierung hinaus, die ich in der Antwort auf Ihre Frage 4 gewählt habe -: Wir sollten die Zielgruppen in zwei große
Gruppen unterteilen. Die eine Zielgruppe bilden Deutschsprachige, die keine Touristen sind, sondern auf längere
Zeit im Ausland leben und die auf deutschsprachige Angebote der Deutschen Welle angewiesen sind. Ihnen sollten wir ein möglichst attraktives Programm bieten. Das
war ja die Idee, die hinter dem Pilotprojekt Pay-TV für die
USA stand. Mit diesem Pilotprojekt sollte auch eine Reform des Fernsehens der Deutschen Welle getestet werden. Ich hoffe, es hat Erfolg. Wenn die Berechnungen, die
die Deutsche Welle angestellt hat, zutreffen, müsste es ein
Erfolg werden.
Die zweite Zielgruppe bilden diejenigen Adressaten,
die zwar Interesse an deutscher Politik, Kultur und Gesellschaft haben, die aber nicht deutschsprachig sind, die also
mit deutschsprachigen Angeboten gar nicht erreicht werden können. Da hat sich in den letzten Jahren viel durch
das Internet verändert. Wir müssen uns sehr genau überlegen, was die Deutsche Welle auch in Form von Onlinediensten anbieten muss, um diese spezifische Zielgruppe
anzusprechen. - Diesen ersten Bereich kann man als
„deutsche mediale Außenrepräsentanz“ zusammenfassen.
Es gibt einen zweiten Bereich, der nach meiner festen
Überzeugung damit zu tun hat, dass wir in der auswärtigen Kulturpolitik generell und in der auswärtigen Medienpolitik speziell das Ziel verfolgen müssen, einen Beitrag zu einer zivil verfassten globalen Gesellschaft zu
leisten,
({8})
also einer Gesellschaft, die ihre Konflikte unterhalb der
Schwelle der Gewalt austrägt. Dazu dienen zum Beispiel
die Angebote der Deutschen Welle in Krisengebieten. Sie
können dort zu einem zivilen Austragen von Konflikten
beitragen und dafür sorgen, dass sich auch in Krisenregionen ein Bild von der tatsächlichen Lage gemacht werden kann.
Zur Zielsetzung „globale Zivilgesellschaft“ gehört
auch, dass wir dort, wo es Informationsmängel gibt, den
Auftrag haben, Angebote zu unterbreiten, die diesem Defizit etwas entgegensetzen. Hier ist das Ziel nicht in erster
Linie die mediale Außenrepräsentanz Deutschlands, sondern der Beitrag zu einer globalen Zivilgesellschaft. Ich
persönlich wünsche mir in diesem zweiten Bereich „Beitrag zur globalen Zivilgesellschaft“ mehr innereuropäiStaatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin
sche Zusammenarbeit, mehr Koordination, auch im Sinne
des Maastrichter Vertrags.
Danke schön.
({9})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion.
Herr Staatsminister Professor Nida-Rümelin, Ihre wohlgesetzten
Worte können nicht verleugnen, dass die Deutsche Welle
so etwas wie der verlorene Sohn der rot-grünen Bundesregierung ist.
({0})
In der Koalitionsvereinbarung hieß es zwar noch so
schön, Sie wollten eine Verbesserung der medialen
Außenrepräsentanz Deutschlands, doch dann begann der
private Rachefeldzug des Michael Naumann gegen die
Deutsche Welle und ihren damaligen Intendanten.
Im Zuge dieses - jetzt wollen wir uns an die Zahlen
halten - parteipolitischen Kreuzzuges
({1})
wurde der Bundeszuschuss - ({2})
- Hören Sie mal den Zahlen zu.
({3})
- Sie wollen es offensichtlich nicht hören, deshalb wiederhole ich es:
({4})
Im Zuge dieses parteipolitischen Kreuzzuges wurde der
Bundeszuschuss von geplanten 635 Millionen auf geplante 551 Millionen heruntergefahren. Das ist nach meiner Rechnung deutlich mehr als der sonstige Kürzungsaufwand der Bundesregierung. Die Zahl der Stellen wurde
von geplanten 1 726 auf 1 329 im Jahr 2004 gekürzt.
Lieber Herr Nida-Rümelin, wenn Sie, was sich ja schön
anhört, der Deutschen Welle die Aufgabe zumessen wollen,
die Sie gerade beschrieben haben - nämlich einen Beitrag
zu einer zivilen Weltgesellschaft zu leisten -, dann müssen
Sie für diesen Sender schon ein bisschen mehr tun, damit er
in die Lage versetzt wird, diese hehren Ziele zu verfolgen.
({5})
In der Zeit, in der diese Kürzungen erfolgt sind, sind
die Zuwendungen, also die Gebührengelder, für ARD und
ZDF um rund 30 Prozent angestiegen, und zwar mit dem
Hinweis auf die medialen Preissteigerungen. Man muss
sehen, dass es hier überdurchschnittliche Preissteigerungen gegeben hat.
Meine Damen und Herren, wie sehr der Bundesregierung die Deutsche Welle am Herzen liegt, wird auch in einem Papier des Bundespresseamtes von vor einigen Jahren deutlich, in dem der Deutschen Welle sogar die
verfassungsrechtlich gesicherte Rundfunkfreiheit abgesprochen wurde. Auch das lässt sich nicht verleugnen.
Deshalb möchte ich es in Ihre Erinnerung zurückrufen.
Man zitiert sich ja selbst ungern, aber ich habe einmal
eine Dokumentation zusammengestellt, in der alle Staatseingriffe bei der Deutschen Welle zusammengestellt worden sind.
({6})
- Wenn meine Vorsitzende fragt!
Dann unterbrechen
Sie schon wie von allein?
({0})
Kollegin Griefahn, bitte schön.
Herr Otto, der Staatsminister hat gerade darauf hingewiesen, dass das Programm
vom Intendanten und nicht von der Politik - es ist also
nicht unsere Aufgabe - gestaltet wird. Meinen Sie nicht,
dass das wirklicher Ausdruck von Staatsferne ist, über die
wir gerade diskutieren und die wir alle wollen?
Ich bedanke
mich ausdrücklich für diese Frage, liebe Frau Griefahn.
Schauen Sie sich das „Hanten-Papier“, das aus den Reihen der Regierung kam, an. Damit sollten die Journalisten
der Deutschen Welle an die Leine gelegt werden, indem
ihnen Vorgaben - man muss sich das vorstellen: Unabhängigen Journalisten sollten Vorgaben gemacht werden,
wohlgemerkt von der Bundesregierung - hinsichtlich der
Schwerpunktsetzung und der Zielgebiete gemacht wurden.
Meine liebe Kollegin Griefahn, Sie sind nach Ihrem
Vorschlag zu einer staatlichen Sperrminorität für die
Kirch-Gruppe Spezialistin für Staatsferne. Ich möchte Sie
doch etwas fragen: Halten Sie das, was hier im Namen des
Bundeskanzleramtes veröffentlicht wurde und womit die
Journalisten an die Leine gelegt werden sollten, für staatsfern? Ich habe mit dieser Auffassung von Staatsferne, die
die Koalitionsfraktionen hier immer vertreten, Probleme.
({0})
Noch immer hat die Bundesregierung trotz ihrer vielfältigen Ankündigungen kein schlüssiges Konzept oder
einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU, über die
wir heute reden, erinnert in ihrer belletristischen Präzision
streckenweise an Hedwig Courths-Mahler. Nur an einer
Stelle wird die Bundesregierung konkret, wenn es nämlich um die Haushaltsrisiken für das neue Projekt German
TV geht. In der Antwort auf die Frage 17 der CDU-Fraktion schreibt die Bundesregierung:
Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Ausweitung des Programms über die USA hinaus ... aus
Erträgen des Programms und ggf. aus eigenen Mitteln der Deutschen Welle finanziert werden soll.
({1})
- Damit ist die Katze aus dem Sack.
Als uns das neue Auslandsprogramm mit solchen Qualitätsbeiträgen wie „Forsthaus Falkenau“ und „Unser
Charly“ vorgestellt wurde, hat die Bundesregierung ausdrücklich mehrfach versichert, dass dieses Experiment
nicht zulasten des ohnehin geschrumpften Haushalts der
Deutschen Welle gehen dürfe.
({2})
Diese haushaltstechnische Brandmauer war für alle
Fraktionen - ich gehe davon aus, dass dies auch für die
Koalitionsfraktionen gilt - die Geschäftsgrundlage dafür,
dass wir uns auf dieses Experiment eingelassen haben.
({3})
Ich empfinde es als Täuschung des Parlaments, wenn
diese finanzielle Brandmauer jetzt eingerissen werden
soll.
Über diese Täuschung könnte ich leichter hinwegsehen, wenn das Konzept des German TV Erfolg versprechend wäre. Jedoch ist das Gegenteil der Fall. Bisher hat
German TV trotz großen Werbeaufwandes - immerhin
ist der Intendant mit großer Korona nach Washington gereist und hat dort Veranstaltungen gemacht - nur rund
900 Abonnenten werben können. Dies sind deutlich weniger Abonnenten, als die private Konkurrenz Channel D
mit ihrem Minietat in Höhe von nur einem Bruchteil des
Etats, über den wir jetzt reden, hat und die von der
Bundesregierung immer als „Garagensender“ verhöhnt
wurde. Der Flop des German TV war leider vorherzusehen. Der Bundesrechnungshof hat die Bundesregierung
eindrücklich davor gewarnt, aber man hat sich darüber
hinweggesetzt und hat jetzt den Schlamassel.
Die 15 Dollar - der Kollege Neumann hat darauf hingewiesen - Miete pro Monat mögen vielleicht für Freunde
von „Forsthaus Falkenau“ und „Unser Charly“ noch ein
bezahlbarer Betrag sein. In den USA sind die Menschen
ganz ausgehungert nach solchen Qualitätsbeiträgen. Das
Problem liegt aber darin, dass man nicht einen Transponder auf einem der in den USA üblichen Satelliten gemietet hat, wie zum Beispiel Direct-TV oder Eco Star, worauf
alle ihre Schüsseln ausgerichtet haben. Man hat sich stattdessen einen neuen Satelliten ausgesucht, über den beispielsweise auch das irakische Fernsehen - das ist auch
sehr interessant - verbreitet wird. Deswegen muss jeder
Abonnent, der German TV beziehen will, zunächst einmal
400 US-Dollar bezahlen. Dies erinnert mich fatal an die
d-box, für die man zuerst einmal 800 DM bezahlen
musste, um Premiere beziehen zu können, und die später
dem Herrn Kirch das Genick gebrochen hat.
Ich will hier noch ein weiteres Problem ansprechen,
das uns noch großes Kopfzerbrechen bereiten wird: Weltweit wird Free-TV über analoge Satelliten verbreitet, weil
viele Länder noch nicht so weit sind und dies über digitale Satelliten verbreiten. In den USA wird jetzt aber das
Pay-TV über digitale Satelliten verbreitet. Es müssen also
neue Satelliten angemietet werden. Es muss technisch
umgerüstet werden. Das alles kostet Geld und soll alles
zulasten des ohnehin gebeutelten Etats der Deutschen
Welle gehen.
({4})
Ich spreche hier für die FDP-Fraktion, hoffe aber, dass
sich alle Fraktionen dieses Hauses dem Appell anschließen können. Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Die Deutsche
Welle, dieser wichtige Beitrag für die Außendarstellung
Deutschlands, braucht jetzt die Fürsorge des gesamten
Hauses, des deutschen Parlaments. Sie braucht vor allen
Dingen eines: Planungssicherheit. Weil die Deutsche Welle
Planungssicherheit braucht, fordere ich Sie auf und bitte
Sie, dem Entschließungsantrag der FDP Ihre Zustimmung
zu erteilen.
Vielen Dank.
({5})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Grietje Bettin.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus meiner
Sicht eignet sich die Deutsche Welle für den Wahlkampf
nur denkbar schlecht. Unsere Welt wird immer globaler.
Dies hat selbstverständlich auch erhebliche Konsequenzen für die Medienlandschaft. Daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten. Ein nationaler Rundfunk kann vielleicht noch bestimmte Zielgruppen im Ausland erreichen,
als eigenständige Stimme geht er aber unter, wenn sein
Programm nicht mit den entsprechenden europäischen
Angeboten abgestimmt bzw. koordiniert wird.
Auslandsrundfunk ist immer noch ein Privileg. Die
Deutsche Welle, BBC World und Radio France sind qualitativ hochwertige Programme, die eine wichtige Rolle in
der Außendarstellung Europas spielen und zukünftig noch
stärker spielen werden. Deshalb sagen wir ganz klar: Die
Zukunft des deutschen Auslandsrundfunks ist eng mit dem
Zusammenwachsen Europas verbunden. Sicherlich macht
es Sinn, der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik einen entsprechenden Raum im Programmangebot der Deutschen Welle zu geben. Wir Bündnisgrüne lehnen jedoch
alle Pläne, aus der Deutschen Welle eine Art Deutschlandkanal oder - auf das Internet bezogen - Deutschlandportal
zu machen, ab. Versuche, einen Staatsrundfunk in Deutschland einzuführen, sind bisher zu Recht - spätestens beim
Verfassungsgericht - immer gescheitert.
Wir sind uns mit der Bundesregierung vollkommen
darin einig, dass eine grundlegende Reform des deutschen
Auslandsrundfunks wichtig und notwendig ist. Ein entscheidender Grund für den Vorschlag der Bundesregierung, zukünftig verstärkt auf den Online-Auftritt der
Deutschen Welle zu setzen, ist sicherlich die - niemanHans-Joachim Otto ({0})
den wird es überraschen - Finanzknappheit des Bundes.
Die bereits erfolgten und noch folgenden Kürzungen
beim Bundeszuschuss für die Deutsche Welle sind sicherlich schmerzhaft und werden zukünftig noch einschneidender sein. Gerade durch die weltweit gestiegene
Bedeutung des Internets liegt aber auch eine Chance in
diesen Einschnitten. Im Übrigen - das betone ich immer
wieder gerne - kosten nicht alle sinnvollen Reformen
Geld. Das Online-Angebot der Deutschen Welle ist bereits heute hervorragend und kann zukünftig aufgrund der
Dialogfähigkeit des Internets noch erheblich an Bedeutung gewinnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich das
interkulturelle Potenzial der Deutschen Welle noch stärker nutzbar machen würde - immerhin kommt die Belegschaft der Deutschen Welle aus 69 Nationen -, könnte
man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Dann
würden nämlich nicht mehr nur Ausländer etwas über
Deutschland erfahren, sondern auch mehr Deutsche etwas
über das Ausland. Dies ist schon mit einfachen Mitteln
möglich. So hat zum Beispiel Hans Kleinsteuber, Mitglied im Rundfunkrat der Deutschen Welle, vorgeschlagen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Wissen
in Form von kommentierten Links in das Internetangebot
der Deutschen Welle einbringen sollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist aber natürlich
ganz klar, dass nicht das gesamte Angebot des deutschen
Auslandsrundfunks in das Internet verlagert werden darf.
Nach Angaben der Deutschen Welle nutzen heute nur
etwa 4 Prozent der Adressaten das Internet, über 70 Prozent empfangen die Sendungen aber über die Kurzwelle.
Auch wenn sich diese Zahlen langfristig sicherlich ändern
werden: Das Internet wird die Kurzwellenempfänger
kaum vollständig verdrängen können,
({1})
schon gar nicht in jenen Ländern der Welt, in denen das
Radio allein aus Kostengründen das wichtigste Medium
bleiben wird und der Zugang zum Internet schwierig oder
gar nicht möglich ist.
({2})
Die Ausgewogenheit der verschiedenen Programmsäulen ist auch zukünftig einer der wichtigsten Punkte im
Programmauftrag für den deutschen Auslandsrundfunk.
Neue Schwerpunkte müssen aber offen diskutiert und berücksichtigt werden. Eine der wichtigsten Funktionen eines fremdsprachigen Programms ist nach wie vor, objektiven Journalismus in Ländern ohne Pressefreiheit zu
verbreiten. Herr Nida-Rümelin hat es angesprochen.
In zwei Dritteln der Welt existieren nach wie vor keine
freien Medien und auf dem Markt der globalen Auslandssender etablieren sich zunehmend besonders autoritäre
und demokratiefeindliche Staaten wie Saudi-Arabien,
China oder der Iran mit propagandistischen Angeboten.
Deshalb begrüße ich den Vorschlag meiner Kollegin aus
dem Berliner Abgeordnetenhaus, Alice Ströver, die Deutsche Welle nicht nur in schon bestehenden Krisensituationen vermehrt als eine Art Kompensationsmedium einzusetzen, sondern sie auch als Frühwarnsystem für Krisen
zu nutzen.
({3})
Ich denke aber nicht nur an fundamentalistischen
Druck von außen, sondern auch an berechtigte Bedenken
und Ängste über eine zunehmend auch von Europa ausgehende Globalisierung. Für diese Fragen steht mit der
Deutschen Welle sicherlich ein großes aufklärerisches
und präventives Potenzial zur Verfügung, wobei ich allerdings keine zu hohen Erwartungen bezüglich der Chancen
wecken will.
Grundsätzlich gilt: Wir wollen der Welt ein weltoffenes
tolerantes Deutschland als Teil eines ebenso weltoffenen
und toleranten Europas präsentieren. Dafür brauchen wir
den deutschen Auslandsrundfunk. Daran sollten wir gemeinsam weiterarbeiten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auf der Besuchertribüne des
Deutschen Bundestages hat eine Delegation des Parlaments der Republik Malta Platz genommen. Ich heiße die
Kolleginnen und Kollegen herzlich willkommen.
({0})
Ich wünsche Ihnen erfolgreiche und fruchtbare Gespräche
in unserem Lande und eine gute Heimkehr in Ihr schönes
Land.
Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe nunmehr
der Kollegin Angela Marquardt das Wort. Sie spricht für
die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen der Aktuellen Stunde
zur Kirch-Pleite haben alle Fraktionen im Hause festgestellt, wie wichtig die Staatsferne von Medien und wie
schändlich der politische Einfluss ist.
({0})
Trotzdem reden wir heute über einen Staatssender, der aus
dem Bundeskanzlerhaushalt finanziert und dessen Programmauftrag hier im Parlament festgelegt wird.
Die Geschichte der Deutschen Welle geht auf den Kalten Krieg zurück. Sie war damals ein Instrument der Bundesregierung. Die ursprüngliche Aufgabe hat sich logischerweise verändert. Sie ist in den letzten Jahren diskutiert
worden und muss auch weiterhin diskutiert werden. Aber
in der Antwort auf die Anfrage der Union fehlt mir die
heutige Aufgabe des Auslandsrundfunks. Wo soll es hingehen? Ich möchte nicht bezweifeln, dass es für einen Auslandsrundfunk sinnvolle Aufgaben gibt. Es geht also nicht
darum, ihn abzuschaffen. Aber wir brauchen eine Neufassung des Programmauftrages. Ich denke, dass die Novellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes längst überfällig ist.
({1})
Ich glaube, dass es unverantwortlich gewesen ist, German
TV einzuführen, bevor diese Grundsatzdebatte geführt
worden ist.
({2})
Die jüngsten Entwicklungen bei der Deutschen Welle
finde ich dennoch nicht alle verkehrt. Wenn German TV,
das eine produktive Konkurrenz zum jetzigen Deutsche
Welle TV sein kann, mittelfristig als Free-TV empfangbar
ist, kann das eine irgendwann das andere ersetzen; denn
beide Sender parallel laufen zu lassen, kann ich mir als
Dauerlösung nicht vorstellen.
({3})
Was die Bundesregierung und der Intendant zum neuen
Profil und zum interkulturellen Dialog gesagt haben,
klingt in meinen Ohren vernünftig. Dialog statt Monolog,
Multikultur statt Monokultur halte ich für richtig. Der
Dialog ist natürlich eine Voraussetzung für das vom
Staatsminister angesprochene Ziel, über die globale Zivilgesellschaft und über Werte zu diskutieren. Aber ich
möchte Sie fragen: Wer hört denn hierzulande Radiosender aus Kenia oder Japan?
({4})
Wer diesen Dialog ernst meint, muss sich Gedanken
darüber machen, wie man das Interesse an ausländischen
Sendern und ausländischen Kulturen fördert. Wenn die
Bundesregierung die Idee ins Spiel bringt, dass die Deutsche Welle diesen Auftrag eventuell im Inland übernehmen könnte, oder, wie Kollegin Griefahn gesagt hat, aus
der Einbahnstraße eine Zweibahnstraße gemacht wird,
dann ist die Kritik der Union an einer Expansion des
Rundfunks im Inland durchaus berechtigt, weil wir damit
einen staatsfinanzierten Sender hätten, der im Inland tätig
wäre, was wir - das ist heute angeklungen - so nicht als
Zielstellung haben.
Das ist das Dilemma dieser ganzen Diskussion und der
Deutschen Welle. Ich halte den Programmauftrag dann für
fortschrittlich und sinnvoll, wenn er darauf hinausläuft,
dass das Leitmotiv der Deutschen Welle der Dialog der
Kulturen ist. Aber dies würde gleichzeitig bedeuten, dass
sie im Inland tätig würden. Dies ist aber eine Aufgabe, die
keinesfalls von einem staatsfinanzierten und damit notwendigerweise abhängigen Sender übernommen werden
sollte. Dafür haben wir das große Angebot der privaten
Sender bzw. das des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Ohne die Deutsche Welle an sich infrage zu stellen,
will ich deutlich machen, dass die grundsätzliche Frage
nach den Aufgaben und der Notwendigkeit des Auslandsrundfunks nicht beantwortet ist.
({5})
Wir führen diese Diskussion nicht zum ersten Mal, sondern haben uns auch schon im Ausschuss darüber unterhalten. Diese Grundsatzdebatte über den Programmauftrag muss geführt werden. Bevor über weitere Veränderungen und über die Finanzen diskutiert wird, müssen wir
über die Inhalte diskutieren. An den Inhalten müssen sich
die Finanzen entlanghangeln.
({6})
- Und entlang des Auftrags.
In diesem Punkt - in anderen nicht so sehr - stimme ich
dem Entschließungsantrag der FDP ausdrücklich zu: Wir
benötigen so schnell wie möglich einen Entwurf für ein
neues Deutsche-Welle-Gesetz. Am liebsten wäre es auch
mir - ich habe leider nicht so viel Einfluss darauf -, wenn
wir noch in dieser Legislaturperiode über einen solchen
Entwurf debattieren könnten. Wir werden diese Diskussion weiterführen. Es wäre aber schade, wenn weiterhin
Tatsachen geschaffen würden, ohne dass die Debatte um
die Inhalte geführt worden ist. Lassen Sie es uns umgekehrt machen; dann kommen wir vielleicht auch zu einem
guten Ergebnis.
({7})
Ich erteile
dem Kollegen Dr. Joseph-Theodor Blank für die Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dieses
Haus hat mich vor vielen Jahren in den Rundfunkrat der
Deutschen Welle entsandt, dessen stellvertretender Vorsitzender ich seit dieser Zeit bin. Im Rundfunkrat wie auch
im Verwaltungsrat der Deutschen Welle sitzen Mitglieder
der Bundesregierung - nicht Beamte, sondern Bundesminister und Staatsminister. Auch ist der Bundesrat im
Rundfunkrat und im Verwaltungsrat vertreten.
Rundfunkrat und Verwaltungsrat der Deutschen Welle
haben vor wenigen Wochen, nämlich am 15. März, in einer gemeinsamen Beratung - hier kann ich nahtlos an das
anschließen, was die ganze Zeit über angesprochen worden ist - ein Unternehmensprofil der Deutschen Welle
formuliert. Ausgehend von der Überlegung, dass die
Deutsche Welle ein elektronisches Informationsportal für
Menschen in aller Welt sein soll, die einen Zugang zu unserem Land suchen, lege ich die sieben Zielsetzungen
stichpunktartig dar, die von den beiden Gremien vor wenigen Wochen verabschiedet worden sind:
als „Stimme Deutschlands in der Welt“ durch unabhängigen Journalismus mit pluralistischer Programmgestaltung das Ansehen Deutschlands zu fördern;
in Ländern mit eingeschränkter oder fehlender Informations- und Medienfreiheit unabhängige und unzensierte Informationen zur Verfügung zu stellen;
die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands zu flankieren - auch indem
deutsche Interessen in und Beziehungen zu den Zielgebieten eingehend dargestellt und erläutert werden;
die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik journalistisch zu begleiten; als Kulturträger weltweit
Deutschland im Ausland als Kulturnation zu vermitteln; ...
einen Bildungsauftrag wahrzunehmen durch die Vermittlung von Werten wie Toleranz, von demokratischen Grundsätzen, von gesellschaftlichen Freiheiten;
den Prozess der europäischen Einigung zwischen
den westeuropäischen Staaten und jenen Mittel-,
Ost- und Südosteuropas intensiv zu begleiten.
Herr Staatsminister, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, das sind sieben Zielsetzungen, die in die Überlegungen einfließen könnten, wenn man über den Programmauftrag der Deutschen Welle bei einer künftigen
Novellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes nachdenkt.
Die Crux ist, dass die Deutsche Welle zwar mit den
Vertretern von Bundesregierung und Bundesrat hehre
Zielvorstellungen formulieren kann, dass sie aber nicht
wie die anderen Rundfunkanstalten agieren kann, sondern
als bundesfinanzierter Sender von den Haushaltsbeschlüssen des Deutschen Bundestages abhängig ist. Herr
Staatsminister, es wäre ein erheblicher Fortschritt, wenn
man sich vor weiteren Finanzentscheidungen
({0})
auf Erfordernisse und Rolle, Funktion und Selbstverständnis des deutschen Auslandsrundfunks einigen
könnte
({1})
und nicht, wie unter Ihrem Vorgänger erwiesenermaßen
geschehen, einfach Budgetkürzungen vornimmt, ohne jemals auch nur ansatzweise den Versuch gemacht zu haben, eine solche Debatte zu führen oder gar zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen. Eine erfolgreiche
Unternehmenspolitik setzt verlässliche Planung und angemessene, funktionsgerechte Finanzierung voraus.
Hierzu gehört unabdingbar die Verstetigung der Finanzierung des deutschen Auslandsrundfunks.
({2})
In § 44 des Deutsche-Welle-Gesetzes wird der Deutschen Welle eine Finanzierungsgarantie eingeräumt, die
nach übereinstimmender Auffassung von Verwaltungsund Rundfunkrat verfahrensrechtlich durch eine eindeutige Regelung ergänzt und damit abgesichert werden
muss. Herr Staatsminister, Sie haben in Ihrer Antwort auf
die Anfrage meiner Fraktion gesagt, die Bundesregierung
wolle „zu verlässlichen mehrjährigen finanziellen Planungsgrundlagen“ für die Deutsche Welle kommen. Gestatten Sie mir, erhebliche Zweifel daran zu äußern, ob
diesen schönen Worten auch Taten folgen werden.
({3})
Herr Staatsminister, in der jüngsten Rundfunkratssitzung, von der ich gerade mehrfach berichtet habe, fragten wir nach dem Stand der bisherigen vorbereitenden
Verhandlungen mit der Bundesregierung im Hinblick auf
die finanzielle Seite; das ist die Aufgabe des Rundfunkrats. Ich unterstelle einmal, dass Ihnen die Ergebnisse der
Besprechung auf Arbeitsebene jedenfalls im Groben bekannt sind.
Ich habe deswegen Zweifel an der Absicht der Bundesregierung, zu „verlässlichen mehrjährigen finanziellen
Planungsgrundlagen“ für die Deutsche Welle zu kommen,
wie Sie als Antwort auf diese Anfrage geschrieben haben.
Auf Arbeitsebene ist mitgeteilt worden, dass die bei der
Deutschen Welle in der mittelfristigen Finanzplanung für
das nächste Jahr prognostizierte Unterdeckung von 4 Millionen Euro nicht ausgeglichen werden soll.
({4})
Es gibt keine Bereitschaft, die Finanzierung für den deutschen Auslandskanal um ein Jahr zu verlängern.
({5})
Es gibt keine Bereitschaft, durch Verpflichtungsermächtigungen zu einer Absicherung der Finanzierung über
mehrere Jahre zu kommen. Es gibt keinerlei finanzielle
Mittel für die Ausweitung von German TV nach Südamerika über die USA hinaus. Der Leertitel „Krisenradio“
bleibt ein Leertitel, denn es gibt keine Bereitschaft einer
finanziellen Honorierung zum Beispiel für die Tätigkeit
der Deutschen Welle für Afghanistan, um ein aktuelles
Beispiel zu nennen, oder zum Beispiel für die Aktivitäten
im Zusammenhang mit der Berichterstattung nach dem
11. September 2001.
Ich komme zum letzten Punkt. In der mittelfristigen
Finanzplanung wird ein Anstieg der Investitionen für die
Jahre 2005 und 2006 zwar vorgesehen und heute noch
nicht bestritten, aber nicht durch Verpflichtungsermächtigungen abgesichert.
Herr Staatsminister, ich denke, Sie haben eine schöne
Aufgabe, dazu beizutragen, dass die Schizophrenie in der
Politik begrenzt bleibt.
({6})
- Das ist nicht so einfach; das habe ich nach 20 Jahren Zugehörigkeit zu diesem Haus an der einen oder anderen
Stelle, um es ganz vorsichtig auszudrücken, immer wieder erlebt.
Aber jetzt ernsthaft: Wenn in den Gremien der Deutschen Welle wie Rundfunkrat und Verwaltungsrat, die
hierzu berufen sind, gemeinsame Beschlüsse und Entschlüsse zustande kommen, die nach Vorbereitung durch
den neuen Intendanten diesen Gremien vorgelegt werden,
und wenn sich an diesen Beratungen und Beschlüssen
Mitglieder der Bundesregierung beteiligen, dann erwarte
ich eigentlich, dass die Konsequenz daraus auch eine einheitliche Antwort der Bundesregierung ist und nicht die
einen, die in diesen Gremien sitzen, so reden und die anderen anders handeln. Deswegen haben Sie die schöne
Aufgabe, Äußerungen und Taten zusammenzuführen.
Herzlichen Dank.
({7})
Nun spricht
die Kollegin Monika Griefahn für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte sprechen wir über die Inhalte, und das ist auch gut
so.
Herr Neumann und Herr Otto, wenn Sie von Staatsfunk
und davon reden, dass die bestehenden Besitzverhältnisse
gleich Staatsfunk bedeuten, gebe ich Ihnen zu bedenken:
Die Deutsche Welle ist ein Sender, der zu 100 Prozent
vom Bund finanziert wird, aber mitnichten ein Staatsfunk
ist. Das haben wir immer wieder deutlich gemacht.
({0})
Vielmehr ist die Deutsche Welle ein Sender, der mit seinem
im Gesetz festgelegten Programmauftrag, mit einem Intendanten und einer Redaktion eigenständige redaktionelle Arbeit leistet. Das geht sogar so weit - das haben wir manchmal leidend feststellen müssen -, dass in unterschiedlichen
Sprachregionen gegensätzliche Auffassungen transportiert
werden. Wir haben gerade in der Debatte über Kosovo erlebt, dass der serbische und der kosovarische Teil unterschiedlich berichtet haben. Insofern kann man hier mitnichten von Staatsfunk reden. Herr Neumann, deshalb ist
auch mit der kurzfristigen Übernahme des Besitzes nicht
automatisch die Tatsache verbunden, dass es sich um einen Staatsfunk handelt.
({1})
Bei der Deutschen Welle geht es nicht nur um die Frage,
wie wir uns darstellen, sondern sie ist auch ein Element der
internationalen Kulturbeziehungen Deutschlands. Bekanntlich werden in 30 Sprachen Online-Dienste und Radioprogramme und in drei Sprachen Fernsehprogramme gesendet.
Außerdem gibt es ab 1. Juli eine, wie ich meine, tolle Neuerung: Über Nilesat werden deutschsprachige Fernsehsendungen mit arabischen Untertiteln ausgestrahlt, sodass dann
auch Länder von Marokko bis Oman über andere Informationsmöglichkeiten verfügen als bisher. Das entspricht dem,
was die Frau Kollegin eben gesagt hat, nämlich dass es sehr
wichtig ist, einen Zugang zu anderen Informationsmöglichkeiten zu schaffen.
Nach dem 11. September 2001 stehen wir vor neuen
Herausforderungen. Das heißt, der Programmauftrag im
geltenden Deutsche-Welle-Gesetz, das Bild von Deutschland in die Welt zu transportieren, reicht nicht mehr aus.
Deswegen sind bereits in den vergangenen Jahren das Krisenradio und das Kompensationsradio hinzugekommen.
Ich meine, wir haben die Deutsche Welle auch immer als
Mittel der deutschen auswärtigen Kulturpolitik diskutiert
und sie in dieses Konzept mit eingebunden. Durch die
„Konzeption 2000“, das neue Konzept der auswärtigen
Kulturpolitik, wird die Zweibahnstraße besonders forciert.
Daraus folgt auch - das finde ich sehr positiv; das sollte
man auch zur Kenntnis nehmen -, dass in den Sendungen
vor Ort eben nicht mehr ausschließlich das Bild von
Deutschland in der Welt transportiert wird, sondern dass
Informationen aus den Regionen in die Regionen gesendet werden. Das ist das Positive, wodurch die Menschen überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, sich zu
informieren, und ihnen deutlich gemacht wird, dass es
auch andere Meinungen gibt als die, die zum Beispiel über
den Staatsrundfunk, den es tatsächlich in vielen Ländern
gibt - auch Frau Marquardt hat das angesprochen -, verbreitet werden. An dieser Stelle setzen wir an. Dabei haben
wir natürlich ein Credo, das auch in dem Auftrag enthalten
ist, nämlich das Weltbild der Aufklärung, Menschenrechte
und Demokratie zu vermitteln, und zwar in allen Teilen
der Welt. In diesem Zusammenhang ist es besonders
wichtig - das muss zusätzlich aufgenommen werden -,
Jugendliche anzusprechen und Informationen nicht nur an
Multiplikatoren in schon gesetzteren Positionen zu vermitteln. Es muss ein Programmtyp entwickelt werden, der
Jugendliche anspricht und ihnen ermöglicht, gar nicht erst
in Gewalt und Terror zu verfallen, sondern durch einen
anderen Zugang zu Informationen zu Demokratie und
Menschenrechtsentwicklung in ihren Ländern beizutragen.
({2})
Die Deutsche Welle hat finanzielle Einschränkungen
durchführen müssen. Sie hat aber mitnichten so umfangreiche Entlassungen vornehmen müssen, wie es vorher
angekündigt bzw. angedroht worden war, sondern sie ist
kreativ mit der Situation umgegangen, was ich für sehr
positiv halte.
Wir haben es heute mit Konflikten in der Welt zu tun,
auf die flexibel reagiert werden muss. Deswegen schlage
ich vor, bei der zukünftigen Finanzierung tatsächlich ein
zweigeteiltes Konzept aufzulegen, nämlich zum einen einen Sockelbetrag im Haushalt festzulegen, damit die
Deutsche Welle planen und auch ihre Strukturen halten
kann, aber ihr zum anderen auch einen bestimmten Anteil
an der Finanzierung zu gewähren, damit sie flexibel reagieren kann, um zum Beispiel in Krisensituationen nicht
erst dann aktiv zu werden, wenn der Konfliktfall schon
eingetreten ist.
Frau Kollegin Griefahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Otto?
Ja.
Frau Kollegin Griefahn, ich habe durchaus mit Freude und Zustimmung gehört, dass Sie den Programmauftrag der Deutschen Welle über Multiplikatoren hinaus auf die Jugend
erweitern wollen. Damit sind Sie schon weiter als die
Bundesregierung, in deren Papier die Jugend noch nicht
aufgeführt war.
Teilen Sie meine Auffassung, dass jede Erweiterung
des Programmauftrags konsequenterweise auch mit einer
finanziellen und materiellen Besserstellung dieses Senders verbunden sein muss?
Herr Otto, ich bin gerade dabei, mein Konzept für den zukünftigen Haushalt vorzustellen.
({0})
Ich führe nämlich gerade aus, dass ich eine Grundfinanzierung auf der Basis des am Ende der Konsolidierungsphase abgeschmolzenen Betrages möchte und dass dann
Mittel gewährt werden, die flexibel zu gestalten sind und
insofern für Kriseninterventionen eingesetzt werden können.
