Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
zunächst gratuliere ich Ihnen im Namen der CDU/CSUBundestagsfraktion nachträglich herzlich zu Ihrem Geburtstag.
Wer Ihre Regierungserklärung heute Morgen angehört
hat, dem sollte ganz offensichtlich der einseitig auf den beginnenden Bundestagswahlkampf ausgerichtete Eindruck
vermittelt werden, Familienpolitik habe in Deutschland sozusagen erst mit der rot-grünen Bundesregierung begonnen.
({0})
Wer die richtige Politik für die Familien so einseitig für
sich in Anspruch nimmt, wie Sie das heute Morgen hier
getan haben, der nutzt den Familien und vor allem den
Kindern in Deutschland nicht, sondern er nutzt sie für
seine parteipolitischen Zwecke aus, Herr Bundeskanzler.
({1})
Bevor Sie weiter Zwischenrufe machen, will ich Ihnen
noch sagen, Herr Bundeskanzler: Sie stoßen mit dem, was
Sie heute Morgen an Familienpolitik entdeckt haben, in
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf ein Langzeitgedächtnis.
({2})
Wir können uns nämlich relativ gut daran erinnern - einige von uns waren dabei -, als Sie vor Ihrer Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident schon einmal Mitglied
des Deutschen Bundestages waren. Das ist lange her. Aus
dieser Zeit, Herr Bundeskanzler, stammen solche Zitate
von Ihnen wie dieses: „Topfblumen und Kinder gehören
in keinen anständigen Haushalt.“
({3})
Alle hier im Haus können sich daran erinnern, wie Sie
noch im Oktober des Jahres 1998 von „Frauenpolitik und
so einem Gedöns“ gesprochen haben. Wenn Sie, Herr
Bundeskanzler, heute die Familien und die Kinder entdecken, dann ist das gut. Aber glaubwürdig ist das vor
dem Hintergrund dessen, was Sie in den vergangenen Jahren dazu gesagt und was Sie in den letzten drei Jahren in
der Regierungsverantwortung gemacht haben, nicht. Das
werde ich Ihnen im Einzelnen belegen.
({4})
Wenn wir mit dem Thema „Familienpolitik/Zukunft
der Kinder in unserem Land“ verantwortungsvoll umgehen wollen und wenn wir die uns gesellschaftspolitisch
gestellte Aufgabe wirklich annehmen wollen, dann bedarf
es differenzierterer Antworten als der, die Sie heute Morgen zum Teil gegeben haben. Zu diesen Antworten gehört
zunächst einmal, dass Deutschland ein sehr wohlhabendes Land ist,
({5})
in dem Kinder von engagierten Eltern verantwortungsvoll
erzogen werden und gesund sowie in Frieden und Freiheit
aufwachsen können. Das ist vor dem Hintergrund der
Lage der Kinder in vielen anderen Ländern dieser Welt ein
Befund, der nicht ganz ohne Bedeutung ist. Familien mit
ihren Kindern stehen jedenfalls in Deutschland sehr viel
besser da als in vielen anderen Ländern dieser Welt.
({6})
Über Jahre und Jahrzehnte hinweg, Herr Bundeskanzler, hat es in unserer Gesellschaft den Konsens gegeben,
dass die Erziehung von Kindern nicht in erster Linie bzw.
überhaupt nicht eine staatliche Aufgabe, sondern die Aufgabe ihrer Eltern ist. Wir haben über Jahre und Jahrzehnte
auch einen Konsens darüber gehabt, dass Familien mit
Kindern finanziell entlastet werden müssen. Wir haben
Bundeskanzler Gerhard Schröder
diese Aufgabe weitgehend gemeinsam Schritt für Schritt
zu erfüllen versucht.
({7})
Herr Bundeskanzler, wenn wir jetzt schon wechselseitig Bilanz Ihrer Amtszeit und unserer Regierungszeit ziehen, dann gehört zu dieser Bilanz auch, dass es eben nicht
die SPD, sondern die unionsgeführte Bundesregierung
war, die aus dem Familienlastenausgleich einen Familienleistungsausgleich gemacht hat.
({8})
Wir haben den Grundfreibetrag in der Steuer und das Kindergeld eingeführt. Den Grundfreibetrag mussten wir erst
wieder einführen, weil Sie ihn zu Zeiten der sozialliberalen Koalition abgeschafft hatten.
({9})
Wir haben die Kindererziehungszeiten in der Rente anerkannt. Wir haben Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub
ebenso wie den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt. Herr Bundeskanzler, es war die von Ihnen
hier so verächtlich herabgesetzte unionsgeführte Bundesregierung, die in den Jahren von 1982 bis 1998 die Leistungen für die Familien mit Kindern in Deutschland von
etwa 27 Milliarden DM auf rund 75 Milliarden DM im
Jahr praktisch verdreifacht hat.
({10})
Eine solche Steigerung der Leistungen für die Familien
hat es vorher und nachher in Deutschland nicht gegeben.
Trotzdem, meine Damen und Herren, hat das Bundesverfassungsgericht diese Leistungen als nicht ausreichend angesehen. Deswegen war es auch richtig - wir haben es nicht
kritisiert -, dass Sie das Kindergeld Schritt für Schritt weiter erhöht haben.
({11})
Herr Bundeskanzler, ich stelle in diesem Zusammenhang
die Frage, ob Sie denn der Meinung sind, dass Sie mit
dem, was Sie in den letzten dreieinhalb Jahren gemacht
haben, heute einen verfassungsgemäßen Zustand hergestellt haben. Ist es verfassungsgemäß, wenn eine Familie
mit zwei Kindern heute immer noch etwa 5 000 Euro im
Jahr mehr versteuern muss als vier Erwachsene mit einem
vergleichbaren Einkommen? Herr Bundeskanzler, die Lebenswirklichkeit in Deutschland sieht anders aus, als Sie
sie heute hier beschrieben haben.
({12})
Zu dieser Lebenswirklichkeit gehört, dass Sie den Familien die rund 13 Milliarden Euro, die Sie ihnen an nominalen Leistungen zusätzlich zur Verfügung gestellt haben,
über die Ökosteuer weitgehend wieder aus der Tasche ziehen.
({13})
Herr Bundeskanzler, die nächste Erhöhung der steuerlichen Belastungen für die Familien ist bereits fest eingeplant: Sie soll, wenn es nach Ihren Vorstellungen geht, am
1. Januar des Jahres 2003 mit einer weiteren kräftigen Anhebung der Ökosteuer erfolgen.
Lassen Sie mich über den finanziellen Aspekt hinaus
noch einen weiteren Aspekt hinzufügen, den Sie in Ihrer Regierungserklärung heute Morgen überhaupt nicht erwähnt
haben. Es gibt heute in Deutschland etwa 1 Million Kinder,
die auf Sozialhilfe angewiesen sind, übrigens knapp zwei
Drittel davon in SPD-geführten Bundesländern.
({14})
Wenn in einem der wohlhabendsten Länder dieser Welt,
nämlich in Deutschland, 1 Million Kinder auf Sozialhilfe
angewiesen sind, dann ist dies ein großer anhaltender gesellschaftspolitischer Skandal. Daran müssen wir schnell,
und wenn es geht, gemeinsam, etwas ändern.
({15})
Meine Damen und Herren, wir schlagen deshalb vor,
den Familienleistungsausgleich so zu ändern, dass in
Deutschland sehr bald kein Kind mehr auf Sozialhilfe angewiesen ist.
({16})
Sie kennen unsere Vorschläge. Wir wollen ein einheitliches Familiengeld von 600 Euro pro Kind und Monat für
die ersten drei Lebensjahre,
({17})
von 300 Euro bis zur Volljährigkeit und danach während
der Zeit der Ausbildung von 150 Euro pro Monat.
({18})
Wir wissen, dass dies eine enorme finanzpolitische Kraftanstrengung erfordert. Wir wissen, dass dies rund 20 Milliarden Euro zusätzlich für die Familien in Deutschland
bedeutet. Aber ich will Ihnen in aller Klarheit sagen, dass
wir mit diesem Vorschlag nicht aus der Opposition heraus
in einen unbezahlbaren Überbietungswettbewerb mit Ihnen eintreten, sondern auch klar dazu sagen: Dieses Geld,
diese zusätzlichen Leistungen müssen an anderer Stelle
eingespart werden.
({19})
Ich füge ausdrücklich hinzu, dass dies nur geht, wenn
die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengelegt
werden, wenn wir einen Teil der hohen Bewirtschaftungskosten für die Arbeitslosigkeit in Deutschland reduzieren und die dadurch frei werdenden Mittel zugunsten
der Familien mit Kindern einsetzen.
({20})
Ich will den gesellschaftspolitischen, den arbeitsmarktpolitischen, ja den ordnungspolitischen Gesamtzusammenhang dieses von uns unterbreiteten Vorschlages
noch einmal erläutern. Erst mit diesen Leistungen des Familiengeldes für die Kinder, so wie ich sie skizziert habe,
werden arbeitslose Sozialhilfeempfänger und sozialversiFriedrich Merz
cherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer im Familienleistungsausgleich wirklich gleich behandelt. Damit
wird zugleich die Schwelle, ab der es sich wieder lohnt,
eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt anzunehmen,
deutlich herabgesetzt.
Dieser Zusammenhang ist auch von entscheidender
Bedeutung für die Lösung des Arbeitsmarktproblems. Die
Eltern von Kindern dürfen auf dem Weg von der Arbeitslosigkeit in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht fast die Hälfte der staatlichen Leistungen für
ihre Kinder verlieren.
({21})
Geschieht dies trotzdem, lohnt es sich praktisch nicht, in
den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Deswegen haben unsere Vorschläge zum Familiengeld, die tatsächlich
eine Herausforderung darstellen und eine Kraftanstrengung erfordern, etwas mit der Lösung des Arbeitsmarktproblems und der Absenkung der Beschäftigungsschwelle
in Deutschland zu tun. Wer diesen Zusammenhang nicht
sieht, wird die Probleme in Deutschland weder auf dem
Arbeitsmarkt noch im Bereich der Familien lösen.
({22})
Meine Damen und Herren, Familienpolitik in Deutschland darf sich nicht in einer Diskussion über die finanziellen Zuwendungen für Familien erschöpfen. Wir sind mit
Ihnen, Herr Bundeskanzler, der Meinung, dass wir der
Ökonomisierung der Familienpolitik entgegentreten und
den gesellschaftspolitischen Wert der Arbeit der Familien
und der Eltern in den Vordergrund stellen müssen.
({23})
Deswegen ist die Anerkennung und Förderung der ideellen Leistungen der Familien in unserer Gesellschaft mindestens ebenso wichtig wie die bessere finanzielle Ausstattung der Familien.
Ob Sie es wollen oder nicht, lernen Kinder zuallererst
vom Vorbild ihrer Eltern. Eltern stehen heute vielleicht
größeren Herausforderungen gegenüber als früher, sie machen heute wie früher Fehler in der Erziehung, aber sie sind
und bleiben die wichtigsten Bezugspersonen für ihre Kinder.
({24})
Ich sage dies deshalb, meine Damen und Herren von der
rot-grünen Koalition, weil das Miteinander der Eltern nicht
ohne Bedeutung für das Heranwachsen ihrer Kinder ist.
Auffallend war bei der Regierungserklärung - ich weiß
nicht, ob Sie es alle gehört haben; ich habe aber aufmerksam zugehört -, dass Sie das Grundgesetz, Art. 6, zitiert
haben und gesagt haben, dort stehe: „Familie steht unter
dem besonderen Schutz des Staates.“
({25})
Nein, meine Damen und Herren, das ist unvollständig zitiert. Im Grundgesetz steht nicht: „Familie steht unter dem
besonderen Schutz“, sondern darin steht: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen
Ordnung.“
({26})
Dass hier unvollständig zitiert wird, ist kein Zufall. Es ist
auch kein Zufall, dass es derzeit eine neue ausschließliche
Ausrichtung Ihrer Familienpolitik auf generell zwei außer
Haus berufstätige Elternteile gibt.
({27})
Ich sage das in aller Klarheit. Ich habe auch mit dem Zwischenruf gerechnet. Wir wollen nicht, dass das frühere
Leitbild der Familie, in der in der Regel die Mutter auf
eine Erwerbstätigkeit außer Haus verzichtet, nun ausschließlich durch das neue Leitbild einer Familie ersetzt
wird,
({28})
in der grundsätzlich beide Elternteile ganztägig außer
Haus berufstätig sind und Kinder vom ersten Lebensjahr
an in Krippen, Horten, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen groß werden.
({29})
Herr Bundesaußenminister, aus Ihrer reichhaltigen Erfahrung mit den Zwischenrufen von der Regierungsbank
will ich Ihnen klar beantworten, was unsere Vorstellungen
sind. Wir wollen wirklich Wahlfreiheit der Eltern.
({30})
Wir wollen insgesamt in Deutschland ein besseres Klima
für Kinder. Wir wollen, dass Frauen ihre gute Ausbildung
besser mit dem Wunsch nach Beruf und Familie vereinbaren können als bisher. Wir wollen aber beispielsweise
auch, dass sich Männer der Familienarbeit und ihren Kindern besser und intensiver zuwenden können und dies
auch wollen als bisher. Das ist unser Leitbild für eine zukunftsorientierte Familienpolitik.
({31})
Meine Damen und Herren, dazu gehört, dass die
Erziehungskompetenz der Eltern gestärkt wird. Das
geht aber nicht, wenn mit der Gemeinschaft der Eltern
jede beliebige Verbindung zweier Menschen auf Zeit auf
eine Stufe gestellt wird. Dann wird es beliebig und die Erziehungskompetenz der Eltern nimmt mit der Bindungsfähigkeit der Gesellschaft ab.
({32})
Verantwortung wahrzunehmen, Bindungsfähigkeit zu
entwickeln, Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit zu erproben, dies alles lernen Kinder nur, wenn die Eltern ihnen
dies auch - selbst in aller Unvollkommenheit - vorleben.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, steht im Grundgesetz zu
Recht: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen
Schutze der staatlichen Ordnung.“
({33})
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Ihrer Behauptungen oder Vorschläge aus Ihrer Regierungserklärung
aufgreifen. Sie haben behauptet, Ihre rot-grüne Koalition
habe begonnen, den Staatshaushalt in Deutschland wieder in Ordnung zu bringen.
({34})
Aber auch dies sollte eine interessierte deutsche Öffentlichkeit wissen: Am Ende Ihrer vierjährigen Regierungszeit wird die Staatsschuld des Bundes in Deutschland
mindestens 40 Milliarden Euro höher sein als zu Beginn
Ihrer Regierungstätigkeit. Ohne die UMTS-Lizenz-Erlöse hätten wir eine knapp 100 Milliarden Euro höhere
Staatsverschuldung des Bundes als zu Anfang Ihrer Regierungszeit im Jahre 1998.
({35})
Woher nehmen Sie in diesem Zusammenhang eigentlich
die Zuständigkeit und das Recht, in die Kompetenz der
Länder und Kommunen einzudringen, Herr Bundeskanzler,
({36})
indem Sie heute vonseiten der Bundesregierung vorschlagen, Ganztagsschulen in Deutschland mit 4 Milliarden
Euro zu finanzieren? Dafür hat der Bund keine Zuständigkeit, Herr Bundeskanzler.
Ich habe noch in relativ guter Erinnerung - die Parallele ist deutlich erkennbar -: Kurz vor der NiedersachsenWahl am 1. März 1998 hat der damalige Ministerpräsident
Gerhard Schröder im gleichen Zusammenhang das Versprechen gegeben, nach der Wahl für die Schulen in Niedersachsen 1 Milliarde DM zusätzlich zur Verfügung zu
stellen. Auch das war wenige Monate vor einer Wahl. Auf
diese 1 Milliarde DM warten die Schüler und Eltern in
Niedersachsen bis heute, Herr Bundeskanzler.
({37})
Deswegen ist auch das Versprechen, das Sie heute Morgen gegeben haben, nicht mehr als eine unzulässige Einmischung in die Zuständigkeiten der Kommunen und
Länder
({38})
und ein hohles Wahlkampfversprechen, das Ihnen in
Deutschland aufgrund Ihrer Vorgeschichte niemand mehr
glaubt.
({39})
Wir haben stattdessen eine Antwort von Ihnen auf die
Frage erwartet, wie Sie denn Ihre bundespolitischen Zuständigkeiten im Hinblick auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem letzten Jahr wahrzunehmen
gedenken. Damals hat das Bundesverfassungsgericht
nicht etwa den Ländern, sondern dem Bund, also Ihrer Bundesregierung, für die letzten fünf Monate Ihrer Regierungszeit den Auftrag erteilt, zu klären, wie die Sozialversicherungsbeiträge unterschiedlich ausgestaltet werden können,
je nachdem, ob die Beitragszahler Kinder haben oder
nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat das im Hinblick
auf die Pflegeversicherung entschieden. Ich sehe kaum
Gründe, warum diese Entscheidung nicht auch für die
Rentenversicherung gelten sollte. Darauf hätten Sie heute
Morgen eine Antwort geben müssen, Herr Bundeskanzler.
({40})
Abschließend möchte ich sagen: Ich stimme Ihrer Aussage völlig zu - wir suchen ja den gesellschaftspolitischen
Konsens, so weit es möglich ist -, dass Gewalt in der Erziehung nichts zu suchen habe. Aber Sie haben heute Morgen den Eindruck erweckt, als ob dies eine Erfindung
Ihrer rot-grünen Regierung gewesen sei. Herr Bundeskanzler, das Kindschaftsrecht in Deutschland ist - ich sage
das nur zur Erinnerung; die meisten Kolleginnen und Kollegen waren bei den Beratungen ja dabei - im September
1997, also in der Verantwortung der früheren Bundesregierung, geändert worden. Seitdem steht die Gewaltfreiheit in der Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch, also
nicht erst, seitdem Sie regieren.
({41})
Wenn es aber Defizite bei der Gewaltfreiheit der Erziehung gibt, dann hätte ich mir gewünscht, dass Sie, Herr
Bundeskanzler, heute Morgen von diesem Rednerpult aus
uns alle - wir hätten gerne mitgemacht - aufgefordert hätten, endlich gemeinsam die Initiative zur Zurückdrängung
bzw. Vermeidung von Gewalt verherrlichenden Horrorfilmen, deren Zahl sowohl in den öffentlich-rechtlichen als
auch in den privaten Fernsehanstalten zunimmt, zu ergreifen. Das wäre ein gesellschaftspolitischer Beitrag zur
Gewaltfreiheit in der Erziehung gewesen.
({42})
- Es gibt offensichtlich - das war ja in den Zeitungen
nachzulesen - einen Krawallerlass in Ihrer Fraktion: Jedes Mal, wenn ein Oppositionsredner spricht, rufen Sie
ständig dazwischen. Die Art und Weise, wie Sie dazwischenrufen, ist auch ein Stück Gewalt.
({43})
Ich lasse mich nicht davon beirren. Es bleibt dabei:
Nicht nur die finanziellen Leistungen für die Familien
müssen in erheblichem Maße verbessert werden. Familien mit Kindern müssen auch einen neuen Stellenwert in
unserer Gesellschaft bekommen. Dafür engagieren wir
uns und setzen wir neue Prioritäten. Vor allem muss aber
die eigene Politik glaubwürdig sein.
Herzlichen Dank.
({44})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Peter Struck, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Kollege Merz, seien Sie nicht so
empfindlich. Ein paar Zwischenrufe muss ein Fraktionsvorsitzender schon vertragen können. Das ist keine Gewalt im Parlament.
({0})
Es gibt in meiner Fraktion auch keinen Krawallerlass.
({1})
In meiner Fraktion gibt es überhaupt keine Erlasse, sondern
nur Überzeugungsentscheidungen, Herr Kollege Merz.
({2})
Die „Frankfurter Rundschau“ hat anlässlich der heutigen Regierungserklärung getitelt: Siegerthema Familie.
Beim Lesen dieser Überschrift ist mir klar geworden, dass
Edmund Stoiber heute nicht hier sein wird. Dem haben am
letzten Dienstag 30 Minuten gereicht, um aus der Familienpolitik für sich ein Verliererthema zu machen.
({3})
Er wollte - wohl aufgrund eines Ratschlags seines Medienberaters - schlau sein und nicht die Regierungserklärung des Kanzlers abwarten, sondern vorpreschen.
Er hat deshalb schon vorgestern eine Pressekonferenz zu
dem heute hier zu diskutierenden Thema gegeben und auf
dieser gemeinsam mit dem Kollegen Merz - Sie haben
das schon eben angesprochen - verkündet: Monatlich
600 Euro Familiengeld für jedes Kind in den ersten drei
Lebensjahren!
({4})
Das sollte ein Überraschungscoup sein. Das war es auch,
vor allen Dingen für die Kollegin Merkel, die CDU-Vorsitzende; denn sie hatte nur einen Tag vorher erklärt, für
ein Familiengeld in Höhe von 600 Euro sei kein Geld da
und der Betrag müsse niedriger sein.
({5})
Sie hat Recht, wenn sie behauptet, dass das im Moment
nicht finanzierbar ist. Ich werde darauf noch zu sprechen
kommen.
Am Dienstagnachmittag war die Lage dann anders:
600 Euro Familiengeld für jedes Kind in den ersten drei Lebensjahren. Dieses Versprechen hatte die Halbwertzeit von
wenigen Stunden; denn noch am gleichen Abend musste
ein Stoiber-Sprecher es gegenüber der „Financial Times
Deutschland“ korrigieren. Er sagte, der Kandidat habe sich
vertan, das Versprechen gelte nur für das erste Lebensjahr.
({6})
Das war wieder einmal ein Glanzstück, wie wir es schon
mehrmals in den 100 Tagen Stoiber-Kandidatur erlebt haben: Als Tiger gestartet, als Stoiber und Bettvorleger gelandet.
({7})
Die Äußerungen von Stoiber und natürlich auch Ihre
Äußerungen von heute haben eines deutlich gemacht:
600 Euro Familiengeld sind nichts anderes als eine Mogelpackung.
({8})
Zunächst war der Vorschlag vorgelegt worden, diese
großartige Summe aus dem Wirtschaftswachstum zu finanzieren, das er, Stoiber, mit sich bringe. Daran glaubt er
nun selbst nicht mehr. Also haben Sie heute einen überaus
interessanten, neuen Vorschlag gemacht.
Ich komme jetzt zu Ihrem Finanzierungsvorschlag.
Zunächst einmal sagen Sie: Das Ganze kostet 20 Milliarden Euro. Unsere Experten haben ausgerechnet: 30 Milliarden Euro. Ich gehe ruhig von Ihren 20 Milliarden Euro
aus. Sie haben gerade gesagt: Das finanzieren wir durch die
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.
Nun sage ich Ihnen: Die Arbeitslosenhilfe kostet 13,5 Milliarden Euro; die Sozialhilfe kostet 9,5 Milliarden Euro.
Das sind nach Adam Riese 23 Milliarden Euro. Wenn Sie
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe abschaffen wollen, dann
kommen Sie mit Ihrer Rechnung vielleicht gerade hin. Herr
Merz, ich sage Ihnen: Sie wollen, dass die Arbeitslosen Ihr
Familiengeld bezahlen. Das machen wir nicht mit!
({9})
Was heißt 600 Euro Familiengeld eigentlich? Das
heißt, so vermute ich einmal, dass es kein Kindergeld und
kein Erziehungsgeld mehr gibt. Was ist eigentlich mit den
anderen kinderbezogenen Leistungen, die unsere Gesetze
vorsehen? Was ist eigentlich mit dem Kinderzuschlag bei
der Eigenheimzulage?
({10})
Wollen Sie auch das abschaffen? Was ist mit den Kinderzuschlägen beim Wohngeld? Wollen Sie auch das abschaffen? Sie schütteln immer den Kopf. Wenn Sie das
tun, dann müssen Sie hier schon freimütig bekennen: Ihr
Vorschlag eines Familiengeldes in Höhe von 600 Euro ist
eine reine Luftnummer, die nicht zu bezahlen ist.
({11})
Sie haben sich des Längeren und des Breiteren über das
Angebot des Bundeskanzlers zur Betreuung ausgelassen.
Ich will Ihren 1. stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden,
den Kollegen Glos, zitieren. Der Bundeskanzler hat zum
Thema Betreuung Folgendes vorgeschlagen: vier Jahre
lang 1 Milliarde Euro pro Jahr. Dieser Vorschlag ist ein
Angebot des Bundes an die Länder. Zu sagen, das sei formaljuristisch nicht zulässig, weil der Bund nicht zuständig sei, ist doch lächerlich. Es ist ein Angebot, das wir den
Ländern machen, und wir gehen davon aus, dass es angenommen wird.
({12})
Herr Glos hat in einer Pressemeldung von gestern gesagt - nun hören Sie einmal zu, Herr Glos -:
Die Ankündigung des SPD-Vorsitzenden Gerhard
Schröder, mit 4 Milliarden Euro die Ganztagsbetreuung von Kindern fördern zu wollen, wird strikt abgelehnt.
Das Geld solle stattdessen der Bundeswehr zur Verfügung
gestellt werden.
({13})
Wir sollten schon bei dem bleiben, was die Meinung
der Opposition ist. Herr Merz hat gesagt: Weil der Bund
nicht zuständig ist, sind wir dagegen. Ich höre allerdings
schon mit großem Interesse Stimmen derjenigen, auch aus
CDU-geführten Bundesländern, die sich freuen, wenn es
1 Milliarde Euro gibt. Sie sind die Ersten, die dabei sind,
trotz Ihrer formalen Bedenken, Herr Kollege Merz. Sie
tun gut daran, wenn Sie unser Angebot, auf das wir stolz
sind, annehmen.
({14})
Kollege Struck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glos?
Ja, bitte.
Herr Kollege Struck, da
ich mich an das, was ich erst vor allerkürzester Zeit gesagt
habe, immer besonders gut erinnere, ({0})
Na, na, na!
- kann ich genau schildern, wie es gewesen ist.
Aber nicht so lange, Herr
Glos! Sagen Sie doch nur, ob es stimmt, dass Sie gesagt
haben, das Geld solle lieber für die Bundeswehr ausgegeben werden. Das reicht mir.
Es gibt eindeutige Zuständigkeiten. Der Bund ist eindeutig für die äußere Sicherheit zuständig; hier gibt es Mängel. Der Bund ist nicht
für die Förderung der Schulen zuständig. Dafür sind die
Länder zuständig. In diesem Zusammenhang war das gemeint. Niemand hat aber etwas dagegen, wenn mehr öffentliche Mittel, insbesondere der Länder, in den wichtigen Bereich Ganztagesschulen fließen.
({0})
Herr Kollege Glos - Sie müssen einen Augenblick stehen bleiben, ich antworte Ihnen
ja -, darf ich Ihre Äußerung so verstehen - ich verstehe
sie so -, dass Sie jetzt gerade Ihren Fraktionsvorsitzenden
korrigieren, der nämlich erzählt hat, er wolle das nicht?
Wenn das so ist, dann nehme ich das mit Zufriedenheit zur
Kenntnis. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie in Ihrer Fraktion mehr zu sagen haben als Ihr Fraktionsvorsitzender.
Bei uns ist es nicht so, dass einer mehr zu sagen hat als der
Fraktionsvorsitzende.
({0})
Sie dürfen jetzt gern Platz nehmen, Herr Glos.
Ich stelle fest, dass wir in der Familienpolitik eine
großartige Bilanz vorweisen können.
({1})
Ich stelle auch fest, dass es in den vergangenen Jahren
viele Regierungserklärungen zur Familienpolitik gegeben hat, auch zu Zeiten der konservativ-liberalen Regierung. Dass es Gerhard Schröder ist, der als erster Bundeskanzler eine solche Regierungserklärung abgibt,
zeigt die Bedeutung, die wir diesem Thema beimessen
werden.
({2})
Die Bilanz hat der Bundeskanzler vorgetragen. Wir
werden auch dafür sorgen, dass diese Bilanz bis zum
22. September vielen Menschen in Deutschland immer
wieder vorgelegt wird, damit sie erkennen, was wir zusätzlich getan haben. Hätten Sie es in Ihrer Regierungszeit
geschafft, das Kindergeld dreimal zu erhöhen - von
220 DM auf 300 DM -, dann hätten Sie jeden Tag Jubelarien gesungen. Das jetzt als nicht ausreichend zu kritisieren ist - da hat der Bundeskanzler völlig Recht - absolut lächerlich.
({3})
Wir gehen mit dem Angebot der Bundesregierung,
1 Milliarde Euro pro Jahr zusätzlich für Betreuung zur
Verfügung zu stellen, das dem Finanzminister sicherlich
nicht ganz leicht gefallen ist und bei dessen Umsetzung sicherlich schwierige Fragen entstehen werden - das ist so,
wenn man mit Ländern und Gemeinden darüber zu verhandeln hat, wie man mehr Ganztagsbetreuungsplätze
schafft -, in die Bundestagswahl. Wir wollen, dass insbesondere mehr und mehr Frauen wieder in den Beruf
zurückkehren können, weil wir wissen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein wichtiges Gut ist. Das
hat nichts mit Kritik an der Institution Ehe und dergleichen zu tun.
({4})
Wir haben die notwendigen Sofortmaßnahmen getroffen, auch die, die nach dem Bundesverfasssungsgerichtsurteil von uns erwartet wurden. Wir haben die
Versäumnisse der 16 Jahre von Helmut Kohl wettgemacht
und jetzt haben wir Luft, um uns neuen Herausforderungen einer noch familienfreundlicheren Politik zu stellen.
({5})
Ich erteile der Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, ich
möchte Ihnen zunächst dazu gratulieren, dass Sie nun
endlich die Bedeutung der Familienpolitik für die Zukunft unseres Landes erkannt haben.
({0})
Früher - Herr Merz hat es ja schon gesagt - haben Sie
Derartiges gern als „Gedöns“ bezeichnet, aber man lernt
ja nie aus. Nun sei es jedem gegönnt, seine Meinung zu
ändern, nur: Glaubwürdig ist das eben nicht, besonders
dann, wenn sich ein solcher Meinungswandel pünktlich
zum Bundestagswahlkampf einstellt.
({1})
So, Herr Bundeskanzler, müssen Sie sich eben auch an
Ihren Taten messen lassen; hehre Worte genügen nicht.
Ich sage es einmal mit einem alten deutschen Sprichwort:
Man sollte nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im
Glashaus sitzt.
({2})
Sie sprachen von Versäumnissen der letzten Bundesregierung in der Familien- und Bildungspolitik in den vergangenen Jahren. Es sind in der Tat Fehler gemacht worden. Das kann man ja auch einmal zugeben. Wir müssen
aber überhaupt erst einmal für ein kinder- und familienfreundliches Klima in Deutschland sorgen.
({3})
Sie haben damals als Ministerpräsident von Niedersachen
jedenfalls nicht sehr viel dazu beigetragen: Wenn man
sich anschaut, wie hoch der Versorgungsgrad an Kindergartenplätzen in den einzelnen Bundesländern ist, stellt
man fest, dass ausgerechnet Nordrhein-Westfalen und
Niedersachsen an letzter Stelle liegen.
({4})
Die Bilanz Ihrer knapp vier Regierungsjahre in der Familien-, Frauen- und Kinderpolitik ist wahrhaftig nicht
glanzvoll. Die Bundesregierung rühmt sich gerne der Erhöhung des Kindergeldes. Sie erwähnen natürlich nicht,
dass Sie aus der einen Tasche nehmen, was Sie in die andere
geben. Dass Sie die Maßnahmen für Familien von Familien
selber bezahlen lassen, ist nämlich die ganze Wahrheit:
({5})
zum einen durch Steuererhöhungen, nicht zuletzt der
Ökosteuer, durch die Streichung des Haushaltsfreibetrages für Alleinerziehende, durch den Wegfall des Ausbildungsfreibetrages für Kinder, die auswärts studieren, und
durch den Wegfall der Möglichkeit der kostengünstigen
Beschäftigung von Haushaltshilfen und Tagesmüttern.
({6})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wenn man das alles zusammenrechnet, kommt man
am Ende zu dem Ergebnis: Die Familien in Deutschland
zahlen drauf,
({7})
besonders die kinderreichen Familien und die Alleinerziehenden, die ohnehin am stärksten von Armut bedroht
sind.
SPD und Grüne haben gegenüber den Familien vollmundige Versprechungen gemacht. Die Realität Ihrer Politik sieht aber anders aus: Die Bundesregierung macht
eine Politik, die Familien schadet. Die von Ihnen viel beschworene Vereinbarkeit von Beruf und Familie macht es
erforderlich, die Mobilität von Familien zu verbessern.
Die so genannte Ökosteuer aber bestraft Mobilität. Wer
Familie und Beruf unter einen Hut bringen will, der ist auf
Mobilität angewiesen: Er muss die Kinder morgens mit
dem eigenen Auto in die Schule bringen oder am Wochenende zum Fußball.
({8})
Deswegen belastet die Ökosteuer auch ganz besonders die
Familien.
Die Bundesregierung bestraft Familien in doppelter
Weise: Familien, in denen es nur einen Erwerbstätigen
gibt, profitieren nämlich nicht von der Senkung der Rentenbeiträge. Herr Bundeskanzler, erklären Sie mir doch
einmal, welche Hintergründe es hat, dass der Deutsche
Familienverband der Bundesregierung ein schlechtes
Zeugnis ausstellt. Die Steuerreform, sagt der Familienverband, sei familienfeindlich, die Rentenreform sei familienfeindlich. Auch viel zu hohe Verbrauchsteuern
sind familienfeindlich. Das ist ein vernichtendes Urteil
von denen, die es angeht.
({9})
Ich sagte ja: Wir schätzen Lernfähigkeit. Es ist also
schon einmal ein Fortschritt, dass auch die Bundesregierung eingesehen hat, dass eine stärkere Förderung von
Kindern und Familien das Gebot der Stunde ist, insbesondere angesichts der zurückgehenden Geburtenraten
mit weit reichenden gesellschaftlichen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme in diesem Land. Zu den Kolleginnen und Kollegen von der Union, Herr Merz, sage ich
auch ganz deutlich: Sie müssen einmal Ihr antiquiertes
Familienbild überarbeiten.
({10})
Es ist eben so, dass heute Kinder nicht nur in ehelichen
Gemeinschaften, sondern zunehmend auch in unehelichen Lebensgemeinschaften, so genannten Verantwortungsgemeinschaften, leben. Auch das ist anerkennenswert und sie müssen aufgewertet werden.
Ihr Familiengeld, meine Damen und Herren von der
Union, trägt gerade dazu bei - das hat auch der Deutsche
Familienverband heute noch einmal deutlich gemacht -,
dass zukünftig Frauen vom Erwerbsleben ausgeschlossen
werden.
({11})
Genau das wollen junge Männer und Frauen mit Kindern
heute nicht.
({12})
Bevölkerungswissenschaftler gehen davon aus, dass
eine Erhöhung des Kindergeldes alleine eine Steigerung
der Geburtenrate von nur 0,1 Kind pro Frau bewirkt. Eine
Gesellschaft, die dringend auf qualifizierte Arbeitskräfte
angewiesen ist, muss daher neue Möglichkeiten schaffen,
dass sich Männer und Frauen für Kinder und Karriere entscheiden können. Dies muss das zentrale Element einer
wirksamen Familienförderung sein.
Ein Blick über die Grenzen belegt diese Annahme. Ein
Vergleich der Geburtenraten in Europa zeigt, dass mehr
Kinder in Ländern geboren werden, in denen Frauen stärker erwerbstätig sind. Die Entscheidung für Kinder fällt
eindeutig da leichter, wo es genug Möglichkeiten der
Kinderbetreuung gibt.
({13})
Die Situation in Deutschland ist - mit einem Wort schlecht. Für nur 2,8 Prozent der Kinder stehen hier Krippenplätze zur Verfügung; bei den anderen Kinderbetreuungsplätzen sieht es nicht besser aus. In Österreich zum
Beispiel sind 90 Prozent der Fünfjährigen im Kindergarten oder in einer Vorschule. In Dänemark besucht fast die
Hälfte der Ein- bis Dreijährigen eine Betreuungseinrichtung. Etwa ein Drittel sind es in Schweden. Deutschland
liegt mit 8,5 Prozent am Schluss.
Hier muss sich dringend etwas ändern. Deswegen setzen wir als Fraktion der Freien Demokratischen Partei als
Erstes auf die Verbesserung der Kinderbetreuungseinrichtungen in Deutschland. Ich wünschte mir sehr, dass wir
bei diesem Thema gemeinsam einen großen Schritt vorankommen, denn auch hier sind wir Schlusslicht in Europa. Wir müssen eine bessere Versorgung gewährleisten,
damit Frauen und Männer trotz Kindern unabhängig ihre
Lebensentwürfe gestalten können. Darauf kommt es an.
Deswegen wollen wir, dass der Kindergarten dort, wo er
auch vorschulische Aufgaben erfüllt, zukünftig kostenfrei
gestellt wird. Das soll aus dem Bund-Länder-Finanzausgleich finanziert werden.
({14})
Wir wollen durch eine Steuersenkungspolitik zu mehr
sozialer Gerechtigkeit beitragen und die Familien entlasten. Darüber hinaus wollen wir, dass Kinder steuerrechtlich zu Erwachsenen gemacht werden. Wir fordern zur
Sicherung des Existenzminimums für Familien einen einheitlichen steuerlichen Grundfreibetrag von 7 500 Euro
für jeden Erwachsenen wie für jedes Kind.
({15})
Es bleibt immer viel zu wenig Zeit, um über Familienpolitik zu sprechen. Gehen wir Reformen in Deutschland
auch in der Familien- und Bildungspolitik endlich an. Die
beste Investition in die Zukunft ist die in unsere Kinder.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile Kollegin
Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pieper, Sie haben dem Bundeskanzler Meinungswandel vorgeworfen. Nun hat ja die FDP in der letzten
Woche plötzlich festgestellt, dass sie das Thema Familie
völlig vergessen hatte, und hat dann schnell einige Vorschläge aus der Kiste geholt und nachgelegt, die völlig
ohne Gegenfinanzierung sind. Dabei haben Sie so getan,
als ob Sie sich mit diesem Thema schon beschäftigt hätten. Wissen Sie, woran ich dabei gedacht habe? - An das
Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, in dem der Kaiser
zum Schluss nackt dasteht und die Bühne verlässt.
Das sollten Sie in der Familienpolitik auch tun. Denn
die Bilanz, die Sie gemeinsam mit der angeblichen Familienfraktion CDU/CSU vorzuweisen haben, ist dramatisch.
Kollegin GöringEckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Pieper?
Sehr gern, Frau Pieper.
Liebe Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass der beste Versorgungsgrad in Bezug auf Kindergartenplätze ausgerechnet in Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz vorzufinden ist,
({0})
wo die FDP mitregiert, und ist Ihnen auch bekannt, dass
insbesondere in Rheinland-Pfalz 225 Millionen Euro für
Ganztagsschulen ausgegeben werden sollen, um ein
flächendeckendes Ganztagsschulennetz aufzubauen? Irgendwie muss Ihnen das entgangen sein, sonst hätten Sie
etwas Derartiges jetzt nicht gesagt.
({1})
Frau Pieper, Ihre Frage zeigt in eindeutiger Weise,
dass Sie noch nicht einmal wissen, was Realität ist. Den
schlechtesten Betreuungsgrad für Kinder unter drei JahCornelia Pieper
ren gibt es in den Ländern Bayern und Baden-Württemberg.
({0})
Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Die Tatsache, dass es in Rheinland-Pfalz eine Initiative für Ganztagsschulen gibt, deren tatsächliche Kosten Sie offensichtlich nicht kennen, hat eindeutig nichts mit der Beteiligung
der FDP an der Regierung in Rheinland-Pfalz zu tun.
({1})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Tauss von der SPD-Fraktion?
Sehr gern, Herr Tauss.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt,
dass die hervorragenden und hier wirklich zu Recht positiv erwähnten Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz gegen
den Widerstand des Koalitionspartners FDP mithilfe des
Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz durchgesetzt
werden mussten?
({0})
Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
die Ganztagsschulen nichts mit der FDP zu tun haben.
({0})
Ich kann Ihnen nur zustimmen. Ich denke, dass die FDP
in dieser Frage ausreichend entlarvt ist.
({1})
Es gehört zur Wahrheit, dass die Koalition, der Sie ja
16 Jahre lang angehört haben, die Kinderbetreuung nur
mangelhaft angepackt hat. Zur Wahrheit gehört auch, dass
die damalige Familienministerin, Claudia Nolte - sie ist
heute nicht anwesend -, allein erziehende Eltern mit Kindern als unvollständige Familien bezeichnet hat. So sah
die Realität aus, die Sie uns zurückgelassen haben.
Frau Kollegin, es gibt
einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal von der Frau Kollegin Sehn.
Nein, ich möchte keine weiteren Zwischenfragen
zulassen,
({0})
weil ich jetzt gerne zu den Versprechungen von Herrn
Merz kommen möchte.
Das Familiengeld - Herr Merz hat hier seine Vorstellungen ausgebreitet; wir wissen aber immer noch nicht so
genau, wann es kommt und wie hoch es ist, weil Sie sich
mit Herrn Stoiber und Frau Merkel noch nicht einig sind soll in irgendeiner Form kommen. Die Realität ist: In Bayern gibt es die wenigsten Betreuungsplätze in ganz
Deutschland.
({1})
Ihre Vorstellungen gehen weit an den Bedürfnissen der Eltern vorbei. Ihr Familiengeld ist nichts weiter als eine ZuHause-bleib-Prämie für die Mütter und damit eine Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt. Bezahlen sollen es am Ende
die Arbeitslosen. Ich halte das für unanständig, Herr Merz.
({2})
Vielleicht hätten Sie einmal junge Eltern fragen sollen,
was sie wirklich brauchen. Junge Eltern brauchen zum
Beispiel Zeit. Diese Zeit brauchen sie nämlich für die Organisation von Kindergarten, Tagesmutter und Nachhilfeunterricht oder um die Kinder beispielsweise zur Musikschule, zum Sportverein oder zum Kindergeburtstag zu
fahren. Das Problem dieser Familien ist nicht - das kann
man ausrechnen - die Ökosteuer, Herr Merz. Wenn Sie
das meinen, verkennen Sie die Lebenswirklichkeit. Eine
vierköpfige Familie in Deutschland hat heute nach Abzug
der Belastungen durch die Ökosteuer noch 1 500 Euro
mehr als zu Ihrer Regierungszeit. Das ist die Realität.
Herr Merz, die Ökosteuer ist ja so „schrecklich“.
({3})
Herr Stoiber will sie aber nicht abschaffen.
({4})
Sie sollten einmal den Wählerinnen und Wählern sagen,
dass Herr Stoiber das Schreckensinstrument Ökosteuer
beibehalten will.
({5})
Sie hätten auch einmal mit Eltern sprechen sollen, die
mit ihren Kindern von Sozialhilfe oder von einem Einkommen etwas über Sozialhilfeniveau leben müssen.
Dann wüssten Sie nämlich, was für eine große Scham es
bedeutet, wenn man sich die Klassenfahrt nach Italien
nicht leisten kann. Als Entschuldigung für die Nichtteilnahme wird dann die angebliche Erkrankung des Kindes
vorgeschoben.
({6})
Herr Merz, die dringenden Aufgaben, die vor uns liegen, stehen bei Ihnen noch nicht einmal auf der Tagesordnung. Sie kritisieren in diesem Zusammenhang den
Bundeskanzler wegen seines Vorstoßes zur Ganztagsschule, weil er dafür angeblich nicht zuständig sei.
({7})
Herr Merz, es ist eine Bürokratenmentalität pur, mit der
Sie Familienpolitik machen wollen.
({8})
Wir lassen die Kinder doch nicht wegen einer ungeklärten
Zuständigkeit im Regen stehen.
({9})
Natürlich geht es zuerst um die Verantwortung der Eltern. Eltern müssen den Bedürfnissen der Kinder mit dem
nötigen Maß an Zuwendung und an Zeit gerecht werden.
Sie müssen sie mit gesundem Essen versorgen und ihnen
Werte und Kultur vermitteln. Der Staat aber hat die Aufgabe, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu
schaffen. Die Eltern müssen endlich aus den Schmuddelecken dieser Gesellschaft heraus. Sie sollen sich nicht
dauernd entschuldigen müssen, nur weil sie Kinder haben: im Beruf, in der S-Bahn, beim Vermieter oder im Supermarkt. Es geht nicht um ein Familienidyll nach dem
Motto - wenn es so sein sollte, ist das natürlich schön -:
„Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.“
Herr Merz, ich habe bis heute wirklich nicht verstanden, warum Sie meinen, sich dafür quasi entschuldigen
zu müssen - so drückte es jemand aus -, dass Sie schon so
lange mit Ihrer Frau verheiratet sind. Wir alle gönnen Ihnen das genauso wie Ihre Rowdyvergangenheit.
({10})
Wenn diese Entschuldigung aber irgendwie ironisch gemeint sein sollte und sich vielleicht auf andere Lebensentwürfe bezogen hat, dann ist dies ein verdammt
schlechter Scherz.
({11})
Die Lebensrealität in Deutschland ist nämlich vielfältig.
({12})
Wie die Menschen heute zusammenleben, das ist ihre Privatsache. Uns betrifft dabei die Frage: Wie geht es den
Kindern? Um diesen Bereich müssen wir uns kümmern.
Dies tun wir auch im Gegensatz zu Ihnen, die Sie vor allen Dingen ein Hohes Lied auf die Ehe singen.
({13})
Wir brauchen übrigens kein Ehegattensplitting, wie es
heute besteht. Denn das Geld muss dahin, wo es wirklich
gebraucht wird: zu den Kindern.
({14})
Deshalb machen wir vordringlich bei der Kinderbetreuung Ernst. Die Betreuung ist der zentrale Hebel. Es geht
um eine freie Wahl der Kinderbetreuung. Sie muss ganztags und flächendeckend angeboten werden, von hoher
Qualität sein und von Anfang an erfolgen. Es geht um eine
freie Wahl der Schule, die den ganzen Tag offen ist und
die ein Lebensort sein muss, wo Begabte und weniger Begabte gleichermaßen gefördert werden, wo Kinder mit
und ohne Behinderungen zusammen lernen, wo Musik
und Handwerk, genügend Bewegung und der Umgang
mit dem Internet nicht nur Randthemen sind. Wir brauchen eine Kinderbetreuung, in der das gesunde Mittagessen ebenso selbstverständlich ist wie das kostenfreie
Vorschuljahr, damit alle Kinder - auch solche aus Migrantenfamilien - gut vorbereitet in die Schule kommen.
({15})
Kinderarmut kann in einem so reichen Land wie
Deutschland nicht hingenommen werden. Die Grundsicherung der Grünen gibt darauf die richtige Antwort.
({16})
Auch die Arbeitswelt - der Bundeskanzler hat darauf
hingewiesen - muss sich ändern. Viele Unternehmen haben dazu bereits gute Ideen. Denn sie wissen genau: Sie
können nicht auf das Potenzial gut ausgebildeter Mütter
und Väter verzichten, auch wenn der klassische Betriebskindergarten nicht unbedingt die richtige Antwort sein
wird.
Wir brauchen kinderfreundliche Städte und keine abgeschotteten Spielplatzgehege und Wohnviertel, in denen
sich die Kinder aufhalten müssen, damit außerhalb die
Autos „spielen“ können. Wir brauchen auch für morgen
und übermorgen eine neue Lebensqualität und eine gesunde Umwelt. Das ist ebenso eine echte Kinderpolitik
wie der Satz „Wir haben die Erde von unseren Kindern
nur geborgt“, den die Grünen übrigens schon 1980 auf ein
Wahlplakat geschrieben haben und der eindrücklich aussagt: Nachhaltige Politik ist Politik für Kinder.
Da steht viel auf der Habenseite: der Ausstieg aus der
Atomkraft, die Einführung der Windenergie, die Haushaltssanierung, die generationengerechte Rentenpolitik,
mehr Kindergeld und Steuergerechtigkeit. Auch die
Verbesserung der Situation der Alleinerziehenden sollte
eigentlich auf der Habenseite stehen.
Zu Recht wollen Eltern und solche, die es werden wollen, heute ganz genau wissen, was auf sie zukommt. Wir
sagen es ihnen ehrlich und verlässlich. Wir sagen, wie wir
unsere Vorhaben finanzieren wollen. Dies ist zwar eine
große Anstrengung für die gesamte Gesellschaft, sie lohnt
sich aber; denn Familienpolitik ist echte Standortpolitik.
Mit dieser Standortpolitik wollen wir beginnen. Wir sind
dabei auf einem wirklich guten Weg.
({17})
Das ist vielleicht ein wenig wie Politik auf Kindernasenhöhe - auch wenn das für manchen lächerlich klingt.
Aber in Kindernasenhöhe bekommt man zum Beispiel
mehr Schadstoffe ab. Deswegen müssen Grenzwerte bezogen auf den kindlichen Körper festgelegt werden.
({18})
In Kindernasenhöhe - lassen Sie mich das zum Schluss
sagen - träumt es sich vielleicht ein bisschen leichter von
der Zukunft.
Dass die Tatsache, dass beide Eltern berufstätig sind, für
das Selbstvertrauen eines Kindes nicht schädlich ist, sieht
man möglicherweise an meinem Sohn, der zwölf Jahre alt
ist und Friedrich heißt. Der will nämlich Bundeskanzler
werden.
({19})
Auch Edmund Stoiber will das. Aber angesichts der Familienpolitik von Edmund Stoiber, der zurückgenommenen Versprechungen und vor allen Dingen der Versprecher, glaube ich: Mein Sohn hat eine größere Chance. Bis
dahin werden nach dem 22. September 2002 Rot und
Grün mit einer großen Offensive für Kinder und Familien,
für ein kinderfreundliches Deutschland weitermachen.
Edmund Stoiber kann sich dann in Bayern endlich um die
Kinderbetreuungsplätze kümmern. Da hat er weiß Gott
genug zu tun.
({20})
Ich erteile Kollegin
Petra Pau, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zum Thema Familienpolitik gibt es viel zu
sagen und noch mehr zu tun. Viel zu sagen haben in diesen Tagen die beiden Kanzlerkandidaten; es ist Wahlkampf. Es ist aber noch mehr zu tun; das wissen wir aus
dem Leben. Deshalb will ich auch gar nicht klagen, dass
Familien, Frauen und Kinder in das Wahlkampflicht
gerückt werden, weil ich finde, sie haben es nötig und
auch verdient.
({0})
Nicht verdient allerdings und überhaupt nicht nötig haben
sie eine Verbalzuwendung, die sich danach als folgenloser
Wahlwerbespot herausstellt.
Das ehrlichste Wort zu einem solchen Umgang mit
dem Thema habe ich übrigens diese Woche von der Kollegin Pieper gehört. Nicht heute, sondern gestern früh im
ZDF-„Morgenmagazin“ lobten Sie erst Ihr Wahlprogramm - klar, das ist Ihr Job - und fügten dann hinzu, die
FDP habe jetzt auch noch was in Sachen Familie aufgenommen. Ich wette, wäre gerade die Lage der Vögel in der
Großstadt das Thema der Woche, hätten Sie auch dazu
noch schnell ein paar wohlfeile Worte gefunden.
({1})
Aber genau das ist es nicht, was Familien, Frauen und
Kinder erwarten, übrigens auch nicht in Sachsen-Anhalt.
Kollegin Pau, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke, FDPFraktion? - Bitte schön.
({0})
Frau Pau, haben Sie die Legislaturperiode im Griff, was die Drucksachen anbelangt, in denen die Vorstellungen der FDP niedergelegt sind?
({0})
Ich denke, ich habe zumindest einen
Überblick.
Wenn Sie sagen, Sie haben einen
Überblick, dann scheint der Überblick aber sehr missraten zu sein. Denn wir haben, seit wir in dieser Legislaturperiode in der Opposition sind, sehr viele Anträge zur
Familienpolitik vorgelegt.
({0})
Das ist auch unsere Aufgabe. Die Anträge, die wir vorgelegt haben, werden wir in der nächsten Legislaturperiode
in der Regierung umsetzen.
({1})
Ich habe Ihre Anträge durchaus im
Blick, einschließlich derjenigen, die wir gewogen haben
und die wir, etwa diejenigen zum Thema Steuerpolitik,
nicht richtig gefunden haben. Ich darf doch wohl das Wort
Ihrer Generalsekretärin, das sie gestern früh im Fernsehen
verkündet hat, ernst nehmen,
({0})
als sie ganz deutlich sagte: Wir haben ein Programm. Pause. Sie fuhr fort: Und jetzt haben wir uns noch was zur
Familienpolitik einfallen lassen.
({1})
Das Folgende gehört auch zum aktuellen Befund in Bezug auf die Lage in der Bundesrepublik, weil es sich dabei um eine von den Parteien unabhängige Analyse handelt: Kinder gelten in der Bundesrepublik immer noch als
Armutsrisiko. Frauen werden in der Bundesrepublik noch
immer grundlegend benachteiligt; das heilen auch Ihre
Anträge nicht. Ferner: Wer oder was eine Familie ist, darüber entscheiden offensichtlich immer noch Parteistrategen, nicht aber jene, die eine Familie sein wollen oder
sind. Da empfehle ich zum Selbststudium einen Artikel
des CSU-Kollegen Geis, der vor einigen Wochen in der
„Frankfurter Rundschau“ erschienen ist. Ich muss zugeben: So viel pangermanischen Ungeist zum Thema Familie und so viel Abscheu gegen anders Lebende, gegen
anders Liebende und anders Sorgende habe ich im
21. Jahrhundert nicht mehr für möglich gehalten. Da werden vom Kollegen Geis Schwule als abartig verhöhnt und
die Rechte gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften - ich
darf zitieren - als „explosiver USA-Import“ beschrieben,
der das deutsche Volk gefährde.
({2})
Ich vermisse bis heute ein klares Wort des CDU/CSUKanzlerkandidaten dazu und auch Sie, Herr Merz, haben
es heute versäumt, sich dazu deutlich zu äußern.
({3})
Die PDS hat vor Wochen ein Familienprogramm vorgestellt, das auf den Säulen Gerechtigkeit, Kinderrecht und
Gleichstellung fußt. Dazu bedurfte es weder eines Wahlkampfhöhepunktes noch der Mahnung des Bundesverfassungsgerichtes. Denn wir wollen nicht ganz vergessen: So
manche unter Rot-Grün beschlossene Verbesserung der
Situation der Kinder und Familien bedurfte des Drucks
aus Karlsruhe und so mancher Spruch aus Karlsruhe betraf die familienunfreundliche Ära Kohl. Insofern finde
ich, der Bundeskanzler hätte es heute eine Nummer kleiner machen können; ich finde den Lobgesang in eigener
Sache etwas überzogen.
({4})
Ich finde allerdings auch die Töne, die der Kollege Merz
angestimmt hat, etwas überzogen.
Wir kennen alle das Problem vieler Frauen: Sie müssen
sich letztendlich zwischen Beruf und Kindern entscheiden, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beides schwer oder kaum miteinander vereinbaren lassen.
Das sind die Zwänge, die in dieser Gesellschaft auf Familien und Frauen wirken, Herr Kollege Merz, und nicht
das, was hier heute politisch debattiert wird.
Ich bin also beim Thema Kitas, Ganztagsschulen usw.
Davon wurde heute schon gesprochen. Daran mangelt es,
und zwar in den alten Bundesländern mehr als in den neuen.
Das stimmt und wäre eigentlich eine Extradebatte wert.
Ich will heute nur wiederholen, was ich neulich in
Nürnberg gesagt habe. Verglichen mit Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ist Bayern in diesen Fragen ein Entwicklungsland.
({5})
Insofern sollte der Kanzlerkandidat der CDU/CSU etwas
vorsichtiger sein, wenn er die neuen Bundesländer missionieren will. Vielleicht sollte er doch erst einmal zu Hause
mittel-, ost- und nordeuropäische Standards anstreben,
wenn es um Familien-, Kinder- und Frauenrechte geht.
({6})
Die PDS hat im Laufe dieser Legislaturperiode mehrere Anträge und Initiativen eingebracht, die einen Paradigmenwechsel zugunsten von Familien und Kindern erbracht hätten. Ich muss heute sagen „hätten“, denn auch
Rot-Grün hat diese abgelehnt. Dabei hatten wir natürlich
auch Vorschläge zur Finanzierung gemacht, Vorschläge,
die nun wieder zum Teil bei SPD und Grünen auftauchen.
Gut, könnte man sagen, spät kommt ihr, aber ihr
kommt. Oder sagen wir besser: Vielleicht kommt etwas.
Denn nicht nur der Präsident des Deutschen Familienverbandes äußerte sich gestern aus Erfahrung skeptisch, was
von den vielen Ankündigungen dieser Tage wirklich bleiben wird.
Einen Gedanken möchte ich dennoch der Finanzierungsfrage widmen. Kaum hatten wir im März unser Familienprogramm vorgestellt, da rechnete ein Kommentator vor: Das CDU/CSU-Programm kostet x Milliarden,
es ist also fragwürdig. Das SPD-Programm kostet y Milliarden, es ist also problematisch. Das PDS-Programm kostet noch mehr und ist folglich illusorisch. Einmal abgesehen davon, dass der Vergleich nicht stimmt, will ich
diese Rechenart deutlich übersetzen: Soziale Gerechtigkeit rechnet sich nicht, Kinderrechte rechnen sich nicht,
Gleichstellung rechnet sich nicht. Das ist die Denkart, die
dahinter steckt.
Deshalb sage ich: Wer so argumentiert, trifft nicht uns.
Wer so argumentiert und zuerst die Frage stellt, was rechnet sich, polemisiert gegen zig Betroffene, gegen gesellschaftliche Werte und gegen die Zukunft der Bundesrepublik.
Nun hat das Schönreden in Wahlkampfzeiten Konjunktur. Deshalb will ich auf ein Beispiel zurückkommen,
das mir noch niemand vernünftig erklären konnte, das
aber auch zur rot-grünen Bilanz gehört. Wir erinnern uns:
Das Kindergeld wurde erhöht. So weit, so gut. Denjenigen aber, die es am nötigsten brauchen, den Empfängerinnen und Empfängern von Sozialhilfe, wurde die Kindergelderhöhung sofort verrechnet, sodass sie keinen
Groschen oder Cent mehr in der Kasse haben. So weit und
leider so schlecht;
({7})
denn das Beispiel der Kindergelderhöhung zeigt die Generalkrux der schwarz-gelben Familienpolitik, mit der
Rot-Grün nicht gebrochen hat: Die Reichen bekommen
immer noch etwas dazu, während die Armen links liegen
gelassen werden.
({8})
- Ich habe das sehr wohl verstanden und vor allen Dingen
mit den Betroffenen, Herr Kollege, anhand ihres Geldbeutels debattiert. Ich erkenne an, dass Rot-Grün für die
Förderung und Entlastung von Familien fast ein Drittel
mehr Mittel bereitgestellt hat als die CDU/CSU zu ihrer
Zeit, aber die Ungerechtigkeitsschere bleibt. Und darüber
rede ich heute.
Deshalb hätte ich gern vom Bundeskanzler heute ein
klareres Wort zu einer weiteren Episode aus seiner Amtszeit gehört. Es gab Jahre, in denen immer wieder einmal
Verwandte von ihm auftauchten und für Schlagzeilen
sorgten: Cousinen aus dem Osten und eine Schwester aus
dem Westen. Letztere ist mit der Kinderpolitik der Koalition und des Kanzlers höchst unzufrieden und zog sogar
vor das Bundesverfassungsgericht. Auch das ist eine
Form von Familienpolitik, bei der ich der Schwester viel
Erfolg wünsche.
({9})
- Nein. - Da hilft es auch nicht, wenn der Kanzler heute
Morgen ankündigt, dass er den gestern abgelehnten PDSAntrag zum Haushaltsfreibetrag nun selbst umsetzen
möchte.
({10})
Ein letztes Beispiel. Frau Bundesministerin Bergmann,
Sie sagten, im Familienbericht stehe - völlig richtig -:
Familienpolitik heißt auch Gleichstellung deutscher
und nicht deutscher Kinder.
Wem bitte wollen Sie ernsthaft vermitteln, dass das jüngst
beschlossene Einwanderungsgesetz in diesem Sinne ein
Beitrag zur Familienpolitik und zur Gleichstellung ist,
wenn das Kindsein bei ausländischen Familien mit zwölf
Jahren endet? So etwas hat nichts mit Familienpolitik zu
tun und entspricht auch nicht etwa UN-Konventionen.
Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Kinder und Familien sollen begünstigt werden, und zwar ganz egal, ob
ihre Art zu leben altdeutschen Heimatfilmen oder modernen Gemeinschaftsvorstellungen entspricht.
Danke schön.
({11})
Ich erteile der Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}): Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Familienpolitik stand für diese Regierung vom ersten Tag des Regierungshandelns an im Mittelpunkt der Politik, nicht erst
wie bei Ihnen, Frau Pieper, in der letzten Phase, wenn es
um das Warmlaufen für den Wahlkampf geht.
({1})
Wir haben vom ersten Tag an gehandelt. Die erste Kindergelderhöhung ist sofort beschlossen worden. Wir sind
an die Rahmenbedingungen herangegangen.
({2})
- Ich reagiere nur auf das, was Frau Pieper vorhin gesagt
hat. Ich denke, wir haben eine überzeugende Bilanz auf
den Tisch zu legen.
({3})
Davon muss ich nur Sie überzeugen. Die Bevölkerung ist
überzeugt. Es wird der Kompetenz der SPD und dieser
rot-grünen Regierung für Familienpolitik zugeschrieben
und das mit Recht und nicht umsonst.
({4})
Wir wissen auch, warum wir von Anfang an gehandelt
haben, nämlich weil wir die wichtige Rolle, die Familien
in der Gesellschaft spielen, ernst nehmen. Wir wissen,
welche Leistungen Väter und Mütter tagtäglich erbringen.
Es ist keine einfache Aufgabe, Kinder großzuziehen. Wir
sagen dies nicht nur sonntags.
({5})
Vielmehr unterstützen wir Familien dort, wo sie die Unterstützung am nötigsten brauchen.
({6})
Dies fängt natürlich schon bei der Akzeptanz der Vielfalt der Familienformen an. Der Bundeskanzler hat dazu
einiges gesagt. Ich will dies wiederholen: Für uns stehen
alle Familienformen gleichwertig nebeneinander. Wir haben eine breite Vielfalt, obwohl nach wie vor 80 Prozent
der Kinder bei ihren verheirateten Eltern aufwachsen.
Aber diese Vielfalt der Familienformen besteht.
Herr Merz, was Sie vorhin gesagt haben, nämlich dass
wir lieber über Ehe und Familie statt über die beliebigen
Verbindungen, die es noch so gibt, reden sollten, war
schon verräterisch. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - dies sage ich mit allem Ernst - zählen
die Werte, die in diesem Zusammenleben vermittelt werden,
({7})
wie Geborgenheit, Sicherheit und Zuversicht, sich um
Kinder und auch um die alte Generation kümmern, und
zwar unabhängig von der jeweiligen Familienform.
({8})
- Ich bin eine bekennende Ehefrau. Das ist nichts Neues.
Ich betrachte dies nicht als besondere Leistung und entschuldige mich auch nicht dafür. Wir akzeptieren aber
trotzdem die Vielfalt der Familienformen, weil es uns darum geht, dass die Kinder und auch die Gesellschaft das
erhalten, was sie am Nötigsten brauchen.
Wir schreiben auch niemandem vor, wie er leben soll.
Wir akzeptieren die unterschiedliche Rollenverteilung in
den Familien. Selbstverständlich haben die Frauen das
gleiche Recht auf Erwerbsarbeit wie die Männer. Ebenso
unterstützen wir Väter, die ihr Recht auf Erziehungsarbeit
wahrnehmen wollen. Hier haben wir noch ein wenig
Nachholbedarf, dies ist uns aber ein ernstes Anliegen. Genauso unterstützen und fördern wir die Kinderrechte.
({9})
Ich glaube, hier haben wir in den letzten vier Jahren Entscheidendes getan.
({10})
Wir wissen natürlich, wie schwierig dies für Familien
im Alltag zu leben ist. Dies gilt besonders für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Daher steht die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Familien im Mittelpunkt unserer Politik. Wir wissen, woran es häufig hapert,
nämlich an entsprechenden Arbeitszeitregelungen, Arbeitsbedingungen und der Kinderbetreuung. Familien
können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, alles
unter einen Hut zu bringen.