({1})
Das ist im Übrigen in Einzelfällen auch so geschehen. Das
Auswärtige Amt hat zum Beispiel für den Kosovo zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Ich würde mir wünschen, dass wir sozusagen zu einem flexiblen Betrag kommen, damit nicht in jedem Einzelfall einzelne Dinge
hinzugefügt werden müssen. Das sollte in das DeutscheWelle-Gesetz eingestellt werden. Für welche Projekte die
Mittel verwendet werden, muss man dann sehen. Wir müssen - darüber sind wir uns alle sicherlich einig - durch das
Einstellen entsprechender Mittel in den Haushalt der Deutschen Welle Planungssicherheit garantieren. Nur dann
können entsprechende Perspektiven erarbeitet werden.
Wir müssen im Rahmen der Novellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes über die Ausweitung des Programmauftrags, die Dialogfunktion, die Krisenfunktion und die
Kompensationsfunktion diskutieren. Vor diesem Hintergrund finde ich es richtig - um noch einmal auf Ihren Beitrag einzugehen, Herr Otto -, zusammen mit dem Auswärtigen Amt und der Ministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit schon jetzt zu überlegen, wo die Schwerpunkte gesetzt werden sollen; denn man kann sicherlich
nicht in allen Krisenherden der Welt präventiv tätig sein.
({2})
Wir haben - das haben Sie selber mitgetragen - zum
Beispiel zusätzliche Mittel aus dem Etat des Auswärtigen
Amts für die Berichterstattung im Kosovo zur Verfügung
gestellt, damit die Menschen vor Ort eine zusätzliche Informationsquelle haben. Ich bin sehr froh, dass der Intendant und die Redaktion selber veranlasst haben, dass ab
Mitte Mai zusätzlich Fernsehsendungen in Paschtu und
Dari übersetzt werden und dem afghanischen Fernsehen
zur Verfügung gestellt werden, damit die Bevölkerung vor
Ort breit informiert werden kann.
({3})
Wie gesagt, dieser Vorschlag kam aus der Intendanz selber.
Es ist unsere Aufgabe, solche Vorschläge aufzugreifen.
Man kann aber natürlich auch im Parlament wie im
Ausschuss eine politische Diskussion darüber führen, wo
wir uns engagieren sollen. Es ist ja schließlich auch unser
Job, über den Programmauftrag zu diskutieren. Nur, lieber Herr Otto, eine seriöse Diskussion über haushaltsrechtliche Fragen, über den Programmauftrag und über
die Frage, welche Medien welche Zielgruppen am besten
ansprechen - diese Frage hat auch schon der Herr Staatsminister angesprochen -, ob man zum Beispiel nur deutschsprachige Multiplikatoren oder nur Jugendliche erreichen
will - sicherlich erreicht man Jugendliche eher mit Internetangeboten; diese sind aber nicht in allen Ländern vorhanden; die Deutsche Welle, die auch auf Kurzwelle sendet, wird also ein wichtiges Medium bleiben -, erfordert ein
tieferes Verständnis. Deswegen müssen wir den Entschließungsantrag Ihrer Fraktion - so gut ich auch seinen
Inhalt finde - leider ablehnen; denn wenn man ehrlich ist,
muss man zugeben, dass das, was dort gefordert wird, in
dieser Legislaturperiode nicht mehr umgesetzt werden
kann. Herr Otto, in den verbleibenden fünf Sitzungswochen können wir Ihrem eigenen Anspruch, seriös über das
Deutsche-Welle-Gesetz und den Programmauftrag zu diskutieren, nicht gerecht werden.
({4})
Ich möchte noch einmal kurz auf das German TV
zurückkommen. Sie sprachen immer nur von „Forsthaus
Falkenau“. Ich habe mir die Programme genau angeschaut und festgestellt: Es ist mitnichten so, dass es nur
Serien gibt. Diese gibt es natürlich auch. Es werden aber
auch Dokumentationen, politische Magazine und
({5})
- das schaut wahrscheinlich Herr Otto auf dem Kanal der
Deutschen Welle, weil er es zu Hause nicht sehen darf ({6})
Kindersendungen wie zum Beispiel „Der Tigerentenclub“
und „Die Sendung mit der Maus“ angeboten. Das finde
ich sehr wichtig; denn das zeigt die Vielfalt und die Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland, den wir erhalten wollen. Herr Otto ist ja hier anderer Meinung.
({7})
Wir halten das breite Angebot des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks für sehr wichtig.
({8})
Sie wollen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf ein
paar Kernkompetenzen reduzieren. Wir dagegen wollen
ein breites Spektrum. Ein solches Spektrum wird auch in
German TV angeboten.
German TV ist ein Pilotprojekt in den USA. Wir werden in den nächsten vier Jahren eine Anschubfinanzierung
in Höhe von 5,113 Millionen Euro pro Jahr leisten. Wir
werden dann sehen, ob ein solcher Sender in einem Land,
in dem Pay-TV etwas Normales ist, ankommt. Wir wollten keinen Pay-TV-Sender in einem Land einrichten, in
dem es sonst nur Free-TV-Kanäle gibt. Wir müssen abwarten, wie German TV in einem Land ankommt, in dem
die Menschen sagen: Weil wir im Free-TV durch Werbeangebote zugemüllt werden, kaufen wir Pay-TV. Es gibt
ja in Deutschland die Angst, dass es auch bei uns einmal
so sein könnte. Darüber müssen wir als Medienpolitiker
noch einmal diskutieren.
Wir werden der Entwicklung des German TV den Raum
geben, den es braucht. Eine gewisse Anlaufzeit muss eingeräumt werden. Man kann nicht erwarten, dass man nach
zwei Monaten 70000 Abonnenten hat. Wenn man in zwei
Monaten 900 Abonnenten gewinnt, ist das schon ganz
ordentlich. Andere Firmen würden sich darüber freuen.
Meiner Ansicht nach befinden wir uns auf dem richtigen Weg, um in Zukunft innerhalb der internationalen
Kulturbeziehungen zu leisten, was nötig ist. Deutschland und deutsche Außenpolitik stehen für Weltoffenheit
und Toleranz. Wir machen eine internationale Kultur- und
Medienpolitik, die für den Austausch auf der Basis bestimmter Werte steht. Die Deutsche Welle ist ein unverzichtbarer Teil der Beziehungen. Sie wird auch in Zukunft,
gerade wenn sich die neuen Medien so weiterentwickeln,
unverzichtbar sein.
Das Internetangebot der Deutschen Welle ist schon
heute ein hochqualitatives Einfallstor zur deutschen Kultur,
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir entwickeln das
Programm der Deutschen Welle weiter, um auch zukünftig
eine angemessene Außenrepräsentanz zu haben und einen
Beitrag zur Konfliktprävention zu leisten. Wir verfahren
nach dem Motto: Informieren statt missionieren. Das ist
die wesentliche Grundlage.
({9})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/8819. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP abgelehnt.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2001 ({0})
- Drucksache 14/8330 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das
Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich begrüße den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Dr. Willfried
Penner, und gebe ihm das Wort.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages
ist nicht gehindert, neben kritischen Bemerkungen zum
Thema Bundeswehr auch solche anderer Art zu machen.
Das soll geschehen. Also denn: Die Bundeswehr funktioniert, jedenfalls alles in allem - wie denn auch nicht? Das
macht die Bundeswehr im Einsatz besonders sinnfällig.
Soldaten der Bundeswehr leisten guten, auch erstklassigen Dienst. Im Einsatz wird das besonders deutlich. Sie
brauchen den internationalen Vergleich mit anderen nicht
zu scheuen. Ganz im Gegenteil: Zu Hause müssen Soldaten mit den Schwierigkeiten des Umbaus der Bundeswehr
ebenso zurechtkommen wie mit den Lücken, die der militärische Einsatz zur Folge hat. Sie tun dies mit viel Engagement und gutem Erfolg.
({1})
Das ist aber nur die eine Seite.
Es gibt knapp 5 000 Eingaben von Soldaten an den
Wehrbeauftragten, weitere Befunde aus vielen Gesprächen mit Soldaten und Informationen anderer Art, nach
denen die Armee auch in erheblichen Schwierigkeiten
ist. Das schlägt sich auf die Einstellung von Soldaten
nieder.
({2})
Das bringt mehr als nur schlechte Laune mit sich; das geht
eher in Richtung Groll und Hader und mündet auch in Resignation und Gleichgültigkeit. Das Ergebnis ist: Der soldatische Dienst kann zum ungeliebten Job werden.
Das hat handfeste Gründe:
Schmälerungen bei der Besoldung und Versorgung in
der letzten Zeit, aber auch weit in die 90er-Jahre hineinreichend, werden bei einer zunehmenden Anzahl von
Einsätzen und damit verbundenen zusätzlichen Belastungen auch im Inland überhaupt nicht verstanden. Sie werden ganz scharf kritisiert.
({3})
Der Beförderungs- und Verwendungsstau ist für die
davon betroffenen Soldaten ein bitteres Thema - hoffentlich gewesen. Es geht den Soldaten übrigens nicht nur um
mehr Geld, sondern auch um das berufliche Selbstverständnis und die Anerkennung beruflichen Könnens. Es
ist zu hoffen, dass sich die durchgesetzten Verbesserungen
lindernd auswirken und auch zur Kenntnis genommen
werden.
Die Soldaten beklagen sich über Handfestes im täglichen Umgang mit Ärzten, über Mangel an eingehenden
Untersuchungen, über Mangel an verantwortungsvoller
Beratung und über Mangel an sachgerechten Diagnosen.
Überlastung im Dienst wird von Soldaten immer wieder angesprochen. Eine Ursache dafür sind die häufigen
Auslandseinsätze und die damit verbundene Wahrnehmung von Zusatzaufgaben bis hin zu Dritt- und Viertfunktionen durch einsatzbedingte Lücken. Weitere Belastungen sind die häufige Abwesenheit vom Heimatstandort
durch Teilnahme an Lehrgängen und Übungen sowie Personalabstellungen zu unterschiedlichen Zwecken.
Den Befunden des Löchel-Berichtes, insbesondere zu
Schwächen im Führungsverhalten, muss nachgegangen
werden.
({4})
Es kann kein Zufall sein, dass das Sozialwissenschaftliche
Institut der Bundeswehr im Herbst vergangenen Jahres
Ähnliches vermerkte. Ich füge hinzu: Äußerungen von
Soldaten an die Adresse des Wehrbeauftragten gingen in
dieselbe Richtung. Es wäre grundverkehrt, dies als Böswilligkeiten abzutun. Das Problem ist da und muss gelöst
werden. Weginterpretieren oder leugnen hilft nicht.
({5})
Die weiterhin unterschiedliche Besoldung in Ost und
West wirkt sich zunehmend gegen die Idee von der Armee
der Einheit aus. Ich habe an anderer Stelle schon einmal
gesagt - ich wiederhole es hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages -: Ich werde das Thema immer wieder
ansprechen, bis es gelöst ist.
({6})
Der Zustand von Truppenunterkünften und Küchen im
Westen verschlechtert sich weiter. Die Material- und Ersatzteillage bleibt ein Dauerbrenner, auch wenn sie nach
unseren Feststellungen nicht so kritisch ist, wie manchmal
behauptet wird. Manche Geräte sind aber tatsächlich älter
als manche Soldaten. Die diesbezügliche Ersatzteillage ist
entsprechend.
({7})
Nach wie vor bestehen Ungewissheiten über die
zukünftigen Verwendungen aus Anlass der Bundeswehrstrukturreform.
„Bundeswehr im Einsatz“ bedeutet die Einhaltung
hoher Qualitätsstandards für die eingesetzten Truppenteile und Soldaten. An dieser Stelle muss einmal gesagt
werden dürfen, und zwar auch durch den Wehrbeauftragten: Ein lückenlos positives Bild gibt die Bundeswehr
auch insoweit nicht ab. Wie denn auch? Es gibt gravierende infrastrukturelle Mängel im Feldlager Rajlovac im
SFOR-Einsatz, die hoffentlich demnächst mit Begleitung
des Parlaments beseitigt werden.
({8})
Es gibt einzelne Unzulänglichkeiten bei Sicherheitsvorkehrungen zugunsten von Soldaten in Kabul. Damit
sind nicht nur Umstände bei der Entschärfung von
Sprengkörpern gemeint. Es gibt Mängel bei der klimagerechten Ausstattung von Schnellbooten am Horn von
Afrika.
Aus der Sicht von Soldaten sind folgende Sachverhalte
im Auslandseinsatz besonders belastend:
Erstens. Die Kontingentdauer von sechs Monaten ist
für die Soldaten ein wichtiges Thema geblieben. Das gilt
insbesondere für Soldaten mit jungen Familien und noch
jungen Partnerschaften. Die diesbezüglichen Belastungen
werden dadurch verstärkt, dass die zugesagte einsatzfreie
Zeit von zwei Jahren nicht durchweg eingehalten werden
kann.
({9})
Außerdem kritisieren Soldaten, dass sie im Anschluss an
ihren Einsatz nicht die angekündigte Übungspause von
sechs Monaten gehabt hätten.
Zweitens. Wiederholt gab es Unsicherheiten über den
Einsatzbeginn - mit besonders negativen Auswirkungen
zum Jahreswechsel. Auch ließen diesbezügliche Informationen zu wünschen übrig.
Drittens spreche ich den Auslandsverwendungszuschlag an. Die Höhe dieses Zuschlages für den Einsatz am
Horn von Afrika wird scharf kritisiert. Der Einsatz findet
in einer der heißesten Zonen der Welt mit extrem hoher
Luftfeuchtigkeit statt.
Viertens. Die administrative Überprüfung der Höhe des
Auslandsverwendungszuschlages mit der Möglichkeit der
Herabsetzung in einer besonders kritischen Zeit beim Einsatz in Mazedonien stieß auf völliges Unverständnis.
Letztens. Das Fehlen einer politischen Perspektive bei
längeren Einsätzen nährt Zweifel an deren weiteren Sinn.
Die Soldaten sind zu Recht, so meine ich, der Überzeugung, dass militärisches und humanitäres Engagement
eine fehlende politische Perspektive nicht ersetzen kann.
({10})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Zahl der
besonderen Vorkommnisse mit Verdacht auf rechtsextremistischen oder fremdenfeindlichen Hintergrund entspricht in etwa der des Vorjahres. Im Berichtsjahr waren
es 186 gegenüber 196 im Vorjahr. Es handelt sich durchweg
um Äußerungsdelikte ohne - das betone ich - begleitende
Gewaltanwendung wie entsprechende Schmierereien, das
Hören und Verbreiten von Musik mit rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Texten und das Grölen nazistischer Grußformeln. Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind mit 1 444 gegenüber 1 544 im Vorjahr
leicht rückläufig.
Abschließend ein Wort, gewissermaßen in eigener
Sache: Der Zugang zum Intranet - ein Thema, das uns
auch letztes Jahr beschäftigt hat - ist jetzt auch dem Wehrbeauftragten möglich,
({11})
verbrieft durch ein Schreiben des Bundesministers der
Verteidigung vom 22. März 2002. Der Wehrbeauftragte
ist damit wieder auf gleicher Augenhöhe mit der Militärseelsorge; diese hat einen entsprechenden Zugang. Wenn
das kein Fortschritt ist!
Vielen Dank für die Geduld.
({12})
Nun eröffne
ich die Aussprache über den Bericht und gebe das Wort
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
dem Kollegen Bernd Siebert für die Fraktion der CDU/
CSU.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter
Dr. Penner, Sie haben soeben in Ihrer Rede, aber insbesondere auch in Ihrem Bericht für das Jahr 2001 genauso
wie im vergangenen Jahr auf eine ganze Menge von Defiziten in der Bundeswehr hingewiesen, ja hinweisen
müssen. Ich will Ihnen an dieser Stelle ganz persönlich für
die Offenheit Ihrer Worte danken und bitte Sie, diesen
Dank meiner Fraktion für die Erarbeitung des Berichtes
auch an Ihre Mitarbeiter weiterzugeben.
({0})
- Mitarbeiterinnen selbstverständlich auch, Herr Kollege
Tappe.
Trotz meines Lobes für Ihre offenen Worte und Ihrer
deutlichen Kritik zu einigen Punkten, die wir eben klar
gehört haben, wäre ich zufriedener gewesen, wenn Sie
Ihre realitätsbezogenen und kritischen Darlegungen auch
auf den Gesamtzustand der Bundeswehr ausgeweitet hätten.
({1})
Sie sind als Wehrbeauftragter dem gesamten Deutschen
Bundestag verantwortlich; Ihre bisherige Arbeit hat dies
auch bewiesen. Ihre kritischen Formulierungen eben machen deutlich, dass Sie als Sozialdemokrat hier so wie wir
auch Defizite sehen. Aber die Realität stellt sich in einigen Punkten vielleicht noch schlimmer dar, als sie eben
beschrieben worden ist.
Bei meinen kurzen Bewertungen werde ich nicht nur
auf den hier vorliegenden Jahresbericht 2001, sondern
auch auf den Jahresbericht 2001 des Beauftragten für Erziehung und Ausbildung beim Generalinspekteur, nämlich den Bericht des Brigadegenerals Löchel, eingehen.
({2})
Ich werde zusätzliche Informationen aus der Kommandeurstagung der vergangenen Woche einbeziehen und
meine persönlichen Informationen aus zahlreichen Besuchen bei der Truppe in die Bewertung einfließen lassen.
({3})
Drei wesentliche Punkte sind nach Ihrem Bericht festzuhalten: Erstens. Die Lage der Bundeswehr ist schlimmer, als es die politische Führung wahrhaben will und als
sie der Öffentlichkeit vorzugaukeln versucht.
({4})
Zweitens. Die Soldaten sind verunsicherter als je zuvor.
Drittens. Trotz dieser beiden Sachverhalte schaffen es die
einzelnen Soldaten und die einzelnen militärischen Führer immer wieder, durch ihre beispielhafte Leistungsbereitschaft und durch Improvisation ihre konkreten Aufgaben zu meistern.
({5})
- Dies hat der Wehrbeauftragte eben sogar so formuliert.
Trotz Ihrer deutlichen Worte beschreibt der schon erwähnte Bericht des Beauftragten für Erziehung und
Ausbildung, der in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert
worden ist, noch wesentlich deutlicher die Stimmung in
der Truppe. Ich zitiere deshalb:
Die Truppe steht nicht mehr vorbehaltlos hinter der
militärischen Führung.
({6})
Geglaubt wird dem Führer, der durch seine persönliche
Präsenz vor Ort greifbar für die Männer ist. Der politischen Leitung wird mit starken Vorbehalten begegnet.
Treffender kann man die Stimmung in der Truppe, die
meinen Kollegen und mir auch bei zahlreichen Besuchen
von und Gesprächen mit Soldaten deutlich beschrieben
wurde, nicht darstellen. Das wissen Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Sozialdemokraten, genauso, denn
Sie haben die gleiche Informationsbasis.
Dies alles ist ein Armutszeugnis für die politische
Führung, aber auch für die Führung der Bundeswehr insgesamt.
Die Ursachen für die Lage der Bundeswehr lassen sich
neben anderen Faktoren sehr leicht ausmachen: erstens der
Wandel von einer reinen Verteidigungsarmee zu Streitkräften, die im Rahmen friedensbewahrender oder friedensschaffender Maßnahmen zunehmend auch im Ausland
eingesetzt werden, und zweitens eine dramatische Unterfinanzierung unserer Streitkräfte, die allein Sie zu verantworten haben. Ich hätte Herrn Minister Scharping an dieser Stelle gern persönlich angesprochen, wenn er bei
diesem wichtigen Bericht heute anwesend gewesen wäre.
({7})
Was unsere Soldaten und Zivilbediensteten unter den
derzeitigen Bedingungen im Ausland, aber auch in der
Heimat zu leisten in der Lage sind, kann gar nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Dafür gebührt jedem einzelnen Soldaten und Zivilbediensteten unser aller Dank und
Anerkennung.
({8})
Ist es aber wirklich Dank und Anerkennung, wenn den
in Bosnien, Mazedonien und im Kosovo eingesetzten
Soldaten zum 1. Juli 2002 der Auslandsverwendungszuschlag gekürzt wird, nachdem man in dieser Legislaturperiode bereits die Stehzeit für den Einsatz der Soldaten von vier Monaten auf sechs Monate verlängert hat?
({9})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Dies empfinden die Soldaten im Einsatz als Unverschämtheit. Es beeinträchtigt natürlich die Motivation
unserer Soldaten in den Auslandseinsätzen. Konsequenterweise wird das Problem in aller Deutlichkeit - wir haben es eben vom Wehrbeauftragten gehört - dargestellt.
Die Zeit verbietet es mir, hier weitere Einzelpunkte
darzustellen. Ich will sie nur stichwortartig nennen;
({10})
wir werden im Verteidigungsausschuss sicherlich weiter
darüber diskutieren. Die Punkte sind: Nichteinhaltung der
angekündigten Übungspause nach einem Auslandseinsatz, gerechtfertigte Bemängelung der Unterbringung der
Soldaten im Einsatz - der Wehrbeauftragte hat darauf hingewiesen -, Finanzierung der Betreuungseinrichtungen
im Einsatz; sie werden teilweise von den Soldaten selbst
finanziert anstatt von der Bundeswehr. Die Einsatzmedaille, die wir alle für richtig gehalten haben, wird nur
verzögert den eingesetzten Soldaten verliehen.
Ich will an dieser Stelle meine Aufzählung beenden.
Wir werden, wie gesagt, sicherlich noch das eine oder andere im Verteidigungsausschuss und in der zweiten und
dritten Lesung vertiefen.
Die dargestellten Fälle sind Auswüchse, die allein auf
der Unterfinanzierung der Bundeswehr gründen. Auch
dieser Bericht des Wehrbeauftragten beweist: Die Material- und Ersatzteillage, die Unterbringung unserer Soldaten und die Infrastruktur in den Kasernen sind in vielen
Fällen katastrophal; die Tendenz ist steigend. Aufgrund
fehlender Finanzmittel kann allenthalben nur noch improvisiert werden. Geplante Verbesserungen der Infrastruktur
in den Kasernen werden zeitlich immer weiter nach hinten
verschoben. Dies ist nicht nur ein Schreckensgebilde der
Opposition, sondern dies ist in der vorigen Woche bei der
Kommandeurstagung in Hannover sehr deutlich geworden, als die militärischen Führer ihre kritischen Positionen auch Bundesverteidigungsminister Scharping dargestellt haben.
Darüber hinaus gibt es erhebliche Zweifel an Scharpings
Ansicht, dass die geplanten Privatisierungen und Erlöse
aus dem Verkauf von Liegenschaften und Material die
notwendigen Mittel zur Modernisierung freisetzen. Wenn
wir uns die Haushaltsabfolge 2001 und 2002 anschauen,
stellen wir fest, dass die kritische Haltung, die wir hatten,
bestätigt worden ist.
Scharpings Reform der Streitkräfte ist wegen der dramatischen Unterfinanzierung der Bundeswehr gescheitert. Diese Bundesregierung sieht in der Bundeswehr seit
1998 leider nur eine finanzielle Verfügungsmasse.
Für unser Land und die Bundeswehr entsteht ein großer
Schaden, wenn die so genannte Reform der Bundeswehr
nicht korrigiert wird und die Finanzausstattung nicht
deutlich verbessert wird.
({11})
Hierzu ist ein neues Gesamtkonzept erforderlich, das die
Organisation der inneren und äußeren Sicherheit unter
Beibehaltung der Wehrpflicht miteinander verbindet.
Dazu sind Sie nicht mehr in der Lage. Dies werden wir
nach dem 22. September verwirklichen müssen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Wehrbeauftragter! Herr Kollege Siebert, ich hatte bei Ihren Ausführungen das Gefühl, dass ich in den 16 Jahren vor 1998
in einem anderen Land gelebt habe.
({0})
Denn der Zustand, den sie geschildert haben, ist mitnichten
durch Sozialdemokraten, sondern durch Ihre Regierung
herbeigeführt worden. Es ist unglaublich, dass Sie hier den
Bericht des Wehrbeauftragten zum Anlass nehmen, um Ihre
polemische Kritik vorzutragen und um sich nicht auf das
beziehen zu müssen, worum es heute wirklich geht.
({1})
Ich will aber auch ganz deutlich sagen: Es liegt natürlich in der Natur der Sache, dass der Bericht des Wehrbeauftragten - wer wollte das bestreiten? - kein bloßer
Zustandsbericht ist. Hier werden ganz bewusst Mängel
dargestellt.
({2})
Dieser Bericht ist eben nicht schöngefärbt, sondern er
nimmt die Soldatinnen und Soldaten ernst. Ich möchte
mich daher an dieser Stelle ganz ausdrücklich bei dem
Herrn Wehrbeauftragten für diesen offenen und detaillierten Bericht bedanken.
({3})
Wir kennen natürlich aus unserer Arbeit - auch das ist
uns nicht neu - die Sorgen und Klagen der Soldatinnen
und Soldaten gut.
({4})
Aber erst durch den Bericht des Wehrbeauftragten, der
wesentlich auf Eingaben der Betroffenen sowie auf Besuchen des Wehrbeauftragten in der Truppe beruht, werden
diese Mängel öffentlich. Man kann es gar nicht oft genug
sagen: Im internationalen Vergleich ist die Institution des
Wehrbeauftragten einzigartig. Sie gewährt unseren Soldaten eine ganz wichtige Rechtsschutzgarantie.
({5})
Bei allen Mängeln bleibt als erstes festzuhalten, dass es
im Jahre 2001 weniger Beschwerden gab als im Vorjahr.
Das heißt, die rückläufige Tendenz bei den Eingaben setzt
sich fort. Ich sage ganz deutlich: Wir reden hier über den
Bericht aus dem Jahr 2001. Seit dem - das wissen auch
Sie - hat sich die Situation der Bundeswehr noch einmal
entscheidend verändert.
({6})
Durch zusätzliche Auslandseinsätze sind alle Kapazitäten gebunden. Es ist keine Frage, dass die Bundeswehr in
ihren derzeitigen Strukturen an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt ist.
({7})
Trotzdem erfüllt die Bundeswehr ihre schwierigen Aufgaben - auch das sagt der Bericht sehr deutlich - mit einem bemerkenswert hohen Qualitätsstandard. Das ist hoffentlich unumstritten.
Der größte Konzern in Deutschland steht vor großen
Herausforderungen, die er nicht im Schnelldurchgang von
heute auf morgen bewältigen kann. Aber das Entscheidende ist doch - Herr Siebert, jetzt hören Sie einmal zu -,
dass Sozialdemokraten diese Reform angepackt haben
und die Bundeswehr auf ihre neuen Aufgaben hinsichtlich
der Struktur und der Ausrüstung ausgerichtet haben.
({8})
Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität und Initiativen zur Qualifizierung werden gerade umgesetzt. Die
Grundlagen bilden das 6. Besoldungsänderungsgesetz
und das Gesetz zur Neuausrichtung der Bundeswehr.
Diese Gesetze sind seit dem 1. Januar 2002 in Kraft. Das
ist wichtig im Hinblick auf die Nachwuchsgewinnung.
In diesem Bereich haben wir ein Problem; da müssen wir
etwas tun. Wir handeln dementsprechend. Dazu will ich
einige Beispiele nennen:
Erstens. Wir haben die Eingangsbesoldung nach A 3
angehoben. Bisher lag sie zwischen A 1 und A 2.
({9})
- Ich wollte das ebenfalls sagen: Das haben Sie nicht hinbekommen.
({10})
Die Bundeswehr schafft damit neue Perspektiven für die
Laufbahnen und neue Aufstiegschancen.
Zweitens. Zur Umsetzung der Besoldungs- und Strukturverbesserungen werden zusätzliche Planstellen im
Haushalt bewilligt.
Drittens. Es wurde mit mehr als 100 Handwerks- bzw.
Industrie- und Handelskammern eine umfangreiche Initiative zur Qualifizierung gestartet.
({11})
Das ist im Hinblick darauf, dass junge Menschen nach
ihrem Dienst in der Bundeswehr in beruflicher Hinsicht
eine Perspektive haben, ganz wichtig.
({12})
Auch wir können nicht zaubern. Wer wollte das leugnen? Das verlangt auch niemand. Die Umsetzung von Gesetzen, die gerade in Kraft getreten sind, benötigt Zeit;
Reformen - das wissen auch die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - können erst in einigen Jahren
greifen. Wenn wir uns im Verteidigungsausschuss ernsthaft darüber unterhalten, dann bestreiten auch Sie das
nicht. Deswegen ist Ihre heutige Kritik überzogen und
maßlos.
({13})
Die Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf ist
durch zahlreiche Wegmarken gekennzeichnet; auf einige
bin ich bereits eingegangen. Zwei, drei Punkte möchte ich
noch nennen: Bereits im Dezember 1999 ist mit der Wirtschaft der Rahmenvertrag „Innovation, Investition und
Wirtschaftlichkeit in der Bundeswehr“ mit mehr als
600 Partnerunternehmen abgeschlossen worden.
({14})
Im August 2000 ist die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb gegründet worden. Das alles ist
doch kein Selbstzweck. Wir tun das doch nicht deshalb,
weil wir so gerne experimentieren. Wir tun das vielmehr
im Sinne der Soldatinnen und Soldaten. So erhalten wir
Mittel, die wir auf andere Weise nicht erwirtschaften können.
({15})
Die Reform ist auf einem guten Weg. Wir können in
den kommenden Jahren erhebliche Mittel einsparen, um
daraus die Mittel zu gewinnen, die wir für die dringend
benötigten Investitionen einsetzen können.
Ich habe Ihnen einige Punkte genannt, die im Bericht
des Wehrbeauftragten Gegenstand der Unzufriedenheit
waren. Zusammenfassend will ich aber sagen: Die Bundeswehr wird von Grund auf erneuert. Sie investiert zielUlrike Merten
gerichtet in Menschen, Ausrüstung sowie in Maßnahmen
zur Steigerung von Wirtschaftlichkeit und Effizienz.
({16})
Das bedeutet für die Menschen: Etwa 42 000 Soldaten
können im Jahre 2002 mit Beförderung oder Besoldungsverbesserungen rechnen. Für die Ausrüstung heißt das
konkret: Seit Ende 1998 sind Verträge über Rüstungsinvestitionen in Höhe von fast 23 Milliarden DM abgeschlossen worden. Das ist eine ganze Menge.
Was ich in meinen Ausführungen habe sagen wollen,
ist Folgendes: Es gibt Probleme, Schwierigkeiten und
auch Unzufriedenheiten; wer wollte das leugnen. Nicht
alle werden wir kurzfristig beheben können. Aber ebenso
richtig ist, dass wesentliche Themenfelder, die jetzt Grund
für Unzufriedenheit sind und in dem Bericht angesprochen worden sind, in die laufenden Maßnahmen einfließen. Dann wird hoffentlich in naher Zukunft der
Grund für solche Unzufriedenheiten behoben sein.
({17})
Ich finde, das sollte man berücksichtigen. Zudem sollten
Sie zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hildebrecht Braun von der FDPFraktion.
Wertes Präsidium! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute nicht über irgendein Thema, sondern über die
innere Befindlichkeit der Bundeswehr. Wer ist wieder
nicht anwesend? Der Herr Bundesverteidigungsminister.
({0})
Wir sollten ihm einmal eine Ansichtskarte aus dem deutschen Parlament schicken und ihm mitteilen: Hier wird
über die Situation unserer Soldaten gesprochen.
({1})
Wir erwarten, dass er anwesend ist und mit uns über die
Situation der Soldaten in der Bundeswehr diskutiert.
({2})
Fünf Anmerkungen will ich zum Bericht des Wehrbeauftragten machen.
Erstens. Ich freue mich sehr, dass Besuchergruppen aus
dem In- und Ausland in großer Zahl das Büro des Wehrbeauftragten aufsuchen und sich dort über seine Arbeit
und über die Situation der Bundeswehr informieren. Besonders freue ich mich über die Besucher aus den Staaten,
die früher zum Warschauer Pakt gehörten. Sie haben
großes Interesse an der Institution des Wehrbeauftragten,
weil sie die Notwendigkeit sehen, dass ihre Wehrpflichtarmeen das, was Gorbatschow ehemals Glasnost nannte,
nämlich die Auseinandersetzung und den offenen Umgang mit den Missständen im eigenen Bereich, dringend
nötig haben. Denn niemand sorgt effizienter für die Einhaltung der Menschenrechte und der Grundsätze der inneren Führung als der Wehrbeauftragte.
Zweitens. Im Jahresbericht des Wehrbeauftragten wird
schonungslos auf Unzulänglichkeiten und Missstände in
den Streitkräften hingewiesen. Angeführt wird auch das
Beispiel der Fernmeldeschule Feldafing, ohne dass Sie es
beim Namen genannt hätten. Dort wurde bei der Veröffentlichung der Planung der Bundeswehr am 31. Januar 2001
mitgeteilt, dass die Fernmeldeschule am Ort bleibe, ja sogar aufwachse - oder auf Hochdeutsch: vergrößert werde.
Dann hat wohl jemand dem Minister einige Dummheiten
ins Ohr geflüstert. Denn 14 Tage später wurde entschieden: Die Schule wird verlegt - wie es wörtlich heißt: irgendwohin in Bayern.
({3})
Noch immer ist nicht entschieden, ob sie wegkommt
und, wenn ja, wohin. Ich danke Ihnen, Herr Penner, dass
Sie diesen Beschluss und seine Auswirkungen aufgegriffen haben. Eineinviertel Jahre nach dem damaligen unseligen Beschluss gibt es noch keine Klarheit. Ich hoffe, dass
der Bundesverteidigungsminister einmal Souveränität zeigen und den damaligen Beschluss rückgängig machen
wird. Jeder weiß, dass der Verbleib am Ort mindestens
100 Millionen DM - oder 50 Millionen Euro - Steuergelder billiger ist, als die Verlegung an einen anderen Ort.
Geld sparen und Mitarbeitern der Bundeswehr und ihren
Familien einen Zwangsumzug mit Verlust der Jobs der
Ehefrauen, mit Schulwechsel für die Kinder und mit Verlust des Familienheims zu ersparen, das wäre wahrhaft
eine gute Sache. Herr Scharping, zeigen Sie einmal
Größe, indem Sie einen Fehler korrigieren!
({4})
Drittens. Im Bericht kritisiert der Wehrbeauftragte die
eine oder andere disziplinare Entscheidung. Völlig unkommentiert berichtet er von einem Vorgang, der aber
nicht unkommentiert bleiben darf. Im Kapitel über die
Frauen in den Streitkräften heißt es wörtlich:
Ein Zugführer forderte einen weiblichen Sanitätssoldaten
- Sie hätten schreiben können: eine Soldatin auf, einen Soldaten oral zu befriedigen. Dieser könne
hinterher berichten, wie es gewesen sei. Im Rahmen
des disziplinaren Ermittlungsverfahrens ergab sich,
dass der Zugführer auch eine andere Soldatin unmissverständlich zum Geschlechtsverkehr aufgefordert
hatte. Gegen den Zugführer wurde eine Disziplinarbuße von
- sage und schreibe 1 000 DM auf Bewährung verhängt.
Herr Penner, das kann es ja wohl nicht gewesen sein.
Die Macht eines Vorgesetzten bei der Bundeswehr ist ungleich größer als die eines Vorgesetzten in einem zivilen
Beschäftigungsverhältnis. Das Prinzip Befehl und Gehorsam zeichnet die Beziehung zwischen Vorgesetzten und
Untergebenen in den Streitkräften aus. Wer einer Aufforderung - wie es in dem Bericht heißt - nicht Folge leistet,
muss mit Problemen rechnen. Ich halte die disziplinare Reaktion auf diesen Vorfall für völlig unzureichend. 1 000 DM
und dann auch noch zur Bewährung ausgesetzt - da wird
ein gravierender Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung als Lappalie abgetan. Ich will wissen, ob der Zugführer noch Angehöriger der Bundeswehr ist. Ich will weiter wissen, ob Strafanzeige erstattet wurde und, wenn ja
- wovon ich ausgehe -, welchen Verlauf das Strafverfahren genommen hat. Es ist völlig unakzeptabel, wenn junge
Frauen, die zur Bundeswehr gehen wollen, durch diesen
Bericht den Eindruck bekommen müssen, sie würden dort
sexuelles Freiwild werden. Das kann nicht sein. Bitte
kümmern Sie sich darum, Herr Penner.
({5})
Sie sprechen viertens das Thema Gesundheitsbeschädigungen von sehr vielen Soldaten durch Radarstrahlen
an. Nach meinem Dafürhalten zeigen Sie viel zu viel Verständnis für eine Bundeswehrverwaltung, die statt der vom
Minister versprochenen großzügigen Behandlung und Bewertung der Vorgänge in unerträglicher Weise mauert.
Wenn von über 2 000 gemeldeten Fällen bisher, seit Bekanntwerden dieser Problematik, nur vier anerkannt wurden, dann riecht das sehr nach einem Skandal.
({6})
Ich habe vor eineinhalb Jahren gefordert, dass in diesen Fällen eine Umkehr der Beweislast eintreten müsse.
Nicht der an Krebs erkrankte Radarsoldat - er kann inzwischen verstorben sein - oder seine Witwe sollen beweisen
müssen, dass die Radarstrahlen zur Krebserkrankung geführt haben, sondern die Bundeswehr soll beweisen, dass
dies nicht der Fall war.
({7})
Die Soldaten mit ihren zum Teil gravierenden Schäden allein zu lassen und ihnen mit auf den Weg zu geben, sie
müssten eben einwandfrei nachweisen, dass die Erkrankung durch ihre Tätigkeit als Radarsoldaten verursacht
worden sei, dass die Bundeswehr hier Fehler gemacht
habe und dass die Soldaten selbst alle Schutzvorschriften
eingehalten hätten, wird dem schlimmen Sachverhalt
nicht gerecht.
({8})
Fünftens. Lassen Sie mich abschließend von einem
Fall berichten, der im Bericht des Wehrbeauftragten nicht
enthalten ist, der aber leider nicht als untypisch bezeichnet werden kann. Ein Bataillonskommandeur, der in
Bosnien eingesetzt war, sah die Unterversorgung der einheimischen Kinder mit Spielplätzen. Er wollte Abhilfe
schaffen und schaffte es tatsächlich, in Deutschland eine
nagelneue Ausstattung für einen Kinderspielplatz im Wert
von 18 000 DM zu organisieren. Er fand auch eine Spedition, die diese Spielplatzeinrichtung kostenlos nach Bosnien transportierte.
Daraufhin wurde er vom Kommandanten des amerikanischen Headquarters in Sarajevo eingeladen, bei der
Übergabe des Spielplatzes persönlich anwesend zu sein.
Er fand die Gelegenheit, mit einem NATO-Shuttle nach
Bosnien zu fliegen; wohlgemerkt: 40 Plätze blieben im
Flieger frei. Er machte aber den Fehler, sich in seinem
Dienstfahrzeug zum Flugplatz fahren und auch wieder abholen zu lassen. Er trat in Sarajevo in Uniform auf, um zu
zeigen, dass die Bundeswehr hinter diesem Geschenk an
die Kinder steht. All das führte zu Ärger ohne Ende.
Dieser Soldat trug durch sein persönliches Engagement dazu bei, dass die Beziehung der Bevölkerung zur
deutschen Bundeswehr in geradezu vorbildlicher Weise
gefördert wurde. Hätte er sich eine Dienstreisegenehmigung beschafft - die ihm wohl jederzeit gegeben worden
wäre - wäre alles in bester Ordnung. Dass eine solche nicht
vorlag, mag auch mit einer Rüge geahndet werden, aber
eine Versetzung von seinem Dienstposten und die Einleitung eines Verfahrens im August 2001 ohne Entscheidung
bis heute sind nicht in Ordnung.
Wir sollten solche Vorbilder der Bundeswehr ermutigen und sie nicht durch Verfahren entmutigen, wie es in
diesem Fall geschehen ist.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
als Deutscher Bundestag sind, glaube ich, zu Recht stolz
auf die Institution des Wehrbeauftragten. Jedes Jahr danken wir dem Amtsinhaber und seinen Mitarbeitern - so
auch dieses Jahr - voller Überzeugung für ihre Arbeit.
Die Institution des Wehrbeauftragten ist beispielhaft
für eine Haltung kritischer Loyalität und konstruktiver
Kritik. Von daher haben wir ein besonderes Interesse an
guten Arbeitsbedingungen des Wehrbeauftragten. Ich
denke, wir alle müssen mit Missfallen wiederum zur
Kenntnis nehmen, dass Überprüfungsersuchen des WehrHildebrecht Braun ({0})
beauftragten weiterhin gelegentlich fehlerhaft und verzögert bearbeitet werden.
An dieser Stelle wollte ich auf den bisherigen Ausschluss des Wehrbeauftragten vom Intranet der Bundeswehr eingehen. Zum Glück hat sich dieses Problem endlich
gelöst. Der erstgenannte Mangel muss jedoch unbedingt
abgestellt werden.
Der Bericht des Wehrbeauftragten - das wissen wir
oder sollten wir zumindest wissen - ist ein Mängelbericht,
der nicht beansprucht, ein Gesamtbild der inneren Lage
der Bundeswehr zu zeichnen. Umso wichtiger ist deshalb
die eindeutige Feststellung in diesem Bericht:
Die Bundeswehr duldet rechtsextremistisches und
fremdenfeindliches Verhalten nicht und geht dagegen konsequent vor.
Das können längst nicht alle Institutionen unserer Gesellschaft so von sich behaupten.
Seit Anfang des letzten Jahres sind alle Verwendungen
und Laufbahnen grundsätzlich für Frauen zugänglich. Der
Bericht des Wehrbeauftragten bringt in diesem Zusammenhang zwei Anregungen, die von uns intensiver - über
diese Stunde hinaus - verfolgt werden sollten.
({1})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur
in der zivilen Gesellschaft eine ganz zentrale Herausforderung, auch in den Streitkräften gewinnt diese Frage ein
immer stärkeres Gewicht. Der Wehrbeauftragte regt an,
die Möglichkeit von Teilzeitregelungen unter Berücksichtigung der Einsatzbereitschaft und der Gleichbehandlung der Soldaten genauer zu prüfen.
Etliche Frauen fühlten sich durch die Wehrdienstberater nur unzureichend über die Anforderungen des Soldatenberufs und den Truppenalltag informiert. Diese Erfahrung liegt in einer Linie mit den Erkenntnissen, die im
Bericht des Beauftragten für Erziehung und Ausbildung
beim Generalinspekteur, dem vorhin schon angesprochenen Löchel-Bericht, zum Ausdruck kommen, wonach manche Bewerber „völlig falsche Vorstellungen“ hätten und die
Arbeit der Kreiswehrersatzämter und Zentren für Nachwuchsgewinnung unter Bundeswehrangehörigen hart kritisiert wird.
Der Wehrbeauftragtenbericht gibt den Wunsch von
Frauen wieder, die Bundeswehr zunächst einmal unverbindlich über eine Art Praktikum kennen lernen zu können.
Diese Anregung trifft sich mit den immer stärker werdenden Forderungen von Bundeswehrangehörigen, vor allem
auch die Innenwerbung der Bundeswehr zu verbessern, für
die zufriedene Mitarbeiter die besten Werbeträger sind.
Es gibt - wenn wir ehrlich sind - in der Bundesrepublik bekanntermaßen des Öfteren ein Jammern auf hohem
Niveau. Auch ist Stimmungsmache aus parteipolitischem
Interesse und Medienverkaufsinteresse gang und gäbe.
Der Bericht des Wehrbeauftragten und vor allem auch der
Löchel-Bericht belegen aber, dass es auch dann, wenn
man das Obige abzieht, in der Bundeswehr nichtsdestoweniger verbreitete und vielfältige Unzufriedenheiten
gibt. Ich nenne dafür Beispiele.
Vorhin hat schon der Wehrbeauftragte auf den Bericht
des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr
hingewiesen, wonach Soldaten im Einsatz ihre unmittelbaren Vorgesetzten überwiegend positiv beurteilen,
während gegenüber höheren Vorgesetzten „vielfach ein
gravierender Vertrauensverlust zu verzeichnen“ sei.
({2})
Der Löchel-Bericht fasst die Stimmungslage von
Grundwehrdienstleistenden so zusammen - daran sehen
Sie, dass das Problem viel weiter geht -: Weiterhin sei der
Anteil der Wehrpflichtigen, die ihren Dienst positiv
sehen, relativ hoch. Allerdings mache sich das fast nur an
der Grundausbildung fest. Von den drei Schlüsselfragen
zur subjektiven Sinnhaftigkeit des Wehrdienstes - wurde
ich gebraucht, wurde ich gut behandelt, konnte ich meine
Kenntnisse und Lebenserfahrungen einbringen? - konnte
zu häufig nur die zweite Frage positiv beantwortet werden. Hieran sehen Sie - diejenigen, die länger mit der
Bundeswehr zu tun haben, wissen das genau -, dass dies
offensichtlich ein schon lange bestehendes Problem ist
und nicht erst in den letzten zwei Jahren entstanden ist.
Dies zu behaupten wäre unsinnig.
({3})
In demselben Bericht heißt es zu Einheitsführern, dass
diese sich zunehmend aus einer Führungsverantwortung
„stehlen“ würden, die ihnen „ad personam“ aufgetragen
sei. Schließlich heißt es, das Vertrauen zur militärischen
Führung sei nicht mehr vorbehaltlos, der politischen Leitung werde mit starken Vorbehalten begegnet.
Ich muss dazu anmerken, dass in diesen Berichten
keine Aussage zur Vertrauensstellung von uns, also des
Parlaments und der Fraktionen, in der Bundeswehr getroffen wird. Wir sind aber schlichtweg die Auftraggeber
von Auslandseinsätzen.
Diese Aspekte zusammen sind nach meiner Auffassung äußerst beunruhigende Signale, die wir sehr ernst zu
nehmen haben. Beschönigungen und Verdrängungen sind
genauso fehl am Platz wie parteipolitische Instrumentalisierungen und einseitige Schuldzuweisungen.
({4})
Ich betone das, auch wenn es angesichts des beginnenden
Wahlkampfes wahrscheinlich ein frommer Wunsch ist.
({5})
Eine letzte Anmerkung zur Wehrpflicht: Das Bundesverfassungsgericht hat die Pflicht der gesetzgebenden und
exekutiven Gewalt betont, die Wehrform zu bestimmen
und überzeugend wie plausibel zu begründen. An dieser
Stelle möchte ich nur auf einen Vorschlag zur allgemeinen
Dienstpflicht eingehen, der unter anderem von dem Herrn,
der sonst hier vorne sitzt, nämlich dem Vorsitzenden der
CDU/CSU-Fraktion, gemacht wurde. Dieser immer wieder
auftauchende Vorschlag ist wirklich rundum undurchdacht.
({6})
Er steht erstens im Widerspruch zum Internationalen
Recht. Zweitens würde die Umsetzung dieses Vorschlags
mehrere Hunderttausend Einsatzplätze im Jahr erfordern,
was selbstverständlich nicht arbeitsmarktneutral durchzuführen wäre. Die Folge davon wäre eine breite Entprofessionalisierung vor allem im sozialen Bereich. Es würde
den Bund einige Milliarden mehr kosten. Und schließlich:
Wer einen allgemeinen Pflichtdienst erwägt, sollte sich
zunächst einmal die Situation von freiwilligen Diensten
ansehen.
Tatsache ist, dass sich bisher pro Jahr erheblich mehr
junge Leute für den freiwilligen sozialen Dienst melden,
als aufgenommen werden können. Eine selbstverständliche Aufgabe in unserer demokratischen Gesellschaft ist,
zunächst einmal die freiwilligen Potenziale in der Gesellschaft zu fördern, wozu wir jetzt einen wichtigen gesetzlichen Schritt gemacht haben. Darauf kommt es an und
nicht darauf, als erstes auf Pflichtdienste zu setzen.
Ich fasse zusammen: Die politische Debatte um die
Wehrpflicht wird selbstverständlich weitergehen. Lassen
wir aber bitte die Idee der allgemeinen Dienstpflicht beiseite. Ansonsten würden wir nur in eine Sackgasse geraten.
Alle Wohlfahrtsverbände, die davon ein bisschen mehr
verstehen, sagen seit vielen Jahren, dass das Unsinn wäre.
Danke schön.
({7})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Heidi Lippmann von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Penner, ich möchte Ihnen
ganz herzlich für den vorliegenden Bericht und für Ihre
heute gehaltene Rede danken. Das Gleiche gilt auch für
Ihre Mitarbeiter, die Sie bei der Erstellung des Berichts
unterstützt haben.
Ich denke, dieser Bericht zeigt mehr denn je, wie sich
die Bundeswehr verändert hat und dass es sich längst
nicht mehr um eine Manöverarmee mit dem Auftrag der
Landes- und Bündnisverteidigung handelt, sondern um
eine Armee mit vielfältigen Einsätzen. Das geht hin bis zu
den Kampfeinsätzen, die die KSK seit Ende letzten Jahres in Afghanistan durchführt.
Sie haben richtig bemerkt, dass die Soldaten den mangelnden Primat der Politik immer mehr kritisieren. Dieser
wird als sehr fragwürdig angesehen. Viele Soldaten betrachten ihren Einsatz sogar als sinnlos. Zum einen wird
moniert, dass bei den Einsätzen keine politischen Lösungen erkennbar sind, und zum anderen, dass es insbesondere an einer Exit-Strategie fehlt.
In der „Frankfurter Rundschau“ von heute wird der Inspekteur des Heeres, Herr Generalleutnant Gudera, mit
den Worten zitiert, dass die hohe Belastung der Truppe
zwingend dauerhaft gemildert werden müsse. Das Heer
sei mit den zugestandenen Kräften, Mitteln und Umfängen auf Rand genäht und zum Teil überdehnt. Weiterhin
führt Herr Gudera aus - mit seinen Tönen gegenüber dem
Minister war er ja bisher eher leise -, dass sich die als
größer werdend empfundene Schere zwischen Auftrag
und Mitteln als negativ für die Stimmung auswirke.
({0})
Genau darüber muss hier und heute geredet werden.
Das habe ich in den Reden der Kolleginnen und Kollegen
vermisst. Der Auftrag lautet, immer mehr Auslands- und
Kampfeinsätze zu leisten. Dieser kann natürlich nicht mit
den desolaten Strukturen, die in der Bundeswehr vorhanden sind, einhergehen.
({1})
Wer außen- und sicherheitspolitisch um die Weltmeisterschaft spielen will - das will diese Bundesregierung ganz
eindeutig -, die Bundeswehr letztendlich aber gerade einmal auf dem Niveau der dritten Kreisklasse ausstattet,
sollte sich ernsthaft überlegen, wo er etwas falsch macht.
Die PDS fordert nicht die Anhebung der Ausstattung
auf das Niveau, das es ermöglichen würde, die sicherheitspolitische Weltmeisterschaft zu gewinnen,
({2})
sondern wir fordern ganz eindeutig, den Auftrag der Bundeswehr so zu interpretieren, wie er im Grundgesetz verankert ist, das heißt, ihn auf die Landes- und Bündnisverteidigung zu reduzieren.
({3})
Ich denke, die fehlende Anwesenheit des Herrn Ministers spricht für sich. Die Soldaten haben sich von der heutigen Debatte eine ganze Menge erhofft. Die Defizite, die
der Herr Wehrbeauftragte im Einzelnen angeführt hat, sollten offen ausgesprochen werden. An Herrn Scharpings
Stelle wäre ich allerdings auch nicht erschienen. Ich denke,
dass er sich die schallende Ohrfeige, die Herr Penner ihm
versetzt hat, mehr als verdient hat.
({4})
Kritik gibt es nicht nur im Bericht des Wehrbeauftragten. Des Weiteren gibt es Kritik vom BEA, von Herrn
Löchel, und - wie eben zitiert - von Herr Gudera. Außerdem haben sich die Kommandeure auf der Kommandeurstagung kritisch geäußert. Ich hoffe nur, dass die Generalität, die bisher schon oft gejammert hat, dass das
Ende der Fahnenstange erreicht sei, nicht wieder einknicken wird, wenn der nächste Auslandseinsatz vor der
Tür steht. Der Vertrauensverlust innerhalb der Truppe
kann nur aufgefangen werden, indem der Auftrag der
Bundeswehr endlich wieder auf die gesetzliche Grundlage zurückgeführt wird und nicht länger über einen Auslandseinsatz nach dem anderen nachgedacht wird.
Wir fordern ganz klar das, was der Herr Wehrbeauftragte angesprochen hat, zwölf Jahre nach der deutschen
Einheit endlich die Anpassung der Besoldung in Ost
und West vorzunehmen.
({5})
Frau Kollegin Merten, Sie haben angeführt, dass seit 1998
23 Milliarden Euro Neuinvestitionen im Rüstungsbereich
getätigt wurden. Was alles auf der Wunschliste von Herrn
Scharping steht, wissen wir. 50 Millionen Euro im Jahr
würde die Angleichung, also gleicher Wehrsold in Ost und
West, kosten. Dass Sie dazu zwölf Jahre nach der Einheit
nicht bereit sind, bewerten die Soldaten in der Truppe
dementsprechend.
({6})
Das führt natürlich dazu, dass die Nachwuchsgewinnung
immer schwieriger wird.
({7})
- Es gibt viele andere Punkte, Herr Kollege Zumkley, die
ich noch gerne ansprechen würde.
({8})
Zum Schluss möchte ich einen ganz wichtigen Punkt
ansprechen. Statt öffentlich über die Unverfrorenheit
nachzudenken, ob und wie Soldaten mit deutschem Hoheitsabzeichen künftig eventuell bei einem Einsatz im
Nahen Osten israelischen Soldaten und der israelischen
Zivilbevölkerung gegenüberstehen oder bei einem Angriff auf den Irak mitwirken sollen, fordern wir Sie ganz
klar auf: Ziehen Sie alle Truppen aus der Golfregion
zurück! Schaffen Sie mit Beginn der nächsten Legislaturperiode die Wehrpflicht ab! Denken Sie nicht länger über
die Einführung weiterer Zwangsdienste nach!
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Mein letzter Satz, Herr Präsident.
Setzen Sie sich dafür ein, dass die Soldaten gemäß dem
Auftrag, der im Grundgesetz verankert ist, ausgerüstet sind!
({0})
Reduzieren Sie die Bundeswehr auf das Ausmaß, das für
diesen Auftrag erforderlich ist! Dann können Sie die Bundeswehr finanziell adäquat ausstatten.
Danke schön.
({1})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Walter Kolbow.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst dem Herrn Wehrbeauftragten für seinen Bericht, die klare Zielansprache
und seine bewährten Bemühungen im Jahre 2001 sehr
herzlich danken. Diesen Dank möchte ich ebenfalls seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch im Namen
von Bundesminister Scharping aussprechen. Herr Bundesminister Scharping ist im Zusammenhang mit internationalen Verpflichtungen leider verhindert. Sie können jedoch versichert sein - diejenigen, die mich kennen, wissen
das -, dass der Inhalt dieser Debatte den Bundesminister
der Verteidigung unmittelbar erreicht.
({0})
Der Wehrbeauftragte hat auch im Jahr 2001 eine Reihe
von berechtigten Unzulänglichkeiten, individuelles Fehlverhalten und andere Defizite in seinen Bericht aufnehmen müssen. Aber ich möchte schon darum bitten, dass
man diesen Bericht - der, wie Herr Nachtwei zu Recht gesagt hat, keine Zustandsbeschreibung der Bundeswehr
ist - nicht zum politischen Schwarz-Weiß-Malen nutzt
und auch nicht politisch instrumentalisiert.
({1})
Das hat die Opposition im Übrigen heute Morgen bei
der Debatte zum Parteiengesetz gemacht. Wenn sich das
auch bei objektiven Berichten über Einrichtungen unseres
Staates wie ein roter Faden durch Ihr politisches Handeln
zieht, ist die Glaubwürdigkeit der Beteiligten ein weiteres
Mal auf den Prüfstand gestellt.
({2})
Ich sage dies auch im Zusammenhang mit den Berichten, die wir heute debattieren. Der Kollege Siebert hat hier
einseitige Beurteilungen vorgenommen und sich dabei
unter anderem auch auf den Löchel-Bericht bezogen, der
hier eingeführt wurde und ein bewährtes Instrument der
militärischen Führung ist. Wenn dies medial in der Weise
genutzt wird, dass sich diejenigen, die darauf vertrauen,
dass sie sich beschweren können, ohne als Quelle identifiziert zu werden, hintergangen fühlen, dann erweisen Sie
der inneren Führung in unserem Lande und unseren Soldatinnen und Soldaten keinen guten Dienst.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Recht
setzt der Wehrbeauftagte einen Schwerpunkt beim Einsatz.
Dies entspricht den aktuellen Herausforderungen. Zurzeit
befinden sich über 10 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten zusammen mit den Streitkräften unserer Partner im
Einsatz. Zu Recht hat der Herr Wehrbeauftragte die Leistungen und das Engagement der Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr im Einsatz, aber auch hier in Deutschland als sehr bemerkenswert herausgestellt und gelobt.
Im Zusammenhang mit diesen schwierigen Einsätzen ist
natürlich jeder Soldat und jede Soldatin nicht nur berechtigt, sondern auch von uns aufgefordert, das, was ihm bzw.
ihr auffällt und ihn oder sie beschwert, aufzuschreiben und
dem Wehrbeauftragten, also dem bewährten Mann für diese
Fälle, zu übermitteln, auch wenn es gegenüber dem direkten
oder auch indirekten militärischen Führer im Moment nicht
opportun erscheint. Deswegen gehe ich davon aus, dass wir
uns immer - nicht nur dann, wenn wir uns über einen Bericht des Wehrbeauftragten unterhalten, sondern auch dann,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir darüber reden,
wie es der Truppe im Einsatz geht - mit solchen Anmerkungen und wichtigen Beschwerden auseinander setzen
werden. Das gilt natürlich auch für das Jahr 2002.
Die Einsätze werden politisch und militärisch ständig
überprüft. Die Belastungen werden nicht nur im Hinblick
auf ihre Verhältnismäßigkeit untersucht, sondern es wird
in der Wirklichkeit darauf abgestellt. Es wird von den Soldatinnen und Soldaten nur das verlangt, was wir aufgrund
der politischen Entscheidungen von ihnen auch verlangen
müssen. Bestmögliche Schutzmaßnahmen sind garantiert. Im Übrigen habe ich von Herrn Merz und von Herrn
Glos nach ihrem Besuch in Afghanistan nicht gehört, dass
es dort an Schutzmaßnahmen oder an anderen Dingen für
unsere Soldaten fehle. Das ist gut so.
({4})
Herr
Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Immer.
Bitte
schön.
Herr Staatssekretär Kolbow,
sind Sie der Meinung, dass es dem Soldaten, der sich an den
Wehrbeauftragten oder an andere wenden soll, in besonderer Weise Mut macht, sich überhaupt zu äußern, wenn der
Verteidigungsminister nach einer Kommandeurstagung,
auf der Kritik geäußert wurde, Bandmitschnitte abholen
lässt, um sich dann diejenigen vorzunehmen, die kritisiert
haben?
({0})
Frau Kollegin, ich bin der Meinung, dass die Abläufe einer Kommandeurstagung, die
natürlich auch einen internen Wert haben, so genutzt werden sollen, dass man die Informationen bekommt, die
man braucht. In diesem Falle sind die Dinge auch öffentlich überpointiert und überbewertet worden. Schaut man
genau hin, stellt man fest, dass dort nichts Kritisches und
Auffälliges passiert ist.
({0})
Herr
Staatssekretär Kolbow, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Lietz?
Ja, bitte schön.
Frau
Lietz, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wenn
Sie es so sehen, dass man eine Kommandeurstagung nur
auf diese Weise im Verteidigungsministerium dokumentieren kann, dann frage ich Sie, ob vom Verteidigungsminister in der Vergangenheit regelmäßig Bandmitschnitte
solcher Kommandeurstagungen angefordert wurden.
({0})
Liebe Frau Kollegin, Sie gehen
von der irrigen Annahme aus, dass nur eine Kommandeurstagung die Informationsdichte für den Bundesminister der Verteidigung, die politische Leitung und die militärische Führung herstellt. Wir sind im intensiven Dialog
mit allen, die uns Informationen geben können. Deswegen wird natürlich auch der Inhalt der Kommandeurstagung benutzt. Aber dies ist nur eine Möglichkeit unter vielen, um das richtige Bild über die Lage zu gewinnen.
({0})
Das richtige Bild haben wir.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Auslandsverwendungszuschlag, AVZ, wurde ebenso wie die Dauer der
Auslandseinsätze angesprochen. Im Hinblick auf den AVZ
weise ich darauf hin, dass wir durch unsere Besuche natürlich immer im Dialog mit den Soldaten stehen und mit der
militärischen Führung zusammenarbeiten. Insoweit müssen wir auch auf Anraten der militärischen Führung die politische Verantwortung für die Einsatzdauer von sechs
Monaten übernehmen. Deshalb musste der Deutsche
Bundestag den FDP-Antrag hierzu ablehnen.
({2})
Wir wissen, dass wir zwar durch Flexibilität und die
Anwendung von Splitting-Verfahren insbesondere in Härtefällen individuelle Erleichterungen erzielen, dass die
Überprüfung der Dauer dieser Auslandseinsätze jedoch
eine ständige Aufgabe ist. Das ist für uns selbstverständlich. Lassen Sie uns auch über Ihre Erkenntnisse hierzu im
Dialog bleiben. Sie wissen, dass dies im Zusammenhang
mit unseren internationalen Partnern notwendig ist.
Hinsichtlich des Auslandsverwendungszuschlages
sind wir darauf angewiesen, Recht und Gesetz sowie die
Verwaltungsregelungen einzuhalten. Auch sollten wir uns
darüber im Klaren sein, dass wegen der Unterschiedlichkeit des individuellen Einsatzortes das Gute der Feind des
Besseren ist.
Herr Kollege Kolbow, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Herr Kollege Braun hat vorhin
zwei Aussagen gemacht, die ich individuell mit ihm erörtern möchte.
({0})
- Nein, dazu habe ich jetzt keine Lust.
({1})
Sie erlauben also keine Zwischenfrage?
Nein, weil ich mich mit Ihnen
über zwei Äußerungen in Ihrer Rede auseinander setzen
möchte, auf die ich hier nicht eingehen will. Dies würde
meine Redezeit in empfindlicher Weise tangieren, weil
ich dazu länger bräuchte. Ob Sie mir dann aufgrund der
öffentlichen Situation zu diesem Gespräch zur Verfügung
stehen, weiß ich nicht.
({0})
Meine Damen und Herren, Frau Kollegin Mertens hat
auf die Tatsache hingewiesen, dass wir seit diesem Jahr ein
Attraktivitätsprogramm haben - ich will es auch als Fairnessprogramm gegenüber Soldaten bezeichnen -, bei dessen Umsetzung wir auf einem guten Weg sind. Wir haben
eine Reihe von Maßnahmen ergriffen; sie sind erwähnt
worden. Ich darf mich inhaltlich voll darauf beziehen.
Die 42 000 Beförderungen, die wir in diesem Jahr vornehmen können, geben eben auch Ihnen von der Opposition Gelegenheit, dies aufzunehmen, es mit zu vertreten
und sich hierzu zu äußern. Damit können Sie eine Wiedergutmachung im Hinblick auf Ihre jahrelangen Versäumnisse betreiben,
({1})
als Sie nicht für Attraktivität gesorgt und damit der jetzigen Regierung das hinterlassen haben, was wir mit dieser
Reform von Grund auf zu bewältigen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Ende will
ich mich noch einmal sehr herzlich bei dem Herrn Wehrbeauftragten bedanken, insbesondere für seine Bewertung
der Öffnung aller Laufbahngruppen für Frauen. Dies
ist ein Meilenstein, mit dem wir sorgfältig umgehen sollten und der uns bei der Erfüllung unserer Aufgaben einen
guten und zusätzlichen Dienst erweist. Auf diesem Weg
wollen wir insgesamt weitergehen, wobei wir die Kritik
an bestimmten Punkten anerkennen, an denen wir arbeiten, um sie zu bewältigen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort
hat der Kollege Benno Zierer von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Ich weiß nicht, warum der Hinweis des Kollegen Siebert auf den Löchel-Bericht den
Herrn Parlamentarischen Staatssekretär so in Rage gebracht hat.
({0})
Ich meine, es war ein gewisser Hilfeschrei, der hier zu
vernehmen war. Hierfür ist ein offenes Ohr notwendig. Es
geht nicht darum, diese Dinge unter Verschluss zu bringen. Es betrifft schließlich die Befindlichkeit unserer Soldaten.
({1})
Zunächst stelle ich fest, dass der Bericht dem Bundestag innerhalb von vier Wochen nach Erscheinen zugeleitet wurde. Das ist im Vergleich zu den Vorjahren also sehr
rechtzeitig erfolgt. Dafür darf ich dem Büro von Herrn
Dr. Penner und Herrn Ministerialdirigenten Dr. Seidel und
seinen Mitarbeitern sehr herzlich danken.
({2})
Die Bundeswehr befindet sich, wie eingangs des Berichtes konstatiert wird, in einer Phase des Umbruchs, und das
seit Jahrzehnten. Mit der deutschen Einheit und dem Ende
des Warschauer Paktes kam der ganz große Knall, nämlich
die Abwicklung der Nationalen Volksarmee und die Verschmelzung ihrer Reste mit der Bundeswehr, die Truppenreduzierungen auf 370 000, auf 340 000, auf 310 000 Mann
und der Paradigmenwechsel von der Abschreckungs- und
Territorialverteidigungsarmee zur Interventionstruppe mit
weltweitem Einsatzhorizont.
Genau genommen ist die Bundeswehr seit 20 Jahren
nicht mehr zur Ruhe gekommen. Was das für eine Armee
bedeutet, muss wohl nicht eigens betont werden: ständige
Verunsicherung, keinerlei Planungssicherheit, Demotivation und Skepsis in der Truppe. Die Soldaten fühlen sich
von der politischen Führung im Stich gelassen. Sie sollen
immer mehr leisten und finden immer weniger Gehör für
die großen strukturellen Probleme, aber auch für ihre alltäglichen großen und kleinen Sorgen.
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Standorte geschlossen, Verbände und Einheiten aufgelöst, zusammengelegt oder umgegliedert und Dienststellen abgeschafft.
Viele Angehörige der Streitkräfte mussten im Gefolge der
ständigen Umstrukturierungen ihren Wohnort wechseln,
manche sogar mehrmals hintereinander. Oft wurden Truppenteile oder militärische Einrichtungen zunächst für den
Erhalt oder sogar für einen Aufwuchs vorgesehen und
dann doch plötzlich verringert oder ganz abgebaut. Das
alles hat der Truppe geschadet.
Vor diesem Hintergrund muss der Bericht des Wehrbeauftragten gesehen werden und darum wiegen jede Klage
und jede Beschwerde doppelt schwer.
({3})
Dazu kommen die chronische Unterfinanzierung und das
Fehlen eines verbindlichen, gesellschaftlich geklärten
militärischen Leitbildes, das zukunftsorientiert und als
Grundlage für eine mittel- und langfristige Streitkräfteplanung tauglich ist.
Zusammenfassend muss ich feststellen, dass die Bundesregierung die Bundeswehr sträflich vernachlässigt hat.
({4})
- Wir reden von der Zukunft von heute an. Ein Blick
zurück bringt uns nicht mehr viel. - Sie hat sich weder um
die Befindlichkeit der Soldaten gekümmert noch darum,
wie diese ihren Auftrag erfüllen sollen, wenn es an allen
Ecken und Enden brennt.
({5})
Der Bundesminister der Verteidigung weigert sich, den
Tatsachen ins Auge zu sehen und faselt,
({6})
wie jüngst auf der Kommandeurstagung, von einem guten
Zustand der Truppe.
Das Versagen der politischen Führung dokumentiert
sich auch in der nach wie vor ungelösten Frage, welche
Bundeswehr wir wollen. Wie soll eine deutsche Armee der
Zukunft aussehen?
({7})
Welche Aufgaben hat sie zu bewältigen? Welchen Beitrag
wollen wir im Bündnis leisten? - Meine Damen, meine
Herren, wir können diese Fragen nicht länger vor uns herschieben.
Die Frage nach der Wehrform der Zukunft kann auch
nicht aus dem Blickwinkel des zivilen Ersatzdienstes beantwortet werden. Auch die derzeit laufende so genannte
Strukturreform, die ohnehin als gescheitert betrachtet
werden darf, formuliert keine Antworten, sondern versucht, sich mit einem kräftigen Sowohl-als-auch daran
vorbeizumogeln.
Das Reservistenwesen, das anerkanntermaßen ein bewährtes Bindeglied zwischen Armee und Bevölkerung
darstellt und auch gesellschaftspolitisch ein relevanter
Faktor ist, bedarf einer Neuausrichtung. Aber die angekündigte neue Reservistenkonzeption lässt noch immer
auf sich warten.
({8})
Auch sie muss sich an der Frage orientieren, welche Bundeswehr wir für die Zukunft wollen.
({9})
- Zurückzuschauen bringt uns nicht viel. Ich habe das vorhin schon gesagt.
Ein weiterer wunder Punkt ist die Material- und
Ersatzteillage. Der permanente Investitionsstau hat - auch
in manchen Kasernen insbesondere im Westteil unseres
Landes - zu höchst unerfreulichen Zuständen geführt. Die
baulichen Anlagen sind vielerorts bereits in den Verfall
übergegangen.
({10})
Die sanitären Verhältnisse spotten in vielen Fällen jeder
Beschreibung. Ich meine, das ist nicht nur einer modernen
Armee, sondern auch unseres ganzen Landes unwürdig.
Es ist unerträglich, dass die drittmächtigste Wirtschaftsnation der Erde in ihren Streitkräften teilweise Zustände
wie in einem Drittweltland duldet.
Nur kurz geht der Bericht auf das Problem der Wehrgerechtigkeit ein. Dennoch darf ich an dieser Stelle anmerken - dies ist eine Tatsache -: Wir alle wissen, dass nur noch
ein Viertel aller wehrtauglichen jungen Männer tatsächlich
eingezogen wird. Tatsache ist auch, dass die Verkürzung
des Wehrdienstes auf neun Monate die Verwendungfähigkeit der Wehrpflichtigen weiter einschränkt und ernsthafte ökonomische Fragen aufwirft.
({11})
Wollen wir uns künftig mit einem „soldier light“ zufrieden geben? Welchen Dienst soll dieser „soldier light“ versehen? Will man allen Ernstes den seit Gründungszeiten
verrufenen Gammeldienst weiterpflegen?
Der Bericht stellt viele Mängel fest, die einer Kommentierung wert wären, etwa den Beförderungs- und
Verwendungsstau oder die Mängel bei der Auszahlung
der Auslandsverwendungszulage. Darüber ist schon gesprochen worden. Der Bericht vermerkt zwar, dass die
Personalsituation unbefriedigend ist, meidet aber die logische Schlussfolgerung, dass dies auch eine Konsequenz
des lädierten Ansehens unserer Armee und ihrer Einrichtungen ist. Der Imageverlust der Bundeswehr, den ihr die
politische Führung durch ihr Versagen zugefügt hat, führt
dazu, dass sich viele junge Menschen trotz ihrer positiven
Grundeinstellung und ihres beruflichen Wunschbildes gegen eine Verpflichtung entscheiden.
({12})
Denn wer bei einem ersten Informationsbesuch in
einer Kaserne nahezu russische Zustände sowie miserable
hygienische und sanitäre Verhältnisse antrifft, der hat
- ich darf das einmal ganz salopp sagen - vom Bund die
Schnauze voll.
Herr Kollege Zierer, kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Die Frage der Besoldung
ist das eine. Sie ist aber nicht das einzig Wichtige. Ebenso
stimmig müssen Ansehen, Selbstverständnis und inneres
Gefüge der Streitkräfte sein. Ich appelliere daher an alle
Verantwortungsträger: Kümmern Sie sich um Ihre Soldaten, ehe Sie sie in alle Winkel der Welt schicken! Geben
Sie der Bundeswehr das, was sie jetzt dringend braucht:
Konsolidierung und ein zukunftsfestes Leitbild! Verzögern Sie nicht länger eine überfällige Wehrreform, die diesen Namen auch verdient!
Vielen Dank.
({0})
Als letzter
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort
der Kollege Gerhard Neumann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussprache über
den Jahresbericht 2001 des Wehrbeauftragten nehme ich
zum Anlass, einige meiner persönlichen Gedanken in die
Diskussion einzubringen. Als Thüringer Abgeordneter
habe ich drei Legislaturperioden im Verteidigungsausschuss sowohl in der Opposition als auch in der Regierungsverantwortung mitgewirkt.
({0})
- Danke. - Meine Position zur Bundeswehr ist eindeutig:
Die Bundeswehr ist so, wie sie sich entwickelt hat, eine
wertvolle, unverzichtbare und tragende Stütze unseres
Landes.
({1})
Ich appelliere an alle Abgeordneten, diese Tradition zu
pflegen und die Bundeswehr mit kleinkariertem Tagesgezänk zu verschonen.