Ich will auf die Fortschritte bei der Verbesserung der
Rahmenbedingungen hinweisen. Hier nenne ich als erstes
das Elternzeitgesetz. Wenn Sie sich nun hier hinstellen
und sagen, dass auch Väter Erziehungsarbeit wahrnehmen sollen und wollen, ist dies schon ein Fortschritt. Ich
kann mich aber nicht erinnern, dass Sie diesem Gesetz im
Deutschen Bundestag zugestimmt hätten.
({11})
Mit dem Gesetz machen wir genau das, was Sie verkünden. Wir schaffen Wahlfreiheit. Die Eltern sollen sehen,
wie sie gut klarkommen, wie sie ihre Arbeitzeit regeln.
Beide können zur gleichen Zeit Elternzeit nehmen. Sie haben einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Dadurch haben Eltern viele Möglichkeiten. Das müssen wir - es wird
natürlich fortgesetzt - im Zusammenhang mit dem Teilzeitgesetz sehen, zu dem es von Ihnen auch keine Zustimmung gab.
Das sind die Rahmenbedingungen, die die Familien
brauchen, um ihre Lebenswünsche umzusetzen und die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen. Wir alle, die wir Kinder erziehen oder erzogen haben, wissen, dass Kinder Zeit brauchen. Das halte ich für eine zeitgemäße Familienpolitik.
Wir haben für dieses veränderte Rollenverständnis geworben und versuchen, Väter zu ermutigen. Das tun wir
nicht, indem wir ihnen nur sagen, dass es nett wäre, wenn
sie auch etwas tun würden, sondern das tun wir, indem wir
in große Unternehmen wie Daimler-Chrysler, VW, Telekom und BMW und in kleine Unternehmen gegangen sind.
({12})
Mit diesen haben wir gemeinsam beraten, wie das Ziel zu
erreichen ist, welche Möglichkeiten der Arbeitszeitflexibilisierung, die beiden Teilen zugute kommt, es gibt und
welche Arbeitsbedingungen man verbessern kann. Bei der
Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf darf man
sich nicht nur an die Mütter, sondern muss sich in gleicher
Weise auch an die Väter wenden.
Und siehe da: Alle Unternehmen, die sich darum kümmern, stellen fest, dass es ein Gewinn für sie ist. Sie sind
in einer Win-win-Situation. Die Eltern sind zufrieden und
die Unternehmen sehen, dass es ein ökonomischer Vorteil
für sie ist, wenn sie die Arbeitszeiten den bestehenden Familienwünschen anpassen und versuchen, Teilzeitarbeit
- auch bei Führungskräften - anzubieten, um die Karrieremöglichkeiten von Menschen, die eine Familie haben,
nicht zu beschneiden.
({13})
Seit Jahren besuche ich die Unternehmen. Es macht
richtig Spaß, wenn man sieht, dass sich etwas tut. Es ist
wunderbar, dass das jetzt auch im Bündnis für Arbeit geschieht. Mehr Familienfreundlichkeit ist Bestandteil unserer Vereinbarung mit den Arbeitgeberverbänden. Auch
das ist ein Prüfstein. Er wird zum gegebenen Zeitpunkt zu
kontrollieren sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
noch einmal zum Thema Kinderbetreuung, weil das in
der Debatte eine große Rolle spielt und weil ich mich
natürlich nicht erst seit heute dafür einsetze, dass sich auf
dem Gebiet in diesem Land endlich etwas tut.
({14})
Einiges wurde bereits genannt. Es wird wirklich allerhöchste Zeit. Wir stehen europaweit ziemlich weit hinten.
({15})
Das ist übrigens - das muss man klar sagen - vor allen
Dingen das Problem der alten Bundesländer. Es gibt ein
Ost-West-Gefälle. In den neuen Bundesländern ist das alles relativ gut - das sage ich vorsichtig -, und zwar von
der Geburt bis zum 12. Lebensjahr, geregelt.
Frau Pieper, weil Sie sich hier so vehement für einige
Länder eingesetzt haben, die an der Spitze der Statistik
stehen, habe ich mir einige Daten herausgesucht. Es gibt
ein Ost-West- und ein Nord-Süd-Gefälle. Es ist wirklich
so. Im Süden, zum Beispiel in Bayern, sieht es sowohl bei
den Betreuungsangeboten für die unter 3-Jährigen als
auch bei Ganztagsschulen am schlechtesten aus.
({16})
Frau Pieper, Ihnen müsste ein Land doch ziemlich nahe
stehen. Schauen wir einmal, wie es in Sachsen-Anhalt
aussieht. Sachsen-Anhalt steht an der Spitze, wenn es um
die Betreuung für die unter 3-Jährigen und die Schulkinder geht.
({17})
Es hat ein wunderbares Kita-Gesetz. Wenn ich richtig informiert bin, gilt dieses für gerade geborene Kinder bis zu
dem Zeitpunkt, an dem sie aus der sechsten Klasse entlassen werden. Nach Sachsen-Anhalt folgen, bevor die alten Bundesländer kommen, andere neue Bundesländer.
({18})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ja, bitte.
Sehr geehrte Frau Ministerin,
da ich, wie Sie wissen, zufällig aus Sachsen-Anhalt
komme, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass das Kindertagesstättengesetz, das einen Rechtsanspruch enthält,
Anfang der 90er-Jahre unter Beteiligung der FDP beschlossen worden ist.
({0})
Ist Ihnen bekannt - ich war im Landtag damals übrigens
dabei und habe an diesem Gesetz mitgearbeitet -, dass Ihr
Ministerpräsident Höppner gemeinsam mit der PDS das
Schulhortgesetz abgeschafft hat, dem die FDP 1992 mit
zugestimmt hatte?
({1})
Frau Pieper, ich habe
nur die Zahlen, die Sie vorhin genannt haben, richtig gestellt. Nach wie vor hat Sachsen-Anhalt neben den anderen neuen Bundesländern - das muss man auch sagen - in
diesem Bereich das beste Angebot. Wenn Sie damals an
dem Gesetz beteiligt waren, dann ist es gut.
Ich denke, wir brauchen ein flächendeckendes und bedarfsgerechtes Kinderbetreuungsangebot für die unter
3-Jährigen sowie ein Ganztagsangebot für die 3- bis
6-Jährigen und für die Schulkinder.
({0})
Das ist eine wichtige Voraussetzung für die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie. Ansonsten brauchten wir über das
Thema gar nicht zu reden. Es hat auch ökonomische
Gründe.
Herr Merz, ich wende mich jetzt an Sie, weil Sie sehr
verräterisch über Wahlfreiheit geredet haben. Sie versuchen nach wie vor, das Thema Kinderbetreuung zu ideologisieren.
({1})
Sie tun so, als ob all diejenigen, die ein Angebot fordern, ihre
Kinder generell in Betreuungseinrichtungen geben wollen.
Wir wollen die Wahlfreiheit der Eltern. Wir haben sie noch
nicht. Ihre Wahlfreiheit sieht so aus: Ich kann wählen, ob ich
esse oder nicht esse. Das heißt, wenn ich kein Angebot habe,
kann ich nicht auswählen. Die Frage, ob ich erwerbstätig
sein will oder nicht, stellt sich damit nicht.
({2})
Die Mütter haben längst gewählt. Schauen Sie sich die
Statistiken an, die wir haben! Ich kann Ihnen auch eine
neue Studie auf den Tisch legen; auch diese werden wir
noch behandeln. Die Mehrzahl der Mütter will erwerbstätig sein. Zum großen Teil müssen sie arbeiten, aber sie
wollen es auch. Bisher haben wir kein flächendeckendes
Angebot an Kinderbetreuung. Das müssen wir in den nächsten Jahren schaffen. Dabei geht es natürlich in gleicher
Weise um das Thema Bildung und Integration. Kinderbetreuungseinrichtungen sind wichtig für die Integration.
({3})
Kommen wir zum Thema Erziehungskompetenz. Sie
haben über Gewalt geredet. Ich hoffe, Sie betrachten es
nicht als Ausübung meiner Gewalt, wenn ich Sie auf das
Thema anspreche. Wir haben das Recht der Kinder auf
gewaltfreie Erziehung als Gesetz verankert. Das haben
Sie offensichtlich vergessen.
({4})
Meines Wissens haben Sie nicht zugestimmt. Es ist ein
Unterschied zu der vergangenen Rechtslage, als diese generelle gewaltfreie Erziehung nicht festgeschrieben war.
Damit haben wir ein wichtiges Signal in diese Gesellschaft gesandt. Wir wollen, dass Kinder lernen, Konflikte
gewaltfrei zu lösen. Das haben wir mit vielen Aktionen
begleitet. Der Erfolg ist da. Wir haben dazu Studien gemacht. Das Gesetz und die Aktionen sind bekannt und
werden akzeptiert. Es gibt auch im Erziehungsverhalten
Veränderungen. Manches wäre noch zu wünschen, aber
so etwas dauert lange. Wir arbeiten daran, das gesellschaftliche Klima in einem ganz entscheidenden Punkt zu
verbessern. Das sollten Sie anerkennen und honorieren.
({5})
Zum Thema Familiengeld haben wir schon einiges
gehört. Frau Böhmer und ich waren gestern gemeinsam
bei einem Empfang der Caritas in Berlin. Der dort anwesende Kardinal Sterzinsky hat uns auf den Weg gegeben:
Das, was wir in Zukunft erreichen wollen, muss finanzierbar sein; wir müssen alles gründlich auf die Finanzierbarkeit überprüfen. - Wir haben ein Angebot gemacht,
das Sie ablehnen. Darüber kann ich wirklich nur lachen.
Der Bund beteiligt sich nun endlich an der Kinderbetreuung. Er ist bereit, seinen Teil dazu beizutragen, aber er erwartet natürlich auch von den Ländern und Kommunen,
dass sie in den nächsten Jahren die Lücken schließen. Wir
werden ein gemeinsames Paket schnüren.
Sie erklären, dass Sie das nicht wollen, weil der Bund
dafür nicht zuständig ist. Dafür kommen Sie uns zum wiederholten Male mit Ihrem Familiengeld. Aber finanzierbar ist das nicht; das wissen Sie ganz genau. Ihren zynischen Vorschlag, dieses Familiengeld sozusagen auf dem
Rücken der Arbeitslosen zu finanzieren, sollten Sie in den
nächsten Wochen und Monaten verkünden. Dafür wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Dieser Vorschlag kann wohl
nicht ganz ernst gemeint sein.
({6})
Wir werden in der nächsten Legislaturperiode weitere finanzielle Spielräume anbieten.
Frau Göring-Eckardt, Sie können Ihrem Sohn
Friedrich sagen: Wir bleiben zunächst bei unserem Kanzler. Aber er kann sich schon einmal vorbereiten. Er hat
noch ein bisschen Zeit. Ich glaube, mit der Familienpolitik, die wir machen und in der Zukunft vorhaben, die genau an den Punkten ansetzt, bei denen es in den Familien
wirklich brennt, sind wir auf dem richtigen Weg. Damit
stehen wir gut da. Dass Sie das ärgert, verstehe ich. Aber
wir werden sie fortsetzen.
Danke.
({7})
Ich erteile das Wort
Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute haben wir die
erste Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Familienpolitik gehört. Ich halte es schon für bemerkenswert,
dass wir nach dreieinhalb Jahren erstmals erfahren, was
der Bundeskanzler zur Familienpolitik zu sagen hat.
({0})
Dreieinhalb Jahre sind inzwischen nutzlos verstrichen.
({1})
Tatsache ist, dass Sie erst kurz vor Toresschluss dieser
Legislaturperiode und am Ende der Regierungszeit von
Rot-Grün das Wort zum Thema Familie ergreifen. Das ist
in der Tat mehr als spät.
({2})
So erleben auch die Familien in Deutschland Ihre Politik. Das Urteil in der Presse war in den letzten Jahren
rundweg vernichtend.
({3})
Vor einem Jahr hieß es in der „Welt“: „Die ausgebeutete
Familie“. In der „Frankfurter Rundschau“ war von dem
„Skandal der Familienpolitik“ zu lesen; dort war davon
die Rede, dass die Struktur in Deutschland immer noch
eine ausgesprochen familienfeindliche sei.
({4})
Nach dreieinhalb Jahren rot-grüner Regierung haben Sie
es nicht geschafft, das einzulösen, was Sie an und für sich
einlösen wollten.
({5})
Vor wenigen Wochen hat Ihnen Petra Kohse in der
„Frankfurter Rundschau“ bescheinigt, dass die deutsche
Familienpolitik an einem „Mangel an Visionen“ leide.
Wer heute die Regierungserklärung des Bundeskanzlers
und die Worte von Frau Bergmann gehört hat, muss in der
Tat sagen, dass Sie kein Konzept für die Familien in
Deutschland haben. Was Sie hier zu bieten haben, ist
bruchstückhaft und Flickwerk.
({6})
Typisch für Ihren Ansatz in der Familienpolitik ist das
Kindergeld. Richtig ist zwar, dass das Kindergeld erhöht
worden ist und dass Sie hier eine Verpflichtung erfüllt haben, die das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat.
Aber Sie haben nicht mehr als das getan. Sehen wir uns
nun einmal ganz genau an, wie Sie die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im steuerlichen Bereich tatsächlich erfüllt haben: Sie könnten diese Vorgaben erst dann
erreichen, wenn Sie überhaupt noch die Möglichkeit hätten, Ihre Steuerpolitik bis zum Jahre 2005 durchzuhalten.
Es fehlt also immer noch an der Umsetzung des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts. Das heißt, diese rotgrüne Bundesregierung macht nach wie vor eine verfassungswidrige Familienpolitik.
({7})
Wenn Sie nicht hören wollen, was ich sage, dann sollten Sie wenigstens die Worte des Deutschen Frauenrates
hören. Der Deutsche Frauenrat hat festgestellt, die Kindergelderhöhung - damals war noch von 30 DM die Rede - sei, gemessen an dem Bedarf, völlig unzulänglich
und es sei unverständlich, warum nur eine Erhöhung für
das erste und zweite Kind, nicht aber für die weiteren Kinder in der Familie vorgesehen sei. Man darf es nicht hinnehmen, dass dritte und vierte Kinder dieser Bundesregierung keine Kindergelderhöhung wert sind.
({8})
Herr Bundeskanzler, Sie haben nichts zur Anerkennung von Kindererziehung und zum Wert von Familienarbeit in Bezug auf die Rente gesagt. Das wundert mich,
ehrlich gesagt, nicht; denn die Rentenreform, die Sie auf
den Weg gebracht haben, versagt hinsichtlich der Berücksichtigung der Leistungen in der Familie völlig. Im letzten Januar haben Sie sogar per Gesetz hier im Bundestag
die Witwenrente gestrichen.
({9})
Rot-Grün hat das Aus der Witwenrente beschlossen. Nur
weil wir gemeinsam mit den Frauen- und Familienverbänden in Deutschland deutlich gemacht haben, dass die
Arbeit in der Familie auch bei der Rente ihre Anerkennung finden muss und dass auf die Witwenrente auch
zukünftig nicht verzichtet werden kann, haben Sie sich in
der letzten Sitzung des Vermittlungsausschusses unserem
Druck gebeugt. Das Gesetz ist dann zurückgenommen
worden, allerdings nicht in voller Höhe. Aber wir haben
immerhin sicherstellen können, dass Frauen auch zukünftig mit einer Witwenrente rechnen können.
({10})
Ich habe Ihren langatmigen Erklärungen zu den
Alleinerziehenden wohl zugehört. Die Alleinerziehenden sind in der Tat die Verliererinnen Ihrer Politik.
({11})
Wenn Sie immer wieder versuchen, den allein erziehenden Frauen in Deutschland zu erklären, Sie hätten objektiv nicht anders handeln können, dann sage ich dazu: Angesichts Ihrer Wirtschaftspolitik wundert es mich nicht,
dass Sie kein Geld in der Kasse haben.
({12})
Angesichts der hohen Zahl von Arbeitslosen wundert
mich das auch nicht; denn Sie müssen das Geld zur Versorgung der Arbeitslosen ausgeben, statt dass Sie endlich
für die Alleinerziehenden das leisten, was Not tut. Sie
streichen ihnen ein Gehalt pro Jahr, Herr Bundeskanzler.
Das ist die Wahrheit. Von daher wundert es uns nicht, dass
die Frauen, angeführt von Ihrer Schwester, vor das Bundesverfassungsgericht gegangen sind und dort klagen.
Eine solche Ungerechtigkeit kann man nicht hinnehmen.
({13})
- Sie kennen doch die Klage, die eingereicht worden ist.
Ist sie Ihnen unbekannt?
({14})
Dann sollten Sie das einmal registrieren und wieder rückgängig machen. Sie haben doch die Chance; Sie können
doch handeln. Es ist doch Ihre Sache, Ihre Politik zu korrigieren, sodass die Alleinerziehenden nicht auf dieses
eine Monatsgehalt pro Jahr verzichten müssen.
({15})
Ein Ausweis dafür, dass Sie an dieser Stelle gescheitert
sind, ist auch der Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen,
für die Kinder, deren Eltern Sozialhilfe beziehen, 100 Euro
mehr zu geben. Dies jetzt, nach einer langen Regierungszeit, zu erklären, wohlgemerkt am Ende einer Legislaturperiode, zeigt, dass Sie in diesem Bereich nicht gehandelt
haben. Gerade der Prozentsatz der unter 7-jährigen Kinder,
die von Sozialhilfe abhängig sind, ist über die Jahre Ihrer
Regierungszeit gleich geblieben. Hier ist es zu keiner Verbesserung gekommen. Die Kinder sind von Ihnen nicht
aus der Sozialhilfe herausgeholt worden. So kann man in
diesem Land nicht handeln.
({16})
Wir haben dazu ein Konzept vorgelegt, denn wir meinen, wir brauchen einen deutlich anderen Weg in der Familienpolitik. Wir brauchen eine Familienpolitik aus einem Guss, die innovativ ist, die in die Zukunft weist und
die Familien in unserem Land wirklich eine Chance gibt.
({17})
Die drei Säulen unseres familienpolitischen Konzeptes
lauten: Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf verbessern. Wir wollen an dieser Stelle mit dem
fortfahren, was wir im Bereich der Kinderbetreuung getan haben, denn ohne Union gäbe es in Deutschland keinen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Er
ist von uns eingeführt worden.
({18})
Wenn ich mir einmal die Zahlen anschaue - Frau
Bergmann, Sie haben übrigens in Ihrem Ministerium die
neuen Daten, die Sie nicht nach draußen geben, weil die
Bilanz, die Sie im Bereich der Kinderbetreuung ziehen,
für die SPD-regierten Bundesländer in der Tat vernichtend ist -, so sehe ich, dass die Schlusslichter im Bereich
der Kinderbetreuung, also im Hinblick auf Kindergärten,
Krippen und Horte, nach wie vor die SPD-regierten Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein sowie Hamburg sind. Das sind die drei Schlusslichter im Bereich der
Kindergärten. Wenn ich mir anschaue, wie es im Hinblick
auf die Horte aussieht, so stelle ich fest: Niedersachsen
liegt auf dem viertletzten Platz.
({19})
Frau Kollegin
Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Wolf?
Ja, mit Freude, Frau
Wolf. Ich habe schon die ganze Zeit darauf gewartet. Bitte.
Ich musste ja erst auf
das Stichwort warten. Nun haben Sie es gegeben.
Wir haben es doch zusammen im Parlament erlebt:
Können Sie bestätigen, dass der Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz durchgesetzt wurde, weil wir eine Reform des § 218 verabschiedet haben und dieser Rechtsanspruch die vom Bundesverfassungsgericht geforderte
Voraussetzung dafür war und ihn die SPD-Frauen gemeinsam mit vielen Frauen aus Ihrer Fraktion erkämpft
haben? Bestätigen Sie, dass es so gelaufen ist?
({0})
Frau Wolf, an dieser
Stelle sage ich Ihnen, dass es die Union auszeichnet, darüber nie nur geredet, sondern stets gehandelt zu haben.
({0})
Betrachten wir die Situation in den Bundesländern,
so hat als erstes unter den alten Bundesländern das damals
noch unionsregierte Rheinland-Pfalz den Rechtsanspruch
auf einen Kindergartenplatz eingeführt. Von dem, was wir
gemacht haben, zehrt heute noch die SPD in RheinlandPfalz. Deshalb ist die dortige Bilanz im Hinblick auf die
Kinderbetreuung besser als in den anderen SPD-Ländern.
Ansonsten ist die Situation in den SPD-Ländern katastrophal.
({1})
Was die Frauenerwerbstätigkeit anbetrifft - Frau
Wolf, Sie dürfen mir ruhig noch zuhören; das gehört immer noch zu der Antwort auf Ihre Frage -, so möchte ich
als Frau nicht in einem SPD-regierten Land leben.
({2})
Die Frauenerwerbsquote ist beispielsweise in NordrheinWestfalen deutlich niedriger als in unionsregierten Bundesländern. Die Spitzenreiter hierbei sind Bayern und BadenWürttemberg. Das liegt darin begründet, dass sie auch die
Spitzenreiter im Hinblick auf die Versorgung mit Kindergartenplätzen sind. Unter den alten Bundesländern hat Baden-Württemberg die beste Ausstattung mit Kindergartenplätzen. Die Bayern haben in diesem Bereich auch einen
Spitzenplatz. Sie haben im Bereich der Krippen zugelegt.
Dort gibt es jetzt Krippenplätze für 3,5 Prozent der Kinder,
in Nordrhein-Westfalen dagegen für nur 2,3 Prozent.
Sie können jetzt gern eine weitere Frage stellen.
Jetzt gibt es eine
zweite Zwischenfrage der Kollegin Wolf.
Zum Stichwort Krippenplätze: Der Bundeskanzler hat vorhin angegeben, wie
viele Krippenplätze es in Bayern gibt. Könnten Sie wenn Sie München herausrechnen würden, das bekanntlich von der SPD regiert wird - vielleicht bestätigen, dass
es in Bayern dann 0,4 Prozent sind?
({0})
Liebe Frau Wolf,
dann können wir auch bei Niedersachsen Hannover herausrechnen. In diesem Fall würde dieses Land endgültig
das Schlusslicht bilden. Dort gab es bekanntlich einen Ministerpräsidenten namens Schröder, der - das will ich Ihnen auch noch sagen - jetzt als Bundeskanzler erklärt,
dass er die Ganztagsschule als zentrales Projekt für unser Land ansieht.
({0})
Ich halte es für richtig, dass es im schulischen Bereich
mehr Ganztagsangebote gibt. Man muss es aber auch richtig machen, Herr Bundeskanzler. Sie hatten damals die Gelegenheit, als Ministerpräsident in Ihrem Land die Weichen entsprechend zu stellen. In Niedersachsen beträgt der
Deckungsgrad bei den Ganztagsschulen ganze 3 Prozent.
({1})
In Baden-Württemberg beträgt der Deckungsgrad
6,8 Prozent.
({2})
Wenn das kein Unterschied ist! Ein Blick nach NordrheinWestfalen, das in puncto Ganztagsschulen immer wieder
als Paradeland genannt wird, zeigt, dass es zwar richtig
ist, dass der Deckungsgrad dort 8,7 Prozent beträgt, dass
es sich aber überwiegend um Gesamtschulen handelt,
({3})
sodass die Eltern gar keine Wahl haben, sich für eine bestimmte Form von Ganztagsschulen zu entscheiden. Mit
dem Weg, den man dort beschritten hat, wollte man das
Ganztagsschulenprogramm schmackhaft machen.
({4})
Wenn das, was uns Ihre Bildungsministerin Frau
Bulmahn derzeit verkündet, wirklich stimmen würde,
nämlich dass Ganztagsschulen den Schlüssel zu einer besseren Bildung darstellten, dann müssten doch die Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen das Paradebeispiel
für die beste Bildung sein. Im Zusammenhang mit der
PISA-Studie verweigern sich aber gerade die Gesamtschulen der Erhebung. Das spricht doch Bände. Es geht
hier also nicht um die Frage der Organisation, sondern um
die Inhalte.
({5})
Frau Kollegin
Böhmer, Ihre Redezeit ist jetzt etwas überschritten. Ich
bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich will zum Schluss
noch auf eines aufmerksam machen. Frau Schmidt - immerhin stellvertretende Vorsitzende der SPD - hat gestern
erklärt, dass die Familien in Deutschland kein Familiengeld bräuchten,
({0})
sondern Kindergarten- und Ganztagsplätze. Das hat sie im
Zusammenhang mit Akademikerinnen gesagt. Es ist sicherlich richtig, dass Akademikerinnen eine andere Ausgangssituation haben. Aber, Herr Bundeskanzler, erklären
Sie doch bitte der Verkäuferin im Supermarkt, der Frau
bei VW am Band, der Krankenschwester, der Polizistin
oder der Botin hier im Deutschen Bundestag, dass sie kein
Familiengeld brauchen. Wer ein solches Verständnis von
gerechter Förderung von Familien und Anerkennung ihrer Leistungen hat, dem kann ich nur sagen: Es ist gut,
wenn Ihre Zeit hier endet. Denn man kann es nur als Drohung empfinden, dass Ihre Familienpolitik fortgesetzt
würde. Dann wäre es auch weiterhin schlecht um die Familien in unserem Land bestellt.
({1})
Das Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat die Kollegin Ekin
Deligöz.
Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Böhmer, es wundert mich sehr, wenn ausgerechnet Sie beginnen, Zahlen
von Kindergärten miteinander zu vergleichen.
({0})
- Was heißt denn „richtig“? - Warum wundert mich das?
Wir - und zwar nicht wir alle, sondern die Frauen im Bundestag - haben gemeinsam ein Recht auf einen Kindergartenplatz in Deutschland durchgesetzt. Ein Recht auf
einen Kindergartenplatz heißt für mich, dass es eigentlich
ein 100-prozentiges statt ein 98- oder 95- oder 93-prozentiges Angebotsniveau geben müsste. Das ist nichts,
dessen man sich rühmen kann, sondern das sollte ein Mindeststandard sein.
({1})
Ein Kindergartenplatz steht 3- bis 6-Jährigen offen.
Kinderbetreuung fängt aber mit der Kinderkrippe an und
setzt sich fort bis zur Ganztagsschule. Ihr Kanzlerkandidat kommt aus Bayern. Sie haben vorhin ausgeführt, wer
das Recht auf einen Kindergartenplatz als erstes anerkannt
hat; ich sage Ihnen, wer es immer noch nicht umgesetzt
hat: Das ist Bayern. Bayern wehrt sich mit Händen und
Füßen, dieses Recht anzuerkennen und umzusetzen.
({2})
- Bayern hat einen Versorgungsgrad nicht von 100 Prozent, sondern von 93 Prozent. Bayern bildet nicht nur ein
Schlusslicht bei den Kinderkrippen und den Kinderhorten, sondern auch bei der Nachmittagsbetreuung und vor
allem bei den Ganztagsschulen.
({3})
In Bayern liegt der Anteil der Ganztagsschulen bei
3 Prozent. Das sind in absoluten Zahlen 24 Ganztagsschulen. Davon sind gerade einmal drei in öffentlicher
Hand. Die restlichen sind in anderer Trägerschaft.
({4})
Wir reden über die Bilanz der Familienpolitik. Dabei
dürfen wir eine Sache nicht vergessen: Es gibt verschiedene Lebenskonzepte. Für uns besteht die Familie nicht
nur aus Mama, Papa und Kind. Die Familie beginnt für
uns auch nicht erst mit dem Trauschein. Für uns stehen
vor allem die Kinder im Mittelpunkt, egal, für welche Lebensform sich ihre Eltern entschieden haben, egal, ob sie
allein erziehend sind, ob sie in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften leben, ob sie verheiratet sind oder
nicht. Im Mittelpunkt muss immer das Wohl der Kinder
stehen.
Vor allem sind für uns alle Kinder gleich viel wert.
({5})
Wenn Sie sich darüber beschweren, dass wir das Kindergeld für das dritte Kind nicht erhöht haben, dann sage ich
Ihnen: Für das dritte Kind werden bereits 300 DM bzw.
154 Euro an Kindergeld gezahlt. Endlich ist es so weit,
dass alle Kinder in Deutschland beim Kindergeld gleich
viel wert sind. Das war während Ihrer Regierungszeit
nicht der Fall.
Sie greifen uns wegen der Abschaffung des Haushaltsfreibetrages für Alleinerziehende an. Es stimmt, es
gibt dazu eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, und wir haben darauf reagiert. Aber warum gibt
es eine solche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts? Es gibt sie nicht, weil wir falsch gehandelt haben.
Vielmehr hat Ihr Regierungshandeln uns diese Entscheidung eingebrockt. Sie haben die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch Ihre falsche Politik herbeigeführt.
({6})
Kollegin Deligöz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Ja,
bitte.
Frau Deligöz, ich muss Ihnen wirklich sagen: Es geht mir langsam auf den Keks, wenn der
Bundeskanzler und Sie ständig behaupten, dass das Bundesverfassungsgericht schuld daran gewesen sei, dass Sie
den Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende abschaffen
mussten.
Was
heißt hier „schuld“? Von Schuld habe ich nicht gesprochen.
Frau Deligöz, ich möchte Sie fragen: Hat das Bundesverfassungsgericht der Regierung die
Abschaffung des Haushaltsfreibetrages für Alleinerziehende dezidiert vorgeschrieben?
Frau
Lenke, das Bundesverfassungsgericht hat ganz konkret
gesagt, dass man alle, Verheiratete und Nichtverheiratete,
gleich behandeln solle. Daraus ergeben sich zwei mögliche Konsequenzen: Wir hätten den Haushaltsfreibetrag
für alle auf das gleiche Niveau anheben können. Das hätte
allerdings Mehrkosten in Höhe von fast 30 Milliarden
Euro zur Folge gehabt, die wir in Zeiten der Haushaltskonsolidierung de facto nicht finanzieren können.
({0})
Wir möchten keine Familienpolitik zulasten kommender
Generationen betreiben.
({1})
Die Alternative wäre gewesen, den Haushaltsfreibetrag
komplett abzuschaffen. Das wollten wir auch nicht. Wir
hätten also den Haushaltsfreibetrag ganz abschaffen oder
fast 30 Milliarden Euro herzaubern müssen. Das eine
wollten wir nicht; das andere war nicht möglich. Was haben wir getan? Für uns stand die Bekämpfung der Armut
im Vordergrund. Deshalb haben wir das Unterhaltsrecht
reformiert. Wir haben das Kindergeld für alle Verdienenden in gleichem Maße erhöht. Wir haben die Möglichkeiten, die Kosten für die Kinderbetreuung abzusetzen, verbessert. Die Grünen fordern darüber hinaus, dass künftig
die Kinderbetreuungskosten ab dem ersten Euro abgesetzt
werden können.
({2})
- Ich zähle Ihnen nicht das auf, was wir haben wollen,
sondern das, was wir gemacht haben.
Wir haben die Gelder im Sinne der Kinderförderung
umgeschichtet. Dabei haben wir alle gleich behandelt. Sie
dürfen nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Es stimmt, diejenigen Frauen, die Sozialhilfe beziehen, profitieren von
der Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten nicht. Es
profitieren nur diejenigen, die Steuern zahlen.
({3})
- Frau Lenke, ich bin mit meiner Antwort auf Ihre Zwischenfrage noch nicht fertig. Sie können ruhig noch ein
bisschen stehen bleiben.
Wie gesagt, nur diejenigen, die eine hohe Steuerbelastung haben, profitieren von dieser Maßnahme; denn nur
sie können die Kinderbetreuungskosten entsprechend absetzen. Es profitieren also nicht die Sozialhilfeempfänger
und nicht die Bezieher geringer Einkommen.
({4})
Wir haben die Gelder im Sinne der Kinderförderung
umgeschichtet, im Sinne derjenigen Familien, die ein geringes Einkommen haben. Das werden wir auch mit der
geplanten Kindergrundsicherung fortsetzen. Sie sollten
darüber keine Unwahrheiten verbreiten. Mit der Kindergrundsicherung wollen wir Familien aus der Sozialhilfe
herausholen. Wir wollen für sie Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit schaffen. Eines kann ich Ihnen aber
auch sagen: Die beste Form der Armutsbekämpfung ist
noch immer die Erwerbstätigkeit.
({5})
Die beste Form der Armutsbekämpfung ist noch immer, wenn hoch qualifizierte Frauen berufstätig sein dürfen und nicht dazu verdammt werden, am heimischen
Herd zu bleiben und das Haus zu hüten. Genau auf diese
Aspekte gründet sich unsere Kinder- und Familienpolitik.
Ich möchte noch eines hinzufügen: Wir werden die Familienpolitik oder die Kinderpolitik auf keinen Fall konjunkturabhängig gestalten. Diese Regierung hat es, auch
in Zeiten knapper Kassen, in Zeiten der Haushaltskonsolidierung, geschafft, Milliarden für Kinder zu investieren. Die Mittel wurden in die Familienpolitik umgeleitet. Diese Politik werden wir fortsetzen. Die Unterstützung der Schwächsten in unserer Gesellschaft, unserer
Kinder, die unsere Zukunft sind, und unserer Familien
werden wir ganz bestimmt nicht von einer Konjunkturprognose abhängig machen.
({6})
Im Gegensatz zu Ihnen werden wir dies auch nicht von
Goodwillaktionen abhängig machen. Wir werden auch
nicht einfach irgendwelche Konzepte vorlegen, die im
Grunde bewusst falsche Versprechungen sind, weil sie definitiv nicht realisierbar sind. Das wissen Sie genauso gut
wie ich.
({7})
Jetzt hat die Kollegin
Ina Lenke, FDP-Fraktion, das Wort.
Frau Deligöz, Herr Eichel hat die
Erhöhung des Kindergeldes von den Einnahmen des Bundes abhängig gemacht. Von daher ist all das, was Sie gesagt haben, nicht richtig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gemessen an den großartigen Ankündigungen haben Sie in den
letzten drei Jahren wirklich kleine Brötchen gebacken.
({0})
In der Steuerpolitik haben Sie eine grundlegende Reform
im Sinne der Familien nicht zustande gebracht; ich sage
nur: Steuerklasse V. Sie haben den Zugang für Frauen zum
Arbeitsmarkt durch stringente Gesetze verschärft und Sie
sind für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich.
({1})
Frau Deligöz hat auf die Wichtigkeit von Arbeitsplätzen für Frauen verwiesen. Dem stimme ich zu. Die Grünen haben aber durch eine falsche Wirtschafts- und
Steuerpolitik die Arbeitslosigkeit so hoch getrieben.
({2})
Sie wissen genau, dass eine hohe Arbeitslosigkeit ganz
besonders den Frauen schadet.
Sie haben den Koalitionsvertrag gebrochen, zumindest
haben Sie ihn nicht erfüllt. Ich zitiere:
Ein ausreichendes Angebot an Kindertagesstätten
und Ganztagsbetreuung ist zu gewährleisten.
Was haben Sie in den letzten dreieinhalb Jahren denn gemacht? In dieser Beziehung: nichts, nichts, nichts.
({3})
Herr Schröder spricht im Zusammenhang mit Familien
nicht umsonst von „Gedöns“. Als Ihre Familienministerin, Frau Bergmann, versuchte, den rot-grünen Koalitionsvertrag umzusetzen, und mehr Geld für die Kinderbetreuung forderte, bekam der Finanzminister einen
Ohnmachtsanfall. Sie haben für die Familien etwas getan;
aber immer nur so viel, dass Sie die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade erfüllten. Sie haben das
nicht freiwillig gemacht, sondern Sie mussten das machen. Um negative Schlagzeilen zu verhindern, haben Sie
das Urteil laut bejubelt. Das hat aber nichts genutzt. Sie
sprechen von einer Entlastung für die Familien, erheben
aber höhere Steuern. Ich frage mich, wie das Ergebnis
aussieht.
Ich will zum von Ihnen verabschiedeten Zweiten Gesetz zur Familienförderung etwas sagen: Sie verabschieden eine Kindergelderhöhung, natürlich nur für das erste
und das zweite Kind, in Höhe von 30 DM. Die Familien
mussten diese Erhöhung des Kindergeldes selbst gegenfinanzieren. Was soll denn das? Nur, den Bürgern sagen Sie
etwas anderes. Die Aussage der Familienverbände war
dazu damals: Taschenspielertricks. Ihre Familienpolitik
wurde zum Verschiebebahnhof. Wissenschaftler rechnen
Ihnen vor, dass die Nettoentlastung der Familien insgesamt
gegen null tendiert.
Ich verwahre mich für die FDP gegen Angriffe von Familienministerin Bergmann, wir griffen dieses Thema erst
kurz vor der Wahl auf. Das ist die Unwahrheit. Frau
Bergmann weiß ganz genau, welche Anträge wir hier, im
Bundestag, gestellt haben.
({4})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eines
der zentralen Ziele liberaler Familien- und Frauenpolitik. Populäre Wahlversprechen Ihres Herrn Schröder,
10 000 neue Ganztagsschulen zu schaffen, helfen den
Frauen nicht allein. Ich bitte die Frauen aus der Regierungskoalition, einmal zuzuhören - sie müssten eigentlich
protestieren -: Dieses Versprechen hilft den Frauen, die
Kinder haben und wieder in den Beruf einsteigen wollen,
wenn ihr Kind ein, zwei oder drei Jahre alt ist, überhaupt
nicht. Sollen wir erst einmal sechs Jahre zu Hause bleiben,
bis der schrödersche Goodwill einer Ganztagsschule umgesetzt wurde? So geht das nicht.
({5})
Das zeigt, dass Herr Schröder hier zwar eine Regierungserklärung gehalten hat, aber von realer Familienpolitik
keine Ahnung hat.
Wir wollen ein breiteres und flexibleres Angebot an
Kinderbetreuungsplätzen. Wir wollen das für Männer
und für Frauen. Wir haben deutlich gemacht - Cornelia
Pieper hat es auch schon gesagt -: Wir wollen, dass der
Halbtagsplatz, auf den ein Rechtsanspruch besteht, kostenlos zur Verfügung gestellt wird: Denn wir meinen, dass
die Bildung im Kindergarten genauso viel wert ist wie an
der Schule und an der Hochschule, und da wird sie kostenfrei zur Verfügung gestellt.
({6})
Wir werden in der neuen Regierung einen Weg finden, die
Kosten, die den Kommunen entstehen, im Bund-LänderFinanzausgleich zu berücksichtigen.
Wir müssen auch andere Formen der Kinderbetreuung
als die staatlich subventionierten Kindergartenplätze
schaffen. Wer hat hier über Tagesmütter als eine Säule der
Kinderbetreuung gesprochen? Wer hat hier von privaten
Einrichtungen gesprochen? Ich sage Ihnen: Staatliche
Kindergartenplätze können die Flexibilität, die Eltern
wollen, überhaupt nicht schaffen.
({7})
Dazu ist von Ihnen auf Bundesebene kein Konzept vorgelegt worden.
Sie alle, auch Sie von den Grünen, schwafeln hier davon, die Kinderbetreuung solle kostenlos sein. Wir haben
dazu einen Antrag im Bundestag vorgelegt. Sie haben ihn
abgelehnt. Warum haben Sie diesen Teil nicht herausgenommen und ihm zugestimmt?
({8})
- Frau Schewe-Gerigk, genau so ist es. Wir können es belegen. Es war nicht erst gestern.
Frau Kollegin Lenke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme jetzt zum Schluss.
Die FDP will einen Aufbruch in der Familienpolitik. Es
muss ein Ruck durch unser Land gehen. Wir müssen vieles gemeinsam machen. Frau Wolf, wir müssen uns von
dem einen oder anderen ollen Zopf trennen. Wir sind von
Folgendem überzeugt, meine Damen und Herren: Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
({0})
Für die Fraktion der
SPD spricht jetzt die Kollegin Hildegard Wester.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir wollen Deutschland wieder zu
einem kinder- und familienfreundlichen Land machen.
({0})
Damit leisten wir eine wichtige Investition in die Zukunft
unseres Landes.
({1})
Dies hat die rot-grüne Koalition vor dreieinhalb Jahren in
ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben.
({2})
Ich stelle heute fest: Viele Beiträge haben bestätigt,
dass wir eine positive Bilanz ziehen können.
({3}) - Dr. Gerd Müller [CDU/
CSU]: Als Praktiker kann ich das nicht sagen!)
Wir können eine positive Bilanz ziehen, obwohl hier von
vielen Rednern der Opposition das Gegenteil behauptet
wird. Ich will mich jetzt einmal mit einigen Aussagen, vor
allem von Frau Böhmer und Frau Pieper, befassen.
Frau Pieper, Sie haben gesagt, der Kanzler solle sich an
den Taten messen lassen.
({4})
Wir haben Ihnen heute eindrucksvoll gezeigt, dass wir das
durchaus können.
({5})
Es war auch der richtige Zeitpunkt, zu dem der Bundeskanzler das Wort zur Familienpolitik ergriffen hat, Frau
Böhmer; denn hätte er das zu Beginn der Legislaturperiode
getan, hätte man ihm vielleicht vorwerfen können, er
würde hohle Worte sagen, so wie wir das von den Vorgängerregierungen gewohnt waren.
({6})
Zum heutigen Zeitpunkt können wir feststellen, dass wir
auf dem Weg zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft ein
großes Stück vorangekommen sind.
({7})
In der Koalitionsvereinbarung steht neben vielen anderen konkreten Maßnahmen auch die Erhöhung des Kindergeldes um 30 DM zum 1. Januar 1999.
({8})
Wenn Sie rechnen können, dann wissen Sie, dass wir die
Koalitionsvereinbarung geschrieben haben, bevor das
Bundesverfassungsgericht das vernichtende Urteil über
Ihre Familienpolitik gesprochen hat.
({9})
Wir hatten es nicht nötig, auf das Verfassungsgerichtsurteil zu warten.
Wir haben auch keine leeren Versprechungen gemacht.
Sie alle wissen, wann die Wahl war, und Sie alle wissen,
welchen zeitlichen Abstand der 1. Januar 1999 zu diesem
Termin hatte. Es ging nicht schneller und wir haben die
Politik konsequent weitergeführt.
({10})
Ich kann verstehen, dass hier viel Wahlkampf gemacht
wird; unbegreiflich ist mir aber, dass man mit den Gefühlen von Menschen so Schindluder treibt und damit so
unverantwortlich umgeht. Frau Böhmer, bei allem Respekt: Wenn Sie sagen, wir hätten die Witwenrente gestrichen, dann ist das unglaublich.
({11})
Wir haben in der Rentenreform zum ersten Mal seit Jahrzehnten stärkere Akzente für Kinder gesetzt. Wir haben
für Kindererziehung sogar einen Bonus zur Witwenrente
gegeben.
({12})
Witwen, die mehrere Kinder erzogen haben, bekommen
eine höhere Witwenrente. Wir haben auch die Rente für
Frauen, die Kinder erziehen und erwerbstätig sind, erhöht,
und egal, ob sie berufstätig sind oder nicht, werden für die
ersten drei Lebensjahre drei Punkte angerechnet. Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Dass Sie hier mit den Ängsten der Menschen, sie könnten unter Umständen im Alter in Armut fallen, so unverantwortlich umgehen, enttäuscht mich sehr. Das macht
wieder einmal deutlich, dass wir in der Familienpolitik
leider weit davon entfernt sind, mit der Opposition in diesem Hause an einem Strang zu ziehen. Ich halte das für
bedauerlich.
({13})
Ihr Versprecher in Form der Feststellung, wir hätten
heute immer noch eine kinderunfreundliche Gesellschaft,
spricht ebenso Bände. Wie Sie es trotz der Diagnose, dass
Sie eine kinderunfreundliche Gesellschaft hinterlassen
haben, wagen können, uns vorzuwerfen, wir hätten nichts
getan, ist mir angesichts der Bilanz, die wir hier vorweisen können, schleierhaft. Sie sollten sich lieber auf den
Weg machen und uns unterstützen.
({14})
Ich habe in den Ausführungen von Ihnen, Frau Böhmer,
und auch in denen von Herrn Merz, der nicht mehr da ist,
konkret vermisst - ({15})
- Das liegt sehr wahrscheinlich daran - ({16})
- Unterste Schublade, ehrlich.
({17})
Da Sie nun mittlerweile alle miteinander entdeckt haben, dass die Frage der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf die zentrale Frage der Familienpolitik ist, frage ich
mich allerdings, wieso weder Sie, Frau Böhmer, noch der
Herr Merz irgendeinen Ton dazu gesagt haben, wie das
Problem vonseiten des Bundes angegangen werden soll.
({18})
- Ach, aber Sie wollen doch an die Regierung. Seit wann
kommt man an die Regierung mit hohlen Versprechungen?
({19})
Gut, ich stelle fest, Sie wollen nicht an die Regierung,
weil Sie keine Konzepte vorweisen können.
({20})
Ich erwarte - das tun, wie ich glaube, auch die Menschen -, dass eine Partei bzw. eine Fraktion, die für sich familienpolitische Kompetenz in Anspruch nimmt und die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf als zentrales Thema
der Familienpolitik ansieht, Lösungsansätze dafür bietet.
Das haben wir getan; der Kanzler hat das heute vorgetragen. Wir lassen uns nicht von denjenigen abhalten, die
nicht zur Lösung beitragen wollen und auf die Kompetenzverteilung in unserem Staat hinweisen. Es gibt Übereinstimmungen und man kann Vereinbarungen treffen,
({21})
natürlich unter Beachtung der staatlichen Ordnung. Ich
sehe auch überhaupt kein Problem darin, das gemeinsam
anzupacken. Aber offensichtlich will man es nicht gemeinsam tun.
({22})
Wenn Sie in sturer Konsequenz immer wieder behaupten, es gebe in Bayern oder Baden-Württemberg eine
Vollversorgung mit Kindergartenplätzen,
({23})
- lassen Sie mich doch einmal ausreden -, dann zeigt das
eigentlich nur, dass Sie nicht wollen, dass eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf hergestellt wird. Die Plätze,
von denen Sie reden, sind Kindergartenplätze. Das heißt
bei uns im Westen in der Regel immer noch: Plätze für
drei bis vier Stunden am Tag.
({24})
Dass unter dieser Voraussetzung keine einzige Frau und
kein einziger Mann einem vernünftigen Halbtagsberuf
nachgehen kann, wissen Sie genauso gut wie ich.
({25})
Wenn Sie darin kein Problem sehen, dann kann ich Ihnen
nur entgegnen: Sie meinen es nicht ernst mit Ihrer Aussage, dass die Herstellung von Vereinbarkeit von Familie
und Beruf das wichtigste zu lösende Problem ist.
Es ist heute schon so viel gesagt worden, dass ich
meine vorbereitete Rede beiseite gelegt habe. Zum Abschluss möchte ich Ihnen aber noch eines sagen, obwohl
das schon gesagt worden ist: Sie meinen, mit einem
Familiengeld von 600 Euro, das zudem noch abenteuerlich finanziert ist und Fragen hinsichtlich der Wirksamkeit aufwirft, eine Lösung angeboten zu haben; aber wir
müssen doch erst einmal darüber reden, welcher Gedanke
hinter diesem Vorschlag steckt. Hier haben Sie komischerweise einen konkreten Vorschlag, obwohl Sie vorhin
gesagt haben, Sie brauchten zur Vereinbarkeit nichts zu
sagen, weil Sie nicht an der Regierung seien.
({26})
- Sie haben gehandelt? Wunderbar. - Ich sage Ihnen: Sie
wollen die Frage der Kinderbetreuung mit Ihrem Familiengeld so lösen, dass die Frauen in den ersten drei Jahren
und nach Möglichkeit noch länger zu Hause bleiben.
({27})
Wir wissen doch ganz genau, dass 600 Euro Familiengeld
für die meisten Menschen verdammt viel Geld ist. Viele
mit mittlerem und unterem Einkommen werden sich überlegen, ob es sich dann überhaupt lohnt, arbeiten zu gehen.
Sie werden aber später, wenn sie nicht arbeiten gegangen
sind, den Anschluss im Beruf verpasst haben. Wenn die
Kinder aus dem Haus sind, werden entsprechende Probleme auftauchen, die Sie dann vielleicht mit einer hohen
Witwenrente lösen wollen. Oder welche Vorschläge haben Sie da?
({28})
- Das ist kein Unsinn, das ist die Realität.
({29})
Das bescheinigen Ihnen auch andere. Sie wollen dadurch
die lästige Frage klären, ob und wie Sie sich an der Finanzierung der Kinderbetreuung beteiligen, und Sie wollen auch die lästige Frage der Rollenverteilung in den Familien klären, und das alles auf Kosten der Frauen und
Kinder. Ich halte das für unverantwortlich.
({30})
Sie haben die Zeichen der Zeit nicht begriffen. Sie haben nicht begriffen, dass unsere Gesellschaft nur vorankommen kann, wenn sich alle mit vereinten Kräften am
wirtschaftlichen, staatlichen und familiären Leben beteiligen. Nur dann werden alle Ressourcen, die in den Menschen liegen, geweckt und genutzt werden können. Das ist
unsere Politik und in der werden wir fortschreiten.
Vielen Dank.
({31})
Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will in dieser Debatte zunächst einmal allen Müttern und Vätern danken;
denn sie sind es, die für unsere Zukunft und damit unseren Generationenvertrag sorgen.
Familien eine Zukunft zu geben, das versprach Bundeskanzler Schröder 1998. Was ist daraus geworden?
„Mehr Steuergerechtigkeit durch Entlastung von Familien
um 2 500 DM pro Jahr und mehr Kindergeld“, das war
Punkt sieben des Wahlversprechens von Kanzler Schröder.
({0})
Ich habe mir eine Karte mit Ihren Wahlversprechen
aufgehoben.
({1})
Ich werde sie in diesem Wahlkampf immer wieder vorzeigen und Sie an Ihren Taten messen. Sie werden sehen,
wie Ihre Bilanz dann aussieht.
Kernstück der gesetzgeberischen Initiativen Ihrer Regierungszeit war das Zweite Gesetz zur so genannten Familienförderung. Dies ist jedoch keine echte Familienförderung, sondern der minimalste Schritt, den Sie bei der
Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils überhaupt gehen konnten. Ihre Kindergelderhöhung schließt
Familien mit drei und mehr Kindern aus.
({2})
Dies ist keine Politik, die Familien fördert.
Was die Alleinerziehenden von Ihrer Politik halten,
haben diese durch den Gang nach Karlsruhe deutlich gemacht. Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts,
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ist in Ihrer Regierungszeit erfolgt, aufgrund Ihrer Familienpolitik. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
({3})
- Selbstverständlich. Die Alleinerziehenden haben sich
auf das Familienförderungsgesetz bezogen, das Sie verabschiedet haben.
({4})
Der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter hat
Ihnen vorgerechnet - er weiß, wovon er redet -, dass Alleinerziehende durch die Kürzung des Haushaltsfreibetrages bis 2005 ihre eigene Kindergelderhöhung mit
900 Millionen Euro finanzieren.
({5})
Ihre ständig wechselnden Vorschläge zur Förderung
von Familien machen das ganze Desaster Ihrer Familienpolitik deutlich: Am 12. März forderte Renate Schmidt,
dass der Ausbau der Betreuungsangebote Vorrang vor einer erneuten Erhöhung des Kindergeldes haben solle. Am
13. März, einen Tag später, war zu lesen, dass die Grünen
mit ihrer Familieninitiative gescheitert seien, die steuerliche Förderung von Familien jährlich um 600 Millionen Euro auszuweiten. Am 26. März dieses Jahres war
wiederum zu lesen, dass der Bundeskanzler das Kindergeld erhöhen und Betreuungseinrichtungen fördern wolle.
Jetzt, drei Wochen später, wollen die Grünen das Kindergeld allein für Einkommensschwache um bis zu 100 Euro
pro Kind und Monat erhöhen.
({6})
Außerdem fordern sie Investitionen zum Ausbau der Kinderbetreuung. Ein Finanzierungsvorschlag dazu, Frau
Schewe-Gerigk, fehlt völlig.
({7})
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün:
Was wollen Sie denn nun wirklich? Was gilt denn jetzt in
Ihrer Familienpolitik? Diese Politik ist in höchstem Maße
unglaubwürdig. Sie ist irreführend. Die Wählerinnen und
Wähler wissen nicht mehr, woran sie sind.
Seit dreieinhalb Jahren tragen Sie nun Verantwortung.
Sie haben die Familien nicht entlastet - im Gegenteil.
Durch die Ökosteuer haben Sie den Familien in die Tasche
gegriffen und damit zusätzlich belastet.
({8})
Das gilt vor allen Dingen für die Familien auf dem flachen
Land.
Sie planen offensichtlich weiterhin - selbstverständlich erst nach der Wahl -, das Ehegattensplitting einzuschränken oder gar abzuschaffen.
({9})
Tatsache ist aber, Frau Schewe-Gerigk, dass eine Streichung oder Kappung des Splittings in über 90 Prozent der
Fälle Familien mit Kindern träfe.
({10})
Betroffen wären vor allem die Familien, in denen ein Elternteil wegen der Kindererziehung die Erwerbstätigkeit
einschränkt oder darauf verzichtet. Aber auf diese Personengruppe legen Sie keinen Wert; sie wollen sie gar nicht
fördern; denn schließlich werden die Betreuungskosten
für Kinder nur dann steuerlich berücksichtigt, wenn beide
Eltern erwerbstätig sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. Februar, also
vor kurzer Zeit, klargestellt, dass Kindererziehung, Hausarbeit und Erwerbstätigkeit gleichberechtigt nebeneinander stehen. Diese Gleichberechtigung findet aber in Ihrer Politik keine Berücksichtigung. Hier unterscheidet
sich die Politik der Union deutlich von der Politik der amtierenden Bundesregierung.
({11})
Wir sind der Überzeugung: Wenn sich Eltern bewusst
entscheiden, für eine bestimmte Zeit zugunsten ihrer Kinder auf Erwerbstätigkeit zu verzichten, dürfen sie nicht
durch eine Einschränkung der Leistungen bestraft werden.
({12})
Wir wollen keine einseitige Bevorzugung der Erwerbstätigkeit. Wir setzen uns für echte Wahlfreiheit ein. Wir
wollen nicht wie Sie Müttern und Vätern durch einseitige
Förderung vorschreiben, wie sie zu leben haben. Wir meinen, dass dies die Eltern selber entscheiden sollen, was sie
auch wollen.
Der Bundeskanzler und diese Regierung haben dreieinhalb Jahre nichts zur Verbesserung der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf getan.
({13})
Kurz vor Toresschluss kommt das Versprechen, 10 000 neue
Ganztagsschulen schaffen zu wollen.
({14})
Wenn man diesen Vorschlag etwas näher durchleuchtet,
dann stellt man fest: Es gibt keine einheitliche Definition
der Ganztagsschulen. Daher frage ich: Herr Bundeskanzler - er ist nicht mehr anwesend -, an welche Form der
Ganztagsschule denken Sie?
({15})
Frau Ministerin - auch sie ist nicht mehr anwesend -, wie
viele Lehrer und Fachkräfte müssen dafür eigentlich eingestellt werden? Sagen Sie den Wählerinnen und Wählern
auch, an welchen Stellen Sie bei den Familien wieder
einsparen wollen! Bleiben Sie bei der Wahrheit! Im Übrigen wissen Sie ganz genau, dass die Schulen eine Sache
der Länder sind. Angesichts dieser Tatsache kann man
natürlich leicht Versprechungen machen.
Verwunderlich ist, dass die Bundesfamilienministerin,
heute durch einen vielstimmigen Chor unterstützt, gebetsmühlenartig wiederholt, dass die Kinderbetreuung
der unter Dreijährigen in Bayern schlecht sei. Ich glaube,
die Ministerin kennt ihre eigene Aufstellung nicht.
({16})
Wenn sie nämlich die Aufstellung vom Dezember 2000
gelesen hätte, dann würde sie feststellen, dass Bayern unter den Flächenstaaten bereits heute mit an vorderster
Stelle liegt, was die Betreuung von Kindern von null bis
drei Jahren und die Kindergärten betrifft. Auch im Hortbereich liegt Bayern im vorderen Feld.
({17})
Ich lese Ihnen einmal die Vergleichszahlen vor: Laut
Ihrer Statistik vom Dezember 2000 hat Bayern einen Versorgungsgrad bezüglich der Kinder von null bis drei Jahren von 3,5 Prozent,
({18})
Nordrhein-Westfalen von 2,3 Prozent, Rheinland-Pfalz
von 1,4 Prozent und Schleswig-Holstein von 2,3 Prozent.
Bei Niedersachsen steht in dieser Aufstellung: statistisch
nicht erfasst.
({19})
Ähnliche Zahlen kann ich Ihnen für den Kindergartenbereich und auch für die Betreuung der Schulkinder vorlegen. Bitte lesen Sie Ihre eigenen Zahlen nach! Dann ist die
Märchenstunde endgültig vorbei.
({20})
Zusätzlich hat die Bayerische Staatsregierung im November letzten Jahres beschlossen, 313 Millionen Euro
zur Verfügung zu stellen, um diesen Bereich gerade für
Kinder unter drei Jahren und für Schulkinder noch besser
auszustatten.
Ihre Familienpolitik ist ohne Hand und Fuß.
({21})
Wir setzen eine Politik dagegen, die durch die Einführung eines Familiengeldes für echte Wahlfreiheit
sorgt. Frau Wester, hören Sie doch endlich mit dem Märchen auf, dass die Mütter mithilfe des Familiengeldes zum
Herd zurückkehren sollen.
({22})
Frau Wester, meine Damen und Herren, wenn Sie genau
nachlesen, können Sie feststellen, dass wir den Anspruch
auf Familiengeld unabhängig von einer Erwerbstätigkeit
vorsehen.
({23})
Das heißt also, wir sorgen für echte Wahlfreiheit. Wir ermöglichen damit erstmals, dass sich Mütter und Väter frei
entscheiden können.
({24})
Frau Kollegin
Eichhorn, auch Sie muss ich leider darauf aufmerksam
machen, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich komme sofort zum
Schluss.
Ein zweiter Punkt unserer Familienoffensive ist die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier haben wir keinen Nachholbedarf. Vielmehr bauen wir auf dem auf, was
bereits bestand.
Ein dritter Punkt ist die Stärkung der Elternkompetenz.
Der Bundeskanzler hat viele Versprechungen gemacht,
sie aber nicht gehalten. Sie haben die Familien im Stich
gelassen.
({0})
Deswegen brauchen wir eine neue Politik.
({1})
Die nächste Rednerin
in dieser Debatte ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Böhmer, Frau Eichhorn, ich kann ja verstehen, dass es Ihnen nicht passt, dass wir in den letzten
dreieinhalb Jahren mehr für die Familien erreicht haben
als Sie in 16 Jahren. Aber dass Sie so platt argumentieren,
das ärgert mich schon!
({0})
Rot-Grün hat 1998 nicht nur einen finanzpolitischen,
sondern auch einen familienpolitischen Scherbenhaufen
übernommen. Trotz aller schönen Sonntagsreden über
den Wert der Familie, die Sie, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU und der FDP, hier vorgetragen haben,
haben Sie eine Familienpolitik gemacht, die frauenfeindlich und verfassungswidrig war. Das steuerfreie Existenzminimum war zu niedrig. Die Erhöhung des Kindergeldes
im Jahre 1998 hat Ihnen der Bundesrat aufzwingen müssen. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für
Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren wurde den Frauen
quasi als Entschädigung für den Kompromiss im Hinblick
auf den § 218 StGB gewährt. Herr Merz, der Bund hat beschlossen und die Kommunen mussten diesen Rechtsanspruch umsetzen. So viel zu Ihrer Politik!
({1})
Ihre konservative Heim-und-Herd-politik haben Sie auf
dem Rücken der Frauen ausgetragen.
({2})
Auch die FDP, die sich jetzt wie ein Chamäleon einen
modernen Anstrich gibt, hat dieser Ideologie 16 Jahre
nichts entgegengesetzt.
({3})
- Das war in der Zeit, als Sie noch nicht hier waren, Frau
Lenke. - Dabei müssten Sie doch wissen: Junge Frauen
wollen sich nicht länger entweder für eine Berufstätigkeit
oder für eine Familie entscheiden müssen. Sie wollen wie Männer auch - beides. Ist das nicht zu vereinbaren,
entscheiden sich viele Frauen gegen Kinder. Heute ist bereits jede dritte Frau kinderlos. Die Frauen sind in einen
stillen Gebärstreik getreten und das ist das Ergebnis Ihrer
Politik. Dieses Erbe haben wir übernommen.
({4})
Heute überschlagen sich nahezu alle Parteien bei der
Frage, wer wohl am meisten für die Familien tut. Konkurrenz belebt zwar das Geschäft und Opposition macht
spendabel, wie wir gehört haben. Aber was gut gemeint
ist, ist noch lange nicht gut. Das Familiengeld der CDU
in Höhe von 600 Euro - die CSU nennt es ehrlicher Familiengehalt;
({5})
das schreibt das alte Rollenbild fest - schafft Anreize, sich
zwischen Familienarbeit und Erwerbsarbeit zu entscheiden.
({6})
- Da können Sie noch so viel schreien, Frau Eichhorn.
Aber genau das wollen die Frauen nicht. Die Frauen wollen beides.
({7})
Zu Lohn für Hausarbeit - dabei ist der Staat der Arbeitgeber - sagen die Frauen: Nein danke. Herr Stoiber, das können Sie vielleicht den Frauen im Komödienstadl verkaufen; aber die jungen Frauen wollen so etwas nicht.
({8})
- Frau Eichhorn, hören Sie zu!
Vier Kindertagesplätze in Bayern für 1 000 Kinder im
Alter unter drei Jahren, das ist ein Armutszeugnis!
({9})
- Ich habe die Statistik hier. Ich habe von den Tagesplätzen gesprochen.
Bei der FDP ist alles unentgeltlich: Einkommen bis zu
30 000 Euro sollen für eine Familie mit zwei Kindern
steuerfrei sein. Erst danach gelten die Steuersätze in Höhe
von 15, 25 und 35 Prozent. Kindergärten sind natürlich
gebührenfrei. Die Absetzbarkeit der Betreuungskosten ist
überhaupt keine Frage.
({10})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie
müssen sich schon entscheiden: Entweder Sie nehmen
keine Steuern ein - dann können Sie auch keine kostenlose Betreuungseinrichtung schaffen - oder aber die Betreuung ist kostenlos; dann brauchen Sie auch Steuereinnahmen. So sind Sie einfach opportunistisch und
unglaubwürdig.
({11})
Frau Kollegin
Schewe-Gerigk, aus den Reihen der FDP gibt es jetzt eine
Frage, und zwar von der Kollegin Lenke. - Wie ich sehe,
lassen Sie die auch zu.
({0})
Selbstverständlich.
Frau Schewe-Gerigk, da sieht man,
wie nachlässig Drucksachen und Pressemitteilungen von
anderen durchgelesen werden.
({0})
Sie haben gesagt, wir hätten gefordert, dass alle Kindergartenplätze gebührenfrei sein sollen. Ich möchte Sie jetzt
aufklären und sagen: Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, der vier Stunden umfassen soll, soll gebührenfrei sein, weil wir mehr Bildungspolitik im vorschulischen Bereich wollen.
({1})
Von daher bitte ich Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Frau Lenke, ich habe das schon längst zur
Kenntnis genommen. Frau Pieper hat vorhin in Ihrer Erklärung für die FDP gesagt: Kindergärten sollen gebührenfrei sein.
({0})
Sie hat nicht gesagt „alle Kindergärten“, sie hat gesagt:
Kindergärten.
({1})
Das betrifft die Kinder zwischen drei und sechs Jahren.
({2})
Mit dem Regierungswechsel hat Rot-Grün einen Fokus
auf das Leben mit Kindern gelegt, sowohl materiell - jetzt
hören Sie einfach einmal zu: Es gab 13 Milliarden Euro
Mehrausgaben für die Familie seit 1998 - als auch strukturell: Eltern können nun gemeinsam während der Elternzeit drei Jahre lang ihre Arbeitszeit bis auf 30 Stunden reduzieren. Ich hoffe, dass dieses Angebot auch von
vielen Vätern dafür genutzt wird, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Uns reicht das nicht aus. Wir Bündnisgrünen wollen die Kinderarmut mit einer Kindergrundsicherung bekämpfen, die Kinderbetreuung für
Kinder zwischen null und 14 Jahren flächendeckend aufbauen, aber auch inhaltlich aufwerten, um zum einen
Chancengleichheit für die Kinder - ich nenne nur das
Stichwort PISA - und zum anderen Chancengleichheit für
Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen.