({2})
Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt wie der aus
dem letzten Jahr die inneren Probleme der Bundeswehr in
großer Sachlichkeit auf. Dafür bedanke ich mich ganz
herzlich bei Herrn Penner und seinen Mitarbeitern. Sein
Bericht unterscheidet sich wohltuend von den Aufgeregtheiten und den in das Persönliche gehenden Entgleisungen Einzelner, die dann genüsslich durch die Medien verbreitet werden.
Der Bericht lässt in seiner Gesamtheit folgende Aussagen zu. Erstens. Die Bundeswehr hat im Jahr 2001 ihre
Aufgaben erfüllt. Die Auslandseinsätze haben das internationale Ansehen der Bundeswehr und der Bundesrepublik spürbar erhöht.
({3})
Zweitens. Die Bundeswehrreform ist in der Zielrichtung richtig. Die Reform nimmt immer mehr Gestalt an.
Drittens. Die Bundeswehr steht trotz aller Unkenrufe
aus dem Wald nicht vor dem materiellen Aus. Die Moral
der Truppe ist gut.
({4})
Viertens. Es gibt zwar Negativvorkommnisse. Aber sie
sind nicht das Bestimmende, das Charakteristische.
Millionen von jungen Männern, zunehmend auch
Frauen, wurden in einem wichtigen Lebensabschnitt von
den Verhältnissen in der Bundeswehr mitgeprägt. Viele
verfolgen mit Kopfschütteln und mit Unverständnis die
Art der öffentlichen Auseinandersetzung, die sich öfter
nahe an der persönlichen Beleidigung befindet. Hinsichtlich der Interessenvertretung ist es notwendig, persönliche Profilierungsversuche zulasten des Ansehens der
Bundeswehr gemeinsam zu verurteilen.
({5})
Die ständige Neuausrüstung der Bundeswehr in Ableitung der äußeren und inneren Entwicklungen war, ist
und bleibt zu allen Zeiten eine unverzichtbare Aufgabe.
Das zehnjährige Aussetzen dieses Prozesses in einer sich
rasant verändernden Welt schafft heute einen erhöhten Finanzbedarf und zusätzlichen Zeitdruck im Hinblick auf
den Abbau der aufgestauten notwendigen Reformen.
Spannungen sind dadurch vorprogrammiert. Spannungen
sind nichts Außergewöhnliches. Spannungen sind Ausdruck für das Ringen, Versäumtes aufzuholen.
Uns Abgeordneten sollte in der täglichen Arbeit stärker
bewusst sein, dass Strukturveränderungen dieser Dimension Zeit bedürfen, weil viele Familien einzubeziehen
sind und weil Ausrüstung sowie komplizierte Technik in
Höhe vielfacher Milliarden betroffen sind, bei denen
meist ein zeitlicher Abstand von vielen Jahren zwischen
Bedarfsspezifikation, Auftragsauslösung und tatsächlicher Bereitstellung in der Truppe besteht. Die Zeitspanne
für die vorgeschalteten politischen Entscheidungsprozesse sollte hierbei bitte nicht vergessen werden. Das
Denken in Legislaturperioden ist wenig hilfreich; angemessene Kontinuität ist gefragt.
Was bedeutet das für unsere Arbeit?
Erstens. Der Ansatz der Bundeswehrreform ist langfristig ausgerichtet und richtig. Sie muss zügig fortgeführt
und darf nicht kurzatmig zerredet werden.
({6})
Zweitens. Die Bereitschaft der Bundesrepublik, die Bundeswehr international einzusetzen, muss zwingend an die
tatsächlichen Fähigkeiten der Bundeswehr gekoppelt sein.
Die Fähigkeiten der Bundeswehr werden als Ergebnis der
Reform wachsen. Eine Überforderung der Bundeswehr
- auch wenn sie nur zeitweilig stattfindet -, sei sie politisch,
personell oder durch die Ausrüstung bedingt, hat katastrophale Folgen und ist unter allen Umständen zu vermeiden.
Ich denke in diesem Zusammenhang an das Beispiel aus
Holland. Wir kennen den Bericht aus Srebrenica.
Drittens. Die Welt richtet sich nicht ausschließlich
nach unseren Terminen. Wenn sich die Welt schneller oder
anders entwickelt, als wir heute denken, dann ist die jetzige Reform trotzdem nicht falsch. Nein, dann müssen
Tempo und Inhalte der Bundeswehrreform vielmehr erneut auf den politischen Prüfstand und den veränderten
Weltbedingungen angepasst werden. Das ist die vornehmste Pflicht des Bundestages, also unser aller Pflicht.
Zum Schluss komme ich zu einem Punkt, der mich immer wieder bedrückt: Der Wehrbeauftragte, Herr Penner,
hat in seinem Bericht die Angleichung der Einkommen
in der Bundeswehr zwischen West und Ost erneut, also
zum wiederholten Male, dringend angemahnt. Wir müssen uns einmal vorstellen, dass junge Männer und Frauen,
die 1990, im Jahr der Einheit, eingeschult wurden und
jetzt Dienst in der Bundeswehr leisten können, schon wieder bestraft werden. Sie haben die DDR gar nicht kennen
gelernt und sie spielt in ihren Köpfen keine Rolle. Dennoch werden sie immer noch bestraft.
({7})
- Doch, es ist eine Bestrafung.
({8})
- Gut, sie werden nicht gleich behandelt. Darauf gehe ich
gerne ein.
({9})
Wenn ich aus diesem Parlament ausscheide, werde ich
feststellen müssen, dass das ein Punkt ist, den wir zwölf
Jahre lang angegangen sind. Wir haben zwar einiges erreicht; aber es muss ein Umdenken in den Köpfen der
Bundes-, aber auch der Landespolitiker geben. Es muss
ein Umdenken stattfinden.
({10})
Ich spreche alle Abgeordneten dieses Parlamentes quer
durch die Parteien an: Vielleicht sollten wir dieses Problem für die Bundeswehr lösen, weil ihr Einsatz ein besonderer Einsatz ist.
Ich bedanke mich für das Zuhören.
({11})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Jahresbe-
richtes des Wehrbeauftragten auf Drucksache 14/8330 an
den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 25 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Budgets in der gesetzlichen Krankenversicherung ({0})
- Drucksache 14/5225 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 14/8793 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Lohmann ({5}), Horst Seehofer, Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Abschaffung der sektoralen Budgets in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksachen 14/4604, 14/8793 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann ({6})
Der Ausschuss für Gesundheit hat in seine Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8793 den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4604 einbezogen, über den jetzt ebenfalls abschließend beraten werden soll. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
ist es so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch hiergegen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Klaus Kirschner von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Kirschner.
({7})
So ist das bei uns.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten
jetzt einen Gesetzentwurf und einen Antrag der CDU/
CSU-Fraktion, die beide von der Realität längst überholt
sind.
({0})
Gerhard Neumann ({1})
- Hören Sie doch mal zu! - Sowohl der Gesetzentwurf als
auch der Antrag sind nichts anderes als Rosstäuscherei.
Sie wollen den Ärzten suggerieren, Sie würden die Budgets mit den Regelleistungsvolumina abschaffen, damit
die Ärzte in Erwartung höherer Honorarzuwächse Sie
dann im Wahlkampf unterstützen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Hoppe, die Bundeszahnärztekammer und die Apothekerkammer haben am Dienstag
bereits indirekt den politischen Schulterschluss mit Ihnen
geübt. Ausgerechnet diese Lobbyisten warnen vor einem
ausschließlich an ökonomischen Interessen ausgerichteten Gesundheitswesen.
({2})
Ihr eigener Gesetzentwurf allerdings - das will ich
schon verdeutlichen - führt Ihre propagierte Absicht ad
absurdum. Sie halten an den Gesamtvergütungen fest.
Sie wollen, dass es im Vorhinein Budgets auf der Grundlage fester Punktwerte für Leistungen gibt. Gleichzeitig
sollen für die einzelnen Ärzte Regelleistungsvolumina
vereinbart werden. Das bedeutet: Übersteigt die vom
einzelnen Arzt abgerechnete Leistungsmenge dieses
Regelleistungsvolumen, werden die darüber hinausgehenden Leistungen mit abgestuft fallenden Sätzen vergütet.
({3})
Das ist der Versuch der Quadratur des Kreises mit festem
Punktwert und Budget. Das ist der Inhalt Ihres Gesetzentwurfes.
Auch der Berufsverband derAllgemeinärzte hat dies
durchschaut. Ich darf an die Stellungnahme erinnern, die
er zu Ihrem Gesetzentwurf abgegeben hat. Darin heißt es:
Der Grundsatz der Budgetierung wird damit nicht aufgegeben, sondern nur transformiert auf die Ebene starrer individueller Praxisbudgets.
({4})
Budgets sind Budgets, Herr Kollege Lohmann, auch
wenn Sie es anders nennen und das nicht zugeben wollen.
Auch Sie wissen aus Erfahrung - Sie sind in diesem politischen Bereich lange genug dabei -: Ohne Budgets ist die
Krankenversicherung nicht zu steuern.
({5})
- Aber kein Euro-Glanz wie vielleicht bei einigen Leistungserbringern, wenn sie Ihren Gesetzentwurf lesen.
Im Übrigen: Ein Blick in das Gesetz - ({6})
- Genau. - Ich erinnere an § 85 im Sozialgesetzbuch V. Darin
ist den Kassenärztlichen Vereinigungen im Rahmen der Honorarverteilung die Möglichkeit der Regelleistungsvolumina
gegeben. Was soll eigentlich Ihr Gesetzentwurf? Die
Regelung wird nicht angewandt, da Praxisbudgets im
Rahmen des EBM, des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes, medizinisch nicht begründeten Mengenausweitungen
wesentlich besser entgegenwirken. Spätestens bei Ihrem
Bekenntnis - das ist auch Teil Ihres Gesetzentwurfes - zur
stringenten Beitragssatzstabilität nach § 71 Sozialgesetzbuch V werden die Ärzte aus ihren Honorarträumen
gerissen und wieder hellwach sein. Das prophezeie ich Ihnen.
({7})
Mit Ihrem eindeutigen Bekenntnis zu § 71 bekennen Sie
sich endlich schwarz auf weiß dazu,
({8})
dass ausreichend Geld für die Vergütung der ärztlichen
Behandlung vorhanden ist.
({9})
Wenn das so ist, erklären Sie aber auch den Patienten,
warum Sie in Ihrem Wahlprogramm die Einführung so genannter Grund- und Wahlleistungen einfordern. Das ist
doch nichts anderes, als über Leistungskürzungen und
Verlagerung von der Solidargemeinschaft auf den Geldbeutel des Einzelnen mehr Geld von den Kranken zu verlangen.
({10})
- Lieber Kollege Lohmann, man muss diese Dinge ja einmal zusammensehen.
({11})
Anstatt die Qualität der Leistungen und damit die
Effizienz zu steigern - darum muss es doch eigentlich gehen -, wollen Sie Geld zugunsten der Leistungserbringer
umschichten. Das ist Ihre Botschaft. Bei Ihnen steht nicht
der Patient im Mittelpunkt, sondern sein Geldbeutel und
letzten Endes die Einkommensinteressen der Leistungserbringer.
({12})
Meine Damen und Herren, damit komme ich zum
zweiten Teil Ihres merkwürdigen Gesetzentwurfs, zur
Forderung nach Abschaffung der Arznei- und Heilmittelbudgets. Ist Ihnen eigentlich noch nicht aufgefallen,
dass das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz in Kraft
ist? Welches Budget wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf
eigentlich abschaffen? Es ist doch lächerlich und eine Zumutung für den Bundestag, dass wir heute über einen Gesetzentwurf zur Abschaffung von etwas nicht mehr Vorhandenem abstimmen sollen.
({13})
- Nein, das ist kein Quatsch. Das ist nun einmal Fakt.
({14})
- So ist es.
Hätte man die Arzneimittelbudgets gemäß Ihrem Vorschlag aufgehoben, wären die Kassenärztlichen Vereinigungen aus der Verantwortung für die Arzneimittelausgaben entlassen. Liest man dazu die Begründung in Ihrem
Gesetzentwurf, dann kann ich nur sagen: Widersprüchlicher geht es nun wirklich nicht mehr. Sie weisen auf die
hohen Ausgabenzuwächse von 1999 bis 2000 im Arzneimittelbereich hin, beklagen aber gleichzeitig eine angebliche Rationierung in der Arzneimitteltherapie. Was gilt
nun eigentlich? Der Kollege Dr. Bauer, den ich ja sonst
sehr schätze, hat sich in der Aktuellen Stunde in einer der
letzten Sitzungswochen am 13. März - ich habe das extra
noch einmal im Protokoll nachgelesen - zu der Behauptung verstiegen: Die rot-grünen Gesundheitspolitiker
haben den sozial Schwachen die Möglichkeit genommen, die Medikamente zu bekommen, die sie
brauchen.
({15})
Das wird vor dem Hintergrund einer Aktuellen Stunde zu
den Ausgabensteigerungen im Arzneimittelbereich
von 11,2 Prozent im Jahre 2001 gesagt!
Einerseits prangern Sie also Ausgabensteigerungen an,
andererseits stellen Sie Rationierung fest. Ich frage Sie:
Was gilt denn nun eigentlich? Sind im vergangenen Jahr,
wo Arzneimittel in Höhe von 43,8 Milliarden DM bzw.
22,3 Milliarden Euro zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wurden, nun zu viel oder zu wenig Arzneimittel verordnet worden? Irgendwo müssen Sie
schon einmal sagen, was nun eigentlich gilt.
({16})
Sonst werden Sie letzten Endes nicht mehr ernst genommen.
Sie spielen sich in Ihrem Gesetzentwurf als Hüter von
Patienteninteressen auf. In der Begründung schreiben Sie
nämlich:
Patienten, die eine hochpreisige Arzneimitteltherapie
benötigen, haben es zunehmend schwerer, einen Arzt
zu finden, ...
Sie verweisen auf eine Umfrage des Verbandes der Forschenden Arzneimittelhersteller, wonach angeblich chronisch Kranken in 15 Prozent der Fälle die notwendigen
Arzneimittel verweigert wurden.
Nur noch 10 Prozent der Tumorpatienten erhalten
eine adäquate Schmerztherapie.
So steht es in Ihrer Begründung.
Sollten Sie nicht vor allem fragen, ob wir nicht eher ein
Fehlversorgungs- statt ein Unterversorgungsproblem haben? Wir haben zwar auch Unterversorgung, aber vor allen Dingen Fehlversorgung. Meine Damen und Herren,
ich will dies am Beispiel Diabetesversorgung verdeutlichen. Der Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller - Sie müssen auch einmal andere Aussagen von dem
lesen - kommt zu dem Ergebnis, dass die gesamtwirtschaftlichen Kosten in Höhe von 31 Milliarden DM für
die Behandlung des Typ-2-Diabetes vor allem durch
Komplikationen verursacht werden, die nicht rechtzeitig
erkannt oder nicht adäquat behandelt werden.
Eine frühzeitige und konsequente Behandlung des
Typ-2-Diabetes würde der Volkswirtschaft Kosten in
Milliardenhöhe ersparen.
So die Aussage des Verbandes der Forschenden Arzneimittelhersteller.
Ich füge ein Zitat von Professor Berger von der Uni
Düsseldorf - ich denke, von einem von uns allen sehr geschätzten Experten - hinzu:
Wie vorrangig im Bereich der Diabetologie in
Deutschland immer noch die als „Erfahrungsmedizin“ beschönigte „non evidence based medicine“ ist,
zeigt sich unter anderem in dem Verordnungsvolumen an Medikamenten ohne gesicherten klinischen
Wirksamkeitsnachweis. Für das Jahr 1994 haben wir
auf dieser Grundlage eine Mittelverschwendung in
Höhe von 1 Milliarde DM
- das sind 1 000 Millionen DM aufgrund von Verschreibungen unwirksamer Medikamente bei Patienten mit Diabetes mellitus in
Deutschland errechnet.
1 Milliarde DM allein im Bereich Diabetesversorgung!
({17})
Solche Beispiele, die sich beliebig erweitern lassen,
belegen: Wir haben erhebliche Versorgungs- und Qualitätsdefizite mit gravierenden Folgen für die Lebensqualität und mit einer hohen Zahl an verlorenen Lebensjahren
für die betroffenen Bürger. Gleichzeitig haben wir Mengen- und Ausgabenentwicklungen, die medizinisch nicht
zu begründen sind. Mit Ihrem Gesetzentwurf würde dies
alles noch wesentlich erhöht.
Augenfälligstes Beispiel sind - auch dies will ich Ihnen
nicht ersparen - die großen Differenzen bei den Arzneimittelausgaben pro Versicherten bei den einzelnen
Kassenärztlichen Vereinigungen. Bei den Arzneimitteln
reicht die Spanne der Verordnungen und Umsätze von
Januar bis November des vergangenen Jahres nach den
Vergleichszahlen in einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen von 309 000 definierten Tagesdosen im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg bis zu 423 000 bei der
KV Saarland. Das heißt, dort finden 36 Prozent mehr Verordnungen statt. Glauben Sie allen Ernstes, dass die Patienten in Nord-Württemberg untertherapiert sind?
({18})
Bevor Sie wieder einen solchen Gesetzentwurf in den
Bundestag einbringen, lesen Sie den Arzneiverordnungsreport des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen. Dort ist nachzulesen, dass insgesamt ein Trend zu
teureren Verordnungen zu beobachten ist. Dies widerlegt
die Behauptung der pharmazeutischen Industrie von einer
drastischen Unterversorgung mit innovativen Arzneimitteln, die Sie kritiklos übernehmen. Gerade in den Bereichen, für die ein therapeutischer Zusatznutzen belegt ist,
ist es zu deutlichen Verordnungszuwächsen gekommen.
Die 1 191 Millionen verordneten Tagesdosen an Antidiabetika reichen aus, um täglich 3,3 Millionen Diabetiker zu
behandeln. Anhand von Bevölkerungsstudien wird die
Zahl der Diabetiker in Deutschland auf 3,1 Millionen geschätzt. Das heißt, die Versorgung ist deutlich höher; von
einer Unterversorgung kann überhaupt nicht die Rede
sein.
Das gilt auch für die Behandlung von Tumorpatienten
mit stark wirksamen Schmerzmitteln. Die verordnete
Menge an Tagesdosen reicht zur Behandlung von 96 Prozent der geschätzten Zahl der Tumorpatienten aus. Dabei
handelt es sich nicht, wie Sie behaupten, um eine Unterversorgung.
({19})
- Das mag Ihnen alles nicht gefallen, Herr Kollege Parr.
Das Schreckgespenst einer medikamentösen Unterversorgung in Deutschland, das Sie, genauso wie die CDU/CSU,
ständig anführen, entspricht nicht der Realität in diesem
Land.
({20})
- Wie gesagt, das mag Ihnen alles nicht gefallen. Aber
schauen Sie in den Arzneiverordnungsreport hinein; dieser belegt, dass nicht von einer Unterversorgung, sondern
von einer Fehlversorgung und damit einer Verschwendung von Beitragsgeldern gesprochen werden kann.
({21})
Verehrter Herr Kollege Lohmann, in der vorgestrigen
Ausschusssitzung haben Sie angemerkt, dass der Arzneiverordnungsreport für manche nicht nur wie die Bibel sei,
sondern sie würden sich ihn vor den Kopf halten, um nicht
weiter nachdenken zu müssen.
({22})
- Sie haben gemeint: wie die Bibel. Erst einmal, lieber
Herr Kollege Lohmann: Als Mitglied einer christlichen
Partei tragen Sie die Bibel ja sicherlich nicht nur vor dem
Kopf, sondern schauen auch regelmäßig hinein; davon
gehe ich aus.
({23})
Als Gesundheitspolitiker sollten Sie genauso mit dem
Arzneiverordnungsreport umgehen, denn dort werden Sie
und die CDU/CSU Wort für Wort widerlegt. Das gilt auch
für die FDP; aber Sie wollten ja sogar schon die Kirchensteuer abschaffen.
({24})
- Ich wollte nur im Zusammenhang mit dem Kollegen
Lohmann darauf hinweisen, weil Sie ständig das Gleiche
wie die CDU/CSU betonen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es wird
Sie deshalb sehr betrüben
({25})
- es wird Sie auch überraschen -, wenn ich im Auftrag
meiner Fraktion ankündige: Wir werden sowohl Ihren Antrag als auch Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
({26})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich bitte
Sie im Übrigen, uns solche überflüssigen und fundamental unsinnigen Gesetzentwürfe in Zukunft zu ersparen.
({27})
Ich bin mir sicher, die Wählerinnen und Wähler geben Ihnen weitere vier Jahre Zeit, Gesetzgebung in der Opposition fleißig zu üben.
({28})
Vielen Dank.
({29})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege
Kirschner hat, was die Stimmlage anbelangt, eine für
seine Verhältnisse moderate Rede gehalten. Wenn Sie genau aufgepasst haben, dann haben Sie gemerkt, dass er
aber ganz laut geworden ist, als er versuchen wollte, den
Menschen weiszumachen, dass es keine Unterversorgung in Deutschland gebe.
({0})
Genau das ist aber der Fall, was ich Ihnen auch nachweisen kann.
({1})
Ich werde nachher nicht Statistiken, sondern Aussagen
von Personen zitieren, die befragt worden sind. Was man
mit Statistiken machen kann, das weiß Ihre Fraktion ja am
besten.
({2})
Wir befassen uns heute mit zwei Vorlagen der
CDU/CSU-Fraktion, die auf die Beendigung der Budgetierung in allen Leistungsbereichen zielen. Denn - ich
sage es ganz ruhig - Budgetierung führt zur Rationierung medizinischer Leistungen. Das heißt Vorenthaltung
von Leistungen, auf die die Patienten einen Anspruch haben, weil sie medizinisch notwendig sind und weil wir
alle - und Sie im besonderen Maße - sie ihnen versprochen haben.
({3})
Fortdauernde Budgetierung ist der Weg in eine Zweiklassenmedizin; denn nur Gutverdienende können sich
durch private Zahlungen eine medizinisch notwendige
Versorgung leisten.
({4})
- Sie haben doch vorhin in der verteidigungspolitischen
Debatte genug geschrien.
({5})
- Ich meine Ihren Kollegen. Sie sollten uns Gesundheitspolitiker einmal in Ruhe lassen. Wir sind froh, wenn wir
uns in angemessener Form auseinander setzen können.
Wir wollen nichts mit Schreihälsen zu tun haben.
Die Union greift mit ihren Initiativen ein Kernelement
rot-grüner Gesundheitspolitik an. Die Budgetierung ist
nämlich wie die Reglementierung, die Bürokratisierung
und die Bevormundung ein typisches Markenzeichen von
Rot-Grün.
({6})
Die Union dagegen setzt auf Deregulierung, Entbürokratisierung und auf mehr Freiheitlichkeit.
({7})
Wir wollen in der gesundheitlichen Versorgung mehr
menschliche Zuwendung, als heute teilweise möglich ist,
und keinen Bürokratismus. Wir wollen die freie Arztwahl
unbedingt aufrechterhalten, statt Staatsmedizin einzuführen. Wir wollen Therapiefreiheit statt Listenmedizin.
Frau Schmidt-Zadel, Sie können nicht bestreiten, dass Sie
das Letztgenannte wollen. Wir wollen außerdem mehr
Wettbewerb und Vielfalt, statt den Weg in die Einheitsversicherung fortzusetzen.
({8})
Wir wollen eine Gesundheitsreform, in deren Mittelpunkt die Interessen von Patienten und Versicherten
stehen.
({9})
Das steht im Gegensatz zu der Behauptung, die Sie eben
aufgestellt haben, Herr Kirschner. Diese Interessen der
Versicherten sind in den letzten Jahren auf der Strecke geblieben, was Sie gar nicht gemerkt haben. Als Abgeordneter merkt man das natürlich nicht; denn man ist in aller
Regel umsorgter Privatpatient.
({10})
Sie sollten sich um die Menschen kümmern, die nicht die
Privilegien haben wie wir. Dann würden Sie wissen, was
heute los ist.
({11})
Unter Ihrer Regierung sind die Interessen der Versicherten auf der Strecke geblieben.
({12})
Vor allem die SPD ist im Verbund mit dem DGB geistiger Urheber der Budgetierung. Es war doch Rudolf
Dressler - ({13})
- Jetzt wollen Sie mich zwingen, genauso laut zu reden
wie Herr Kirschner, damit Sie behaupten können, ich
würde immer dann laut werden, wenn es sich um Dinge
handelt, die nicht wahr sind.
({14})
Ich werde also in der gleichen Lautstärke weitersprechen.
Es war doch Rudolf Dressler, der 1992 in Lahnstein auf
der Einführung dieses Instruments beharrt und gemeinsam mit Oskar Lafontaine und dem DGB dafür Sorge getragen hat, dass es 1998 als ein Kernelement der Gesundheitspolitik im Koalitionsvertrag seinen Niederschlag
fand.
({15})
Dressler und Lafontaine sind überholt. Da Sie sich,
Herr Kirschner - wir kennen uns ja schon lange -, nach
wie vor nicht in der Lage sehen, aus diesen einbetonierten Denkschablonen herauszukommen, werden auch Sie
- das würde ich bedauern - über kurz oder lang überholt
sein.
Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich Sie auf eine
Umfrage des Allensbach-Institutes vom 17. April dieses
Jahres - sie ist also ganz aktuell - hinweisen: 24 Prozent
der Gesamtbevölkerung haben bereits persönlich die Folgen der Budgetierung zu spüren bekommen und erlebt,
dass ihnen der Arzt ein bestimmtes Medikament oder eine
bestimmte Behandlung verweigern musste, weil das ihm
zugebilligte Budget erschöpft war. 32 Prozent berichten
von allgemeinen Leistungseinschränkungen. Besonders
betroffen sind davon die ohnehin gesundheitlich Angeschlagenen. Jetzt kommt es - Frau Schmidt ist nicht anwesend; aber Frau Staatssekretärin Schaich-Walch -: Von
diesen kranken Menschen haben in den letzten ein bzw.
zwei Jahren 43 Prozent quasi am eigenen Leibe erfahren,
was Ihre Politik, was Rationierung bedeutet.
Herr Kirschner, jetzt kommen Sie doch nicht mit dem
Einwand, Sie hätten bei den Arzneimitteln die Budgets
abgeschafft. Sie haben das Budget lediglich durch Arzneimittelzielvereinbarungen ersetzt. Um es mit den Worten
Wolfgang Lohmann ({16})
des Sachverständigenrates für die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der ja von der Ministerin berufen worden ist, zu sagen
({17})
- Frau Schmidt-Zadel, hören Sie sich das erst einmal an -:
Sie haben ein untaugliches Steuerungsinstrument
durch ein anderes ersetzt.
({18})
Genauso ist es. Die Zuwachsraten bei den Arzneimittelausgaben, die Sie soeben angesprochen haben, bestätigen,
dass entsprechende Steuerungselemente nicht mit eingebaut worden sind.
({19})
Frau Ministerin Schmidt hat ihren politischen Fehler
erkannt. Denn sie hat in ihrer Neujahrspost, wie das in
letzter Zeit häufiger vorkommt, die Selbstverwaltung unter Druck gesetzt, getreu dem Motto: Die Gesetze sind
zwar schlecht; aber die Verantwortung schieben wir auf
die Selbstverwaltung.
In ihrem Brandbrief an die Spitzenverbände der Krankenkassen und an die Kassenärztliche Bundesvereinigung
stellt sie fest, dass die Zielvereinbarungen „offenbar vor
Ort beim einzelnen Vertragsarzt nicht hinreichend greifen“. Wieder einmal ist also der Arzt schuld. Wieder einmal werden die Ärzte bei den Arzneimittelausgaben zu einem eisernen Sparkurs angehalten.
So müssen die Ärzte in Nordwürttemberg, Herr badenwürttembergischer Abgeordneter Kirschner, beim Arzneimittelbudget im Vergleich zum Vorjahr mehr als 5 Prozent einsparen. Für sie und ihre Patienten hat sich durch
das Arzneimittelbudget-Ablösungsgesetz der Bundesregierung nichts, aber auch gar nichts geändert. Nach wie
vor erleben die Menschen Rationierung und erfahren tagtäglich, dass ihnen medizinisch notwendige Leistungen
nicht mehr verordnet werden.
({20})
Die Schwäche Ihres Gesetzes liegt darin, dass das Gesamtbudget - das ist doch der entscheidende Punkt - die
Richtgrößen präjudiziert und damit eine an medizinischen
Erfordernissen ausgerichtete Verschreibung von Arzneimitteln unterbindet.
Diese Schwäche - wenn wir vertieft diskutieren würden, würden Sie das einsehen - hat unser Entwurf nicht.
Er stellt die Entwicklung von Richtgrößen nicht unter
das Diktat eines Gesamtbudgets.
({21})
- Das war ein Zuruf eines hoch qualifizierten Fachmanns. - In unserem Gesetzentwurf wird vermieden,
dass durch die Hintertür wieder eine Kollektivhaftung
der Ärzte eingeführt wird. Im Gesetzentwurf der Union
ist die Ersetzung des Budgets durch Richtgrößen vorgesehen.
({22})
Diese ermöglichen eine flexible, am tatsächlichen Bedarf
ausgerichtete Ausgabensteuerung.
({23})
Sie setzen am Verordnungsverhalten des einzelnen Arztes
an und geben ihm damit die Möglichkeit, persönlich Verantwortung zu übernehmen und aus der früheren Kollektivhaftung herauszukommen. Welcher Anreiz, sich
persönlich wirtschaftlicher oder kostenbewusster zu verhalten, gibt es denn für einen Arzt, wenn die anderen Kollegen über die Stränge schlagen dürfen, weil es eine Kollektivhaftung gibt? Die Antwort sollte doch völlig klar
sein.
({24})
Nach unserer Überzeugung wird Ministerin Schmidt
mit ihrem bürokratischen Instrumentarium die Probleme
auf dem Feld der Arzneimittelausgaben nicht lösen. Jüngstes Beispiel ist das Arzneimittel-Ausgabenbegrenzungsgesetz.
Meine Damen und Herren, lieber Herr Kirschner, ich
zitiere jetzt einmal aus einem Brief eines Bürgers:
Mit dem Arzneimittel-Ausgabenbegrenzungsgesetz
setzen Sie
- dieser Brief ist an Sie, aber auch an Frau Schmidt gesendet worden den Höhepunkt unter eine chaotische Gesundheitspolitik, zu deren Beendigung wir
- es waren mehrere Sie hiermit auffordern! Anstatt endlich die Verschiebebahnhöfe zu beenden,
- da haben auch wir früher Sünden begangen,
({25})
die Sie sehr gegeißelt haben sparen Sie mit Ihrem letzten Gesetz die Patienten im
wahrsten Sinne des Wortes zu Tode.
({26})
- Das sind mehrere Patienten.
Sie wollen, dass Kassenpatienten nur noch Medikamente des unteren Preisdrittels bekommen.
Das ist das Entlarvende.
Aber anstatt dies offen und ehrlich öffentlich zu bekennen,
({27})
Wolfgang Lohmann ({28})
verlangen Sie, dass entweder die Ärzte primär solche
Medikamente verordnen
({29})
oder, wenn die Ärzte dies nicht tun, die Apotheker
solche Medikamente ausgeben sollen.
Diese Bürger, von denen Sie vorhin nicht gesprochen
haben,
({30})
bringen zum Ausdruck, was inzwischen drei Viertel der
deutschen Bevölkerung denken: Rot-Grün will eine Billigmedizin für die Kassenpatienten.
({31})
Das mag man wollen; es ist nicht unsere Meinung. Aber
anstatt nun hierfür wenigstens die Verantwortung zu übernehmen und zu sagen: „Jawohl, wir wollen das“, versuchen Sie immer wieder, die Verantwortung auf Ärzte und
Apotheker zu schieben - mit diesem Gesetz auf jeden
Fall.
Frau Staatssekretärin, die Bevölkerung hat Ihnen ja inzwischen die Gefolgschaft längst versagt, weil Ihre Gesundheitspolitik nicht an den Bedürfnissen der Menschen
ausgerichtet ist. Ihre Gesetze sind das Produkt von Bürokraten und von im Elfenbeinturm sitzenden Wissenschaftlern. Da wir ja inzwischen wissen, dass es für so gut
wie jede erdenkliche Idee wissenschaftliche, gutachterliche Unterstützung gibt, müssen Sie sich nach meiner Auffassung wohl die falschen Wissenschaftler ausgesucht haben. Anders kann ich mir das nicht vorstellen.
({32})
Nun wollen Sie die Bürokratie noch weiter ausbauen.
({33})
So sollen ein neues Zentrum für Qualität in der Medizin
und ein neues Institut zur Bewertung des Nutzens von
Medikamenten gegründet werden und es soll ein Arzneimittelinspekteur eingestellt werden. Ich war mit Blick
auf den Generalinspekteur der Bundeswehr, der vorhin
hier gesessen hat, geneigt, zu sagen: Das wird hoffentlich
nicht einen solchen Aufwand mit sich bringen, wie es in
der Bundeswehr teilweise der Fall ist. Wie dem auch sei:
Jedenfalls soll eine neue Institution geschaffen werden.
Schließlich - das haben wir ja in dieser Woche festgestellt - ist der Apparat im Bundesministerium für Gesundheit im Vergleich zur Zeit von Horst Seehofer um
sage und schreibe ein Drittel angewachsen.
Über 70 Prozent der Bevölkerung sind laut Allensbach
- das ist übrigens das Institut, das in den vergangenen Jahren, auch zu unserem Leidwesen, immer am nächsten an
der Meinung der Bevölkerung dran war ({34})
der Meinung, dass Sie auf dem Weg der Zweiklassenmedizin sind
({35})
und dass sie so hohe Beiträge wie noch nie zahlen müssten.
({36})
- Nun hören Sie doch auf!
({37})
- Hören Sie doch auf, auf die alten Kamellen zu verweisen. Ich frage Sie: Wie lange sind Sie denn schon in der
Regierung?
„Aufhören“ ist
das Stichwort.
Ich
sehe zwar, wie die Sekunden weiter gezählt werden. Aber
hier steht: 41 Sekunden sind noch da.
({0})
Nein, nein, Sie
sind im Minus.
Wenn Sie uns und vielen anderen Wissenschaftlern schon
nicht glauben, dann sollten Sie vielleicht jemandem zustimmen, der für die Abschaffung der Budgets ist - das hat
er auch in der öffentlichen Anhörung gesagt -, der nun
wirklich - nach seiner eigenen Aussage - in der Wolle gefärbter Sozialist ist: Professor Azzola. Er hält das, was Sie
in Bezug auf die Budgetierung gemacht haben, für undenkbar und hält die damit verbundenen Probleme für
nicht lösbar.
({0})
Er bittet Sie herzlich, das abzuschaffen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.
({0})
Wolfgang Lohmann ({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch mir ist aufgefallen, dass ausgerechnet Herr
Lohmann Herrn Azzola erwähnt. Wenn man weiß, wie er
sonst zu dessen Auffassungen steht,
({0})
dann kann man nur sagen: Sie suchen sich heraus, was Ihnen gerade in den Kram passt, und erwähnen den Rest
nicht.
({1})
Wenn für Sie, Herr Lohmann, die Wissenschaftler, die
vorgeschlagen haben, ein Institut einzurichten, das sich
mit der Frage der Qualität in der Medizin befassen soll,
die falschen Wissenschaftler sind, dann zeigt das aus meiner Sicht, dass Sie es nicht ernst meinen, wenn Sie sagen,
dass bei Ihnen die Interessen der Patienten und der Versicherten im Mittelpunkt stehen.
({2})
Das wirkliche Manko, mit dem wir es im Gesundheitssystem zu tun haben, betrifft die Frage der Qualität. Ich finde
es richtig, wenn hier angesetzt wird.
Jetzt fordern Sie wieder einmal die Abschaffung der
Heilmittelbudgets und ihre Ersetzung durch Richtgrößen.
({3})
- Vielen Dank, Herr Kirschner. Das könnte man ja heute
schon machen. Es macht aber deswegen keiner, weil es
nicht umsetzbar und praktikabel ist.
({4})
Wenn das anders wäre, Herr Lohmann, dann würde das
heute schon geschehen und man könnte Ihrem Anliegen
nachkommen.
({5})
Da es sich aber nicht bewährt hat und nicht angewendet
wird, sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen, dass es
nicht der richtige Weg ist.
({6})
Wie sehr die Interessen der Versicherten und Patienten
bei Ihnen im Mittelpunkt stehen, sieht man an Ihren Vorschlägen. Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, beziehen sich in erster Linie auf den Geldbeutel der Versicherten und Patienten, so beispielsweise bei den Zuzahlungen
und vielem anderen mehr.