({3})
Ferner wollen wir die Kinderbetreuungskosten ab dem
1. Euro steuerlich absetzbar machen; das hilft insbesondere den Alleinerziehenden.
Dass diese ehrgeizigen Pläne weder der Bund noch die
Länder, noch gar die Kommunen allein umsetzen können,
leuchtet ein; das müsste eigentlich auch Herr Merz wissen. Er sollte nicht davon sprechen, wer wohl wofür zuständig ist; er sollte froh sein, wenn sich der Bund endlich
einschaltet und Geld gibt.
({4})
Darum brauchen wir einen föderativen Kindergipfel;
die Familienministerin hat schon davon gesprochen. Dieser Kindergipfel muss alle Ebenen an einen Tisch bringen.
Dazu kommt: Wir müssen von alten Privilegien Abschied
nehmen.
Sie haben vorhin gefragt: Wie wollen Sie das alles finanzieren? Wir halten das Ehegattensplitting für ungerecht, weil es die Ehe subventioniert und nicht die Familie.
({5})
Ein Paar mit einem hohen Einkommen des Ehemannes
und einem niedrigen der Ehefrau ohne Kinder kann einen
Vorteil von bis zu 1 000 Euro haben, während ein Paar, das
unverheiratet zusammenlebt und Kinder hat, von diesem
Ehegattensplitting nichts hat.
({6})
Das ist Ihre Ideologie. Wir wollen das Leben mit Kindern
fördern; und nicht den Trauschein.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen
- das Licht der Präsidentin hat schon aufgeleuchtet -:
Die Redezeit ist schon
abgelaufen.
Ja. - Die Ministerin hat ein Programm „Frau
und Beruf“ aufgelegt, das hervorragend gelaufen ist. In
der nächsten Legislaturperiode brauchen wir ein neues
Programm, das heißen muss: Mann und Familie.
({0})
Ich danke Ihnen.
({1})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Christel Humme für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vizepräsidentin Petra Bläss
- Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend ist durch die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis vertreten.
({1})
Das liegt aber an Ihnen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Die Parteien haben die Familien entdeckt, so
der Tenor der Berichterstattung in den Medien in den letzten Tagen und Wochen. Die Debatte heute hat gezeigt: Die
SPD und auch die Grünen können damit nicht gemeint
sein; denn bei uns stehen die Familien seit eh und je im
Vordergrund der Politik. Gemeint sein können nur Sie von
der Union und FDP; denn heute wetteifern Sie, meine verehrten Herren und Damen von der Opposition, um die
Gunst der Familien und überbieten sich gegenseitig. Ich
hatte phasenweise den Eindruck: Wir sind nicht im Deutschen Bundestag, sondern auf einem orientalischen Basar.
Familienpolitik ungenügend, so lautete das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1998 über Ihre
Politik. Darüber täuscht auch nicht die Milchmädchenrechnung Ihres Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz
hinweg, nach der Sie in Ihrer Regierungszeit die Ausgaben für Familien von 27 Milliarden DM auf 75 Milliarden
DM erhöht hätten.
({1})
Das sind 12 Milliarden DM pro Legislaturperiode. Wir
haben in dieser Legislaturperiode für die Familien das
Doppelte ausgegeben. Dass Ihnen das nicht passt, ist klar.
({2})
Ihre Politik bedeutete eine eklatante soziale Schieflage
zuungunsten der Familien. Die Familien hatten ein besonders hohes Armutsrisiko. Ihr größtes Problem war die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf; denn Deutschland
war und ist - das muss man zugeben - in Sachen Ganztagsbetreuung ein Entwicklungsland.
({3})
Das ist eine weitere Folge Ihrer falschen Weichenstellung
in der Familienpolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Blick auf die
westdeutschen Bundesländer zeigt - wir haben das heute
schon an verschiedenen Stellen gehört -, dass es für Eltern in den unionsregierten Ländern Baden-Württemberg
und Bayern am schwierigsten ist, einen Betreuungsplatz
zu bekommen.
({4})
Dass es anders geht - Frau Pieper, ich bitte Sie jetzt, ganz
besonders zuzuhören -,
({5})
zeigt ein Land wie Sachsen-Anhalt. Sie haben gesagt,
das Hortgesetz sei abgeschafft worden.
({6})
Sie haben aber vergessen, zu sagen, warum es abgeschafft
worden ist; denn im Hinblick auf Betreuungsplätze ist
Sachsen-Anhalt Spitze.
({7})
Hier hat die SPD-Regierung unter Ministerpräsident
Höppner vorbildlich gehandelt
({8})
und für Kinder im Alter von null bis zwölf Jahren einen
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung eingeführt.
({9})
Dann braucht man keinen Hort mehr und kann das Hortgesetz abschaffen.
({10})
Frau Kollegin
Humme, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?
Sie kann zum Schluss eine
Kurzintervention machen, wenn sie will. Wir haben die
Zeit schon weit überschritten.
({0})
Meine Herren und Damen von der Union und der FDP,
noch im Jahre 1997 waren Sie nicht bereit, das Kindergeld
um 30 DM auf 250 DM zu erhöhen. Heute, auf den bequemen Oppositionsbänken tönen Sie ganz anders.
600 Euro Familiengeld pro Kind wollen Sie von der
CDU/CSU, 7 500 Euro Grundfreibetrag pro Kind wollen
Sie von der FDP. Das sind zurzeit die utopischen Höchstangebote.
Gestern stand in meiner Rede noch: Die Antwort auf
die Frage nach der Finanzierung bleiben Sie schuldig, Sie
blenden sie völlig aus. Heute habe ich in der Debatte gelernt, was Sie wirklich wollen: Sie wollen Arbeitslose gegen Kinder oder Bundeswehr gegen Kinder aufrechnen.
Das ist unseriös finanziert.
({1})
Sie verabschieden sich aus dem Kreis derjenigen, die
ernsthaft und glaubwürdig Politik machen.
Frau Böhmer, Sie wollen Familienpolitik aus einem
Guss. Ich denke, Ihr Familiengeld ist Familienpolitik aus
einem Guss, nämlich aus dem Guss der Gießkanne, es ist
Vizepräsidentin Petra Bläss
völlig unabhängig von der Einkommenssituation der Eltern. Das ist ungerecht.
({2})
Ihr Familiengeld ist rückwärts gewandt - das hat Frau
Wester schon dargestellt -, denn Sie schaffen wieder einmal für Frauen den Anreiz, langfristig aus der Erwerbstätigkeit auszusteigen. Damit stellen Sie Frauen wissentlich eine Falle, eine Falle aus schlechten Erwerbs- und
Einkommenschancen, aus der sie sich oft ein Leben lang
nicht befreien können. Andererseits schaffen Sie Anreize
für eine ausschließliche Betreuung in der Familie. Das ist
ein bildungspolitischer Irrweg, wie wir spätestens seit
PISA wissen.
({3})
Meine Damen und Herren von der FDP, Ihre Vorstellungen von 7 500 Euro Steuerfreibetrag pro Kind sind
ebenso dürftig. Wie Sie dieses Steuergeschenk finanzieren wollen, ist mir in dieser Debatte völlig verschlossen
geblieben. Reine Freibetragslösungen sind außerdem ungerecht; denn sie begünstigen ausschließlich Gutverdienende. Den Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen nützen sie überhaupt nichts. Da bleiben Sie Ihrer
Politik absolut treu.
({4})
Frau Eichhorn hat gerade gesagt, sie wolle eine Familienpolitik mit Hand und Fuß. Lassen Sie uns eine Familienpolitik mit Herz und Verstand machen!
({5})
Familienpolitik mit Herz heißt, Deutschland zu einem
kinder- und familienfreundlichen Land zu machen. Dies
haben wir im Ansatz schon erreicht. Familien haben nach
vier Jahren SPD-geführter Regierung spürbar mehr Geld
im Portemonnaie.
({6})
Frau Eichhorn, Sie haben gesagt, wir hätten nichts für
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf getan. Wir haben vieles getan.
({7})
Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, der Flexibilisierung - das ist das eigentliche Kernziel - der Elternzeit
und der Absetzbarkeit der erwerbsbedingten Betreuungskosten haben wir große Schritte hin zur Vereinbarkeit von
Familie und Beruf gemacht. Dies ist die richtige Weichenstellung in der Familienpolitik.
Familienpolitik mit Verstand heißt: Wir konzentrieren
uns auch vor dem Hintergrund knapper Kassen auf familienpolitische Schwerpunkte und setzen die zur Verfügung stehenden Mittel effizient ein. Der bedarfsgerechte
Ausbau von Ganztagsbetreuungsangeboten wird der wesentliche Schwerpunkt, das zentrale familienpolitische
Projekt der nächsten Jahre sein. Damit eröffnen wir Kindern und Jugendlichen bessere Bildungs-, Frauen bessere
Erwerbs- und Einkommenschancen und wir stärken den
Wirtschaftsstandort Deutschland.
Es ist klar, dass wir die Herkulesaufgabe, die Ganztagsbetreuung auszubauen, nicht allein den Kommunen
und Ländern aufbürden dürfen. Wir müssen uns als Bund
beteiligen. Deshalb ist der Ansatz, 4 Milliarden Euro zuzuschießen, völlig richtig.
({8})
Ein weiterer Schwerpunkt der zukünftigen Arbeit wird
die gezielte Förderung von Kindern aus einkommensschwachen Familien sein. Eine solche Lösung ist sozial
gerecht, bekämpft Kinderarmut und stärkt die Selbsthilfekräfte der Familien. Sie hilft vor allem den Alleinerziehenden. Besonders der Ausbau der Ganztagsbetreuungsangebote wird die Selbsthilfekräfte der Familien stärken.
Dies nenne ich intelligente und effiziente Familienpolitik,
die gleichzeitig nachhaltig in die Zukunft wirkt.
Die Menschen in Deutschland wissen ganz genau, wer
etwas für die Familien tut und wer nur über Familienförderung redet. Deshalb werden wir von Berlin aus - davon
bin ich fest überzeugt - auch nach dem 22. September
weiter für ein kinder- und familienfreundliches Deutschland sorgen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Bevor ich die Aussprache schließe, erteile ich jetzt der Kollegin Cornelia
Pieper zu einer Kurzintervention das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Punkt eins: Alle, die hier in der Familiendebatte gesprochen haben, insbesondere von der SPD-Bundestagsfraktion, und nicht aus Sachsen-Anhalt kommen, wissen
alles besser, was in Sachsen-Anhalt zu tun ist, als diejenigen, die dort zu Hause sind.
({0})
Punkt zwei: Ich möchte auf den Vorwurf von eben reagieren. Ich war von 1990 bis 1994 Landtagsabgeordnete
in Sachsen-Anhalt und habe für die FDP-Fraktion im
Landtag Familienpolitik gemacht.
({1})
Ich selbst war an der Erarbeitung des Kindertagesstättengesetzes beteiligt, welches einen Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz von Anfang an verankert hat. Wir haben
damals mit Beteiligung der FDP an der Landesregierung
durchgesetzt, dass die Kindergartenplätze vom Land mit
60 Prozent bezuschusst worden sind. Dies wurde mit
Übernahme der Regierung Höppner, natürlich mithilfe der
PDS, 1996 wieder abgeschafft. Die Kosten wurden über
Gebühren gedeckt, mit nun entsprechend höheren Standards bei den Kindergärten in Sachsen-Anhalt.
1992 gab es ein Schulhortgesetz, welches ich für die
FDP-Fraktion eingebracht habe, allerdings - das gebe ich
zu - nicht mit unserem damaligen Koalitionspartner
Union, aber mit einer großen Mehrheit im Landtag; übrigens auch mit Zustimmung der SPD-Landtagsfraktion.
({2})
1997 ist dieses Gesetz, das seinerzeit galt, von Reinhard
Höppner mit der PDS abgeschafft worden. Die Kommunen und die Eltern dürfen jetzt mit hohen Gebühren dafür
bezahlen.
Ich stelle fest: Es nutzt überhaupt nichts, dass wir uns
hier gegenseitig Schuldzuweisungen machen. Lassen wir
die Polemik,
({3})
tun wir lieber mehr für die Kinder in diesem Land und
konzentrieren uns auf die Probleme!
Vielen Dank.
({4})
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Humme, bitte.
Frau Pieper, es ist schön,
dass Sie uns ein wenig darüber belehren wollen, wie es in
Sachsen-Anhalt zugeht.
({0})
Nichtsdestotrotz ist Sachsen-Anhalt nach wie vor SPDregiert. Sachsen-Anhalt hat unter der von Ministerpräsident Höppner geführten SPD-Regierung als einziges
Bundesland in Deutschland - das halte ich für wichtig und
entscheidend - den Rechtsanspruch auf eine Kinderbetreuung durchgesetzt.
Sie reden vom Kindergarten. Es ist klar, dass es einen
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für die Dreibis Sechsjährigen gibt.
({1})
Ein Rechtsanspruch auf die Betreuung für Kinder im Alter von null bis zwölf Jahren ist eine tolle Sache. Das hilft
den Frauen und Männern, die Familie und Beruf in Sachsen-Anhalt miteinander vereinbaren wollen. Um nichts
anderes geht es.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Es wurde beantragt, den Entschließungsantrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 14/8790 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Haus-
haltsausschuss, den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 c bis g so-
wie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Cornelia Pieper, Jürgen Türk,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Offensive für Zukunftsinvestitionen in neuen
Bundesländern starten - Abwanderung stop-
pen - Zehnpunkteprogramm für den Aufbau
Ost
- Drucksachen 14/6066, 14/8569 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Kaspereit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Hildebrecht Braun ({1}), Jörg van
Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Perspektiven für die deutschen Waggonbaustandorte verbessern
- Drucksache 14/7833 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christel Riemann-Hanewinckel, Manfred
Hampel, Reinhard Weis ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({5}), Andrea
Fischer ({6}), Antje Hermenau, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Waggonbaustandorte erhalten
- Drucksachen 14/7973, 14/8519 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Ulrich Klinkert
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der
neuen Länder ({7}) zu dem Antrag der
Fraktion der PDS
Verlässliche Perspektiven für Ostdeutschland
und auch für die westdeutschen Steuerzahlen-
den sichern
- Drucksachen 14/6492, 14/8567 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Kaspereit
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Gerhard Jüttemann, Monika Balt, Petra
Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Gleichstellung der von Strukturkrisen betroffe-
nen Bergleute in Ost und West
- Drucksachen 14/2385, 14/4691 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Labsch
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Haupt, Jürgen Türk, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für ein faires Rentenrecht für das ehemalige
mittlere medizinische Personal
- Drucksache 14/7612 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({9})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Michael Luther, Manfred Grund, Günter
Nooke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur dringlichen Sicherung von Werkunternehmeransprüchen und zur verbesserten Durchsetzung von Forderungen ({10})
- Drucksache 14/8783 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Ostdeutsche Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst bis zum Jahre 2007 stufenweise auf
das Niveau der alten Bundesländer anheben
- Drucksache 14/8791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({13})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die
FDP-Fraktion 15 Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion.
({14})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Male geht es in diesem Jahr um die wirtschaftliche Situation der neuen Bundesländer. Diese Diskussionen sind brisant.
({0})
- Herr Küster, ich habe schon gesagt, dass seitens der
Bundesregierung nicht Brüllen und Polemik, sondern
Handeln gefragt ist.
({1})
Das vermissen wir bei Ihnen.
Ich habe mich schon gewundert, warum der Kanzler
keine Regierungserklärung zum Aufbau Ost abgibt.
Wahrscheinlich hat er sich davor gedrückt. Vielleicht
wollte er das Thema auf die nächste Generation verschieben. Deswegen hat er sich heute wohl die Familienpolitik
vorgenommen. Wo ist eigentlich Ihr Bundeskanzler?
({2})
- Lieber Herr Kollege, bezüglich der Ministerpräsidentenkandidatur in Sachsen-Anhalt sage ich Ihnen nur:
Sachsen-Anhalt hätte gerne einen neuen Ministerpräsidenten; denn unter Reinhard Höppner ist das Land
wirtschaftlich in eine Sackgasse geführt worden.
({3})
Beruhigen Sie sich, vielleicht arbeiten wir auch einmal
gemeinsam an dem Thema Aufbau Ost.
Die ruhige Hand des Kanzlers ist schon sprichwörtlich
geworden. Manchmal wünsche ich mir, dass er die Hand
wirklich ruhig halten würde, damit er den Menschen im
Osten nicht durch eine verfehlte Arbeitsmarkt- und
Wirtschaftspolitik noch zusätzliche Knüppel zwischen
die Beine wirft.
({4})
Wie gesagt: Jetzt macht der Kanzler die Familienpolitik zum Wahlkampfthema. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben ein ganz klares Zehnpunkteinvestitionsprogramm für die neuen Bundesländer vorgeschlagen. Ein
gravierendes Problem in den neuen Bundesländern, gegen
das die Bundesregierung offenbar keine Konzepte hat und
das im Westen schlicht und einfach ignoriert wird, ist die
dramatische Abwanderung.
Vor allem die jungen und qualifizierten Menschen verlassen mehr und mehr ihre angestammte Heimat, weil sie
dort keine wirtschaftliche Perspektive mehr sehen und
Vizepräsidentin Petra Bläss
keine Arbeitsplätze finden. 1999 betrug der Abwanderungssaldo minus 43 600. Fast 60 Prozent davon waren
Menschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren.
({5})
Der Sog in den Westen nimmt weiter zu. Zuletzt vermeldete Mecklenburg-Vorpommern für 2001 einen Anstieg
der Abwanderung um 13 Prozent.
({6})
Der Herr Bundeskanzler verstärkt diese Abwanderung
mit seiner Regierungspolitik, indem den Menschen Prämien dafür gezahlt werden, dass sie ihre Heimat in Ostdeutschland verlassen. Das ist verantwortungslos.
({7})
Wir müssen eine Politik machen, die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass in den neuen Bundesländern
Arbeitsplätze entstehen, anstatt hinzunehmen, dass die
jungen Leute weggehen müssen, weil sie keine Arbeitsplätze finden.
({8})
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben dafür gesorgt, dass das Jugendsofortprogramm - für das auch ich bin; denn es geht ja
grundsätzlich darum, jungen Menschen zu helfen, Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu finden - jetzt auch die
Zahlung so genannter Mobilitätshilfen umfasst, die wir
schon aus dem SGB III kennen. 88 Prozent der Jugendlichen erhielten die Mobilitätshilfe als reine Prämie. Wer
jung und qualifiziert ist, ist ohnehin mobil. Wer einen gut
bezahlten Job im Westen findet, braucht nicht zusätzlich
eine Prämie dafür zu erhalten, dass er den Osten verlässt.
Stattdessen müssen wir dieses Geld in den ersten Arbeitsmarkt der jeweiligen Regionen in Ostdeutschland investieren. Wir können damit Existenzgründer mit innovativen Geschäftsideen fördern und so dort Arbeitsplätze
schaffen, wo sie fehlen. Nur so können wir den Osten auf
Dauer stärken und verhindern, dass er ausblutet. Ich
denke auch daran, dass gerade die Geburtenrate drastisch
eingebrochen ist. Allein in Sachsen werden wir im
Jahr 2009 nur noch die Hälfte der Schulabgänger im Vergleich zu heute haben.
Wir brauchen für die neuen Bundesländer innovative
Strategien. Der wirtschaftliche Aufschwung ist mit der
Entwicklung einer leistungsfähigen Infrastruktur in den
neuen Ländern untrennbar verbunden. Hier liegt einiges
im Argen. Der ehemalige Präsident der Wissenschaftsgemeinschaft Leibniz Professor Pobell hat im letzten Jahr in
der „Süddeutschen Zeitung“ die Situation des Wissenschaftsstandorts neue Bundesländer wie folgt beschrieben:
In Relation zur Bevölkerung gibt es in den neuen
Ländern viermal weniger Wissenschaftler als in den
alten Ländern und die Aufwendungen für Forschung
und Entwicklung im Wirtschaftssektor sind zum
Beispiel in Baden-Württemberg zehnmal höher als
in Sachsen und 40-mal höher als in Sachsen-Anhalt.
Das ist ein Problem. Wir brauchen mehr Forschungskompetenz, mehr Wissenschaftler und mehr Kompetenzzentren in den strukturschwachen Regionen der neuen Bundesländer, um zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen.
({9})
Ich verstehe nicht, warum Sie unsere Vorschläge in dieser
Richtung ständig ablehnen. Wir haben bei den Haushaltsberatungen ein Hochschulsonderprogramm vorgeschlagen. Sie haben es abgelehnt. Aber genau das tut in den
neuen Bundesländern Not.
Es gibt jedoch auch gute Beispiele. Bereits heute haben
sich in Ostdeutschland Wachstumsregionen herausgebildet, in denen sich um die Hochschulen und Forschungseinrichtungen Wirtschaftsbetriebe aus dem Hochtechnologiebereich angesiedelt haben. Ein gutes Beispiel ist der
Forschungsstandort Berlin-Buch. Hier ist es gelungen, die
Akademieforschung alter DDR-Prägung schrittweise auf
Weltniveau zu bringen. Das Max-Delbrück-Centrum konzentrierte sich auf Spitzenforschungsbereiche, was natürlich einschneidende personelle Konsequenzen erforderte.
Heute sind in Berlin-Buch mehr Menschen als vor der
politischen Wende 1990 beschäftigt. Dieser Prozess ist
noch lange nicht abgeschlossen. Aber daraus müssen wir
lernen. Die Stärkung dieser Wissenschaftsregionen wird
dazu beitragen, dass es Wachstumszentren in den neuen
Ländern geben wird, wie wir sie auch aus Halle, Dresden,
Leipzig, Erfurt, Chemnitz und Jena kennen.
({10})
Diese Beispiele zeigen, dass der Anschluss des Ostens
keine Utopie ist. Die damalige Bundesregierung unter Beteiligung der FDP hat den Bio-Regio-Wettbewerb ins Leben gerufen. Ich glaube, dass dieser Bio-Regio-Wettbewerb eine Erfolgsstory in den neuen Bundesländern war.
({11})
Diese müssen wir fortsetzen. Hier hat damals eine Bundesregierung nicht nur Geld in die Hand genommen, sondern
sie hat es ganz im Gegensatz zu Ihrem Inno-Regio-Wettbewerb, meine Damen und Herren von der rot-grünen
Regierungskoalition, auch zeitnah an die beteiligten Akteure vergeben. Das Geld fließt wegen irgendwelcher bürokratischer Abläufe, die ich bei einer so hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern einfach nicht nachvollziehen kann, eben nicht in die Forschungsunternehmen.
({12})
Wenn wir über die Zukunftsinvestitionen in den neuen
Bundesländern reden, dürfen wir dabei nicht den Mittelstand vergessen. Morgen werden wir als vorletzten Punkt
der Tagesordnung den Antrag der FDP gegen den
Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifzwang im öffentlichen Vergaberecht debattieren. Dieser Antrag richtet
sich gegen die Initiative der Regierungskoalition, ein Gesetz
zu erlassen, das insbesondere der Bauindustrie in den neuen
Ländern ihren letzten Wettbewerbsvorteil nimmt.
({13})
Wenn die ostdeutschen Unternehmen tatsächlich gezwungen werden sollten, die von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären ausgehandelten Tarife an ihre Mitarbeiter zu zahlen, würde dies eine Flut von Firmenpleiten
im Osten nach sich ziehen. Das muss verhindert werden.
({14})
Sie debattieren schon lange nicht mehr öffentlich darüber.
Wahrscheinlich trauen Sie sich nicht zu debattieren.
Ich darf darauf hinweisen, dass dieses Gesetz öffentliche Bauaufträge im Schnitt um mindestens 5 Prozent verteuert. Das alles bezahlen die Kommunen in Deutschland
und damit im Übrigen der Steuerzahler.
({15})
Darüber hinaus ist dieses Gesetz verfassungsrechtlich
äußerst bedenklich und behindert den Wettbewerb.
Trotzdem bleibt es Verfassungsauftrag, die Lebensverhältnisse in Deutschland zu vereinheitlichen. Daran wollen wir als Freie Demokratische Partei mitarbeiten. Wir
brauchen eine klare Perspektive für die Ostdeutschen,
auch was die Lohnangleichung anbelangt, aber eben nicht
zulasten bestehender Arbeitsplätze im Mittelstand.
({16})
Meine Damen und Herren, die Produktivität wächst
mit der industriellen Basis. Die Leistungskraft ostdeutscher Firmen ist sehr hoch. Unser oberstes Ziel ist es, die
Wirtschaftskraft des Ostens zu stärken, um zukünftig gleiche Löhne zu erreichen. Dabei sollen sich einmal diejenigen an die Nase fassen, die gerade Investitionen in den
neuen Bundesländern verhandeln. Jetzt schaue ich einmal
zu meinen Kollegen von der PDS. Auch sie haben in
Sachsen-Anhalt dazu beigetragen, dass ein interessanter
Investitionsstandort für BMW eben nicht interessant war,
weil Sachsen-Anhalt einen schlechten Ruf hat.
({17})
Meine Damen und Herren, Sie können notwendige Reformen nicht dadurch wettmachen, dass Sie die vermeintliche Rettung einzelner Unternehmen medienwirksam
inszenieren. Von welcher Dauer sind denn Ihre Eingriffe?
Geht heute Holzmann und morgen vielleicht Bombardier
in Halle-Ammendorf? Ich habe im Februar eine Frage
an das Verkehrsministerium gestellt, nachdem Herr
Mehdorn in der „FAZ“ mit der Äußerung zitiert worden
war, das Bombardier-Werk in Halle-Ammendorf werde
von der Deutschen Bahn AG keine neuen oder vorgezogenen Aufträge erhalten.
({18})
Was ist denn von Ihrem Rettungskonzept für den Waggonbau Halle-Ammendorf eigentlich übrig geblieben?
Endet nach Ihrem Konzept ein großartiger Industriebetrieb in Halle-Ammendorf, der modernste Waggonbauer,
als einfaches Instandhaltungswerk der Deutschen Bahn?
({19})
Sie vernichten damit einen großartigen Industriestandort
in Sachsen-Anhalt. Das ist Ihre Politik, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition.
({20})
Frau Kollegin Pieper,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Hanewinckel?
Aber gerne.
Frau Kollegin Pieper, Sie haben eben die rhetorische Frage in den
Raum gestellt: Was ist denn von Bombardier in Ammendorf übrig geblieben? Meines Wissens leben Sie immer
noch in Halle an der Saale. Nun muss ich Sie fragen: Sie
sind nicht in den letzten Wochen im Bombardier-Werk in
Ammendorf gewesen?
Doch!
({0})
Ja, wahrscheinlich, weil keine Presse dabei war. - Sie sollten wissen, dass dieses Werk weiter besteht und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr froh darüber sind.
({0})
- Ich habe sie ja gefragt, ob sie das weiß. Sie weiß es offenbar nicht, wenn sie solch eine rhetorische Frage stellt.
Deshalb noch einmal meine Frage: Haben Sie das nicht
wahrgenommen? Wissen Sie nicht, dass Ammendorf nach
wie vor besteht und dass es mehr Aufträge als vorher gibt,
unabhängig davon, woher sie kommen?
({1})
Sie schreiben immer die Wirtschaftspolitik auf Ihre Fahnen. Wissen Sie auch nicht, dass die Vergabepraxis so ist,
wie sie ist, und dass keine Bundesregierung sagen kann,
wohin einzelne Unternehmen ihre Aufträge vergeben sollen? Dann hätten Sie nämlich laut aufgeschrien.
Es gab da lange Verhandlungen. An dieser Stelle ist noch
sehr viel mehr als das passiert, was Sie jetzt hier klein zu reden versuchen. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antwort.
({2})
Liebe Frau Hanewinckel, ich
wünsche mir eine Zukunft für die rund 900 Mitarbeiter im
Waggonbau Halle-Ammendorf. Aber wenn ich dort bin,
nehme ich nicht immer einen Journalisten mit, wie es der
Bundeskanzler und Reinhard Höppner tun.
({0})
Ich sage Ihnen ganz klar: Ich kenne keinen neuen Auftrag
für den Waggonbau Halle-Ammendorf. Der ist noch nicht
erkennbar.
Wir brauchen dringend ein Überleben dieses Industriebetriebes. Dafür aber - darum können Sie nicht herumreden - brauchen wir Aufträge.
Meine Damen und Herren, zu den Ursachen für die
Probleme in den neuen Bundesländern gibt es viel zu sagen. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben damals ein
Niedrigsteuergebiet Ost vorgeschlagen. Hätten wir das
mal gemacht! Dann wären heute die Probleme in den
neuen Bundesländern nicht so groß; dann wäre die Wirtschaftskraft stärker.
({1})
Damals haben auch Bundesfinanzminister Waigel, die
CSU und der bayerische Ministerpräsident verhindert,
dass es dieses Niedrigsteuergebiet Ost gibt. Für die FDP
sage ich Ihnen ganz klar: Wir brauchen ein gesamtdeutsches Niedrigsteuergebiet mit einfachen und sozial gerechten Steuersätzen.
({2})
Auch das wird ein Befreiungsschlag für die neuen Bundesländer sein, insbesondere für den Mittelstand.
Tun wir mehr für die Existenzgründer! Ostdeutschland
hat viel zu wenige Unternehmen. Wir brauchen dringend
Arbeitsplätze, damit die Menschen, vor allem junge Menschen, Ostdeutschland nicht verlassen, sondern dort ihre
Heimat haben.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Sabine Kaspereit.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Pieper, das war also Ihr
großer Auftritt, den Ihre Fraktion für Sie drei Tage vor der
Landtagswahl in Sachsen-Anhalt arrangiert hat. Die Vorstellung, die Sie heute im Deutschen Bundestag abgeliefert haben, war wirklich alles andere als stark.
({0})
Frau Kollegin
Kaspereit, es gibt sofort eine Frage der Kollegin Pieper.
Wollen Sie sie zulassen?
({0})
Im Moment nicht. - Fazit:
Der Unterhaltungswert Ihrer Rede war gering und brachte
in der Sache nichts Neues; Sie haben sich bestenfalls mit
fremden Federn geschmückt. Hinzu kamen die immer
gleiche Polemik, die zum Teil auch gehässigen persönlichen Angriffe auf Mitglieder der Landes- und Bundesregierung und die großmäuligen Versprechungen, von denen Sie wissen, dass sie nicht erfüllbar sind.
Ich komme auf Details aus Ihrem alten Antrag, den Sie
doch zum Vorwand für diese durchsichtige Wahlkampfaktion nehmen, noch zu sprechen. Es fehlte nur
noch, dass Sie hier mit Ihrem pompösen Seidenkleidchen
mit der 18-Prozent-Schärpe - vermutlich aus Fallschirmseide - aufgetreten wären. Das ist also die neue FDP unter der Spielleitung der Herren Westerwelle und
Möllemann, die FDP mit der Fallschirmspringermentalität.
({0})
Nun, Frau Pieper, wir werden ja am Sonntag sehen, ob
Ihr Fallschirm aufgehen wird und wie weit er Sie trägt.
Vielleicht landen Sie ja auch da, wo Sie vor wenigen Wochen in Bayern gelandet sind und haben sich mal eben nur
in der Kommastelle geirrt.
({1})
Wir haben in den letzten Monaten oft über die Lage in
den neuen Ländern diskutiert. Erst in der vergangenen Sitzungswoche wurde sehr ausführlich über den Aufbau Ost
gesprochen. Das war am 21. März. Alle Argumente zu
diesem Thema wurden ausgetauscht. Die Opposition hat
die Bundesregierung kritisiert; das ist ihr gutes Recht. Die
Regierungsfraktionen haben die Bundesregierung gegenüber unberechtigter Kritik verteidigt; das ist ebenfalls ihr
Recht und war zu erwarten. Es gibt seither keinen einzigen Grund für eine erneute Befassung mit diesem Thema
im Deutschen Bundestag. Es gibt keine neuen Erkenntnisse,
({2})
keine neuen Fakten, noch nicht einmal einen neuen FDPAntrag, der dem Deutschen Bundestag zugeleitet worden
wäre - nichts von alledem! Es gibt nicht einmal eine öffentlichkeitswirksamere, publikumsträchtigere Debattenzeit, denn auch die letzte Ostdebatte fand in der Kernzeit
statt.
({3})
Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, haben Ihren Antrag am 21. März aus einem einzigen Grund
von der Tagesordnung genommen: um den Deutschen
Bundestag als wohlfeile Wahlkampftribüne zu missbrauchen, die Ihre Parteikasse schont. Sie zwingen die anderen Parteien qua Geschäftsordnung des Hauses, dieses unwürdige Spiel mitzuspielen, und instrumentalisieren die
Mitglieder Ihrer Fraktion zu Claqueuren.
({4})
Frau Pieper, Sie können ja den Menschen das Blaue
vom Himmel versprechen. Ich allerdings sage den BürgeCornelia Pieper
rinnen und Bürgern in Sachsen-Anhalt, sie sollten sich an
den Taten der FDP im Deutschen Bundestag orientieren.
({5})
Hier aber, Frau Pieper, sieht Ihre Bilanz ganz düster aus.
Ich nenne als erstes Beispiel den Länderfinanzausgleich. Wir erinnern uns: Der Länderfinanzausgleich
wurde im vergangenen Jahr neu geregelt, jedoch ohne die
Zustimmung der FDP im Deutschen Bundestag.
({6})
Als einzige Partei hat sich die FDP verweigert. Das will
ich einmal festhalten.
({7})
Worum geht es im Länderfinanzausgleich? - Mit dem
Länderfinanzausgleich sind die finanziellen Grundlagen
der neuen Länder und ihrer Kommunen langfristig gesichert worden. Das ist für Ostdeutsche ein eminent wichtiges Ereignis. Wenn wir damit die staatliche Eigenständigkeit der ostdeutschen Länder garantieren, ist das etwas
sehr Wichtiges.
({8})
Dem Versuch, über das Entfallen der finanziellen Zuweisungen im Länderfinanzausgleich eine föderale Neuordnung der Bundesrepublik zu erzwingen, wurde damit eine
eindeutige Absage erteilt. Das Engagement der FDP an
dieser Stelle: Fehlanzeige!
Zweites Beispiel, der Solidarpakt II. Der Solidarpakt I
wurde über das Jahr 2004 bis zum Jahr 2019 verlängert,
und zwar ohne die Zustimmung der FDP im Deutschen
Bundestag. Sie, Frau Pieper, waren dagegen.
({9})
Ich will für die Wählerinnen und Wähler in Sachsen-Anhalt einmal festhalten, was der Solidarpakt II für die neuen
Länder bedeutet. Er bedeutet Milliardenhilfen des Bundes
für die neuen Länder und Planungssicherheit für die öffentlichen und privaten Investoren. Bis 2019 können die
ostdeutschen Länder, Kommunen und privaten Investoren
auf insgesamt 156 Milliarden Euro - das sind mehr als
300 Milliarden DM - an Bundeshilfe rechnen.
({10})
Damit werden Schulen und Universitäten, Krankenhäuser
und Altenheime gebaut, Straßen, Brücken, Schienen und
Wasserwege, Wasserversorgungs- und Entwässerungsanlagen modernisiert und auf den neuesten Stand gesetzt.
All das wird durch den Solidarpakt II möglich. Das ist ein
Glanzstück der Reformpolitik dieser Bundesregierung,
dem Sie sich als einzige Partei in diesem Hohen Hause
verweigert haben.
({11})
Das erklären Sie einmal den Ostdeutschen!
({12})
- Sie müssen es nicht mir erklären.
({13})
- Erklären Sie das den ostdeutschen Bürgerinnen und
Bürgern, besonders in Sachsen-Anhalt, deren Ministerpräsidentin Sie ja werden wollen.
({14})
Meine Damen und Herren, ich habe mich gewundert,
dass es die FDP nicht einmal für nötig erachtet hat, einen
neuen Antrag als Anlass für diese Debatte vorzulegen. Der
FDP-Antrag auf Drucksache 14/6066 vom Frühjahr des
vergangenen Jahres war schon veraltet, als er am 16. Mai
2001 vorgelegt wurde. Im Übrigen muss ich gestehen,
dass ich selten einen Antrag gelesen habe, der so schlecht
gearbeitet und so unseriös ist wie dieser. Er stellt sogar
noch alles in den Schatten, was wir von der PDS-Fraktion
gewöhnt sind.
Ich will gar nicht weiter auf die Ausgabenseite Ihres
Antrags zu sprechen kommen, auf die milliardenschweren Forderungen wie: Sonderprogramm EU-Osterweiterung - Kostenpunkt schlappe 3 Milliarden Euro; neues
Hochschulprogramm Ost - Kostenpunkt unbekannt;
Rücknahme der Kürzungen für die Leibniz-Gesellschaft;
Stärkung der Industrieforschung - Kostenpunkt unbekannt; 1-Milliarde-Wohnungsabrissprogramm. Wie nicht
anders zu erwarten, haben Sie für all das keine Finanzierungsvorschläge für den Finanzminister.
Geradezu atemberaubend sind die steuerpolitischen
Höhepunkte Ihres Antrages: Abschaffung der Ökosteuer
({15})
- Einnahmeausfälle allein im Jahre 2002 gut 14 Milliarden
Euro; Wiederherstellung der alten Abschreibungsregelungen - Einnahmeausfälle mehr als 1 Milliarde Euro;
({16})
Vorziehen der für 2005 vorgesehenen Steuerreformstufe - Einnahmeausfälle 65 Milliarden Euro; Abschaffung des Scheinselbstständigengesetzes und der 630-DMRegelung - Einnahmeausfälle 2,7 Milliarden Euro. Das
alles hat doch mit seriöser Politik nichts zu tun!
({17})
Statt in sich zu gehen und nachzurechnen, setzen Sie sogar noch einen drauf.
Neulich hat die FDP ihre steuerpolitischen Vorschläge
der staunenden Öffentlichkeit in einem Papier zur Kenntnis gegeben und es den Wählerinnen und Wählern präsentiert: Knapp 77 Milliarden Euro oder 150 Milliarden
DM würden die FDP-Vorschläge kosten, hat das Bundesfinanzministerium ausgerechnet.
({18})
- Gehen wir ruhig um 10 Milliarden herunter, das ist immer noch genug. Darin enthalten sind aber nicht einmal
die Steuerausfälle aus der Abschaffung der Ökosteuer. Es
ist eine Luftnummer, die Sie auf Ihrer Showbühne verkaufen. Auch das Rechenkunststück, wonach Sie, Frau
Pieper, mit 18 Prozent Ministerpräsidentin werden, kann
ich nicht nachvollziehen.
So schließt sich der Kreis zu der heutigen Vorstellung
der Dame mit der Schärpe und zu der Fallschirmspringermentalität einer Partei, die sich in besseren Tagen
gerne Partei der Mäßigung und der Vernunft nennen
ließ.
({19})
Ich weiß wirklich nicht, ob Sie sich mit der heutigen
Debatte einen Gefallen getan haben. Meine Landsleute
mögen sicherlich Shows und kennen auch „Big Brother“.
Aber sie können auch rechnen.
({20})
Für die Fraktion der
CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege Günter Nooke.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Es war ja die
Fraktion der FDP, die diese Debatte beantragt hat. Es besteht in der Tat Handlungsbedarf bei der schröderschen
Chefsache Aufbau Ost.
({0})
Ich glaube, wir müssen darüber noch einmal ernsthaft diskutieren.
Noch eine Vorbemerkung: Das letzte Mal waren wir es,
die eine Debatte über den Aufbau Ost beantragt haben.
Mich wundert schon, dass die Koalitionsfraktionen in
den letzten Jahren nicht einen einzigen Antrag zu dem
wichtigen Thema „Aufbau Ost“ zustande gebracht und
keinen einzigen substanziellen Vorschlag gemacht haben.
({1})
Heute wollten Sie zwar den Entwurf eines Vorleistungssicherungsgesetzes einbringen, mit dem die Zahlungsmoral verbessert werden sollte. Aber selbst dieser Tagesordnungspunkt musste wieder abgesetzt werden, weil Sie
sich offensichtlich nicht einig sind.
({2})
Es bleibt also dabei: Sie haben nicht einen einzigen substanziellen Beitrag zum Thema „Aufbau Ost“ geleistet.
({3})
Ich vermute, das Thema „Aufbau Ost“ ist der SPD
schlichtweg peinlich; denn nirgends sonst wird das Scheitern der rot-grünen Bundesregierung so deutlich wie bei
der angeblichen Chefsache Aufbau Ost.
({4})
Es ist Ihnen aber dank der von uns beantragten Debatten
nicht gelungen, dieses Thema totzuschweigen.
({5})
Ich habe ja Herrn Schwanitz einmal den „Spindoctor der
Schweigespirale“ genannt. Ich weiß nicht, ob es so intelligent war, dass Sie geschwiegen haben. Auf jeden Fall
wollen Sie über den Aufbau Ost nicht reden.
Wenn ich mir das anschaue, was mir in den letzten Tagen aufgefallen ist, dann stelle ich fest: Es ist noch schlimmer. Deutschland - so hat es auch Kanzlerkandidat
Edmund Stoiber gesagt - hat ernste Probleme im Osten.
({6})
Es geht darum, dass alle in Ost- und Westdeutschland
diese Herausforderungen annehmen und sie gemeinsam
meistern.
({7})
Darüber zu schweigen schadet, weil es uns davon abhält,
die richtigen und notwendigen Schritte zu gehen. In einem
EU-Bericht, der in dieser Woche erschienen ist und der ja
wohl nicht ohne Zuarbeiten der Bundesregierung zustande gekommen ist, wird die Meinung verbreitet,
Deutschland habe in Europa nur deshalb die rote Laterne,
weil es solche Probleme im Osten habe.
({8})
Ich glaube, daran wird deutlich, dass Sie sich mit Hinweis auf die Probleme mit der deutschen Einheit und auf
das geringere Wirtschaftswachstum im Osten Deutschlands dafür zu entschuldigen versuchen, dass Sie eine
schlechte Politik für den ganzen Standort Deutschland
machen, also nicht nur für die alten, sondern auch für die
neuen Bundesländer.
({9})
Sie sollten sich einmal vor Augen führen, welche Wirkung es hat, wenn Sie behaupten: Nur wegen des Ostens
stehen wir so schlecht da. Soll denn in Deutschland quasi
wie in Italien nur noch der Norden zählen? Wird es dann
vielleicht auch in Deutschland eine Liga Nord geben?
Sollen vielleicht Süditalien und Sizilien bei der Berechnung des Wirtschaftswachstums in Italien nicht berücksichtigt werden? So können wir in Deutschland doch nicht
rechnen! Die Wachstumsraten sind zum Beispiel auch in
Ostfriesland niedriger als in anderen Regionen. Eine solche Entschuldigung lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Im Wahlkampf 1998 haben Sie noch von der Chefsache Aufbau Ost gesprochen. Im Wahlkampf 2002 gibt es
nur noch die Ausrede Ost. Auch damit kommen Sie bei
uns nicht durch.
({10})
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt ansprechen,
der in der letzten Woche eine Rolle gespielt hat und der
auch mit dem Osten zu tun hat. Deutsche Außenpolitik
findet jetzt offenbar in der Talkshow von Alfred Biolek im
Nationaltheater in Weimar statt. Es ist nicht sehr witzig,
wenn der Moderator fragt, ob es bei der Stasi und dem
KGB in etwa so zugegangen sei wie bei James Bond. So
war die DDR nicht! Die Stasi und der KGB waren für
viele Menschen in der DDR existenzbedrohend und -vernichtend. So witzig kann man Politik nicht abhandeln.
({11})
Ich finde es auch etwas verwunderlich, wenn sich der
russische Präsident beim Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland bedankt und ihn als anständigen Menschen bezeichnet,
({12})
weil er nicht nur einen Kontakt zu einer ehemaligen StasiFreundin ermöglicht hat, sondern diese Stasi-Freundin, die
die Frau des ehemaligen Chefs der Staatssicherheit in Dresden ist, auch zum Staatsbesuch einlädt, damit Putin gemeinsam mit ihr auf einem Dampfer die Elbe entlangfahren
kann. So geht das nicht. Sie müssen sich einmal klarmachen,
was für Fragen einige SED-Opfer und andere stellen.
({13})
Sie können doch nicht behaupten, dass da eine neue Männerfreundschaft zwischen Putin und Schröder entsteht.
Mir wurde die Frage gestellt, ob sich Putin als Schröders
neuer Führungsoffizier profiliert. So kommt das an. Das
ist die Realität.
({14})
Wir haben unseren Antrag, über den wir vor kurzer Zeit
hier beraten haben, mit dem Titel „Deutschland 2015“
überschrieben. Sie wissen, dass es uns darum geht, einen
zweiten Anlauf für den Aufbau Ost unter der Überschrift
„Im Osten was Neues“ zu wagen.
({15})
Lassen Sie mich über das Thema „befristete Öffnungsund Experimentierklauseln“ sprechen. Durch befristete
Öffnungs- und Experimentierklauseln soll mehr Freiheit für eigene Wege in den neuen Bundesländern geschaffen werden.
({16})
- Das werden wir sehen. Herr Küster, seien Sie doch einmal ruhig und hören Sie einfach zu! Ein Minister, der der
SPD angehört, erklärt immer nur - das wissen Sie ganz
genau -, warum etwas nicht geht. Verfassungsrechtlich
betrachtet befinden wir uns auf der sicheren Seite. Es ist
keineswegs richtig, dass die Landesregierungen von
Sachsen oder eines anderen Landes behaupten, das gehe
nicht. Wir arbeiten daran, Vorschläge für die konkrete
Umsetzung vorzulegen.
({17})
Edmund Stoiber hat keineswegs eine Sonderwirtschaftszone für den Osten gefordert. Vielmehr hat er Sonderregelungen gefordert, um schneller dorthin zu kommen, wo
wir alle in Deutschland hinkommen müssen. Wir sind ja
bereit, in den neuen Bundesländern voranzugehen.
({18})
Geben Sie uns befristet - wenn es klappt, für immer
und vielleicht nicht nur in den neuen Bundesländern - die
Möglichkeit, überflüssige Bundesregelungen und -gesetze außer Kraft zu setzen, Bürokratie abzubauen sowie
Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren zu
vereinfachen! Geben Sie uns die Möglichkeit, einfach
schneller sein zu können, was heute fast die wichtigste
Voraussetzung ist, wenn Sie in der Wirtschaft vorankommen wollen!
({19})
- Sie können gern mit Ihrem Ministerpräsidenten darüber
reden.
({20})
- Herr Fornahl, wir sollten Herrn Milbradt erst einmal
dazu gratulieren, dass er gewählt wurde. Glückwunsch an
Herrn Milbradt!
({21})
Eigentlich wollten wir heute über Sachsen-Anhalt reden. Wir sind die Einzigen, die hier keinen Wahlkampf betreiben. Natürlich weiß ich, dass Herr Höppner mit seiner
rot-roten Regierung nie den Mut aufbringen wird, Bürokratie abzubauen, sich selbst zurückzunehmen, zu dezentralisieren und eigene Verantwortung im Land zu übernehmen.
Natürlich gibt es aber auch andere, CDU-geführte Bundesländer, wo das gemacht werden wird. Deshalb möchte ich
darauf hinweisen, dass wir diese unkonventionellen Lösungen wollen. Wir sind sicher, dass das Schule macht
und ein Beispiel für die alten Bundesländer sein kann.
({22})
Wir sollten in diesem Haus gemeinsam politische Entscheidungen treffen und nicht nur Verwaltungs- und Ministerialbürokratien fragen, was geht und was nicht geht.
Ich hätte mich gefreut, wenn Herr Schwanitz und Herr
Höppner nicht die Ersten gewesen wären, die die Hand
heben und sagen: Das funktioniert alles nicht und ist
verfassungsrechtlich bedenklich. Lassen Sie uns prüfen,
was davon möglich ist. Ich bin sicher, es geht eine ganze
Menge, und dann kommen wir wieder voran.
({23})
In unserem Antrag wurde die Lohnangleichung mit
diesem Punkt in Zusammenhang gebracht. Wir haben uns
dafür ausgesprochen, die Lohnangleichung bis 2007
schrittweise um jeweils zwei Prozentpunkte, zumindest
für Bundesbedienstete, sicherzustellen. Sie wissen, dass
das in Berlin besonders wichtig ist. Herr Schily zahlt im
Innenministerium 100 Prozent West. Herr Bodewig darf in
der Invalidenstraße im Bezirk Mitte - ehemaliger Osten nur den Osttarif zahlen und es höchstens hintenherum
ausgleichen. Das kann nicht vernünftig sein; das kann
nicht ewig so bleiben. Man müsste die Angleichung eigentlich noch viel schneller vorantreiben. Wir sollten uns
aber wenigstens vornehmen, die Angleichung bis 2007
umzusetzen. Ich finde, dass die Mitarbeiter, die im Bundesumweltamt in Dessau arbeiten, das Gleiche verdienen
sollten wie die Mitarbeiter, die im Bundesarchiv in Koblenz, an einem Gericht in Koblenz oder in Karlsruhe arbeiten. Die Menschen in Erfurt brauchen das Geld genauso wie diejenigen in Karlsruhe.
Das ist eine Möglichkeit, die Kaufkraft in den neuen
Bundesländern, die in den besten Regionen des Ostens
schlechter ist als in den schlechtesten Regionen des Westens, zu stärken. Ich weiß, dass das Druck auf die Wirtschaft mit sich bringt. Ich sage aber ganz deutlich: Insgesamt werden wir als Niedriglohnland im Osten keine
Chance haben. Wir müssen für die besten Kräfte in
Deutschland im Osten eine Heimat schaffen und deshalb
eine gute Bezahlung anbieten.
({24})
Warum habe ich das Thema Lohnangleichung noch
einmal aufgegriffen? Mit viel Pomp haben Sie am
10. März einen Sonderparteitag in Magdeburg organisiert.
Herr Höppner und der Bundeskanzler verkündeten: Auch
wir sind für Lohnangleichung bis 2007. - Was ist letzte
Woche bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr in
Hannover passiert, als der Kanzler darauf angesprochen
wurde? - Alles einkassiert! Gibt es nicht! Geht nicht!
Nicht bezahlbar! Machen wir nicht!
({25})
Insofern, Frau Kaspereit, haben Sie im Ausschuss ja
schon gesagt, dass der Kanzler lügt. Sie müssen sich dazu
schon noch einmal erklären. Wie ist denn nun der Stand
bei der Lohnangleichung? Sie haben die Möglichkeit,
dazu noch einmal Stellung zu nehmen. Ich hätte mich gefreut, Sie hätten es gleich gemacht.
({26})
Herr Kollege Nooke,
die Kollegin Kaspereit hat hierzu eine Frage.
({0})
Ich habe nur eine sehr
kurze Frage: Herr Nooke, wären Sie unter Umständen bereit, zurückzunehmen, dass ich gesagt hätte, der Kanzler
lüge?
Frau Kaspereit, Sie haben im Ausschuss gesagt, Sie sähen das anders als der
Kanzler; das werde nicht funktionieren. Das waren Ihre
Worte.
Ich möchte noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen.
({0})
- Ich habe doch akzeptiert, dass sie nicht gesagt hat, der
Kanzler lüge, sondern dass sie gesagt hat, der Kanzler
sehe es so, wie sie es nicht sehe,
({1})
und dass sie der Meinung ist, es werde nicht funktionieren.
Dazu müssen Sie als stellvertretende Fraktionsvorsitzende
schon stehen. Wir sitzen gemeinsam im Ausschuss. Da
müssen Sie halt aufpassen, was Sie sagen, Frau Kaspereit.
({2})
„Infrastruktur“ ist ein wichtiges Thema. Ich möchte
noch einmal darauf hinweisen, dass der Bund seine Zuständigkeit für Fernstraßen, Schienenwege und Wasserstraßen zwischen 1991 und 1999 mit Investitionen
von rund 43 Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur
der neuen Bundesländer wahrgenommen hat. Dies entspricht 42 Prozent der gesamten Investitionen des Bundes
in die Verkehrswege in diesem Zeitraum.
Darin ist auch die Förderung von Investitionen in das
Verkehrswegenetz der Länder und Kommunen und in Verkehrsknoten, also Hafenumschlagsanlagen, Anlagen des
kombinierten Verkehrs usw., enthalten. Im Bereich der
Verkehrsinfrastruktur der Länder und Kommunen kommt
der Aufholprozess, den wir dringend brauchen, in den letzten Jahren nur ganz langsam voran. Der Bund beteiligt sich
an den Investitionen über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Das DIW hat jetzt ausgerechnet, dass der
Wert der Straßeninfrastruktur in den ostdeutschen Ländern
im Jahr 2005 nur 60 Prozent des Niveaus der westdeutschen Bundesländer erreicht haben wird. Das ist immer
noch bedrückend; denn wir wissen ja: Infrastrukturausbau
ist das Wichtigste, was wir als Wirtschaftsförderungs- und
Ansiedlungspolitik tun können. Es ist ja nicht Herr
Tiefensee aus Leipzig, der große Projekte an Land gezogen hat, sondern es sind die Autobahnen und die Flughäfen, die zum Beispiel BMW dahin gebracht haben.
({3})
- Natürlich auch die sächsische Landespolitik, die dafür
gesorgt hat, dass da investiert wird.
({4})
Die ostdeutschen Städte müssen nach Angaben des
Deutschen Städtetages wegen der kritischen Finanzlage
ihre Investitionen drastisch zurückfahren. Sie können die
Investitionen in die Infrastruktur ohne Hilfe von außen
nicht leisten. In diesem Jahr werden die Kommunen in
den neuen Bundesländern voraussichtlich 8,5 Prozent weniger investieren als im Vorjahr. 2001 betrug der Rückgang 7 Prozent. Die Hauptursache für den Rückgang im
vergangenen Jahr ist, denke ich, der dramatische Einbruch
bei der Gewerbesteuer. In 2001 haben die ostdeutschen
Städte durchschnittlich 17,5 Prozent weniger Gewerbesteuer eingenommen als im Vorjahr. Auch hieran wird
deutlich, wie wichtig es wäre, unserer Forderung nach einer kommunalen Infrastrukturpauschale zu entsprechen,
so wie sie schon im Sonderprogramm von Bernhard
Vogel, dem Thüringer Ministerpräsidenten, vor einem
Jahr vorgeschlagen wurde.
Ein letzer Punkt. Die Beseitigung des Wohnungsleerstandes wird meines Erachtens im Antrag der FDP nicht
deutlich genug angesprochen. Das ist in der Tat kein ganz
einfaches Thema. Der Punkt „Wohnungsbau und Eigentumsentwicklung stärker fördern“ ist in der Sache schon
richtig. Nur: Die Forderung, die Nachfrage nach Wohnungen in Ostdeutschland - Frau Pieper hört jetzt leider
nicht zu - durch eine Wohngelderhöhung um 900 Millionen DM anzukurbeln, geht meines Erachtens in die
falsche Richtung. Wir müssen nicht mehr Geld in das System Wohnungsbau hineingeben, glaube ich, sondern wir
müssen das Geld, das darin ist, intelligenter verteilen.
({5})
Die Situation ist ja klar; aber wir können uns nicht damit
herausreden, dass wir damit die Bauwirtschaft ankurbeln
können.
Wir waren bei der Förderung und den Abschreibungsmöglichkeiten fast zu erfolgreich. Beim Wirtschaftsgut
Wohnung hat es einen Umschwung vom Vermieter- zum
Mietermarkt gegeben. Wir hatten auch 1990 schon einen
erheblichen Leerstand. Aber er ist unter Ihrer Regierung
weiter gestiegen, in fast schon unermessliche Höhen.
({6})
Die Kosten bei der Verwaltung der Wohnungen sind
kontinuierlich gestiegen; aber die Eigenkapitalquote
der Wohnungsunternehmen ist in den letzten Jahren
kontinuierlich gesunken. Die Verschuldung je Quadratmeter Wohnfläche hat sich seit 1993 somit mehr als verdoppelt und liegt jetzt im Durchschnitt bei 600 DM pro
Quadratmeter. Das gefährdet natürlich die Ertragskraft
der Unternehmen extrem. Ein Wirtschaftsgut, das dauerhaft keinen Ertrag abwirft, verliert an Wert. Es ist dann
langfristig kein Aktivposten mehr, sondern eine Belastung. Man kann nicht nur mit historischen Anschaffungspreisen oder Substanzwerten operieren. Irgendwann muss
auch die Mietsituation der neuen Länder in die Berechnung eingehen; dann wird das durchschlagen.
Lässt man die Wohnungsunternehmen in die Insolvenz
trudeln - das sollten wir hier auch ganz klar sagen -, stellt
sich die Frage, was dann gewonnen ist. Bei unsicherer Situation der Unternehmen können auch die Sparkassen und
die Regionalbanken in erhebliche Turbulenzen geraten.
Das hätte wiederum nicht auszudenkende Folgen für die
Kommunen in den neuen Bundesländern. Wenn man einen Überschuss an Wohnungen hat, hilft es nicht, wie in
vielen Regionen, neue Wohnungen zu bauen, sondern
man muss schauen, dass das öffentliche Geld besser verteilt wird.
({7})
Wir müssen im Mietwohnungsbau auch über Rückbau reden, deutlicher gesagt: Es geht um Abriss dessen,
was nicht gebraucht wird, von der Peripherie her. Selbstverständlich können wir nicht im Kern- bzw. Innenbereich der Städte einfach wahllos abreißen.
({8})
Ich will noch einmal deutlich sagen, dass es viel besser
wäre - ich habe ja vorhin von Öffnungsklauseln und mehr
Freiheit für eigene Wege in den neuen Bundesländern gesprochen -, wenn die Länder das Wohngeld - für alle, die
es noch nicht wissen: Es ist jeweils hälftig vom Bund und
von dem entsprechenden Land zu finanzieren - ganz zur
Verfügung hätten und damit eigenständig Politik machen
könnten. Dann wäre es zum Beispiel auch leichter, Mieter
aus einzelnen Bereichen umzusiedeln oder umziehen zu
lassen.
({9})
- Ja, umsiedeln, in dem Sinne, dass man den Mietern billigere Wohnungen anbietet und so weniger öffentliches
Geld hereingibt, um dann dort zu sanieren oder abzureißen, wo es in das Konzept der Stadterneuerung in den
neuen Bundesländern passt. Hier sind wirklich intelligentere Lösungen zur Verbesserung des Wohnumfeldes möglich.
({10})
Wir müssen natürlich unsere Städte so erneuern, dass
junge Leute auf Dauer - über Abwanderung wurde ja
schon gesprochen - Lust haben, im Osten zu bleiben und
zu wohnen.
({11})
Ein verbessertes Wohnumfeld zieht immer Manager und
andere Leute an, ein schlechtes schreckt ab.
({12})
Auch auf diese Weise kann ein Imagegewinn des Ostens
erzielt werden.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Wir brauchen
einen zweiten Anlauf, einen neuen Kraftakt für den Aufbau Ost, einen Aufschwung, der möglichst alle Regionen
erreicht und nicht nur punktuell wirkt. Ich habe jetzt über
das, was erreicht wurde, nicht so laut gesprochen.
({13})
Es war auch nicht nötig, weil das in Sachsen-Anhalt, wo
am nächsten Sonntag Wahl ist, nicht vorkommt.
Herr Kollege Nooke,
Sie hatten den Schluss angekündigt. Ihre Redezeit ist gut
überschritten.
({0})
Ja, ich komme zum
Schluss. - Wir kommen nur dahin, wenn wir den Mut haben, die Verantwortung nicht nur für das, was gut, sondern
auch für das, was schlecht gelaufen ist, zu übernehmen.
Am Sonntag übernehmen Sie bitte die Verantwortung für
das, was in Sachsen-Anhalt schlecht gelaufen ist. Wir
werden am 22. September die Verantwortung in Deutschland übernehmen, damit es wieder besser läuft.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der
Minister der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt,
Wolfgang Gerhards.
Wolfgang Gerhards, Minister ({0}):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich
wollte ich erst später reden und mich dabei darauf beschränken, darzustellen, wie ein ostdeutscher Finanzminister versucht, die Probleme in den Griff zu bekommen.
Aber Frau Pieper und auch Herr Nooke haben diese Debatte nun als Wahlkampfplattform benutzt und ein paar
Unfreundlichkeiten über das Land gesagt. Ich komme
nicht umhin, das zunächst klarzustellen, und zwar relativ
früh in der Debatte, damit sich da nichts Falsches festsetzt.
Frau Pieper, Sie haben ein paar Sachen gesagt. Dazu
kann ich nur sagen: Bestenfalls trübt Sie Ihre Erinnerung.
Deshalb möchte ich einiges klarstellen. Sie haben sich am
Schluss Ihrer Rede noch einmal dazu geäußert, wie Sie für
eine anständige Kinderbetreuung und für ein gutes
Hortgesetz gekämpft haben. Vergessen haben Sie da,
dass Sie dabei zusammen mit der CDU immer schöne
Standards gesetzt haben, aber die Finanzierung nicht gesichert haben.
({1})
- Gell. - Das hat zur Folge gehabt - darauf wird Herr
Claus später sicherlich auch noch eingehen -, dass wir zusammen mit der PDS große Mühen gehabt haben, die Erwartung der Eltern, die Sie über Jahre hinweg geschürt haben, zu reduzieren und dafür zu sorgen, dass das
überhaupt finanzierbar wird.
Wie schwierig das gewesen ist, haben wir bei Bürgerinitiativen gesehen, hinter denen auch Herrschaften aus
verschiedenen Parteien gestanden haben, die versucht haben, die Wahrheit zu verschleiern, und auch gegen die Interessen mancher Beschäftigten nicht akzeptiert haben,
dass man von den Standards wieder herunterkommen
musste. Rechtsansprüche schaffen und die Finanzierung
nicht sicherstellen ist eine schöne Nummer, die Sie im
Wahlkampf machen können; aber dass Sie uns auch jetzt
noch, nach Jahren, erzählen, wie gut das gewesen sei,
zeigt, dass Sie auf dem Weg über Berlin zur Ministerpräsidentenkandidatur irgendwann die Wahrheit vergessen haben.
({2})
Das geht dann noch weiter - das richte ich auch
an Herrn Nooke -: Sie haben uns, als Sie 1994 abgewählt
worden sind, etwas hinterlassen, nämlich eine Verwaltungsstruktur, die die schlechteste in ganz Ostdeutschland war. Wir haben große Mühen, diese jetzt einzustampfen. Sie haben eine zu kurz gesprungene
Gebietsreform inszeniert, sodass wir noch immer viel zu
kleine Kommunen haben und deren Zahl bis 2005 durch
Änderungen in unserer kommunalen Gebietsstruktur mit
aller Mühe drastisch reduzieren müssen. Das Gleiche gilt
für die Funktionalreform, die wir durchführen müssen,
weil die Verwaltung in Sachsen-Anhalt über Jahre hinweg
kleinteilig und unübersichtlich aufgebaut worden ist. Das
war auch in anderen Ländern der Fall; diese haben aber
rechtzeitig die Notbremse gezogen und das nicht so laufen lassen. Wir jedoch haben einen völlig überbesetzten
Verwaltungsapparat geerbt. Der Personalstand war in
Sachsen-Anhalt noch höher als in anderen Ländern.
Auch dieses müssen wir korrigieren. Die Erste, die sich
an der Spitze dagegen stellt, ist die CDU. Auch das muss
man einmal sagen, Herr Nooke. Ihr Parteifreund Becker,
der bis vor zwei Jahren seine Mitarbeit signalisiert hat, ist
der Erste, der im Lande Sachsen-Anhalt, je näher die
Landtagswahl rückt, dagegen kämpft, dass wir eine ernsthafte Funktionalreform durchführen. Das ist die Wahrheit.
({3})
Das Dritte, das man einmal sagen muss: Sie haben auf
die Bildungslandschaft abgehoben; das ist richtig. Aber
Sie haben uns eine katastrophale Bildungslandschaft hinterlassen. Wir haben ein völlig ungegliedertes Hochschulsystem geerbt,
({4})
mit vielen Hochschulen, vielen Standorten, zwei medizinischen Fakultäten, einer Fachhochschullandschaft, die
wir jetzt mühsam profilieren müssen. Das alles gehört zu
dem, was Sie uns hinterlassen haben. Wie schwierig es ist,
das zu korrigieren, das wissen Sie nun wirklich selber.
({5})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vaatz?
Wolfgang Gerhards, Minister ({0}):
Aber bitte sehr.
Herr Minister, ich kann
mich im Augenblick nicht genau erinnern, wann Ihre
SPD/PDS-Regierung das erste Mal gewählt worden ist.
Können Sie das bitte noch einmal sagen?
Wolfgang Gerhards, Minister ({0}): Ich
nehme an, Sie wissen, dass das 1994 war.
1994? - Wenn ich jetzt
richtig rechne, hatten Sie also acht Jahre Zeit. Vielen
Dank.
({0})
Wolfgang Gerhards, Minister ({1}):
Wissen Sie, wie groß die Sünden sind, die wir abarbeiten
müssen? Da werden noch einmal vier Jahre erforderlich
sein, um das richtig hinzubekommen.
({2})
Wir haben Mühe, das, was Ihre Parteifreunde in vier Jahren vermasselt haben, in einem Jahrzehnt wieder zurückzudrehen.
Ich komme nun aber zu dem, weshalb ich eigentlich
hier in den Bundestag gekommen bin.
Herr Minister, bevor
Sie fortfahren: Es gibt noch eine Frage der Kollegin Späte.
Wolfgang Gerhards, Minister ({0}):
Bitte sehr.
Herr Minister, Sie haben eben davon gesprochen, dass der innenpolitische
Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Herr Curt Becker,
keine Funktionalreform wolle. Habe ich das so richtig
verstanden? Dann möchte ich Sie hier doch fragen, ob es
nicht tatsächlich so ist, dass gerade die CDU-Landtagsfraktion die Funktionalreform immer wieder einfordert,
die nämlich auf Länderebene noch nicht vollzogen wird
und für die es auch keine Ansätze gibt. Gebietsreformen
haben wir ja schon mehrfach hinter uns gebracht. Können
Sie mir sagen, inwieweit Sie als Minister in der
Landesregierung Sachsen-Anhalts eine Funktionalreform
real durchführen?
Wolfgang Gerhards, Minister ({0}):
Richtig. Wir haben schon einiges gemacht: Wir haben bereits eine Reihe von Behördenstrukturen umgebaut und
werden den Rest im Jahre 2005 angehen. Also sage ich
Ihnen noch einmal: Ihr Kollege Becker, den Sie genannt
haben, ist derjenige, der eine Funktionalreform gefordert hat, ganz wie Sie gesagt haben, weil er nämlich die
Strukturen seinerzeit mit verantwortet hat. Aber jetzt, da
wir sie wirklich durchführen, sagt er: Nein, so geht es
nicht, dieses Amt bitte nicht und jenes auch nicht. - Das
ist Ihre Art und die Art Ihrer Parteifreunde bei Verwaltungsreformen.
({1})
Mein Thema war aber ein anderes - darauf will ich
mich jetzt beschränken -: Was machen wir mit dem Solidarpakt II und wie gehen wir den Aufbau Ost an? Da
sage ich als Erstes: Wir haben im vergangenen Jahr durch
mühsame Verhandlungen, an denen auch ich beteiligt war,
die Grundlagen für den neuen Länderfinanzausgleich und
den Solidarpakt II geschaffen. Wir brauchen keine neuen
Sonderprogramme, wir brauchen keine Sonderfördergebiete und wir brauchen keine Ostnummern, sondern wir
haben das nötige Instrumentarium. Das haben wir gemeinsam entwickelt, zum Teil gegen den Willen der FDP.
Frau Pieper, Ihre Erinnerung ist da zumindest dünn. Die
FDP hat beim Solidarpaktfortführungsgesetz dagegen gestimmt.
({2})
Ihre Kollegin Frick hat dagegen gesprochen; ich könnte
Ihnen das hier vorlesen. Ich empfehle Ihnen, das Protokoll
der 206. Bundestagssitzung vom 30. November 2001 zu
lesen. Auf den Seiten 20 401 f. steht alles, was Frau Fricke
gesagt hat und warum Sie bei der Abstimmung dagegen
gestimmt haben.
({3})
- Sagen Sie nicht Nein; das ist doch so. Sie sind die Partei gewesen, die gegen das Solidarpaktfortführungsgesetz
gestimmt hat, in dem nun einmal die Grundlagen enthalten sind.
({4})
Wir brauchen keine Sonderregeln bezüglich Verfahren
und wir brauchen auch nicht dauernd frisches Geld. Wir
müssen vielmehr das fortzusetzen, was wir schon begonnen
haben. Ich habe in diesem Zusammenhang den Korb 2 bzw.
3 erwähnt: Wir brauchen künftig jährlich 10 Milliarden DM.
Es ist alles in trockenen Tüchern; wir kriegen das hin.
({5})
- Ja, das schaffe ich. Wir haben schon eine ganze Menge
erreicht. Sie müssten sich das selbst einmal anschauen
und nicht immer nur Ihre Parteifreunde fragen, die offensichtlich auch nicht vor Ort gewesen sind.
Was machen wir mit dem Geld? - Wir investieren in
die Infrastruktur. Herr Nooke, Sie haben wenigstens einen Satz dazu gesagt. Bei Frau Pieper ist dieses Thema Infrastruktur überhaupt nicht vorgekommen; ich habe nichts
davon gehört.
({6})
Wir müssen hauptsächlich in die Infrastruktur investieren
und da vor allen Dingen in den Straßenbau. Wenn
man zwei Stunden braucht, um die nächste Autobahn in
50 Kilometer Entfernung zu erreichen, dann ist das ein
Standortnachteil. Das muss ich nicht weiter erklären; das
haben alle begriffen.
({7})
Es gibt zusätzlich weiche Standortfaktoren wie Sozialeinrichtungen.
({8})
- Wir machen es ja, und wie! Wir bauen die Krankenhäuser, die Kindergärten und die Schulen aus. Das läuft sehr
gut. Jeder, der ins Land kommt, kann das sehen.
({9})
Eine Sache kann ich wirklich nicht mehr ausstehen: Sie
erzählen, dass das Land die rote Laterne habe, obwohl Sie
uns diese rote Laterne übergeben haben. Im Gegensatz zu
Ihnen machen wir nämlich eine ganze Menge.
({10})
Wenn Sie in unser Land kommen, dann können Sie sehen,
was wir getan haben. Erzählen Sie also den Menschen
nicht, es habe sich nichts bewegt!
Zweiter Punkt. Wir investieren in die Bildung. Wir
bauen die Hochschulen aus, sodass sie sich profilieren
können und schlagkräftig sind. Bildung ist nämlich der
Rohstoff für ein Land, das keine eigenen Rohstoffe hat
und in dem die Schwerindustrie weggebrochen ist. Wenn
die Bildungslandschaft ausgebaut wird, dann bleiben die
Menschen im Land und es ziehen noch andere Menschen
zu. Das funktioniert.
({11})
- Ja, eben.
Wir haben in diesem Jahr keinen Abiturjahrgang gehabt.
({12})
Die Folge ist, dass die Universitäten so voll sind wie noch
nie, weil wir nämlich inzwischen attraktive Hochschulstandorte bieten können.
({13})
Dadurch werden Menschen aus der ganzen Republik angezogen, die auch an diesen Orten bleiben. Genau das
brauchen wir.
({14})
Dritter Punkt. Wir brauchen eine Wirtschaftsförderung, die daran anknüpft. Es müssen also Betriebe gefördert werden, die wichtig für den Aufschwung sind. Darunter verstehe ich nicht jede kleine Klitsche, die sich mit
IT-Technologie beschäftigt. Dabei handelt es sich um innovative Betriebe, die mit den Hochschulen zusammenarbeiten und Netzwerke bilden. Auch wenn Sie es immer
schlechtreden, muss man ganz deutlich sagen: Dieses
funktioniert.
Die kleinen und mittleren Unternehmen - und nicht die
großen Leuchttürme, deren Zeit vorbei ist; auf ein paar
Ausnahmen komme ich gleich noch zu sprechen - bilden
die Basis für den Aufschwung und für die Schaffung von
Arbeitsplätzen. Wir unterstützen zielgerichtet - und nicht
mit der Gießkanne - Existenzgründer, aber nicht auf Kosten der vorhandenen Unternehmen. Man muss sich genau
anschauen, wo man fördern will.
({15})
Man darf nicht weitere Elektrobetriebe fördern, wenn
schon genug vorhanden sind.
Man muss eine Branche auswählen, in der Existenzgründer gefördert werden sollen, damit sie in dieser Branche Fuß fassen können und damit sie die ersten fünf Jahre
überstehen. Vielleicht muss man ihnen in der zweiten
Phase, also in den nächsten fünf Jahren, noch einmal Geld
zur Verfügung stellen. Das ist ein wichtiger Punkt.
Vierter Punkt. Wir vermitteln den Unternehmen Knowhow, weil uns eine ganze Unternehmergeneration fehlt. Es
gab in Ostdeutschland keine Kinder, die im Gespräch mit
den Eltern gelernt haben, wie man einen Betrieb führt,
und denen berichtet wurde, welche Sorgen ein Unternehmer hat. Dieses Defizit müssen wir mühsam aufarbeiten.
Bezüglich des Know-how ist das der größte Nachteil gegenüber Westdeutschland. Wir müssen an dieser Stelle
ansetzen und konsequent darangehen, Know-how zu vermitteln.
({16})
Darüber hinaus gibt es bei den Investitionen ein paar
Punkte, die sehr wichtig sind und bei denen uns auch die
Bundesregierung hilft. Der erste Punkt betrifft Ammendorf. Jeder weiß, wie schwierig es gewesen ist, den Waggonstandort in Halle-Ammendorf am Leben zu erhalten
und dafür zu sorgen, dass er nicht kaputtgeht. Ich muss
ausdrücklich sagen: Der Bundeskanzler hat zusammen
mit der Bundesregierung das Nötige getan, um da zu helfen.
({17})
Derjenige, der als Erster gesagt hat, das werde niemals
funktionieren und das sei eine Luftnummer, war Ihr Kollege, dieser Superwirtschaftswissenschaftler, der vor einigen Jahren die Bundesbahn zugrunde gerichtet hat. Das ist
die Wahrheit.
({18})
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Frage des Kollegen Vaatz?
Wolfgang Gerhards, Minister ({0}):
Aber bitte sehr.
Herr Minister, hier ist, anknüpfend an Ihre Aussagen zur Bildungssituation in Sachsen-Anhalt, kürzlich das Gerücht aufgetaucht, dass das
Minister Wolfgang Gerhards ({0})
Land Sachsen-Anhalt aus Sparsamkeitsgründen plane,
das 14. Schuljahr einzuführen. Trifft das zu?
({1})
Wolfgang Gerhards, Minister ({2}):
Herr Vaatz, ich finde, es ist unter Ihrem Niveau, über
Gerüchte zu diskutieren. Ich muss einmal deutlich sagen:
Wir sollten über Fakten sprechen und nicht über
Gerüchte. Ihre Äußerung finde ich ein bisschen peinlich.
({3})
Zum nächsten Punkt. Eine weitere große Investition ist
geplant. Gestern habe ich mit Freude vernommen, dass
auch der Bund nunmehr bereit ist, eine Bürgschaft zu
übernehmen, um das Zellstoffwerk in Arneburg zu installieren. Das wird ein bedeutender Beitrag für die Schaffung von langfristig gesicherten Arbeitsplätzen in der Region Altmark sein, wo es ganz besonders kneift. Das ist
die Art der Investitionsförderung, die wir betreiben. Denn
davon hängt sehr viel ab. Wenn diese Investition in die Tat
umgesetzt wird, haben wir einen großen Treffer erzielt.
({4})
Es ist sehr wichtig, dass man sich auf Branchen konzentriert, in denen das möglich ist; das habe ich vorhin
schon erklärt. Sie haben gefragt, was wir tun. Darauf antworte ich: Das ist das, was wir zusammen mit der Bundesregierung tun. Ich hoffe, dass das so bleibt.
({5})
Ich komme zum letzten Punkt; denn als Gast möchte
ich meine Redezeit und Ihre Aufmerksamkeit nicht überstrapazieren. Wir haben im Augenblick noch ein Projekt,
an dem unsere Landesregierung zusammen mit der sächsischen arbeitet. Dies ist ein ganz bedeutsames Projekt,
das für die Zukunft sehr entscheidend sein kann. Es handelt sich um die Spallationsneutronenquelle, die wir
zwischen Halle und Leipzig länderübergreifend, also auf
der Ländergrenze, ansiedeln wollen. Beide Länder haben
sich dazu entschlossen; denn die ostdeutschen Länder
können - auch über Parteigrenzen hinweg - gut zusammenarbeiten.
({6})
Hier befinden wir uns in einem nationalen und internationalen Wettbewerb. Nationaler Wettbewerber ist der
Standort Jülich in Nordrhein-Westfalen. Frau Pieper ist im
August des vergangenen Jahres dort gewesen und hat gesagt, den Standort Jülich halte sie für richtig. Das sei der
Standort, den sie bevorzuge.
({7})
Jedenfalls stand dies so in der Zeitung und ich gehe davon
aus, dass es stimmt. Frau Pieper, ich frage Sie als Generalsekretärin, die, da sie Ministerpräsidentin werden will
und auch bei der Wahl in Sachsen-Anhalt 18 Prozent erreichen möchte, besser mehr General und weniger Sekretärin sein sollte: Können Sie mir erklären, warum Sie
dafür sind, dass die Spallationsneutronenquelle in Jülich
angesiedelt wird und nicht in Halle-Leipzig?
({8})
Damit ich nicht mit Fragen schließe, will ich mich ausdrücklich dafür bedanken, dass in den vergangenen Jahren
die Zusammenarbeit zum einen bei der Geldbeschaffung,
was den Solidarpakt II angeht, und zum anderen bei der
Umsetzung sehr gut geklappt hat. Gestatten Sie mir im
Hinblick auf den Wahlkampf auch noch Folgendes: Ich
hoffe, dass die Situation sowohl im Bund als auch im Land
so bleibt und wir die erfolgreiche Arbeit fortsetzen können.
Danke sehr.
({9})
Zu einer
- bitte wirklich kurzen - Kurzintervention gebe ich der
Kollegin Cornelia Pieper das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fühle mich zu dieser Intervention gezwungen, da Herr Gerhards genauso wie Frau Kaspereit
der FDP unterstellt hat, sie habe dem Solidarpakt II am
5. Juli 2001 nicht zugestimmt. Ich möchte dazu feststellen: An diesem Tag - ich habe den entsprechenden Stenographischen Bericht in Händen - hat Frau Gisela Frick als
steuerpolitische Expertin der FDP gesprochen.
({0})
Damals ging es um das Maßstäbegesetz, das wir vom
Grundsatz her abgelehnt haben. Ich zitiere jetzt aus dem
Stenographischen Bericht:
Ich möchte ganz klar betonen, dass das nicht bedeutet, dass wir alle Abmachungen im Einzelnen ablehnen, insbesondere die nicht, die die Solidarität mit
den neuen Ländern, also den Solidarpakt II, betreffen. Das ist hier gerade nicht das Thema. Es ist ganz
selbstverständlich, dass immer wieder versucht wird,
das in dieser Form umzumünzen. ... Wir stehen zur
Solidarität mit den neuen Ländern; das ist bekannt.
Wir wissen und unterstützen, dass weiterhin Finanzleistungen in die neuen Länder fließen.
({1})
Ich verwahre mich dagegen, dass diese Anschuldigungen immer wieder hier im Plenum und auch außerhalb
von Berlin gemacht werden. Sie sind nicht richtig.
Zudem soll die Spallationsneutronenquelle, Herr
Minister Gerhards, nach Sachsen-Anhalt; ich weiß das. Es
gibt auch noch den Bewerber Jülich als Forschungsstandort. Entschieden wird das alles erst im Jahre 2003. Ich
kann Ihnen nur sagen: Ich bin darüber mit Wissenschaftlern an der Martin-Luther-Universität im Gespräch. Zu
dem Zeitpunkt, als sich Jülich um dieses europäische Forschungsprojekt beworben hat, wussten die noch nichts
von dem Ansinnen der Landesregierung, sich daran gemeinsam mit Sachsen zu beteiligen.
Sie sollten Ihre Informationspolitik gerade gegenüber
den Bundestagsabgeordneten aus den neuen Ländern, besonders aus Sachsen-Anhalt, überdenken. Wenn sie anders wäre, könnte man gemeinsam vieles auf den Weg
bringen. Dadurch, dass Sie eine solch schlechte Informationspolitik machen, verhindern Sie, dass in Sachsen-Anhalt ein guter Forschungsstandort entsteht. Das ist die
Wahrheit.
({2})
Zur Erwiderung gebe ich das Wort dem Finanzminister Wolfgang
Gerhards.
Wolfgang Gerhards, Minister ({0}): Es
tut mir Leid, Frau Pieper, ich muss darauf antworten. Das
Erste ist: Was immer Sie über Professoren erzählen, die
das offenbar nicht gewusst haben, ändert nichts daran,
dass Sie sich für Jülich ausgesprochen haben. Das wollen
wir einmal klarstellen.
Zweiter Punkt. Wenn Sie gestatten, Herr Präsident,
werde ich jetzt aus dem Protokoll zitieren, damit ich
nichts falsch mache. Es ist das Protokoll der 206. Sitzung
des Deutschen Bundestages, Freitag, 30. November 2001,
Seite 20 401. Es spricht für die FDP-Fraktion die Kollegin Professor Gisela Frick zum Solidarpaktfortführungsgesetz. Das ist das eigentlich spannende Gesetz gewesen.
Sie hat unter anderem gesagt, es handle sich gegenüber
dem bisherigen Rechtszustand um eine
nochmalige Verschlechterung und keine Verbesserung. Wenn wir uns als FDP der Zustimmung zu diesem Gesetz verweigern ..., dann ist das nicht auf
bösen Willen zurückzuführen ...
Sie haben sich also dagegen ausgesprochen. Das zweite
Zitat - ich lese ja jetzt nur vor, was seinerzeit gesagt worden ist -:
Sie werden verstehen, dass die FDP-Fraktion dieses
Solidarpaktfortführungsgesetz ablehnt.
Das ist der Orginaltext des Protokolls.
({1})
Wir reden jetzt nicht über das Maßstäbegesetz; wir reden
jetzt über das Solidarpaktfortführungsgesetz. In ihm sind
die 206 Milliarden enthalten, um die es geht, und nicht im
Maßstäbegesetz.
Dritter Punkt. Auf der Seite 20 408 C ist das Abstimmungsergebnis dokumentiert. Da heißt es dann: „Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? -“. Dann folgt die Feststellung der amtierenden Präsidentin: „Kollege Fromme
und die FDP-Fraktion stimmen dagegen.“
Ich nehme doch an, dass dieses Protokoll korrekt ist.
Deshalb sage ich noch einmal: Sie haben dagegen gestimmt; Sie haben Gründe gehabt. Sie haben sie genannt.
Die können Sie heute für falsch halten, aber stellen Sie das
doch nicht in Abrede.
({2})
Ich gebe
nunmehr für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
das Wort der Kollegin Steffi Lemke.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein wahlkampftaktisch platzierter Antrag bringt uns heute
zum wiederholten Male eine Ostdebatte. Ich glaube allerdings nicht, Frau Pieper, dass sie den Osten voranbringt.
Ich glaube zwar an die Kraft des Wortes, aber nicht daran,
dass Sie durch monotone Wiederholung Ihrer Phrasen den
Osten voranbringen.
({0})
Ihre Fraktion hat Ihnen den Weg für einen Antrag geebnet, den Sie hier für einen Showauftritt als Ministerpräsidentin in spe benutzen können. Ich prophezeie Ihnen,
dass dieser Fallschirm, den Sie Sachsen-Anhalt als Rettung anbieten, am Sonntag nicht aufgehen wird. Ihr Auftritt heute war blass. Bereits vor vier Wochen hat Ihnen
mein Kollege Werner Schulz bestätigt, dass der Neuigkeitsgehalt Ihrer Aussagen weit unterhalb der 18-ProzentMarge liegt.
({1})
Die 18 Prozent entschwinden immer weiter am Horizont.
Verehrte Kollegen von der Opposition, ich glaube, Sie
tun sich selbst, den neuen Bundesländern und dem Land
Sachsen-Anhalt keinen Gefallen, wenn Sie einen Standort
kleinreden, den Sie eigentlich groß machen wollen.
({2})
Sie wissen genauso gut wie wir alle hier im Saal, dass die
positiven Wirtschaftsdaten in Sachsen-Anhalt und den anderen neuen Bundesländern vom Auftragsrückgang in
der Bauwirtschaft überlagert werden und dass uns in erster Linie die Bauwirtschaft die negativen Wirtschaftsdaten im Osten beschert. Ich finde, dass zur Ehrlichkeit in
der Politik gehört, dass Sie dafür die Verantwortung übernehmen. CDU und FDP haben dieses Problem geschaffen. Durch Ihre falsche Förderpolitik, durch die Sonderabschreibung Ost, ist dieses Problem entstanden.
({3})
Sie haben von 1990 bis 1998 durch ein falsches Steuersparmodell in den neuen Bundesländern Kapazitäten in
der Bauwirtschaft aufgebaut, die an jeder Realität vorbei
gegangen sind und die uns inzwischen Investitionsruinen
in den neuen Bundesländern en masse beschert haben
({4})
und die zusätzlich dazu geführt haben, dass die Kommunen und die Länder an den Rand der maximal möglichen
Verschuldung getrieben wurden, weil sie versucht haben,
diese Maßnahmen kozufinanzieren.
Ich will die Situation in meiner Heimat nicht schönreden,
aber mit einer vollkommen undifferenzierten Schwarzmalerei, wie Sie sie seit Monaten, jetzt mit Ihrem Kanzlerkandidaten Stoiber an der Spitze, betreiben, schaden Sie dem
Osten.
({5})
Lassen Sie sich von Wirtschaftsexperten erklären, welch
negative Auswirkungen solche Schwarzmalerei auf die
Wirtschaft in den neuen Ländern hat. Ihre Rote-LaterneKampagne - Ihr Kanzlerkandidat Stoiber sagt, Deutschland trägt die rote Laterne in Europa
({6})
und Sachsen-Anhalt in Deutschland - schadet, und als ob
Sie nicht genug davon kriegen könnten, ergötzen Sie sich
wöchentlich an diesen Tatbeständen.
({7})
Was hat Rot-Grün für den Aufbau Ost durchgesetzt?
Die bedeutendste Entwicklung für die neuen Bundesländer ist der Erfolg bei der Fortführung des Solidarpakts.
({8})
Wir haben mit 150 Milliarden Planungssicherheit und die
finanziellen Grundlagen für den Aufbau Ost bis 2020 geschaffen. Sie haben daran nicht mitgewirkt, Sie haben die
Verhandlungen über den Solidarpakt II nicht konstruktiv
begleitet. Der Solidarpakt II ist die wichtigste Grundlage
für den Aufbau Ost für die nächsten Jahre.
({9})
Was tun wir für die Bauwirtschaft? Ich hatte darauf
hingewiesen, dass die Bauwirtschaft im Moment das Sorgenkind bei den Wirtschaftsdaten ist. Wir haben das unsinnige Steuersparmodell, das Sie eingeführt hatten, inzwischen ein Stück weit kompensieren können, und zwar,
indem wir bei der Städtebauentwicklung im Osten nicht
einen quantitativen Zuwachs, sondern einen qualitativen
Umbau erreicht haben.
({10})
- Herr Nooke, vielen Dank für Ihren Zwischenruf. Sie haben in Ihrer Rede das Stadtumbauprogramm Ost, das
die rot-grüne Bundesregierung aufgelegt hat, minutenlang gelobt. Ich danke Ihnen dafür. Ich finde, dass man
über die Parteigrenzen hinweg solche Erfolge durchaus
gegenseitig anerkennen kann, wenn man am Osten interessiert ist.
({11})
Das Stadtumbauprogramm Ost wird für die Bauwirtschaft in den nächsten Jahren die Grundlage dafür sein,
dass weitere Aufträge reinkommen und dort weiter gebaut
werden kann. Es wird in den ostdeutschen Kommunen die
Stadtentwicklung für die nächsten Jahre bestimmen. Wir
werden mit einer internationalen Bauausstellung dieses
Programm innovativ ausgestalten und dafür sorgen, dass
das, was dem Osten bevorsteht, nämlich der Abriss von
Wohnungen, vernünftig ausgestaltet wird und dort nicht
einfach Plattenbauten weggenommen werden. Wir wollen
zu einer qualitativen Neuausrichtung kommen.
({12})
- Das kann ich Ihnen, Frau Lengsfeld, genau erzählen. Ich
hatte gedacht, dass die Ausführungen Ihres Kollegen
Nooke Ihnen auf die Sprünge geholfen haben, aber wir
können uns darüber gern noch einmal separat unterhalten.
Wir haben mit dem KfW-Modernisierungsprogramm
und dem Altbausanierungsprogramm die Grundlagen dafür
gelegt, dass es in der Bauwirtschaft auch im Bereich der
ökologischen Modernisierung weitere Auftragseingänge
geben wird; denn im Neubau wird das nicht mehr passieren.
Meine Damen und Herren von der CDU, ich darf Sie
daran erinnern: Sie haben durch Ihre Blockade in der Altschuldenhilfeproblematik von 1994 bis 1998 den Wohnungsbauunternehmen in Ostdeutschland die größten
Probleme bereitet, die wir heute noch lösen müssen und
an denen wir im Interesse der ostdeutschen Kommunen in
den nächsten Jahren weiter arbeiten müssen.
({13})
Wo sind neue Arbeitsplätze entstanden? Allein in den
letzten beiden Jahren sind deutschlandweit in der Erneuerbare-Energien-Branche rund 60 000 neue zusätzliche
Arbeitsplätze entstanden. Das bedeutet gleichzeitig die
massive Förderung regionaler Wirtschaftsstrukturen, da
diese Jobs hauptsächlich in mittelständischen Unternehmen und in strukturschwachen Regionen entstanden sind.
Der größte Gewerbebetrieb in Magdeburg - ich habe
das in der letzten Debatte schon angeführt, möchte aber
noch einmal darauf eingehen - ist ein Windkraftanlagenhersteller, die Firma Enercon. Ich finde, dass Sie hier
deutlich sagen sollten: Wer am kommenden Sonntag FDP
wählt, wählt die Schließung von Enercon. Das, was Sie
mit Ihrem Antrag im Deutschen Bundestag, der von der
CDU unterstützt wird, zur Rücknahme des ErneuerbareEnergien-Gesetzes vorgelegt haben, wird dazu führen,
dass der größte Gewerbebetrieb in der Landeshauptstadt
Sachsen-Anhalts schließen wird. Das wird die Konsequenz Ihrer Politik sein.
({14})
Wenn auf der Hannover Messe der Unternehmensverband und die Unternehmer aus der Metall verarbeitenden
Industrie die CDU und die FDP vor der Wahl - nicht danach, sondern vor der Wahl - auffordern, Klarheit darüber
zu schaffen, ob sie dieses Gesetz fortführen wollen oder
nicht, dann sollten sie das im Interesse der Wirtschaft insbesondere in den neuen Bundesländern und in SachsenAnhalt tun.
({15})
Wir werden gerade in Sachsen-Anhalt als dem ostdeutschen Bundesland mit der größten Abwanderung in
Zukunft nicht mehr hauptsächlich über Arbeitslosigkeit
diskutieren, sondern primär darüber, wie qualifizierte Arbeitskräfte in Sachsen-Anhalt zu halten bzw. nach Sachsen-Anhalt zurückzuholen sind.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die Chemieindustrie in
Sachsen-Anhalt bereits jetzt vorausschauend auf dieses
Problem eingeht und im Bündnis für Ausbildung und Jugend die Grundlagen dafür schafft, dass sie mit diesem Problem in geringerem Maße konfrontiert sein wird, indem sie
jetzt weit über ihren Bedarf hinaus ausbildet, damit sie in
Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung hat.
Ich glaube aber, dass wir insgesamt darüber diskutieren müssen, dass die Lebensbedingungen für junge Menschen in den neuen Bundesländern, dass die weichen
Standortfaktoren zu verbessern sind, wenn wir die jungen
Menschen dort halten wollen. Diese gehen nicht mehr nur
deshalb weg, weil sie keinen Arbeitsplatz in Sachsen-Anhalt finden. Sie gehen vielmehr zunehmend weg, weil die
Stimmung in Sachsen-Anhalt viel schlechter ist als die eigentlichen Wirtschaftsdaten und sie für sich dort keine
Perspektiven und keine Zukunft sehen.
Dies hat etwas damit zu tun - das bestätigen inzwischen auch die Wirtschaftsforschungsinstitute -, dass innovative moderne Unternehmen nicht dorthin gehen, wo
es am billigsten ist. Wir werden aufhören müssen, in
Sachsen-Anhalt um die billigsten Löhne, die schlechtesten Tarifverträge und die schlechtesten Arbeitnehmerbedingungen zu konkurrieren, wenn wir Arbeitnehmer im
Osten halten wollen.
({16})
Ich glaube im Übrigen auch, dass die schlechte Stimmung in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt etwas damit zu tun hat, dass die Menschen spüren, dass die Ministerpräsidentenkandidaten, die am kommenden Sonntag
zur Wahl stehen, nicht die Zukunft für Sachsen-Anhalt bedeuten.
({17})
Sie spüren, dass es dort eines anderen Personalangebots
als einiger Spaßkandidaten und als das, was die CDU mit
Herrn Böhmer aufgeboten hat, bei dem Sie noch die
Nachfolgefrage klären müssen, bedarf.
Vielen Dank.
({18})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Roland Claus.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei Tage vor der SachsenAnhalt-Wahl debattieren wir hier - völlig überraschend über neun Anträge zum Osten. Aber - dies gehört auch zur
Redlichkeit - erfreulicherweise hat nur einer die Chance,
angenommen zu werden, und das, obwohl er sich schon
erledigt hat. Ein Schelm, wer da an Wahlkampf denkt.
({0})
Zur Redlichkeit im ganzen Hause gehört aber auch,
dass hier nicht der eine Wahlkämpfer den anderen Wahlkämpfer beschimpft, weil er Wahlkampf macht. Irgendwie sind wir doch alle beteiligt. Ich will aber eines deutlich sagen: Natürlich ist auch in Wahlkampfzeiten alles,
was wirklich hilft, willkommen. Ich erlebe immer wieder, dass sich die Menschen in den neuen Ländern von
uns, den Bundestagsabgeordneten aus den neuen Ländern
- wir sind heute wieder nahezu unter uns -,
({1})
wünschen, dass wir hier im Deutschen Bundestag nicht
nur Schuldzuweisungen betreiben, sondern gemeinsam
die Ärmel hochkrempeln. Dies findet leider sehr selten
statt.
({2})
Ich will auf eine angenehme Ausnahme verweisen. Das
war die Diskussion über den Waggonbaustandort HalleAmmendorf und über den Waggonbaustandort Vetschau.
Damals haben wir es wirklich geschafft, gemeinsam etwas auf den Weg zu bringen. Insofern ist jetzt eines besonders verwunderlich: Die Kollegen von CDU und FDP
haben seinerzeit gerufen: Kanzler, tu etwas! Danach hat
die Belegschaft Druck auf die Politik gemacht. Der Kanzler hat etwas getan.
({3})
Die gleiche CDU und die gleiche FDP werfen dem Kanzler jetzt vor, dass er etwas getan hat, und reden das Ergebnis in Sachen Waggonbau schlecht. Das ist einfach
mies.
({4})
- Es ist etwas daraus geworden, Herr Kollege. Es war immerhin Bombardier selbst und nicht irgendein Wunschkandidat von der politischen Bühne, der dies noch einmal
klargestellt hat.
Leider erleben wir alle, dass die Debatten über den
Osten im Bundestag nach dem Motto ablaufen: Die Koalition erklärt, dass man auf einem guten Weg ist, und die
konservative Opposition malt alles in schwarz und weiß.
({5})
Wir wissen es besser: So ist das Leben nicht.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Weder
Schönreden noch Schwarzmalen helfen den Menschen in
den neuen Bundesländern. Wem zum Thema SachsenAnhalt nichts anderes einfällt, als permanent die rote Laterne zu beschwören, dem kann ich eines sagen: In meiner Heimatstadt Halle gibt es jedes Jahr im August ein
Laternenfest. Dort können Sie sich mit Ihrer Laterne hinstellen. Auch Herr Hinsken findet dort vielleicht seine
Verwendung. Lassen Sie sich aber gesagt sein, dass das in
der Politik zu wenig ist.
({6})
Es ist natürlich dubios, dass Frau Pieper in der morgendlichen Debatte das sachsen-anhaltinische Kinderbetreuungsgesetz über den grünen Klee lobt und versucht,
ihren eigenen Anteil herauszustellen, während zur gleichen Zeit ihre Wahlkämpfer in Sachsen-Anhalt unterwegs
sind und sagen, dass das, was dort für die Kinderbetreuung getan werde, zu teuer sei und abgeschafft gehöre. Das
lassen wir uns hier im Bundestag nicht bieten.
({7})
Die Menschen in den neuen Ländern haben von falschen Versprechen - zum Beispiel dem der blühenden
Landschaften - in der Tat die Nase voll. Auch die Chefsache Aufbau Ost haben sie nicht wirklich erlebt.
({8})
Sie fühlen sich deshalb bislang von allen Bundesregierungen im Stich gelassen.
({9})
Nun kommt Herr Stoiber mit seiner angeblichen Wirtschaftskompetenz. Stoibers Wirtschaftskompetenz erleben wir gegenwärtig insbesondere in Berlin. Wenn man
sich einmal anschaut, dass die Union - ihr gehört auch Herr
Stoiber an - allein in der Bundeshauptstadt Schulden in
Höhe von 40 Milliarden Euro hinterlassen hat, muss man
sich fragen, was das für eine Wirtschaftskompetenz ist.
Ich weiß, dass sich diese Zahlen nicht direkt vergleichen lassen, führe sie aber dennoch an, um die Größenordnung darzustellen: Ende 1989 ist die DDR mit 10 Milliarden Euro Auslandsschulden zugrunde gegangen. Auch
das muss man einmal sagen dürfen.
({10})
- Mir war schon klar, dass ich an dieser Stelle Ihren Widerspruch ernte. Die Wahrheit bleibt es aber trotzdem.
({11})
Was hat Herr Stoiber in Bayern zu verantworten? Das
sind Kredite von der Bayerischen Landesbank in Höhe
von 2 Milliarden Euro, die den Kirch-Unternehmen noch
hinterhergeworfen wurden, als schon klar war, dass sie in
die Pleite gehen. Das ist das Geld der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler. Das soll also Wirtschaftskompetenz
sein.
({12})
Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern erwarten von der Politik wirklich keine Wunder. Sie
erwarten aber einen politischen Willen zur wirklichen Angleichung der Lebensverhältnisse. Den erleben sie auch
unter der Regierung Schröder nicht. Demzufolge ist im
Lande leider nach wie vor ein Rentenunrecht anzutreffen.
Ich habe mir von ehemaligen Lehrerinnen und Lehrern
in Halle exakt vorrechnen lassen, was es ausmacht, dass
sie von der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst ausgeschlossen sind. Es ist Fakt, dass die Bergleute, die im
Osten ihren Arbeitsplatz verlieren, nicht in gleicher Höhe
abgefunden werden wie die Bergleute im Westen. So
kommt es zu solch, wie ich finde, tragischen Schicksalen,
dass jemand 30 Jahre unter Tage gearbeitet hat und dann
Geld nur wenig über dem Sozialhilfeniveau erhält.
({13})
Ich komme zu den Arbeitslosen im Osten. Wir müssen registrieren, dass die Arbeitslosenrate im Jahre 1998
- lassen Sie die Fakten sprechen! - im Osten das 1,8fache
und im Jahre 2002 leider das 2,3fache der Rate im Westen
betrug. Das ist eine schlechte Entwicklung. Handwerker
beklagen die Benachteiligung durch die Steuerreform,
während sich Großunternehmen und Banken dank Ihres
Steuerrechts immer wieder armrechnen können.
Deshalb möchte ich Sie auffordern: Lassen Sie uns
heute mit dieser Debatte wenigstens ein Zeichen setzen
und lassen Sie uns gemeinsam beschließen, etwas zur Angleichung der Löhne und Gehälter bis zum Jahre 2007 zu
tun.
({14})
Ich weiß sehr wohl, was das kostet. Es sind etwa 2 Milliarden Euro für die Länder und etwa 1,5 Milliarden Euro
für die Kommunen. Zusammen mit dem Anteil des Bundes macht das etwa 4 Milliarden Euro. Das ist nicht wenig. Das ist nur mit Bundeshilfe möglich; das muss man
deutlich aussprechen. Es ist aber noch immer weniger als
die Hälfte der Kosten von Rudolf Scharpings neuen Fliegern.
({15})
Deshalb sollten wir diese Anstrengungen gemeinsam
wagen. Ich sage Ihnen dazu nur eines: Die Landesregierung
in Brandenburg hat für diesen Vorschlag, der nicht nur von
der PDS gemacht wird, inzwischen Unterstützung signalisiert. Sie hat dies anders getan, als man dies von der
Landesregierung bisher kennt. Sie unterstützt diesen Vorschlag tatsächlich als Landesregierung. Es ist nicht so,
dass der eine Ja und der andere Nein gesagt hat. Nein, sie
will das gemeinsam tun.
({16})
Wir verlangen - das wollen wir Ihnen sagen - die sofortige Abstimmung des entsprechenden Antrags der PDS
zur Angleichung der Löhne und Gehälter bis 2007 im Plenum und nicht die Überweisung.
({17})
Wir wollen Sie daran erinnern: Uns wäre auf diesem
Gebiet noch viel mehr eingefallen. Aber das ist exakt die
Beschluss- und Verkündungslage von SPD und CDU, wie
sie sie vor den Wahlen an den Tag gelegt haben. Deshalb
wird die PDS weiter darauf Wert legen, gemeinsam Mut
zu machen und nicht schwarz zu malen. Daher sprechen
wir in unseren Vorschlägen zur Verbesserung der Lebenslage in den neuen Bundesländern vom Zukunftsfaktor
Ost. Es ist noch immer ein gutes Papier, auch wenn viele
der Überschriften inzwischen durch die CDU abgeschrieben worden sind.
Zu Sachsen-Anhalt: Sie können über die PDS räsonieren und Zwischenrufe machen, wie Sie wollen. Die Abteilung Größenwahn haben in Sachsen-Anhalt andere als
die PDS besetzt. Wir sind auf dem Teppich geblieben. Wer
hat denn das Land mit Ministerpräsidentenkandidaten zuplakatiert?
Herr Kollege Claus, Sie müssen zum Ende kommen.
Das war nicht die PDS, das waren Ulrich Hansel, der jetzt Marseille heißt, und Cornelia
Pieper.
({0})
Deshalb wünschen wir uns - ich komme damit zum
Ende, Herr Präsident -, dass die Sozialdemokraten in
Sachsen-Anhalt ihren Wählerinnen und Wählern sagen,
wohin mit ihnen die Reise gehen soll. Wollen Sie mit der
PDS für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten oder wollen
Sie mit der CDU Sozialabbau betreiben? So viel Klarheit
muss sein.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich gebe
nunmehr für die Fraktion der SPD dem Kollegen
Dr. Rainer Wend das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Herr Claus, mit Ihren Bemerkungen fordern Sie mich heraus, Ihnen Folgendes zu
sagen. Sie meinen, die DDR sei an 8 Milliarden Euro zugrunde gegangen.
({0})
Sie glauben vermutlich auch noch heute an das Märchen,
dass die DDR die achtstärkste Industrienation der Welt
gewesen sei.
({1})
Ich will, Herr Claus, einen Satz aus einer Dissertation
der Universität Halle zitieren: Die Hinterlassenschaft der
DDR für Sachsen-Anhalt ist vor allem durch Umweltschäden größten Ausmaßes sowie durch eine Wirtschaftsund Beschäftigtenstruktur gekennzeichnet, die den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft in die soziale
Marktwirtschaft besonders erschwert hat.
({2})
Wir wollen in diesem Lande keinen Ministerpräsidenten
von der Nachfolgepartei derjenigen, die dieses Chaos veranstaltet haben, Herr Claus.
({3})
Herr Kollege Wend, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Luft?
Ja, selbstverständlich, Frau
Luft.
Danke schön, Herr Kollege. Erstens. Sie haben sich vermutlich ein wenig vertan. Es
hat nie jemand in der DDR behauptet, die DDR sei die
achtgrößte Industrienation. Es wurde behauptet, sie sei
die zehntgrößte Industrienation. Ich stimme völlig mit Ihnen überein, dass auch das größenwahnsinnig war.
Zweitens. Ich möchte Sie fragen: Haben Sie den Monatsbericht der Deutschen Bundesbank von August 1998
gelesen? Darin wird festgestellt, dass die Auslandsschulden der DDR zum 30. Juni 1990, also einen Tag vor Beginn der Währungsunion, etwa 10 Milliarden Dollar betragen hätten. Das ist etwa das, was Herr Kollege Claus
eben in Euro umgerechnet hat. Das ist keine Erfindung der
PDS, sondern das hat die Deutsche Bundesbank an Auslandsschulden festgestellt. Genau das hat mein Kollege
vorhin in der Debatte gesagt.
Frau Dr. Luft, ich danke Ihnen
sehr herzlich für die in Frageform gekleidete Kurzintervention, die Sie hier gemacht haben. Ich bleibe dabei: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat diesen Teil des
östlichen Landes ökonomisch, politisch und moralisch zugrunde gerichtet. Da beißt keine Maus einen Faden ab.
({0})
So unterschiedlich Herr Claus, Herr Nooke und Frau
Pieper ihre Positionen hier auch beschreiben, in einem
sind sie sich einig: Sie wollen einen Wettlauf beginnen,
wer die neuen Länder am schlechtesten redet. In diesen
Wettlauf werden wir Sozialdemokraten uns nicht einbinden lassen.
({1})
Ich bedanke mich bei meiner Fraktion dafür, dass ich
in dieser Debatte als Einziger aus den alten Ländern sprechen kann.
({2})
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Gleichgültig, ob
CDU, SPD, FDP oder Grüne: Wenn irgendjemand in
Nordrhein-Westfalen unser Bundesland so schlecht reden
würde, wie Sie dies heute mit den neuen Ländern getan
haben, dann würden ihn die Bürgerinnen und Bürgern aus
den Sälen treiben. Ich wünsche Ihnen in Sachsen-Anhalt
dasselbe, meine Damen und Herren.
({3})
In einem, Herr Claus, möchte ich Ihnen ausdrücklich
Recht geben:
({4})
Weder Schönfärberei noch Schwarzmalerei ist die Lösung.
Richtig ist, dass wir in den neuen Ländern eine sehr differenzierte Situation haben. Wir haben eine bedrückende Arbeitslosigkeit und wir haben eine bedrückende Anzahl von
Insolvenzen.
({5})
Ich möchte auf Folgendes hinweisen: Die Hauptquote
der Insolvenzen entfällt auf die Bauwirtschaft. Wer hat
dies zu verantworten? Wer hat zu Beginn der 90er-Jahre
die Sonderabschreibungsregelungen gemacht, die nicht
nur dazu geführt haben, dass Wohnräume und Büropaläste leer stehen, sondern auch dazu, dass heute nach dem
Rückgang der überhitzten Konjunktur im Baubereich die
Überkapazitäten durch Insolvenzen zurückgeführt werden? Die politische Verantwortung für diese Situation
trägt die rechte Seite dieses Hauses und nicht Sozialdemokraten.
({6})
Das ist die negative Seite, die wir nicht verschweigen dürfen.
Ich möchte aber auch über die positiven Dinge reden.
Es sind zwei Stichworte genannt worden, die ich gerne
noch etwas deutlicher beschreiben möchte.
Das erste ist Ammendorf: direkt 800 bis 900 Arbeitsplätze. Eben habe ich aus der FDP den Zwischenruf
„Holzmann!“ gehört. Holzmann haben wir die Chance gegeben, dass die Marktkräfte auch in diesem Bereich der
Bauwirtschaft zu einer Gesundung beitragen. Das hat leider nicht geklappt. Ammendorf geben wir dieselbe Chance.
Ich sage Ihnen, dass die Deutsche Bahn Bestellungen in
Milliardenhöhe über rollendes Material in Ammendorf
getätigt hat. Insbesondere wird dort auch für die S-Bahn
Berlin produziert werden. Das ist ein positives Signal. Wir
sollten uns gemeinsam darüber freuen, anstatt darüber zu
meckern, was dort passiert ist.
({7})
Ich bedanke mich bei der Bundesregierung für die Investition in eine Zellstofffabrik in der strukturschwachen
Region der Altmark. Der Finanzminister des Landes hat
davon eben schon gesprochen. Über 1 Milliarde Euro
wird in rund 580 direkt dort vorhandene Arbeitsplätze investiert, durch eine Bundesbürgschaft von über 500 Millionen Euro gesichert. Das ist praktische Wirtschaftsförderung, auf die wir stolz sind und die wir uns nicht von
Ihnen kaputtreden lassen.
({8})
Ich weiß, Sie haben es mit den Zahlen etwas schwer.
Im Wahlkampf ist es schwierig, mit differenzierten Zahlen zu argumentieren. Wir sagen: Die ökonomische
Situation im Osten ist deutlich besser, als Sie sie hier
schildern. Der Tiefpunkt im Osten, was die Entwicklung
des Bruttoinlandsprodukts anbelangt, lag im ersten Halbjahr 2001: Es sank um 0,6 Prozent. Im zweiten Halbjahr
lag es bereits bei 0 Prozent; es gab also kein Minuswachstum, das es in den alten Bundesländern gab. Für
2002 wird für das Wachstum im Westteil Deutschlands
eine Rate von 0,75 Prozent und im Ostteil eine Rate von
0,5 Prozent prognostiziert. Für 2003 liegen die Prognosen
aller Institute für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes für Ost und West mit 2,5 Prozent erstmals gleichauf. Das ist ein gutes Signal für den Osten.
Das „Handelsblatt“ schrieb am 21. März 2002: „Ostdeutschland kommt steil aus dem Aufschwung heraus“.
Diese Botschaft, meine Damen und Herren, sollten Sie
den jungen Menschen überbringen, die Sorgen um die
Zukunft in den neuen Ländern haben, denjenigen, die
abzuwandern erwägen, um ihnen zu vermitteln, dass es
sich lohnt, zu bleiben und um diesen Standort Ost zu
kämpfen, weil es aufwärts geht, auch dank dieser Bundesregierung. Das dürfen wir auch einmal so positiv sagen.
({9})
Lassen Sie mich aber auch noch etwas speziell zum
verarbeitenden Gewerbe sagen.
({10})
Seit 1993 wächst die Produktion des verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland um 6,8 Prozent jährlich, Herr
Nooke, und damit fünfmal schneller als in Westdeutschland. Allein im Jahr 2001 stieg die Bruttowertschöpfung
in Sachsen um stolze 8,4 Prozent - Glückwunsch, Herr
Biedenkopf! -,
({11})
gefolgt von Sachsen-Anhalt mit 5,3 Prozent - Glückwunsch, Herr Ministerpräsident Höppner!
({12})
- Klatschen Sie doch auch! Zeigen Sie auf der rechten
Seite des Hauses doch einmal Anstand und bekräftigen
Sie, dass sich die in Sachsen-Anhalt unternommenen Anstrengungen gelohnt haben!
({13})
Ich komme zu den Rezepten, die auf der rechten Seite
des Hauses vertreten werden, wie man nun damit umgehen soll. Frau Kaspereit hat schon gesagt, dass über bereits vorhandene beträchtliche finanzielle Mittel hinaus
weitere Staatsprogramme von Ihnen gefordert werden.
Dies führt nicht nur zurück in den Verschuldungsstaat,
den Sie uns hinterlassen haben, nein, das zeugt auch von
einer unsinnigen Staatsgläubigkeit von CDU und FDP,
({14})
im Vergleich zu der die PDS als Marktwirtschaftspartei
erscheint, wenn man deren Forderungen für den Osten
analysiert.
({15})
Ihr zweites Rezept lautet Aufhebung der Tarifbindung,
Senkung von Löhnen und Aufhebung von Arbeitnehmerrechten. Wir haben in den neuen Ländern doch nur noch
verhältnismäßig wenige tarifgebundene Unternehmen.
Wir haben deutlich niedrigere Löhne als im Westen. Nach
Ihrer Logik müssten wir doch in den neuen Bundesländern Vollbeschäftigung haben. Das Gegenteil ist der Fall.
Deswegen sage ich: Wir werden es nicht zulassen, dass
unter dem Vorwand „Aufbau Ost“ Löhne noch weiter gesenkt und Arbeitnehmerrechte beseitigt werden. Dies ist
mit Sozialdemokraten nicht zu machen.
({16})
Ich sage Ihnen deshalb abschließend: Die Bundesregierung hat die Aufgaben richtig beschrieben. Wir stehen vor einer Generationenaufgabe. Sie mag nicht immer
nur spektakulär sein, wir brauchen einen langen Atem;
aber es ist keine Schönfärberei, wenn ich zum Ende meines Beitrages sage: Ostdeutschland ist auf gutem Wege,
wie in der Vorkriegszeit zu den fortgeschrittensten Industrieregionen Deutschlands und Europas aufzuschließen.
({17})
Krempeln wir gemeinsam die Ärmel hoch. Gehen wir
die Aufgabe entschlossen an. Wir sind bereit dazu. Kommen Sie aus Ihrer Meckerecke heraus und arbeiten Sie mit
uns am weiteren Aufschwung Ost. Es lohnt sich für unser
Land.
({18})
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Dr. Michael
Luther.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute
sehr viel über die Situation in den neuen Bundesländern
und über die dortige wirtschaftliche Entwicklung gesprochen worden. Ich hätte an dieser Stelle gern dem Finanzminister von Sachsen-Anhalt, Herrn Gerhards, geantwortet und ihn gefragt, wovon er eigentlich redet.
({0})
Er hat von der Hinterlassenschaft der CDU gesprochen
und vergessen, dass Herr Höppner dort acht Jahre lang
Regierungsverantwortung getragen hat.
({1})
Das hat dazu geführt, dass Sachsen-Anhalt in der Rangliste der neuen Bundesländer auf dem letzten Platz, jedoch
im Hinblick auf die Abwanderung auf dem ersten Platz
steht. Das muss deutlich gesagt werden.
({2})
Ich komme aus Sachsen und bin froh, dass die Erfolge
dieses Bundeslandes hier einmal erwähnt werden. Sachsen hat es mit der viel gescholtenen schwarzen Regierung
geschafft, Spitzenreiter zu sein, Silicon Valley für die
neuen Bundesländer zu sein und eine hervorragende wirtschaftliche Entwicklung vorzulegen. Das hat etwas mit
der dortigen Unionsregierung und - das will ich an dieser
Stelle auch erwähnen - mit Professor Biedenkopf zu tun,
der dieses Land als Ministerpräsident elfeinhalb Jahre gut
geführt hat.
({3})
Ich möchte ihm recht herzlich dafür danken, dass er dies
für Sachsen geleistet hat.
({4})
Heute ist Georg Milbradt vom Sächsischen Landtag
zum neuen Ministerpräsidenten gewählt worden. Er wird
die Arbeit, die Professor Biedenkopf gemeinsam mit der
Union in Sachsen angefangen hat, fortsetzen. Auch ihm
herzlichen Glückwunsch!
({5})
Herr Wend, darf ich vielleicht noch auf Ihre Rede reagieren?
({6})
Sie haben die Sonderabschreibungen kritisiert. Ich weiß
nicht, ob Sie eine Vorstellung davon haben, wie 1990 die
deutsche Einheit in den neuen Bundesländern begonnen
hat. Zuallererst musste alles unternommen werden, um
Straßen zu bauen, Städte zu sanieren und Gewerberaum
zu schaffen.
({7})
Ich meine, dass das Instrument der Sonderabschreibung
und die damit verbundene Mobilisierung von Privatkapital ein richtiger und guter Weg waren.
({8})
Es ist richtig, dass im verarbeitenden Gewerbe zum jetzigen Zeitpunkt eine Entwicklung stattfinden muss. Aber
- das haben Sie bei Ihren Ausführungen vergessen - Sie
ruinieren durch Ihre Politik die Bauwirtschaft in den
neuen Bundesländern. Ich will Ihnen auch sagen, wie.
Schauen Sie einmal in Ihren Bundeshaushalt 2002. Die
Investitionsquote dieses Bundeshaushalts erreicht einen
historischen Tiefstand. Sie haben den Kommunen die
Mittel, die ihnen für Investitionen zur Verfügung standen,
weggenommen. Die Kommunen haben keine Möglichkeit, Investitionen zu tätigen. Das schadet der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern.
({9})
Aber nicht nur das ist ein Thema, das die Bauwirtschaft
in den neuen Bundesländern berührt. Auf der heutigen Tagesordnung steht noch ein Antrag der Union als Zusatzpunkt, zu dem ich jetzt sprechen möchte. Es geht darin um
das Thema Forderungssicherungsgesetz. Es ist kein Geheimnis, dass nicht nur in den neuen, sondern auch in den
alten Bundesländern und insbesondere in der Bauwirtschaft die Unternehmen hohe Zahlungsausfälle zu verzeichnen haben. Gerade das jüngste Beispiel, des Kanzlers
Holzmann-Pleite, zeigt, welche Folgen das hat. Sicherlich
werden es viele Kollegen in ihrem Wahlkreis gespürt haben: Es gibt dadurch Unternehmen in der Baubranche, die
Forderungen nicht geltend machen können und deswegen
unverschuldet in die Insolvenz gehen werden.
Der Mittelstand muss Jahr für Jahr - das ist Fakt - in
der Größenordnung eines einstelligen Milliardenbetrags
Zahlungsforderungsausfälle verkraften. Es ist allgemein
bekannt, dass mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen diesem Problem nicht effektiv begegnet werden kann.
Die Hauptursache liegt darin, dass der Werkunternehmer
zum einen vorleistungspflichtig ist und zum anderen in
dem Moment, in dem er eine Sache in ein Bauwerk einbaut, das Eigentum an der eingebauten Sache verliert.
Dann kann die Forderung oftmals nur schwer und manchmal gar nicht geltend gemacht werden. Gegen diese strukturelle Schlechterstellung des Werkvertragunternehmers
insbesondere in der Bauwirtschaft muss etwas unternommen werden. Sie wird mitunter - manchmal auch extensiv - ausgenutzt. Ich meine, wir sind im Deutschen Bundestag zum Handeln aufgerufen.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks schätzt,
dass 38,2 Prozent aller deutschen Betriebe durch Zahlungsausfälle betroffen sind. Um das Bild vollständig zu
zeichnen, stellt sich die Frage nach den Folgen. Zu nennen
ist der Schaden für den Unternehmer, wenn er die ausstehenden Summen nicht eintreiben kann. Er bekommt keinen Lohn für seine Arbeit. Dieser Verlust muss irgendwie
ausgeglichen werden. Das wird mit vielen Mitteln versucht und darunter leidet sicherlich auch die Bauqualität.
Es ist viel von den Arbeitnehmern und ihrer Situation
gesprochen worden. Die Lohnspirale geht nach unten,
weil versucht wird, das Problem über die Mitarbeiter aufzufangen. Im Fall der Insolvenz kann diese Folgeinsolvenzen nach sich ziehen. Auch das gehört dazu: Diese
Bundesregierung hat zumindest eine Bilanz vorzulegen,
die nicht großartig ist. Dabei handelt es sich um die Insolvenzbilanz. Diese ist wirklich spitze.
Was ist zu tun? Wir, der Gesetzgeber, müssen etwas unternehmen. Vorweg möchte ich auf die Geschichte der
Gesetze eingehen, die der Verbesserung der Zahlungsmoral dienen sollten. Schon 1997 hat die Union in den
neuen Bundesländern - das ist nicht verwunderlich; denn
gerade dort war es am kompliziertesten - über Maßnahmen zur Verbesserung der Zahlungsmoral nachgedacht.
In Sachsen wurde zum ersten Mal am 26. Mai 1998 eine
Arbeitsgruppe einberufen, die sich intensiv mit diesem
Thema beschäftigt hat. Wenn man wirklich etwas verändern will, dann stellt man sehr schnell fest, dass es sich bei
diesem Thema um eine sehr schwierige Materie handelt,
die auch Eingriffe in die Strukturen des BGB erfordert.
Man kann hier keine Entscheidung aus dem Bauch heraus
treffen. Das ist allen klar. Ich möchte einmal beispielhaft
die Mitglieder der Arbeitsgruppe nennen: An dieser Arbeitsgruppe nahmen nicht nur Justizbeamte, Richter und
Rechtsanwälte, sondern auch Vertreter der IHKs, von
Haus + Grund, des Baugewerbeverbandes und der Verbraucherschutzverbände teil. Alle saßen an einem Tisch
und haben versucht, Lösungen für das drängende Problem
zu finden.
Die Union hat die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe in
ihrem Entwurf eines Bauvertragsgesetzes aufgegriffen,
den sie am Anfang dieser Legislaturperiode eingebracht
hat. Erst dann - auch das ist bezeichnend für diese Regierung - ist Frau Däubler-Gmelin tätig geworden.
({10})
Zuerst hat sie nur Sprüche gemacht und dann ein Gesetz
zur Beschleunigung fälliger Zahlungen vorgelegt, das untauglich war.
({11})
Bereits in der Anhörung, die im Herbst 1999 durchgeführt worden ist, hat sich gezeigt, dass dieses Gesetz nicht
funktionieren wird. Ich möchte nur an zwei Sachverhalte
erinnern: Die 30-Tage-Regelung beim Schuldnerverzug
bedeutete eine deutliche Schlechterstellung der Gläubiger. Diese Regelung haben Sie mittlerweile einkassiert,
weil Sie selber gemerkt haben, dass man das Schuldrecht
so nicht modernisieren kann. Des Weiteren wurde eine
Fertigstellungsbescheinigung vorgeschlagen. Alle Sachverständigen haben gesagt, dass das nicht funktionieren
werde. Sie haben es trotzdem umgesetzt. Zwei Jahre später müssen wir feststellen, dass das von niemandem angewendet wird, weil es einfach nicht funktioniert. Das ganze
Gesetz, das Sie im Schnellschussverfahren beschlossen
haben, war ein Flop.
({12})
Hinzu kommt noch etwas anderes: Mit diesem Gesetz
wurde das drängende Problem des Zahlungsausfalls nicht
gelöst. Der strukturelle Nachteil des Werkunternehmers
wurde nicht beseitigt. Unser damaliger Entwurf ging explizit auf die Sicherung der Forderungen des Werkunternehmers ein. Wir wollten das Bauvertragsrecht modernisieren. Im Herbst 1999 - ich betone: Herbst 1999 - hat
die Justizministerin die Einrichtung einer Bund-LänderArbeitsgruppe zugesagt, die sich mit der Modernisierung
des Bauvertragsrechts beschäftigen sollte. Diese Arbeitsgruppe hat erstmalig am 5. Dezember 2001 getagt, also
zwei Jahre nach der Zusage der Justizministerin. Sie hat
aber nicht auf Drängen der SPD oder von Frau DäublerGmelin getagt. Nein, sie hat auf unsere Initiative hin getagt; denn wir in Sachsen haben beizeiten gemerkt, dass
die Bundesregierung an diesem Thema desinteressiert ist,
dass sie die Probleme der deutschen Unternehmen gar
nicht aufgreifen wollte. Deshalb haben wir seit diesem
Zeitpunkt erneut darüber nachgedacht, wie das Thema
„Sicherung der Forderungen des Werkunternehmers“ angegangen werden kann. Eine entsprechende Arbeitsgruppe gab es nicht nur in Sachsen, sondern auch in
Thüringen. Es wurde also in zwei Arbeitsgruppen versucht, langfristige Lösungen zu finden.
({13})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen.
Ich möchte an dieser Stelle nur an die hungerstreikenden Frauen am Brandenburger Tor erinnern. Die Bundesregierung hat nichts gemacht. Das Schicksal der Frauen
hat sie kalt gelassen.
({14})
Die Wahrheit ist also: Die Arbeitsgruppe ist erst auf
Drängen von Sachsen und Thüringen einberufen worden,
und zwar zwei Jahre nach dem zugesagten Termin. Es
stellte sich aber schnell heraus, warum diese Arbeitsgruppe einberufen worden ist; auch das ist interessant. Zuerst hat man gesagt, man wolle aufgrund der Vorschläge
von Sachsen und Thüringen einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorbereiten. Aber im Februar dieses Jahres hat
man gesagt, es müsse erst eine rechtstatsächliche Untersuchung durchgeführt werden. Man will dieses Thema
also auf die lange Bank schieben.
Der Kommentar zu den Vorschlägen ist mir schon ein
bisschen aufgestoßen. Im Februar wurde gesagt, die Vorschläge seien völlig unbrauchbar und billige Wahlkampftricks. Ich bin auf den geschichtlichen Ablauf so ausführlich eingegangen, um diesem Argument zu begegnen. Die
Vorlage ist kein Schnellschuss, sondern lange überlegt
und von vielen kompetenten Beteiligten ausführlich diskutiert worden. Es handelt sich um seriöse und wohl
durchdachte Lösungsvorschläge.
Handlungsbedarf besteht nach wie vor. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat ein solches Gesetz nicht auf den
Weg gebracht, weil das Bundesjustizministerium und die
Regierung es nicht wollten. Darum haben wir, die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, uns der Vorschläge von
Sachsen und Thüringen angenommen und sie in das Forderungssicherungsgesetz eingearbeitet, das heute in erster
Lesung in den Bundestag eingebracht wird.
Nun zu Sachsen-Anhalt. Jetzt hat Sie wieder einmal
die Panik erfasst. Am Sonntag - das ist schon ein paarmal
gesagt worden - ist Wahl in Sachsen-Anhalt. Just, aus heiterem Himmel, kam aus Sachsen-Anhalt der Entwurf eines Vorleistungssicherungsgesetzes.
({15})
Gestern stand die Beratung dieses Gesetzentwurfs noch
auf der Tagesordnung für heute. Plötzlich haben Sie es
wieder zurückgenommen. Sie haben vielleicht selbst gemerkt, dass es ein Schnellschuss ist und man darüber vielleicht noch einmal nachdenken muss, weil Sie eben nur
aus dem Bauch heraus - vielleicht vordergründig wegen
der Wahl - etwas in den Bundestag einbringen wollten.
Ich hoffe darauf, dass Sie die Gesetzesvorlage noch
einmal überarbeiten und beraten, um sie dann in den Bundestag einzubringen. Es nutzt den Handwerkern überhaupt nichts, wenn wir uns jahrelang im Deutschen Bundestag plakativ darüber unterhalten, wie wir das Problem
lösen können; vielmehr muss endlich eine tragfähige Lösung her. Wenn Sie Ihre Vorlage in den Bundestag eingebracht haben, können wir das Thema zusammen angehen
und versuchen, etwas Gemeinsames auf den Weg zu bringen.
Eines bleibt allerdings festzuhalten: Wir, die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, haben unserer Aufgabe als Opposition im Deutschen Bundestag Rechnung getragen;
denn wir haben Sie nun schon zum zweiten Mal in dieser
Legislaturperiode getrieben. Sie haben auf unsere Vorschläge reagiert.
({16})
- Getrieben. - Sie haben reagiert. Sie haben etwas vielleicht vergessen: Sie sollten zurzeit eigentlich regieren;
aber das können Sie nicht.
({17})
Das Forderungssicherungsgesetz ist ein mutiges und
notwendiges Gesetz. Wir, die Union, sind nicht der Auffassung, dass man nach dem Motto verfahren sollte: Man
sollte etwas tun; aber es darf sich nichts bewegen. Deshalb
sind manche Themen, die in der nächsten Zeit vielleicht
schwierig und kritisch diskutiert werden können, von uns
aufgegriffen und dem Bundestag zur Beratung vorgelegt
worden:
Erstens. Dazu zählt zum Beispiel die Regelung zum
Thema Eigentumsvorbehalt beim Werkunternehmer. Sie
wird bei den Juristen in Deutschland eine Diskussion darüber auslösen, ob man das machen kann oder nicht. Ich
meine aber, dass diese Regelung weder ein Systembruch
noch ein Fremdkörper im BGB ist. Sie schafft vielmehr
größtmögliche Klarheit über die Zuordnung von Eigentumsrechten auch für denjenigen, der im Rahmen eines
Werkvertrags arbeitet.
Zweite Regelung: Änderung der Zivilprozessordnung.
Wir verbessern die Möglichkeit, auf zivilprozessualem
Weg, im Erkenntnisverfahren, möglichst schnell einen
vollstreckbaren Titel zu erlangen. Wir meinen, dass das
Voraburteil dazu ein geeignetes Instrument ist.
Drittens. Wir schlagen eine Regelung vor, mit deren
Hilfe der Aufenthaltsort eines Schuldners leichter ausfindig gemacht werden kann. Das Finanzamt kann dies mithilfe der staatlichen Stellen leisten. Ich glaube, dass auch
dem Privatmann, der einen Schuldner sucht, diese Möglichkeit eröffnet werden sollte.