Sie haben uns hier vorgeworfen, die freie Arztwahl
solle eingeschränkt werden. Dazu sage ich Ihnen, Herr
Lohmann: Damit betreiben Sie Angstmacherei, die nichts,
aber auch gar nichts mit der Realität zu tun hat.
({7})
Zu Ihrem Vorwurf, es gehe um die Einschränkung der
Therapiefreiheit, kann ich auch nur sagen: Auch das ist
Angstmacherei, die die Patientinnen und Patienten in diesem Land einfach nicht verdient haben.
Sie sagen, mit Ihren Vorschlägen wird es kein Budget
mehr geben. Dazu möchte ich Sie einfach fragen, was das
in der Realität bedeutet. Heißt das: Die Ausgaben im Gesundheitssystem sind freigegeben und jeder kann so viel
ausgeben wie er will?
Bei jeder Regelung, auch bei Ihrer, wird es am Ende
dabei bleiben, dass wir nicht mehr ausgeben können, als
wir einnehmen. Da ich jetzt bei der Einnahmeseite bin,
will ich auch gleich sagen, dass wir uns zusätzliche Einnahmen im Gesundheitswesen nicht dadurch verschaffen
können, dass wir die Beiträge heraufsetzen.
({8})
Möglicherweise müssen wir über die Finanzierungsgrundlagen reden, wir können aber nicht darüber reden,
bevor nicht klar ist, wie die Strukturen und die Qualität
des Systems verbessert werden können. Dazu machen Sie
bedauerlicherweise keinen Vorschlag.
Ich will gern etwas zu Ihrem Vorwurf sagen, notwendige Arzneimittel würden nicht mehr ausgegeben. Ich
kann mir vorstellen, dass falsche Arzneimittel ausgegeben
werden. Herr Kirschner hat hier bereits auf die Fehlversorgung hingewiesen. Dass aber nicht genug ausgegeben
wird, kann ich mir nicht vorstellen.
({9})
- Ich will es Ihnen einfach ganz logisch erklären. Ich
streite nicht ab, dass Einzelne sagen, sie bekommen ein
Arzneimittel nicht. Das hat etwas mit Fehlversorgung,
aber nicht mit dem Umfang zu tun.
({10})
Die Menschen sind heute nicht kränker als in den letzten
Jahren, und trotzdem haben wir eine Steigerung der Ausgaben für Arzneimittel um 11,2 Prozent im letzten
Jahr, die nicht unwesentlich zum Defizit der Kassen von
2,8 Milliarden Euro beigetragen haben. Wir haben im
Januar dieses Jahres noch einmal eine Steigerung von
6,6 Prozent zu verzeichnen. Es kann also nicht am Gesamtvolumen liegen, es kann höchstens an der Fehlversorgung liegen. Ich glaube, Sie sind mit Ihrem Gesetzentwurf auf dem falschen Dampfer.
({11})
Herr Kirschner, lassen Sie mich das am Schluss zum
Thema Arzneimittelreport und Bibel anmerken: Meine
Partei hat das C nicht im Namen, aber ich erlaube mir
trotzdem, häufiger in die Bibel als in den Arzneimittelreport zu schauen.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Mich stört eines an der Art der heutigen Debatte: Das Thema ist zu ernst, um sich gegenseitig auszulachen. Das tut diesem Hause nicht gut.
({0})
- Sie krakeelen trotzdem weiter; dabei habe ich versucht,
eine Brücke zu bauen.
Ich erinnere mich, lieber Kollege Kirschner, an die
letzte Sitzung des Gesundheitsausschusses. Da haben Sie
mit Glanz in den Augen eine minutenlange vehemente
Rechtfertigungsrede zur Budgetierung gehalten; einen
Zuruf habe ich dazu schon gemacht. Ein Blick in das Protokoll der Anhörung vom 27. Juni hätte Sie ein wenig
nachdenklicher machen sollen. Da ist zu lesen - ich gebe
unterschiedliche Sachverständige wieder -: Die Wirksamkeit von Budgets hat sich in letzter Zeit abgeschwächt. Es
hat sich herumgesprochen, dass diese Budgets keine
Steuerungswirkung mehr haben.
({1})
- Jetzt hören Sie zu, jetzt kommt der entscheidende Satz:
Budgets sind eine ökonomische Größe, die nichts über
den Versorgungsbedarf aussagt. Budgets, die in der
Wirtschaft funktionieren, sind hier gescheitert.
Meine Damen und Herren, die Patienten - das weisen
neueste Umfragen, die nicht aus der Pharmaindustrie kommen, nach - spüren in den Arztpraxen, dass sie nicht mehr
mit allem versorgt werden, was medizinisch notwendig ist.
Ärzte überlegen sich mittlerweile sehr genau, ob und in
welchem Umfang sie Arzneimittel, Massagen, Krankengymnastik oder Logopädie verordnen. Das hat teilweise
gravierende Konsequenzen für die Betroffenen. MS-Kranke
erhalten keine neuen Präparate mehr. Krebskranke Patienten bekommen nach einer Brustamputation nur noch zwei
Stunden Krankengymnastik verordnet. Nur ein geringer
Prozentsatz der Demenzkranken wird medikamentös optimal betreut. Die höheren volkswirtschaftlichen Kosten,
die zum Beispiel durch eine frühzeitige Einweisung in Pflegeheime entstehen, scheren die Bundesregierung nicht.
({2})
Es geht offensichtlich nach der Devise: Was nicht sein
darf, das nicht sein kann!
Mit zunehmender Budgetierung ist zu beobachten,
Frau Schmidt-Zadel, dass ärztliche Leistungen nicht mehr
erbracht werden, weil sie den Rahmen des Budgets sprengen, oder die Patienten werden ins Krankenhaus überwiesen. Dies dürfen und können Sie doch nicht übersehen!
Als letzte Zuflucht - schauen wir in Ratingen in die Praxen - wird Budgeturlaub gemacht, das heißt, die Praxis
bleibt geschlossen - das sind Tatsachen -,
({3})
weil niemandem zugemutet werden kann, ab einem gewissen Zeitpunkt im Quartal zum Nulltarif zu arbeiten,
was Sie den Ärztinnen und Ärzten aber zumuten.
({4})
Das ist in vielen Städten und Gemeinden Alltag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, nehmen Sie deshalb die neueste im Auftrag der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ durchgeführte Allensbach-Umfrage ernst. Danach sorgen sich 53 Prozent der GKV-Versicherten, nicht mehr ausreichend geschützt zu sein. Bei
privat Versicherten sind dies nur 28 Prozent. - Nun will
die Ministerin durch Anhebung der Versicherungspflichtgrenze auch noch den Zugang zur Privatversicherung erschweren. Welch ein ordnungspolitischer Unsinn!
({5})
Von den von uns vorgeschlagenen Lösungsansätzen
möchte ich aus Zeitgründen nur zwei nennen:
Erstens. Um vernünftig planen zu können, brauchen die
Ärzte feste Preise für die Leistungen, die ihnen bekannt
sein müssen, bevor sie mit einer Behandlung beginnen.
Zweitens. Optimal wäre der Übergang zu einem System der Kostenerstattung.
({6})
Der Arzt stellt diese Preise in Rechnung und der Patient
rechnet sie dann mit seiner Krankenkasse ab.
Solange man sich jedoch im Sachleistungssystem bewegt, muss zumindest sichergestellt werden, dass hiervon
keine Anreize zu einer Rationierung von Leistungen ausgehen, denn das ginge zulasten der besonders betroffenen
Patienten, die nicht in der Lage sind, sich zu wehren. Man
muss eine vernünftige Balance finden, wie sie der Gesetzentwurf der Union mit Regelleistungsvolumina vorsieht.
({7})
Grundsätzlich erhält der Arzt für seine Leistungen feste
Preise, die aber ab einer bestimmten Menge niedriger ausfallen. Damit wird der Anreiz zur Leistungsausweitung
gemindert. Genauso braucht man im Arzneimittelbereich
ein gewisses Regulativ über auf valider Datenbasis festgesetzte Richtgrößen. Es ist nicht so - wie Sie das heute
glauben machen wollen -, dass das ABAG darauf eine
Antwort gibt.
Die FDP begrüßt den Gesetzentwurf der Union. Er geht
in die richtige Richtung. Eine Alternative zur Abschaffung der Budgets gibt es nicht, wenn man weiterhin garantieren will, dass jeder Bürger im Krankheitsfall mit
dem medizinisch Notwendigen versorgt wird.
Ich stelle zum Schluss fest: Die Ärzte, Zahnärzte und
Apotheker in unserem Land sind es Leid, vor ihren PatienKatrin Göring-Eckardt
ten die Folgen Ihrer kurzatmigen und selbstgefälligen Politik - so Bundesärztekammerpräsident Professor Hoppe auszubaden.
({8})
Die Attacken auf Ihre staatliche Zuteilungsmedizin werden heftiger, Herr Kirschner. Lösen Sie sich endlich von
Regelungswut, Listenmedizin, Überbürokratisierung und
Standardisierung. Jeder Patient ist ein Individuum und
will auch so behandelt werden. Dies geht nur in einem
freiheitlichen System. Nur wenn wir die Freiberuflichkeit
einerseits und die Patientensouveränität andererseits stärken, können wir das Ziel einer durchgreifenden langfristigen Gesundheitsreform erreichen.
({9})
Ich hoffe, dass wir dies gemeinsam tun werden, ähnlich
wie es in der Vergangenheit schon einmal versucht worden ist, aber hoffentlich mit besseren Ergebnissen. Wir laden Sie zu diesen Gesprächen ein und führen die Diskussion ernsthaft. Niemand, der hier darüber diskutiert, hat es
verdient, ausgelacht zu werden.
Danke.
({10})
Die Abgeord-
nete Ruth Fuchs hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll ge-
ben zu können.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann
verfahren wir so.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Abschaffung der
Budgets in der gesetzlichen Krankenversicherung auf
Drucksache 14/5225. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8793, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss für Gesundheit die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4604 mit dem
Titel „Abschaffung der sektoralen Budgets in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu weiteren
Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität
({0})
- Drucksache 14/8769 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier bitten alle Rednerinnen und Redner, nämlich die Kolleginnen und Kollegen Lösekrug-Möller,
Tiemann, Fischer ({2}), Funke, Rössel und der Parla-
mentarische Staatssekretär Pick, ihre Reden zu Protokoll
geben zu dürfen.2) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann verfahren wir so und kommen gleich zur
Überweisung.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen. Gibt es andere
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tarifzwang im öffentlichen Vergaberecht verhindern
- Drucksache 14/8510 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Abgeordnete Dr. Heinrich Kolb von der antragstellenden FDPFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In einer Woche, am nächsten
Freitag, will die rot-grüne Koalition in diesem Hause ein
so genanntes Tariftreuegesetz verabschieden.
({0})
Bis dahin soll verschleiert bleiben und möglichst nicht an
die Öffentlichkeit gelangen, was sich Rot-Grün zu diesem
Thema ausgedacht hat. Wir haben die Aufsetzung unseres
Antrages auf die heutige Tagesordnung beantragt, weil
wir wollen, dass die Menschen und insbesondere der Mittelstand in Sachsen-Anhalt wissen, was auf sie zukommt.
({1})
1) Anlage 2 2) Anlage 4
Es geht nicht an, dieses Thema totzuschweigen; denn gerade die ostdeutschen Bauunternehmen werden von dem,
was Sie mit dem Tariftreuegesetz vorhaben, betroffen
sein. Deswegen haben wir unseren Antrag „Tarifzwang
im öffentlichen Vergaberecht verhindern“ eingebracht.
Wir müssen darüber reden, wie dreist und unverblümt
sich die Bundesregierung zum Erfüllungsgehilfen einer
IG Bauen-Agrar-Umwelt macht, deren Vorsitzender Mitglied der größten Fraktion ist.
({2})
Herr Wiesehügel, ein Tariftreuegesetz, das die öffentlichen Arbeitgeber verpflichtet, Aufträge nur noch an solche Unternehmen zu vergeben, die die am Ort der Leistungsausführung gültigen Tarifverträge einhalten, ist
nichts anderes als ein von Ihnen ja schon lange gefordertes staatliches Verbot echten Wettbewerbs zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Unternehmen und
Betrieben. Im Kern geht es Ihnen darum, der Macht des
Tarifkartells wieder zum Durchbruch zu verhelfen und damit vielleicht auch die Existenzberechtigung Ihrer Gewerkschaft ein Stück weit zu sichern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade von dem Hintergrund der aktuell laufenden Tarifverhandlungen und
der absehbaren Ergebnisse wird deutlich, dass es einen
Spielraum für Unternehmen geben muss, sich gegebenenfalls auch die Entscheidung zur Nichttarifbindung offen
zu halten.
({3})
Sie wollen heute nicht ins Detail gehen. Die verschämte Presseerklärung, die Sie zu diesem Thema herausgegeben haben, macht sehr deutlich, dass Sie keine
Fakten nennen wollen. Sie sagen den Menschen also
nicht, was auf sie zukommt. Es wird ein weiterer Baustein
in einer Kette kontraproduktiver Gesetze und Entscheidungen sein. Der Bausektor ist geradezu ein Paradebeispiel für die dirigistische und mittelstandsfeindliche
Politik von Rot-Grün. Die Bauabzugsteuer, die Generalunternehmerhaftung, die Mindestlöhne, die Allgemeinverbindlicherklärung und das Gesetz gegen die Scheinselbstständigkeit sind Maßnahmen, die für eine in der
Strukturanpassung befindliche Bauwirtschaft Gift sind.
Damit werden die notwendigen marktwirtschaftlichen
Strukturveränderungen in der Baubranche aufgeschoben.
Herr Wiesehügel, Sie sollten aber wissen: Auf Dauer kann
man keine Politik gegen den Markt machen. Spätestens
Holzmann müsste Sie das doch eigentlich gelehrt haben.
({4})
Aufgabe der Politik ist es nach unserer Auffassung,
günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Dafür muss
man auch das Steuersystem verändern. Man muss dafür
sorgen, dass die Lohnnebenkosten wirklich sinken. Man
muss bessere Arbeitsmarktbedingungen schaffen.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung jedenfalls gibt ein sehr
deutliches Urteil ab. Er erklärt:
Für völlig verfehlt halten wir die Absicherung des Tarifvertrages durch sanktionierende Regulierungen ...,
indem die Tariftreue zur Bedingung für die Vergabe
von öffentlichen Aufträgen gemacht wird ... Wir raten
- so der Sachverständigenrat von diesem Gesetz ab, hoffentlich nicht wieder umsonst.
Mir stellt sich wirklich die Frage, warum Sie sich einen
Sachverständigenrat leisten. Erst gestern Abend musste
ich in einem anderen Zusammenhang deutlich machen,
dass Sie immer und immer wieder gegen die Empfehlungen dieses Sachverständigengremiums verstoßen. So
auch hier. Die Wirkungen für die Bauwirtschaft werden
fatal sein.
({5})
Sie verkennen - das haben Sie in früheren Debatten
und auch im Ausschuss schon deutlich gemacht -, dass
dann, wenn ein solches Gesetz kommt, Bauaufträge und
natürlich auch der Nahverkehr für die Kommunen spürbar teurer werden. Das Bundesministerium für Wirtschaft
und Technologie - leider gibt es nur inoffizielle Zahlen geht von bis zu 2,5 Milliarden Euro an zusätzlicher Belastung für die Kommunen aus. Weil die finanziellen
Möglichkeiten nichts anderes zulassen, werden sie insbesondere an ihren öffentlichen Aufträgen sparen müssen.
Es wird insgesamt ein geringeres Bauvolumen geben. Es
wird zu einer Vernichtung von Arbeitsplätzen im Bausektor kommen. Das wollen wir nicht.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, derzeit ist vor dem
Bundesverfassungsgericht ein Verfahren anhängig, in
dem ein Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs zu Tariftreueklauseln vorliegt. Das zeigt: Ihr Vorhaben, ein Tariftreuegesetz zu verabschieden, erfolgt zur Unzeit. Es
darf nicht kommen. Wir wollen, dass alle Menschen
schon heute über das Bescheid wissen, was Sie in der
nächsten Woche an Maßnahmen auf den Tisch legen wollen. Wir von der FDP werden uns auf jeden Fall deutlich
gegen dieses Gesetz stellen.
Danke.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Wiesehügel.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe viel Verständnis dafür, dass die Opposition
versucht, Themen auszuschlachten, die keine richtigen
Themen sind. Aber das, was Sie hier treiben, verstehe ich
nun wirklich nicht, Herr Kolb. Wir haben einen Gesetzentwurf in erster Lesung in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wenn es für Sie Verschleierung ist, einen Entwurf in erster Lesung in dieses Haus einzubringen, dann
begreife ich das nicht.
({0})
Sie wissen, was wir wollen. Rot-Grün hat einen Gesetzentwurf in erster Lesung eingebracht. Er wird in
nächster Zeit in zweiter und dritter Lesung beraten werden. Das ist ein normaler Vorgang, wie er jeden Tag passiert. Dies kann man nicht als Verschleierung bezeichnen.
Es ist klar, dass es Ihnen politisch nicht passt, Herr Kolb,
dass ein solcher Gesetzentwurf von Rot-Grün auf den
Weg gebracht wird. Das liegt nicht in der Logik Ihres
Denkens; deswegen sind Sie ja auch in der Opposition
und haben keine Mehrheit in der Bevölkerung. Sie sehen
die Dinge nun einmal falsch, Rot-Grün sieht die Dinge
mit der Unterstützung dieses Volkes richtig. So ist die
Lage zurzeit nun einmal.
({1})
Lassen Sie mich inhaltlich nur kurz auf einige Punkte
eingehen, da wir diese Debatte spätestens bei der zweiten
und dritten Lesung des Tariftreuegesetzes noch intensiver
führen werden. Ich muss Ihnen heute erneut vorwerfen,
dass die Krise der deutschen Bauwirtschaft von Ihnen völlig falsch eingeschätzt wird, auch die Ursache dafür. In
Ihrem Antrag schreiben Sie, dass diese Regierung für die
Krise der deutschen Bauwirtschaft verantwortlich sei. Ich
habe an dieser Stelle schon einmal deutlich gemacht, dass
diese Probleme seit 1995 vorhanden und konjunktureller
und struktureller Natur sind, was nachweislich vor allen
Dingen auf eine falsche Steuerpolitik der ehemaligen Regierung und nicht auf die Politik, die wir in den letzten
vier Jahren gemacht haben, zurückzuführen ist. Dafür,
dass Sie versuchen, das in der Öffentlichkeit so darzustellen, habe ich Verständnis. Die meisten kapieren schon,
dass Sie völlig falsch liegen.
({2})
Wegen meiner Redezeit, die bei einer Debattendauer
von 30 Minuten nicht allzu lang ist, gehe ich in diesem
Zusammenhang nur noch auf einen Punkt ein, der Sie etwas mehr beeindrucken sollte als das, was Sie sich darüber bisher haben sagen lassen oder selbst ausgedacht
haben, Herr Kolb. Das, was wir planen, nämlich ein Gesetz, in dem bei der öffentlichen Vergabe auf die Spielregeln geachtet wird - es geht nicht um das Eingreifen in
den Markt, sondern um das Vergeben von öffentlichen
Aufträgen, die ausschließlich aus Steuergeldern finanziert
werden -, ist nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches in
der Welt. Viele Bundesstaaten der USA haben positive Erfahrungen mit vergleichbaren Gesetzen gemacht. Wir haben festgestellt, dass sich die Preise für die Bauwirtschaft
in den Ländern, in denen es ein solches Vergabegesetz
gibt, erheblich besser stabilisiert haben und dass die Unternehmen dort froh sind, dass der Staat die Vergabebedingungen schützt.
Sie schreiben in Ihrem Antrag etwas von einer Verfassungsproblematik.
({3})
- Es ist doch in der Anhörung klargestellt worden, dass
unser Gesetz europakonform sein wird.
Die grundsätzliche Überlegung ist: In unserem Land
will der Staat den Arbeitnehmern nicht vorschreiben, wie
hoch ihr Lohn ist, und auch nicht den Arbeitgebern vorschreiben, wie hoch der Lohn ist, den sie zu zahlen haben.
Vielmehr sagt das Grundgesetz, dass Arbeitgeber und
Gewerkschaften die Löhne aushandeln. Das heißt, eine
Aufgabe, die anderenorts vom Staat selbst wahrgenommen wird, ist bei uns den Tarifvertragsparteien übertragen
worden. Angesichts dieser Vorschrift im Grundgesetz ist
der Gesetzgeber meiner Meinung nach dann aber verpflichtet, zu überprüfen, ob sein Auftrag auch eingehalten
wird. Das ist doch keine privatrechtliche Veranstaltung,
bei der sich ein paar Leute zusammensetzen und einen
Vertag zulasten von wem auch immer abschließen. In unserem Land haben wir uns darauf geeinigt, dass die Tarifvertragsparteien, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Arbeitsbedingungen regeln. Dann haben
wir doch auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit,
darauf zu achten, dass das gilt, was sie miteinander geregelt haben, zumindest dann, wenn Aufträge aus Steuergeldern vergeben werden.
({4})
Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen, auch wenn
Ihnen das wegen Ihrer Denke schwer zu vermitteln ist. Ich
bedaure das außerordentlich, hoffe aber, dass sich dieser
Ansatz bei Ihnen festsetzt.
Dann sprechen Sie immer vom Diktat des IG-BAUVorsitzenden. Dass man hier differenzieren muss, wird Ihnen in dieser Legislaturperiode nicht mehr beizubringen
sein, vielleicht - ich weiß nicht, ob Sie in den Bundestag
zurückkommen - auch in der nächsten nicht. Es ist nicht
mein Herzensanliegen, sondern es ist das Herzensanliegen von 70 000 Bauunternehmern und von 700 000 Bauarbeitnehmern.
({5})
- Hören Sie einmal zu: Es geht nicht um die Arbeitnehmer allein. Fragen Sie einmal Tausende von Arbeitgebern
in diesem Bereich, die keine Rendite mehr haben und
nicht mehr wissen, wie der Wettbewerb funktionieren
soll und wie sie bei der gegebenen Dumpingsituation
überhaupt noch rentierliche Geschäfte machen können.
({6})
Wenn der Markt absolut ungeregelt ist, wie es Ihrer Ideologie und Philosophie entspricht, ist dies nicht zum Vorteil, sondern zum Nachteil des Arbeitgebers. Das ist in der
Statistik der deutschen Bauwirtschaft nachzulesen und hat
nichts mit den Interessen eines Gewerkschafters, sondern
mit dem realen Funktionieren des Marktes zu tun. Ich bitte
Sie einfach, das zur Kenntnis zu nehmen.
Darüber hinaus muss ich noch einmal deutlich machen,
dass es nicht der Wunsch des Vorsitzenden der Gewerkschaft, sondern der des Abgeordneten Wiesehügel ist. Er
steht vehement dahinter, weil er von Arbeitgebern und
von Arbeitnehmern aus der Baubranche angesprochen
wird. Er wird auch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
aus dem öffentlichen Personennahverkehr angesprochen.
({7})
Es ist also keine nur auf den Bau bezogene Angelegenheit, wie Sie denken, sondern es handelt sich um ein
breites Problem, das viel mehr Menschen als nur diejenigen betrifft, die im Baugewerbe tätig sind. Deswegen
hat es mit mir persönlich nichts zu tun. Hier geht es um
ein dringendes Bedürfnis, das diese Regierung erfüllen
muss.
Herr Kolb, lassen Sie es sich von mir gesagt sein:
Nichts ist so dringend wie dieses Gesetz. Mit der heutigen
Showveranstaltung werden Sie es auch nicht verhindern.
Wir werden den Gesetzentwurf, sobald er endgültig formuliert ist, rechtzeitig in den Deutschen Bundestag einbringen.
({8})
Dann können wir uns im Rahmen der zweiten und dritten
Lesung dieses Gesetzes noch einmal darüber unterhalten.
Sie werden sich wundern, welch hervorragendes Gesetz
Rot-Grün hier einbringen wird. Mit diesem Gesetz werden die meisten Menschen in diesem Land nicht nur einverstanden sein, sondern sie werden froh sein, dass es
endlich kommt, denn es wird heiß ersehnt.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Kuhn.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Verehrter Herr Kollege Wiesehügel, Sie
haben die Thematik des Tarifzwangs aus der Sicht eines
Gewerkschafters beurteilt, der natürlich auch die Flächentarifverträge im Auge hat. Sie müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Unternehmen der Baubranche in
Ostdeutschland nur zu 10 Prozent in diese Flächentarifverträge eingebunden sind.
({0})
90 Prozent der Unternehmen arbeiten vernünftig mit ihren
Betriebsräten zusammen; dort besteht ein ordentliches
Verhältnis in der Übereinkunft, im Hinblick auf die Betriebsphilosophie die Karten klar auf den Tisch zu legen.
Sie wissen, wie bescheiden die Auftragslage im Bereich
der Bauwirtschaft in Ostdeutschland ist.
({1})
Deshalb kann ich Ihnen, Herr Kolb, nur zustimmen:
Das Tariftreuegesetz ist das falsche Signal zum falschen
Zeitpunkt. Es geht zulasten derjenigen, die schon jetzt in
wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken.
({2})
- Das können Sie aber annehmen. Ich war Bürgermeister
und Landrat. Ich kenne die Vergabekriterien nach VOB
und VOL und all das, was notwendig ist.
Wenn ich meine Leute schützen will, dann muss ich
überlegen, ob ich nicht einen öffentlichen Teilnehmerwettbewerb durchführe, damit ich nicht immer die GUs,
also die großen Unternehmen, bevorteile, sondern die kleinen und mittelständischen Unternehmen ganz speziell fördern kann. Achten Sie deshalb doch lieber darauf, dass der
Mindestlohn von 16,47 DM, den die Leute auf dem Bau
unbedingt brauchen, eingehalten wird! Kämpfen Sie gegen Schwarzarbeit.
Wenn Sie den Tarifzwang durchsetzen wollen, dann
müssen Sie in den Verordnungen zu den Ausschreibungsunterlagen weitere zehn Blätter vorsehen. Das muss alles
kontrolliert werden. Wir müssen hinter jeden einzelnen
Arbeitnehmer noch jemanden stellen, der aufpasst, dass
alle Bedingungen eingehalten werden.
Ursache für die Lage in der Bauwirtschaft ist nicht nur
die von Ihnen immer wieder gegeißelte, angeblich verfehlte
Steuerpolitik der Bundesregierung von 1990 bis 1998. Wir
haben damals mit den Mitteln der steuerlichen Bevorteilung erst einmal das Kapital in Richtung Ostdeutschland
gebracht. In diesem Zusammenhang waren das Bauen und
die Immobilien sehr wichtig. 80 Prozent dessen sind uns
geglückt.
Herr Schulz, Sie äußern auch immer wieder, es gebe so
viele leer stehende Wohn- und Büroräume. Wir haben ganze
Industriezweige wie die Landwirtschaft und den Metallbau,
in denen sich die Auftragslage 1990 stark verschlechterte,
umstrukturiert und deren frühere Beschäftigte in die Bauwirtschaft gelenkt. Die jetzige Bundesregierung aber hat
es versäumt, eine solche Rückführung und Umstrukturierung und eine Überprüfung in neue Berufsgruppen
überhaupt in Angriff zu nehmen. Deshalb haben wir jetzt
dieses Desaster.
Mit der Verabschiedung Ihres Tariftreuegesetzes werden Sie erreichen, dass ostdeutsche Bauunternehmen
überhaupt keine Chance mehr haben, sich am öffentlichen
Wettbewerb in den alten Bundesländern zu beteiligen;
das bedeutet für sie eine echte Wettbewerbsbenachteiligung. Insofern kann ich dem Antrag der Kollegen der
FDP nur zustimmen: Dem muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden, damit wieder vernünftige Verhältnisse
der Marktwirtschaft eintreten.
({3})
Die Auftragslage in den neuen Bundesländern ist nicht
nur deshalb so schlecht, weil das Gros der Bauaufträge abgearbeitet wurde, sondern auch, weil die Bundesregierung
bei den Förderungen gemäß ihrem Investitionsprogramm
die Schraube weiter heruntergedreht und Einsparungen in
Ostdeutschland verordnet hat. Das können Sie nachlesen.
In den 90er-Jahren gab es im Bereich der öffentlichen Aufträge viel mehr Möglichkeiten, Infrastruktur zu schaffen,
angefangen vom Feuerwehrhäuschen über Straßen und
Fußwege bis hin zu den Möglichkeiten, das Wohnumfeld
in den Plattenbausiedlungen zu verbessern, weil diese Maßnahmen mit finanziellen Programmen unterfüttert wurden.
Das hat sich mittlerweile in eine ganz andere Richtung entwickelt. Die entsprechende Auftragsdecke ist sehr gering
geworden.
Die Steuerreform von Herrn Eichel hat insbesondere
ostdeutsche Städte und Gemeinden getroffen; sie haben
nun keinen Finanzspielraum mehr und können dadurch
auch keine öffentlichen Aufträge mehr vergeben. Die Unternehmer stehen in den dortigen Bürgermeisterämtern
Schlange und fragen nach Aufträgen. Der Bürgermeister
oder der Landrat muss sagen: Es tut mir Leid; mir sind
durch die jetzt beschlossene widerliche Steuerreform
({4})
praktisch alle Einnahmen aus der Gewerbesteuer weggenommen worden. Ich habe keinen Finanzspielraum und
kann deshalb nicht mehr agieren.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich unsere
Bauunternehmen am freien Markt in die Richtung bewegen müssen, wo sich Arbeit findet, aus Mecklenburg-Vorpommern und der Lausitz nach Nordrhein-Westfalen oder
Hamburg gehen und dort Aufträge von der freien Wirtschaft gewinnen, soll in Ordnung sein. Dafür erfüllen sie
alle Bedingungen, die notwendig sind, und liefern die richtige Leistung zum richtigen Zeitpunkt und der Auftraggeber ist zufrieden. Aber bei der öffentlichen Auftragsvergabe soll das nicht der richtige Weg sein? Das ist eine
Wettbewerbsbehinderung, mit der wir uns ebenso wie die
Unternehmen in Ostdeutschland nicht einverstanden erklären können. Wir werden zusammen mit der FDP für diesen
Antrag streiten, damit endlich Chancen- und Wettbewerbsgleichheit entsteht.
({6})
- Ja, in Bayern war das auch so. Jetzt fängt diese Litanei
wieder an, verehrter Herr Wiesehügel.
({7})
Das war ein zentraler Punkt, als der Großflughafen
„Franz-Josef-Strauß“ in München gebaut worden ist und
die europäische Harmonisierung im Bereich der Bauwirtschaft noch nicht so weit fortgeschritten war, dass Chancengleichheit erreicht war. Das ist mittlerweile längst auf
ein vernünftiges Niveau gebracht worden, sodass solche
direkten Regulierungen nicht mehr unbedingt benötigt
werden. Sie gehören insgesamt abgeschafft, damit der
freie Wettbewerb wieder eine vernünftige Chance hat.
({8})
Diesbezüglich gibt es, weil die Menschen hinter der
Arbeit herziehen, in den neuen Bundesländern ein massives Abwanderungsproblem. In der Bauwirtschaft zeigt
sich das eindeutig. 50 Prozent der Firmen im Baugewerbe in Ostdeutschland - sowohl im Bauhaupt- als auch
im Baunebengewerbe - sind längst in Insolvenz gegangen
und vom Markt verschwunden.
({9})
Jetzt müssen wir darauf achten, wenigstens die restlichen
Firmen in ein vernünftiges wirtschaftliches Fahrwasser zu
bringen. - Vielleicht sind es sogar noch mehr als 50 Prozent, Herr Wiesehügel.
Ich danke all denen, die als Betriebsräte mit den Unternehmern zusammen die Firmenphilosophie ihrer Bauunternehmen vernünftig begleiten und sagen: Jawohl, so
weit können wir die Lohnforderungen gemeinsam einhalten. Denn der Unternehmer ist meist mit seiner Familie,
seinem Haus und seiner Lebensversicherung im Unternehmen verschuldet. Wenn das den Bach heruntergeht,
hat er auch persönlich ein Riesenproblem. Die Unternehmer sind aber die Pioniere des Aufbaus in Ostdeutschland.
({10})
Wir können sie nicht so behandeln, wie Sie das derzeit
tun. Wir müssen zu ihnen stehen. Deshalb stimmen wir
dem Antrag zu.
({11})
Jetzt hat der Abgeordnete Werner Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Kuhn, vielleicht denken Sie noch einmal darüber
nach, ob Sie damit etwas Gutes tun, wenn Sie diesem Antrag zustimmen. Vielleicht sollten Sie es davon abhängig
machen, wie der Gesetzentwurf, den wir als Koalition eingebracht haben, in der nächsten Woche bei der zweiten
und dritten Lesung aussieht.
({0})
Ich gebe Ihnen Recht, Kollege Kolb, dass man keine
Politik gegen den Markt betreiben kann, aber ich meine,
man kann auch keine Politik gegen die Beschäftigten machen. Das ist ein anderer Grundbestandteil der sozialen
Marktwirtschaft.
({1})
Wenn Ihre Kollegin Pieper verbreitet - so wie sie das
gestern getan hat -, dass den ostdeutschen Bauunternehmen durch das Tariftreuegesetz eine große Pleitewelle
drohe, dann handelt die resignierte Ministerpräsidentin in
spe falsch.
({2})
Sie verbreitet zwar Stimmungen, aber nicht die Wahrheit.
({3})
Die Wahrheit ist, dass Sie mit dieser Resignation, mit
Missmut, Verzweiflung und dergleichen mehr eben nicht
die Stimmung in Sachsen-Anhalt kippen können. Ich
hoffe, dass nach Ihrem möglichen Wahlerfolg nicht ein fader Nachgeschmack bleiben wird, ein liberaler Abgang
à la Rexrodt, nämlich dass zwar im Wahlkampf große
Sprüche geklopft werden, dem aber dann klammheimlich
und leise weinend der Abgang folgt.
Entscheidend ist die Eigenverantwortung - das kommt
in Ihrem Antrag auch nicht zur Sprache - hinsichtlich der
Frage, warum die Krise in der Bauwirtschaft eigentlich
besteht. Es sind nicht nur die Überkapazitäten, Kollege
Kuhn, die durch großzügige Steuerabschreibungen geschaffen worden sind. Natürlich ist nicht jedes Bauvorhaben verfehlt gewesen, aber es gibt im Osten eine ganze Menge von
Investitionsruinen und Bürogebäuden, die niemand so
richtig braucht und die durch Steuermittel finanziert worden
sind. Wir haben eine überdimensionierte Bauindustrie, die
in dem Maße heute niemand mehr braucht. Der Gesundschrumpfungsprozess lässt sich aber nicht einfach gestalten.
Genauso schwierig ist das Problem der Schwarzarbeit
am Bau zu lösen. Dieses Problem ist einer der Hauptgründe dafür, warum es der Baubranche schlecht geht.
Das hängt mit den hohen Lohnnebenkosten zusammen.
Der Anteil der Lohnnebenkosten ist im Übrigen in Ihrer
Regierungszeit von 34 Prozent auf 43 Prozent gestiegen.
({4})
- Während unserer Regierungszeit sind sie - das wissen
Sie doch - durch die Ökosteuer im Grunde genommen
eingefroren worden. Sie haben die Kosten der deutschen
Einheit über die Lohnnebenkosten finanziert. Das hat in
der Baubranche mächtig zu Buche geschlagen.
Ich möchte Ihnen ganz klar sagen - daraus habe ich nie
ein Geheimnis gemacht -, dass meine Fraktion mit dem
Tariftreuegesetz, so wie es in erster Lesung eingebracht
worden ist, nicht zufrieden war. Wir haben deshalb in Gesprächen mit der SPD-Fraktion - Sie werden das im Detail
nächste Woche erfahren - eine Lösung gefunden: Durch
ein Stufenmodell wird das Gefälle zwischen den Ost- und
den Westtariflöhnen schrittweise ausgeglichen. Dieses
Modell sieht auch einen etwas höheren Auftragswert vor,
als wir das ursprünglich geplant hatten.
Wir werden darüber hinaus die Bundesanstalt für Arbeit von den Kontrollpflichten entbinden, weil solche
Kontrollen zweckfremde Aufgaben für die Bundesanstalt
für Arbeit wären. Wir werden auch ein so genanntes Sündenregister auflegen, in dem künftig Betriebe, die mit
Lohndumping, Billigangeboten und anderen unfairen Methoden operieren, registriert werden. Ich glaube, wir haben
eine Lösung gefunden, die der ostdeutschen Bauwirtschaft
den Übergang sehr einfach machen wird. Das ist ein gutes
Angebot an die ostdeutsche Bauwirtschaft; denn im Grunde
genommen werden die tariflich nicht gebundenen Betriebe
auch davon profitieren. Diese werden künftig bei der Vergabe öffentlicher Aufträge besser zum Zuge kommen. Wir
leisten damit einen echten Beitrag zur Liberalisierung des
Wettbewerbes, der nicht nur aus Lohndumping und dem
billigsten Angebot besteht. Im Wettbewerb muss sich in
erster Linie besserer Service und besserere Qualität behaupten können. Das Ganze muss allerdings entsprechend
sozial eingebunden werden.