({18})
Ich will ganz klar feststellen, dass das nicht der Beliebigkeit des Privatmanns überlassen werden darf, sondern dass
dazu natürlich ein gerichtlicher Beschluss notwendig ist.
Viertens. Wir wollen die Gründe für den Ausschluss
von der Geschäftsfähigkeit um die Straftatbestände Betrug, Untreue, Veruntreuung von Lohn usw. erweitern.
Auch das ist ein richtiger Schritt.
Dieses Gesetz beinhaltet sozusagen eine Menge Holz.
Ich bin mir sicher, dass dieses Gesetz, wenn es in Kraft
treten würde, seine Wirkung nicht verfehlen würde. Ich
habe bereits das Angebot unterbreitet, dass wir dieses Gesetz, vielleicht um Vorschläge der Regierung ergänzt, in
den Beratungen ausführlich diskutieren. Ziel muss es
sein, zu einem Ergebnis zu kommen. Es nutzt den Handwerkern in Deutschland nichts, wenn wir über die Probleme nur reden. Ein Ziel haben wir als Union heute auf
jeden Fall schon erreicht. Wir reden seit heute im Deutschen Bundestag wieder über die Frage: Wie kann man etwas zur Verbesserung der Zahlungsmoral tun? Lassen Sie
uns dieses Thema angehen! Ehrliche Arbeit in Deutschland muss sich endlich wieder lohnen.
({19})
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht der Kollege Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Attacken von Frau Pieper und Herrn Nooke auf die Bundesregierung wären möglicherweise in den Bereich von
Glaubwürdigkeit und Redlichkeit gerückt, wenn sie zumindest eine Prise Selbstkritik enthalten hätten.
({0})
Es ist doch keine faule Ausrede der Bundesregierung,
wenn sie sagt, dass die heutige Wachstumsschwäche
Deutschlands mit den Problemen und Folgen der Wiedervereinigung zusammenhängt. Schauen Sie sich die Expertise von Pedro Solbes an! Der EU-Wirtschaftskommissar sagt: Ein Drittel der Probleme, die in Deutschland
bestehen, ist auf die nach wie vor fließenden hohen Transferleistungen zurückzuführen. Das heißt übersetzt: auf
eine Fehlfinanzierung der deutschen Einheit, die nämlich
auf Pump finanziert worden ist und nicht durch eine solidarische Einmalleistung, die möglich gewesen wäre.
({1})
Ein Drittel der Wachstumsschwäche! 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die wir nach wie vor permanent in diesen Prozess investieren müssen!
Ein weiteres Drittel der Wachstumsschwäche ist mit
den Überkapazitäten in der Bauindustrie und dem
Schrumpfungsprozess in Verbindung zu bringen. Das ist
ein hausgemachtes Problem, weil ein Wirtschaftswunder à
la 50er-Jahre erzeugt werden sollte. Frau Pieper, es stimmt
eben nicht, was Sie in dem Zehnpunkteprogramm Ihres
Antrages schreiben, dass der Wachstumsmotor der Baukonjunktur zum Erlahmen gekommen ist. Den hat es so nie
gegeben. Es sind Scheinblüten, die hier entstanden sind,
leere Büropaläste, verprellte Anleger, Überkapazitäten, die
wir heute mühsam abbauen müssen. Das ist die Wahrheit!
({2})
Das ist eine EU-Expertise. Die können Sie nachlesen. Das
ist von außen sehr realistisch analysiert worden.
Das letzte Drittel - damit komme ich zu den Problemen, die wir noch lösen müssen - beruht im Grunde - das
ist kein Geheimnis - auf den noch ausstehenden Reformen auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesundheitspolitik und
in der Sozialpolitik.
({3})
Daran arbeiten wir.
Wenn Sie wirklich über die Situation in Sachsen-Anhalt
sprechen wollen - dafür ist ja diese ganze Debatte angesetzt worden -, dann sollten Sie an dieser Stelle auch ehrlich sein. Das betrifft - das fällt mir gerade ein - übrigens
auch Sie, Herr Luther. Sie sollten sich endlich abgewöhnen, immer zu wiederholen: Den Großen, Holzmann,
wird geholfen und die Kleinen lässt der Kanzler hängen.
({4})
Wir haben den hungerstreikenden Handwerkerfrauen am
Brandenburger Tor mit Millionen unter die Arme gegriffen. Schreiben Sie sich diesen Satz auf!
({5})
Hören Sie auf, so schamlos zu lügen! Ich muss ehrlich sagen: An dieser Stelle verstehe ich keinen Spaß mehr.
({6})
Von Ihrer Seite ist das unverschämt.
({7})
- Schreien Sie doch nicht so!
({8})
Es ist eine Lüge. Sie lügen sich die Dinge doch zurecht.
Es stimmt nicht. Wir haben diesen Leuten geholfen.
Herr Kollege Schulz, bei allem Respekt: Innerhalb einer Minute
dreimal das Wort „Lüge“ ist ein bisschen viel. Ich bitte
alle Seiten des Hauses, sich in dieser Debatte zu mäßigen.
Herr Präsident, ich nehme das an. Es war e i n e
Lüge.
An der Entwicklung Sachsen-Anhalts beispielsweise
ist zu sehen, dass wir nicht mehr von Ostdeutschland als
homogenem Gebiet sprechen können. Die ostdeutschen
Länder differenzieren sich auseinander. Sachsen-Anhalt
hatte einen unglaublich schwierigen Start, weil dort ein
Land gebildet worden ist, das nicht auf eine historisch gewachsene Identität zurückgreifen konnte und das die
schwersten Hinterlassenschaften - die großen Chemiekombinate, die großen Schwermaschinenbaukombinate hatte. Kollege Claus, die DDR ist nicht wegen ihrer Auslandsschulden zusammengebrochen - ich weiß nicht, was
das nun wieder soll -,
({0})
sondern die DDR ist wegen ihres gescheiterten Menschenbilds zusammengebrochen, wegen einer Repressionsschraube, die eine ganze Generation zur Flucht getrieben hat.
Im Übrigen haben wir die Abteilung Größenwahn - in
einer Außenstelle in Halle haben Sie, wie ich glaube, sogar gearbeitet - glücklicherweise aufgelöst. Die Einheit
von Wirtschafts- und Sozialpolitik war ein großer Flop
und hat zum Staatsbankrott geführt. Allerdings muss man
erklären, wieso in so einer verschwiemelten Koalition wie
in Sachsen-Anhalt die dafür Verantwortlichen ausgerechnet als stille Teilhaber mit Einfluss nehmen, nachdem
sie sich nun wirklich nicht gerade durch Kompetenz in
Wirtschaftsfragen ausgewiesen haben. Auch das ist eine
Frage.
({1})
Es gibt eine Stimmung in Sachsen-Anhalt, die sich ungefähr so wiedergeben lässt: Sachsen-Anhalt ist das Armenhaus; daraus folgt Trostlosigkeit. Daran hat die PDS
- darüber sollten wir, Kollege Claus, vertieft diskutieren Anteil und Schuld, weil sie die Leute in ihrer negativen
Selbstwahrnehmung und in dem Selbstwertgefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, bestärkt.
({2})
Das sind sie aber nicht. Sie sind keine Bürger zweiter
Klasse. Sie haben Enormes erreicht, auch in Sachsen-Anhalt.
({3})
Wir haben innerhalb von zwölf Jahren einen Strukturwandel hinbekommen, der sich sehen lassen kann und in
Europa ohne Beispiel ist. Das ist einfach Fakt. Wenn Sie
zusammen mit den zu kurz Gekommenen und denjenigen,
die über den Tisch gezogen wurden, dauernd den Sound
anstimmen „I can’t get no satisfaction“, dann bedienen
Sie zwar antiwestliche Ressentiments, aber das ist nicht
richtig und sie tun den Leuten damit auch keinen Gefallen. Gewöhnen Sie sich auch ab, immer im Namen des
ganzen Volkes zu sprechen. Das war vielleicht einmal so,
ist aber nicht mehr so. Diese Einheit von Partei und Volk
gibt es nicht mehr.
({4})
Da ich nur noch wenig Redezeit habe, möchte ich ein
positives Beispiel bringen. Den Bündnisgrünen geht es ja
in Ostdeutschland nicht gut.
({5})
Das ist richtig. Aber in Rostock hat es sich zum Beispiel
schon geändert. Da haben wir bei der Oberbürgermeisterwahl 19 Prozent erzielt.
({6})
Sie sehen: Mit guten Konzepten und Personen ist die Lage
für uns nicht hoffnungslos. Das ist auch in Sachsen-Anhalt ganz wichtig.
Wir haben beispielsweise auf dem Gelände von SKET,
dem Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann, heute
einen Windkraftanlagenbauer, der 2 400 Arbeitsplätze in
einer Zukunftsbranche geschaffen hat. Das muss man sehen. Wir sind also keine grünen Spinner, sondern haben
frischen Wind in die Wirtschaftspolitik von Sachsen-Anhalt gebracht. Nur das bringt uns weiter.
({7})
Ich gebe das
Wort Staatsminister Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich
noch einmal zu Wort gemeldet, weil nach meiner Ansicht
einfach ein paar Dinge richtig gestellt werden müssen.
({0})
Ich will mich aber zunächst noch einmal ausdrücklich
bei Dr. Wend bedanken. Die Zuhörerinnen und Zuhörer,
die heute am Fernseher sitzen, hätten ja ansonsten den
Werner Schulz ({1})
Eindruck gewinnen können, dass nichts passiere. Ich sage
ausdrücklich noch einmal, dass der Haushaltsausschuss in
dieser Woche eine Bundesbürgschaft beschlossen hat, mit
deren Hilfe 580 Arbeitsplätze in einer Zellstofffabrik in
Stendal angesiedelt werden können. Hier handelt es sich
ganz konkret um Aufbau Ost. Das rückt Schmalspuranschuldigungen ins rechte Licht.
({2})
Es sind heute Aussagen getätigt worden, die an Unwahrheit grenzen; sie sind eigentlich glatt unwahr. Ich
spreche Sie, Herr Nooke, einmal direkt an, da Sie sich ja
auch ein wenig als Spezialist profiliert haben. Als Allererstes will ich noch einmal etwas zu Ihrer Anschuldigung
bezogen auf die Aussagen des Bundeskanzlers bei der
Kommandeurtagung zum Thema Lohnangleichung sagen. Der Bundeskanzler hat tatsächlich gesagt - ich darf
hier zitieren -:
Das, was angekündigt worden ist - z. B. aus Sachsen-Anhalt -, dass man das in einer gewissen Stufenfolge machen will, scheint mir deswegen der richtige Weg.
Das ist das gesprochene Wort: ein konkretes Bekenntnis
zum Stufenplan zur Angleichung der Löhne im Bereich
des öffentlichen Dienstes bis 2007. So ist der Sachverhalt,
nicht so, wie Sie ihn hier darstellten.
({3})
Ich füge ausdrücklich noch einmal hinzu, da wir ja die
Unterschiede, Herr Nooke, nicht zukleistern sollten: Sie
sehen das in Ihrem Programm nur für Bundesbedienstete
vor; wir aber wollen keine neue Spaltung im öffentlichen
Dienst Ost. Das mögen Sie bitte Ihren Sympathisanten in
den neuen Bundesländern erklären. So viel zum Ersten.
({4})
Zweitens möchte ich schon noch einmal etwas zu den
ominösen Öffnungsklauseln Ost sagen. Sie haben dieses
Sonderrecht Ost wieder angeführt und es tauchte auch bei
verschiedenen anderen wieder auf. Ich will ausdrücklich
noch einmal sagen - allein schon aus Respekt vor dem
Altbundeskanzler Helmut Schmidt -: Als dieser Vorschlag im Herbst letzten Jahres kam,
({5})
hat die Wirtschaftsministerkonferenz Ost gemeinsam mit
dem Bundeswirtschaftsminister sofort eine Arbeitsgruppe
eingesetzt - übrigens unter Federführung von Sachsen -,
die zu dem Ergebnis kam, dass dies aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist.
({6})
Es hat noch vor Ostern - das wissen Sie alles; ich darf
es aber hier noch einmal sagen - eine Ministerpräsidentenkonferenz Ost stattgefunden, bei der die Ministerpräsidenten gesagt haben, sie wollten so etwas für alle Länder.
Übrigens war Ministerpräsident Teufel der Erste, der gesagt hat, für den Osten allein könne es das nicht geben,
wenn, dann für alle. Das ist die Situation. Also hören Sie
doch auf, solche Dinge zu erzählen, von denen Sie ganz
genau wissen, dass sie nicht umgesetzt werden können!
Wenn übrigens die größte Regionalzeitung in Ostdeutschland unmittelbar zu dieser Diskussion mit Blick
auf Stoibers Forderung sinngemäß schreibt, dass etwas
versprochen werde, von dem man ganz genau wisse, dass
es das nicht geben werde, dann ist das eine klare Antwort
auf solche inhaltslosen Perspektiven, die Sie hier formuliert haben.
({7})
Zum Schluss möchte ich ausdrücklich noch einmal sagen - ich kann das in der Kürze der Zeit nicht weiter ausführen; wir haben aber lang und breit darüber geredet -:
Das hat natürlich auch etwas mit der Entsolidarisierungsstrategie zu tun, die parallel dazu praktisch vollzogen
wird, und zwar durch die Politik des bayerischen Ministerpräsidenten mit der Verfassungsklage in Karlsruhe gegen den Risikostrukturausgleich, die sich gegen den Mittelstand in Ostdeutschland richtet.
({8})
Im Erfolgsfall droht eine Explosion der Lohnnebenkosten
und wird bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in die Lohntüte gegriffen werden. Das ist das konkrete
Handeln, das Sie gerne verstecken möchten. Das wird Ihnen aber nicht gelingen.
({9})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Jürgen Türk.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Lemke, Kollege Dr. Wend, Sie haben gesagt, die Opposition rede den
Standort kaputt und deswegen sei alles so schlecht. Aber
einen Standort kann man nur kaputtregieren.
({0})
Das kenne ich aus DDR-Zeiten: Die Meckerer sind die
Schlimmen und deshalb sind sie auch eingesperrt worden.
So weit gehen Sie nicht. Aber einen Standort kann man
nur kaputtregieren. Die jungen Leute gehen nicht weg,
weil alles schlechtgeredet wird, sondern sie gehen weg,
weil sie keine Perspektive mehr haben. Das ist die Realität.
({1})
Zum Stadtumbauprogramm: Natürlich ist der Ansatz
gut; aber Fakt ist auch, dass die Mittel, die dafür vorgesehen sind, nicht reichen. Damit bekommen Sie nicht einmal den Abriss in einem vernünftigen Zeitraum hin. Das
kann man vorrechnen. Sie jedoch tun so, als sei alles
schön und gut, aber die Leute gehen trotzdem weg. Also
Schluss mit dieser Schönrederei!
({2})
Sie sind als SPD insbesondere für mehr Gerechtigkeit
angetreten. Das ist eine schöne Sache. Aber es ist Ihnen
nicht gelungen, mehr Wirtschaftswachstum zu erreichen,
was sich auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht. Die
Schere zwischen Ost und West öffnet sich. Das ist keine
Schlechtrederei, sondern das ist Fakt. Daraus muss man
entsprechende Schlussfolgerungen ziehen.
({3})
Jetzt zu einer großen Gerechtigkeitslücke aus jüngster
Vergangenheit, der Rentenlücke beim ehemaligen mittleren medizinischen Personal. Das ist bisher vergessen
worden. Wahrscheinlich wird das mittlere medizinische
Personal immer vergessen. Wir wollen das hier nicht tun.
Es handelt sich dabei um eine große Gruppe, die viel verdient hätte, weil sie viel geleistet hat, die aber wenig verdient hat. Die DDR hat sie damals auf die Rente vertröstet; der Rentenanspruch sah einen Faktor von 1,5 vor.
Dann ist die DDR zu Ende gegangen
({4})
und da war guter Rat teuer. Wir haben entsprechend dem
DDR-Gesetz bis 1996 den Bestandsschutz gewährt und
bei den Renten mit 1,5 multipliziert. Krankenschwestern
und Pfleger jedoch, die ab 1997 - das ist das Problem Rentner geworden sind, erhalten jetzt monatlich mindestens 500 DM weniger. Das sind immerhin 340 000 Menschen, die ungerecht behandelt werden und sich auch so
behandelt fühlen.
({5})
Es ist nachvollziehbar, wenn sie sagen, dass es so nicht
geht.
Deswegen haben mein Kollege Klaus Haupt, meine
Kollegin Cornelia Pieper und ich die Initiative ergriffen
und hat die FDP den Antrag gestellt, die Rente für das
mittlere medizinische Personal wie bis 1996 zu berechnen.
({6})
Wir fordern ein faires Rentenrecht für alle, die ab 1997
Rentner geworden sind, damit sie als Rentner nicht ganz
alt aussehen.
({7})
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung machen. Bei
den Problemen in Ostdeutschland handelt es sich um Probleme, über die man nicht einfach so daherreden kann.
Aber wahrscheinlich halten Sie diese Probleme für nicht
so wichtig; denn bei dieser Debatte hat sich kein Minister
sehen lassen.
({8})
- Ausnahmen bestätigen die Regel.
Vielen Dank.
({9})
Als letzter
Redner in dieser Debatte hat der Kollege Hans-Peter
Kemper das Wort für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Bevor ich zu dem eigentlichen
Thema, nämlich zu der Angleichung der Löhne in Ost und
West, komme, möchte ich eine Vorbemerkung zum Verlauf dieser Debatte machen.
Mein Kollege Rainer Wend hat darauf hingewiesen,
dass es in Wahlkampfzeiten oftmals schwierig ist, sauber
zu differenzieren. Wenn Herr Nooke in fachlicher Hinsicht Unsinn erzählt, dann ist das sein Problem; damit
muss er allein fertig werden. Wenn er aber angesichts der
näher rückenden Wahl in Sachsen-Anhalt nicht in der
Lage ist, menschlich sauber und fair mit den Kolleginnen
und Kollegen unserer Fraktion umzugehen, dann ist das
bedenklich. Er hat meine Kollegin Sabine Kaspereit der
Lüge bezichtigt. Als er in diesem Punkt widerlegt worden
ist, hat er nicht einmal den Anstand gehabt, sich zu
entschuldigen und diese Behauptung zurückzunehmen.
Das ist menschlich zutiefst unanständig und hat nachteilige Auswirkungen auf den Umgang miteinander.
({0})
Die Forderung gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist ein
Stück sozialer Gerechtigkeit und damit auch ein Stück
grundsätzlicher Politik der Sozialdemokratie. Es ist nicht
nachzuvollziehen, dass im Osten unseres Landes Menschen für engagierte und gute Arbeit weniger Geld bekommen als im Westen. Daher begrüßen wir, dass sich
Ministerpräsident Höppner und Bundeskanzler Schröder
in dieser Frage sehr deutlich geäußert haben und energisch eine Angleichung gefordert haben. Wir unterstützen
nachdrücklich diese Forderung und werden alles daransetzen, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Bei den letzten Tarifverhandlungen sind die Löhne und
Gehälter im öffentlichen Dienst im Osten in drei Stufen
von 86,5 auf heute 90 Prozent angehoben worden. Das ist
zwar noch nicht genug und reicht nicht aus.
({1})
Aber es sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.
Die Nettobetrachtung ergibt ein etwas günstigeres Bild.
Aber trotzdem unterstütze ich nachdrücklich das Ziel einer Angleichung der Löhne und Gehälter. Diese Forderung müssen wir bis zum Jahre 2007 in die Tarifverhandlungen einbringen.
Hier bin ich bei einem ganz wichtigen Punkt. Vielleicht
nicht alle, aber doch die meisten Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause wissen, dass Besoldungserhöhungen
immer in einem engen zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit den Tarifabschlüssen im öffentlichen Dienst
stehen. Es gilt nämlich die Regel: Tarif muss vorangehen;
den Tarifverhandlungen darf nicht vorgegriffen werden.
Das gilt auch für die Angleichung der Löhne und Gehälter in Ost und West. Genau dies und nichts anderes haben
Gerhard Schröder und Reinhard Höppner gefordert.
Es ist völlig unstrittig, dass die Einheitlichkeit der
Löhne und Gehälter in Ost und West die Menschen seit
der Wiedervereinigung beschäftigt. Es ist auch klar, dass
gleicher Lohn für gleiche Arbeit ein wichtiges Element
für das Zusammenwachsen unserer Gesellschaft ist. Aber
auch wenn man diese Erkenntnis teilt, kann man nicht alle
Regeln über Bord werfen. Wir müssen die Kompetenzen
bezüglich dieser Frage dort lassen, wo sie hingehören,
nämlich bei den Tarifparteien. Das gilt umso mehr, als ungefähr 78 Prozent der öffentlich Bediensteten in den
neuen Bundesländern Arbeiter und Angestellte und nur
22 Prozent Beamte sind.
Lassen Sie mich noch einen anderen wichtigen Aspekt
ansprechen. 1998 haben wir von der Vorgängerregierung
eine Rekordverschuldung übernommen.
({2})
Der Staatshaushalt musste stabilisiert werden. Gleichzeitig musste die Rekordarbeitslosigkeit abgebaut werden,
die Sie uns ebenfalls überlassen hatten. Deswegen sind
die Forderungen der PDS nach einer schnellen Angleichung nur schrittweise zu erfüllen. Es darf nicht zu einer
Präjudizierung der Verhandlungen über die Beamtenbesoldung kommen.
Auf der anderen Seite müssen wir die Länder und Kommunen in Ostdeutschland einbeziehen. Diejenigen, die
später die Hauptlast dieser Regelungen im finanziellen Bereich zu tragen haben, müssen auch beteiligt werden. Denn
in den neuen Bundesländern gibt es 733 000 Beschäftigte
im öffentlichen Dienst.
Eine Anhebung der Löhne und Gehälter auf 100 Prozent würde etwa 8 Milliarden DM kosten. Auf Bundesebene würden nur 700 000 DM anfallen. Das könnte der
Bund leicht leisten. Aber es wäre unverantwortlich, das
auf Bundesebene zu beschließen, ohne Länder und Kommunen einzubeziehen, und dann die Länder und Kommunen mit diesem Problem allein zu lassen.
({3})
Die Länder und Kommunen werden ungleich höher belastet. Deswegen kann es für Bund, Länder und Kommunen
nur einen Weg geben. Wir werden gemeinsam dazu beitragen, dass die Löhne und Gehälter in den Tarifverhandlungen
bis zum Jahre 2007 - zumindest soll dies versucht werden auf Westniveau angeglichen werden. Allerdings muss dies
unter den schon heute geltenden Voraussetzungen geschehen, dass der Tarif weiterentwickelt wird, den Tarifverhandlungen nicht vorgegriffen wird und es nicht zu untragbaren
finanziellen Belastungen von Kommunen und Ländern
kommt. Hier ist nur ein gemeinsamer Weg erfolgversprechend und den werden wir gehen.
({4})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Angelegenheiten der neuen Länder auf Drucksache
14/8569 zu dem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel
„Offensive für Zukunftsinvestitionen in neuen Bundeslän-
dern starten - Abwanderung stoppen - 10-Punkte-Pro-
gramm für den Aufbau Ost“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/6066 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tung? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von FDP und CDU/CSU angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 c: Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 14/7833 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Druck-
sache 14/8519 zu dem Antrag der Fraktion der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Waggon-
baustandorte erhalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/7973 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Enthal-
tung der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf
Drucksache 14/8567 zu dem Antrag der PDS-Fraktion
„Verlässliche Perspektiven für Ostdeutschland und auch
für die westdeutschen Steuerzahlenden sichern“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6492 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen
der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 f: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Druck-
sache 14/4691 zu dem Antrag der PDS-Fraktion „Gleich-
stellung der von Strukturkrisen betroffenen Bergleute in
Ost und West“. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag
auf Drucksache 14/2385 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 g sowie Zusatzpunkte 3 und 4:
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7612 und 14/8783 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Das Haus ist damit einverstanden.
Bei der Drucksache 14/8791 wünscht die PDS eine Ab-
stimmung zur Sache. Wer stimmt dafür, dass zur Sache
abgestimmt wird? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? -
Dann überweisen wir, wenn Sie damit einverstanden sind,
auch diese Drucksache an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse.
Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Ich rufe die Tagesordnungs-
punkte 29 a bis 29 q sowie Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:
29 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
({0})
- Drucksache 14/8766 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zum NATO-Truppenstatut und anderer Gesetze ({2})
- Drucksache 14/8764 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“
- Drucksache 14/8733 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Ausschuss für Gesundheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Mineralölsteuergesetzes
- Drucksache 14/8711 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Rolf
Kutzmutz, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagegesetzes 1999
- Drucksache 14/8549 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Stiftungsrechts
- Drucksache 14/8765 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes und anderer versicherungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/8770 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Rechts der Vertretung durch Rechts-
anwälte vor den Oberlandesgerichten
- Drucksache 14/8763 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung des Marktzugangs im Luftverkehr
- Drucksache 14/8730 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes
({10})
- Drucksache 14/8732 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
k) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung einer angemessenen Vergütung psychotherapeutischer Leistungen im
Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 14/8400 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({12})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tobias
Marhold, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Angelika
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Entwicklungszusammenarbeit mit Namibia
- Drucksache 14/5796 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
m)Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, Siegfried
Helias, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Gezielter und intensiver als bisher Demokratisierung und Wiederherstellung des Rechtsstaates in Simbabwe unterstützen
- Drucksache 14/5757 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Heidemarie Ehlert, Heidemarie Lüth, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Bestellung einer Amtsanklägerin/eines Amtsanklägers
- Drucksache 14/7227 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Partnerschaftliche Beziehungen zu Lateinamerika festigen und ausbauen
- Drucksache 14/8558 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Georg
Brunnhuber, Dirk Fischer ({17}),
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages
bei Transrapid-Entscheidungen sichern
- Drucksache 14/8590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18})
Haushaltsausschuss
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Büttner ({19}), Kurt-Dieter Grill, Peter
Letzgus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans
Erschließung der Altmark und angrenzender
Gebiete mittels der Autobahnen A 14 und A 39
in Form der so genannten X-Konzeption
- Drucksache 14/8591 ({20}) -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 5a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung tierarzneimittelrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/8613 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({21})
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes
- Drucksache 14/8781 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({22})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/8711
- Tagesordnungspunkt 29 d - soll zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
überwiesen werden. - Ich sehe, dass das Haus damit einverstanden ist. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 30 a
bis 30 l sowie zu Zusatzpunkt 6. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 30 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Winfried Wolf,
Dr. Dietmar Bartsch, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes ({23})
- Drucksache 14/3332 ({24})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({25})
- Drucksache 14/8551 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wieland Sorge
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({26}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/8556 Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb
Gerhard Rübenkönig
Matthias Berninger
Dr. Günter Rexrodt
Der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion, hat
gebeten, eine kurze persönliche Erklärung dazu abgeben
zu dürfen. Ich gebe ihm das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mein Abstimmungsverhalten bei der Entscheidung über den von der
PDS eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Eisenbahnkreuzungsgesetzes darlegen und kurz begründen. Dazu liegen die Beschlussempfehlung und der
Bericht des federführenden Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8551 vor.
Die Beschlussempfehlung lautet, den Gesetzentwurf der
PDS-Fraktion abzulehnen.
Ich stimme gegen diese Beschlussempfehlung, weil
damit eine Ungleichbehandlung ostdeutscher Kommunen
zementiert und für rechtens erklärt wird.
Es geht darum, dass ostdeutsche Kommunen auch
weiterhin die Grundsanierungskosten, die sich bei der
Rekonstruktion der über Jahrzehnte vernachlässigten
Straßenbrücken über Schienenwege der Eisenbahn ergeben, tragen müssen,
({0})
während im Altbundesgebiet dafür die Eisenbahnunternehmen aufzukommen haben. Das ist Ungleichbehandlung pur.
Als so genannte Begründung für diese Ungleichbehandlung
muss eine formale DDR-Verwaltungsvereinbarung aus dem
Jahre 1953 herhalten, nach der Straßenüberführungen in die
Baulast der Kommunen übertragen wurden.
Ich stimme gegen diese Beschlussempfehlung, weil die
eben angesprochene Übertragung aufgrund einer 49 Jahre
alten DDR-Verwaltungsvereinbarung nur eine Verantwortung, bloß auf dem Papier, mit sich brachte. Die Kommunen in der ehemaligen DDR hatten - ich zitiere keine eigene Finanzhoheit und sind mithin für den
schlechten Erhaltungszustand der Brückenbauwerke
nicht verantwortlich zu machen.
Dieses Zitat stammt aus einem Änderungsantrag der
SPD-Fraktion zum Eisenbahnkreuzungsgesetz aus der
letzten Wahlperiode. Damals, vor fünf Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat auch die SPD-Fraktion verlangt - ich zitiere Ihren eigenen Antrag -, dass die Kosten
für die aufgelaufenen Unterhaltungsrückstände nicht den
ostdeutschen Kommunen aufgebürdet werden, sondern je
zur Hälfte vom Bund und vom Eisenbahnunternehmen zu
tragen sind. Genau diese damalige Forderung der SPD
- und nichts anderes - steht heute im Gesetzentwurf der
PDS.
Herr Kollege Rössel, Sie können begründen, warum Sie wie stimmen, aber Sie haben nicht das Recht, sich im Rahmen einer persönlichen Erklärung mit den Positionen der
anderen Fraktionen auseinander zu setzen. Ich bitte Sie
daher, zum Schluss zu kommen.
Ich stimme gegen die
Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses,
weil die im Bericht des Ausschusses erwähnten Entlastungsmaßnahmen für die Jahre 1999 bis 2003 in einer Gesamthöhe von rund 125 Millionen Euro das Problem nicht
lösen werden. Ich stimme ferner gegen die Beschlussempfehlung, weil damit die jahrelangen Hilferufe der Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker ignoriert werden. Ich stimme gegen die Beschlussempfehlung, weil sich
die kommunalen Spitzenverbände in Stellungnahmen, die
uns vorgelegt worden sind, deutlich für die Annahme dieser parlamentarischen Initiative ausgesprochen haben.
Die Annahme des PDS-Gesetzentwurfes durch das
Hohe Haus wäre gerade in Zeiten dramatischer Finanznot
ostdeutscher Kommunen ein spürbarer Schritt zu deren
Entlastung von Ausgaben, die sie nicht zu verantworten
haben. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, helfen Sie mit, zu retten, was noch zu retten ist. Stimmen Sie
gegen diese Beschlussempfehlung!
Herr Kollege Rössel, Sie können Ihr Abstimmungsverhalten begründen. Ich entziehe Ihnen das Wort.
Ich bedanke mich für
Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Sie können
Ihr Abstimmungsverhalten begründen und sonst nichts.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/8551, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen möchten, bitte ich um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 30 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll vom 3. Juni 1999 betreffend
die Änderung des Übereinkommens vom 9. Mai
1980 über den internationalen Eisenbahnverkehr ({0})
- Drucksache 14/8172 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({2})
- Drucksache 14/8547 Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({3})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/8547, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
2. Februar 1998 über die Vorrechte und Befreiungen der Kommission zum Schutz der Meeresumwelt der Ostsee
- Drucksache 14/8217 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
- Drucksache 14/8614 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Kurt-Dieter Grill
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/8614, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 21. November 2000
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik
Polen über den Bau und die Erhaltung von
Grenzbrücken im nachgeordneten Straßennetz
- Drucksache 14/8224 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({7})
- Drucksache 14/8641 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/8641, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte, sich zu erheben, wenn
Sie zustimmen möchten. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. November 2000 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
der Französischen Republik über die Zusammenarbeit bei der Wahrnehmung schifffahrtspolizeilicher Aufgaben auf dem deutsch-französischen Rheinabschnitt
- Drucksache 14/8219 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({9})
- Drucksache 14/8645 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt, diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, bitte
ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 12. September 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Tschechischen Republik über den Zusammenschluss der deutschen Autobahn A 17 und der
tschechischen Autobahn D 8 an der gemeinsamen
Staatsgrenze durch Errichtung einer Grenzbrücke
- Drucksache 14/8220 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({11})
- Drucksache 14/8646 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Der bereits genannte Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Diejenigen, die zustimmen
möchten, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 12. Juni 2001 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über den Bau und die Erhaltung von
Grenzbrücken über den Rhein, die nicht in der
Baulast der Vertragsparteien liegen
- Drucksache 14/8216 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({13})
- Drucksache 14/8647 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Der genannte Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Diejenigen, die zustimmen möchten, bitte
ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte, sich zu erheben, wenn
Sie zustimmen möchten. - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 h:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 6 vom
21. Oktober 1999 zu der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868
- Drucksache 14/8215 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({15})
- Drucksache 14/8650 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Der genannte Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 i ist einmal etwas anderes:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Abkommens vom 4. Dezember 1991 zur Erhaltung der Fledermäuse in
Europa
- Drucksache 14/7980 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({17})
- Drucksache 14/8409 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Cajus Caesar
Sylvia Voß
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
({18})
- Besonderer Beifall aus der Fraktion der Grünen!
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/8409, den Gesetzentwurf über die Erhaltung der Fledermäuse in Europa anzunehmen.
({19})
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt gegen die Erhaltung der Fledermäuse in Europa? - Niemand. Enthaltungen? - Auch niemand. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
({20})
- Noch sind wir nicht fertig.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
ist ein erhebendes Bild. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich danke Ihnen.
Tagesordnungspunkt 30 j:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März
2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung
der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
- Drucksache 14/8213 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22})
- Drucksache 14/8794 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({23})
Hansgeorg Hauser ({24})
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/8794,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich sage nur zur
Klärung, dass es keine dritte Lesung gibt, da es sich um
ein Vertragsgesetz handelt. Ich bitte diejenigen, die dafür
stimmen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 k:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({25}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Eva
Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Kurdische Namensgebung in der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen
- Drucksachen 14/3749, 14/8513 Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Martin Hohmann
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3749 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 l:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der PDS
Änderung des Zeitraumes für die Berichte der
Bundesregierung über den Stand der Auszahlungen und die Zusammenarbeit der Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
mit den Partnerorganisationen
- Drucksache 14/8612 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Nun kommen wir zu Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({26}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Entwicklung der Konvergenz
in der Europäischen Union im Jahr 2000
- Drucksachen 14/7563, 14/8580 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Binding ({27})
Klaus-Peter Willsch
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 14/7563, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der
PDS-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr
Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Zollfahndungsdienstes
({28})
- Drucksache 14/8007 ({29}) ({30})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({31})
- Drucksache 14/8515 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({32})
Heidemarie Ehlert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist dies so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, weise ich darauf hin,
dass zur Annahme des Gesetzes, über das wir in einer halben Stunde namentlich abstimmen werden, nach Art. 87
Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit erforderlich ist. Das sind 334 Stimmen.
Nunmehr eröffne ich die Aussprache und gebe als erster Rednerin der Parlamentarischen Staatssekretärin beim
Bundesminister der Finanzen, der Kollegin Dr. Barbara
Hendricks, das Wort.
Danke schön, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anforderungen an eine wirksame und nachhaltige Kriminalitätsbekämpfung durch den Zollfahndungsdienst haben sich
in den letzten Jahren aufgrund der Verwirklichung des
Binnenmarktes, der Öffnung der Grenzen nach Osteuropa
und der immer häufiger anzutreffenden Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität grundlegend geändert.
Der heute zu verabschiedende Entwurf eines Zollfahndungsneuregelungsgesetzes schafft die Voraussetzungen
dafür, diesen geänderten Anforderungen Rechnung zu
tragen.
Dabei verfolgen wir mit diesem Gesetz drei Ziele: erstens die Errichtung eines einheitlichen Organisationsstranges für den Zollfahndungsdienst, zweitens die detaillierte
Regelung der Aufgaben und der Befugnisse des Zollkriminalamtes und der Zollfahndungsämter sowie drittens die
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Schaffung bereichsspezifischer Datenschutzbestimmungen für das Zollkriminalamt und die Zollfahndungsämter.
Bisher sind die Zollfahndungsämter organisatorisch
und personell den Oberfinanzdirektionen unterstellt und
erhalten daneben vom Zollkriminalamt fachliche Weisungen. Die einheitliche organisatorische, personelle und
fachliche Unterstellung der Zollfahndungsämter unter das
Zollkriminalamt schafft nunmehr klare Organisationsstränge, wie sie im Übrigen auch vom Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages und vom
Bundesrechnungshof angesichts der engen Verzahnung
der Aufgaben des Zollkriminalamtes und der Zollfahndungsämter gefordert werden.
Wegen der hierzu erforderlichen Umwandlung des
Zollkriminalamtes in eine Mittelbehörde bedarf der Gesetzentwurf gemäß Art. 87 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes der Zustimmung des Bundesrates sowie der Mehrheit
der Mitglieder des Bundestages; der Herr Präsident hat
soeben darauf hingewiesen.
Die Anbindung der Zollfahndungsämter an das
Zollkriminalamt ist ein wichtiger Schritt im Rahmen der
Neustrukturierung der Bundesfinanzverwaltung innerhalb unseres Regierungsprogramms „Moderner Staat Moderne Verwaltung“.
Der Gesetzentwurf stellt die Aufgaben und Befugnisse des Zollkriminalamtes und der Zollfahndungsämter, soweit sie nicht bereits in anderen Gesetzen geregelt
sind, auf eine eindeutige Rechtsgrundlage und knüpft im
Wesentlichen an die gegenwärtigen Tätigkeiten des Zollfahndungsdienstes an. Dabei spiegeln die Aufgaben des
Zollkriminalamtes dessen unterschiedlichen Charakter einerseits als Überwachungsbehörde, soweit es an der Überwachung des Außenwirtschaftsverkehrs und des grenzüberschreitenden Waren- und Bargeldverkehrs mitwirkt, und
andererseits als Strafverfolgungs- und als Finanzbehörde,
soweit es im Rahmen seiner Ermittlungsaufgaben zum
Zwecke einer gesetz- und gleichmäßigen Besteuerung im
Zoll- und Verbrauchsteuerbereich auch steuerlich tätig
wird, wider.
Die Aufgabe, eigenständig an der durch die Hauptzollämter und Zollfahndungsämter durchzuführenden
Bekämpfung der international organisierten Geldwäsche
mitzuwirken, geht über die bisherige Tätigkeit des
Zollkriminalamtes hinaus.
({0})
Der Entwurf stellt den Zollfahndungsbehörden zur Erfüllung präventiver Aufgaben neben allgemeinen Befugnissen nunmehr auch besondere Mittel der Datenerhebung zur Verfügung. Insofern wird durch den Entwurf
eine Angleichung an die in den Länderpolizeigesetzen
vorhandenen Regelungen hergestellt.
Nicht zuletzt schaffen wir mit dem Gesetzentwurf die
zur Wahrung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung des Bürgers notwendigen bereichspezifischen Datenschutzbestimmungen und tragen somit den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Wegen der besonderen Eingriffsintensität einiger Befugnisse
sind diese datenschutzrechtlichen Bestimmungen teilweise sehr detailliert. Sie berücksichtigen im Übrigen die
im Mai 2001 in Kraft getretenen Änderungen des Bundesdatenschutzgesetzes.
Der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme vom Dezember 2001 Ergänzungs- und Änderungsvorschläge unterbreitet, die aus fachlicher und datenschutzrechtlicher
Sicht nicht vollständig aufgegriffen werden konnten. Zu
der zustimmungsbedürftigen Errichtung des Zollkriminalamtes als Mittelbehörde hat der Bundesrat nicht Stellung genommen.
Die Änderungen im Finanzverwaltungsgesetz betreffen
die geänderte Unterstellung der Zollfahndungsämter und
die Aufhebung der ohnehin als vorübergehend konzipierten
Vorschrift über Aufgaben und Befugnisse des Zollkriminalamtes. Soweit andere Gesetze, wie das Grundstoffüberwachungsgesetz, das Bundeskriminalamtsgesetz und die
Abgabenordnung, auf diese aufzuhebenden Regelungen
verweisen, bestand ein Anpassungsbedarf.
Im Bereich des Straßenverkehrsrechts werden die Zugriffsmöglichkeiten des Zollfahndungsdienstes sowie der
Zolldienststellen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch
Kontrollen von Beförderungsmitteln durchführen und
hierzu ein Anhalterecht besitzen, verbessert.
Im Bereich des Außenwirtschaftsrechts war die Schaffung einer Bußgeldandrohung notwendig, um bei der
Durchführung von Maßnahmen nach dem Außenwirtschaftsgesetz die Erteilung von Auskünften und die Herausgabe von Sendungen auch erzwingen zu können.
Das Bundesverfassungsschutzgesetz und das Bundesnachrichtendienstgesetz werden um bereichsspezifische
Datenschutzregelungen für so genannte Spontanübermittlungen der Behörden des Zollfahndungsdienstes ergänzt.
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden Organisation, Aufgaben und Befugnisse des Zollfahndungsdienstes neu definiert und klar geregelt.
({1})
Dies dient sowohl der inneren Sicherheit als auch der
Rechtssicherheit der mit diesen Aufgaben betrauten Stellen. Schließlich wird ein datenschutzrechtlich angemessener Ausgleich zwischen den Belangen des Staates bei
der Kriminalitätsbekämpfung und den berechtigten Interessen des Einzelnen geschaffen.
Im Finanzausschuss war es zeitweise zu Irritationen
gekommen, weil die Verwaltung im Vorgriff auf die zu erwartende Gesetzesänderung bereits Personaldienststellen
ausgeschrieben hatte. Von den ausgeschriebenen Stellen
sind im Hinblick auf die zu erwartenden Gesetzesänderungen 19 Dienstposten ausgeschrieben gewesen, damit
die Gesetzesänderungen im künftigen Bereich Organisation, Personal und Haushalt zügig umgesetzt werden können. Selbstverständlich werden diese Stellen erst dann besetzt, wenn dieses Gesetz verabschiedet ist, zumal diese
Stellen sonst gar nicht vorhanden wären. Insofern erfolgt
kein unzulässiger Vorgriff, sondern dies ist verwaltungsübliches Handeln, um eine rasche Umsetzung der Gesetzgebung tatsächlich vollziehen zu können.
Ich bitte deshalb um die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Jochen-Konrad
Fromme.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als Union unterstützen die Grundanliegen dieses Gesetzentwurfes.
Veränderte Verhältnisse erfordern neue Strukturen. Deswegen ist es selbstverständlich, dass diese von Zeit zu
Zeit angepasst werden müssen. Wo immer es geht, unterstützen wir natürlich die Kriminalitätsbekämpfung. Deswegen braucht der Bund der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft keine Sorge zu haben, dass wir etwa nicht
hinter der Arbeit der Beamten und der anderen Mitarbeiter
des Staates stehen.
({0})
Aber es müssen der richtige Weg und die richtigen Mittel sein. Genau das ist hier nicht der Fall. Wir können diesem Gesetzentwurf aus zwei Gründen nicht zustimmen.
Es geht zunächst einmal um den Umgang der Regierung
mit dem Parlament. Frau Staatssekretärin, ich beurteile
es völlig anders, wenn im Vorgriff auf ein Gesetz, das sogar eine Kanzlermehrheit benötigt, hierzu in der Verwaltung schon Fakten geschaffen werden. Es war nicht nur
so, dass die Stellen schon ausgeschrieben wurden, sondern Sie haben dies im Ausschuss zunächst sogar geleugnet und mussten sich dann selber verbessern.
Ein solcher Umgang macht es unmöglich, einem solchen Gesetzentwurf zuzustimmen. Im Übrigen stärkt es
nicht gerade das Vertrauen, wenn die Regierungsvertreter
so schlecht informiert sind und den Sachverhalt noch
nicht einmal erklären können. Deswegen können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({1})
Daneben führen natürlich auch handwerkliche Mängel
dazu, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Die datenschutzrechtlichen Regelungen entsprechen nicht den
Vorstellungen, die wir damit verbinden. Wenn beispielsweise in § 11 Abs. 4 des Zollfahndungsneuregelungsgesetzes davon die Rede ist, dass bei durchschnittlich jedem
zehnten Datenabruf zu Zwecken der Datenschutzkontrolle
Protokolle gefertigt werden, dann ist das viel zu unbestimmt und ermöglicht gerade die Manipulation, die durch
solche Kontrollvorschriften ausgeschlossen werden soll.
Es soll doch protokolliert werden, um zum einen diejenigen, die damit umgehen, zu disziplinieren, und zum
anderen diejenigen, die betroffen sind, in ihren Rechten zu
schützen. Wenn ich nun etwas nicht ganz Koscheres machen will, dann erkläre ich, dass nicht das zehnte, sondern
das elfte Mal protokolliert wird. So etwas geht nicht.
Wenn ein Gesetz handwerklich so schlecht gestaltet ist,
dann können und werden wir das nicht billigen. Deswegen werden wir dem nicht zustimmen.
({2})
Sie haben auf eine ähnliche Formulierung im BKAGesetz hingewiesen, das unter unserer Verantwortung beschlossen worden ist. Ich habe mir die Diskussion einmal
angeschaut. Ich weiß jetzt, was Sie damals dazu gesagt
haben und dass Sie dazu sehr kritisch Stellung genommen
haben. Gleiches gilt für andere unbestimmte Begriffe, wie
„Straftaten mit erheblicher Bedeutung“, die damals eine
große Rolle gespielt haben.
Ich frage mich schon, woher der Meinungswandel
kommt, dass Sie plötzlich Dinge, die Sie vor Ihrer Regierungstätigkeit verteufelt haben, jetzt nicht nur billigen, sondern sogar als selbstverständlich und handwerklich in Ordnung darstellen. Ich hätte gerne erlebt, wie Ihre Reaktion
gewesen wäre, wenn wir ein solches Gesetz vorgelegt hätten. Sie wäre wahrscheinlich genauso ablehnend wie damals
beim BKA-Gesetz gewesen. Deswegen muss man schon ein
bisschen Ursachenforschung betreiben, um herauszufinden,
was zu Ihrem Meinungsumschwung geführt hat.
Ich glaube, Sie nutzen jede Gelegenheit, um Geld in die
staatlichen Kassen zu holen. Das ist Ihr Grundprinzip.
Deswegen ist es Ihnen auch völlig egal, was Sie früher
zum Datenschutz und zu ähnlichen Dingen gesagt haben.
Wenn sich damit jetzt das Steueraufkommen erhöhen
lässt, dann ist es Ihnen recht und billig. Das ist nicht in
Ordnung.
({3})
Sie setzen doch Ihre Linie mit Ökosteuer, Tabaksteuer
und Versicherungsteuer fort. Sie behaupten, Sie hätten
den Mittelstand entlastet. Gestern konnten wir in der Anhörung zum Familienrecht wieder einmal hören, dass die
Familien weniger Geld als vorher in der Tasche haben.
Das haben Experten gesagt. Das waren nicht unsere Vorstellungen.
Da bemüht sich der Finanzminister angesichts der desolaten Haushaltslage, deutlich zu machen, dass es keine
Steuererhöhungen geben soll. Im gleichen Atemzug sagen
Ihnen die Gewerkschaften: Vermögensteuer und Erbschaftsteuer müssen kräftig erhöht werden. - Meine sehr
verehrten Damen und Herren, das ist ein Thema, das jedermann angeht. Denn spätestens über die Miete wird es
jeden einholen.
({4})
Das ist Ihre Politik.
Genau in diese Politik reiht sich auch Ihr Meinungswandel ein, was die Frage des Datenschutzes und ähnliche Dinge betrifft.
({5})
Sie haben in der Steuerpolitik jedes Maß für praktische
Regelungen verloren.
({6})
Sie machen viele Eingriffe und haben in der Steuerpolitik
ein Klima geschaffen, das es den Betroffenen vermiest
und unmöglich macht, zu wirtschaften. Wer mit Schrot
auf Mücken schießt, wie Sie es tun, meine Damen und
Herren, der wird sehr wahrscheinlich die Mücken nicht
treffen, aber rundum großen Schaden anrichten. Genau so
ist Ihre Steuerpolitik. Ich werde Ihnen das gleich an wenigen Beispielen erläutern.
({7})
Um einem Zwischenruf vorzubeugen, will ich dazu gleich
sagen: Steuermissbrauch und -kriminalität bezeichnen
wir nicht als Mücke. Vielmehr geht es um die Frage der
handwerklichen Durchführung ihrer Bekämpfung.
Sie haben einen neuen Feind entdeckt. Dieser Feind ist
bei Ihnen der Unternehmer, der wirtschaftlich Tätige.
({8})
Für Sie ist jeder ein potenzieller Krimineller. Deswegen
behandeln Sie ihn so.
Ich nehme nur einmal das Thema Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz. Meine Damen und Herren, Sie haben ein Recht statuiert, Wohnungen und Geschäftslokale
ohne vorherige Ankündigung zu betreten, ohne dass - wie
es in anderen Eilfällen ist - vorher ein Staatsanwalt das
prüft. Sie haben die Regelung geschaffen, dass man sofort
ohne Anordnung in eine Betriebsprüfung eintreten kann.
Wer so jeden Steuerpflichtigen als Quasikriminellen behandelt,
({9})
der darf sich doch nicht wundern, wenn ihm diese Leute
weglaufen.
({10})
Nehmen Sie den Tatbestand des § 370 a, gewerbsmäßige oder bandenmäßige Steuerhinterziehung.
({11})
- Ich schildere das Klima, in dem sich dieses Thema bewegt. Da haben Sie jeden wegen der kleinsten Steuerverfehlung gleich zum Schwerkriminellen gemacht. Das war
nicht etwa, wie die Deutsche Steuergewerkschaft es gestern verniedlichen wollte, eine versehentliche Kriminalisierung. Ich erinnere mich an die intensive Debatte im
Ausschuss gerade um diese Punkte. Sie haben es trotzdem
gemacht. Jetzt merken Sie es.
Ich komme zum Thema Steuernummer. Meine Damen
und Herren, Sie haben den Datenschutz immer sehr ernst
genommen. Jetzt wollen Sie plötzlich einführen, dass die
Steuernummer auf jede Rechnung geschrieben werden
muss. Damit ist das Steuergeheimnis im höchsten Maße
gefährdet.
({12})
- Herr Tauss, richtiger Datenschutz ist natürlich in Ordnung. Sie haben das in der Vergangenheit überzogen. Jetzt
sind Sie ins andere Extrem gefallen und sagen: Das interessiert uns alles nicht mehr; wir müssen nur diesen bösen
Steuerpflichtigen ständig auf die Finger schauen und auf
die Finger klopfen.
Wer sich so benimmt, der braucht sich nicht zu wundern, dass der Mittelstand als Hauptbetroffener keine
Lust hat, in Deutschland zu arbeiten und zu wirtschaften.
({13})
Wer sich so benimmt, der braucht sich nicht zu wundern,
wenn das notwendige Wirtschaftswachstum nicht zustande kommt. Statt hier zu überziehen, sollten Sie sich
einmal richtig um die Frage der Arbeitslosigkeit kümmern. Dann bräuchten wir uns nicht über 4,3 Millionen
Arbeitslose zu unterhalten. Sie sollten handwerklich ordentlich und sauber arbeiten!
({14})
Meine Damen und Herren, ich wiederhole, was ich eingangs gesagt habe: Wenn am Parlament vorbei Fakten geschaffen werden, dann ist das nicht zu billigen. Wenn eine
Koalitionsfraktion dies einfach hinnimmt, dann zeigt das,
dass sie im Grunde ihre parlamentarische Aufgabe gar
nicht wahrnimmt, sondern Büttel der Regierung ist und
immer nur applaudiert, um das zu unterstreichen, was
diese sagt. Das kann es nicht sein. Wir werden deshalb
diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({15})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Christine Scheel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Fromme, Ihr Beitrag war insofern wieder sehr erhellend,
({0})
als wir jetzt wissen, dass die Union wirklich überhaupt
kein Interesse daran hat, Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
({1})
Das ist aus Ihren Ausführungen sehr deutlich geworden.
Welchen Sinn macht es denn, wenn ein Fahnder oder
ein Prüfer kommt, nachdem er sich schriftlich angekündigt hat, und derjenige, der geprüft werden soll, vorher die
Akten oder die Disketten verschwinden lässt? Das ist
doch Unsinn. Um Kriminalitätsbekämpfung vorzunehmen, ist es deshalb notwendig, dass man vernünftige Zugriffe organisiert. Das haben wir gesetzlich geregelt; das
ist auch richtig so.
Wir sprechen jetzt hier über das Zollfahndungsneuregelungsgesetz. Es war für die Union anscheinend nicht so
einfach, Gründe zu finden, warum sie dieses Gesetz abJochen-Konrad Fromme
lehnen will. Sie haben sich dann auf die eher formale
Ebene zurückgezogen,
({2})
sich aber nicht zu inhaltlichen Aspekten geäußert. Das
finde ich sehr bedauerlich, denn es geht darum, dass wir
wegen des europäischen Binnenmarktes, wegen der Öffnung der Grenzen nach Osteuropa und wegen der in den
letzten Jahren in verschiedenen Formen zunehmend auftretenden organisierten Kriminalität eine sehr wirksame
Kriminalitätsbekämpfung benötigen. Dafür ist dieses
Gesetz gedacht, denn bei den Zollfahndungsbehörden
sind eine stärkere Konzentration von Personal und dessen
stärkere Spezialisierung bei der Umsetzung der Aufgaben
nötig. Dies gewährleistet einen effektiveren Personaleinsatz. Zollfahndungsaktivitäten werden in Deutschland
künftig hochspezialisiert mit schlagkräftigen Einheiten
erfolgen können. Das ist der Hintergrund dieses Gesetzes.
Es reicht aber nicht aus, allein auf diesen Punkt zu setzen. Vielmehr benötigt der Zollfahndungsdienst auch
klare Kompetenzen und klare Weisungswege. Die gesamte Organisation muss weiter gestrafft werden. Auch
dies ist Bestandteil des vorgelegten Gesetzentwurfes.
Mit diesem Gesetzentwurf, über den wir heute abschließend beraten, findet die Neuordnung bei der Zollfahndung ihren Abschluss. Die Zollfahndungsbehörden
erhalten mehr Befugnisse, um Zollvergehen im Vorfeld zu
verhindern, um sie aufzudecken, um die Täter zu ermitteln. So dürfen sie künftig beispielsweise personenbezogene Daten sammeln. Sie dürfen zur Erhebung dieser Daten in gleicher Weise wie Polizeibeamte ermitteln. Dabei
ist ganz klar geregelt, dass sehr eingriffsintensive Methoden wie zum Beispiel längerfristige Observationen mit
Bild- und Tonaufzeichnungen eben nur bei gewerbs-, gewohnheits- oder bandenmäßig begangenen Straftaten eingesetzt werden dürfen. Dies ist auch dringend notwendig,
denn Zollkriminalität und organisierte Kriminalität überschneiden sich immer stärker.
Eine Behörde kann nur effektiv arbeiten, wenn klar ist,
wer welche Weisungen zu erteilen hat. Bisher überschneiden sich diese Weisungskompetenzen im Zollfahndungsdienst. Das erschwert die Arbeit; die eindeutige Anbindung der Zollfahndungsämter an das Zollkriminalamt
ist auch aus diesem Grund dringend notwendig.
Klare Organisationsstränge im Zollfahndungsdienst haben im Übrigen der Bundesrechnungshof schon seit 1996
und auch der Rechnungsprüfungsausschuss seit 1997 eingefordert. Diese Forderungen setzen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um. Jetzt kann durch die direkte
Zusammenarbeit des koordinierenden Zollkriminalamtes
mit den regional selbstständigen Zollfahndungsämtern
Kriminalität nachhaltig und erfolgreich bekämpft werden.
So können zum Beispiel die Zollfahndungsämter die Spezialeinheiten des Zollkriminalamtes nun kurzfristig und
unkompliziert anfordern. Umgekehrt laufen verschiedene
dezentral gesammelte Informationen im Zollkriminalamt
zusammen und können dort weiter ausgewertet werden.
Unsere europäischen Partner brauchen einen eindeutigen Ansprechpartner, wenn Ermittlungen auch über die
Grenzen hinweg - wir alle betonen immer, dass dies notwendig ist - erfolgreich sein sollen. Gerade auf der europäischen Ebene sind in den letzten Jahren neue Aufgaben
entstanden. In diesem Zusammenhang denke ich nur an
die Bekämpfung der Geldwäsche. Aber auch bei der Erledigung ihrer klassischen Aufgaben trifft die Zollfahndung
heute immer wieder auf Täterstrukturen, die in der gesamten Europäischen Union agieren. Für die erfolgreiche
Bekämpfung ist deshalb eine effektive Amts- und Rechtshilfe durch und für andere Länder immer wichtiger geworden. Das Zollkriminalamt wird hier eine zuverlässige
Verbindung zu den entsprechenden Dienststellen der
europäischen Partner sichern.
Alle damit verbundenen Veränderungen werden uns in
Zukunft helfen, Kriminalität zu bekämpfen. Deshalb bedaure ich es sehr, dass die Union diesen Gesetzentwurf
nicht mittragen will.
({3})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Um es gleich vorwegzunehmen: Die FDP lehnt den Entwurf des Zollfahndungsneuregelungsgesetzes ab.
({0})
Es ist eine unglaubliche Missachtung des Parlaments,
wenn mit Datum vom 28. Februar 2002 Stellen auf der
Basis eines Gesetzes ausgeschrieben werden, das erst danach, nämlich am 13. März, im Finanzausschuss beraten
und heute, am 18. April 2002, im Deutschen Bundestag
verabschiedet werden soll.
({1})
Mit Datum vom 28. Februar sind in den VSF-Nachrichten - das ist die Vorschriftensammlung der Bundesfinanzverwaltung - unter Nr. 14 insgesamt 43 Dienstposten
für das Zollkriminalamt ausgeschrieben worden. Hiervon betreffen zumindest 19 Stellen - das ist auch laut
Schreiben der Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks unstreitig - die künftige OPH-Gruppe des Zollkriminalamts.
Dabei handelt es sich um die Gruppe, die für Organisation, Personal und Haushalt verantwortlich ist.
Zum einen stellt sich die Frage, ob es überhaupt
sinnvoll ist, beim Zollkriminalamt neue Stellen auszuschreiben, weil der Bedarf an Zollbeamten durch das
Schengener Abkommen deutlich gesunken ist. Der Bundesrechnungshof hat kritisiert, dass das Zollkriminalamt
schon jetzt mit circa 600 Stellen über einen zu stark aufgeblähten Apparat verfügt. Dass im Zuge angeblicher
Sparmaßnahmen zusätzliche Stellen im Zollkriminalamt
ausgeschrieben werden, ist nicht zu verstehen und nicht
nachvollziehbar.
({2})
Die Staatssekretärin rechtfertigt dieses unglaubliche
Vorgehen der Verwaltung damit, dass es sich um eine - ich
zitiere - „reine Vorbereitungsmaßnahme“ handele. Frau
Staatssekretärin, wenn Sie wirklich eine reine Vorbereitungsmaßnahme hätten treffen wollen, dann hätten Sie
doch die Ausschreibung vorbereiten können. Das würde
jeder akzeptieren. Dagegen hätte niemand etwas. Das
wäre ein vernünftiges Verhalten der Verwaltung.
Aber woher nimmt das Finanzministerium eigentlich
die unglaubliche Frechheit, diese Ausschreibung schon
vor dem Beschluss des Parlaments zu veröffentlichen und
damit schon im Februar das Verfahren bzw. die Auswirkungen des am heutigen Tage durch das Parlament zu beschließende Gesetzes vorwegzunehmen?
({3})
Dieses gesamte Verfahren wird wieder einmal klaglos
von den rot-grünen Kolleginnen und Kollegen akzeptiert.
({4})
Welches Parlamentsverständnis haben Sie eigentlich?
Welches Verständnis haben Sie eigentlich von der Rolle
eines Abgeordneten? Welches Verständnis haben Sie als
Gesetzgeber, wenn Sie dieses Verhalten der Verwaltung
ohne jegliche Kritik akzeptieren?
({5})
Bedauerlicherweise ist gerade in dieser Legislaturperiode insbesondere der Gesetzgeber in der Federführung
des Finanzausschusses fast ausschließlich zum verlängerten und willfährigen Arm der Finanzverwaltung geworden.
({6})
Hierzu reichen wir von der FDP nicht die Hand. Deshalb
möchte ich noch einmal auf das Selbstverständnis zurückkommen, das jeder - auch ein roter oder ein grüner - Abgeordnete haben sollte. Gesetze werden nicht von der Regierung beschlossen und verabschiedet. Gesetze werden
auch nicht von Ministerialbeamten beschlossen und verabschiedet. Gesetze werden hier im Bundestag von den
Abgeordneten des Deutschen Bundestages verabschiedet.
Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Deshalb ist ein
solches Präjudiz durch die Verwaltung nicht hinnehmbar.
({7})
Aus diesem Grunde ist es eine Frechheit sondergleichen,
wenn die Verwaltung Strukturveränderungen vornimmt
und Stellen ausschreibt, bevor das Gesetz verabschiedet
ist. Die Zollfahndungsstelle Heidelberg ist schon jetzt
aufgelöst und die Mitarbeiter sind bereits versetzt worden.
({8})
Dieses Vorgehen ist eine krasse Missachtung des Parlamentes, zu der die FDP nicht die Hand reicht.
({9})
Das Wort
hat die Kollegin Heidemarie Ehlert von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zoll hat mit seinen 37 000 Beschäftigten in der letzten Zeit einen wertvollen Beitrag zur
Bekämpfung der Zollkriminalität geleistet. Das betrifft
die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, der Steuerhinterziehung, der Geldwäsche und der Embargoverstöße. Die Aufgabenstellung des Zolls hat sich durch die
politischen Entwicklungen der letzten Jahre in der Tat verändert. Der Binnenmarkt wird mehr und mehr verwirklicht. Die Grenzen nach Osteuropa werden geöffnet. Die
Bundesrepublik Deutschland verliert im Schengener System ihre Außengrenzen fast vollständig. Die Zahl der Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität nimmt
damit zu. Der Zoll muss auf diese neue Entwicklung eingestellt werden.
Das ist aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aus unserer Sicht schlecht gelungen, und das in mehrfacher Hinsicht. Wäre es nur um eine Umstrukturierung der Aufgabenverteilung gegangen, dann hätten wir dem vorliegenden
Gesetzentwurf zustimmen können. Dem ist aber nicht so.
({0})
Im komplizierten Gefüge des Apparates der inneren Sicherheit werden die Kompetenzen und die Befugnisse des
Zolls aus unserer Sicht schlechter mit den Befugnissen
der Länderpolizeien und der Bundespolizei abgestimmt.
({1})
Die Befugnisse des Zolls im präventiven Bereich werden
nicht ausreichend von den Befugnissen der Länderpolizeien abgegrenzt.
({2})
Wir sehen auch nicht die Notwendigkeit ein, eine Sondereinsatzeinheit beim Zoll - ähnlich der GSG 9 - einzurichten.
({3})
Ebenso wenig notwendig und akzeptabel ist die vorgesehene Speicherung von Telefonaten.
Neben den Problemen der Befugnissabgrenzung und
der Aufgabenstellung sehe ich auch Anlass zur Kritik an
der Struktur des Zollfahndungsdienstes insgesamt.
Stimmt das Gefüge schon im nationalen Maßstab nicht, so
muss ich feststellen, dass das Gefüge auch im europäischen Maßstab nicht stimmig ist. Zur Strukturierung der
Bekämpfung der Kriminalität im europäischen Maßstab
müssen und sollen die erforderlichen Schritte von den
einheitlichen Institutionen der EU, also von Europol und
OLAF, ausgehen. Das erfordert aber auch eine parlamentarische Kontrolle dieser Institutionen.
({4})
Ich sehe ein weiteres Problem im Gefüge des Zollfahndungsdienstes insgesamt. Durch die Umstrukturierung wird das Zollamt zur Mittelbehörde aufgebaut. Auf
die Beschäftigten der Zollfahndungsämter hat dies entsprechende soziale Auswirkungen. Mit der Erweiterung
der Aufgaben des Zollfahndungsdienstes hätte die Bundesregierung sehr wohl die Möglichkeit gehabt, die Mitarbeiter des Zollfahndungsdienstes mit denen der Polizei
gleichzustellen. Soziale Regelungen bedeuten aber auch,
dass beim Wegfall von Aufgaben den Beschäftigten keine
neuen Aufgaben übertragen werden. Zielgerichtete und
strukturierte Umschulung für den Einsatz in anderen Bereichen, in denen Personalmangel herrscht, ist die Lösung.
Zum Abschluss möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen, den ich für unerhört halte. Obwohl das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag noch nicht einmal das
Gesetz gelesen und die Ausschussarbeit aufgenommen
hatte, begann die Bundesfinanzverwaltung schon mit der
Stellenausschreibung für die geplante Erweiterung des
Zollkriminalamtes.