Sie wissen, Fakt ist, das Tariftreuegesetz ist nicht nur
eine Angelegenheit des Bundes. Solche Gesetze gibt es
auch in Bayern, im Saarland und in Sachsen-Anhalt. Das
Tariftreuegesetz ist also keine rot-grüne Erfindung. Wir
wollen lediglich dafür sorgen, dass in der ganzen Bundesrepublik in etwa vergleichbare Kriterien bei der Vergabe
öffentlicher Aufträge berücksichtigt werden.
Ich hoffe, dass das, was wir erarbeitet haben, nächste
Woche Ihre Zustimmung finden wird.
({5})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Wiesehügel.
Herr Kuhn, Sie haben vorhin gesagt, dass die Hälfte der Baufirmen in Ostdeutschland bereits in Konkurs gegangen sei. Ich habe Ihnen an
dieser Stelle lautstark zugerufen - das war sicherlich ungebührlich; deswegen möchte ich es jetzt in der richtigen
parlamentarischen Form tun -, dass das nicht der Wahrheit
entspreche. Ich bitte Sie, das, was Sie gesagt haben, noch
einmal zu überprüfen. Dann werden Sie nämlich feststellen, dass sich die Zahl der Bauunternehmen in den neuen
Bundesländern seit 1995 erhöht hat, wenn auch nur gering. Halbiert hat sich die Zahl der Arbeitnehmer, nicht die
der Betriebe. Die Zahl der Betriebe hat sich im gleichen
Zeitraum um 46 erhöht. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen und sich demnächst sachkundig zu machen, bevor
man hier etwas behauptet.
Danke.
Das Wort zur Erwiderung hat der Kollege Kuhn.
Herr Kollege
Wiesehügel, in statistischen Dingen sind Sie sicherlich
sehr bewandert und wissen auch, sie entsprechend darzustellen. Ich sage nur: Die Unternehmen, die Sie gerade angesprochen haben und deren Zahl nach Ihren Worten gestiegen ist, bestehen aus Auffanggesellschaften. Es handelt
sich also um Unternehmen, die nach der Liquidation bzw.
der Insolvenz neu aufgebaut worden sind. Aber die Hälfte
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - da haben Sie
völlig Recht - stehen mit leeren Händen da. Damit nicht
genug: Sie wollen nun diejenigen, die noch Arbeit haben,
benachteiligen. Das wollte ich Ihnen bloß sagen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulla Lötzer.
Werner Schulz ({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kolb, auch wenn Sie gerade nicht
zuhören: In vielen Ihrer Programme, in vielen Ihrer Reden
treten Sie von der FDP für die direkte Demokratie ein und
Sie fordern möglichst viele Chancen für die Bürgerinnen
und Bürger zur Gestaltung ihres Lebens. Dass die Demokratie für Sie allerdings spätestens vor dem Betrieb Halt
macht, das verschleiern Sie sowohl in Ihrer Rede als auch
in Ihrem Antrag.
Für uns gilt das nicht: Demokratie darf gerade nicht vor
den Werkstoren Halt machen; deshalb ist die Tarifautonomie ein Grundbestandteil sozialer Demokratie und
nicht das von Ihnen eben wieder beschimpfte Tarifkartell.
({0})
Deshalb ist ein Tariftreuegesetz längst überfällig. Ein solches Gesetz wäre nicht die Instrumentalisierung des Vergaberechts für vergabefremde Zwecke.
Statt demokratische Gestaltungszwecke auch da einzufordern, wo sie gefährdet sind, setzen Sie mit Ihrem Antrag auf nichts anderes als auf Verdrängungswettbewerb,
Tarifflucht und die Ausweitung illegaler Beschäftigung.
({1})
- Das tue ich.
({2})
Das führt zu Arbeit auf oder unter dem Sozialhilfeniveau
und es ist nicht gerade familienfreundlich, zuzusehen, wie
Familien durch diese Entwicklung zunehmend in die Armut getrieben werden. Auch das muss man deutlich sagen.
Dass Dumpingkonkurrenz weder die zukünftige Wirtschaftsentwicklung fördert noch Arbeitsplätze sichert, gerade das zeigt das Beispiel Ostdeutschland.
({3})
- Auch dazu komme ich gleich. - Im Gegenteil: Die Binnennachfrage und die Entwicklungschancen überlebensfähiger Baubetriebe, gerade im Osten, werden zerstört.
Unternehmen durch wirksame Kontrollen vor Schmutzkonkurrenz zu schützen, die sie in den Ruin treibt, ist für Sie
wuchernde Kontrollbürokratie und ein Versuch der Kriminalisierung von Wettbewerbern. Erpresserische Ausbeutung illegal in die Bundesrepublik gekommener Menschen,
dadurch erlangte unlautere Wettbewerbsvorteile und Verstöße gegen Arbeits- und Sozialgesetze sind nach Ihrem
Antrag dagegen Kavaliersdelikte, in die sich die Politik
nicht einmischen soll. Das heißt nichts anderes als Bereicherung der Skrupellosen und Ruinierung der Betriebe,
die sich an Tarife halten. Ein demokratischer und sozialer
Rechtsstaat ist das nicht.
Herr Schulz, noch ein Wort zu Ihnen: Dass die FDP einen solchen Antrag heute einbringt, hat natürlich auch mit
Ihrer Blockadehaltung gegen das Tariftreuegesetz zu tun;
({4})
denn die Verpflichtung - das sage ich Ihnen schon einmal
im Hinblick auf die Auseinandersetzung in der kommenden
Woche - müsste den Punkt einschließen, Lohndumping sofort und zu 100 Prozent zu verhindern. Tariftreue auf Raten, wie Sie sie in das Gesetz einbringen, darf es nicht geben; denn das heißt Tarifdumping und Elend auf Raten.
Deshalb hoffen wir, dass Sie Ihre Haltung bis zur Auseinandersetzung in der nächsten Woche noch ändern.
Danke.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Weiermann.
Frau Präsidentin!
Meine Damen! Meine Herren! Eines muss man der FDP
an dieser Stelle einmal deutlich sagen:
({0})
- Ja, konsequent sind Sie. ({1})
Bei Ihnen geht es in der Tat um Deregulierung um jeden
Preis. Das zeigt sich nicht nur in diesem Antrag, sondern
auch bei Ihrer Haltung zur Reform der Betriebsverfassung, die erst vor wenigen Monaten beschlossen worden
ist.
({2})
Wir kennen Ihre Anträge gegen den Flächentarifvertrag
und wir kennen Ihre Anträge zu betrieblichen Bündnissen
für Arbeit. Das ist nichts anderes als der Abbau von Rechten.
({3})
Das ist Ihre Linie. Vor diesem Hintergrund kann man Ihnen an dieser Stelle auch sagen: Sie greifen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Koalition pauschal an und
Sie haben es eigentlich darauf abgesehen, die eben genannten Rechte zu tangieren und am besten abzuschaffen.
({4})
Im Grunde genommen verfolgen Sie dieses Ziel mit der
heutigen Debatte und mit diesem Antrag.
In diesem Antrag ist die Rede von einem weiteren
Rückgang des öffentlichen Auftragsvolumens.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Ja, bitte.
({0})
Ich mache es auch ganz
kurz.- Herr Kollege Weiermann, ich habe Ihnen doch vorgelesen: Ihr Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung empfiehlt Ihnen dringend, das Tariftreuegesetz nicht zu realisieren. Wollen Sie
dann, wenn Sie schon uns beschimpfen und nicht auf
mich hören, bitte wenigstens auf Ihren Sachverständigenrat hören?
Ich sage Ihnen an dieser Stelle, dass das Tariftreuegesetz im Rahmen des Vergaberechts den Sinn hat, genau die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland zu schützen, die sich an Gesetze
und Tarifverträge halten und damit ihren Beitrag zu einem
Wettbewerb leisten, der in normalen Bahnen verläuft.
({0})
Dazu stehen wir und das werden wir in der nächsten Woche auch durchbringen.
({1})
Sie sprechen in Ihrem Antrag von „wuchernder Kontrollbürokratie“ und „Kriminalisierung von Wettbewerbern“. Herr Kolb, das klingt alles so fürchterlich, dass sich
die Haare sträuben, nur ist das schlicht und einfach nicht
wahr. Es ist falsch. Was Sie hier betreiben, ist unseriös.
({2})
Sie führen sich als selbst ernannte Hüter des Wettbewerbs
auf,
({3})
wollen aber nicht zur Kenntnis nehmen, dass das Prinzip
der Tariftreue im öffentlichen Vergaberecht eine unverzichtbare Bedingung für fairen Wettbewerb ist, wie ich
vorhin schon einmal gesagt habe.
Ihr Antrag ist kein Beitrag zur Sicherung der Wettbewerbschancen. Er ist ein Beitrag zur Festschreibung von
Wettbewerbsverzerrungen. Genau das Gegenteil von dem,
was Sie uns hier sagen, tritt bei einer solchen Entwicklung
ein. Grauzonen im Tarifrecht, geduldete Verstöße gegen
geltende und akzeptierte Normen höhlen den Wettbewerb
aus. Genau das wollen wir als Grüne und Sozialdemokraten
mit unserem Gesetzentwurf, der in der nächsten Woche
behandelt wird, verhindern. Das ist der elementare Unterschied zu Ihnen.
({4})
Öffentliche Auftraggeber haben letztlich eine Vorbildfunktion bei der Auftragsvergabe. Die Deregulierung, welche die FDP in diesem Bereich fordert, zerstört jedoch
über kurz oder lang das Tarifrecht. Das wollen Sie auch.
({5})
Das ist das Ziel, welches die FDP wohl langfristig im
Auge hat und für dessen Erreichung sie anscheinend auch
bereit ist, den lauteren, den vernünftigen, den fairen Wettbewerb zu opfern. Sehr geehrter Herr Kolb, was Sie hier
vortragen und was Sie geschrieben haben, ist geradezu
abenteuerlich. Wir werden diesen abenteuerlichen Weg
nicht mitgehen.
({6})
Der Wettbewerb darf nicht zulasten der Lohn- und Arbeitsbedingungen, der Beschäftigten und der Qualität der
Leistung gehen. Nach dem FDP-Antrag wäre dies aber so.
Im Baubereich ist es in den letzten Jahren mit dem
massiven Einsatz von Billiglohnkräften zu starken Wettbewerbsverzerrungen gekommen. Für den Bereich des
öffentlichen Personennahverkehrs ist angesichts der bevorstehenden Liberalisierung auf europäischer Ebene eine
ähnliche Entwicklung zu erwarten. Gerade in mittelständischen Unternehmen sind aufgrund der Wettbewerbsverzerrungen Arbeitsplätze in hohem Maße gefährdet. Mittelständische Unternehmen leiden besonders unter den
starken Wettbewerbsverzerrungen.
Durch die Tariftreueverpflichtung im Vergaberecht
werden Wettbewerbsnachteile gesetzes- und tariftreuer
Unternehmen gegenüber den Billiglohnkonkurrenten vermindert.
({7})
Das ist die Linie, die wir verfolgen sollten. Es kann doch
letztlich nicht schlecht sein, wenn es einem vernünftigen
Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland dient.
({8})
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das Gesetz
auch die sozialen Auswirkungen der Wettbewerbsverzerrungen bekämpfen soll. Dies scheint ein Aspekt zu
sein, der die FDP in besonderem Maße irritiert. Mit dem
Vergabegesetz werden die Belastungen für die Arbeitslosenversicherung und die Beitragszahler verringert und die
Sozialkassen stabilisiert. Für die Arbeitnehmer werden
ein angemessenes Einkommensniveau und der notwendige Schutz, den der Flächentarifvertrag bietet, gewährleistet. Das ist auch gut so, Herr Kolb; wir werden davon
nicht ablassen.
({9})
Dies ist für uns ein enorm wichtiger Punkt: Arbeitnehmer wären eine beliebige Manövriermasse in einem deregulierten Wettbewerb, wie ihn sich die FDP vorstellt. Das
machen wir nicht mit.
({10})
Das Ziel des Vergaberechts, wie es die FDP formuliert,
nämlich „wirtschaftliche Beschaffung zu organisieren“,
kann und darf nicht über der Sicherung der sozialen Maßstäbe stehen, die eine gerechte und soziale Politik ausmachen. Der soziale Friede in unserem Land ist ein zu hohes Gut, als dass man ihn auf dem Altar der Deregulierung
opfern dürfte. Fairer Wettbewerb ist nicht identisch mit
dem Recht des Stärkeren und bedeutet schon gar nicht,
dass Arbeitnehmer vogelfrei sind.
({11})
Was sind denn konkret die Kritikpunkte im Antrag der
FDP? Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass die
endgültige Fassung des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen noch nicht erstellt ist. Hier werden mit Sicherheit noch die Erkenntnisse der Anhörung vom 25. Februar
2002 eingehen.
({12})
Dazu gehören die Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den Vorschriften der EU sowie verfassungsrechtliche Bedenken. Frau Professor Rust und Herr Professor
Däubler haben diese Bedenken jedoch in der Anhörung
sozusagen ausgeräumt und deutlich gemacht, dass das
sehr wohl mit europäischem Recht vereinbar ist.
Herr Kollege,
achten Sie bitte auf die Zeit.
Darüber hinaus beinhaltet der Antrag nur pauschale Vorwürfe und die schon
hundertmal gehörten Vorstellungen - man möchte fast sagen: Zwangsvorstellungen - der FDP. Dass Sie auf dem
von Ihnen reklamierten Gebiet des Wettbewerbsrechts so
eklatant versagen, ist schon sehr bemerkenswert. Überraschen tut es uns allerdings nicht.
Sie werden erleben, dass die Koalition in der nächsten
Woche ein Gesetz auf den Weg bringt, das uns allen dient,
den Wettbewerb stabilisiert und die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer vor solchen Wünschen schützt, wie Sie
und Ihre Partei sie in den vergangenen Jahren mehrfach
geäußert haben.
({0})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8510 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert,
Dr. Christa Luft, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung Alleinerziehender
- Drucksache 14/8274 ({0})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 14/8807 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Nicolette Kressl
Carl-Ludwig Thiele
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/8809 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Ab eordneten Dr. Barbara Höll,
Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der PDS
Gerechtigkeit im Familienlastenausgleich her-
stellen
- Drucksachen 14/8273, 14/8808 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Nicolette Kressl
Carl-Ludwig Thiele
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist eine halbe
Stunde für die Aussprache vorgesehen, die Fraktion der
PDS wird fünf Minuten erhalten. Kein Widerspruch? -
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Dabei möchte ich erwäh-
nen, dass die Abgeordnete Ina Lenke bittet, ihre Rede zu
Protokoll geben zu dürfen1). Das machen wir dann so.
Die Aussprache wird nun von Simone Violka eröffnet.
1) Anlage 3
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familien sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Deshalb stehen sie und
ihre Belange auch im Mittelpunkt unserer Politik. Die Familienpolitik, die wir 1998 vorgefunden haben, war dieses Namens nicht würdig. Das hat ja nicht zuletzt auch das
Bundesverfassungsgericht der ehemaligen CDU/CSUund FDP-Regierung ins Stammbuch geschrieben.
Wir haben die Wichtigkeit der Familien nicht erst im
Wahlkampf entdeckt,
({0})
sondern seit unserem Regierungsantritt gezeigt, was sie
uns wert sind. So haben wir allein im Rahmen des Familienlastenausgleichs die Aufwendungen für Familien um
8 Milliarden Euro erhöht. Damit nicht genug: Im Vergleich
zu 1998 hat heute eine durchschnittliche Arbeitnehmerfamilie jährlich bereits 1 800 Euro mehr zur Verfügung. Das
ergibt sich aus der Kindergelderhöhung von insgesamt
80 DM pro Monat und der Steuerreform, die vor allen
Dingen die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen
entlastet.
Geld allein reicht nicht, wenn man Familien fördern
will. Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
müssen stimmen.
({1})
Wir haben, wo es im Rahmen unserer politischen Möglichkeiten lag, zukunftsweisende Neuerungen eingeführt.
Ich nenne nur die Elternzeit für Väter und Mütter, den Gewaltschutz, den Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende,
mehr Chancengleichheit für Frauen im Beruf, Verbesserungen beim BAföG und Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit, um nur einige Punkte zu nennen.
Nicht alles kann man aber politisch regeln. Vieles muss
sich auch im Verständnis der Gesellschaft ändern. An dieser Stelle möchte ich deshalb an die Bürgerinnen und Bürger appellieren, sich dieser Verantwortung bewusst zu
werden. Dazu gehört auch der Umgang miteinander, der
Umgang mit Familien und vor allem mit Kindern, die viel
zu häufig als störend empfunden werden, wenn sie durch
die Wohnung oder den Garten toben.
Ansprechen will ich noch ein anderes Problem, das sich
ebenfalls nicht politisch klären lässt, sondern ein Umdenken erfordert. Wenn ein Mann beim Vorstellungsgespräch
nach Frau und Kindern gefragt wird und diese Frage bejaht,
dann ist das häufig für ihn ein Pluspunkt, weil er damit
zeigt, dass er bereit ist, Verantwortung für eine Familie zu
übernehmen. Wenn aber eine Frau auf die gleiche Frage
mit Ja antwortet, dann ist das häufig ein Grund, sie nicht
einzustellen, denn sie könnte ja wegen der Kinder häufiger ausfallen.
Diese Einstellung ist falsch, sie ist frauen- und familienfeindlich. Es muss unser aller Anliegen sein, diese Ansicht zu ändern.
({2})
Der PDS-Antrag birgt den Vorwurf, dass unsere Familienpolitik Alleinerziehende benachteiligt. Auch in den
Medien wurde das immer mal wieder suggeriert. Das muss
ich an dieser Stelle schlicht und einfach zurückweisen. Das
Kindergeld in Höhe von 300 DM ist eine Vorauszahlung
für viele kindbezogene Steuerfreibeträge und bei einkommensschwachen Familien gleichzeitig eine Förderung.
Kindergeld erhält aber nur, wer auch Kinder hat. Nicht die
Politikerinnen und Politiker, sondern das Bundesverfassungsgericht hat im Haushaltsfreibetrag und damit in der
Steuerklasse II einen ungerechtfertigten Vorteil der Alleinerziehenden im Vergleich zu verheirateten Eltern gesehen und die Gleichstellung gefordert.
({3})
Der Gesetzgeber hat deshalb mit Wirkung zum 1. Januar dieses Jahres eine stufenweise Abschmelzung des
Freibetrages bis zum Jahr 2005 vorgesehen, parallel zur
Einführung des neuen Freibetrages für Betreuung, Erziehung und Ausbildung. Wir schmelzen den umstrittenen
Freibetrag also langsam ab, um den Betroffenen einen sanften Übergang in ein neues, verfassungskonformes System
zu ermöglichen.
Diese Regelung galt bislang allerdings nicht für Steuerpflichtige, die erst ab dem Jahr 2002 Alleinerziehende
werden, so genannte Neufälle, weil man glaubte, die verfassungsrechtlich problematische Gewährung der Steuerklasse II nicht auf Neufälle ausdehnen zu können. Die
Regierungskoalition hat jetzt beschlossen, diese Neufälle
rückwirkend in die Abschmelzungsregelung einzubeziehen. Damit wird in den Jahren bis zum vollständigen
Wegfall des Haushaltsfreibetrages nicht mehr zwischen
alten und neuen Alleinerziehenden unterschieden.
Allerdings will ich an dieser Stelle auch noch einmal
darauf hinweisen, dass der Haushaltsfreibetrag eben nicht,
wie oftmals fälschlich behauptet, ersatzlos gestrichen
wird. Mit dem zum 1. Januar in Kraft gesetzten Freibetrag
für Betreuung, Erziehung und Ausbildung in Höhe von
2 160 Euro pro Kind haben wir eine Regelung geschaffen,
die das Kind im Vordergrund sieht und nicht den Haushalt.
Während der abgeschaffte Haushaltsfreibetrag nur einmal
pro Haushalt galt, wird der neue Freibetrag pro Kind berechnet.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?
Wir haben im Ausschuss genug darüber diskutiert.
Außerdem besteht die Möglichkeit, erwerbsbedingte
Betreuungskosten geltend zu machen. Das zeigt, dass wir
Sozialdemokraten den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden und es uns wichtig ist, die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf politisch zu unterstützen.
Weil die PDS in ihrem Antrag die Chancengleichheit
anspricht, möchte ich noch auf ein weiteres Thema zu
sprechen kommen, das auch etwas mit Chancengleichheit
zu tun hat, nämlich die Konsolidierung des Haushaltes.
Dieses Thema wird von der Opposition immer wieder
gern infrage gestellt, indem sie unbezahlbare Forderungen aufmacht oder den Bürgerinnen und Bürgern unbezahlbare Dinge verspricht.
({0})
Aber auch die Konsolidierung des Haushalts, von der die
Regierungskoalition nicht abgeht, hat etwas mit Chancengleichheit zu tun. Würden wir sie nicht vornehmen, wie
sähen dann die Chancen der zukünftigen Generationen
aus? Immer mehr Geld müsste für Zinsen aufgebracht
werden und immer weniger Geld würde dann der Gesellschaft, also auch den Familien, zur Verfügung stehen. Ich
halte es für unverantwortlich, das Geld heute auf Pump
mit vollen Händen auszuteilen und es der zukünftigen Generation zu überlassen, mit den Schulden und allen damit
verbundenen Problemen fertig zu werden. Wir wollen,
dass auch die nachfolgenden Generationen die Möglichkeit haben, eine fortschrittliche und vernünftige Familienpolitik zu gestalten.
({1})
Deshalb scheidet für uns eine Familienpolitik aus, die die
nachfolgenden Generationen finanzieren müssen. Schnellschüsse vor der Wahl, wie sie CDU/CSU und auch FDP
schon des Öfteren praktiziert haben - ich erinnere nur an die
berühmten Wahlkampf-ABM -, lehnen wir ab. Damals waren es die ABM-Mittel, heute ist es das von Ihnen so genannte Familiengeld; mit beiden wollen Sie den Bürgerinnen und Bürgern vorgaukeln, Sie hätten etwas für sie
übrig. Aber das hat Ihnen schon damals nichts geholfen
und wird es auch heute nicht.
Sie sind sich ja noch nicht einmal in den eigenen Reihen darüber einig, wie das Konzept dazu aussehen soll
und wie Sie es überhaupt finanzieren wollen. Umverteilung scheint da das Zauberwort zu sein. Herr Merz hat ja
gestern ein wenig die Katze aus dem Sack gelassen, wie
diese Umverteilung aussehen soll.
({2})
Bei der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe soll gespart
werden. Weil das nicht reicht, wie Sie eigentlich selber
wissen sollten, werden Sie wahrscheinlich auch wieder
alte Kamellen aus der Tüte holen. Ich bin sicher, dass Sie
heimlich schon an Konzepten arbeiten, in denen steht, dass
Überstunden und Nachtzuschläge besteuert werden müssen. Wahrscheinlich haben Sie Frau Nolte eingeschärft,
vor der Wahl diesmal nicht zu sagen, dass Sie die Mehrwertsteuer erhöhen wollen.
({3})
Das würde nämlich bedeuten, dass die Krankenschwester,
die Kinder hat, einen Teil ihres so genannten Familiengeldes selber bezahlen muss, weil sie für ihre Zuschläge
Steuern zahlen soll.
Aber damit nicht genug. Sie schweigen sich auch darüber aus, was bei der Umsetzung Ihres Vorschlags mit
dem Kindergeld passieren soll. Wollen Sie es abschaffen?
({4})
Was ist mit dem Freibetrag für Betreuung, Erziehung und
Ausbildung? Wollen Sie den abschaffen? Was ist mit dem
BAföG? Wollen Sie es abschaffen? Was ist mit dem kostenlosen Zahnersatz für Jugendliche? Wollen Sie ihn, wie
Sie es schon einmal getan haben, erneut abschaffen? Ich
kann die Liste meiner Fragen noch verlängern. Aber das
würde meine Redezeit nur sprengen.
Ich garantiere Ihnen, die Bürgerinnen und Bürger werden die entsprechenden Antworten bekommen wollen
und nicht blind Ihren vollmundigen Versprechen auf den
Leim gehen.
Für die SPD-Fraktion jedenfalls gilt: Wir machen Familienpolitik mit Herz und Verstand
({5})
und nicht - wie die CDU/CSU - mit Merz ohne Konzept
und leerer Hand.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Elke Wülfing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Violka, dieser Strauß von
Merkwürdigkeiten, den Sie gerade präsentiert haben, hat
mich wirklich nachdenklich gemacht. Um Ihre Verfehlungen in der Familienpolitik zu beschönigen, haben Sie
versucht, alles Mögliche anzuführen.
Sie haben von Haushaltskonsolidierung gesprochen.
Eines ist richtig: Herr Eichel hat den Haushalt nicht konsolidiert, sondern er hat weiter Schulden aufgehäuft.
({0})
Trotzdem hat er die Familien nicht entlastet.
({1})
Jetzt plötzlich, kurz vor dem 22. September, entdecken
Sie - wie die Grünen, die PDS und die FDP - das Thema
Familie.
({2})
Da Sie an diesem Thema offensichtlich interessiert sind,
werden Sie sicherlich wahrgenommen haben, dass die
CDU im Dezember 1999 auf der Tagung ihres Bundesausschusses ein familienpolitisches Konzept auf den Tisch
gelegt hat.
({3})
- Frau Kressl, ich darf hier zumindest darauf hinweisen,
dass wir das Thema Familienpolitik nicht erst am Vorabend der Wahl entdeckt haben. Die Union, also CDU
und CSU, nimmt dieses Thema länger ernst, als Sie es
tun.
({4})
Wir haben 1999 ein Familienförderkonzept auf den
Tisch gelegt. Es beinhaltete ein Familiengeld und Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
um die Erziehungsfähigkeit der Familien zu stärken. Jetzt
hat Herr Schröder entdeckt, dass dieses Thema möglicherweise für ihn wichtig ist.
Was ich Ihnen, Frau Höll - jetzt sind Sie an der Reihe -,
heute besonders übel nehme, ist, dass die PDS zwei Tage
vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt meint, sie müsse
ihr Fähnchen noch für die Alleinerziehenden heraushängen. Sie werden wissen, dass die SPD im vorigen Jahr von
der Opposition vorgetragene Kritikpunkte zur Ungleichbehandlung von Alleinerziehenden aufgegriffen und ihre
Haltung revidiert hat, ausgerechnet - das muss man sich
einmal vorstellen - im Steuerbeamten-Ausbildungsgesetz!
Ich weiß nicht, was die Familie damit zu tun hat.
({5})
Ich denke, die Alleinerziehenden in Sachsen-Anhalt
sind so intelligent, dass sie diesen Vorschlag als Wahlkampfparole erkennen.
({6})
Sie hätten genauso gut auf die Anhörung und auf die
nächste Sitzungswoche warten können. Ich denke, jeder
kann Ihre Taktik durchschauen.
({7})
SPD und Grüne haben - ich habe es eben schon gesagt ausgerechnet mithilfe des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes versucht, die Situation von Alleinerziehenden ein
klein wenig zu verbessern. In einer Sonderregelung des so
genannten 2. Familienfördergesetzes war vorgesehen, dass
nur Alleinerziehende den abgeschmolzenen Haushaltsfreibetrag bekommen sollen, die bereits im Veranlagungszeitraum 2001 die Voraussetzungen dafür mitbringen. Diese
Regelung bedeutete zum Beispiel, dass eine Alleinerziehende, deren Kind Ende 2001 geboren ist, steuerlich anders
behandelt wird - ihr wird ein abgeschmolzener Freibetrag
zugesprochen - als diejenige Alleinerziehende, deren Kind
nach 2001 geboren wurde. Letztere stand nämlich plötzlich im Regen.
Nun ist es natürlich durchaus richtig, dass man innerhalb der Gruppe der Alleinerziehenden eine Gleichstellung vornimmt. Darüber lässt sich allerdings nicht diskutieren, ohne gleichzeitig zu sagen, dass die Kritik der
Alleinerziehenden daran, dass der Haushaltsfreibetrag bis
2005 abgeschmolzen wird, massiv ist. Über dieses Thema
kann auch nicht diskutiert werden, ohne Kritik daran zu
üben, was im ersten und zweiten Familienfördergesetz erfolgt ist: eine Minimallösung der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils.
({8})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 10. November 1998 zu Recht die steuerliche
Benachteiligung von Ehepaarfamilien im Vergleich zu Alleinerziehenden festgestellt. Es gab dem Gesetzgeber vor,
ab dem Jahr 2000 für alle Eltern zusätzlich zum sächlichen Existenzminimum den Betreuungsbedarf steuerfrei
zu stellen und ab dem Jahr 2002 den Ausschluss der Ehepaarfamilien vom Abzug eines Haushaltsfreibetrages zu
korrigieren. Dies sollte durch die steuerliche Berücksichtigung des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs erfolgen,
der sich in der Höhe - nicht in der Form - am Haushaltsfreibetrag der Alleinerziehenden orientieren sollte. Frau
Kressl, Sie haben dies am letzten Mittwoch in der Anhörung zur Steuerreform noch einmal von Herrn Professor Kirchhoff, der an diesem Urteil beteiligt war, gehört.
Er hat dies ausdrücklich bestätigt. Diese Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ist nicht zu rügen. Zu rügen
sind allenfalls Sie und die rot-grüne Bundesregierung, die
auf diese Verfassungsvorgaben mit einer in sich schiefen
und völlig ungenügenden Billiglösung auf niedrigstem
Niveau reagiert haben.
({9})
Insbesondere sind natürlich der zu geringe Betreuungsfreibetrag und das zu geringe Existenzminimum, aber auch
das zu geringe Kindergeld zu nennen.
({10})
Sie wissen ganz genau, dass in der Bundesrepublik
Deutschland die Drei-, Vier- und Mehrkinderfamilien ein
besonderes Armutsrisiko haben. Die lassen Sie vollkommen im Regen stehen.
({11})
Die Konsequenz aus Ihren Gesetzen ist, dass heute zum
Beispiel Alleinerziehende mit einem bestimmten Einkommen schlechter gestellt sind, als das vorher der Fall war.
({12})
Das haben in der Anhörung der DGB, der Bund der Steuerzahler und der Familienbund sehr deutlich gemacht. Ich
denke, die haben nicht ganz Unrecht. Das, was die PDS
vorschlägt, ist wirklich nur eine Minimallösung und, weil
nicht ausreichend, für uns leider nicht akzeptabel.
Es gibt wirklich genug weitere Kritikpunkte in den beiden so genannten Familienfördergesetzen. Zum Beispiel
die Höchstbeträge für aufgewendete Kinderbetreuungskosten ab 2002
({13})
sind mit 1 500 Euro allzu kläglich bemessen. Sie sind realitätsfern und verfassungsrechtlich zu beanstanden. Eine
individuelle Fremdbetreuung kann ohne weiteres zu Aufwendungen führen, die den Höchstbetrag von 1 500 Euro
bei weitem übersteigen.
Zusätzlich muss man sehen: Die willkürliche Begrenzung des Alters auf 14 Jahre - ich weiß nicht, wie man
auf diese Idee kommen konnte - ist allenfalls vom Diktat
des Bundesfinanzministers bestimmt. Aber Herr Eichel ist
und bleibt - das wissen auch Sie - der Feind der Familie.
({14})
- Ich habe nicht Sie, Frau Dr. Hendricks, sondern Ihren
Chef angesprochen, denn er gibt Ihnen die Zahlen vor. Die Altersgrenze lag vorher bei 16 Jahren. Ich denke, zumindest diese sollte man wieder aufnehmen.
({15})
Ich möchte einmal den ernst zu nehmenden Professor
Dr. Hans-Joachim Kanzler zitieren, der in der Wochenschrift „Deutsches Steuerrecht“ vom 15. März 2002 sehr
deutlich zum Thema „Die einkommensteuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten als Betreuungsfall“ Stellung genommen hat:
Die Rechtsentwicklung der Steuerermäßigung für
Kinderbetreuungskosten zeigt, dass das Problem des
Abzugs erwerbsbedingter Aufwendungen in der Vergangenheit durchaus schon ernster genommen wurde
als derzeit.
Frau Kressl, hören Sie bitte zu!
Dies sage nicht ich, das sagt nicht die Opposition,
({16})
sondern das sagt jemand, den man, wenn es um das Steuerrecht geht, sehr ernst nehmen muss. Ich darf weiter
zitieren:
In diesem Zusammenhang kann die Aufhebung des
§ 33 c Einkommensteuergesetz alter Fassung durch
das 1. Familienfördergesetz nur als empfindlicher
Rückschlag angesehen werden, der mit der Neuregelung der Kinderbetreuungskosten durch das 2. Familienfördergesetz mit seinen realitätsfernen Mindestund Höchstbeträgen keineswegs ausgeglichen wurde.
({17})
Es geht im Zitat weiter - hier wird beurteilt, was Sie gemacht haben -:
Sowohl die Streichung der Kinderbetreuungskosten
für die Jahre 2000 und 2001 als auch die Neuregelung bergen reichlich verfassungsrechtlichen Konfliktstoff, sodass die Kinderbetreuungskosten wohl
auch weiterhin ein Betreuungsfall bleiben werden.
Dieses Zitat stammt, wie gesagt, aus der Wochenschrift
„Deutsches Steuerrecht“ vom 15. März. Ich kann es Ihnen
gleich geben; lesen Sie es bitte nach. Dort wird ganz eindeutig festgestellt: Die rot-grüne Familienpolitik ist und
bleibt ein „Betreuungsfall“.
({18})
Ich denke, dass das von CDU und CSU im September
1999 vorgelegte Familienförderkonzept mit einem vernünftigen Familiengeld,
({19})
mit der Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten
bis zu einer Höhe von 5 000 Euro im Jahr beweist, wer
wirklich der Anwalt der Familien in der Bundesrepublik
Deutschland ist.
Deswegen lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Ihren Gesetzentwurf ab. Den zweiten Gesetzentwurf lehnen wir unter anderem auch deswegen ab - ich habe es Ihnen bei der Einbringung auch schon gesagt -, weil wir das
Institut der Ehe auf gar keinen Fall aus der Verfassung
streichen wollen und weil wir auf gar keinen Fall damit
einverstanden sind, dass das Ehegattensplitting gestrichen
wird, Frau Höll.
({20})
Das unterscheidet CDU/CSU von der PDS, der SPD, der
FDP und von den Grünen. Ich denke, das muss man hier
noch einmal deutlich sagen. - Das steht sehr wohl da drin.
({21})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Scheel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Wülfing, es ist wirklich immer wieder verwunderlich, wie
kurz das Gedächtnis der Union ist. Ich kann mich gut erinnern, dass die vom Bundesverfassungsgericht zugelassenen Klagen aus Ihrer Regierungszeit stammen
({0})
und dass wir als rot-grüne Regierung es gewesen sind, die
die Mittel für die Familienförderung im Gesamtetat auf
über 50 Milliarden Euro erhöht haben. Das ist ein Drittel
mehr für die Familien, als wir 1998 in Ihrem Haushalt
vorgefunden haben.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Gerne.
Frau Scheel, Sie wissen
doch ganz genau, dass sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf den Zeitraum bis 1996 bezog, dass 1996
die vorige Bundesregierung von CDU/CSU und FDP die
Familienförderung vollkommen umgestellt hat, dass sie
das Existenzminimum erheblich erhöht hat, dass sie das
Kindergeld erheblich erhöht hat. Das sagen Sie nur nie in
der Öffentlichkeit.
({0})
- Die Frage ist, ob sie das weiß.
Frau Wülfing, das Bundesverfassungsgericht hat damals Vorgaben gemacht, die Sie von der Union gemeinsam mit der FDP in Ihrer Regierungszeit umsetzen
mussten, weil Sie sich ansonsten gesetzeswidrig verhalten hätten.
({0})
Diese Klagen sind, wie gesagt, während Ihrer Regierungszeit eingereicht worden. Die Urteile hat das Verfassungsgericht erst gesprochen, als Rot-Grün die Regierung
übernommen hatte. Das war am Anfang unserer Regierungszeit; wir hatten uns gerade einigermaßen „sortiert“,
hatten die Ressortverteilung geregelt und hatten die ersten
Gesetzentwürfe diskutiert, als diese Urteile kamen. Wir
mussten daraufhin Ihr Versagen in der Familienpolitik einigermaßen abfedern.