All das sind für unsere Fraktion Gründe, das Gesetz
abzulehnen.
({5})
Zum Abschluss der
Debatte erteile ich das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte es kurz machen. Vielleicht kann ich
trotz der zunehmenden Lautstärke dazu beitragen, dass
die Kirche im Dorf bleibt.
Wenn der Kollege Fromme in der Debatte über die
Neuordnung des Zollfahndungsdienstes behauptet, der
Bundesfinanzminister tue alles, um mehr Geld einzunehmen, und das sei im Sinne ständig steigender Steuern,
dann kann ich nur sagen: Sie müssen in einem anderen
Land leben.
({0})
Zum einen senken wir die Steuern. Zum anderen - das
muss ich Ihnen offenbar klar machen - wird der Zollfahndungsdienst nur dann tätig, wenn es einen Anhaltspunkt für kriminelles Handeln - in diesem Fall: für
Steuerhinterziehung und Geldwäsche - gibt. Es muss
doch wohl in jedem Rechtsstaat erlaubt sein, dass der
Zollfahndungsdienst solche kriminellen Handlungen mit
rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt, so wie es die Polizei
auch in anderen Fällen tut.
({1})
Insofern sind die Beamten des Zollfahndungsdienstes
ebenso wie die Polizeibeamten und die Steuerfahnder
auch Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft.
Warum um Himmels willen wollen Sie immer diejenigen in Schutz nehmen, die zur Last des Staates Geld hinterziehen, obwohl Sie gleichzeitig wollen, dass die Polizei eingreift, wenn es einen Vermögensschaden zulasten
der Bürger gibt? Warum sollen diejenigen, die zur Last
des Staates Geld hinterziehen, nicht genauso verfolgt werden? Das müssen Sie mir einmal unter rechtsstaatlichen
Gesichtspunkten erläutern. Ich weise Ihren Vergleich ausdrücklich zurück.
({2})
Im Übrigen will ich kurz auf die 19 Stellen eingehen.
Herr Kollege Thiele, es handelt sich natürlich nicht um
neue Stellen. Wie Sie richtig gesagt haben, sind sie verwaltungsintern ausgeschrieben worden; deswegen können sich nur Menschen, die schon Zollbeamte sind, auf
diese Stellen bewerben. Es sind natürlich keine zusätzlichen Stellen. Wenn die Aufgabenumstrukturierung erfolgt ist und die Aufsicht zukünftig nicht mehr bei den
Oberfinanzdirektionen angesiedelt ist, dann liegt es geradezu nahe, dass sich diejenigen, die diese Arbeit bisher
bei den Oberfinanzdirektionen wahrgenommen haben,
nunmehr auf die Stellen beim Zollkriminalamt bewerben.
Ich darf es noch einmal sagen: Es handelt sich um
19 Stellen im künftigen Bereich Organisation, Personal,
Haushalt. Das ist in der Tat - das müsste jeder einsehen,
der schon einmal irgendetwas mit Verwaltung zu tun
hatte - die Voraussetzung dafür, dass eine Neuordnung
greifen kann, die sich gerade in Organisation, Haushalt
und Personal wegen der Verlagerung von Aufgabenströmen von den Oberfinanzdirektionen auf das Zollkriminalamt darstellt. Dies wird ohne die Beamten nicht
gehen, die dann sozusagen mitverlagert werden. Deswegen
werden sie selbstverständlich nicht eingestellt, bevor dieses
Gesetz verabschiedet worden ist. Im Hinblick auf einen reibungslosen Übergang sowie darauf, dass keine Fahndungslücke entsteht und dass keine Steuerhinterzieher und keine
Geldwäscher, also Kriminelle, entkommen können, ist es
unbedingt notwendig, dieses Vorhaben zeitnah umzusetzen.
({3})
Nun hat der Kollege
Fromme das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte sehr,
Herr Kollege.
Erstens.
Wenn Sie, Frau Staatssekretärin, es so eilig hatten, dass
Sie die Stellen schon so früh ausschreiben mussten, dann
verstehe ich nicht, warum Sie dreimal dafür gesorgt haben, dass die Beratung des Gesetzes von der Tagesordnung des Plenums abgesetzt wird.
({0})
Zweitens. Sie haben mir nicht richtig zugehört. Ich
habe nicht gesagt, dass ich die Kriminellen schützen will.
Ich habe nach einem Motiv dafür gesucht, dass die Koalitionsfraktionen ihre Einstellung zum Datenschutz geändert haben. Das habe ich deutlich gemacht und damit habe
ich keinen Kriminellen in Schutz genommen. An der
Bekämpfung von Kriminalität liegt uns genauso wie Ihnen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des Zollfahndungsdienstes, Drucksachen 14/8007 ({0})
und 14/8515. Es liegt eine persönliche Erklärung des Kolle-
gen Dirk Niebel zur Abstimmung vor.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des Grund-
gesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die absolute
Mehrheit der Mitglieder des Bundestages - das sind 334
Stimmen - erforderlich. Es ist namentliche Abstimmung
verlangt worden. Bitte kontrollieren Sie, ob die von Ihnen
benutzten Stimmkarten Ihren Namen tragen, den Sie si-
cherlich alle kennen. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne
ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen nachher bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte diejenigen, die
zuhören wollen, Platz zu nehmen, und diejenigen, die
nicht zuhören wollen, den Saal zu verlassen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu dem Befund,
dass fast drei Viertel der Versicherten keinen
Vertrag für eine so genannte Riester-Rente abschließen wollen
Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Bundesminister Riester, Ihnen ist es gelungen, sich aus
der Schar der grauen Mäuse im Kabinett herauszuheben.
Ihr Name wird mit einem Gesetz verbunden. Man spricht
von der Riester-Rente.
({0})
Ihr Name, Herr Minister, ist aber auch zu einem Negativsymbol geworden. Immer mehr Menschen in Deutschland
erfahren: Die Riester-Rente ist nicht top, sondern die
Riester-Rente ist ein Flop.
({1})
Das Deutsche Institut für Altersvorsorge hat gerade in
den vergangenen Tagen das „Rentenbarometer“ veröffentlicht. Drei Aussagen sind von herausragender Bedeutung:
Erstens. Bisher haben nur 1,5 Millionen Menschen einen förderfähigen Vorsorgevertrag abgeschlossen, obwohl
mehr als 35 Millionen Menschen anspruchsberechtigt sind.
Nach dieser Studie wollten von denjenigen, die einen privaten, förderfähigen Vorsorgevertrag abschließen könnten, im Oktober 2001 wie auch im März dieses Jahres
71 Prozent keine derartigen Verträge abschließen. Es hat
sich also trotz großer Werbekampagnen überhaupt nichts
bewegt.
Zweitens. Nach der Einschätzung der in dieser Studie
Befragten hat das Vertrauen in die Sicherheit der gesetzlichen Rente im März 2002 einen neuen Tiefstand erreicht.
Drittens. Bei 60 Prozent der Befragten hat sich dementsprechend das Gefühl eingestellt, vom Staat in Fragen
der Altersvorsorge im Stich gelassen zu werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind die
Auswirkungen der so genannten Rentenreform von Herrn
Riester. Rot-Grün steht vor einem Scherbenhaufen.
({2})
Das Vertrauen der Menschen in unserem Land in die
Rente ist auf einem Tiefstand angelangt.
({3})
Wer die Rentenanpassungsformeln so gestaltet, dass sie
willkürlich manipuliert werden können, schafft kein Vertrauen. Wer das Rentenniveau schönt und ein höheres angibt, als es der Wirklichkeit entspricht, schafft Misstrauen.
Die Gründe, warum es mit der so genannten RiesterRente nicht vorangeht, liegen auf der Hand: Sie haben ein
bürokratisches Monster geschaffen.
({4})
Die Regulierungswut konnte sich austoben, weil Sie den
Menschen nicht vertrauen und jeden Missbrauchstatbestand ausschließen wollten. Die Folge: Sie haben ein Gebilde geschaffen, das keiner mehr versteht, bei dem Transparenz und Vergleichsmaßstäbe fehlen.
({5})
Deshalb sind die Menschen schwer verunsichert und
überlegen sich, ob sie überhaupt einen Antrag auf Abschluss einer derartigen Vorsorge stellen sollen. Immer
mehr zögern und immer weniger sind bereit, diese Art der
Altersvorsorge anzunehmen.
Die Konsequenz ist allerdings - jetzt kommt das eigentlich Dramatische -: Die Riester-Lücke, die entstanden ist, nachdem Sie die Renten gekürzt haben, und die
Sie mit Ihrer privaten Altersvorsorge auffüllen wollten,
kann nicht geschlossen werden, weil die Menschen kaum
Vertrauen in diesen Weg gewonnen haben. Im Gegenteil,
es schwindet immer mehr.
({6})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Seite 22845
- Das ist kein dummes Zeug, Herr Kollege, denn die
Gründe liegen auf der Hand.
So sind zum Beispiel die Aufwendungen der Versicherer, also der Unternehmen, die einen solchen Vertrag anbieten, dermaßen hoch, dass sie erst einmal einkalkuliert
werden müssen, sodass die entsprechenden Leistungen
niedrig sind. Die Zahl der Abschlüsse ist deshalb so niedrig, weil die Menschen eigentlich mehr erwarten. Die Versicherer sind zudem gezwungen, die entsprechenden Auflagen zu erfüllen. Das Ganze führt in der Konsequenz
dazu, dass immer weniger Menschen bereit sind, sich für
die notwendige private Ergänzung zu entschließen.
Nun haben Sie etwas durchaus Löbliches vor: Sie wollen die Menschen mit einer Renteninformation darüber
informieren, was sie an Rente erwarten können. Dazu soll
Mitte dieses Jahres, am 1. Juli, ein Pilotprojekt gestartet
werden. Jetzt haben Sie allerdings festgestellt, dass es sich
möglicherweise nicht vorteilhaft für Sie auf die Bundestagswahl auswirken könnte, wenn die Menschen erkennen, dass sie sich mehr erhofft haben, als sie tatsächlich erwarten dürfen. Deshalb legen Sie Wert darauf, dass
im Rahmen dieses Pilotversuchs diejenigen informiert
werden, die 23 Jahre oder etwas älter sind, weil deren Perspektiven noch nicht so präzise wie die derjenigen bestimmt werden können, die 54 oder 55 Jahre alt sind und
in absehbarer Zeit in Rente gehen.
({7})
An dieser Stelle sage ich Ihnen deshalb: Wenn Sie es
ehrlich meinen, fangen Sie, wenn Sie schon einen solchen
Pilotversuch machen, mit der Generation der über 50Jährigen an. Die älteren Jahrgänge haben nämlich nur
noch wenig Zeit, sich auf die neue Praxis einzustellen. Für
sie zählt jeder Tag. Das wäre ehrlich und macht Sinn. Alles andere nährt den Verdacht, dass Sie zunächst noch einige Nebelkerzen werfen wollen, bevor bekannt wird,
was Sie mit Ihrer Rentenreform angerichtet haben, um
sich über den Wahltermin herüberzuretten. Das werden
wir nicht zulassen.
({8})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, kehre ich zurück zu Tagesordnungspunkt 5 und gebe das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Zollfahndungsdienstes bekannt - die Schriftführer haben ein Lob verdient, dass sie
so schnell auszählen können; deswegen möchte ich das
Ergebnis auch gleich verkünden -:
({0})
Abgegebene Stimmen 612. Mit Ja haben gestimmt 339,
mit Nein haben gestimmt 84, Enthaltungen 189. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.
22845 Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 612;
davon
ja: 339
nein: 84
enthalten: 189
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({4})
Bernhard Brinkmann ({5})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({6})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Peter Enders
Annette Faße
Lothar Fischer ({7})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Peter Friedrich ({8})
Lilo Friedrich ({9})
Harald Friese
Anke Fuchs ({10})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Günter Graf ({11})
Angelika Graf ({12})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({13})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({14})
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({15})
Walter Hoffmann
({16})
Iris Hoffmann ({17})
Frank Hofmann ({18})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({19})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Brigitte Lange
Christian Lange ({20})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann ({21})
Gabriele Lösekrug-Möller
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({22})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({23})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({24})
Jutta Müller ({25})
Christian Müller ({26})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({27})
Gerhard Neumann ({28})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Carola Reimann
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({29})
Birgit Roth ({30})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Dieter Schloten
({31})
Ulla Schmidt ({32})
Silvia Schmidt ({33})
Dagmar Schmidt ({34})
Wilhelm Schmidt ({35})
Dr. Frank Schmidt
({36})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({37})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann ({38})
Brigitte Schulte ({39})
Reinhard Schultz
({40})
Volkmar Schultz ({41})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({42})
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({43})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({44})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({45})
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
Jochen Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({46})
Helmut Wieczorek
({47})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({48})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({49})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({50})
Waltraud Wolff
({51})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({52})
Marieluise Beck ({53})
Volker Beck ({54})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Amke Dietert-Scheuer
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({55})
Joseph Fischer ({56})
Rita Grießhaber
Gerald Häfner
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({57})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({58})
Werner Schulz ({59})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({60})
Margareta Wolf ({61})
Fraktionslos
Christa Lörcher
Nein
CDU/CSU
Dr. Heribert Blens
Albert Deß
Albrecht Feibel
Axel E. Fischer
({62})
Herbert Frankenhauser
Ernst Hinsken
Martin Hohmann
Josef Hollerith
Susanne Jaffke
Helmut Lamp
Julius Louven
Meinolf Michels
Eduard Oswald
Norbert Otto ({63})
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Anita Schäfer
Norbert Schindler
Michael von Schmude
Dr. Rupert Scholz
Max Straubinger
Dr. Theodor Waigel
Benno Zierer
FDP
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({64})
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({65})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({66})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({67})
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Dieter Thomae
PDS
Wolfgang Bierstedt
Maritta Böttcher
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({68})
Kersten Naumann
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Dr. Winfried Wolf
Enthaltungen
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Norbert Blüm
Antje Blumenthal
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({69})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Dankward Buwitt
Manfred Carstens ({70})
Peter H. Carstensen
({71})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Dr. Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({72})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Klaus Francke
Dr. Gerhard Friedrich
({73})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({74})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Manfred Grund
Horst Günther ({75})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({76})
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
({77})
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Detlef Helling
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Holetschek
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
({78})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Walter Link ({79})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({80})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({81})
Erich Maaß ({82})
Erwin Marschewski
({83})
Dr. Martin Mayer
({84})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Hans Michelbach
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({85})
Elmar Müller ({86})
Bernd Neumann ({87})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({88})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({89})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Adolf Roth ({90})
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl-Heinz Scherhag
Dr. Gerhard Scheu
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({91})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({92})
Andreas Schmidt ({93})
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Gerhard Schulz
Diethard Schütze ({94})
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm Josef Sebastian
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Bärbel Sothmann
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Dorothea Störr-Ritter
Thomas Strobl ({95})
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({96})
Gerald Weiß ({97})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({98})
Hans-Otto Wilhelm ({99})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Willy Wimmer ({100})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({101})
Bühler ({102}), Klaus Süssmuth, Rita Dr.
CDU/CSU CDU/CSU
Wir setzen die Beratungen fort. Das Wort hat jetzt die
Kollegin Erika Lotz für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Singhammer, zum Thema
Riester-Rente sage ich Ihnen: Nur kein Neid! Die RiesterRente ist eine gute Sache und Sie hätten sie gepriesen,
wenn Sie sie eingeführt hätten.
({0})
Aber das haben Sie nicht gemacht. Sie haben, was die private Vorsorge angeht, nichts gemacht. Sie haben bei der
Rentenreform nur gekürzt, aber nicht dafür gesorgt, dass
die Menschen mit einer staatlich geförderten Vorsorge etwas für ihre Altersversorgung tun.
Ich weiß nicht, zum wievielten Male Sie in dieser Legislaturperiode in einer Aktuellen Stunde das Thema
Rente angesprochen haben,
({1})
womit Sie immer wieder versuchen, Verwirrung zu stiften
und die Menschen in diesem Lande zu verunsichern. Das ist
unredlich, dieses Mal genauso wie bei allen Malen zuvor.
({2})
Bis Ende dieses Jahres ist Zeit, sich für eine der verschiedenen Möglichkeiten der privaten Altersvorsorge zu
entscheiden, wenn man in den Genuss der vollen Förderung für das Jahr 2002 kommen will. Jetzt ist gerade einmal Mitte April und nicht etwa schon Mitte Dezember. Es
ist gut, dass sich die Menschen Zeit für die Entscheidung
nehmen und alle Möglichkeiten abwägen. Schließlich
gibt es ja für einen großen Teil von ihnen neben der reinen
privaten Altersvorsorge auch noch die Möglichkeit einer
betrieblichen Altersvorsorge. Die Tarifvertragsparteien
haben erst im Frühjahr die Tarifverträge abgeschlossen.
Deshalb können jetzt, Mitte April, aus meiner Sicht noch
gar keine anderen Zahlen vorliegen, als sie in dieser Befragung zutage getreten sind. Dass Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, sich jetzt so entsetzt darüber
zeigen, dass bisher so wenige Vorsorgeverträge abgeschlossen worden sind, kann ich also kaum verstehen.
({3})
Dass mit dem 1. Januar 2002 nicht explosionsartig Versicherungsverträge für die Riester-Rente abgeschlossen
werden, mag die Versicherungen beunruhigen. Aber das
ist doch auch das Ergebnis von voreiligen Geschäftspraktiken. Es zeigt einfach, dass die Verunsicherung noch
immer nachwirkt, die ausgelöst wurde, als schon auf Kundenfang gegangen wurde, bevor die nötigen Voraussetzungen, die Zertifizierungen der Verträge, vorlagen. Es
zeigt auch, dass unsere Warnungen vor unseriösen Geschäftspraktiken Wirkung hatten.
Die Umfrage, auf die Sie sich beziehen, kommt unter
anderem zu dem Ergebnis, dass die Unwissenheit über das
eigene Rentenkonto ein Grund dafür ist, dass bisher wenig vorgesorgt wird. Das ist aber ein Manko, das wir mit
der Rentenreform beheben. Ab 2004 wird jeder und jede
Versicherte eine jährliche Renteninformation erhalten.
Darin enthalten sind auch die Auswirkungen, die zukünftige Anpassungen haben werden.
Deshalb finde ich es unglaublich, dass Sie jetzt schon
wieder versuchen, etwas Sinnvolles und Notwendiges zu
verhindern und zu diskreditieren.
({4})
Der Plan des VDR nämlich, in einem Pilotprojekt jüngere
Versicherte - bis 45 Jahre - nicht erst ab 2004, sondern
schon in diesem und im nächsten Jahr über den Stand ihres Rentenkontos und darüber zu informieren, wie hoch
die gesetzliche Rente ist, die sie zu erwarten haben, ist
notwendig und sinnvoll. Es ist auch notwendig und sinnvoll, dass die Versicherten diese Information bekommen,
insbesonderes für die Planung der zusätzlichen Vorsorge.
Es ist wichtig, mit den jüngeren Versicherten anzufangen.
Wer 55 Jahre und älter ist, wird schon jetzt über den Stand
seines Rentenkontos informiert. Das wissen Sie doch,
Herr Singhammer.
({5})
Aber es ist ganz klar, weshalb Sie sich gegen das Pilotprojekt sträuben.
({6})
Dann ist nämlich für jeden deutlich sichtbar, dass Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung
durch unsere Rentenreform stärker wachsen, als sie nach
Ihrer Rentenreform gewachsen wären. Gerade Mütter
werden dies merken.
({7})
Warum Sie dieses Pilotprojekt verhindern wollen, ist also
klar.
({8})
Ich verstehe aber nicht, dass Sie in Kauf nehmen, dass den
Menschen Informationen vorenthalten werden, die sie für
ihre Zukunftsplanung dringend brauchen. Das ist einfach
infam.
Ich kann den Menschen nur empfehlen, die Verträge
weiter zu prüfen. Die Förderung für 2002 erhält man für
Verträge, die bis zum Ende dieses Jahres abgeschlossen
werden. Es besteht also kein Grund zur Panik und zur Beunruhigung.
Ihnen empfehle ich: Bleiben Sie ruhig! Bis zum Jahresende sehen die Zahlen ganz anders aus.
({9})
Nun erteile ich der
Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Alles paletti“ könnte
die Überschrift für das lauten, was uns Frau Lotz gerade
zu erklären versuchte. Es ist aber nicht alles paletti.
({0})
Denn wenn man sich einmal genau anschaut, warum drei
Viertel der Befragten sagen, dass sie keinen Vertrag für
eine Riester-Rente abschließen wollen, dann erkennt man,
dass die Sache wirklich alarmierend ist. Das heißt also,
Frau Lotz, dass nichts paletti ist und dass Sie dringend
handeln müssen. Es reicht einfach nicht aus, wenn Herr
Riester Imagekampagnen durchführt und den Menschen
sagt, dass schon alles gut werde. Er muss vielmehr die
Notwendigkeit dieser Rente erklären.
({1})
Als wir dieses Thema im Bundestag behandelt haben
- wir haben diesem Gesetz nicht zugestimmt -, haben wir
ganz klar gesagt: Im Grundsatz ist es richtig, dass es eine
ergänzende Rentenversicherung für all diejenigen gibt,
die in Zukunft in Rente gehen. Keiner von dieser Personengruppe sollte davon ausgeschlossen sein; diese Zusatzrente brauchen alle. Wenn jetzt aber herauskommt,
dass drei Viertel der Versicherten diese Zusatzrente nicht
wollen, dann müssen Sie sich wirklich fragen lassen,
woran es liegt.
({2})
Hierfür gibt es zwei Gründe. Wenn sich jemand bei einem Berater einer Bank erkundigt, was er für den Abschluss eines solchen Vertrages braucht, dann bekommt er
einen Fragebogen in die Hand gedrückt, auf dem - eng beschrieben - eine Menge an persönlichen Informationen
abgefragt wird. Auf der Rückseite steht - wiederum eng
beschrieben - Kleingedrucktes, das jeden von vornherein
abschreckt.
({3})
Die mangelnde Akzeptanz dieser Versicherung zeigt, dass
die gesamte Konzeption viel zu kompliziert ist.
({4})
Ich will Ihnen einmal eine Stelle aus der Erklärung vorlesen, die jedem an den Riester-Produkten Interessierten
in die Hand gedrückt wird.
({5})
Auf den zwei ziemlich eng bedruckten Seiten ist folgender Satz zu finden:
Die staatlichen Zulagen und die steuerlichen Förderungen fordert der Staat nicht zurück, wenn im Todesfall der Rückkaufswert des Vertrages in einen
bereits bestehenden Altersvorsorgevertrag des Ehepartners überführt wird.
Verstehen Sie das? Wir alle verstehen dies sicherlich, weil
wir uns intensiv damit beschäftigt haben. Aber fragen Sie
doch bitte einmal Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
Ihren Büros, was sie darunter verstehen.
Ich sage es noch einmal: Der entscheidende Grund,
weshalb diese Versicherungen nicht angenommen werden, ist die Kompliziertheit des gesamten Verfahrens.
({6})
Es gibt aber noch einen zweiten Grund - auch das werden Ihnen die Berater sagen, egal ob sie bei einer Bank
oder bei einer Versicherung tätig sind -: Wenn es um die
Frage geht, wie viel der Einzelne für diese Versicherung
monatlich aufbringen muss, dann sagen viele, dass die
Höhe für dieses Jahr in Ordnung geht, aber dass der vierfache Beitrag im Jahre 2008 einfach zu hoch ist.
Sie müssen sich wirklich fragen lassen, warum Sie
über die Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung nicht besser informiert haben. Wenn Sie das getan
hätten, dann wüssten viele Menschen, dass sie ohne eine
solche Zusatzrente ihren Lebensstandard im Alter nicht
mehr sichern können.
({7})
In diesem Zusammenhang habe ich an Sie die Aufforderung, sich vor der Bundestagswahl nicht vor der Lösung
dieser Probleme zu drücken.
Frau Lotz, Sie haben soeben behauptet, wir würden den
Pilotversuch bezüglich der Information des Bürgers über
die Höhe seiner zukünftige Rente ablehnen.
({8})
Das stimmt überhaupt nicht. Aber wenn Sie so etwas tun
wollen - dies ist ja richtig, gut und notwendig -, dann sollten Sie mit denjenigen anfangen, die ganz besonders
darauf angewiesen sind, noch in diesem Jahr eine Zusatzrente abzuschließen.
({9})
Aber das sind natürlich diejenigen, bei denen ganz schnell
klar wird, wie sehr der von ihnen erwartete Rentenanspruch durch die Rentenreform gekürzt worden ist.
Deswegen kann ich nur sagen: Machen Sie diesen Pilotversuch mit denjenigen, die über 45 Jahre alt sind!
({10})
Das sind diejenigen, die diese Information jetzt benötigen.
Ich hoffe, dass Sie in den nächsten Wochen klug werden. Die Zeit läuft davon.
({11})
Noch in diesem Jahr müssen möglichst viele einen solchen Zusatzvorsorgevertrag abschließen; denn sonst wird
die zukünftige Alterssicherung gefährdet. Sie werden mit
Ihrer verfehlten Informationspolitik dafür sorgen, dass
das Ziel der Alterssicherung verfehlt wird. Das ist
schlecht für die Bürger in diesem Lande. Ich bitte Sie
nachdrücklich: Kommen Sie Ihrer Verantwortung nach!
Tun Sie mehr, als Sie bisher getan haben!
({12})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir befinden uns in der Aktuellen Stunde.
Herr Kollege Gilges, ich konnte deswegen Ihre Zwischenfrage nicht akzeptieren und bitte daher um Verständnis. Außerdem will ich darauf hinweisen, dass die
Redezeit in der Aktuellen Stunde - einschließlich des
Schlussgedankens - fünf Minuten beträgt.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel für das
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Schwaetzer, es ist schon verrückt: Die FDP war 29 Jahre
lang ununterbrochen an der Regierung beteiligt, hat nichts
in Richtung privater Altersvorsorge durchgesetzt
({0})
und macht nun der Koalition, die endlich den Weg in die
private Altersvorsorge eröffnet hat,
({1})
Vorhaltungen, weil zum jetzigen Zeitpunkt, Mitte April,
noch nicht jeder einen Vertrag abgeschlossen hat. Das ist
schon ein bisschen verrückt.
({2})
Wenn man sich einmal die Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge ansieht, dann findet man ganz interessante Zahlen, die Sie - aus Ihrem Interesse heraus;
das verstehe ich aus Ihrer Sicht sogar - nicht genannt haben. Aber wie ist es 1996 gewesen? Wie viele haben überhaupt ein Interesse daran gehabt bzw. darüber nachgedacht, etwas für ihre private Altersvorsorge zu tun?
({3})
Das waren 7 Prozent der im Jahre 1996 Befragten.
Heute dagegen, nachdem Rot-Grün verstärkt ein entsprechendes Problembewusstsein geschaffen hat, indem
wir ehrlich gesagt haben, wie es in Zukunft für die Menschen, vor allen Dingen für die jungen Leute, aussieht und
wie notwendig es ist, eine betriebliche und private Altersvorsorge anzubieten, gehen über 80 Prozent der Bevölkerung davon aus, dass sie privat vorsorgen müssen. Bei den
jungen Leuten zwischen 18 und 29 Jahren - das finde ich
besonders phänomenal - wollen heute sogar mehr als
90 Prozent, eine private Vorsorge, weil sie wissen, dass sie
diese brauchen.
({4})
- Herr Meckelburg, ich gehe jetzt auf Ihren Zuruf ein.
Die jetzige Situation ist dadurch entstanden, dass wir
den Bürgern aufgrund der Vielzahl der Angebote, die auf
dem Markt bestehen, gesagt haben: Schließt nicht voreilig irgendwelche Verträge ab! Prüft die angebotenen Verträge! Schaut sie euch an, vergleicht sie miteinander und
überlegt in aller Ruhe, was, individuell gesehen, das günstigere Angebot ist! Denn es hängt natürlich immer von der
persönlichen Lebenssituation, also davon, ob ich verheiratet bin oder nicht, wie alt ich bin, ob ich Kinder habe und
wie die Einkommensverhältnisse sind, ab, inwieweit sich
der eine Vertrag im Vergleich zum anderen positiver darstellt. Das ist doch logisch. Deswegen ist es überhaupt
nicht verwunderlich, dass sich die Menschen hierüber informieren. Wenn Sie sagen, dass 71 Prozent der befragten
Pflichtversicherten überhaupt keinen Altersvorsorgevertrag abschließen wollen, dann ist das ja nur die halbe
Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass in dieser Studie
steht, dass diese 71 Prozent in naher Zukunft, das heißt
morgen, übermorgen oder nächste Woche, einen solchen
Vertrag noch nicht abschließen wollen.
({5})
Ferner hat man nicht berücksichtigt, wie sich das bei den
Pensionsfonds und bei Altersvorsorgeangeboten auf der betrieblichen Ebene darstellt, die ja zum Teil jetzt erst zertifiziert werden. Auch das wurde ja in dieser Studie außen vor
gelassen. Deswegen bitte ich darum: Tragen Sie mit Ihren
Beiträgen hier nicht dazu bei, die Leute zu verunsichern,
({6})
sondern machen Sie das, was Aufgabe der Politik ist,
nämlich zu sagen: Es gibt ein vernünftiges und gutes Angebot für die private, staatlich geförderte Altersvorsorge.
Das ist vor allen Dingen gut für Familien mit Kindern.
({7})
Tun Sie nicht so, als ob das wertlos wäre. Alle Berechnungen, gerade auch in Bezug auf die Bezieher unterer
und mittlerer Einkommen und auf Familien mit Kindern,
haben gezeigt, dass die Angebote für die private Altersvorsorge günstiger sind als andere Altersvorsorgeangebote, die ich jetzt nicht aufzählen will. Diese Entscheidung
muss jeder für sich treffen.
({8})
Es kommt noch etwas hinzu. Im Licht anderer Studien,
die es nämlich auch gibt, relativiert sich das Ganze. So
kam eine Infratest-Umfrage im Januar zu ganz anderen
Ergebnissen. Demzufolge hatten 13,4 Prozent der
Förderberechtigten bereits einen Vertrag abgeschlossen;
43 Prozent hatten die Absicht, in kurzer Zeit einen Vertrag
abzuschließen. Das zeigt, dass andere Studien zu anderen
Ergebnissen kommen können. Man muss sich auch einmal anschauen, wer die Gesellschafter jenes Instituts sind,
das diese Studie gemacht hat. Dann sieht man nämlich
auch die Interessen, die dahinter stehen.
({9})
Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützer
und viele öffentliche Stellen raten den Bürgern, zu warten,
bis mehr Produkte auf dem Markt sind, sodass sie auch
Vergleiche anstellen können. Darauf bin ich bereits
eingegangen. Wir müssen auch sehen, dass es bereits in
über 100 Tarifverträgen Regelungen zur betrieblichen Altersvorsorge gibt. Davon profitieren gut 15 Millionen
Deutsche bzw. 60 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer - heute schon!
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Wir sehen
zudem, dass es neue Pensionsfonds gibt, die derzeit erst
zertifiziert werden. Auch in diese Fonds werden die Menschen stärker einsteigen. Es steht jedenfalls fest: Die neue
Förderung ist ein attraktives Angebot für den Einstieg in
die private und betriebliche Altersvorsorge. Daran können
auch Sie nicht rütteln.
Danke schön.
({0})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Pia Maier für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich habe mir die Mühe gemacht,
zu schauen, was denn die Ziele und wer die Gesellschafter des Instituts sind, das die Studie vorgelegt hat, von der
Herr Singhammer gesprochen hat. Das Deutsche Institut
für Altersvorsorge - ich zitiere aus der Selbstdarstellung hat zum Ziel,
Chancen und Risiken der Altersvorsorge bewusst zu
machen und die private Initiative zu fördern.
Gesellschafter des Instituts sind die Deutsche Bank AG,
die Deutsche Bank Bauspar AG, DWS Investment GmbH,
zugehörige Lebensversicherungen und weitere.
({0})
Diese Studie ist also garantiert interessengeleitet. Es ist
kein Wunder, dass diese Studie besagt, dass drei Viertel
der Befragten kein Riester-Produkt wählen wollen, weil
die gestellten Fragen suggerieren, dass man besser in private Fonds investiert. Diese Interessenvertreter wollen
natürlich lieber ihre Fonds verkaufen und kein RiesterProdukt, das einer Regulierung unterliegt.
({1})
Es gibt auch andere Untersuchungen. Ich möchte mich
hier auf das Sozio-ökonomische Panel beziehen, das die
„FAZ“ am Dienstag dieser Woche veröffentlicht hat.
Darin stehen so bedenkenswerte Dinge wie: 80 Prozent
der Befragten geben an, dass sie „weniger gute“ bis
„schlechte“ Erwartungen an die Rente haben, und gerade
einmal 20 Prozent der Befragten erwarten etwas Gutes
von ihrem Lebensunterhalt im Alter.
({2})
Dieses Ergebnis der Rentenreform von Herrn Riester interessiert mich.
Die Riester-Rente muss man nämlich inhaltlich kritisieren und nicht anhand der Zahl der bis jetzt abgeschlossenen Verträge. Warum ist der Riester-Boom bisher ausgeblieben? Warum wird er auch weiter ausbleiben? - Weil
viele Versicherte noch kalkulieren, was sie eigentlich tun
sollen. Für viele lohnen sich die Riester-Produkte nicht.
Wer nach der besten Rendite sucht, kauft in der Tat keine
Riester-Rente; das erklärt uns die FDP immer wieder.
Viele andere wollen und können sich aber die private
Vorsorge nicht leisten; denn wer wenig verdient, hat keine
Möglichkeit, genug beiseite zu legen. Selbst wenn jetzt einige Euro reichen würden, fehlt die Sicherheit, ob man
sich diese wenigen Euro auch künftig leisten kann. Die
leidvolle Erfahrung zeigt außerdem, dass sich die Gesetzeslage auch immer wieder ändert und man sich die
Vorsorge vielleicht auch deshalb in Zukunft nicht leisten
kann.
Die Bundesregierung hat mit dieser Rentenreform das
Vertrauen in die gesetzliche Rente untergraben. Das ist
das Problem. Wenn Sie erst erklären, jede und jeder müsse
privat vorsorgen, weil die gesetzliche Rente nicht mehr
reichen wird, dann brauchen Sie sich auch nicht zu wundern, wenn die gesetzlich regulierte und geförderte private Vorsorge nicht der Renner ist. Wenn die Riester-Rentenreform als schlecht empfunden wird, färbt das auf die
Riester-Produkte ab. So sind die Marktgesetze. Würden
Sie einen Sessel von einem Händler kaufen, der Ihnen die
ganze Zeit erklärt, wie schlecht das Sofa ist, das Sie bei
ihm kaufen müssen? - Sicher nicht.
Mich interessiert an diesen Umfragen zum Sozio-ökonomischen Panel ein anderes Ergebnis: 40 Prozent halten
die Altersvorsorge „nur“ oder „vor allem“ für eine staatliche Aufgabe. Nur 6 Prozent der Befragten sagen, Altersvorsorge sei eine private Aufgabe. Solche Ergebnisse zeigen, dass die Privatisierung der Rente die falsche Lösung
ist. Die künftigen Rentnerinnen und Rentner halten die
Rente aus gutem Grund für eine staatliche Aufgabe; denn
nur so kann die Rente ausgleichend und gerecht wirken.
({3})
Dieser Artikel zeigt leider nicht, wie hoch der Anteil
der Frauen unter den Befragten ist, die sich nicht für ein
Riester-Produkt oder für eine andere private Vorsorge entscheiden wollen. Ich glaube, dass dieser Anteil sehr hoch
ist, weil gerade die Frauen die Entsolidarisierung, die in
der Privatisierung steckt, am drastischsten erleben. Für
Frauen gilt nämlich nicht mehr das Prinzip: gleiche Leistung für gleiche Beiträge. Sie zahlen bei der privaten
Rente die gleichen Beiträge und bekommen weniger heraus als die Männer, weil hier die Versicherungsmathematik zählt und nicht die gesetzliche solidarische Rente
die Regeln bestimmt. Das führt dazu, dass die gleichen
Beiträge wegen der längeren Rentenbezugsdauer der
Frauen zu geringeren Leistungen führen.
Der Kern Ihrer Rentenreform ist ein Systembruch, der
wesentlich schwerer wiegt. Sie haben das Prinzip der
paritätischen gesetzlichen Rente aufgegeben, weil das
oberste Ziel Ihrer Rentenreform die Begrenzung der Beitragshöhe auf 22 Prozent war. Man muss das genauer sagen: Es geht um die Begrenzung auf 11 Prozent aufseiten
der Arbeitgeber; denn von den Arbeitnehmern erwarten
Sie künftig mehr, 15 Prozent insgesamt ab 2004. Das ist
keine solidarische Rente mehr, das ist ein Umverteilungsprogramm von unten nach oben. Das wollten wir eigentlich in dieser Legislaturperiode beendet sehen.
({4})
Die gesetzliche Rente hätte auch reformiert werden
können, indem der Kreis der Beitragszahler erweitert
worden wäre. Bislang konnten sich vor allem Besserverdienende aus der gesetzlichen Rente verabschieden. Damit wurde die Rente zur Angelegenheit der Lohnabhängigen und ihrer Arbeitgeber. Gerade die Selbstständigen
und die Politiker, die eher besser verdienen, haben sich an
der Finanzierung der Renten nicht beteiligt. So setzt sich
die ungleiche Reichtumsverteilung aus dem Berufsleben
im Alter fort. Wer besser verdiente, bekam bessere Renditen als die, die in die gesetzliche Rente von ihrem geringeren Lohn einzahlten.
Frau Kollegin, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Diese
Ungleichheit abzubauen und die Rentenreform auf einen
Ausbau des Sozialgedankens zu orientieren haben Sie
verpasst. Deshalb geschieht Ihnen auch das Schimpfen
mit den falschen Studien recht.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Bundesarbeitsminister, Walter Riester.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Erstes möchte ich mich bei der
Union bedanken: Machen Sie möglichst in jeder Sitzungswoche eine solche Debatte! Darüber müssen wir
sprechen. Die staatlich geförderte Rente ist ein Produkt,
das sich wirklich gut vertreten lässt.
({0})
Nun komme ich zu den Fakten: Zwei Monate nachdem
die Förderung begonnen hatte, gab es schon 1,4 Millionen
abgeschlossene Verträge. Nunmehr, nach dreieinhalb Monaten, sind es 1,9 Millionen abgeschlossene Verträge.
({1})
Nächste Information: Am 11. Mai letzten Jahres haben
wir die Rentenreform gegen Ihren Widerstand verabschiedet.
({2})
Seit dem 11. Mai haben die deutschen Gewerkschaften
und die Arbeitgeberverbände 106 Tarifverträge zur Entgeltumwandlung für 15,7 Millionen Menschen abgeschlossen.
({3})
Wir haben große Altersvorsorgevereinbarungen vorliegen von VW, von der Telekom, von Ford. Nachdem die
betriebliche Altersvorsorge ein Auslaufprodukt geworden
war, erleben wir jetzt eine Renaissance der betrieblichen
Altersvorsorge, in einer Dimension, die niemand erwartet
hat. Angesichts dessen sagt auch der Fachverband für die
betriebliche Altersvorsorge: Viele Klein- und Mittelbetriebe werden diese betriebliche Altersvorsorge nach dem
neuen Rentengesetz aufbauen. Das sind die Fakten. Über
diese Fakten freue ich mich. Ich würde liebend gern jede
Woche einmal auch von diesem Pult aus darüber sprechen. Stellen Sie bitte mehr solcher Anfragen!
({4})
Frau Schwaetzer schwätzt, das alles sei zu kompliziert, und wedelt zum Beleg mit einem Bogen. Frau
Schwaetzer, wenn es danach ginge, dürfte dürfte es keinen Finanzdienstleister, keine Versicherung geben und
dürften keine Lebensversicherung und kein Bausparvertrag mehr abgeschlossen werden. Die Informationen, die
der Bürger geben muss, um die Zulage zu bekommen,
sind: Familienstand, Kinderzahl und Verdienst des letzten
Jahres. Dies kann man jedem zutrauen. Dies sieht man
auch an den 1,9 Millionen Menschen, die dies bereits getan haben. Die Zulage bekommen diese dann so einfach
wie das Kindergeld. Sie müssen sich darum in der Tat
keine Sorgen mehr machen. Sie bekommen sie auf ihr
Konto überwiesen.
Bei aller Verunsicherung, die Sie zu streuen versuchen:
Das merken die Bürger.
({5})
Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir angestoßen
haben, von der Bevölkerung in einem Tempo aufgenommen wird, das in der Tat einmalig ist.
({6})
Ich rate Ihnen, sich einmal darüber zu informieren, wie
die Rentenreform in Schweden durchgeführt worden ist.
Nach fünf Jahren Verhandlungen und drei Jahren Einführung sind die noch nicht so weit wie wir jetzt - und haben für die kapitalgedeckte Anlage nur 2,5 Prozent vorgesehen.
({7})
Über dieses Thema möchte ich gern reden und angesichts des 22. September bitte ich Sie direkt: Sprechen Sie
darüber! Dies ist ein Thema, das ich gerne aufgreife. An
diesem Thema kann man aufzeigen, wo über Jahrzehnte
nichts gemacht worden ist. Die betriebliche Altersvorsorge
war ein Auslaufprodukt. Die Menschen haben die Formel,
die Rente sei sicher, nicht mehr geglaubt. Sie haben eine
Rentenreform vorgelegt, die im Ergebnis das Rentenniveau
auf 64 Prozent abgesenkt, aber keinen Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rente vorgesehen hätte.
({8})
Dazu höre ich Frau Schwaetzer, wie sie hier sagt: Bitte
ganz schnell abschließen, sonst fallen die Leute in ein Rentenloch. - In welches Rentenloch wären sie denn gefallen,
({9})
wenn es keine Zustimmung zur kapitalgedeckten zusätzlichen Vorsorge gegeben hätte? Welches Rentenloch hätte
es dann gegeben?
({10})
Wo blieb denn da die Gestaltungsoffensive der Opposition?
({11})
Meine Damen und Herren, liebend gern würde ich dieses Thema jeden Tag diskutieren, von mir aus auch im
Wahlkampf. Wir werden die Leute informieren.
({12})
Sie werden auf breiter Ebene darüber informiert, was sie
jetzt ergänzend, zusätzlich, staatlich gefördert einbringen
können.
({13})
Ich war mit vielem, was Frau Maier sagte, nicht einverstanden; sie hat aber völlig zu Recht darauf hingewiesen, wer hinter dem Institut steckt, auf das Sie sich bei der
Beantragung der aktuellen Stunde gestützt haben. Die vier
Institute, die Sie genannt haben, gehören alle zur Deutschen Bank. Es gibt natürlich ein Gerangel derer, die die
Fonds und Versicherungsverträge anbieten. Auch aus der
Immobilienwirtschaft - für die haben Sie ja gekämpft ({14})
haben sich einige eingeklinkt. Diese Auseinandersetzung
läuft. Darüber muss man sich nicht wundern. Hier wird
mit harten Bandagen gekämpft. Auch darüber muss man
sich nicht wundern.
Aber was wäre denn passiert, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn wir nicht Mindestvoraussetzungen des Verbraucherschutzes im Gesetz festgeschrieben hätten? Was wäre denn dann jetzt?
({15})
Sie haben es Bürokratie genannt. Was wäre denn, wenn
wir das Geld für die Bürger nicht abgesichert hätten, wie
es jetzt geschehen ist,
({16})
wenn wir nicht sichergestellt hätten, dass eine lebenslange
ergänzende Rente ausgezahlt wird, und wenn wir nicht
abgesichert hätten,
({17})
dass der Bürger über seine Kontenstände bei der
Sozialversicherung und der ergänzenden kapitalgedeckten Rente informiert wird?
({18})
- Liebe Frau Schwaetzer, wir haben dafür gesorgt, dass
dies spätestens ab 2004 geschieht. Nach Absprache mit
den Rentenversicherern wird es sogar noch schneller gehen.
({19})
Es ist jetzt schon sicher, dass ab dem 1. Juli 25 000 Renteninformationen - Tag für Tag - versandt werden. Das
haben Sie jahrelang versäumt und verhindert.
({20})
Die Menschen sind nicht darüber informiert worden, wie
sich ihre tatsächlichen Rentenrücklagen entwickeln. Das
haben Sie jahrzehntelang verhindert. Wir führen es jetzt
ein. Kaum beginnen die Informationen zu fließen,
kreischt die Opposition auf und sagt, dass man gerne
wüsste, welche Jahrgänge zuerst drankommen.
Mir ist es im Prinzip ziemlich schnuppe.
({21})
Ich tanze aber nicht nach Ihrer Pfeife. Wir gehen nach
sachlichen Gesichtspunkten vor.
Lieber Herr Singhammer, es geht nicht darum, dass
unklare Informationen gegeben werden. Den jetzt zu informierenden Jahrgängen wird der wahrscheinliche Rentenverlauf bis zum 65. Lebensjahr dargelegt.
({22})
Hier wird erstmals in der Geschichte der deutschen Rentenpolitik Transparenz beim Bürger hergestellt, sodass er
es nachvollziehen kann. Ich kann mir vorstellen, dass Sie
das ärgert.
({23})
Ich kann mir auch vorstellen, dass es Sie ärgert, dass
wir die Renten für die Rentnerinnen und Rentner ab dem
1. Juli erstmals nach acht Jahren wieder um mehr als
2 Prozent anheben.
({24})
In den letzten vier Jahren betrug die durchschnittliche
Rentenanhebung im Westen etwas mehr als 1,5 Prozent.
In den letzten vier Jahren Ihrer Regierungszeit betrug sie
0,9 Prozent.
({25})
Das ist die Wahrheit und das werden wir draußen offen
vertreten. Deswegen freue ich mich über jede Rentendebatte. Ich lade Sie dazu ein.
Herzlichen Dank.
({26})
Ich erteile dem Kollegen Andreas Storm für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Minister, wissen Sie, was
im Duden unter dem Stichwort Riester zu finden ist? Dort
steht: „veraltend für Lederflicken auf dem Schuh.“ Jetzt
wird manches klar. Der Name ist Programm. Jetzt wissen
wir, warum die Riester-Rente im wahrsten Sinne des Wortes zur Flickschusterei geworden ist.
({0})
Es geht kein Weg daran vorbei: Alle Anbieter der so genannten Riester-Produkte stellen fest, dass sie weit unter
den Erwartungen liegen. Die Umfrage des Deutschen Instituts für Altersvorsorge belegt es schwarz auf weiß: Die
große Mehrheit der Menschen in unserem Land - 71 Prozent - plant keinen Vertragsabschluss. Das hat gute
Gründe. Ich will Ihnen die wichtigsten nennen.
Grund eins. Ihr Modell ist viel zu kompliziert.
({1})
Nicht nur die Verbraucherschutzverbände klagen. Ich
frage mich, wo die Verbraucherschutzministerin bei diesem wichtigen Thema ist.
Grund zwei. Die Versorgungslücke wird überhaupt
nicht erkennbar. Herr Riester, im Übereifer des Gefechts
in den Rentendebatten haben Sie dafür gesorgt, dass in
den Statistiken ausgewiesen wird, dass das Rentenniveau
in der gesetzlichen Rentenversicherung nach der Reform
angeblich nicht mehr sinkt, sondern steigt. Laut Rentenversicherungsbericht landen wir im Jahre 2015 angeblich
bei einem Rentenniveau von über 70 Prozent. Sie sagen
aber selber, dass die Leistung für die junge Generation in
Wirklichkeit viel geringer sein wird. Kein Mensch kann
mehr erkennen, wie hoch der Vorsorgebedarf eigentlich
ist, weil Sie die Dinge so lange manipuliert haben, bis niemand mehr eine Versorgungslücke erkennen konnte.
({2})
Ganz wichtig ist Grund drei. Ich nenne das Stichwort
Altverträge. Was soll man mit einer Verkäuferin, die nur
700 Euro netto im Monat zur Verfügung hat, machen? Sie
kann den Euro genauso wie vorher die Mark nur einmal
ausgeben. Wenn sie bisher schon Altersvorsorge betrieben
hat, muss sie deswegen überlegen, ob sie diese Verträge
umwandelt.
({3})
Aber das ist zu akzeptablen Bedingungen nicht möglich.
Das ist nicht nur die Meinung der Unionsfraktion. Ich
zitiere jetzt aus der Bertelsmann-Studie, die die Defizite
der Riester-Rente in hervorragender Weise vor wenigen
Wochen aufgezeigt hat. Die Bertelsmann-Studie kommt
zu dem Ergebnis: „Die Umstellung von Altverträgen muss
praktisch möglich sein und darf keine Nachteile für den
Verbraucher enthalten.“
Meine persönliche Überzeugung ist die, dass der ins
Stocken geratene Prozess beim Abschluss von neuen VerBundesminister Walter Riester
trägen vor allen Dingen darauf zurückzuführen ist, dass
diejenigen, die bisher vorgesorgt haben, zögern, ihren alten Vertrag umzuwandeln oder einen Vertrag zusätzlich
abzuschließen. Weil es jedoch keine vernünftigen Bedingungen bei der Umstellung von Altverträgen gibt, werden
diese Menschen abgeschreckt. Die Studie des Deutschen
Instituts für Altersvorsorge bringt es auf den Punkt: Trotz
massiver Werbekampagnen von Finanzdienstleistern und
Medienberichten ist die Abschlussbereitschaft im letzten
Halbjahr insgesamt tendenziell sogar gesunken.
Grund vier. Herr Riester, das bürokratische Förderdickicht, das Sie geschaffen haben, führt zu einem enormen Verwaltungsaufwand mit hohen Kosten.
({4})
Das schlägt sich in einer Rendite nieder, die nicht attraktiv ist.
Vor wenigen Tagen war im „Spiegel“ zu lesen - das ist
nicht nur eine Erkenntnis der Unionsfraktionen -, dass der
Berliner Ökonom Klaus Jaeger von der Freien Universität
in einer Studie nachgewiesen hat, dass die Rendite bei
Riester-Produkten bis zu 0,4 Prozentpunkte unter der von
herkömmlichen Lebensversicherungen liegt. Unter solchen Bedingungen ist es doch kein Wunder, dass die Menschen zögern, einen Vertrag abzuschließen.
({5})
Grund fünf. Es ist zu wenig attraktiv, bei Versicherungsprodukten die Riester-Rente zu wählen, weil man
bei der Mittelverwendung völlig eingeschränkt ist. Eine
monatliche Auszahlung bis ans Lebensende ist
vorgeschrieben. Sie können noch nicht einmal über einen
Teil der Mittel selbst verfügen. Es ist jedoch ein wichtiger
Punkt, über einen Teil des selbst angesparten Vermögens
frei verfügen zu können. Hierzu ist im Bericht der Bertelsmann-Stiftung zu lesen: Für die Akzeptanz der Vorsorge wird es wesentlich davon abhängen, ob wir hier eine
vernünftige Regelung finden.
Herr Riester, es gibt eine gravierende sozialpolitische
Schieflage in Ihrem Konzept. Die Schlagzeile im
Bertelsmann-Bericht lautete: „Riester-Rente benachteiligt Haushalte in Notlagen und sozial schwache Bevölkerungsgruppen.“ Benachteiligt sind vor allen Dingen Langzeitarbeitslose und allein erziehende Mütter, die einen
Vorsorgevertrag kurzfristig nicht oder zumindest nicht in
der vorgeschriebenen Höhe weiterverfolgen können. Sie
verlieren massiv. Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet diejenigen, die am stärksten darauf angewiesen
wären, die Benachteiligten sind.
({6})
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist zu Ende.
Jawohl, Frau Präsidentin!
Last, but not least: Es fehlt eine angemessene Förderung des Wohneigentums. Deswegen wird es nach dem
22. September für uns oberste Priorität haben, in der Sozialpolitik aus der nicht funktionsfähigen Riester-Rente
eine wirkliche Sparrente für die gesamte Bevölkerung zu
machen.
({0})
Nun hat das Wort die
Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der 18. April 2002.
An diesem Tag erklärt die Opposition: Es haben noch
nicht genügend Menschen die neue Riester-Rente abgeschlossen.
({0})
Seit dem 1. Januar dieses Jahres sind die Produkte am
Markt. Sie mussten vorher zertifiziert werden.
({1})
Wir haben sie zertifizieren lassen, weil die Menschen sicher sein müssen, dass ihnen ihr angelegtes Geld ganz sicher wieder zur Verfügung stehen wird, also aus Gründen
des Verbraucherschutzes.
({2})
3 500 Produkte sind zum 1. Januar zertifiziert worden.
Daneben gibt es eine Reihe von Musterverträgen, die zum
Beispiel von der Sparkassenorganisation vielfältig angeboten werden. Diese 3 500 Produkte haben natürlich unterschiedliche Ausprägungen. Nicht nur wir als Bundesregierung, sondern auch alle Verbraucherschützer haben
dazu geraten, mit diesen neuen Produkten vorsichtig umzugehen und die Produkte zunächst miteinander zu vergleichen. Es ist und bleibt richtig: Man verliert nicht einen Euro aus dem ersten Förderjahrgang, wenn man den
Vertrag am 31. Dezember 2002 abschließt. Wenn man das
erste Förderjahr in Anspruch nehmen will, reicht es also
völlig aus, dies bis zum Ende des Jahres zu tun. Darauf
sind natürlich auch die Verwaltungen eingestellt. Selbstverständlich kann es auch sein, dass jemand auf das erste
Förderjahr verzichtet und erst im nächsten Jahr einen Vertrag abschließt. Dies bleibt jedem selbst überlassen.
Wenn Sie uns nun den Vorhalt machen, wir würden die
Menschen nicht genügend darüber aufklären, welche Versorgungslücken bei der Sozialversicherungsrente entstehen könnten,
({3})
dann kann ich nur sagen: Das muss daran liegen, dass insbesondere die älteren Bürgerinnen und Bürger 16 Jahre
lang von Herrn Blüm in die Ohren getutet bekommen haben, die Rente sei sicher. Wir mussten nun die Bürgerinnen
und Bürger darauf aufmerksam machen, dass diese Versprechungen der alten Bundesregierung nicht einzuhalten
waren, und haben, weil für die Zukunft tatsächlich nicht
mehr sicher ist, dass man aus der Sozialversicherungsrente 70 Prozent des bisherigen Nettoeinkommens erhält,
({4})
diese Blüm-Lücke durch die kapitalgedeckte Altersvorsorge aufgefüllt. Diese kapitalgedeckte Altersvorsorge ist
insbesondere für Familien mit Kindern interessant und insoweit besonders sozial ausgerichtet.
Wenn Sie uns heute auf der Basis einer windigen Untersuchung vorhalten, die Riester-Rente sei nicht attraktiv
genug, dann kann ich nur sagen, dass Sie mindestens auf
einem Auge blind sind.
({5})
Daneben hat der Bundesarbeitsminister schon zu Recht
darauf hingewiesen, dass die betriebliche Altersvorsorge
vor einer Renaissance steht oder sich schon in einer Renaissance befindet. Er hat auf die große Anzahl der neuen
Abschlüsse im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge
hingewiesen.
Als drittes Element haben wir die Genehmigung von
Pensionsfonds ermöglicht. Zu Beginn dieses Monats - ich
glaube, es war in der ersten Aprilwoche - ist
({6})
- am 9. April - der erste Pensionsfonds genehmigt worden; es war ein Fonds der IG Chemie. Weitere Pensionsfonds liegen zur Genehmigung vor. Über ihre Genehmigung wird noch im zweiten Quartal dieses Jahres
entschieden werden. Natürlich muss der Genehmigung
eine Prüfung vorangehen, weil unter aufsichtsrechtlichen
Gesichtspunkten die Neuerrichtung eines Pensionsfonds
mit der Neuerrichtung einer Lebensversicherung vergleichbar ist. Ein Pensionsfonds ist also nicht irgendein
neues Produkt, sondern er stellt gleichsam eine neue Lebensversicherung für einen bestimmten Personenkreis
dar. Dies unterliegt auch unter Verbraucherschutzgesichtspunkten - dazu sind ohnehin alle aufsichtsrechtlichen Regelungen da - der Prüfung.
Ich sage Ihnen noch einmal: Über alle Pensionsfonds,
deren Genehmigung zurzeit beantragt ist, wird zum Ende
des zweiten Quartals auch entschieden werden.
Natürlich wissen sehr viele Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer insbesondere in den großen Betrieben, aber
auch - Herr Kollege Riester hat zu Recht darauf hingewiesen - in den Betrieben des Mittelstandes, dass ihre Arbeitgeber und ihre Gewerkschaften daran arbeiten, solche
Pensionsfonds auf die Beine zu stellen. Selbstverständlich
warten sie darauf und schließen nicht einen Vertrag mit einem der übrigen Anbieter ab.
Uns nun zum Vorwurf zu machen, dass wir eine Renaissance der betrieblichen Altersvorsorge herbeigeführt
hätten und zum ersten Mal in der Bundesrepublik
Deutschland das moderne Finanzierungsinstrument des
Pensionsfonds für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nutzbar machen, ist an Ignoranz überhaupt nicht zu
überbieten. Die Vorwürfe, die Sie uns in diesem Zusammenhang machen, sind völlig unhaltbar.
Gegen Ende des Jahres werden wir noch einmal eine
ordentliche Kampagne durchführen, damit niemand das
erste Förderjahr verpasst.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Heinz Schemken für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ein
gutes Gedächtnis. Frau Staatssekretärin, wer hat denn die
Blüm-Reform zu Fall gebracht? - Sie. Wer hat die Rentner 1998 verunsichert? - Sie.
({0})
Wer muss die Verbraucher vor einem Produkt schützen? Sie.
({1})
- Ja, das Produkt kann doch gar nicht so gut sein, weil hier
ständig von Verbraucherschutz die Rede ist.
Wir haben den Minister vor handwerklichen Fehlern
im Zusammenhang mit dieser Gesetzgebung vergeblich
gewarnt. Das rächt sich jetzt. Ich bin noch einer von der
Sorte, die die letzten Reformen, die Blüm-Reform und
diese Reform, gern gemeinsam mit großen Mehrheiten
herbeigeführt hätten, weil wir uns bezüglich dieser Fragen
nicht jahrelang wechselseitig Vorwürfe machen sollten;
denn damit würden die Rentner verunsichert werden.
({2})
8 Prozent der Förderberechtigten haben sich bisher informiert; 5 Prozent haben bisher Versicherungsverträge
abgeschlossen. Das ist nun weiß Gott kein großartiger Erfolg, auch wenn Sie das so darstellen. Wenn man Ihren
Ausführungen glaubte, müsste das Produkt ein Selbstläufer sein. Wir haben jedoch große Defizite festzustellen.
Das wäre ja nicht tragisch, wenn es um irgendein Gesetz
ginge. Es geht hier aber um die Sicherung der zukünftigen
Existenz der Menschen.
({3})
Hiervon sind fast 40 Millionen Menschen betroffen.
({4})
- Bei Blüm waren alle betroffen; hier werden unterschiedliche Maßstäbe angelegt.
({5})
Das hat Folgen für diejenigen, die nach dem Prinzip
Hoffnung - die SPD hat es immer wieder verstanden, auf
das Prinzip Hoffnung zu setzen, insbesondere dann, wenn
es um Rentner ging - auf die Sicherheit ihrer Altersversorgung setzten.
Ich kann mich nur wundern, wenn hier von 2 Prozent
Rentenerhöhung gesprochen wird. Jeder weiß, dass die
Rentner in den vorangegangenen Jahren ausgebremst
worden sind.
({6})
Da die Renten nicht erhöht wurden, kann bei vorherigen
Nullrunden in einem Wahljahr natürlich leicht mit 2 Prozent Steigerung aufgewartet werden.
({7})
- Ich weiß, was im Gesetz steht. Ich weiß auch, dass Sie
die Mindestreserve nicht mehr einhalten. Sie ändern ja
ständig die Gesetze. Man kann gar nicht so schnell lesen,
wie Sie die Gesetze ändern.
({8})
Es gibt auch noch andere Zeitzeugen. Herr Achenbach,
der Fachmann aus dem Ministerium, hat die nächste Rentenreform schon angekündigt. Das sehen also nicht nur
wir voraus. Herr Achenbach hat in der Öffentlichkeit erklärt, dass eine Rentenreform notwendig sei, und zwar
genau auf dem Hintergrund, den wir Ihnen aufgezeigt haben. Auch die Auswirkungen infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Rentenbesteuerung kommen
noch auf uns zu.
({9})
- Ja, das wird die Lage völlig verändern.
({10})
Die Warnungen im Hinblick auf die Kompliziertheit,
die überzogenen Verfahren und die Bürokratie bestätigen
sich. Ich frage Sie: Mit wem sollen wir denn sonst sprechen, wenn nicht mit der Versicherungswirtschaft, mit den
Betroffenen, mit den Gewerkschaften - das haben wir im
Übrigen in dieser Woche getan - und mit den Bausparkassen? Das sind doch die Anbieter, mit denen wir darüber reden müssen, wie sie mit den Menschen im Hinblick
auf diese Gesetzgebung umgehen.
Wissen Sie, was das Dramatische ist? Die Verwaltungskosten belaufen sich durch den Apparat, den Sie aufbauen, auf bis zu 20 Prozent, wie uns in dieser Woche erklärt wurde. Das gilt für die Zertifizierungsbehörde.
({11})
Das wäre nicht nötig.
Die von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen haben erhebliche Schwächen. Die Konstante, die bis 2008 gilt,
bringt insbesondere für Frauen, für Geringverdiener und
für die Familien eine erhebliche Schwächung in der Altersversorgung. Weil Sie nicht an die Versicherungsgrenze als Maßstab herangehen - das wäre eine Möglichkeit der Fortschreibung gewesen -, frieren Sie hier
letztlich die Fortschreibung der Zulagen ein.
({12})
Die dynamische Rente wurde ja einmal von der Koalition
aus CDU/CSU und FDP eingeführt.
({13})
- Wenn wir schon in die Vergangenheit blicken, dann
heißt das: Derjenige, der damit rechnet, im Alter an der
Steigerung des Lebensstandards teilzuhaben, erwartet,
dass er dies durch eine Fortschreibung erreicht. Das ist bei
Ihnen jedoch nicht der Fall.
({14})
Im Gegenteil, durch die Abgaben im Jahr 2008 schmelzen
Sie die Rente zwangsläufig von 70 auf 64 Prozent der
früheren Bezüge ab. Das hätte Herr Blüm einmal machen
sollen.
({15})
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Aber einen Satz lassen Sie noch zu, Frau Präsidentin, weil Sie ein Herz für
Frauen haben: Die Betroffenen sind die Hinterbliebenen,
die Frauen, die Geringverdiener, die Familien und die Alleinerziehenden.
({0})
Damit habe ich ein Problem. Da kann man eigentlich nur
traurig werden, Frau Lotz. Ich bin überhaupt nicht neidisch, wie Sie glauben; man kann das, was Sie machen,
nur bedauern.
Schönen Dank.
({1})
Nun hat die Kollegin
Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Ich meine, der Vorwurf, Herr Schemken sei
eine Frau, ist sicherlich unparlamentarisch.
Ich würde aber gern auf das eingehen, was Sie zur Liquidität der Rentenversicherung gesagt haben, Herr
Schemken. Weil sie relativ kurz ist, verlese ich die Stellungnahme des VDR:
Die heutige Meldung in der „Bild“-Zeitung,
- Sie haben sich ja darauf bezogen die pünktliche Auszahlung der Renten im Herbst dieses Jahres sei möglicherweise gefährdet, entbehrt
jeglicher Grundlage. Zum Ende dieses Jahres wird
die Schwankungsreserve in der Rentenversicherung
nach den Berechnungen des Verbandes 12,3 Milliarden Euro betragen.
({0})
Sie entspricht damit der gesetzlich festgelegten Mindestschwankungsreserve von 0,8 Monatsausgaben
zum Jahresende. Auch für den Herbst dieses Jahres
gibt es daher an der Liquidität der Rentenversicherung keine Zweifel.
({1})
Das hat der VDR festgestellt. Ich meine, Sie sollten es zur
Kenntnis nehmen
({2})
und hier keine Verunsicherungskampagne betreiben, die
niemandem nutzt, insbesondere nicht den Menschen, die
auf ihre Renten angewiesen sind.