({1})
Das haben wir in zwei Stufen umgesetzt. Das Volumen
der Kindergelderhöhung allein hat über 8 Milliarden Euro
ausgemacht. Wir haben - das muss man den Menschen
auch sagen - einen Schuldenberg übernommen, der noch
unseren Kindern die Hände bei der Gestaltung bindet. Obwohl wir diesen Schuldenberg abbauen,
({2})
haben wir es geschafft, die Mittel für die familienpolitischen Maßnahmen um ein Drittel zu erhöhen. Das ist vor
dem Hintergrund der Situation in diesem Staat eine wunderbare familienpolitische Leistung.
({3})
- Sie wissen genau, dass wir die Neuverschuldung abgebaut haben, meine Güte!
({4})
Anscheinend müssen Sie noch einmal einen Grundkurs
über Haushaltskonsolidierung und über die Entwicklung
der Neuverschuldung machen.
({5})
- Dass die FDP keine Ahnung von Geld hat, wissen wir.
Sonst hätten wir eine andere Situation 1998 vorgefunden.
({6})
Frau Wülfing, ich bin wirklich überrascht, dass es der
Union immer wieder gelingt, zum Thema Familienpolitik
täglich neue Überlegungen einzubringen, die in keiner
Weise innerhalb der Unionsfraktion und anscheinend auch
nicht mit Ihrem Kanzlerkandidaten, mit Herrn Stoiber, abgesprochen sind.
({7})
Denn er hat etwas ganz anderes gesagt.
({8})
Wir konnten mit großer Überraschung lesen, dass die
Union jetzt davon abgeht, ab dem nächsten Jahr, wie es ursprünglich angekündigt war, für Kinder unter drei Jahren
600 Euro pro Monat ausgeben zu wollen. Auch ist sie
davon abgerückt, den Betrag danach gestaffelt bis zum
27. Lebensjahr des Kindes - hier hört die Kindergeldberechtigung auf - abschmelzen zu lassen.
({9})
Man hat jetzt festgestellt, dass das überhaupt nicht finanzierbar ist, und musste zugeben, dass diese Forderung
nicht haltbar ist. Ich finde das sehr peinlich, deswegen hat
es mich als Mitglied einer Regierungspartei gefreut, als es
hieß: Stoiber stolpert über Familiengeld. Jetzt kommt
nämlich langsam die Ehrlichkeit zutage, und es wird klar,
dass man mit Forderungen, die nicht zu finanzieren sind,
versucht hat, den Familien die Augen zuzukleistern.
Die Union fordert Familiengeld für das erste Lebensjahr des Kindes in einer Größenordnung von 600 Euro.
Wenn wir uns anschauen, wie heute die Leistungen beim
Kinder- und Erziehungsgeld im ersten Lebensjahr der
Kinder aussehen, muss ich sagen: Das ist keine Verbesserung für Familien mit niedrigem Einkommen, sondern das
ist das, was sie schon jetzt erhalten. Dabei suggerieren Sie,
Sie würden eine mordsmäßige familienpolitische Leistung
erbringen.
({10})
Das, was Sie von der Union für die nächsten Jahre vorschlagen - wann immer das kommen soll, wissen wir bis
heute nicht, es wird von 2004, 2005 und 2006 geredet -,
soll aus der Arbeitslosen- und Sozialhilfe finanziert
werden. Wenn wir wissen, dass dieses Projekt, wie es Herr
Stoiber und Herr Merz zugegeben haben, zwischen
20 und 25 Milliarden Euro kostet und die Sozialhilfe nur
Ausgaben in Höhe von 19 Milliarden Euro beinhaltet,
dann bedeutet das faktisch die vollständige Abschaffung
der Sozialhilfe.
Im Umkehrschluss heißt das, dass Sie genau den Kindern, die zu den ärmsten der Gesellschaft gehören, auf der
einen Seite alles wegnehmen, um es ihnen dann zurückzugeben. Das ist doch keine Familienpolitik, sondern eine
Verschleierungstaktik auf Kosten der Kinder in dieser Gesellschaft.
({11})
Frau Dr. Höll, wir diskutieren in der nächsten Woche
über einen Gesetzentwurf, mit dem wir die echten und unechten Neufälle von Alleinerziehenden lösen, sodass alle
in den „Genuss“ einer Entlastung kommen können. Der
Haushaltsfreibetrag wird im nächsten Jahr nicht abgeschafft, er wird aufgrund des Verfassungsgerichtsurteils
langsam abgeschmolzen und gilt bis zum Jahr 2005.
Ich gehe davon aus, dass wir über weitere Maßnahmen
in der Familienpolitik wie Kindergelderhöhung, Kindergrundsicherung, mit der wir ganz zielgenau fördern wollen, und einen weiteren Ausbau der Betreuungseinrichtungen die Situation in den nächsten Jahren verändern.
Deswegen gehe ich auch davon aus, dass wir den Weg,
den wir angefangen haben zu beschreiten, nämlich Familien in ihrem Umfeld, in ihrer Lebenssituation zu stärken,
weitergehen und dies auch finanzierbar sein wird.
Wir sollten nicht auf Forderungen aus Fraktionen hereinfallen, von denen jeder weiß, dass sie nicht finanzierbar sind. Es trägt zum Politikverdruss bei, wenn man den
Menschen suggeriert, man könne etwas tun, was man in
Wirklichkeit nicht kann. Man muss ehrlich sagen, was
machbar ist. Genau das tut Rot-Grün in dieser Situation.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zum Thema: Wir beraten
heute den Gesetzentwurf der PDS, der sicherstellen soll,
dass noch bis zum Jahre 2005 alle Alleinerziehenden den
abgeschmolzenen Haushaltsfreibetrag in Anspruch nehmen können und damit eine Gleichbehandlung aller Eltern wieder hergestellt wird.
Dass dies nur eine Beseitigung der gröbsten Ungerechtigkeit ist, Frau Wülfing, ist uns natürlich bewusst.
Deshalb haben wir gleichzeitig einen Antrag eingebracht,
der einen gerechten Familienlastenausgleich fordert. Gerade das Beispiel der Alleinerziehenden verdeutlicht die
Schieflage bei der rot-grünen Familienbesteuerung.
Die Änderung, die wir vorschlagen, betrifft die Streichung einer Formulierung in § 32 Abs. 7 des Einkommensteuergesetzes, die dazu geführt hat, dass bereits ab Januar
dieses Jahres die Alleinerziehenden den Haushaltsfreibetrag nicht mehr geltend machen können, die diesen
nicht auch schon im vergangenen Jahr geltend machen
konnten. Dies betrifft aber nicht nur Menschen, die erst ab
Januar ihr Kind bekommen haben, sondern auch Verwitwete und Geschiedene, also so genannte unechte Neufälle.
Die Koalition wird in der nächsten Woche im Nachgang dasselbe beantragen. Ich bin froh, dass dies geschieht, auch wenn Sie zur Streichung dieses einen Satzes
vier Monate benötigt haben. Dies ist das Ergebnis des
Drucks durch die Verbände, aber auch des Drucks, den die
PDS hier im Bundestag gemacht hat. Sie können nicht begründen, warum Sie unseren Antrag heute ablehnen und
nächste Woche einem inhaltsgleichen Antrag zustimmen
werden. Dies ist eigentlich etwas traurig. Ich habe Ihnen
auch angeboten, dass wir einen gemeinsamen Antrag einbringen. Dazu konnten Sie sich aber nicht einmal im Interesse der Alleinerziehenden aufraffen.
Allerdings wird die Situation der Alleinerziehenden
tatsächlich nur zeitweilig verbessert. Ab dem Jahre 2005
werden Alleinerziehende - auch wenn die SPD das weiter
bestreitet - wie Alleinstehende ohne Kinder veranlagt.
Der Haushaltsfreibetrag - ich bitte auch Frau Kressl, genau zuzuhören - wird allein erziehenden Steuerpflichtigen deshalb gewährt, weil sie allein mit mindestens einem
Kind in ihrem Haushalt zusammenleben und in ihrem
Haushalt aufgrund dessen Mehrausgaben entstehen.
({0})
Der Haushaltsfreibetrag soll also die besondere Haushaltssituation gegenüber Alleinstehenden ohne Kinder
bzw. Paaren oder Ehepaaren berücksichtigen.
({1})
WirdderHaushaltsfreibetraggestrichen,werdenAlleinerziehende natürlich in Bezug auf ihre besondere Haushaltssituation wie Alleinstehende veranlagt. Dies ist völlig unabhängig von Kinderfreibetrag und Kindergeld, die
allen Eltern zugute kommen. Dies sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
Das Hauptproblem an der Streichung des Haushaltsfreibetrages liegt jedoch woanders: Durch seine Abschaffung und die gleichzeitige Beibehaltung des Ehegattensplittings wird sich die Diskriminierung Alleinerziehender
zukünftig verstärken, der Einkommensabstand wird
größer. Alleinerziehende erhalten künftig nur noch den
Kinderfreibetrag bzw. das Kindergeld. Verheiratete Eltern
und kinderlose Ehepaare werden dagegen auch weiterhin
vom Finanzminister für ihre Art des Zusammenlebens zusätzlich belohnt. In der Konsequenz zahlen Alleinerziehende höhere Steuern als alle anderen Eltern und sogar
Kinderlose, insbesondere kinderlose Ehepaare.
Nun äußerte Bundeskanzler Schröder in seiner gestrigen Regierungserklärung, dass ihm diese Ungerechtigkeit
auch nicht gefalle, die Regierung aber nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts leider keine andere Wahl gehabt
hätte: entweder gänzliche Abschaffung des Haushaltsfreibetrages mit den bekannten Problemen oder Gewährung des
Haushaltsfreibetrages an alle Eltern. Letzteres, so der Kanzler, hätte die Haushaltslage nicht zugelassen. Darin stimme
ich ihm zu.
Ich möchte jedoch ergänzen: Die Gewährung des Haushaltsfreibetrages an alle hätte zwar die Situation der
Alleinerziehenden nicht weiter verschlechtert, wie dies
nun geschieht, ihre materielle Benachteiligung gegenüber
verheirateten Eltern und kinderlosen Ehepaaren hätte dies
jedoch auch nicht aufgehoben.
Die derzeit bestehende Gerechtigkeitslücke bei der Besteuerung von Familien kann nur durch die Abschaffung
des Ehegattensplittings und die massive Anhebung des
Kindergeldes für alle geschlossen werden. Diese Möglichkeit hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung jedoch gänzlich verschwiegen, obwohl man insbesondere seit Anfang des Jahres wieder Stimmen aus der
Koalition gehört hat, wonach über eine Reform des Ehegattensplittings und die Verlagerung der Förderung von
der Ehe auf die Familie nachgedacht werden müsse. Herr
Poß und Frau Scheel haben sich entsprechend geäußert.
Heute haben Sie die Chance, zu zeigen, dass dies keine
Lippenbekenntnisse sind. Stimmen Sie unserem Antrag
„Gerechtigkeit im Familienlastenausgleich herstellen“ zu.
Hier haben wir unsere langjährigen Forderungen - Frau
Wülfing, wenn Sie die noch nicht gehört haben, müssen
Sie oft nicht aufgepasst haben - nach einer grundlegenden
Reform der Familienbesteuerung bekräftigt.
Im Sinne einer sozial gerechten Weiterentwicklung
des Familienlastenausgleichs fordern wir von Ihnen erstens die Reform des Ehegattensplittings und eine von der
Lebensweise bzw. Lebensform unabhängige Einkommensbesteuerung, zweitens die sofortige und nachhaltige
Erhöhung des Kindergeldes und seine schrittweise Umwandlung in eine soziale Grundsicherung
({2})
und drittens die Entlastung der Eltern von den Kosten der
Kinderbetreuung. Langfristig muss ein bedarfsdeckendes
und kostenfreies Betreuungsangebot realisiert werden.
Kurzfristig fordern wir, dass alle Eltern die Kosten der
Kinderbetreuung zu einem einheitlichen Steuersatz von
45 Prozent absetzen können.
Frau Präsidentin, ich möchte keine Kurzintervention
mehr machen. Wenn Sie gestatten, möchte ich zu Frau
Wülfing - sie hat mich vorhin direkt angesprochen - noch
etwas sagen.
({3})
Das geht nun
wirklich nicht. Sie hatten eine fünfminütige Redezeit. Es
ist nicht möglich, eine Kurzintervention an eine Rede anzuschließen. Sie sind Parlamentarische Geschäftsführerin
und wissen, dass das nicht geht.
Ich wollte Frau Wülfing nur
gesagt haben, dass wir nicht die Abschaffung der Ehe,
sondern nur die Abschaffung des Ehegattensplittings fordern.
Nur um die Regeln klarzustellen: Wer noch Redezeit hat und auf etwas
eingehen will, hat nicht das Recht auf eine Kurzintervention im Anschluss an die Rede. Wenn man auf Äußerungen einer Kollegin bzw. eines Kollegen eingehen will,
nimmt man die Redezeit in Anspruch. Im Übrigen wurde
die Redezeit in diesem Falle schon überschritten.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der PDS eingebrachten Gesetzentwurf zur Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung Alleinerziehender
auf Drucksache 14/8274. Der Finanzausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/8807, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen, der SPD
und der CDU/CSU gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung der FDP abgelehnt worden. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/8808 zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Gerechtigkeit im Familienlastenausgleich herstellen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/8273 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung wurde
mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zum Waldaktionsplan im Übereinkommen über die biologische Vielfalt anlässlich der 6. Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Steffi Lemke.
Frau
Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In dieser
Woche tagt in Den Haag die 6. Vertragsstaatenkonferenz
zur biologischen Vielfalt, auf der ein Aktionsprogramm zur
Rettung der letzten Urwälder verabschiedet werden soll.
Die Ziele dieser Konferenz sind erstens die Verabschiedung eines konkreten aktionsorientierten Arbeitsprogramms zum Schutz der Wälder, zweitens die Annahme
konkreter Leitlinien über den Zugang zu genetischen Ressourcen und über einen gerechten Vorteilsausgleich bei der
Nutzung dieser genetischen Ressourcen, drittens die Verabschiedung eines strategischen Plans zur Festlegung von
Arbeitsschwerpunkten im Rahmen der Biodiversitätskonvention bis 2010 und viertens die Verabschiedung von
Maßnahmen gegen das ökologisch problematische Einschleppen von gebietsfremden Arten.
Wir haben heute die Aktuelle Stunde beantragt, um
über den Schwerpunkt der Konferenz, den Aktionsplan
zur Rettung der letzten Urwälder, zu diskutieren. Alle
zwei Sekunden verschwindet auf dieser Erde eine Fläche
von der Größe eines Fußballfeldes an Urwald. Weltweit
gibt es zurzeit noch 3,8 Milliarden Hektar Urwälder. Wenn
man das zusammenrechnet, werden davon 15 Millionen
Hektar jährlich abgeholzt. Das heißt, dass die letzten Urwälder bedroht sind. Dies ist eine Debatte, die in Mitteleuropa schon seit langer Zeit geführt wird, aber seit einigen Jahren aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend
verschwunden ist.
Ein Kollege von der CSU hat mir in einer Debatte zum
Thema Wald vorgeworfen, die Grünen hätten in den 80erJahren mit ihrer „Baum ab? - Nein danke“-Kampagne einen vollkommen falschen Schwerpunkt gesetzt und der
Tropenholzboykott hätte damals kontraproduktiv gewirkt.
Wir müssen heute aber konstatieren, dass trotz der Tatsache, dass nicht mehr über die Kampagne „Baum ab? Nein danke“ von den Grünen aus den 80er-Jahren diskutiert wird, das Abholzen der Tropenwälder und damit die
Vernichtung bisher nicht gestoppt werden konnte.
Deshalb ist die 6. Vertragsstaatenkonferenz, die zurzeit
tagt, ein wirklicher Erfolg, weil sie erstens mit dieser
Schwerpunktsetzung stattfindet und zweitens Fortschritte
bei der Rettung der letzten Urwälder erreicht. Zum einen
werden heute auf der Konferenz die konkreten Leitlinien
über den Zugang zu den genetischen Ressourcen angenommen. Dies ist ein wichtiger Schlüsselpunkt, weil in den
Urwäldern die größte biologische Vielfalt weltweit vorhanden ist. Wenn wir sie schützen wollen, dann muss den Ländern, in denen sich diese biologische Vielfalt befindet, ein
ökonomischer Nutzen in ihrem Lande und nicht nur die
Nutzung durch europäische, US-amerikanische und kanadische Konzerne, die aus dieser biologischen Vielfalt heraus Gewinn erwirtschaften, ermöglicht werden. Deshalb
ist es ein so wichtiger Schlüsselpunkt, dort einen Interessensausgleich herbeizuführen.
({0})
Zweitens wird heute ein konkretes Waldarbeitsprogramm verabschiedet. Es wird eine Arbeitsgruppe, kleine
Expertengruppe, eingesetzt, die die Umsetzung dieses
Waldarbeitsprogramms beobachten wird. Sie wird eine
Weiterentwicklung vorbereiten, um konkret zu kontrollieren, wie dieses Arbeitsprogramm in den einzelnen Staaten
umgesetzt wird. Es bleibt nicht nur bei Worten - diese Expertengruppe werden wir unterstützen müssen -, sondern
die nächsten Jahre werden zeigen, wie weit wir mit dem
Schutz in der Praxis vorankommen. Die Notwendigkeit
hierfür ist in diesem Hause wohl unumstritten.
Es wird eine Erklärung geben, dass bis 2010 der Verlust der biologischen Vielfalt gestoppt werden soll. Auch
wenn dieser Zeitraum schon extrem lang ist, so ist außerdem zu kritisieren, dass dies auf der Vertragsstaatenkonferenz in das Waldarbeitsprogramm nicht konkret eingearbeitet, sondern in einer Ministererklärung als eine Art
Protokollerklärung verabschiedet werden wird. Das heißt,
die Rangstufe wird niedriger sein. Obwohl sich Umweltminister Trittin mit seinem französischen Amtskollegen
von den Grünen sehr darum bemüht hat, konnten wir hier
nur einen Teilerfolg erreichen. Die Ministererklärung wird
mit dieser Formulierung abgeschlossen. Es wird weiterer
Druck notwendig sein, um dies in der Praxis tatsächlich
wirksam werden zu lassen.
({1})
Das Instrument, das ich von deutscher Seite aus für das
bedeutendste halte, um neben solchen Regierungsverhandlungen beim Tropenschutz Erfolge zu erzielen, ist die
Zertifizierung von Holz nach den FSC-Kriterien. FSCHolz ist zurzeit als einziges Holz weltweit auf dem Markt,
das auf internationaler Ebene und im weltweiten Maßstab
vergleichbar Tropenholz aus nachhaltiger Waldnutzung
glaubwürdig zertifiziert. Ich halte dies für so wichtig, weil
es das einzige Instrument ist, das es den Verbrauchern ermöglicht, beim Kauf von Holz auf ökologische Verträglichkeit zu achten.
({2})
Wir haben in den letzten Jahren in Deutschland einen
rasanten Wiederanstieg der Nutzung von Holz aus Tropenwäldern erlebt. Zum Teil handelt es sich um Holz aus
illegalem Einschlag, zum Teil trägt es das Etikett „Plantagennutzung“, das gelegentlich illegal verwendet wird;
auch dann ist das Holz ökologisch bedenklich.
Ich möchte, dass wir in Deutschland eine Debatte darüber führen, in die wir die Verbraucher einbeziehen, indem wir ihnen sagen: Nehmt FSC-Holz, dann können wir
auch Tropenholz in Deutschland verwenden. Diese Debatte sollten wir gemeinsam mit den Verbrauchern aus
dem Deutschen Bundestag heraus neu aufgreifen, damit
wir keine neue Kampagne „Baum ab? - Nein danke“ brauchen, sondern im Interesse der Tropenwälder und der nach
uns folgenden Generationen einen Schritt vorankommen.
Danke.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/
CSU.
Herr Präsident! Ich
war als einziger Abgeordneter, wenn ich es richtig sehe,
bei der Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag anwesend.
Vieles hat mich dort beeindruckt, zum Beispiel der Auftritt der Kinder, die den Politikern und Beamten im Plenarsaal zugerufen haben: Ihr habt nichts getan, die Biodiversitätskonvention ist zehn Jahre alt und die Artenvielfalt
seither um 10 Prozent geschrumpft. Dieser Vorwurf ist
zwar übertrieben, da sich im letzten Jahrzehnt viel Positives getan hat. Gerade die Bundesrepublik Deutschland hat
sich etwa in der Entwicklungszusammenarbeit sehr engagiert. Dennoch ist die Lage dramatisch: Die Vielfalt der
Schöpfung nimmt rapide ab und die Zerstörung der Urwälder geht mit einer Rate von über 10 Millionen Hektar
pro Jahr unvermindert weiter.
Die Konferenz in Den Haag sollte die Weichen für
eine Trendumkehr stellen. Zwar fallen die endgültigen
Beschlüsse des Plenums erst nach dieser Aktuellen Stunde.
Aber nach dem Konferenzverlauf bin ich optimistisch, dass
die Verhandlungen zu einem guten Ergebnis kommen werden. Der Kompromiss über den Zugang zu genetischen
Ressourcen und die gerechte Verteilung der Benefits ist
ein großer Erfolg; Gleiches gilt für die Einigung über die
Verantwortlichkeit für eingeschleppte und schädliche
fremde Arten.
Ich bin froh, dass trotz mancher Verwässerungen, die
schon angesprochen wurden, wohl auch der Waldaktionsplan verabschiedet wird. Ich bedanke mich ausdrücklich
bei unseren Beamten von BMU, BMZ, Bundesamt für Naturschutz und anderen Einrichtungen dafür, dass sie pausenlos Tag und Nacht verhandelt haben. Sie haben wirklich wie die Löwen gekämpft und es ist vor allem ihr
Erfolg, der zu vermelden ist.
({0})
Für uns alle stellt sich nun die entscheidende Frage, ob wir
diesen Waldaktionsplan mit Leben erfüllen und umsetzen
können.
Die fortschreitende Vernichtung der Primärwälder und
ihrer Artenvielfalt trägt hohe ökologische Risiken und verursacht riesige, kaum quantifizierbare ökonomische Schäden. Gewaltige Mengen CO2 werden freigesetzt und ganze
Länder wie Haiti werden zur Wüste. Die Zerstörung der
Wälder vernichtet Zukunftschancen für die Wissenschaft
und macht unseren Planeten auch für unsere Nachkommen
ärmer. Wollen wir eine Trendumkehr erreichen, müssen
wir viel stärker als bisher die Solidarität der gesamten
Völkergemeinschaft einfordern; denn die bisher unternommenen Anstrengungen sind zu lasch.
Für mich gibt es sechs entscheidende Hebel, um den
Verlust an Artenvielfalt in den Griff zu bekommen:
Erstens. Erforderlich ist die Durchsetzung einer an
Nachhaltigkeit und ökologischer Tragfähigkeit orientierten Landnutzung nicht allein, aber vor allem in Entwicklungsländern. Dies setzt jedoch nicht nur den guten Willen der jeweiligen Regierungen voraus, sondern auch eine
gut ausgebildete, gut ausgerüstete und motivierte Administration, die in der nötigen Geschwindigkeit ohne massive Hilfe von außen in vielen Ländern nicht zustande
kommt.
Zweitens. Es muss gelingen, die riesigen Flächen, die
bereits verwüstet und zerstört sind, wieder einer vernünftigen Nutzung zuzuführen. Dies kann zum Beispiel mit einer vernünftigen Aufforstungspolitik gelingen, die durch
das Kioto-Protokoll Rückenwind bekommen sollte.
Drittens. Wir brauchen die weltweite Durchsetzung einer nachhaltigen Forstwirtschaft; dies allein ist eine Jahrhundertaufgabe. Aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit haben wir aber Modelle für eine nachhaltige
Nutzung auch tropischer Primärwälder entwickelt. Die
globale Umsetzung solcher Modelle steckt bisher zwar
noch in den Kinderschuhen. Aber es muss gelingen, eine
solche nachhaltige Nutzung in den Tropenländern durchzusetzen. Dabei haben auch wir in den entwickelten Ländern eine große Verantwortung: Wir in Deutschland, in
Kanada, in Frankreich und in Japan haben es selbst in der
Hand, nur zertifiziertes Tropenholz einzuführen und zu
verwenden. Wenn ich sehe, mit welcher Zielstrebigkeit
gerade ostasiatische Länder und vor allem Japan ihren unbändigen Holzhunger in einem weltumspannenden Netz
von Aktivitäten stillen, dann wird klar, dass ein ganz entscheidender Schlüssel zur Erhaltung der Schöpfung bei
wichtigen Importländern wie Japan zu finden ist.
({1})
Viertens: Erhaltung des Weltnaturerbes. Um die Vielfalt
der Schöpfung über die Zeiten zu retten, brauchen wir ein
repräsentatives Netz von Schutzgebieten. Diese Schutzgebiete existieren bereits in großem Umfang, aber sie sind
teilweise in miserablem Zustand. Gerade in vielen Entwicklungs- und Transformationsländern sind nämlich
Schutzgebiete ohne Schutz gegenüber Korruption, Wilderei und Holzeinschlag. Entscheidend ist auch hier, die Administration zu stärken. Noch wichtiger ist es, zum Beispiel Nationalparks so zu organisieren, dass auch die
Bevölkerung der umliegenden Gebiete davon profitiert.
Die Armutsbekämpfung durch Schutz der natürlichen Ressourcen ist möglich; das zeigen wiederum unsere deutschen Entwicklungsprojekte.
Fünftens. Wir brauchen eine neue Kampagne für Umwelterziehung und Umweltbildung in allen Ländern.
Sechstens. Wir als Industrieländer müssen die Zusammenarbeit mit den Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern verstärken und vertiefen, denn auch bei
gutem Willen werden viele ärmere Länder ihre reichen Naturschätze ohne ein stärkeres Engagement der reicheren
Länder nicht bewahren können. Das wäre zum Schaden
aller. Das ist auch ein Auftrag an uns; mit Blick auf den
Weltgipfel in Johannesburg sind noch viele Hausaufgaben
zu erledigen, vor allem auch seitens der Bundesregierung.
Dazu zählt zum Beispiel die Aufgabe, die Schwerpunktsetzung im Entwicklungsbereich wieder zugunsten von
Forstwirtschaft und Schutz der natürlichen Ressourcen zu
korrigieren.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
({0})
Diese Hausaufgaben sind noch zu machen; dazu fordern wir Sie auf. Wir
sind bereit, Sie dabei konstruktiv zu unterstützen.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Jutta Müller von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sagt uns eine
Flächenangabe wie 2,5 Millionen Hektar? Groß wird es
sein, aber wohl jenseits unserer Vorstellungskraft. Das jedoch ist die Fläche Wald, die wir in der Geschichte der
Menschheit bereits verloren haben. Schätzungen zufolge
ist seit den 60er-Jahren fast die Hälfte aller Tropenwälder
vernichtet worden; jeden Tag verlieren wir mehr, mehrere
Fußballfelder täglich - die Kollegin Lemke hat schon darauf hingewiesen -, die Hälfte der Fläche der Bundesrepublik pro Jahr.
Sollten wir uns nicht mit den Ländern, die von der Vernichtung der Urwälder profitieren, auf die von uns und von
Frankreich vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schutz der
Wälder einigen können, wird in zehn bis 15 Jahren der gesamte Bestand der Urwälder unwiederbringlich vernichtet sein.
({0})
Zwar gab es in Europa einen jährlichen Zuwachs, aber wir
haben natürlich bis auf ein paar wenige Flecken keine reinen Urwälder mehr.
Bereits seit Jahren fördert Deutschland die Zielsetzung
zur Erhaltung der biologischen Vielfalt der Wälder. Verschiedene Projekte werden teils in technischer und teils in
finanzieller Zusammenarbeit mit einem Gesamtvolumen
von 125 Millionen Euro jährlich unterstützt. Dabei hat
sich die Bundesregierung auch sehr für die Umsetzung
des Arbeitsprogrammes in Den Haag eingesetzt.
Bisher scheiterten internationale Vereinbarungen, wie
wir sie uns wünschten, aber auch an dem Veto der Staaten,
die durch die Vernichtung der Urwälder große ökonomische Vorteile haben. Es muss erlaubt sein, hier einmal Länder wie Kanada und Brasilien zu nennen. Trotzdem werden wir uns weiterhin auf internationaler und bilateraler
Ebene für den nachhaltigen Schutz der Urwälder stark
machen.
Vor allem im Bereich der Zertifizierung müssen schnell
Fortschritte erzielt werden. Öffentliche Beschaffungsstellen sind bereits angewiesen, künftig nur noch solche Holzprodukte zu verwenden, die nach den international anerkannten Normen des Weltforstrates zertifiziert sind. Die
Wirtschaftlichkeit des illegalen Holzeinschlages könnte
dadurch empfindlich geschwächt werden, vorausgesetzt,
dass diese Praxis weltweit um sich greift. Das Bundesumweltministerium hat vor wenigen Wochen im Hamburger
Hafen bereits eine illegale Ladung Mahagoniholz beschlagnahmen lassen.
({1})
Für einige arme Länder dieser Welt ist das Holz jedoch
das einzige Kapital. Andere benötigen die Flächen, auf
denen jetzt noch Wald steht, um agrarische Ausgleichsflächen zu schaffen. Illegaler Holzeinschlag und Handel
mit illegalen Ressourcen unterminiert das Interesse vieler
Länder an der Zertifizierung ihres Holzes und an der nachhaltigen Forstwirtschaft. Dieser Raubbau bedroht nicht
nur den Wald und seine Bewohner. Die illegale Holzwirtschaft ruiniert auch Betriebe, die sich bemühen, nachhaltig zu wirtschaften, die Steuern bezahlen und Umwelt- und
Sozialauflagen einhalten. Der größte Feind der Urwälder
ist die Rodung, um großflächige Anbaumöglichkeiten für
die Futtermittelerzeugung zu Weltmarktpreisen zu schaffen. Die kurzfristigen finanziellen Gewinne stehen vor allem in den Entwicklungsländern den Schutzzielen für den
Tropenwald im Wege.
Man sollte aber das Problem nicht ausschließlich auf
die Entwicklungsländer reduzieren. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit an dieser Stelle auf einen Report von
Greenpeace lenken, der die Überschrift „Etikettenschwindel in Finnlands Wäldern“ trägt. Ich meine, wir müssen in
diesem Zusammenhang auch über die Qualität von Zertifikaten sprechen. Es gibt mittlerweile Ökolabel für Holz.
Sie sollen den Verbraucher darüber aufklären, dass Holz
aus nachhaltigem Waldbau zur Produktion eines Stuhls
oder eines Blattes Papier verwendet wurde. Doch der Wettbewerb der unterschiedlichen Ökolabel ist für den Verbraucher eher verwirrend. Es gibt das international verwendete FSC-Siegel des Weltforstrates, das europäische
PEFC, darüber hinaus länderbezogene Siegel wie SCA in
Schweden und FFC in Finnland. Dass es hierbei auch erhebliche Qualitätsunterschiede gibt, ist für den Verbraucher im Einzelfall nur schwer abschätzbar. Einheitliche
Zertifizierungen, zum Beispiel nach den FSC-Normen,
könnten hier zu mehr Klarheit für den Verbraucher führen.
Vertrauen ist gut - Kontrolle ist besser. Ich möchte zum
Schluss nur noch auf eines hinweisen, weil die Zeit sehr
schnell verrinnt. Wichtig ist auch, dass die Einhaltung der
getroffenen Vereinbarungen kontrolliert werden kann.
Seit dem 1. März dieses Jahres befindet sich der Umweltsatellit Envisat im Orbit. Ungefähr zehn Jahre Entwicklung und Ausgaben von insgesamt 2,3 Milliarden Euro haben ein Mess- und Kontrollinstrument hervorgebracht,
das die Umsetzung von Umweltprogrammen ebenso voranbringen kann wie die Umweltforschung.
Durch die Kombination verschiedener Daten kann ein
genaues Bild der Waldbeschaffenheit der Erde erhoben werden. Das elektrische Auge Envisats sieht die Unterschiede
zwischen dichtem Wald, Kahlschlag und Agrarflächen
ebenso wie Veränderungen in der Qualität der Wälder.
Selbst für schwer zugängliche Stellen können alle drei Tage
aktuelle Daten erhoben werden. Die Unabhängigkeit von
Tageslicht und die optische Durchdringung der Wolkendecke erlauben es, jederzeit Veränderungen in den Wäldern festzustellen.
Mit einem derartigen Kontrollinstrument und dem
Waldaktionsplan, der die Gegebenheiten der betroffenen
Länder berücksichtigt und der ausreichend finanziell unterfüttert ist, sollte es möglich sein, die letzten Urwälder
und zwei Drittel der gesamten Flora und Fauna unserer
Welt zu retten. Denn wir tragen die Verantwortung für die
Lebensgrundlagen auf unserem Planeten und für die nachfolgenden Generationen. Wir stellen uns dieser Herausforderung.
Danke.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun von
der FDP-Fraktion das Wort.
Jutta Müller ({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Erhaltung des Waldes in unserem Land, aber noch viel mehr
in der Welt ist nicht nur ein Thema für Umweltpolitiker.
Der Wald bildet den Lebensraum für eine ungeheure Vielfalt von Arten, für Millionen von Ureinwohnern und er ist
für unser Klima von überragender Bedeutung. Kurz: Der
Wald ist unsere Zukunft.
Die Abholzung riesiger Flächen - nach der Welternährungsorganisation FAO handelt es sich jährlich um eine
Fläche in der Größe von Bayern, Baden-Württemberg und
Niedersachsen zusammengerechnet - aus vordergründigen, oft aber nachvollziehbaren Gründen stellt eine riesige
Gefahr für die Zukunft der Welt und natürlich auch der
Menschheit insgesamt dar.
({0})
Es ist schlimm, zu erfahren, dass im Jahr des Umweltgipfels von Rio, 1992, ebenso viel Wald zerstört wurde
wie im Jahr 2001. Durch Rio haben sich also keinerlei
Verbesserungen ergeben. Aber die Ressourcen, innerhalb
derer diese ungeheure Zerstörung stattfindet, sind deutlich geringer geworden.
Wir können nur darauf dringen, dass auf dem VNWeltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg
im August/September dieses Jahres das dringende Interesse all derer, denen die Zukunft der Erde am Herzen
liegt, zu Ergebnissen zum Schutze des Waldes führt.
({1})
Die Bundesregierung muss in der Lage sein, dieses
Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Es wäre absurd,
das Thema „nachhaltige Entwicklung“ zum zentralen
Thema eines Weltgipfels zu machen und dabei das Thema
„Gefahr für den Bestand der Wälder“ außen vor zu lassen.
Man muss wirklich nicht mit allen Aktionen, nicht einmal mit allen Zielsetzungen, von Greenpeace einverstanden sein. Aber der Einsatz dieser Organisation für die
Wälder ist in hohem Maße lobenswert. Natürlich hilft die
Blockade eines Schiffes nicht beim Erreichen des Ziels,
die Wälder zu erhalten. Aber eine solche Aktion gibt ein Signal, das für jedermann verständlich ist, und weist darauf
hin, wie notwendig es ist, dass wir unsere Aufmerksamkeit
diesem Thema widmen. Wir Politiker sollten hinter dem
Engagement der Umweltverbände nicht zurückbleiben. Jeder, der nachts über Urwaldgebiete speziell in Südamerika
fliegt, kennt das grauenvolle Bild der vielen von Brandrodungen herrührenden Feuer, die meist illegal stattfinden, die aber offensichtlich von den Regierungen der betroffenen Länder hingenommen werden.
Natürlich sind wir nicht blind und naiv. Wir kennen die
Probleme der örtlichen Bevölkerung, die aus bitterer Armut heraus Land zu gewinnen versucht, indem sie Urwald
durch Brände rodet. Dass dies oft mit ungelösten
Verteilungskämpfen in den betreffenden Ländern zu tun
hat, wissen wir. Wir wissen aber auch, dass Ländern wie
Brasilien, Indonesien, Malaysia, der Demokratischen Republik Kongo und auch Russland geholfen werden muss.
Wir dürfen nicht den Zeigefinger erheben und Forderungen stellen. Wir müssen diesen Ländern vielmehr bei der
Lösung ihrer Probleme helfen.
({2})
Es gibt aber auch Länder wie Kanada, in denen das Bewusstsein für die Wertigkeit der vorhandenen Waldflächen unterentwickelt ist, während der Erwerbssinn
durchaus Weltspitze ist.