({3})
Ich komme jetzt zum Thema Riester-Rente und zu Ihrer Panikmache in Bezug darauf. Dass wir nicht informiert haben, ist Quatsch. Eigentlich wird über nichts so
viel geredet wie über die private Vorsorge,
({4})
und zwar nicht nur von den Politikern. Über nichts
werden so viele Informationen verbreitet, auf sehr vielen
Ratgeberseiten und in sehr vielen Zeitungen, von der Bundesregierung, den Verbraucherverbänden und insbesondere vom VDR, den wir nämlich damit beauftragt haben.
Ich meine, niemand kann sagen, dass jemand an fehlenden Informationen scheitert. Im Gegenteil: Die vermittelten Informationen werden von den Menschen sehr ernst
genommen. Das ist der Grund dafür, warum sie nicht
schnell irgendwelche Verträge unterschreiben, weil nämlich das, was die Verbraucherverbände sagen, richtig ist:
Abwarten, genau prüfen und vergleichen - übrigens auch
die betrieblichen Vorsorgeangebote, die es zum Teil aber
auf dem Markt noch nicht gibt - und erst dann einen Vertrag abschließen. Niemandem wird auch nur eine Mark
der Förderung entgehen, wenn er das in diesem Jahr in
aller Ruhe tut. Deswegen rate ich zu Gelassenheit in dieser Frage, was die Abschlüsse und vor allem auch die Verunsicherung der Menschen angeht, die sich solche Vorsorgeleistungen genau anschauen.
Für wichtig halte ich, dass besonders die jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein großes Interesse
an der Riester-Rente und ihren Produkten zeigen. Das
sind nämlich diejenigen, die wir selbstverständlich besonders erreichen wollen, weil vor allem sie darauf angewiesen sein werden. Deswegen ist es gut, dass gerade die
jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein großes
Interesse zeigen.
Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten nicht ausreichend
informiert, dann muss ich - auch wenn ich nicht mehr
gerne auf Ihre Regierungszeit verweise ({5})
darauf hinweisen, dass nicht wir diejenigen waren, die
versichert haben, die Rente sei sicher und man könne damit auskommen. Wir waren vielmehr diejenigen, die
erstmals klar gemacht haben: Nein, ganz so einfach ist
es nicht; wir müssen eine generationengerechte Rentenpolitik machen. Dazu gehört die private Vorsorge, die
wir, nicht Sie, auf den Weg gebracht haben. Wir haben
sie ausgestaltet, und zwar vor allen Dingen so, dass sich
auch Menschen, die nicht so viel im Geldbeutel haben,
dass sie es sich schon vorher leisten konnten, heute
tatsächlich eine zusätzliche private Vorsorge leisten können.
({6})
Es sind insbesondere Familien und Geringverdiener, denen wir unter die Arme greifen.
Inzwischen sind schon 3 500 Produkte zertifiziert worden. Außerdem gibt es betriebliche Vorsorgeprodukte, die
aber noch nicht auf den Weg gebracht worden sind. Ich
meine, das ist eine gute Ausgangsbasis, wenn man bedenkt, das erst der Monat April erreicht ist. Die Verbraucherverbände raten dazu, sich zu informieren. Es geht um
verantwortungsbewusstes Handeln der Menschen, das
nicht geeignet ist, Panik auszulösen.
Wenn man sich damit befasst, was dieses Informationsbedürfnis bedeutet, sollte man sich auch damit beschäftigen, worüber wir hier gestritten haben, nämlich
über erhöhte Transparenz bei den Angeboten, zum Beispiel hinsichtlich der Informationspflicht bei den Anlageformen. Es war uns als Grünen besonders wichtig, dass
die Produktanbieter offen legen, in welche Bereiche sie
investieren bzw. ob sie in ökologische, soziale oder ethische Anlageprodukte nach entsprechenden Kriterien investieren. Deswegen ist es richtig, sich zu informieren.
Das muss man deutlich machen.
Zum Schluss: Auf den Internetseiten des gleichen Instituts, das festgestellt hat, dass bisher nur wenige
Riester-Verträge abgeschlossen worden seien, findet sich
die Überschrift: Riester-Rente schwer zu schlagen. Das
ist das Ergebnis der Rentenpolitik dieser Bundesregierung.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nunmehr der Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün! Herr Riester,
das Ärgerlichste ist Ihre elende Selbstgerechtigkeit. Angesichts des Umfrageergebnisses, dass nur 8 Prozent der
Befragten bisher einen Riester-Vertrag abgeschlossen haben und dass 71 Prozent sagen, dass sie gar keine RiesterRente wollten, sollten Sie sich fragen, warum das so
schleppend anläuft und wo - das machen Sie ja am liebsten - nachgebessert werden muss. Sie sollten eine unvoreingenommene Fehlursachenanalyse durchführen. Nein,
das tun Sie nicht. Sie behaupten stattdessen selbstgerecht,
dass man auf dem richtigen Wege sei. Wenn die Menschen
das anders sähen, dann hätten sie eben Pech gehabt. Diesen Standpunkt können wir nicht akzeptieren.
({0})
Frau Scheel, der Herr Minister und Frau Hendricks reden nur von Verbraucherschutz und Transparenz. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssten sich nur erst
informieren. Dann werde es schon laufen. - Pustekuchen!
Ich sage Ihnen: Die Arbeiter, die zum Beispiel am Fließband bei Opel arbeiten, werden durch die komplizierten
Riester-Modelle nicht durchsteigen können, wenn selbst
die Fachleute das nicht können. Das möchte ich Ihnen an
einem Beispiel deutlich machen: Die Verbraucherschutzzentralen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen weisen darauf hin, dass den Riester-Rentnern deshalb riesige finanzielle Verluste drohen, weil 15 von
23 untersuchten Riester-Modellen - so sieht der von Ihnen gepriesene Verbraucherschutz aus, Herr Riester - so
konstruiert seien, dass die Rente im Falle des Ablebens
des Ehepartners noch fünf bis zehn Jahre an die Hinterbliebenen gezahlt werde. Herr Eichel hat dazu gesagt,
dass dies förderschädlich sei. Deshalb müssten die Zulagen in diesen Fällen zurückgezahlt werden. Wenn die
Fachleute, die Juristen der Versicherungswirtschaft, in Detailkenntnis des Gesetzes etwas Falsches gebastelt haben
bzw. eine große Rechtsunsicherheit verursacht haben vielleicht haben sie das, was der Bundesfinanzminister gesagt hat, falsch ausgelegt -, dann kann man vom kleinen
Mann und von der kleinen Frau nicht erwarten, dass sie
durch die komplizierten Riester-Modelle durchsteigen.
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die
Riester-Rente kompliziert ist. Sie ist auch sozial ungerecht. Vielleicht wollen nur so wenige die Riester-Rente,
weil sie sich einfach überfordert fühlen. Ich möchte Ihnen
einmal ein Zahlenbeispiel geben: Eine allein stehende Verkäuferin, die ein jährliches Einkommen von 15 000 Euro
hat, wird im Jahr 2008 eine so genannte Grundzulage von
154 Euro bekommen. Der Filialleiter, unterstelltes Jahreseinkommen 50 000 Euro, wird neben der Grundzulage
von 154 Euro noch einen Steuervorteil von 650 Euro pro
Jahr in Anspruch nehmen können. Das ist doch eine windschiefe Förderung. Die Familien mit Kindern und die
Einkommensschwachen werden zu schwach gefördert.
Deshalb fragen sie auch nur schwach die Riester-Rente
nach. Dass Sie als Sozialdemokraten diesen Zusammenhang nicht sehen, ist traurig.
({1})
Die Riester-Rente ist bürokratisch, kompliziert, in der
Förderung unzureichend und ungerecht gegenüber den
Familien. Sie ist - darauf hat der Kollege Storm schon
vorhin hingewiesen - auch renditeschwach. Vielleicht ist
das der entscheidende Grund, warum so viele sie nicht
wollen. Ich möchte nicht noch einmal Professor Jaeger zitieren. Ich verweise stattdessen auf die Berechnungen des
Bundesverbandes Deutscher Versicherungsmakler, wonach die Riester-Produkte im Schnitt 5 bis 10 Prozent weniger Rendite bringen als vergleichbare herkömmliche
Produkte. Die Riester-Rente ist unter diesem Gesichtspunkt also unattraktiv.
Fragen Sie doch einmal nach den Ursachen. Es liegen
elf komplizierte Kriterien zugrunde, obwohl Sie eigentlich nur zwei benötigen: Sicherheit und Langfristigkeit.
Durch Ihre Kataloge schließen Sie wichtige, wertvolle
Wahlmöglichkeiten von vornherein aus. Welch ein Kampf
war es, wenigstens die Auszahlungsmöglichkeit von nur
20 Prozent bei Beginn des Ruhestands sicherzustellen!
Warum nehmen Sie den Leuten die Lebensplanung ab?
Wenn sich jemand in ein Seniorenstift einkaufen möchte,
benötigt er mehr als 20 Prozent.
({2})
- Das ist ein Stück Alterssicherung. Begreifen Sie doch,
dass die Menschen nicht nur nach Ihrer Schablone selig
werden wollen, sondern ihren Lebensabend nach ihrer eigenen Lebensplanung gestalten wollen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Franz Thönnes für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der Titel dieser Aktuellen
Stunde lautet „Haltung der Bundesregierung zu dem Befund, dass fast drei Viertel der Versicherten keinen Vertrag
für eine so genannte Riester-Rente abschließen wollen“.
Man stellt sich schon die Frage, was das für ein Befund
ist. Es handelt sich um eine Untersuchung aus dem
März 2002. In dem entsprechenden Bericht wird erläutert, dass noch immer fast drei Viertel der Versicherten
- Pflichtversicherte, Arbeitnehmer und Angestellte machen insgesamt immerhin 62 Prozent aus - keine RiesterRente abschließen wollen. Angesichts einer massiven
Werbekampagne sei das enttäuschend. Die Bundesregierung, so heißt es weiter - das haben Sie nicht zitiert -, mache die Wahrheit über den schlechten Zustand
des Umlagesystems nicht deutlich.
Ich will der Frage nachgehen, worüber wir hier eigentlich reden und was die Basis dafür ist. 1 000 Beschäftigte
- bei ungefähr 27 bis 28 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind - wurden befragt. Davon waren 45 Prozent
Männer und 55 Prozent Frauen. In der Realität sieht es
aber so aus, dass 55 Prozent Männer und 45 Prozent
Frauen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Darum sind Zweifel an der Aussagekraft dieser Umfrage angebracht.
Die Verlässlichkeit der gesetzlichen Rentenversicherung wird in dieser Untersuchung anhand einer Skala bewertet: völlig sicher: 10 Punkte, völlig unsicher: 0 Punkte.
Auf dieser Skala findet man für das Jahr 1980 die Größenordnung 7,5 Prozent. Bis zum Jahr 2002 verringert sich
diese Größe auf 4,1 Punkte. Sie verschweigen völlig, dass
diese Größe bis 1996, also im Laufe Ihrer Regierungszeit,
von 7,5 auf 5 Punkte sank, weil die Menschen gemerkt
haben, dass Ihr Spruch „Die Renten sind sicher“ schlichtweg eine Lüge war. Das Vertrauen in das System ist unter
Ihrer Regierung verloren gegangen. Das haben Sie nicht
zitiert.
({0})
Der Rückgang des Vertrauens in die Rentenversicherung
war während Ihrer Regierungszeit dreimal höher als unter
unserer Verantwortung. Uns ist es gelungen, diese Tendenz zu bremsen.
Es ist gesagt worden, wer hinter diesem Institut steht.
Man muss aber auch sagen, dass der wissenschaftliche
Berater Professor Dr. Meinhard Miegel ist, der, so glaube
ich, Leiter der Bundesgeschäftsstelle der CDU in Bonn
gewesen ist. Darum müssen Sie diese Untersuchung aufgreifen; es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig. Sie müssen das aufgreifen, weil Sie auch in der jetzigen Situation
versuchen, in Deutschland Angst zu schüren: Angst vor
Zuwanderung, Angst, obwohl eine Verbesserung der Konjunktur, die sich jetzt am Himmel abzeichnet, abzusehen
ist, Angst bei der Rente. Sie sind auch in dieser Situation
die eigentlichen Angstverursacher. Sie wollen wieder
dazu beitragen, dass diese Rente, die private Altersvorsorge, die von der Wirtschaft, von Gewerkschaften und
Fachleuten akzeptiert und als eine gute politische Entscheidung bewertet wird, schlecht geredet wird.
({1})
- Frau Schwaetzer, Ihnen ist es am liebsten - ich bleibe
bei meiner Philosophie -, wenn gar nichts geregelt wird.
Sie wissen nicht, was geregelt werden soll. Sie, Frau
Maier, wollen alles geregelt haben.
Mithilfe der elf Punkte, die wir aufgeschrieben haben,
versuchen wir aus dem Gesetz mehr praktischen Verbraucherschutz, der die Menschen vor dem schützen soll,
was auf dem Markt üblich ist, herauszuholen. Es geht um
Marktanteile für die Unternehmen. Das ist auch gar nicht
schlimm; aber da muss ein bisschen geregelter Wettbewerb hinein und das machen wir. Die Menschen - das ist
völlig klar - gehen sehr vorsichtig damit um. Sie lassen
sich das erklären.
Die Zahl von 1,9 Millionen Verträgen ist schon ein
ganz großer Erfolg. 1,9 Millionen Verträge in vier Monaten, das ist kein Zeichen des Scheiterns, sondern das ist
ein riesiger Erfolg, weil alle Prognosen davon ausgehen,
dass zwei Drittel bis drei Viertel aller Verträge in der
betrieblichen Altersvorsorge abgeschlossen werden. Am
Ende werden es also nicht einmal 8 Millionen Verträge in
der privaten Vorsorge sein. Demnach haben wir nach gut
drei Monaten schon ein Viertel erreicht. Jedes Unternehmen im Wettbewerb wäre froh, wenn es bei einem neuen
Produkt diese Einführungsquote erreichen würde. Deswegen sind wir auch stolz darauf.
({2})
Es ist deutlich gesagt worden, dass jetzt mehr als
106 Tarifverträge das für 15,7 Millionen Menschen
regeln. Damit kommen mehr als 60 Prozent der Beschäftigten im Bereich von Tarifverträgen in den Genuss einer
gut geregelten betrieblichen Altersvorsorge. Es ist klar,
dass die Menschen jetzt warten. Der Vorteil bei der betrieblichen Altersvorsorge besteht darin, dass die Verwaltungskosten nur bei ungefähr 5 bis 6 Prozent liegen. Wenn
sie bei den Privaten bei 20 Prozent liegen, dann kann ich
nur sagen: Munter rein in den Wettbewerb! Es wird sich
zeigen, wo die besseren Verträge gemacht werden. Wir
werden dann sehen, dass das am Ende im tariflichen Bereich der Fall sein wird.
({3})
Deswegen werden wir sehr vertrauensvoll abwarten,
was die Stiftung Warentest sagen wird, die Mitte des
Jahres die Untersuchungsergebnisse vorlegen wird. Die
Menschen werden sich ein Bild davon machen, wo sie
Vorteile haben werden.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überzogen.
Wir lassen uns das auch
nicht schlecht reden. Sie sagen, dass wir die Bezieher
höherer Einkommen stärker fördern als die niedriger.
Nein! Verheiratet, zwei Kinder, Durchschnittseinkommen
30 000 Euro: 57 Prozent Förderquote. Gleiche Einkommensklasse, allein stehend: 30 Prozent Förderquote.
Ich sage abschließend: Der Erfolg der Rentenpolitik
dieser Regierung wird aus der Grafik, die ich hier habe,
deutlich.
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
In den letzten vier Jahren Ihrer Regierungszeit gab es nur 3,5 Prozent Rentenzuwachs
in Westdeutschland und in den vier Jahren dieser Regierung 6,14 Prozent.
({0})
Ihnen wird es nicht gelingen, die Menschen zu verunsichern. Dieses Produkt ist ein gutes Produkt und es wird
im Wettbewerb Bestand haben.
({1})
Bevor ich dem Kollegen Matthäus Strebl für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort gebe, folgender Hinweis: Wir sind in der Aktuellen
Stunde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich
an die Redezeit halten. Wenn das nicht funktioniert, werde
ich irgendwann das Mikrofon abschalten.
Ich werde es nicht bei Ihnen tun, Herr Kollege Strebl;
denn Sie werden sich ja an die Redezeit von fünf Minuten
halten. Bitte sehr.
Ich hoffe es. - Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Vergangenes Jahr stellte der Bundesarbeitsminister
Walter Riester mit ungeheurem Werbeaufwand seine so
genannte Riester-Rente vor, die die Bürgerinnen und
Bürger zur privaten Altersvorsorge anhalten sollte. Ziel
war es, die angeschlagene Rentenkasse zu entlasten.
Herr Thönnes, weil Sie von der Wahrheit sprachen,
muss ich Folgendes sagen: Die Wahrheit ist, dass Sie im
Jahr 2000 die Nettolohnanpassung ausgesetzt haben. Die
Wahrheit ist auch, dass Sie es waren, die die Blüm-Reform behindert haben.
Die so genannte Riester-Rente floppt an allen Ecken
und Enden, wie wir heute feststellen müssen. Eine Studie
des Deutschen Instituts für Altersvorsorge belegt, dass
rund 71 Prozent keinen Vertrag für eine zusätzliche private Altersvorsorge abschließen wollen und 49 Prozent an
der Riester-Rente generell nicht interessiert sind. Jetzt
kommt Licht ins Dunkel der Rentenreform dieser Bundesregierung.
Dabei wächst die Angst in der Bevölkerung vor der Unsicherheit der gesetzlichen Rente. 82 Prozent der Befragten sind sich zwar darüber im Klaren, dass eine private Altersvorsorge prinzipiell notwendig ist; aber 60 Prozent
haben den Eindruck, vom Staat im Stich gelassen zu werden. Das ist das Ergebnis der viel zitierten „Solidarität mit
Gewinn“. Anstatt eines ausgewogenen, transparenten
Modells haben wir nun ein einseitiges, übereilt vorgestelltes Machwerk, das auf Kosten von Rentnerinnen und
Rentnern sowie Verbrauchern geht.
Es wurde eine Vielzahl von Regeln aufgestellt, damit
ein Anlageprodukt die Zertifizierung erhält. Doch leider
hat Bundesminister Riester dabei nur an Rahmenbedingungen gedacht. Die Frage der Wirtschaftlichkeit derartiger Verträge spielte keine Rolle; denn die Zertifizierung
ist nach seinen Angaben kein staatliches Prüfsiegel. Ich
frage daher: Ist das für Sie Verbraucherschutz? Lieber
eine späte Warnung als eine gut ausgearbeitete Reform
des Modells. Immer mehr treten die Unzulänglichkeiten
der Riester-Rente zutage:
Die Riester-Rente ist nur auf den so genannten
Eckrentner zugeschnitten, der 45 Jahre in die Rentenkasse einzahlt, aber es ist doch, wie wir alle wissen, realitätsfern, von 45 Jahren auszugehen.
({0})
Prognosen besagen, dass die durchschnittliche Lebensarbeitszeit bei Männern 40 Jahre und bei Frauen 30 Jahre
betragen wird, womöglich sogar darunter liegt. Das bedeutet, dass die Versorgungslücke in den kommenden Jahren von 29,9 Prozent auf über 32 Prozent anwachsen wird.
Ein weiteres Problem ist, dass bestehende Altverträge
nicht die Förderkriterien der Riester-Rente erfüllen. Die
Betroffenen müssen neue Verträge abschließen und eventuell wieder Abschlussprämien zahlen, um die Förderung
zu erhalten, was sich gerade Bezieher von unterdurchschnittlichem Einkommen nicht leisten können. Diese
Gruppe wird ohnehin durch die Förderung benachteiligt,
denn grundsätzlich gilt frei nach Riester: je höher das Einkommen, desto höher die Förderung.
Nach Schätzungen der Verbraucherschutzzentrale Nordrhein-Westfalen drohen nachher Hunderttausenden Deutschen aufgrund einer Vertragsklausel Nachzahlungen.
15 von 23 Versicherern garantieren auch nach dem Tod
des Einzahlers die Auszahlung der Rente für einen Zeitraum von mehreren Jahren. Diese Vertragskonstruktion
soll eigentlich Eheleute schützen und absichern, aber sie
verstößt gegen Ausführungsbestimmungen des Bundesfinanzministeriums, welches in einer Auszahlung der
Rente in Raten an den überlebenden Ehepartner eine
schädliche Verwendung der staatlichen Zuschüsse, die
in die Riester-Rentenverträge geflossen sind, sieht. Die
Folge: Die so genannten Riester-Zahlungen müssen beim
Tod des Ehepartners auf einen Schlag versteuert werden.
So sieht die Familienförderung bei Ihnen aus, die Sie sich
für Ihr Wahlprogramm auf die Fahne geschrieben haben.
Herkömmliche Anlagemodelle dagegen sind flexibler
und besser auf die individuellen Bedürfnisse der Verbraucher zugeschnitten, denn Fondssparpläne erlauben zum
Beispiel, dass der Anleger jederzeit über sein Geld verfügen kann, was bei Riester-Produkten erst ab dem 60. Lebensjahr möglich ist.
({1})
Das Riester-Programm ist besonders aufwendig in der
Beratung. Die Policen fallen aufgrund der vielen Auflagen eher ertragsschwach aus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist kein
Wunder, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
dieser Flop-Rente kaum Beachtung schenken.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist leider längst abgelaufen.
({0})
Die Experten halten es
für möglich, dass in einigen Jahren wieder über eine obligatorische Versicherung nachgedacht werden muss.
Zum Schluss: Diese Bundesregierung hat mit der
Riester-Rente eine Chance verspielt und den Bürgerinnen
und Bürgern unseres Landes den Weg zu einer zukunftsorientierten privaten Alterssicherung nicht geebnet. Das
ist für mich nicht solidarisch und erst recht kein Gewinn.
Vielen Dank.
({0})
Nun ruht meine ganze
Hoffnung auf dem Kollegen Horst Schild, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen!
Meine Herren! Kollege Strebl, es handelt sich doch um
ein fundamentales Missverständnis, was Ihren zum Teil
auch gar nicht zutreffenden Ausführungen zugrunde liegt.
Hier geht es um die Schließung der Lücke zwischen dem
früheren und dem zukünftigen Rentenniveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Hier geht es nicht um die
staatliche Förderung der Erben, sondern um die der Hinterbliebenen. Das ist etwas völlig anderes.
({0})
Was wollte denn die Union mit der Beantragung dieser
Aktuellen Stunde? Sie haben eine Momentaufnahme aus
einer Studie von vielen, der vom Deutschen Institut für
Altersvorsorge, zum Anlass genommen und darüber hinaus wahrscheinlich auch nur die Schlagzeile der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 12. April dieses Jahres
gelesen.
({1})
Ich hätte Ihnen - dann hätten wir uns das Ganze heute ersparen können - geraten, die Schlagzeile der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ vom 25. Januar zu nehmen. Sie
lautete: „Interesse an der Riester-Rente“. Jetzt hat man
das kleine Wörtchen „wenig“ hinzugefügt und die Basis
der empirischen Daten ist keine andere.
({2})
- Das ist doch Unsinn, Frau Schwaetzer.
({3})
Sie wollten den untauglichen Versuch unternehmen, negative Schlagzeilen zu provozieren und damit das mies zu
machen, was Sie in Ihrer Amtszeit nicht auf die Beine gestellt haben, nämlich den Weg staatlich geförderter zusätzlicher privater und betrieblicher Altersvorsorge.
({4})
In der Studie steht ausdrücklich: Entgegen den hohen
Erwartungen - das ist sicherlich richtig; Erwartungen hatten wir und auch die Finanzdienstleister - wollen auch im
März dieses Jahres, wenige Wochen nach In-Kraft-Treten
dieses Gesetzes, 71 Prozent der Befragten nicht abschließen.
Aber wenn Sie sich einmal die weiteren Befunde dieser Studie anschauen, dann sehen Sie, dass es berechtigten Anlass zu Optimismus gibt, dass dieser Anteil in Zukunft wesentlich größer wird. Das sollten Sie, wenn auch
Sie die Notwendigkeit einer zusätzlichen, kapitalgedeckten Altersvorsorge sehen, nicht in Zweifel ziehen und Sie
sollten nicht Zweifel säen.
Nehmen wir einmal das Positive - einiges ist dazu gesagt worden -: Nur 18 Prozent gehen davon aus, dass sie
keine Vorsorge treffen müssen. Aber 82 Prozent der Befragten gingen im März davon aus, dass sie etwas tun
müssen. Frau Kollegin Scheel hat vorhin darauf verwiesen - das ist für uns besonders wichtig -: Gerade bei den
jungen Menschen, bei den 18- bis 29-Jährigen, steigt das
Bewusstsein; 91 Prozent gehen davon aus, dass die Notwendigkeit einer zusätzlichen Altersvorsorge besteht. Ich
gehe davon aus, dass sie, wenn dieses Bewusstsein vorhanden ist, in Zukunft den von uns angebotenen Weg einer zusätzlichen betrieblichen oder privaten Altersvorsorge gehen werden.
({5})
Es gibt weitere erfreuliche Daten. In den neuen Ländern gibt es eine starke Nachfrage nach Riester-Produkten. Das freut uns besonders. Die Umfrage von Infratest
- man sollte sich nicht nur auf die Studie des DIA beziehen - kommt zu dem Ergebnis, dass bereits jeder Achte einen Vertrag abgeschlossen hat und noch 43 Prozent im
Laufe dieses Jahres einen abschließen wollen. Das sind
positive Signale.
({6})
- Wir werden abwarten und sehen - wir haben entsprechende Befunde -, dass bei den neuen Durchführungswegen der staatlich geförderten betrieblichen Altersvorsorge
bis zu 80 Prozent all derjenigen, die dafür infrage kommen, diesen Weg gehen werden.
({7})
Sie können doch nicht nur wenige Wochen - auch der
Minister hat vorhin darauf verwiesen - als Maßstab nehmen. Hier ist auch auf die Einführung anderer Produkte
verwiesen worden. Wir werden erleben, dass die Bereitschaft zum Abschluss einer staatlich geförderten privaten
oder betrieblichen Altersvorsorge in den nächsten Monaten deutlich zunehmen wird und die Riester-Rente ein Erfolg wird.
Ich danke Ihnen. - Frau Präsidentin, ich bin unter fünf
Minuten geblieben.
({8})
Es geht doch, liebe
Kolleginnen und Kollegen! - Die Aktuelle Stunde ist be-
endet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Wolfgang Bosbach,
Dr. Maria Böhmer, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des
Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten
- Drucksache 14/6709 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Sexueller Missbrauch von
Kindern - Drucksache 14/1125 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 14/8779 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({3})
Joachim Stünker
Volker Beck ({4})
Dr. Evelyn Kenzler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Peter Weiß
({6}), Erika Reinhardt, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Gegen die sexuelle Ausbeutung und den Miss-
brauch von Kindern
- Drucksachen 14/7610, 14/8806 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Gradistanac
Irmingard Schewe-Gerigk
Klaus Haupt
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({7}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Carsten Hübner, Rosel Neuhäuser,
Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen Kindersextourismus bekämpfen
- Drucksachen 14/7793, 14/8795 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Stöckel
Hermann Gröhe
Christa Nickels
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Carsten Hübner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen
Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das letzte Sommerloch stand ganz im Zeichen des Ausspruchs des Herrn
Bundeskanzlers, man müsse die Sexualstraftäter wegschließen, und das für immer. Aber es ist nichts geschehen; Sie haben nichts unternommen. Das muss man immer wieder feststellen. Wir haben einen Gesetzentwurf
vorgelegt, über den wir heute beschließen werden. Wir
wollen durch diesen Gesetzentwurf die Bevölkerung vor
Sexualverbrechen, insbesondere an Kindern, und vor anderen schweren Delikten stärker schützen.
Wir haben uns in der vergangenen Legislaturperiode
große Mühe gegeben, gerade diesen Bereich gesetzlich
neu zu regeln. Das ist uns auch größtenteils gelungen.
Aber es gibt Defizite, die wir heute aufgreifen wollen. Wir
wollen den Kindesmissbrauch als Verbrechen hochstufen. Der Straftatbestand des § 176 StGB soll in Zukunft
nicht mehr als Vergehen behandelt werden, sondern er soll
zum Verbrechen hochgestuft werden. Wir greifen damit
einen Gesetzentwurf des Bundesrates auf.
Die Grundformen des sexuellen Missbrauchs von Kindern waren bereits vor 1973 in jedem Fall als Verbrechen
konzipiert. Erst im Jahre 1973 hat man eine Differenzierung zwischen Vergehen und Verbrechen vorgenommen.
Nur bei ganz schweren Taten handelte es sich um ein Verbrechen. Damals hat der Gesetzgeber erklärt, es sei nicht
so ganz sicher, ob ein Kind wirklich immer einen großen
Schaden erleidet, wenn es sexuell missbraucht wird. Das
war die offizielle Gesetzesbegründung für die Differenzierung zwischen Vergehen und Verbrechen. Heute haben
wir weiter gehende Erkenntnisse. Wir wissen, dass ein
Kind immer einen schweren Schaden erleidet, wenn es sexuell missbraucht wird. Es kann psychische Schäden und
negative Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung geben. Der Schaden kann sich auch in der mangelnden sexuellen Reife und in Traumata zeigen, die oftmals
ein Leben lang andauern können. Deswegen sind wir der
Auffassung, dass jedweder sexueller Missbrauch von
Kindern als Verbrechen zu qualifizieren ist.
Daraus ergeben sich natürlich gewisse Folgen. Das Gericht kann das Verfahren nicht mehr nach §§ 153 und 153 a
StPO einstellen. Es kann Straftaten aus dem unteren Bereich nicht mehr einfach nur mit Strafbefehl ahnden. Es
muss vielmehr Anklage vor dem Schöffengericht erhoben
werden. Der Richter und das Gericht müssen sich selbst einen Eindruck von der Tat und von dem Täter verschaffen.
Aber es ist nicht so, dass auf leichte Begehungstaten
keine Rücksicht genommen werden könnte. Das Verfahren kann zwar nicht mehr eingestellt werden. Aber es gibt
dennoch die Möglichkeit, über § 47 Abs. 2 StGB eine
Geldstrafe zu verhängen oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt auszusprechen. Eine ausreichende Reaktionsmöglichkeit der Gerichte - zu Recht wurde diesbezüglich
eine Einschränkung befürchtet; das ist das eigentliche Gegenargument gegen die Hochstufung zum Verbrechen ist durchaus gegeben. Wir müssen also nicht befürchten,
dass minderschwere Fälle unter der Erheblichkeitsschwelle liegen.
Wir glauben, dass wir diesen Weg gehen können. Auch
der Bundesrat schlägt ihn vor. Wir bekommen außerdem
Signale aus dem Bereich der Strafverfolgung, die uns zeigen, dass dies der bessere Weg ist und dass die Maßnahmen aus dem Jahre 1973 korrigiert werden müssen.
In unserem Gesetzgebungsvorhaben greifen wir einen
zweiten Punkt heraus, nämlich die Anordnung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung.
({0})
- Ich bitte die Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, ihre
Diskussion zu beenden, damit ich fortfahren kann.
Herr Kollege, wir hatten eben eine lebhafte sozialpolitische Debatte. Ich habe
mich noch nicht richtig auf diese juristische Debatte
eingestellt. Ich weiß, dass die Juristen unter den Kollegen
meistens aufmerksam zuhören. Sie haben mit Ihrer Bemerkung also völlig Recht. - Herr Kollege Geis, Sie haben
das Wort.
Danke. Ich hätte mich
nicht getraut, diese Rüge den Kolleginnen und Kollegen
von der SPD auszusprechen; ich habe meine eigenen
Freunde ansprechen wollen. Vielleicht kann man die sozialpolitische Debatte außerhalb des Plenarsaals fortsetzen und vielleicht ist es möglich, dass wir hier einmal ein
paar Minuten lang über ein wichtiges strafrechtliches
Thema diskutieren. Denn es ist kein einfaches Thema.
Frau Präsidentin, ich stimme Ihnen zu: Es ist vielleicht
nicht ganz so geläufig wie sozialpolitische Themen.
Wir wollen die Möglichkeit der nachträglichen
Anordnung der Sicherungsverwahrung. Wir haben
schon jetzt die Möglichkeit, dass der Richter bei einem
Täter, der einen Hang zu schweren Straftaten hat und
außerdem unter Umständen ein gefährlicher Wiederholungstäter ist, die Strafe aussprechen kann und ihn nach
Absitzen der Strafe in die so genannte Sicherungsverwahrung schicken kann. Aufgrund unserer gesetzlichen
Regelung aus dem Jahre 1998 ist das erleichtert worden.
Das, was der Bundeskanzler möchte, ist schon aufgrund
gesetzlicher Regelungen aus dem Jahre 1998 möglich.
Aber wir haben eine Regelungslücke. Diese Regelungslücke besteht darin, dass das Gericht unter Umständen nicht immer in der Lage ist, schon beim Urteil festzustellen, ob es sich wirklich um einen Täter handelt, der
einen Hang zu schweren Straftaten hat und zugleich gefährlich ist, und dass sich diese Tatsache erst während des
Vollzugs, während der Therapie herausstellt, also in Kontakt mit den Vollzugsbeamten. Die stellen dann fest: Das
ist ja ein gefährlicher Täter. Eine solche Feststellung liegt
an sich nicht fern; das ist durchaus möglich. Für diese
Fälle haben wir keine Regelung. Wenn also der Vollzugsbeamte zu dem Ergebnis kommt, dass es sich um einen
Täter handelt, der einen Hang zu schweren Straftaten hat,
dann muss er dennoch in die Freiheit entlassen werden,
wenn das Gericht nicht zuvor bereits die Sicherungsverwahrung angeordnet hat. Das ist eine echte Regelungslücke. Das wird erkannt und das sieht auch die SPD so.
Deswegen hat die Koalition die Regelung vorgeschlagen, dass das Gericht eine solche Sicherungsverwahrung
unter Vorbehalt aussprechen kann. Wir halten diese
Regelung für nicht ausreichend. Gestern fand dazu eine
Anhörung statt. In dieser Anhörung hat dieser Gesetzentwurf auch bei den Sachverständigen, die von der SPD benannt wurden, keinen großen Anklang gefunden. Deswegen sollte man aufseiten der Koalition noch einmal
darüber nachdenken, ob man nicht andere Formulierungen
findet.
Wir sind der Meinung, dass unser Vorschlag der bessere ist.
({0})
- Lieber Herr Hartenbach, der ist nicht verfassungswidrig. Ihr Gesetzentwurf - das haben wir gestern von einem
Sachverständigen, den Sie selber benannt haben, gehört ist unter Umständen verfassungswidrig. Jedenfalls gibt es
dagegen ganz erhebliche Bedenken.
Wir meinen, dass der Vorbehalt, den Sie machen wollen, deswegen nicht in Ordnung ist, weil dann zum einen
das Gericht keine Sicherungsverwahrung mehr aussprechen wird - jedenfalls im größten Teil der Fälle -, sondern
immer nur eine Sicherungsverwahrung unter Vorbehalt.
Das halten wir für eine Verschlechterung der jetzigen
Möglichkeit. Zum anderen ist Ihre Formulierung, die Sie
vorschlagen, sehr unbestimmt und unter Umständen verfassungswidrig.
In einem solchen Fall ist ohne weiteres auch die Möglichkeit gegeben, dass das Gericht nicht mit der nötigen
Sicherheit feststellen kann, dass es sich um einen Täter
handelt, der einen Hang zu schweren Straftaten hat und
gefährlich ist, und dass das Gericht dann den Vorbehalt
gar nicht aussprechen darf. Denn der Vorbehalt bedeutet
eine Belastung für den Betroffenen, gegen die er sich im
Rahmen von Revisionsverfahren wehren kann.
Es besteht also ohne weiteres die Möglichkeit, dass das
Gericht den Vorbehalt nicht aussprechen kann. Wenn
dann im Vollzug festgestellt wird, dass es sich tatsächlich
um einen gefährlichen Täter handelt, haben wir die gleiche Situation wie im Augenblick: In diesem Fall besteht
eine Regelungslücke. Deswegen ist Ihre Vorbehaltslösung
sehr, sehr mangelhaft.
Eine zeitliche Lücke kommt hinzu: Was machen wir
mit den Tätern, die bereits verurteilt sind und bei denen
dann festgestellt wird, dass sie gefährlich sind? Mit der
Vorbehaltslösung können Sie die nicht mehr erfassen;
denn die greift erst in der Zukunft.
Das ist also ein schlechter Vorschlag. Deswegen meinen wir, dass wir ihn nicht annehmen können.
Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die gegen unseren Vorschlag vorgebracht werden, gelten auch für die
Vorbehaltsregelung. Wir sind der Meinung, dass diese
verfassungsrechtlichen Bedenken nicht durchgreifen.
Zum einen ist die Verbindung zur Strafe selbst gegeben;
der Betreffende sitzt deswegen im Strafvollzug. Zum
Zweiten handelt es sich nicht um eine erneute Bestrafung;
es ist kein Verstoß gegen den Grundsatz „ne bis in idem“,
und zwar deswegen nicht, weil diese Sicherungsverwahrung keine Strafe, sondern eine Maßnahme der Sicherung
und Besserung ist. Das Dritte ist: Natürlich darf eine solche Sicherungsverwahrung nur ausgesprochen werden,
wenn sie notwendig, das geeignete Mittel und angemessen ist. Das kann im Einzelfall entschieden werden. Aus
diesen Gründen ist unser Vorschlag verfassungsrechtlich
nicht bedenklich.
Wir haben einen dritten Vorschlag unterbreitet; er betrifft die DNA-Analyse. Wir wollen ihre Anwendung ausweiten. Wir haben schon jetzt die Möglichkeit, eine DNAAnalyse vornehmen zu lassen. Die DNA-Analyse mit
ihrer Möglichkeit der genetischen Identifizierung ist ein
exzellentes Mittel der Strafverfolgung. Eine solche Analyse können wir schon jetzt vornehmen. Es sind aber
große Hürden zu überwinden. Eine Voraussetzung ist,
dass es sich um eine schwere Straftat handelt. Zum Zweiten muss der Richter zu der Prognose gelangen, dass der
Betreffende wiederum eine schwere Straftat begehen
wird. Dann ist eine DNA-Analyse möglich. Wir wollen
den Katalog der Anlasstaten ausweiten und sagen: Das ist
bei jedweder Tat möglich. Allerdings muss der Richter
eine erneute Prognose stellen, derzufolge es sich bei dem
Betreffenden um einen potenziell schweren Straftäter
handeln wird, und muss dann die DNA-Analyse verfügen.
Der Richtervorbehalt bleibt also erhalten. Wir meinen,
dass dies notwendig und für die Strafverfolgung wichtig
ist.
Der letzte Punkt. Wir wollen den Katalog in § 100 a der
Strafprozessordnung, der die Telefonüberwachung regelt,
um die Straftaten Kindesmissbrauch und Kinderpornographie ergänzen. Das SPD-regierte Land Niedersachsen
will mit einem neuen Gesetzentwurf genau das Gleiche.
Wir halten die Aufnahme dieser Straftaten in den Katalog
für notwendig und meinen, dass Sie zumindest in dieser
Frage mit uns stimmen sollten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Anni Brandt-Elsweier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorbereitung zu dieser Rede habe ich festgestellt, dass ich zu diesem Thema bereits im November
1997 gesprochen habe. Es ging damals um das Gesetz zur
Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten und um das Sechste Gesetz zur Reform
des Strafrechts, das noch unter der Kohl-Regierung - Sie
erinnern sich - verabschiedet wurde. Wir Sozialdemokraten haben diese Gesetze damals mitgetragen; denn es wurden damit wichtige Voraussetzungen für den strafrechtlichen Schutz in diesem Bereich geschaffen.
Sexueller Missbrauch von Kindern, Kinderhandel,
Kindersextourismus und Kinderpornographie, aber auch
Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern müssen mit aller Kraft verfolgt und geächtet werden, da sie
mit schwerwiegenden Folgen für die betroffenen Kinder
verbunden sind.
({0})
Aus diesem Grunde haben wir uns sehr intensiv mit den
beiden Gesetzentwürfen der CDU/CSU und des Bundesrates, die heute zur Abstimmung stehen, auseinander gesetzt. Es ist jedoch fraglich, ob die von Ihnen vorgeschlagenen einzelnen strafrechtlichen Verschärfungen wirklich
geeignet sind, unsere Kinder zukünftig besser zu schützen.
({1})
Eines ist leider Fakt: Einzelfälle, die uns erschrecken,
wird es immer wieder geben. Lückenlose Sicherheit kann
es in einem demokratischen Rechtsstaat - für den stehen
wir alle hier ein - nie geben. Wir sollten uns davor hüten,
das Strafrecht für eine Politik des „Unschädlichmachens“
zu missbrauchen, so der Sachverständige Dr. Pollähne
vom Bremer Institut für Kriminalpolitik in der gestrigen
Anhörung.
Die Sachverständigenanhörung zu den vorliegenden
Gesetzentwürfen hat ergeben, dass zum Beispiel Ihr Vorschlag einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung auf erhebliche verfassungsrechtliche
Bedenken stößt. Es kann in der Tat Fälle geben - Sie haben sie angesprochen, Herr Geis -, bei denen die Gefährlichkeit des Verurteilten zum Zeitpunkt des Urteils nicht
hinreichend sicher festgestellt werden kann, aber auch
nicht auszuschließen ist. Aus diesem Grunde hat die Koalition den Gesetzentwurf vorgelegt, der die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung dann möglich macht,
wenn sie denn im Urteil des erkennenden Gerichts vorbehalten worden ist. Die gestrige Anhörung hierzu wird
noch auszuwerten sein.
Ihre Kritik, im Rahmen einer rechtsstaatlich korrekten
Nutzung der DNA-Analyse gäbe es erhebliche Defizite,
ist so sicherlich nicht berechtigt; denn die schrecklichen
Verbrechen der jüngsten Zeit haben gezeigt, dass das vorhandene gesetzliche Instrumentarium im Bereich der
DNA-Analyse zur effektiven Kriminalitätsbekämpfung
ausreichend ist, wenn es sachgerecht genutzt wird.
Ebenso stehen den Strafverfolgungsbehörden bei Telefonüberwachungen auch weit reichende Instrumentarien
zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern
und der Verbreitung von Kinderpornographie zur Verfügung. Wir meinen, das ist zunächst einmal ausreichend, wir
werden das aber, wie Sie bereits gesagt haben, anhand der
Initiative des Landes Niedersachsen überprüfen müssen.
Ich habe bereits 1997 ausgeführt, dass eine strafrechtliche Verschärfung nicht für ausreichend gehalten wird,
unsere Kinder wirksam vor sexuellen Übergriffen zu
schützen. Das Strafrecht wird erst dann wirksam, wenn
das Kind bereits Opfer sexueller Gewalt geworden ist.
Wir können uns sicher nicht ernsthaft damit begnügen,
darauf zu warten, dass etwas passiert, um dann die Keule
des Gesetzes zu schwingen und uns zufrieden zurückzulehnen, weil wir den Täter hinter Gitter, möglicherweise
sogar für immer, gebracht haben. Ich kann Ihnen aus der
Erfahrung meiner langjährigen Tätigkeit als Richterin
versichern, dass die Androhung einer schweren Strafe einen potenziellen Täter, auch einen Wiederholungstäter,
nicht davon abhält, erneut eine Straftat zu begehen. Die
Abschreckungswirkung ist minimal. Das können Sie daran sehen, dass in Ländern mit Todesstrafe immer noch
Morde geschehen.
Eines der großen Probleme bei der Bekämpfung von
sexuellem Missbrauch ist die Tatsache, dass in den meisten Fällen der Täter aus dem vertrauten Umfeld kommt.
Bei nur etwa 6 Prozent der Fälle handelt es sich um einen
Fremden.
Dabei - das muss man sehen - umfasst sexueller Missbrauch nicht nur die körperliche Misshandlung. Seelische
Verletzungen, die Angst, das Gefühl der Verlassenheit,
ein gestörtes Gefühl zum eigenen Körper, das zerbrochene Vertrauen, Schuld- und Schamgefühle können das
ganze Leben andauern. Viele der Betroffenen - das wissen wir aus Gesprächen mit den Beratungsstellen schweigen jahrelang. Das liegt vor allem daran, dass das
Kind gar nicht versteht, was geschieht, und meist nicht
weiß, dass dies Unrecht ist.
Aus dieser Verwirrung heraus haben Kinder Schwierigkeiten, sich an jemanden zu wenden. So zeigen Untersuchungen aus den USA, dass sich ein missbrauchtes
Kind im Durchschnitt sechs Mal an einen Erwachsenen
wendet, bevor der siebte ihm endlich glaubt oder erkennt,
was das Kind ihm wirklich sagen will.
Hier liegt eine weitere Schwierigkeit in der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs. Es gibt wenig Fälle, bei
denen es sich um die Tat eines erkennbar sexuell abartig
veranlagten Menschen, also eines Triebtäters, handelt. In
der Regel erfolgt der Missbrauch durch unauffällige Menschen, die von Außenstehenden meist als „ganz normale“
Männer, nicht selten sogar als vorbildliche Familienväter
wahrgenommen werden.
Wo also können wir ansetzen, um unseren Kindern zu
helfen? Prävention, Unterstützung und Hilfe sind die
Stichworte, die in diesem Zusammenhang wichtig sind.
Prävention bedeutet, dass wir Aufklärung betreiben müssen. Nur dann, wenn wir in der Gesellschaft ein Bewusstsein für dieses Thema schaffen, steigen die Chancen, dass
ein Missbrauch erkannt und den Kindern geholfen wird.
Unterstützung heißt, wir müssen das Selbstbewusstsein und den Mut unserer Kinder stärken. Erwachsenen
muss klar sein, dass sie nicht frei über ihre Kinder verfügen können, sondern die Verpflichtung haben, sie zu fördern und zu schützen. Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Rechten.
({2})
Hilfe bedeutet, dass wir den betroffenen Kindern, aber
auch den Erwachsenen - zum Beispiel in Form von Beratungsstellen - Hilfe anbieten müssen. Die Betroffenen
dürfen nicht das Gefühl haben, in solchen Situationen allein gelassen zu werden.
Die rot-grüne Koalition hat die letzten drei Jahre genutzt, um mit Gesetzen, aber auch mit Aufklärungskampagnen viel für den Schutz von Kindern zu tun und
die Rechte der Kinder zu stärken.
({3})
Ich nenne hier beispielhaft das Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung, das Gewaltschutzgesetz und das
Kinderrechteverbesserungsgesetz. All diese Gesetze haben eine gemeinsame Zielsetzung: das Recht der Kinder
auf eine gewaltfreie Erziehung und den Schutz der Kinder
vor Gewalt. Das Wegweisungsrecht gegenüber dem Täter
ist eine wichtige Verbesserung, die auf die Psyche der
Kinder positive Wirkung hat. Das Kind wird bei Misshandlung nicht noch zusätzlich bestraft, indem es gezwungen wird, seine vertraute Umgebung zu verlassen.
Es kann in seinem Zuhause bleiben.
An das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung
knüpft auch die Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern“
des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend an. Diese Kampagne setzt vor allem auf ein
verstärktes Beratungsangebot und Informationsveranstaltungen bei Kinder- und Jugendschutzverbänden, Trägern
der Familienbildung, aber auch in Schulen und Kindergärten, also dort, wo Kinder ihr alltägliches Leben verbringen.
Beispielhaft finde ich in diesem Zusammenhang das
Präventionsprogramm Power Child, das ein wesentlicher
Bestandteil der Präventionsarbeit von Kobra e. V. ist, einem mit staatlicher Förderung gegründeten gemeinnützigen Verein mit Sitz in Stuttgart, der für Angebote der Beratung, Therapie und Prävention bei sexueller Gewalt
oder sexuellen Übergriffen an Kindern und Jugendlichen
steht. Power Child richtet sich an Kinder und Jugendliche
in Kindergärten und Schulen unter Beteiligung der Eltern,
Erzieher und Lehrer. Ziel von Power Child ist es, Kinder
und Jugendliche in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken.
Sie sollen befähigt werden, sich gegen Belästigung und
sexuelle Übergriffe zur Wehr zu setzen oder Hilfe zu holen. Die Kinder werden mithilfe von zwei Handpuppen
behutsam an das Thema herangeführt. Den Erwachsenen
werden realistische Hilfemöglichkeiten zum Schutz ihrer
Kinder vor sexueller Gewalt aufgezeigt. So können durch
Information und Aufklärung Ängste im Umgang mit dieser Thematik abgebaut werden.
({4})
Wir können leider nicht alle Kinder vor Gewalt und
Missbrauch schützen. Aber in der richtigen Kombination
von Gesetzen, Aufklärung und Prävention können wir
versuchen, den notwendigen Schutz zu gewähren.
Im Interesse unserer Kinder reicht es nicht aus, nur einzelne Strafnormen zu verschärfen. Aus diesem Grunde
lehnen wir die Gesetzentwürfe der CDU/CSU und des
Bundesrates ab.
({5})
- Doch.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Geis hat Recht: Sexualstraftaten führen zu Schäden bei Kindern, insbesondere zu Langzeitschäden. Deshalb ist das Thema jede Debatte wert.
Ich habe heute Vormittag - vielleicht hat es der eine
oder andere auch gesehen - im Frühstücksfernsehen - ich
weiß gar nicht mehr, bei welchem Sender - einen Bericht
über ein Sexualdelikt eines Geistlichen an einem Jungen
gesehen. So, wie dieser Bericht präsentiert wurde, konnte
das Ganze bei dem Kind, das dort zur Sensationsmache
verwendet wurde, nur noch zu einem zusätzlichen Schaden führen. Ich denke, dass wir gut beraten sind, auch von
dieser Stelle aus an die Medien zu appellieren, Kinder
nicht zu instrumentalisieren.
({0})
Gerade weil es solche Schäden gibt, auf die der Kollege Geis zu Recht hingewiesen hat, hätte ich eigentlich
erwartet, dass Sie in Ihrem Antrag etwas zum Opferschutz gesagt hätten. Dort besteht Regelungsbedarf, und
zwar sowohl hinsichtlich der Frage der Kostentragung für
die Betreuung nach einem Sexualdelikt als auch hinsichtlich der Betreuung von Angehörigen, deren Kind beispielsweise Opfer eines Sexualdeliktes eines Sexualmordes, geworden ist. Unter uns sind einige, die aus der
juristischen Praxis kommen. Diese wissen, dass das Leben für eine solche Familie nie wieder normal sein wird
und eine langwierige Betreuung notwendig ist.
Wir als FDP haben einen entsprechenden Antrag in den
Bundestag eingebracht. Wir hatten gehofft, dass wir diesen
heute zusammen mit Ihrem Antrag hätten behandeln können; denn ich glaube, dass man das nicht trennen kann. Ich
bedauere es sehr, dass die CDU/CSU es abgelehnt hat, dass
es hier zu einer gemeinsamen Behandlung kommt.
({1})
Ich habe gerade die Frage des Verbrechens angesprochen. Ich glaube, dass wir uns alle darin einig sind, dass
ein Sexualdelikt ein Verbrechen an der Seele ist. Die
Frage, ob es auch juristisch ein Verbrechen ist, hat uns in
der Vergangenheit schon mehrfach beschäftigt. Einige, die
hier sitzen - das kann ich nur noch einmal aufführen -, sind
auch in der letzten Legislaturperiode schon als Berichterstatter damit befasst gewesen.
Wir haben eine Anhörung dazu durchgeführt. Das Interessante ist, dass uns auch die Sachverständigen, die von der
CDU/CSU benannt worden sind, davon abgeraten haben.
({2})
- Herr Geis, selbst wenn es nur einer gewesen ist, war
doch auffällig, dass es eine breite Ablehnung gab. Sie
selbst waren bei der letzten Beratung von den guten Argumenten überzeugt, es rechtstechnisch nicht zu einem
Verbrechen hochzustufen.
Ich will noch einmal die für mich durchgreifende Begründung dafür nennen: Die Rechtsprechung hat die Definition des Begriffs „Sexualdelikt“ sehr weit ausgedehnt.
Es beginnt sehr früh. Ich denke, dass das auch gut und
richtig ist, weil es dem Täter signalisiert, dass er sehr vorsichtig sein muss, da sein Verhalten sehr früh als Delikt
angesehen wird. Bereits leichte Annäherungen können als
Sexualdelikt angesehen werden. Ich glaube, dass es ein
sehr wirksamer Schutz für Kinder ist, dass Erwachsenen
klar gemacht wird, dass sie sehr vorsichtig zu sein haben.
Ich bin mir sicher, dass die Gerichte darauf reagieren
und mehr verlangen würden, wenn das Ganze ein Verbrechen mit einer entsprechend hohen Strafe wäre.
({3})
- So ist es. Das kommt noch hinzu. Frau Renesse, ich
finde, dass das ein sehr guter Hinweis gewesen ist, den Sie
als erfahrene Richterin gegeben haben. - Deshalb plädieren wir dafür, es so zu belassen. Wir haben das Ganze aus
guten Gründen und zum Schutz der Kinder so gestaltet.
Ein weiterer Punkt, den Sie in Ihrem Gesetzentwurf ansprechen, beschäftigt mich ebenfalls. Dabei geht es um
die Gendaten. Das Bundesverfassungsgericht hat uns
klar gemacht, dass es verfassungsrechtlich nicht möglich
ist, die Daten von jedem Straftäter aufzunehmen.
({4})
Ich denke, dass wir uns im Rahmen der Verfassung zu bewegen haben.
({5})
Das bedeutet, dass wir Ihrem Vorschlag nicht folgen werden. Trotzdem können und dürfen wir nicht zufrieden
sein.
Bezüglich der Möglichkeiten der Übermittlung von
Gendaten an das Bundeskriminalamt habe ich bei einer
anderen Debatte auf völlig unterschiedliche Statistiken in
den einzelnen Bundesländern hingewiesen. Es gibt einzelne Bundesländer, die das vorbildlich gestaltet haben.
Bei anderen Bundesländern gibt es erhebliche Defizite.
Ich nutze meine Rede dazu, an die Länder, die Defizite haben, dringend zu appellieren, zu einem ähnlichen Ergebnis zu kommen wie beispielsweise Baden-Württemberg,
wo das Ganze, wie ich finde, vorbildlich geregelt wurde.
({6})
Dass das sinnvoll und ein aktiver Beitrag zum Opferschutz ist, hat uns der Fall in München, wo es eine
schwere Sexualstraftat an einer Schülerin gegeben hat,
gezeigt. Der Täter konnte erst Anfang dieses Jahres nach
einer dritten schweren Sexualtat festgenommen werden.
Bei den Ermittlungen hat sich herausgestellt, dass er vor
der Serie schon einmal wegen eines versuchten Sexualdelikts, und zwar in Köln, festgenommen worden war. Die
Straftaten und die entsprechenden Gendaten wurden von
Köln jedoch nicht an das Bundeskriminalamt gemeldet.
Wäre das geschehen, wäre beispielsweise die dritte Tat,
die zu der Verhaftung des Täters geführt hat, nicht mehr
geschehen. Das zeigt, in welcher Verantwortung die Länder in diesem Zusammenhang stehen.
Als weiteres Thema möchte ich die Telefonüberwachung ansprechen. Herr Geis, ich bin durchaus dafür offen, über das eine oder andere bezüglich der Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Telefonüberwachung zu
diskutieren. Sie wissen, dass ich in jedem Jahr die Daten
der Telefonüberwachung abfrage. Es gibt einen enormen
Anstieg.
Ich denke, dass wir zunächst einmal aufgerufen sind,
eine Bestandsaufnahme zu machen. Es gibt Vorschriften,
nach denen wir die Telefonüberwachung durchführen
dürfen.
({7})
Diese haben keinerlei Bedeutung. Sie wissen, dass ein
entsprechender Bericht in Auftrag gegeben wurde. Ich
finde, das ist der richtige Weg, weil wir dadurch die entsprechenden Grundlagen für die Diskussion erhalten.
Wenn es so weit ist, sollten wir zu einer breiten Diskussion kommen und darüber reden, wie die Telefonüberwachung geregelt wird, sodass sie weiterhin möglich ist. Ich
bin selbst Oberstaatsanwalt und weiß, wie notwendig Telefonüberwachung ist. Aber ich möchte das in einer
rechtsstaatlich einwandfreien Weise geregelt wissen. Deshalb muss der Katalog überarbeitet werden. Es hilft nicht,
wenn wir diesem Katalog ständig neue Straftaten hinzufügen.
({8})
Das Ergebnis der Prüfung ergibt für die Freien Demokraten: Wir wollen, dass die Rechte der Opfer, insbesondere die Opfer von Sexualstraftaten, gestärkt werden. Die
Vorschläge, die Sie konkret gemacht haben, ermöglichen
aber nicht unsere Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat der Abgeordnete Volker Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin mit
dem, was Herr van Essen gesagt hat, sehr einverstanden.
Ich glaube, es besteht in diesem Haus völlige Einigkeit:
Sexuell motivierte Gewalt, vor allem Sexualstraftaten an
Kindern, gehört zu den schlimmsten und widerwärtigsten
Verbrechen, die es überhaupt gibt.
({0})
Den Tätern drohen nach unserem Strafgesetz zu Recht
sehr hohe Strafen. Keine Frage: Der Schutz der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und vor allen Dingen der
Schutz von Kindern hat für diese Koalition Top-Priorität.
({1})
Wir haben dies gerade wieder unter Beweis gestellt. Mit
unserem Entwurf zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung schließen wir gesetzliche Lücken und schützen damit die Bevölkerung und insbesondere die Kinder vor gefährlichen Sexualstraftätern noch wirkungsvoller. Wir tun
dies in einer rechtsstaatlich vertretbaren, verfassungskonformen Art und Weise.
({2})
- Geschätzter Kollege Geis, gestern gab es in der Tat eine
Kontroverse zwischen den Sachverständigen um die
Frage, wie weit man gehen und was man überhaupt alles
tun darf. Einige Sachverständige haben das Instrument
der Sicherungsverwahrung überhaupt infrage gestellt,
weil sie bezweifeln, dass dies in einem Rechtsstaat zulässig ist. Ich meine, es gibt rechtsstaatlich und verfassungsrechtlich gute Gründe für diese Argumentation. Aber weil
wir hier ein Sicherungsbedürfnis sehen, nähern wir uns
alle diesem Instrument mit einem sehr schlechten Gewissen.
Das hat gestern die Zerrissenheit der Sachverständigen
gezeigt. Die einen haben erklärt: Wir gehen viel zu weit.
Die anderen haben in Ihrem Sinne erklärt: Wir sollten
noch weitergehen. Das zeigt zumindest, dass der Lösungsansatz von der Linie her versucht, Ausgewogenheit
zwischen Sicherung und Rechtsstaatlichkeit zu wahren.
Diese Aufgabe ist nicht leicht zu bewältigen. Wir werden
im Ausschuss noch darüber reden müssen, was wir aus
den Kritikpunkten der Sachverständigen im Einzelnen
machen. Aber Ihr Entwurf stößt natürlich bei denjenigen,
die selbst schon an unserem Entwurf den einen oder anderen Punkt auszusetzen haben und rechtsstaatliche Bedenken haben, noch viel eindeutiger auf Kritik.
({3})
Rechtsstaatliche und trotzdem effektive Kriminalpolitik, das unterscheidet uns grundlegend von Ihnen, verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Union. Die meisten
Ihrer Vorschläge sind entweder nur symbolische Luftnummern oder schlichtweg verfassungswidrig. Manchmal
sind sie sogar beides.
({4})
- Herr Geis, Sie haben sich vorhin beschwert, dass bei Ihnen sogar Ihre eigene Fraktion dauernd dazwischenredet.
Wieder fällt Ihre Fraktion auf, aber dieses Mal sind Sie
selbst es, der dauernd dazwischenredet.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ich möchte erst diesen Abschnitt der Argumentation zu
Ende bringen. Danach kann Herr Geis fragen.
Beispiel nachträgliche Sicherungsverwahrung. Ihr Vorschlag verstößt gegen das Verbot der Doppelbestrafung
und auch gegen das Rückwirkungsverbot. Fazit: verfassungswidrig. Erweiterung des genetischen Fingerabdrucks:
Sie wollen die DNA-Analyse bei sämtlichen Delikten ermöglichen und nicht nur bei Straftaten von einer gewissen
Schwere. Damit verletzen Sie bewusst das Postulat der
Verhältnismäßigkeit, das das Bundesverfassungsgericht in
diesem Zusammenhang immer wieder angemahnt hat. Im
Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde begründet,
warum die jetzige Rechtslage verfassungskonform ist.
Weiter dürfen wir im Wesentlichen aber nicht gehen. Fazit: Ihr Vorschlag ist verfassungswidrig.
Die Heraufstufung der Tatbestände gemäß § 176 StGB
zum Verbrechen ist in Ihren Augen ein besonders opferfreundlicher Vorschlag. Ich behaupte, das Gegenteil ist
der Fall. Die besonders schweren Formen des sexuellen
Missbrauches werden in § 176 a StGB bereits heute als
Verbrechen qualifiziert. Den Opfern ist mehr geholfen,
wenn die besonders schweren Missbrauchsformen auch
als solche bezeichnet werden. Mit Ihrem Vorschlag bringen Sie nur die vernünftige Systematik des jetzigen Sexualstrafrechts aus dem Gleichgewicht.
Obwohl ursprünglich ein anderer Vorschlag in den Bundestag eingebracht worden war, hat der Gesetzgeber nicht
ohne Grund in diesem Bereich sorgfältige Differenzierungen zwischen Vergehens- und Verbrechenstatbeständen
vorgenommen. Strafunwürdige Fälle wie die einverständliche Sexualität - das kann ein Kuss sein - zwischen einem,
sagen wir, vierzehneinhalbjährigen Jugendlichen und seiner dreizehnjährigen Freundin können so von den Gerichten und der Staatsanwaltschaft unbürokratisch nach
§ 153 a StPO eingestellt werden. Es ist gut so, wenn Jugendliche bei ihren ersten einvernehmlichen Gehversuchen auf diesem Gebiet nicht gleich mit Polizei, Gericht
und Staatsanwaltschaft Bekanntschaft machen. Sie dagegen wollen so etwas zum Verbrechen hoch stufen, obwohl
Sie wissen, was dies zwangsläufig auslöst: Es würde am
Ende nicht zu einer Verurteilung führen, wohl aber zu untragbaren Verfahrensschritten, die für die Kinder und Jugendlichen ein großes Problem darstellten.
Meine Damen und Herren, wir werden bei dem Thema
Kinderpornographie in diesem Haus wahrscheinlich
über Strafrahmen zu reden haben, weil die Europäische
Union eine Vereinheitlichung der Strafrahmen anstrebt.
Dazu merke ich an, dass höhere Strafrahmen - das wurde
von Frau Brandt-Elsweier völlig zu Recht angesprochen nicht dazu führen, dass die Leute davon lassen. Das Einzige, was sie allenfalls abschreckt, ist eine höhere Kontrolldichte, die zum Aufspüren der Täter führt.
Herr Geis, ich bin völlig damit einverstanden, dass wir
bei der Telefonüberwachung über den Straftatenkatalog
reden, aber wir müssen - das ist dringend überfällig auch über die Konstruktion der Zulässigkeit von Telefonüberwachung reden.
Herr Kollege,
jetzt ist Ihre Redezeit vorbei.
Wir sind auf diesem Gebiet Weltmeister. Die Bundesregierung hat dazu ein Gutachten in Auftrag gegeben, um
das Recht zu erforschen. Dass es noch nicht vorliegt, liegt
insbesondere an Ländern, in denen die Union an der Regierung beteiligt ist, weil von ihnen lange Zeit nicht zugeliefert wurde.
({0})
Eine Kurzintervention des Kollegen Geis, bitte.
({0})
Herr Kollege Hartenbach,
Sie sollten es mir nicht verübeln, wenn ich von einem parlamentarischen Recht Gebrauch mache. Sie sollten so viel
Respekt vor dem parlamentarischen Brauch und unserer
Geschäftsordnung haben und nicht dazwischenrufen,
wenn ich von meinem parlamentarischen Recht Gebrauch
mache. Aber vielleicht sind Sie kein guter Parlamentarier.
Ich möchte kurz zu dem Stellung nehmen, was Herr
Beck gesagt hat, zunächst zu seiner Behauptung, die Sicherungsverwahrung stelle eine doppelte Bestrafung
dar. Das würde dann auch für die Vorbehaltslösung gelten,
sodass der Gesetzentwurf der Koalition ebenso verfassungswidrig wäre. Hier handelt es sich - das habe ich vorhin gesagt - nicht um eine Bestrafung, sondern um eine
Maßnahme der Sicherung und Besserung. Deswegen ist
es keine Doppelbestrafung und verstößt auch nicht gegen
den Grundsatz „ne bis in idem“.