Waldschutz - das ist die Forderung an die Bundesregierung - muss zur Chefsache werden. Die Grünen haben die heutige Aktuelle Stunde beantragt. Sie besetzen
mit dem Außenministerium und dem Umweltministerium
zwei entscheidende Ressorts, in denen aktive Wald- und
Urwaldpolitik gemacht werden könnte. Auch das Entwicklungshilfeministerium hat große Möglichkeiten, eine
gemeinsame, aktive und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete
Politik zu machen und in der Welt durchzusetzen. Es fragt
sich nur, ob die Bundesregierung wirklich alles tut, was in
diesem Zusammenhang notwendig und möglich ist. Ist
Minister Trittin auf der Konferenz in Den Haag, um ein
Zeichen zu setzen?
({3})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden! Sie kommen
doch gleich noch dran.
({4})
Hat Minister Fischer angekündigt, dass er durch seine Anwesenheit die Bedeutung der Konferenz in Johannesburg
und insbesondere des deutschen Wunsches nach Schutz
der Wälder unterstreichen will? Sind die Botschafter in
den betreffenden Ländern angewiesen, durch stetes „ceterum censeo“ vorzubringen: „Wenn ihr mit Deutschland
zusammenarbeiten wollt, dann sorgt euch um den Wald“?
Das sind die Fragen, die ich heute stellen will. Ich bin
gespannt, ob die Vertreterin der Grünen darauf eine vernünftige Antwort geben kann.
({5})
Das Wort
hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Thema „Schutz des Urwaldes“ ist ziemlich
in den Hintergrund getreten. Wir reden zwar ständig über
die Klimapolitik. Aber heute ist es das erste Mal seit langer Zeit, dass wir wieder über die Wälder diskutieren. Die
Klimaschutzdebatte betrifft Deutschland zwar unmittelbar. Aber langfristig hat auch die Abholzung der letzten
Primärwälder dramatische Klimaauswirkungen, und
nicht nur das: Wir brauchen hier sicherlich nicht über die
Bedeutung der hohen Biodiversität in den Primärwäldern
zu reden.
Die dritte Säule beim globalen Waldschutz ist sozialer
Art. Holz ist ein wichtiges Exportgut. Es ist zudem
Einkommens- und Ressourcenquelle für die ansässige
Bevölkerung sowie leider auch Quelle für Profite meist
internationaler Holzfirmen. Gerade dieses Beziehungsgeflecht macht den Kampf gegen die Abholzung so schwer.
Mit Zertifizierungsinitiativen, mit der Unterstützung
von scheinbar nachhaltigen Forstmanagementplänen und
mit Selbstverpflichtungen kommunaler Unternehmen,
kein Tropenholz zu verwenden, wurden hierzulande die
großen Proteste durch die Kleinarbeit auf Beamten- und
NGO-Ebene abgelöst. Greenpeace und andere Organisationen versuchen nun, eine Zäsur zu machen. Das ist sicherlich sehr gut; denn die Erwartungen in die Kleinarbeit, die ich auf keinen Fall kleinreden möchte, haben
sich leider nicht erfüllt. Die Abholzraten steigen in den
meisten Gebieten der Erde, und zwar sowohl beim legalen als auch beim illegalen Einschlag. Von nachhaltiger
Forstwirtschaft kann bei den Primärwäldern allenfalls
punktuell geredet werden. Dafür schafft die Entwicklungszusammenarbeit oft mehr Probleme, als sie löst.
Wenn ich mir eine Presseerklärung der Initiative „Pro
Regenwald“ anschaue, dann muss ich leider feststellen,
dass das BMZ seit dem Jahr 2000 ein Projekt finanziert,
in dem eine Tochterfirma der Bremer Feldmeyer-Gruppe
im Urwald der Republik Kongo-Brazzaville jährlich über
100 000 Kubikmeter wertvoller Tropenhölzer wie Sipound Sapelli-Mahagoni abholzt. In der Erklärung steht
weiterhin geschrieben, dass der deutsche Steuerzahler
40 Prozent der Kosten für eine Aufgabe trägt, zu deren
Durchführung nach kongolesischem Forstrecht eigentlich
die Holzfirma verpflichtet ist. Aufgrund dessen halte ich
Ihr Engagement auf dieser Konferenz für fragwürdig.
Nehmen wir das Beispiel Kamerun. Der mit EU-Geldern unterstützte Ausbau des Straßennetzes in den Urwaldregionen im Südosten des Landes hat schwerwiegende Folgen für die Region. Der Buschfleischhandel
blüht wie nie zuvor: Für Sägewerke wurden Pygmäendörfer platt gemacht und die Ureinwohner entlang der
Straße angesiedelt. Es hat sich eine unheilvolle Allianz
gebildet, die auf den ersten Blick sogar fortschrittlich zu
sein scheint. An den Einnahmen der französischen Konzerne im Zusammenhang mit der Holzentnahme sind nunmehr auch die Gemeinden beteiligt. Der kamerunische
Staat ist an diesen Unternehmen mittlerweile direkt beteiligt. Allesamt haben nun ein nachhaltiges Interesse daran,
so viel Tropenholz wie möglich einzuschlagen. Das liegt
natürlich nicht im Interesse des Ganzen.
Wir wissen noch nicht genau, was die Biodiversitätskonferenz in Den Haag beschließt. Wir warten auf
diese Ergebnisse. Auf alle Fälle wissen wir, dass die deutsche WestLB ihr Engagement in Höhe von 900 Millionen US-Dollar als federführende Bank für die Finanzierung einer Erdölleitung durch den Dschungel im Oriente
Ecuadors nicht aufgeben will. Die Trasse und der durch
sie ausgelöste Ölboom in den letzten Amazonaswäldern
Ecuadors werden zu irreparablen Umweltschäden in den
einzigartigen Ökosystemen führen.
Betroffen sind vor allem die Lebensräume vieler indigener Völker, die zum Teil noch sehr isoliert leben. Ich
denke, wenn Deutschland beim Schutz der Wälder ernst
genommen werden will, dann muss wenigstens das verhindert werden. Wir haben die dringende Aufgabe, eine
Lösung für dieses Problem zu finden. Ich hoffe, dass es
eine Antwort auf die Frage der Finanzierung durch das
BMZ gibt, das mit Verantwortung dafür trägt, dass Wälder abgeholzt werden.
Danke.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Unsere Aktuelle Stunde,
heute am letzten Tag der Den Haager Konferenz, hatte ich
mir in gutem Optimismus schon als Stunde des Jubels
über einen erfolgreichen Urwaldgipfel vorgestellt. Man
kann den langen Titel dieser Konferenz ganz einfach umbenennen: Urwaldgipfel.
Ich wollte die teilnehmenden Vertragsstaaten, die sich
aufgrund der jedem bekannten dramatischen Situation
der Urwälder in politischer Vernunft zusammengefunden
haben, loben. Leider ist das wohl nicht so: Der nationale
Egoismus scheint wieder einmal die politische Vernunft
besiegt zu haben. Die Tatsache, dass 2 000 Delegierte aus
182 Regionen zusammenkamen, die 270 Anträge, ergänzt
um weitere 130 Anträge, stellten, zeigt sicherlich die
Komplexität des Themas. Ohne eine klare Richtschnur
muss man sich im Unverbindlichen verlieren. Das zeichnete sich in Den Haag ab. Es wurden keine Prioritäten gesetzt.
Ich kann mich zwar darüber freuen, dass Deutschland,
wie in Kioto, auch in Den Haag die Vorreiterrolle übernommen hat und dass Frankreich - sicherlich haben das
auch andere Mitgliedstaaten getan - mächtig mitgekämpft
hat. Von NGO-Teilnehmern der Konferenz in Den Haag
weiß ich das positive Engagement Deutschlands ausdrücklich bestätigt. Wirklich viel konnten wir aber nicht
durchsetzen.
Ich habe mich in den letzten Jahren für die Etablierung
eines Handelszertifikats für Holz sehr stark gemacht. Bereits Anfang der 90er-Jahre haben internationale Umweltverbände und NGOs erkannt, dass die Etablierung eines
Handelszertifikates für Holz ein Mittel für einen besseren
Schutz vor Raubbau und für bessere Forstwirtschaft sein
kann.
Deutschland ist nicht nur ein großer Holzlieferant, sondern auch ein großer Importeur von Holz- und Zellstoffprodukten aus Urwaldholz. Eigenes deutsches Holz,
europäisches oder russisches Holz, Übersee- und Tropenholz, das ist ein gutes und ein wichtiges Handelsgut. Holzkonsum ist gut, wenn das Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt. Zertifizierung schlägt eine direkte Brücke
vom Hersteller zum Verbraucher und kann deshalb auch in
Regionen ohne ausgeprägte Kontrollmechanismen Wirkung entfalten. So lautet eine Antwort aus dem BMVEL.
Ich kann dies hier nochmals ausdrücklich unterstreichen.
Ich freue mich daher auch darüber, dass die Bundesregierung in ihrem eigenen Geschäftsbereich die Beschaffung von Tropenholz mit der Vorlage eines glaubwürdigen Zertifikats verknüpft.
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Deshalb kann
ich von hier aus nur nochmals gegen den Fatalismus anreden, der darin zum Ausdruck kommt, dass man sagt,
man könne ja doch nichts tun. Doch, man/frau kann zumindest die Kennzeichnung von Tropenholz- und Holzprodukten überhaupt mit in die Kaufentscheidung einbeziehen. Ich will auch ausdrücklich das unterstützen, was
die Kollegin Steffi Lemke zu dem glaubwürdigen Zertifikat von FSC gesagt hat.
Gerade junge Leute, Schulklassen befassen sich oft mit
der Thematik der Waldzerstörung und der Situation der
Urwälder. Herr Dr. Ruck, sie rufen uns zu: Was habt ihr
getan? Wir müssen dieses Zurufen ernst nehmen. Es ist
auch unsere Aufgabe, dieses Engagement nicht in der Projektbearbeitung stecken zu lassen, sondern glaubhaft zu
vermitteln: Deutsche und internationale Politik übernehmen für den Schutz des Ökosystems Wald Verantwortung.
Die Erkenntnis, dass die biologische Vielfalt der Erde
von Tag zu Tag abnimmt, und die Tatsache, dass die Konvention über die biologische Vielfalt diesen negativen Trend
bislang nicht umkehren konnte, müssen uns aufschrecken
und uns zu noch stärkeren Anstrengungen bringen.
Zehn Jahre im Leben eines Menschen - eine lange Zeit,
eine kurze Zeit? Es kommt darauf an, wie wir diese zehn
Jahre in unserem Leben nutzen. Wir werden heute älter als
früher. Zehn Jahre im Leben eines Baumes - eine lange
Zeit, eine kurze Zeit? Bäume werden heute nicht mehr so
alt wie früher. Sie sind durch Umweltbelastungen, Raubbau, Rodung für Siedlungs-, Agrar- und Wirtschaftszwecke bedroht. Zehn Jahre internationale Umweltpolitik - eine gute Zeit, eine genutzte Zeit? Ich fasse mir da
einfach einmal an die eigene Nase. Den Haag war nicht
ganz der Erfolg, den ich mir versprochen habe. Es geht
nun zum nächsten Gipfel nach Johannesburg. Lassen Sie
uns die Zeit bis dahin gemeinsam nutzen! In den zehn Jahren von Rio bis Johannesburg ist mehr Biodiversität verloren gegangen, als in Hunderten von Jahren vorher entstanden war. Unseren Kindern schulden wir es, in nationaler
und internationaler politischer Verantwortung die Biodiversität zu sichern. In Den Haag war es ein kleiner Schritt.
In Johannesburg muss es ein Meilenstein werden.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Helmut Lamp von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Seltene Harmonie im Parlament, viele Gemeinsamkeiten. Gemeinsam ist uns allen,
dass wir das Problem erkannt haben, dass wir begrüßen,
dass die biologische Vielfalt der Wälder Schwerpunktthema der 6. Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag ist,
und dass wir nicht ganz genau wissen, wie sie heute ausgeht. Weil wir das nicht wissen, halte ich den Zeitpunkt der
heutigen Diskussion für ungeeignet. Weder können wir
jetzt noch Einfluss auf die deutsche Verhandlungsführung
in Den Haag nehmen, noch können wir das Ergebnis kommentieren, hieraus unsere Schlüsse ziehen und Strategien
entwickeln. Es wäre also sinnvoller gewesen, dieses Thema
in der nächsten Woche zu diskutieren. Wir haben kaum Unterlagen zu der Problematik und zum Verhandlungsstand in
Den Haag bekommen.
({0})
Es ist so gut wie nichts gekommen, was wir nicht schon
kannten. Nichts Aktuelles! Ich hätte mir schon gewünscht,
dass wir in der nächsten Woche darüber konstruktiver miteinander diskutiert hätten.
Ich muss allerdings die Harmonie noch weiter trüben.
Der Kollege Ruck hat ja davon gesprochen, dass auch wir
unsere Hausarbeiten machen sollten. Es geht ja nicht nur
um die Primär- bzw. Urwälder, deren Wert hier so eindrucksvoll geschildert wurde, sondern auch um die Wälder bei uns zu Hause mit dem ihnen eigenen Wert. Da ist
in den letzten Jahren doch erheblich gesündigt worden.
Manchmal kommen mir Zweifel, ob wir überhaupt die
richtigen Anwälte zur Lösung diesbezüglicher Probleme
in Den Haag sitzen haben.
Die rot-grüne Landesregierung von SchleswigHolstein hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, einen
sich selbst verjüngenden Mischwald anzustreben. Ein
sich selbst verjüngender Mischwald wäre in SchleswigHolstein in kurzer Zeit kein Mischwald mehr, sondern
eine Buchenwaldmonokultur, neben der nichts anderes
mehr bestehen würde.
Die Kollegin Lemke sprach völlig zu Recht davon,
dass in den Staaten, die Primär- bzw. Urwälder haben,
auch das ökonomische Moment eine Rolle spielen muss.
Die dort Ansässigen sollen natürlich auch am Wald verdienen können. Das Gleiche gilt, wie ich denke, aber auch
bei uns. Wenn niemand mehr am Wald verdienen kann,
wird der Wald vernachlässigt werden. Die Politik von RotGrün in Schleswig-Holstein zeigt wiederum, dass mit einer überzogenen, sich nachhaltig nennenden Forstwirtschaft in staatlichen Wäldern kein Geld zu verdienen ist.
Mit den Wäldern in Schleswig-Holstein wird kein Gewinn
erzielt, sondern die Verwaltung der Staatswälder setzt Jahr
für Jahr 300 bis 350 DM pro Hektar zu.
Wir sollten uns also schon auch Gedanken über den ökonomischen Nutzen machen, den wir durch einige - sicherlich gut gemeinte - Maßnahmen erheblich eingeschränkt
haben, auch durch die Vorgaben des Bundesnaturschutzgesetzes: Die 10 Prozent Totholz, die dort gefordert werden,
bilden den Nährboden für den Borkenkäfer, der unsere auch
durch Umwelteinflüsse geschwächten Bäume vernichtet.
Auch eine in manchen Regionen übermäßige Kormoranpopulation vernichtet Waldteile oder gar ganze Flächen,
auch geschützte, durch Verkotung. Sämtliche Vegetation
ist dort tot. Die Untersagung von Kahlschlag, der nie einen
ganzen Wald, sondern immer nur eine Fläche innerhalb eines Waldes betrifft, auf der Platz für Erstbesiedler geschaffen wird, führt zu einer geringeren Artenvielfalt bzw.
Biodiversität in unseren Wäldern.
Zurück zum Gipfel von Den Haag. Wir dürfen wirklich
nicht länger mit ansehen, dass Jahr für Jahr 9 Millionen
Hektar Urwald vernichtet werden. Sie haben die südlichen
Bundesländer genannt. Ich könnte genauso gut SchleswigHolstein, Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern
nennen, wo Jahr für Jahr Flächen vernichtet werden.
Wir haben heute unterschiedliche Prognosen zum Ausgang des Gipfels gehört: von Dr. Ruck eine eher optimistischere und von Frau Wright eine eher pessimistischere.
Wir dürfen uns in der heutigen Debatte nicht einfach mit
einer pessimistischen Sicht zufrieden geben und dann darauf hoffen, dass in Johannesburg alles anders und besser
wird. Ich glaube, dass wir - ich komme jetzt wieder auf
die zu Anfang meiner Rede beschworene Gemeinsamkeit
zurück - in dem Fall, dass das Ergebnis unbefriedigend
ist, gemeinsam eine europäische Initiative ergreifen und
uns mit einem eigenen Konzept bereits vor Johannesburg
mit den betroffenen Staaten in Verbindung setzen sollten.
Danke.
({1})
Das Wort
hat jetzt für die Bundesregierung die Parlamentarische
Staatssekretärin Gila Altmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Lamp, es drängt mich doch, Ihnen zu Anfang meiner Rede
zu sagen, dass wir nicht ausgerechnet die Kormorane für
eine jahrzehntelang fehlgeleitete Umwelt- und Naturschutzpolitik verantwortlich machen sollten,
({0})
sondern wir sollten genau nach den Gründen schauen und
die richtigen Konsequenzen daraus ziehen.
({1})
Herrn Braun möchte ich sagen: Sie bekommen nicht
nur eine Antwort von einer Grünen, sondern sogar eine
Antwort von einer Grünen in der Bundesregierung.
({2})
Urwälder sind die Schatzkammern der Erde: Sie beherbergen zwei Drittel der auf dem Land lebenden
Tiere und Pflanzen, sie sind Lebensraum für rund
150 Millionen Menschen indigener Völker. Urwälder sind einmalig und lebensnotwendig zur Stabilisierung der Lebensgrundlagen dieses Planeten.
So steht es auf der Website der Kids for Forests, die auf
dem Weg zur Haager Umweltkonferenz zahlreiche Ministerien, Abgeordnetenbüros und Botschaften besucht haben, um damit ihr Recht auf eine Zukunft mit Urwäldern
zu beanspruchen. Sie tun das zum Beispiel an über
400 Schulen „für den Urwald“ - so nennen sie sich -, an
denen zukünftig Holz- und Papierprodukte aus Urwaldzerstörung nicht mehr benutzt werden sollen.
Seit der Klimawette 1998, die auf Initiative der
BUND-Jugend zwischen 200 Schulen und der Bundesregierung geschlossen wurde - da ging es um CO2-Reduktion; die Bundesregierung hat die Wette verloren und ist
stolz darauf -, wissen wir, dass Jugendliche es ernst meinen und handeln und dies auch von Politik und Wirtschaft
erwarten. Für die Jugendlichen wird noch immer zu viel
geredet und viel zu wenig getan.
Sie sind mit ihrem Handeln erfolgreich: Erstmals gibt
es in Den Haag ein eigenes Jugendforum, dessen Ergebnisse im Ministersegment eingebracht wurden.
Urwälder gehören zu den bedeutendsten Naturressourcen der Erde. Sie sind komplexe Ökosysteme von lokaler
und globaler Bedeutung und der Schlüssel zur Bewahrung
der biologischen Vielfalt. Wälder liefern alles, was der
Mensch zum Leben braucht. Noch immer gibt es Völker,
die ausschließlich im oder vom Wald leben. Sie können
dies, ohne ihn zu zerstören. Wälder beeinflussen das
Klima und den Wasserhaushalt und sind wesentliche Kohlenstoffspeicher.
Aber - das ist die Krux - sie sind auch ein Wirtschaftsfaktor, mit dem bisher rücksichtslos umgegangen wurde
und auch weiterhin wird. Besonders dramatisch ist der
Rückgang bei den Primärwäldern mit ihrer einzigartigen
genetischen Vielfalt und zum Teil noch unentdecktem Artenreichtum. Die Zeit drängt: 80 Prozent des Primärwaldbestandes sind bereits zerstört. Das wurde hier schon gesagt, aber das kann man gar nicht oft genug wiederholen.
Deutschland ist zwar zu 30 Prozent von Wald bedeckt,
vollkommen naturbelassene Waldökosysteme gibt es jedoch nur als versprengte Reste - wenn überhaupt.
Weltweit beträgt die Waldfläche gerade noch 3,8 Milliarden Hektar. Die Zerstörung vor allem des Tropenwaldes
beträgt jährlich 15 Millionen Hektar. Das ist das Anderthalbfache dessen, was wir in Deutschland an Sekundärwäldern haben. Besonders in Afrika ist der jährliche Verlust mit 5,3 Millionen Hektar dramatisch; das ist nämlich
fast so viel wie der Verlust in Lateinamerika und Asien zusammen.
Und warum das Ganze? Für viele Entwicklungsländer
ist der Export von Tropenholz eine wichtige, oft die wichtigste Einnahmequelle. Hinzu kommt, dass zum Beispiel
im Kongobecken große Waldgebiete von Flüchtlingen
für ihr Überleben übernutzt und damit zerstört werden.
Hauptverursacher sind jedoch die internationalen Firmen
mit ihren Profitinteressen. Dafür werden jahrhundertealte
Baumriesen zu Sperrholzplatten und Zellstoffbrei verhäckselt.
Auch Deutschland gehört zu den Importländern von
Tropenhölzern. Aus dieser Tatsache ergibt sich unsere
besondere und vor allen Dingen unsere gemeinsame Verantwortung. Wenn wir die letzten Primärwälder - sie werden von Greenpeace die „fantastischen Sieben“ genannt für die kommenden Generationen erhalten wollen, dann
müssen wir es als Dienstleistung verstehen und müssen es
uns auch etwas kosten lassen.
Ich komme nun zu den Ergebnissen von Den Haag. Ich
kann die gedrückte Stimmung in diesem Zusammenhang
überhaupt nicht verstehen. Was wir nämlich aus Den Haag
hören, klingt recht optimistisch. Es gibt berechtigte Hoffnungen, dass die Konferenz nach schwierigen Verhandlungen das von Deutschland und Frankreich geforderte Arbeitsprogramm zur Waldbiodiversität heute Nachmittag
annehmen wird. Die Konferenz beginnt in einer halben
Stunde. Herr Ruck hat schon eine positive Bewertung abgegeben. Seine Auffassung wird vom Bundesumweltministerium geteilt.
({3})
Es ist besonders wichtig, dass ein effektiver und aktionsorientierter Umsetzungsmechanismus mit einer Ad-hocExpertengruppe beschlossen werden wird, die ihre Arbeit
vor der übernächsten Vertragsstaatenkonferenz in 2006 beendet haben soll. Bis zur 7. Vertragsstaatenkonferenz soll
ein Themenbericht zur Waldbiodiversität vorgelegt werden.
Das Waldarbeitsprogramm umfasst insgesamt 130 Einzelaktivitäten. Ich will nicht alle referieren, sondern nur
zentrale Punkte nennen. Es geht um die Schaffung eines
globalen Netzes von geschützten Primärwäldern, einschließlich der Wiederherstellung degradierter Wälder.
Die nachhaltige Nutzung, einschließlich der Zertifizierung von Waldprodukten - Herr Lamp, dies ist möglich;
im BNatG machen wir den Anfang, nach dem Prinzip „vor
der eigenen Haustür kehren“ vorzugehen -, ist der einzige
Weg, um Schutz und Nutzung in Einklang zu bringen. Ich
nenne weiterhin den Abbau von nicht nachhaltigen Subventionen und schließlich die Integration von Waldpolitik
in alle anderen Politikbereiche.
Ich komme nun zum Engagement von Herrn Trittin.
Herr Braun, für diese Punkte hat Deutschland mit Herrn
Trittin an der Spitze zusammen mit Frankreich erfolgreich
gekämpft, unterstützt durch Belgien und die Niederlande
und gegen die Widerstände aus Brasilien, Malaysia,
Kanada und anfangs auch einigen europäischen Ländern.
Herr Trittin war bis Mittwochabend in Den Haag. Er hat
zuvor mit den USA verabredet, dass die Waldpolitik auch
in Johannesburg einen zentralen Punkt der Verhandlungen
bildet. Er hat für sein Engagement in Den Haag eine wichtige Sitzung mit den NUS ausfallen lassen.
Bei den Verhandlungen über die Ministererklärung ist
es gelungen, festzuschreiben, dass der Verlust an Biodiversität bis 2010 gestoppt wird. Dieser Punkt ist deswegen in der Ministererklärung enthalten, Frau Lemke, weil
die Befürchtung bestand, dass es zu einer Verwässerung
kommt, wenn er im Arbeitsprogramm steht. Sicher ist
auch, dass die in den Bonn Guidelines vom August 2001
festgelegten Bestimmungen über den Zugang genetischer
Ressourcen und über einen gerechten Vorteilsausgleich
angenommen werden.
Über Den Haag hinaus gibt es noch weitere Initiativen
der Bundesregierung. Gemeinsam mit Frankreich werden
wir auf Grundlage des verabschiedeten Wahlprogramms
ein gesondertes Programm zum Kongobecken starten.
Der Initiative der Kids in den Schulen will die Bundesregierung nicht nachstehen. Das Umweltministerium
setzt sich dafür ein, dass die Beschaffungsstellen des Bundes Produkte aus Primärwäldern nur noch verwenden,
wenn sie den Anforderungen des FSC entsprechen. Wir
werden auch weiterhin mit allen Möglichkeiten, die uns
zur Verfügung stehen, gegen die Einfuhr von illegalen
Holzimporten vorgehen, wie kurz vor Ostern im Hamburger Hafen mit einer Ladung Mahagoni geschehen.
Wie schrieben uns die Kids?
({4})
- Die „Kids for Forests“. Das ist ein feststehender Name.
Wie schreiben also die Kids?
Wir, die Generationen auf der ganzen Welt, wollen
uns mit Ihnen gemeinsam anstrengen und in Zukunft
auf Produkte aus Urwaldzerstörung verzichten. Bitte
geben Sie ein gutes Beispiel und stoppen Sie mit Ihrer ganzen Kraft den Import von Holz und Produkten
aus Urwaldzerstörung.
Ich finde, wir sollten die jungen Leute nicht enttäuschen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass
Helmut Lamp Recht gehabt hat. Diese Feststellung gilt
auch nach Ihrer Rede, Frau Altmann, der ich sehr wohl zugehört habe. Sie haben jetzt etwas intensiver über die Ergebnisse der Konferenz von Den Haag berichtet. Zu Anfang dieser Debatte hat dies Christian Ruck getan. Diese
Ergebnisse stehen aber noch nicht fest. Wir konnten sie
nicht mit Experten und Nichtregierungsorganisationen
abgleichen. Dass diese Debatte wichtig ist, ist, so glaube
ich, jedem klar. Aber hätten wir mit dieser Debatte nicht
eine Woche warten können?
({0})
- Frau Lemke, ich meine das ernst, was ich hier sage.
Auch Sie sollten das tun.
Auch in den Koalitionsfraktionen kam es zu unterschiedlichen Beurteilungen. Heidi Wright hat hier eine
pessimistischere Beurteilung abgegeben, möglicherweise
deshalb, weil sie nicht alles wusste. Wir haben gestern erst
einmal durch Herrn Wettengel nachfragen lassen, welche
Ergebnisse diese Konferenz eigentlich zeitigt.
({1})
Ich gehe einmal davon aus, dass es wirklich positive Ergebnisse sind. Wenn dies so ist, dann wäre es doch wichtig
gewesen, in der nächsten Woche weiter gehende KonseParl. Staatssekretärin Gila Altmann
quenzen zu beraten, die aus diesen positiven Ergebnissen
abzuleiten sind.
({2})
Ich glaube, dass wir damit den Urwäldern auf dieser Welt
und möglicherweise auch der Konferenz von Den Haag
gerechter geworden wären.
Denn es gibt doch folgendes Problem - das wird auch
bei einem positiven Konferenzergebnis so sein -: Wir müssen - wenn die von Ihnen zitierten Kinder auf Produkte aus
Urwaldzerstörung verzichten wollen, dann ist das etwas
sehr Wertvolles; Frau Altmann, darin stimme ich mit Ihnen
überein - vielen Vertragsstaaten weiterhin klar machen,
dass das, was wir ihnen bezüglich der Erhaltung der Urwälder abverlangen, auch ihnen längerfristig nutzen wird.
Es geht dabei um das Problem der Nachhaltigkeit. Im
Grunde genommen müssen diejenigen, die eine falsche
Nutzung tätigen, damit rechnen, dass sie ihre Wälder nicht
nachhaltig nutzen können. Wir sollten ihnen das in ihrem
Interesse sagen und das noch stärker, als das bisher der
Fall gewesen ist, verdeutlichen. Es gilt natürlich, bei allen
Prozessen, die auf dieser Welt stattfinden, über dieses Problem zu diskutieren. Denn auch die Mentalitäten müssen
sich ein Stück weit verändern.
Ich halte es allerdings für verkehrt, dass jetzt alles auf
dieser Welt miteinander abgeglichen wird. In unseren
Breiten ist eine andere nachhaltige Waldbewirtschaftung
notwendig. Denn wir kämpfen nicht mit den Problemen,
mit denen man in Urwäldern am Äquator kämpfen muss.
Hier bestehen Unterschiede. Von daher glaube ich nicht,
dass es sehr sinnvoll ist, wenn wir für alle Bereiche der
Welt ein Zertifizierungssystem empfehlen. Wenn uns die
hier den Wald Bewirtschaftenden sagen, dass sie auf ein
anderes Zertifizierungssystem setzen, dann sollten wir das
ernst nehmen. Wir sollten es aber genauso ernst nehmen,
wenn Zertifizierungssysteme in Bezug auf die Urwälder
an anderer Stelle entwickelt werden, weil wir sonst der
Vielfalt der Wälder und der Waldbewirtschaftung auf unserem Globus nicht gerecht werden würden. Ich wollte
auch darauf aufmerksam gemacht haben.
Ich sehe ein weiteres Problem, das wir lösen müssen;
es ist hier mehrfach angesprochen worden. Es geht darum,
dass wir den Ärmeren auf dieser Welt nicht abverlangen
können, was die reicheren Staaten bei der Waldbewirtschaftung nicht bereit sind zu tun. Der eigentliche Skandal ist, dass es in reicheren Ländern immer noch keine
nachhaltige Forstwirtschaft gibt. Dies müssen wir deutlich machen und wir müssen auch die ärmeren Länder in
die nachhaltige Waldbewirtschaftung einbeziehen.
Es ist ganz wichtig, dass wir diesen Skandal deutlich
machen. Deswegen müssen wir uns auch mit Finnland,
Kanada und solchen Ländern auseinander setzen, die den
Urwald nicht nachhaltig nutzen und die eine Kahlschlagpolitik alleine dadurch betreiben, dass sie häufig die
Bäume, die sie eingeschlagen haben, mit einer ungeheuren Brutalität gegen jegliche Natur und den Wald bergen.
Es gilt, auch in dieser Hinsicht weitere Diskussionen zu
führen. Das Ziel, glaube ich, teilen wir ja alle. Wenn Den
Haag auf dem Weg dorthin ein Erfolg sein könnte, dann
würde ich das sehr begrüßen. Aber ich kann zurzeit nicht alles, was in Den Haag beschlossen worden ist - manches
muss ja erst noch beschlossen werden -, so richtig nachvollziehen.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({3})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Der Bundestag drückt nicht
zum ersten Mal seine Besorgnis über die dramatische Zerstörung der Urwälder aus und das wird auch nicht das
letzte Mal sein. Insofern ist diese Debatte - ob sie nun in
dieser Woche oder in der nächsten Woche stattfindet - etwas daneben. Heute ist nun eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt worden. Wenn es entsprechend beantragt wird, kann über das Thema in der nächsten Woche
oder zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal diskutiert
werden. Über dieses Thema muss auch diskutiert werden.
Ich will daran erinnern, dass bereits in der 11. Wahlperiode die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ im Jahre 1987 den Auftrag bekam, sich mit dem
Einfluss der Tropenwälder auf das Weltklima zu befassen.
Ich habe dieser Enquete-Kommission angehört und hatte
die Gelegenheit, auf Delegationsreisen einen Eindruck
von dem Zustand und der dramatischen Gefährdung von
Urwäldern zu bekommen. Ich war im waldreichen Kanada - Sie haben das eben angesprochen -, in Atlanta, wo
die Wälder in der gemäßigten Zone sind, aber auch in British Columbia, wo es Regenwald gibt. Ich habe an einer Delegationsreise nach Malaysia teilgenommen und habe im
Sarawak die großen Tropenwälder gesehen. - Ich weiß jetzt
nicht, was Sie murmeln. Ich kann nur sagen: Wenn man so
etwas mit eigenen Augen gesehen hat, bekommt man einen
ganz anderen Eindruck. Wir sollten so etwas häufiger nutzen, um uns einen eigenen Eindruck zu verschaffen.
Ich habe gesehen, welche Verwüstungen und Zerstörungen Rodungen mit schwerem Gerät an Wald und Boden verursachen. Ich muss sagen: Wir waren alle entsetzt,
welche Rolle da die Kettensägen der Firma Stihl aus
Deutschland spielten. Dieses große und gefährliche Gerät
wurde dort eingesetzt.
({0})
Wir haben in der darauf folgenden Legislaturperiode
einen weiteren Bericht verfasst, der sich nicht nur mit den
Tropenwäldern, sondern auch mit den borealen Wäldern
befasst hat. Sie müssen sich das einmal vorstellen. Man ist
in diesen Wäldern unter einem dichten Blätterdach, durch
das kaum Licht eindringt. Es gibt nur Dämmerlicht; man
nimmt Geräusche und Gerüche wahr. Man merkt, dass
dort ein geheimnisvolles Leben, Atmen und Wachsen von
unendlich vielen Pflanzen und Tieren stattfinden. Wenn
man einen Tropenbaum, einen jahrhundertealten Baum,
sieht, dann weiß man: Tropenwälder und Regenwälder
sind nicht nur CO2-Senken oder Pumpen für das Weltklima. Sie sind nicht nur ein Reservoir für die biologische
Vielfalt. Urwald ist ein einmaliger Schatz der Menschheit
und die Länder, die solche Urwälder, solche Tropenwälder haben, könnten und sollten stolz sein und sollten alles
tun, sie zu erhalten. Wir müssen ihnen dabei helfen.
Leider ist es so, dass viele der alten großen Bäume in
den Industrieländern landen: in Japan als Stäbchen zum
Essen, bei uns als Zellstoff, als Spanplatten oder Sperrholz, bestenfalls als Möbel. Wir sind ein Teil des Systems
der Zerstörung der Wälder.
Die Enquete-Kommission hat im Mai 1990 ihren Bericht „Schutz der Tropenwälder“ dem Bundestag überreicht. Über ihn wurde hier diskutiert und ich möchte die
Namen einer Kollegin und eines Kollegen erwähnen, die
intensiv an diesem Thema gearbeitet haben. Das waren
Dr. Liesel Hartenstein von der SPD und Wilhelm Knabe
von den Grünen. Sie haben intensiv an dem Bericht gearbeitet und danach immer wieder dafür gesorgt, dass im
Bundestag über Anträge und Anfragen zu dem Thema
diskutiert wurde. Das blieb leider ohne Erfolg, denn unsere Anträge wurden zu dieser Zeit immer niedergestimmt.
Deswegen bin ich sehr froh, dass wir jetzt eine Gemeinsamkeit haben und feststellen, dass das, was 1992
auf dem Erdgipfel von Rio mit der Konvention über die
biologische Vielfalt angefangen hat und jetzt umgesetzt
werden soll, vom Parlament unterstützt wird.
Ich bin auf unseren Minister stolz, der, soweit ich
gehört habe, in Den Haag eine hervorragende Rolle gespielt hat. Deutschland hat wichtige Impulse gegeben und
konstruktiv dazu beigetragen, dass die Konferenz ein Erfolg geworden ist. Aber machen wir uns nichts vor: Es ist
nicht das letzte Mal, dass wir hier darüber diskutieren.
Auch mit der erfolgreichen Konferenz in Den Haag ist das
Problem noch lange nicht gelöst. Sie ist ein weiterer
Schritt auf dem Weg, der notwendig ist, um diesen Schatz,
diesen Reichtum der Menschheit auch für die nachfolgenden Generationen zu erhalten.
Schönen Dank.
({1})
Die Wortmeldung des Kollegen Obermeier ist von der Frau Kollegin Vollmer zu Protokoll genommen worden. Ich frage:
Gibt es dagegen Bedenken?
({0})
- Dann darf ich diejenigen, die Bedenken haben, bitten,
die Hand zu heben. - Gegenstimmen?
({1})
Wenn die Mehrheit Bedenken hat, kann die Rede nicht zu
Protokoll genommen werden. Ich sage nur: In der Geschäftsordnung ist das nicht ausdrücklich geregelt. Das
kann dann nur das Parlament beschließen.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. April 2002, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.