Dann sagten Sie, unser Vorschlag zur DNA-Analyse
sei verfassungswidrig. Wir vertreten die Auffassung, dass
eine Anlasstat und die Prognose des Richters notwendig
sind. Das Gleiche gibt es schon jetzt und das ist als verfassungskonform angesehen worden. Wir sprechen nur
von jedweder Anlasstat, weil wir aus der Statistik wissen,
dass ein Sexualstraftäter in der Regel vorher - zum Beispiel als Dieb - straffällig geworden ist. Wenn der Richter
zu dem Ergebnis kommt, ein Straftäter habe einen Hang
zum Begehen schwerer Straftaten, dann ist diese Prognose dafür ausschlaggebend, dass eine DNA-Analyse
gemacht werden kann. Insofern halten wir uns völlig an
den Rahmen des Bundesverfassungsgerichtsurteils.
Über die Aufstufung des Tatbestandes nach § 176 StGB
zum Verbrechen ist schon 1973 eine Diskussion geführt
worden. Die damaligen Voraussetzungen treffen nicht zu.
Es sind Erfahrungen aus der Sozialpsychologie vorhanden;
Volker Beck ({0})
diese Erkenntnisse sollten wir berücksichtigen. Deswegen kommen wir zu dem Ergebnis, dass wir hier eine Aufstufung zum Verbrechen vornehmen sollten.
Zur Telefonüberwachung: Wir sollten in der Tat den
Straftatenkatalog überprüfen. Dabei sollten wir aber das
andere nicht lassen. Es ist dringend notwendig, dass wir
die beiden schweren Verbrechen Kindesmissbrauch und
Verbreitung von Kinderpornographie in die Telefonüberwachung hineinnehmen. So lautet auch eine Forderung
der Polizeigewerkschaft, der wir entsprechen sollten.
Danke schön.
Herr Geis, es tut mir Leid, eine Doppelbestrafung kommt
bei der Sicherungsverwahrung natürlich nicht allein
durch die Verhängung der Maßregel zustande, sondern dadurch, dass im erkennenden Urteil dazu noch nichts gesagt
wird. Bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird
im erkennenden Urteil stehen, dass Sicherungsverwahrung
entweder bereits verhängt oder aber vorbehalten wird.
({0})
Insofern resultiert aus Ihrem System, ohne dass es für den
Strafgefangenen absehbar wäre, eine neue Strafe, eine
neue Sanktion. Die Maßregel der Sicherungsverwahrung
- das wissen Sie auch - unterscheidet sich tatsächlich in
nichts vom Strafvollzug.
({1})
- Das ist leider so. Das wurde gestern auch ausdrücklich
von einigen Sachverständigen angesprochen.
({2})
- Herr Geis, Sie regen sich auf, dass man dazwischenruft.
Sie rufen ständig dazwischen.
Dass die Sicherungsverwahrung nach dem Vollzugsgesetz einen anderen Vollzug ermöglicht, war gestern auch
ein Thema, das wir meines Erachtens in der nächsten
Wahlperiode aufgreifen sollten.
Im Hinblick auf die DNA-Analyse haben Sie verschwiegen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner
Urteilsbegründung ausdrücklich auf die Erheblichkeit der
Straftaten abgestellt hat.
({3})
- Nein, nicht bei der Prognose, sondern bei den Anlasstaten.
({4})
Wir haben uns 1997 und nicht 1973 darüber unterhalten, Herr Kollege, warum wir zwischen dem Tatbestand
gemäß § 176 StGB als Vergehen und der schweren Begehensform gemäß § 176 a als Verbrechen unterscheiden. Die in der damaligen Debatte angeführten Gründe
sind heute genauso richtig wie damals. Man muss einfach
beachten, dass in § 176 ganz unterschiedliche soziosexuelle Situationen angesprochen werden. Es sind einerseits
Opfer im Alter von null bis 14 Jahren und andererseits Täter im Alter von 14 bis 99 Jahren denkbar, und zwar in allen Kombinationen. Deshalb ist es auch wichtig, das alles
weiterhin als strafbar gelten zu lassen. Herr van Essen hat
vorhin zu Recht ausgeführt, wie weit wir die Begehensform gemäß diesem Paragraphen vorverlagert haben. Das
brauchen wir, wenn wir wirksam schützen wollen.
Wenn wir bereits bei dem kleinstmöglichen Unrecht
immer wegen eines Verbrechens anklagen, geben wir den
Opfern Steine statt Brot, weil damit der Begründungsaufwand für eine Verurteilung höher wird und es damit zu
mehr Freisprüchen kommen wird. Deshalb ist das, was
Sie hier vorschlagen, nur gut gemeint, aber schlecht gemacht. Es nützt für den Schutz der Kinder an diesem
Punkt leider überhaupt nichts. Deshalb lehnen wir das
auch weiterhin ab.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Geis hat vorhin ausgeführt, Strafverschärfung sei der bessere Weg. Ich hielte
es für den besseren Weg, dafür Sorge zu tragen, dass es
überhaupt keiner Strafen wegen sexueller Ausbeutung
von Kindern bedürfte.
({0})
Wir sind uns sicherlich in diesem Hause einig, dass für
den Schutz von Kindern und gegen ihren sexuellen Missbrauch Regelungen gefunden und Gesetze geschaffen
werden müssen. Nicht allein die zweite Weltkonferenz gegen sexuelle Ausbeutung, an der ich teilnahm, sondern
auch viele bekannt gewordene Fälle in der Bundesrepublik Deutschland unterstreichen das mit Nachdruck.
Der Ansatz, Kindern zu helfen, sie zu schützen und zu
unterstützen, ist richtig. Aber gerade diesem Anspruch
werden die heute vorliegenden Anträge der Fraktion der
CDU/CSU nicht gerecht. Neben den allgemeinen unverbindlichen Bekenntnissen zur Unterstützung von Präventionsarbeit setzen Sie vor allem darauf, verstärkt staatliche Regelungen zu schaffen. Nach dem Willen der Union
soll gegenüber hoch gefährlichen Straftätern die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet werden. Außerdem sollen die Grundfälle des
sexuellen Missbrauchs von Kindern wieder als Verbrechen gekennzeichnet werden. Mit einer solchen Strafverschärfung wird zugleich erreicht, dass im Bereich des
Kindesmissbrauchs bereits die Verabredung und der Anstiftungsversuch unter Strafe zu stellen wären.
Als weiteres Kernstück bezeichnen Sie die Ergänzung
des Strafgesetzbuchs um den Tatbestand der Anbahnung
von Kontakten, die Erweiterung der Telefonüberwachung
und die konsequente Nutzung der DNA-Analyse im Strafverfahren als die Mittel, dem Problem des sexuellen Missbrauchs zu begegnen. Dass das der falsche Weg ist, haben
Ihnen sicherlich viele Experten, aber in der heutigen Debatte auch Kollegen aus den Fraktionen gesagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit dem ersten Weltkongress gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern 1996 in
Stockholm hat sich das Problem sexualisierter Gewalt gegen Kinder erheblich verschärft. Wir hatten auf der Folgekonferenz in Japan in verschiedenen Workshops die
Möglichkeit, mit Regierungen, NGOs, Vereinen, Initiativen und Verbänden Gespräche zu führen, die die unterschiedlichsten Entwicklungen verdeutlichten. War es zum
ersten Weltkongress noch eine Frage der so genannten
Dritten Welt, so ist derzeit eine weltweite Zunahme von
sexuellem Missbrauch von Kindern und dem Kinderhandel zu verzeichnen. Dazu liegt auch ein Antrag der PDSFraktion mit dem Titel „Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen - Kindersextourismus bekämpfen“ vor, den
wir in dieser Debatte mitberaten. Bereits vor der zweiten
Weltkonferenz in Yokohama eingebracht, betrachtet er die
gesellschaftlich notwendigen Bedingungen, die Missbrauchstaten an Kindern und Kinderhandel verhindern
helfen sollen, viel aktueller und vor allem facettenreicher.
Unser Antrag setzt auf umfassende Maßnahmen im Bereich der Prävention im In- und Ausland, bei der Schaffung rechtlicher Grundlagen zur Bekämpfung von sexueller Ausbeutung, der polizeilichen und justiziellen
Zusammenarbeit sowie der Stärkung des Kindes. Außerdem fordern wir effektive Opferschutzprogramme und,
nicht zu vergessen, zielgerichtete Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ich denke zum Beispiel an die
Entschuldung der Dritten Welt. Auf andere Punkte hat
Herr van Essen in seinem Beitrag hingewiesen.
Stichpunktartig möchte ich einige weitere Forderungen
der PDS, die in unserem Antrag niedergelegt sind, nennen: die Ratifizierung internationaler Konventionen gegen Kinderhandel, die Einstufung von Kinderhandel als
organisierte Kriminalität und den Abschiebeschutz für
Opfer von Kinderhandel.
Die Ergebnisse der zweiten Weltkonferenz zeigen
auch, dass es notwendig ist, den Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland zu aktualisieren und zielstrebig
umzusetzen. Im Zusammenhang damit müssen wir die
Frage nach der Entwicklung von jugendlichen Straftätern,
die Probleme der Internetanbieter - es sind schließlich
täglich immerhin mehr als 1 000 neue Angebote verfügbar -, die Situation im familiären Nahbereich und das
Problem des Missbrauchs in Institutionen konsequent in
Betracht ziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade heute beginnt
in Weimar eine Fachtagung, die sich inhaltlich mit dem
Umgang mit sexuellem Missbrauch, mit den Problemen
der Jugendhilfe und des Opferschutzes, der praktischen
Kinderschutzarbeit, den Konsequenzen der UN-Kinderrechtskonvention und den Hilfesystemen im Internet beschäftigt. Diese Fragen sind nicht allein über Strafgesetzänderungen oder -gebung zu regeln, vielmehr handelt
es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem, das gesamtgesellschaftliche Lösungsansätze erfordert.
In Auswertung der Konferenz in Yokohama führen wir
am 12. Juni 2002 gemeinsam mit dem Familienausschuss,
dem Tourismusausschuss und der Kinderkommission
eine Anhörung durch. Wir laden Sie herzlich dazu ein, gemeinsam an diesem Problem weiter zu arbeiten.
Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Renate Gradistanac.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Auf 2 Millionen Kinder schätzt UNICEF die Zahl der weltweit sexuell ausgebeuteten Kinder in Deutschland, in Europa, weltweit, in
Familien, in Verbänden und von Touristen.
Kindesmissbrauch, kommerzielle sexuelle Ausbeutung, Kinderprostitution und Kinderpornographie sind
- das klang heute schon mehrfach an - Verletzungen an
Kinderseelen bis hin zum Seelenmord.
Eine Welt, in der so viele Kinder ihrer Kindheit beraubt und zu Sexobjekten für Erwachsene degradiert
werden, darf nicht toleriert werden. Diese Überzeugung hat uns bisher Kraft und Ausdauer gegeben.
Das hat Ron O’Grady gesagt, Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender von ECPAT. Auch wir stehen in dieser Verantwortung.
Drei Schwerpunkte bestimmen unsere Arbeit: Prävention und Aufklärung - es geht hierbei in verstärktem Maße
um die Täterprävention mit besonderem Augenmerk auf
jugendliche Täter -, Gesetzgebung sowie internationale
Strafverfolgung und Opferschutz. Viel wurde getan. Dabei beziehe ich ausdrücklich auch die alte Regierung ein.
Auf dem ersten Weltkongress gegen die gewerbsmäßige
sexuelle Ausbeutung von Kindern, der 1996 in Stockholm
stattfand, verpflichteten sich 122 Staaten, nationale
Aktionspläne zum Schutz der betroffenen Kinder zu erstellen und zu verabschieden. Leider haben nur ein Drittel der Länder ihre Zusagen eingehalten.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend hat ein vorbildliches nationales Arbeitsprogramm gegen Kindesmissbrauch, Kinderpornographie
und Sextourismus vorgelegt.
({0})
Der Zwischenbericht von 1998 wurde im Bericht vom
Januar 2001 um die Maßnahmen ergänzt, die bis Dezember 2000 umgesetzt wurden. Damit hat Deutschland - ich
denke, man muss an dieser Stelle auch einmal etwas
Positives sagen - als eines der ersten Länder überhaupt
die in Stockholm eingegangenen Verpflichtungen erfüllt.
({1})
Erwähnenswert ist auch, dass Deutschland, soweit bekannt, bisher das einzige Land ist, das eine nationale
Nachfolgekonferenz veranstaltet hat. Zur Erinnerung:
Diese fand im März 2001 in Berlin statt.
Im Einzelnen möchte ich auf die Prävention eingehen.
Die SPD-geführte Bundesregierung hat in Deutschland
einen Paradigmenwechsel hin zu einem neuen, von Respekt getragenen Leitbild in der Erziehung eingeleitet. Wir
haben das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung verabschiedet. Es schreibt ein eigenes Recht des
Kindes auf gewaltfreie Erziehung fest und betont die Subjektstellung des Kindes. Die Bundesregierung hat gleichzeitig eine Kampagne mit dem Titel „Mehr Respekt vor
Kindern“ ins Leben gerufen.
Ein weiteres deutliches Zeichen zum Schutz der Kinder vor häuslicher Gewalt und Missbrauch wurde durch
das verabschiedete Gesetz zur weiteren Verbesserung von
Kinderrechten gesetzt. Demnach können Väter, Mütter
oder auch andere im Haushalt lebende Personen, die Kinder schlagen oder missbrauchen, der Wohnung verwiesen
werden.
({2})
Erwähnenswert ist der hervorragende Inflightspot, den
das Familienministerium gemeinsam mit Terre des hommes entwickelt hat. Er sollte auf Flugreisen eingesetzt
werden. In Yokohama mussten wir allerdings erfahren,
dass er nach nur einem halben Jahr von den Fluggesellschaften zurückgezogen wurde. Das ist ein Wermutstropfen. Ich finde das schade.
({3})
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend hat ein Faltblatt mit dem Titel „Kleine Seelen,
große Gefahr“ unterstützt. Es soll in den Reisebüros an die
Kunden verteilt werden. Reisende sollen informiert und
sensibilisiert werden sowie durch Zivilcourage mithelfen,
den Tätern das Terrain zu entziehen. Es wird darüber informiert, dass Kindesmissbrauch weltweit strafbar ist.
Überführte Täter können nach deutschem Recht bestraft
werden, selbst wenn sie Kinder im Ausland sexuell missbraucht haben. Diese Aktion ist notwendig; denn es gibt
Schätzungen, wonach allein aus Deutschland jährlich
10 000 Täter kommen. Darunter sind auch jugendliche
Täter, deren Zahl leider steigt.
Es sind fast ausschließlich Männer, die Kinder missbrauchen.
Was treibt Menschen dazu, Kinder als Handelsware
dafür in kriminellen Netzwerken bereitzustellen?
Heinz Fuchs meint weiter:
Erziehung und Sozialisierungskonzepte sind gefragt,
die Männer anleiten, neue Wege ihrer Identität zu
suchen. Männeridentitäten, die nicht länger über den
Umweg der Unterdrückung von Frauen und Kindern
laufen dürfen.
({4})
Ich freue mich, dass immer mehr Männer in der ersten
Reihe stehen, um gegen Kindesmissbrauch durch Sextouristen zu kämpfen. Ich möchte mich an dieser Stelle
ganz besonders bei Herrn Paschold aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
bedanken. Frau Staatssekretärin, ich bitte Sie, den Dank
weiterzugeben.
Wir lehnen die Anträge von PDS und CDU/CSU ab.
Sie wurden vor dem zweiten Weltkongress in Yokohama
geschrieben. Sie enthalten zahlreiche Forderungen, die
von der Regierung bereits umgesetzt worden sind.
Die Bekämpfung der kommerziellen sexuellen Ausbeutung bleibt für unsere Fraktion auf der Tagesordnung.
Die Anhörung, die für den 12. Juni 2002 angekündigt
wurde, ist beschlossen. Nach dieser Anhörung werden wir
weitersehen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ingrid Fischbach.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin
Gradistanac hat gerade schon darauf hingewiesen - ich
denke, man kann es nicht oft genug sagen -: Über 2 Millionen Kinder werden weltweit Opfer sexueller Ausbeutung.
Über 2 Millionen! Kinderprostitution, Kindesmissbrauch
und Kinderpornographie sind in allen gesellschaftlichen
Bereichen angesiedelt. Es ist für mich kaum vorstellbar,
aber es ist Realität: Es gibt Familien, Eltern oder andere Familienangehörige, die Klein- und Kleinstkinder zum Zweck
des kommerziellen Missbrauchs zur Verfügung stellen. Für
pornographische Aufnahmen werden Kinder unter Drogen
gesetzt, sexuell missbraucht, misshandelt und manchmal zu
Tode gequält. Der Markt ist weltweit verzweigt.
Kinder stellen lediglich eine Ware dar, mit der viel
Geld verdient werden kann. Die Nachfrage - auch darauf
haben Sie hingewiesen - ist sehr groß. Aufgrund dieses
Stellenwerts der Kinder sind sie zum größten Teil auf sich
ganz allein gestellt. Viele Kinder stammen aus sozial benachteiligten sowie verarmten Familien und müssen mit
ihren Einnahmen die gesamte Familie ernähren. Alkoholismus, Drogenabhängigkeit sowie kriminelle Strukturen
prägen größtenteils die Herkunftsfamilien.
Viele Kinder haben bereits innerhalb der Familie Gewalt und/oder sexuellen Missbrauch erfahren. Häufig waren die Kinder in Heimen untergebracht, wurden von dort
entführt, sind weggelaufen oder wurden sogar verkauft.
Unzählige Kinder werden in andere Länder verkauft. Vor
allem Flüchtlingskinder sind beliebte Opfer; deshalb
brauchen sie unseren besonderen Schutz.
({0})
Einige Kinder und Jugendliche leben auf der Straße,
bei Zuhältern oder Freunden. Waisen, die durch Aids oder
Flucht beide Elternteile verloren haben, haben teilweise
keine andere Chance, als durch Prostitution zu überleben.
Hieran wird deutlich, dass wir, gerade was den Aidsfonds
angeht, auch die Waisen berücksichtigen müssen. Genau
wie die Kinder, welche von den eigenen Angehörigen angeboten werden, stellen diese Kinder eine Randgruppe
ohne Perspektive dar. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Armut darf für uns keine Entschuldigung sein, die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu dulden. Wir Politiker
sind gefragt und müssen handeln.
({1})
Die sexuelle Ausbeutung ist aber nicht nur ein Problem
der Entwicklungsländer Südostasiens, Lateinamerikas
und Afrikas, sondern es ist auch ein Problem der westlichen Welt, Osteuropas, auch Deutschlands. Jährlich
werden bundesweit mehr als 15 000 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern registriert. Die Dunkelziffer liegt
um ein Vielfaches höher.
Wenn man nach Gründen fragt, dann muss man feststellen, dass das stark ausgeprägte Wohlstandsgefälle, unzureichende Informationen und Aufklärung der Öffentlichkeit, subjektives Empfinden für straffreie Räume und
die Tabuisierung des Themas in der Öffentlichkeit unter
anderem begünstigend wirken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb muss es unser dringlichstes Ziel sein, die sexuelle Ausbeutung von
Kindern nicht nur bei uns, sondern auch weltweit zu
bekämpfen.
({2})
Durch sexuelle Ausbeutung wird einem Kind - die UNKinderrechtskonvention sagt: jede Personen unter 18 Jahren ist ein Kind - die Würde geraubt. Ihm wird das Recht
auf die Kindheit und auf ein stabiles Leben verwehrt.
({3})
Schwere psychische und physische Schäden der Kinder,
zum Beispiel Geschlechtskrankheiten und Infektionen
mit HIV, Drogenmissbrauch sowie Selbstmordversuche
sind unter anderem als Folgen sexueller Ausbeutung zu
verzeichnen.
Auf dem ersten Weltkongress gegen die gewerbsmäßige sexuelle Ausbeutung von Kindern 1996 in
Stockholm - die Kollegin Neuhäuser hat darauf hingewiesen - wurde eine Erklärung unterzeichnet, mit der
der Durchbruch im gemeinsamen Vorgehen gegen die
kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern geschafft wurde. Mit dieser Erklärung wurde zum einen der
Passus der UN-Kinderrechtskonvention bestätigt, dass
jedes Kind ein Recht auf umfassenden Schutz vor allen
Formen sexueller Ausbeutung oder sexuellen Missbrauchs hat.
({4})
Zum anderen verpflichteten sich die unterzeichnenden
Staaten, bestimmte Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Kinder zu ergreifen.
Dem Weltkongress folgte im Jahr 2001 - darauf haben
Sie auch hingewiesen - die nationale Nachfolgekonferenz
in Berlin, auf der im Zusammenwirken von Bundesregierung und Vertretern der NGOs, der Initiativen, der Polizei,
der Justiz sowie Sachverständigen aus Wissenschaft und
Wirtschaft Herangehensweisen und Konzepte für eine effektive Bekämpfung der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern erörtert wurden. Dabei wurden
Eckpunkte für einen nationalen Aktionsplan erarbeitet.
Anders als Sie, Frau Kollegin Gradistanac, stellen wir
fest, dass die entscheidenden Schritte immer noch fehlen.
Ich gebe Ihnen Recht darin, dass wir Schritte unternommen haben, aber sie reichen bei weitem nicht aus.
({5})
Wir müssen Strategien entwickeln, um Kinder wirksam
zu schützen, und daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
Aktionen der NGOs im Zusammenwirken mit der
Wirtschaft, etwa der Verhaltenskodex zum Schutz der
Kinder vor sexueller Ausbeutung, den ECPAT Deutschland zusammen mit dem „Deutschen Reisebüro und Reiseveranstalter Verband“ geschaffen hat, haben im Gegensatz zu anderen Projekten Fortschritte erzielt. Mit diesem
Verhaltenskodex haben sich die Mitglieder des DRV verpflichtet, aktiv und nachhaltig für die Kinderrechte einzutreten. Im Einzelnen bedeutet dies: Information und Aufklärung von Kunden, Sensibilisierung und Schulung von
Mitarbeitern, Aufnahme in die Unternehmensphilosophie,
Vereinbarungen und Regelungen mit Hotels und anderen
Leistungsträgern, regelmäßige Berichterstattung über die
durchgeführten Maßnahmen. Gerade solche Maßnahmen
sollten wir auch weiterhin gezielt unterstützen und fördern.
({6})
Die Vertreter auf dem zweiten Weltkongress in Yokohama haben sich intensiv mit den Entwicklungen seit
Stockholm beschäftigt und erneut festgestellt, dass ihre
vorrangige Aufgabe darin besteht, die Interessen und die
Rechte des Kindes auf Schutz vor jeder Form von sexueller Ausbeutung zu schützen und zu fördern. Das zeigt,
dass nach 1996 nicht genügend passiert ist und dass noch
viel zu tun ist.
Es ist wichtig, dass gerade die Förderung einer wirksamen Umsetzung von politischen Maßnahmen, Gesetzen und Programmen intensiviert werden muss. Man
muss versuchen, auch europa- und weltweit zusammenzuarbeiten, um dem Phänomen der sexuellen Ausbeutung
von Kindern vorzubeugen und entgegenzuwirken. Dazu
gehören Aufklärungskampagnen zur Bewusstseinsbildung, bessere Bildungsmöglichkeiten für Kinder, soziale
Unterstützungsmaßnahmen für Familien und Kinder, um
Armut zu bekämpfen, Maßnahmen gegen Kriminalität
und gegen die Nachfrage nach sexueller Ausbeutung von
Kindern sowie die strafrechtliche Verfolgung derer, die
Kinder ausbeuten. Wir, die wir Verantwortung in der Politik tragen, müssen sicherstellen, dass die Täter und nicht
die Opfer zur Rechenschaft gezogen werden.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stellen gemeinsam
fest - das habe ich auch den anderen Reden entnommen -,
dass wesentlich mehr getan werden muss, um unsere Kinder besser zu schützen. Es wird Zeit, dass den Erklärungen von Stockholm und Yokohama Rechnung getragen
wird. Sorgen wir dafür, dass die vielen Dokumente, die inzwischen verabschiedet wurden, auch umgesetzt werden!
Dazu haben wir, wie ich denke, auch in unseren Anträgen
Vorschläge gemacht, die im Übrigen auch von der Jungen
Gruppe der Gewerkschaft der Polizei begrüßt werden.
Gerade diejenigen, die vor Ort aktiv sind, sagen - das
Schreiben werden Sie alle bekommen haben -, dass es
wichtig ist, den Straftatenkatalog um die Straftatbestände
Verbreitung von Kinderpornographie und Kindesmissbrauch zu erweitern. Ebenso sagen sie:
Es ist daher erforderlich und konsequent, die Überwachung der Telekommunikation ... auf diese Deliktsformen auszudehnen.
Zum Schluss schreiben sie:
Denn zum Schutz der Kinder und zur Verfolgung dieser Delikte ist es dringend geboten, dieses Regelungsdefizit zu beseitigen.
Also nicht nur wir sehen es so, sondern auch die vor Ort
tätige Polizei.
({8})
Frau Brandt-Elsweier, Sie haben am Anfang gesagt:
Einzelfälle wird es immer geben, lückenlose Sicherheit
gibt es nicht. Deshalb möchte ich mit einem Zitat
von Albert Camus, dem französischen Philosophen,
schließen. Er hat gesagt:
Das Erschütternde ist nicht das Leiden der Kinder an
sich, sondern der Umstand, dass sie unverdient leiden
... Wenn wir nicht eine Welt aufbauen können, in der
Kinder nicht mehr leiden, können wir wenigstens versuchen, das Maß der Leiden der Kinder zu verringern.
Das sollten wir gemeinsam tun.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Köster-Loßack.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jenseits aller international inzwischen schon
getroffenen Abmachungen, Unterzeichnungen und Ratifizierungen zur Kinderrechtskonvention müssen wir uns
klarmachen, dass es bisher keine globalen Einsichten für
die Implementierung aller dieser Vorgaben gibt. Es gibt
ganz unterschiedliche Wahrnehmungen von Kindern und
von Kindheit in den verschiedenen Kulturen der Welt. Eines haben alle gemeinsam, nämlich dass die Schwächeren
sexuell ausgebeutet werden. Das ist hier von vielen gesagt
worden. Das passiert nicht nur in Familien oder unter informellen Rahmenbedingungen, sondern auch das organisierte Verbrechen ist an diesen Dingen beteiligt. Die
UNICEF hat geschätzt, dass pro Jahr 5 Milliarden Dollar
Umsatz mit Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie gemacht werden.
Bei der Reise des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die uns im letzten Jahr
nach Kambodscha geführt hat, war eine der erschütterndsten Erfahrungen der Besuch eines Projektes zur Rehabilitation von Kindern im Alter zwischen vier und 14 Jahren,
die über die kambodschanisch-thailändische Grenze zum
Zwecke der Kinderprostitution verschleppt worden waren. Nach den Gesprächen, die wir dort geführt haben, und
auch nach den Gesprächen, die jetzt vor einigen Wochen
wieder im Rahmen der internationalen Parlamentarierunion in diesem Zusammenhang geführt wurden, glaube
ich aber nach wie vor, dass sich die politischen Entscheidungsträger in vielen Ländern des Südens nicht über die
Bedeutung dieser Fragen im Klaren sind, einfach weil sie
die Verantwortung für diese Formen der Ausbeutung nicht
übernehmen.
Deswegen müssen wir jenseits der Forderungen, europaweit eine Harmonisierung im Strafrecht vorzunehmen oder
die Zusatzprotokolle zur Kinderrechtskonvention zu den
Bereichen Kinder in bewaffneten Konflikten, Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie zu ratifizieren, wie sie in unseren Anträgen gestellt werden,
sicherstellen, dass sowohl im außenpolitischen wie im entwicklungspolitischen Dialog bei Regierungsverhandlungen
diese Themen systematisch mit angesprochen werden und
nicht tabuisiert werden. Sie müssen vielmehr nicht nur in
den Programmen und Projekten berücksichtigt werden, die
wir selber vorschlagen, sondern auch in den relevanten Programmen und Projekten, die in den Ländern selber aufgebaut worden sind.
({0})
Im CDU/CSU-Antrag wird der Vorwurf erhoben - das
hat die Kollegin vorhin schon gesagt -, dass die Implementierung der auf der nationalen Nachfolgekonferenz
„Kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern“ entwickelten Strategien auf sich warten lasse. Es geht hier
aber nicht nur um die Einforderung von Regierungshandeln, sondern auch um die Einforderung des Handelns
aller relevanten Akteure. Das betrifft natürlich auch die
Ebene der Länder, Kommunen und Regionen sowie der
NROs und aller Initiativen, die in diesem Bereich arbeiten, wie Polizei, Justiz, Wissenschaft und Wirtschaft.
Ich habe im Zusammenhang mit Aufklärungskampagnen selber die Erfahrung gemacht, dass es auch in unserer eigenen Gesellschaft auf diesem Feld sehr viele Mythen gibt, die wir auflösen müssen. Das bedeutet auch,
dass das, was erreicht worden ist, was von Kolleginnen
und Kollegen hier dargestellt worden ist, in einem größeren Bereich vermittelt werden muss, als es durch den Bundestag möglich ist. Der internationale Politikdialog darf
nicht vergessen werden. Es ist sehr schwer, diesen Dialog
mit politischen Vertretern aus Ländern zu führen, die Sexualität tabuisieren; auch in unserer Gesellschaft sind bestimmte Fragen in diesem Zusammenhang noch tabuisiert. Es kostet sehr viel Mut und Engagement, die
Implementierung der Regeln, die bisher bestehen, einzufordern und sich selber daran zu beteiligen.
Ich weiß, wovon ich rede; denn ich habe mit Mitstreiterinnen auf kommunaler Ebene noch vor wenigen Jahren
große Schwierigkeiten gehabt, dieses Thema über die
Ressortgrenzen hinweg so zu behandeln, wie es notwendig gewesen wäre.
Jedenfalls glaube ich, dass wir auf diesem Feld in den
nächsten Jahren einen der schwierigsten Politikbereiche zu
bearbeiten haben. Dazu brauchen wir Mut. Ich wünsche
uns allen, dass wir das gemeinsam weiterhin angehen.
Danke.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margot von Renesse.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Für die Verhinderung oder
Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist,
wie wir hier aus verschiedenen Ausschüssen und Blickwinkeln gehört haben, weiß Gott nicht nur, aber auch
Strafrecht erforderlich. Es ist ein ganzes Netzwerk notwendig, von der Stärkung der Kinder in ihrer eigenen
Subjektqualität, wie das hier von der Kollegin mit dem
schwierigen Namen ausgeführt worden ist, bis zur Einwirkung auf Personen, die möglicherweise für andere gefährlich werden können.
Prävention im Sinne der Verhinderung oder der Verhütung von dergleichen Straftaten ist nicht nur durch Strafrecht möglich, obgleich Strafrecht dazugehört. Prävention ist beim Strafrecht Generalprävention und
Spezialprävention; das wissen wir. Nur, wenn man weiß,
wie sexueller Kindesmissbrauch oft motiviert ist, hat man
so seine Zweifel, ob das wirkt. Glauben Sie wirklich, Herr
Geis, dass sich ein Elternpaar, Eltern einer kleinen, entzückenden Tochter, sicherer fühlt, wenn aus dem sexuellen Missbrauch ein Verbrechen gemacht wird?
({0})
- Lieber Herr Geis, wenn sie sich im Schoß der Sicherheit
wähnten, weil die CDU/CSU eine höhere Bestrafung des
sexuellen Kindesmissbrauchs vorsieht oder weil die Sicherungsverwahrung möglich wird, dann könnte man ihnen nur sagen: Ihr verkennt eure elterliche Sorge.
({1})
Wenn sie ihre Kinder wirklich sichern wollen, müssen
sie in dem Sinne handeln, wie es Anni Brandt-Elsweier
dargestellt hat und wie es auch von der Kollegin und anderen hier ausgeführt worden ist: Sie müssen darauf achten, dass sich ihre Kinder möglichst so zu verhalten lernen, dass sie den vielen Gefährdungen, die es in dieser
Gesellschaft nun einmal gibt, so gut es geht widerstehen
können. Sie müssen behütet werden, aber nicht überbehütet, denn auch das ist gefährlich.
({2})
Sicherheit gibt es nicht. Die Illusion einer Sicherheit
durch Strafrecht wäre geradezu gefährlich.
({3})
- Ich habe gesagt, dass alles zusammengehört. Dazu
gehört zweifelsfrei auch das Strafrecht. Aber Ihre Begründung, Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch mit
schrecklichen Folgen hätten gezeigt, dass das Strafrecht
verschärft werden müsse,
({4})
unterstellt, dass das Strafrecht die Sicherheit erhöht. Das
ist aber leider nicht der Fall. Das zu glauben wäre eine gefährliche Illusion.
Was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf befriedigen, ist etwas ganz anderes: Einfache Menschen nennen es Rachebedürfnis und die Juristen nennen es die Versöhnung des
verletzten Rechtsgefühls. An dieser Auffassung ist etwas
dran. Wir wollen nämlich, dass der sexuelle Kindesmissbrauch als schwere Straftat von der Gesellschaft geächtet
und geahndet wird. Beides hängt miteinander zusammen,
was wir nicht verkennen wollen.
Lassen Sie mich aber Folgendes sagen - ich habe
während der Rede des Kollegen van Essen einen entsprechenden Zuruf gemacht -: Jede Verschärfung des Strafrechts bringt nicht nur die Gefahr mit sich, dass der Täter
seine Tat nicht zugibt und dass deswegen die Kinder als
Zeugen angehört werden müssen, was ihnen nicht gut tut.
Damit ist vielmehr auch die Gefahr verbunden, dass es
Kindern schwerer fällt, als Zeugen aufzutreten. Wir wissen nämlich genau, dass die meisten Täter aus dem Nahbereich kommen.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein
furchtbares Verfahren. Ein zwölfjähriges Mädchen verschloss sich während des zweijährigen Ermittlungsverfahrens in einem Heim wie eine Auster, obgleich sie diejenige war, von der das Verfahren ausgegangen ist. Sie
hatte im Schoß ihrer Lehrerin geweint und berichtet, was
ihr von dem Freund ihrer Mutter angetan wurde. Sie
wollte aber während des zweijährigen Ermittlungsverfahrens nichts mehr davon wissen, weil sie ihre Mutter nicht
ans Messer liefern wollte. Das ist eine sehr verständliche
Reaktion von Kindern.
Auch angesichts dieser furchtbaren Verbrechen dürfen
wir eines nicht tun: Wir dürfen uns dem rationalen Umgang mit diesen Taten nicht verweigern. Wir wollen, dass
darüber geredet werden kann. Wir wollen aber auf keinen
Fall die Gefahr verschärfen, dass der Täter vor Entsetzen
über sich und seine Tat und aus Angst vor möglichen Zeugenaussagen verletzter Kinder diese Kinder auch noch
umbringt. Die Verdeckung einer Straftat ist oftmals der
Grund für Morde, die im Anschluss von sexuellen Straftaten auf schreckliche Weise begangen werden.
Der Ausdruck rationaler Umgang hört sich an, als
wolle man die Täter schützen. Davon bin ich weit entfernt. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass die Eltern oder
die Opfer Rache verüben oder - anders gesagt - die Versöhnung des verletzten Rechtsgefühls selbst in die Hand
nehmen. Wir müssen ein rechtsstaatliches Verfahren
durchführen und dürfen uns vor dem rationalen Umgang
mit der Tat nicht verschließen, wenn wir eine präventiv
sinnvolle Strafrechtspflege wollen.
Wenn man Verfahren erlebt, in denen sich Kinder weigern, zur Bestrafung ihrer brutalen Peiniger beizutragen,
dann wird einem klar, dass man sehr häufig - gerade wenn
es um den Nahbereich geht - nicht zwischen dem Schutz
für das Kind und der Frage, was mit dem Täter geschieht,
trennen kann. Je näher der Täter dem Opfer steht, desto
mehr wird das Kind seiner Fähigkeit beraubt, als Zeuge
aufzutreten.
Die Erfahrung zeigt auch, dass die von uns so gut gemeinte Videovernehmung nur wenig bewirkt. Das Bewusstsein, dass durch die Aussage die Familienbande gesprengt werden - es ist schizophren und paradox, dass
man den Täter liebt, auch wenn man durch ihn geschädigt
wurde -, kommt einem Kind auch dann nicht abhanden,
wenn es dem Täter oder beispielsweise seiner Mutter
nicht unmittelbar gegenübersitzt.
Ich bitte daher eindringlich um einen rationalen Umgang. Ich kann gut verstehen, dass uns allen der rationale
Umgang sehr schwer fällt. Wenn ich an meine Enkeltöchter und an die vielen entzückenden kleinen Mädchen und
Jungen denke, dann kann ich mir nur schwer vorstellen,
dass irgendjemand sie auf diese schreckliche Weise schädigt. Es ist nicht nur ein Verbrechen, sondern ein brutaler
Tabubruch. In uns allen steckt doch das Bedürfnis, die
kleinen Kinder zu schützen. Es ist sozusagen ein biologischer Reflex, der bewirkt, dass wir uns für die Kinder verantwortlich fühlen. Das bedeutet, dass jeder, der Kinder
schädigt, unser Feind zu sein scheint und dass wir die Rationalität schnell verlieren. Ich bitte darum, das nicht zu
tun; denn es ist wirklich gefährlich.
Ein Letztes: Frau Fischbach, in Ihrem Antrag gibt es
einen Punkt, den ich besonders herausheben will, obgleich wir als Bund dafür leider nicht zuständig sind. In
Ihrem Punkt 14 haben Sie von der Prävention in Bezug
auf Jugendliche, die als Täter auffallen, gesprochen; ich
komme gleich darauf zurück.
Ich möchte nicht lange über das Problem der Sicherungsverwahrung sprechen. Nach meiner Meinung besteht bei Ihrem Vorschlag nicht das Problem der
Zweifachbestrafung, sondern das der schweren beeinträchtigenden Maßnahme ohne Tat. Denn die Verurteilung
liegt zurück. Wie wollen Sie rechtsstaatlich korrekt - das
möchte ich einmal wissen - ohne Tat einen Hang feststellen? Denn die Tat ist einer Aburteilung zugeführt worden.
Wenn Sie mir erklären könnten, wie Sie eine solche Maßnahme, die die Gefangenen als „Rucksack“ bezeichnen,
das Härteste, was es gibt, die eigentliche wirkliche Strafe,
die lebenslänglich ist, unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit an lose Reden anknüpfen wollen, würde
ich meinen Standpunkt noch einmal überdenken. Aber
auch bei unserem Vorschlag habe ich Sorge.
Frau Fischbach, das, was Sie in Punkt 14 vorschlagen,
ist sehr vernünftig. Soweit ich weiß, ist eine Vielzahl dieser Taten im Grunde das Ergebnis von Serien. Das fängt
mitunter in früher Jugend an, durch eine Fehlentwicklung
aus der Lust an Macht, aus dem Hochgefühl der Macht,
indem man ein anderes Menschenkind zwar nicht schädigt, aber demütigt, erniedrigt und sich dies leisten kann.
Dies betrifft insbesondere auch Kinder, die selber Gegenstand von Macht sind.
Hier aufzupassen, dass daraus nicht das Gesetz der Serie entsteht, in der Macht, Kraft und Kompetenz wachsen,
ist eine ganz wichtige Sache. In Bochum existiert ein solches Projekt. Man bestätigt mir dort ständig, was dahinter
steht, nämlich dass sich dieses Machtgefühl in der Streubreite wie eine umgekehrte Pyramide erhöht, je älter, je
kräftiger und je kompetenter ein Mensch wird. Dies kann
zur Sucht werden.
Ich denke, das ist etwas, worüber wir genau nachdenken sollten. Ich fürchte, unsere Zuständigkeit als Bund
reicht nicht so weit. Aber darauf zu achten wäre wichtig.
Danke sehr.
({5})
Wir kommen
nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Verbesserung des Schutzes der
Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8779, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte die,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes „Sexueller
Missbrauch von Kindern“. Das ist jetzt die Drucksache 14/1125. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8779, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte die,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung auch hier die weitere Beratung.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 14/8806 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Gegen die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von
Kindern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/7610 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/8795 zu
dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Kinder
vor sexueller Ausbeutung schützen - Kindersextourismus
bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/7793 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen
die Stimmen der PDS bei Enthaltung der FDP angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/7752 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 14/8780 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Volker Beck ({2})
Dr. Evelyn Kenzler
Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der FDP
sowie ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Es gibt
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir behandeln ein Gesetz, das den etwas bescheidenen Namen „Zweites Gesetz zur Änderung
schadensersatzrechtlicher Vorschriften“ trägt. Dahinter
verbirgt sich eine Reform, die diesen Namen auch verdient. Es ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg
zur Modernisierung des deutschen Rechts. Die Modernisierung des Schadenersatzrechtes war überfällig.
Nehmen wir zum Beispiel die Haftungshöchstgrenzen im Straßenverkehrsgesetz und im Haftpflichtgesetz:
Sie sind seit mehr als 20 Jahren nicht mehr erhöht worden.
Oder nehmen wir die Haftung von Kindern im
Straßenverkehr. Damit schließen wir eigentlich an einen
Gesichtspunkt an, den wir gerade behandelt haben, nämlich den Schutz der Schwächsten. In diesem Fall geht es
um den Schutz der Schwächsten im Straßenverkehr - auf
einem ganz anderen Gebiet also, als vorhin behandelt.
Seit Jahren fordert zum Beispiel der Deutsche Verkehrsgerichtstag einen besseren haftungsrechtlichen Schutz
von Kindern im Straßenverkehr, ohne dass das bisher
größere Folgen gehabt hätte.
Oder nehmen Sie das Thema Schmerzensgeld: Obwohl bereits die Gutachten zur Schuldrechtsreform aus
dem Jahre 1980 forderten, einen allgemeinen Anspruch
auf Schmerzensgeld einzuführen, der auch die
Vertragshaftung und die Fälle der Gefährdungshaftung
mit umfasst, besteht der unbefriedigende Rechtszustand
bis heute fort.
Meine Damen und Herren, das hat heute ein Ende. Mit
unserem heutigen Beschluss setzen wir endlich viele
längst fällige Änderungen im deutschen Schadenersatzrecht um.
({0})
Eines wird an diesem Gesetz besonders deutlich: Modernisierung ist kein Selbstzweck. Modernisierung ist immer mit neuen, mit veränderten Wertentscheidungen verbunden. Die Wertentscheidung dieses Gesetzes ist ganz
klar: Der Opferschutz wird gestärkt. Wenn ich von Opfern rede, dann denke ich in erster Linie an die Opfer von
Personenschäden, an Menschen, die an Körper und
Gesundheit verletzt worden sind.
Ein Beispiel: die Haftung für fehlerhafte Arzneimittel. Bisher steht dem Patienten mit dem pharmazeutischen
Unternehmer ein an Informationen und Wissen weit überlegener Antragsgegner gegenüber. Das wird sich nun ändern. Wir schaffen ein Stück „Waffengleichheit“ durch einen Auskunftsanspruch gegen den pharmazeutischen
Unternehmer und gegen die Überwachungsbehörde. Auf
diese Weise kann sich der Geschädigte in Zukunft die notwendigen Informationen verschaffen, um seine Situation
richtig beurteilen zu können.
Wir gehen aber noch einen wichtigen Schritt weiter,
um die Beweissituation des Patienten zu verbessern.
Bisher hatte es der Patient schwer, den Nachweis zu
führen, dass sein Gesundheitsschaden durch ein ganz
bestimmtes Arzneimittel hervorgerufen wurde. In Zukunft wird ihm dabei eine gesetzliche Ursachenvermutung helfen. Wenn das Arzneimittel im Einzelfall geeignet ist, den infrage stehenden Gesundheitsschaden zu
verursachen, so wird zugunsten des Patienten vermutet,
dass der Gesundheitsschaden von diesem Arzneimittel
hervorgerufen wurde. Das ist für die Patienten eine
wichtige Verbesserung von hoher und, wie ich glaube,
auch praktischer Bedeutung.
({1})
Es kommen noch weitere Verbesserungen der Arzneimittelhaftung hinzu. Die Haftungshöchstgrenzen im Arzneimittelgesetz werden zum Beispiel erhöht, und es wird
erstmals ein Anspruch auf Schmerzensgeld in die
Arzneimittelhaftung eingeführt. Das heißt, neben dem eigentlichen Schadensersatzanspruch wird es zukünftig
auch einen Anspruch auf Schmerzensgeld geben.
Schließlich wird in Zukunft der Arzneimittelhersteller
beweisen müssen, dass ein Fehler des Arzneimittels nicht
schon in seinem Bereich bei der Entwicklung oder Herstellung entstanden ist. Bislang musste der Patient den
entsprechenden Nachweis erbringen.
Alles in allem können wir feststellen, dass die Rechtsstellung von Arzneimittelgeschädigten ganz erheblich
verbessert wird. Ich bin auch sicher, dass sich diese Verbesserungen in der Praxis bewähren werden. Über die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Erfahrungen wird die Bundesregierung drei Jahre nach
In-Kraft-Treten des Gesetzes berichten, so wie es der auch
zur Abstimmung stehende Entschließungsantrag der Koalition vorsieht.
({2})
Ich möchte nun auf einen Punkt eingehen, zu dem viele
Anfragen besorgter Bürger mein Haus erreicht haben: die
Änderung der Straßenverkehrshaftung. Ein wichtiges
Ziel des Gesetzentwurfs besteht darin - ich habe es schon
gesagt -, die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr zu verbessern. Um dieses Ziel zu erreichen, haben
wir den Ausschluss der Haftung durch das unabwendbare
Ereignis im Straßenverkehrsgesetz geändert, mit dem sich
Autofahrer bisher bekanntlich von ihrer Haftung gegenüber Kindern befreien konnten.
Allerdings entfällt der Haftungsausschlussgrund des
unabwendbaren Ereignisses anders als ursprünglich vorgesehen nicht vollständig, sondern besteht für Unfälle zwischen Kraftfahrzeugen weiter fort. Es bleibt also dabei,
dass sich ein Kraftfahrzeughalter gegenüber einem anderen Kraftfahrzeughalter auf die Unabwendbarkeit des Unfalls nach wie vor berufen kann. Ich denke, dass damit
Rechtssicherheit gewährleistet wird. Es wird ebenso verhindert, dass es zu mehr Quotenfällen kommt, wenn mehrere Kraftfahrzeuge - was häufig der Fall ist - am Unfall
beteiligt sind.
Nur für Unfälle von Kraftfahrzeugen mit nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern, also zum Beispiel Fußgängern, ganz besonders Kindern, entfällt der Haftungsausschluss wegen eines unabwendbaren Ereignisses. Denn
sonst, meine Damen und Herren, würde das Ziel, Kinder
im Straßenverkehr besser zu schützen, nicht erreicht. Wir
wollen damit auch die Besorgnisse der Bürger ernst nehmen und ziehen daraus die Konsequenzen.
Ich will noch drei weitere Punkte ansprechen: Ein bedeutender Punkt ist die Tatsache, dass sich die Gefährdungshaftung in § 7 Straßenverkehrsgesetz künftig
auch auf unentgeltlich, nicht gewerbsmäßig transportierte
Personen zum Beispiel in einem PKW erstreckt. Ich finde
das umso wichtiger, als wir die Erfahrung machen, dass
häufig Eltern Kinder anderer Eltern zu Sportereignissen
oder zum Training fahren. Ich denke, dass dieser Schutz
der mitfahrenden Kinder sehr begrüßenswert ist.
({3})
Der zweite Punkt, der in der Debatte eine Rolle gespielt
hat, ist der so genannte fiktive Ausgleich von Sachschäden, die fiktive Abrechnung. Wir haben eine Lösung gefunden, die ausgewogen ist und die unterschiedlichen Interessen berücksichtigt. Es hat uns nicht eingeleuchtet,
dass zum Beispiel der Umsatzsteueranteil im Falle eines
Sachschadens - nur darum geht es - geltend gemacht werden kann, ohne dass nachgewiesen wird, dass tatsächlich
Umsatzsteuer angefallen ist.
Ich weiß, dass das die Rechtsprechung so entwickelt
hat, aber ich meine, es ist richtig, dass wir die Mehrwertsteuer nur dann ersetzen, wenn sie auch tatsächlich angefallen ist. Das hat mehrere Vorteile. Es hat einmal den Vorteil, dass gewährleistet wird, dass Schäden fachgerecht
beseitigt werden.
({4})
Ich möchte nicht wissen, wie viele PKWs auf unseren
Straßen fahren, die im Zuge einer falsch verstandenen
Nachbarschaftshilfe repariert worden sind und sehr gefährlich sind.
({5})
Zum anderen - das müsste die FDP auch freuen, Herr
Funke - haben wir damit einen mittelständischen Akzent
gesetzt, denn wir erwarten, dass diese Reparaturen in den
Fachwerkstätten durchgeführt werden.
({6})
Ein dritter Punkt - damit möchte ich schließen - betrifft das Schmerzensgeld. Der Regierungsentwurf hatte
die Einführung einer Bagatellschwelle vorgesehen. Wir
haben uns im Laufe der Diskussionen davon überzeugen
lassen, dass es richtig ist, den bisherigen Rechtszustand
beizubehalten. Für uns ist besonders wichtig, dass die Opfer mit Schäden an Körper und Gesundheit angemessen
entschädigt werden. Hierbei hat die Rechtsprechung ihren
Spielraum. Ich denke, die Verbesserung des Opferschutzes ist ein Thema, bei dem wir uns alle einig sein
sollten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen
zweiten und dritten Lesung des Schadensersatzänderungsgesetzes wird eine umfassende und weit reichende
Reform zum Abschluss gebracht. Der Reformbedarf ist
unbestritten. Manche unserer seit dem Jahre 1900 fast unverändert gebliebenen Bestimmungen im BGB zum
Schadensersatzrecht müssen einfach der heutigen Lebenswirklichkeit angepasst werden. Deshalb hatte bereits
die Regierung Kohl hierzu in der 13. Legislaturperiode einen Gesetzentwurf eingebracht, auf dem der heute vorliegende Entwurf im Wesentlichen basiert.
Einen Schwerpunkt in dem Gesetzentwurf bilden Neuregelungen im Bereich des Arzneimittelgesetzes. Der
neue § 84 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes beinhaltet nun
eine Beweiserleichterung in Form einer Kausalitätsvermutung, die dem Patienten eine zu begrüßende beweisrechtliche Besserstellung beschert. § 84 Abs. 2 AMG
schließt somit die bisher bestehende Regelungslücke in
den Fällen ungeklärter Kausalität bei der Anwendung
mehrerer Arzneimittel. Ist das angewendete Arzneimittel
nach den Gegebenheiten des Einzelfalles geeignet, den
Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht wurde. Diese
Vermutung gilt auch dann, wenn ein gleichzeitig eingenommenes Medikament ebenfalls als Schadensursache in
Betracht kommt, ohne dass der Betroffene klären kann,
welches der einzelnen Präparate konkret schadensursächlich war. Dies ist im Sinne eines umfassenden Patientenschutzes grundsätzlich zu begrüßen.
Soweit auch nach dieser Neuregelung zum Beispiel
wegen ungeklärter Kausalität oder ungenügender
Deckungsgrenzen aufseiten des Herstellers noch Haftungslücken bestehen sollten, ist gelegentlich eine solidarische Einstandspflicht pharmazeutischer Unternehmen
in Form eines Fonds angedacht worden. Diese Lösung
ginge allerdings zulasten derjenigen Unternehmen, die
sich zum einen ausreichend selbst gegen eventuelle Schadensersatzansprüche versichern und zum anderen auch
noch in den Fonds einzahlen müssten. Diese Unternehmen müssten dann mit ihren Beiträgen für jene Hersteller
einstehen, die sich nicht ausreichend versichern und zu
denen sie meist auch noch in einem harten Konkurrenzkampf stehen. Eine solche Fondslösung ist daher keine
sachgerechte Lösung. Diese Auffassung wurde im Übrigen auch von den meisten Sachverständigen in der Anhörung vertreten.
In dem geplanten neuen § 84 Abs. 3 Arzneimittelgesetz
wird nun die Darlegungs- und Beweislast dafür umgekehrt, dass die feststehenden schädlichen Wirkungen
eines Arzneimittels ihre Ursache im Bereich der Entwicklung oder Herstellung haben. Künftig soll der pharmazeutische Unternehmer die Beweislast für Fehler in diesem Bereich tragen. Er muss also darlegen und beweisen,
dass die schädliche Wirkung des Mittels nicht im Bereich
von Herstellung und Entwicklung liegt.
Mit dieser im Bereich des Arzneimittelrechts durchaus
zu begrüßenden Änderung greifen wir einmal mehr zu
dem inzwischen immer häufiger angewandten Mittel der
Beweislastumkehr. Grundsätzlich muss bekanntlich derjenige, der einen Anspruch geltend macht, auch beweisen,
dass ihm dieser Anspruch nach Recht und Gesetz zusteht.
Bei diesem Grundsatz muss es meiner Meinung nach auch
bleiben.
Bei vielen immer komplizierter werdenden Herstellungsverfahren wird es heute jedoch - und zwar nicht nur
bei der Herstellung von Arzneimitteln - für den Geschädigten immer schwieriger, die erforderlichen Beweise zu
erbringen, da die Schadensursachen meist in einer für den
Anspruchsteller nicht oder kaum durchschaubaren Sphäre
liegen. Deshalb befürworten wir die Beweislastumkehr
im Arzneimittelrecht.
In diesem Zusammenhang wäre bezüglich der Einbeziehung mittelbar Geschädigter in den Schutzbereich
dieses Paragraphen eine weitere Klarstellung in § 84 Arzneimittelgesetz wünschenswert gewesen. Die Gesetzesbegründung sieht dies zwar bereits vor, doch fehlt nach
wie vor eine klarstellende Ergänzung im Gesetzestext.
Eine erfreuliche Neuregelung erhält das Schadensersatzrecht mit der Einfügung des § 84 a Arzneimittelgesetz,
der dem Patienten einen Auskunftsanspruch gegenüber
dem Arzneimittelhersteller einräumt. Liegen demnach
Tatsachen vor, die die Annahme begründen, dass ein Arzneimittel den Schaden verursacht hat, kann der Geschädigte Auskunft von dem pharmazeutischen Unternehmen
verlangen, wenn dies zur Feststellung eines Anspruchs
erforderlich ist. Damit wird die Position des Geschädigten gegenüber dem oft übermächtig erscheinenden Pharmaunternehmen zusätzlich gestärkt.
Zum Schutz vor einer für die Unternehmen nachteiligen Darlegungspflicht, zum Beispiel zugunsten der Konkurrenz, begrenzt der Gesetzentwurf den Auskunftsanspruch jedoch und nimmt, wie ich finde, zu Recht solche
Informationen aus, die aufgrund grundgesetzlicher Vorschriften geheim zu halten sind oder die in einem überwiegenden Interesse des pharmazeutischen Unternehmens
liegen. Somit ist gewährleistet, dass sich der Auskunftsanspruch tatsächlich auf den konkreten Schadensfall beschränkt.
Die CDU/CSU-Mitglieder im Rechtsausschuss hätten
es allerdings begrüßt, wenn dem Unternehmen seinerseits
ein Auskunftsanspruch gegenüber dem Patienten eingeräumt worden wäre; denn der überwiegende Teil des Schadensablaufes spielt sich erfahrungsgemäß in der Sphäre
des Geschädigten ab. Ohne die Gegenseitigkeit des Auskunftsanspruchs wird es dem Hersteller vor allem angesichts der künftig vorgesehenen Beweislastumkehr erheblich erschwert, die durch § 84 Abs. 2 Arzneimittelgesetz
geschaffene Kausalitätsvermutung zu erschüttern. Leider
hat die Regierungskoalition dieser Forderung des Bundesrates nicht Rechnung getragen.
Dass es für die Durchsetzung des Auskunftsanspruchs
nach § 84 a Abs. 2 künftig zwei verschiedene Rechtswege
gibt, nämlich zum einen den zu den ordentlichen Gerichten gegenüber den Herstellern und zum anderen den zu
den Verwaltungsgerichten gegenüber den Behörden, erscheint auf den ersten Blick unpraktisch. Für den Geschädigten bietet der Verwaltungsrechtsweg aufgrund des
Amtsermittlungsgrundsatzes jedoch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
noch zu einigen weiteren Schwerpunkten des Gesetzentwurfs Stellung nehmen. Mit dem neu gefassten § 253 BGB
wird eine einheitliche Norm für den Ersatz immaterieller
Schäden geschaffen. Damit gibt es künftig einen allgemeinen Anspruch auf Schmerzensgeld bei der Verletzung
von Körper, Gesundheit und sexueller Selbstbestimmung.
Dies wird vonseiten unserer Fraktion nachhaltig begrüßt.
Eine daraus abgeleitete Angst vor amerikanischen Verhältnissen und vor astronomischen Haftungssummen halte ich
für unbegründet. Das Verschulden wird weiterhin vielfach
Voraussetzung eines jeden Anspruchs sein und bei der
Zumessung des Schmerzensgeldes die entscheidende
Grundlage bilden. In diesem Zusammenhang erscheint es
mir sinnvoll, die Gewährung von Schmerzensgeld auch
auf Ansprüche aufgrund der Gefährdungshaftung auszudehnen.
Eine weitere Änderung betrifft die Haftung des gerichtlichen Sachverständigen gemäß dem neuen § 839 a
BGB. Kaum ein etwas umfangreicherer Zivilprozess
kommt heute ohne einen Sachverständigen aus. Besonders wenn es um technisch komplizierte Anlagen oder um
Immobilien geht, kann man auf sie nicht mehr verzichten.
Solche Gutachten dienen einer soliden Verhandlungsgrundlage und haben daher auch eine große wirtschaftliche Bedeutung für alle Verfahrensbeteiligten. Ob und in
welchem Umfang ein Sachverständiger nach gegenwärtiger Rechtslage haftet, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es
sich um einen vereidigten Sachverständigen handelt oder
nicht. Diese Unterscheidung wird durch die Einführung
des neuen § 839 a BGB zu Recht aufgehoben und die Haftung wird auf Fälle grober Fahrlässigkeit beschränkt. Somit umgehen wir die Gefahr, dass Gutachter die Begutachtung aufgrund der Haftungsrisiken ablehnen oder sich
nicht öffentlich bestellen lassen.
Wichtige Änderungen sind auch bei den Regelungen,
bei denen es um Unfälle im Straßen- und Bahnverkehr
geht, vorgesehen. So werden die Haftung und das Mitverschulden von Kindern unter zehn Jahren künftig
grundsätzlich ausgeschlossen. Damit wird den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie Rechnung getragen,
nach denen Kinder regelmäßig frühestens ab Vollendung
des zehnten Lebensjahres imstande sind, die besonderen
Gefahren des Straßenverkehrs zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Auch dies sah der alte Entwurf
aus der 13. Legislaturperiode bereits vor. Dass diese Beschränkung der Deliktsfähigkeit nicht bei Vorsatz gilt,
halte ich für richtig.
Die ausnahmslose Ersetzung des unabwendbaren Ereignisses als Haftausschließungsgrund im Regierungsentwurf durch den Begriff „höhere Gewalt“ ist nicht nur von
uns, sondern auch vonseiten der Sachverständigen in der
Anhörung kritisiert worden. Daraus hätten sich für den so
genannten Idealfahrer ungerechtfertigte Nachteile mit der
praktischen Konsequenz einer Haftung ohne jegliche Entlastungsmöglichkeit ergeben. Deshalb begrüßen wir, dass
die Bundesregierung im Laufe der Beratungen hiervon
abgerückt ist. Die jetzt in der vom Rechtsausschuss beschlossenen Fassung enthaltene Differenzierung können
wir mittragen.
Bei Unfällen im motorisierten Straßenverkehr zwischen motorisierten Verkehrsteilnehmern bleibt es bei der
Entlastungsmöglichkeit im Falle eines unabwendbaren
Ereignisses. Sind an einem Unfall nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer beteiligt, wird es künftig zu einem Haftungsausschluss nur dann kommen, wenn sich der Unfall
für den Fahrer als höhere Gewalt darstellt. Mit dieser Differenzierung ist insbesondere unserem Anliegen Rechnung getragen, Kinder und hilfsbedürftige Menschen im
Straßenverkehr besser zu schützen.
Begrüßenswert ist zudem die geplante Ausweitung der
Halterhaftung auf unentgeltlich beförderte Fahrzeuginsassen. Es kann nach unserer Ansicht bei dem Ersatz eines erlittenen Schadens keinen Unterschied machen, ob
dieser bei einer Taxifahrt oder zum Beispiel bei der Mitnahme aus Gefälligkeit entstanden ist.
Uneingeschränkt begrüßen wir auch die geplante Erhöhung der Haftungshöchstbeträge im Straßenverkehrsgesetz bei der Verletzung bzw. Tötung von Menschen.
Damit wird der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch der Erkenntnis Rechnung getragen, dass
die bisher im Gesetz vorgesehenen Höchstbeträge völlig
unzureichend sind. Eine dadurch möglicherweise zu erwartende Erhöhung der Versicherungsbeiträge ist im Hinblick auf diese Problematik und vor allem im Hinblick auf
die Geschädigten durchaus hinnehmbar.
Sachgerecht ist auch die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Neuregelung bei der Abrechnung fiktiver Reparaturkosten. Bisher konnte die Umsatzsteuer bekanntlich
auch dann geltend gemacht werden, wenn das Fahrzeug
gar nicht repariert wurde und sie daher tatsächlich nicht
angefallen ist. Die Neufassung von § 249 Abs. 2 BGB
stellt nun sicher, dass der Geschädigte nur die tatsächlich
anfallenden Umsatzsteuerkosten ersetzt bekommen kann.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, so viel zu den aus
meiner Sicht wichtigsten Punkten des Gesetzentwurfs.
Uns Juristen ist natürlich klar, dass das Schadensersatzrecht nicht gerade zu den spannendsten politischen Themen gehört.
({0})
- Ich hatte gedacht, Herr Hartenbach, Sie kämpften mit
dem Schlaf. Aber ich stelle fest, Sie haben aufgepasst wie
ein Luchs.
({1})
- Der Eindruck täuscht. Ich nehme das zurück.
Nun bringen Sie mal
keine Schärfe in die Debatte!
({0})
Ich habe den Eindruck, dass die heutige Debatte diese Meinung zur Brisanz und Spannung dieses Themas vielleicht bei dem einen oder anderen Nichtjuristen be- oder verstärkt hat.
Trotzdem handelt es sich um wichtige Fragen, die für jeden von uns - auch wenn wir es nicht hoffen wollen - vielleicht einmal große Bedeutung erlangen können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf, der in wesentlichen
Teilen - darauf habe ich schon hingewiesen - unsere
Handschrift trägt, bringt deutliche Verbesserungen für
Geschädigte. Deshalb wird die CDU/CSU-Fraktion dem
Gesetzentwurf trotz einiger Kritikpunkte zustimmen.
Ich bedanke mich.
({0})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Dazu kann man nur sagen, Herr Dr. Götzer: Machen Sie
so weiter, den vernünftigen Gesetzen der Koalition zum
Ende der Wahlperiode immer kräftig zuzustimmen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Markenzeichen rot-grüner Rechtspolitik ist die Stärkung der
Schwachen durch das Recht. Die Reform des Schadensersatzrechtes ist hierfür ein weiterer eindrucksvoller
Beleg.
Mit dem Gesetz optimieren wir den zivilrechtlichen
Opferschutz in breiter Hinsicht. Für die Opfer von Arzneimittelskandalen, wie wir sie in den 80er-Jahren beim
HIV-Bluter-Skandal oder jüngst bei Lipobay hatten, ist
dieses Gesetz der Durchbruch.
Weiter verbessern wir die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr. Wir weiten die Gefährdungshaftung im Straßenverkehr auf alle Fahrzeuginsassen
aus, sodass künftig alle Mitfahrer, zum Beispiel auch der
mitgenommene Tramper, als Opfer eines Unfalls geschützt werden. Mit der Ausweitung eines Schmerzensgeldanspruches auf den Bereich der Gefährdungs- und
Vertragshaftung helfen wir zum Beispiel denjenigen Verkehrsunfallopfern, die das Verschulden eines Dritten nicht
nachweisen können.
Meine Damen und Herren, diese Reform des Schadensersatzrechtes war längst überfällig. Das zeigt auch
die Erhöhung der Haftungshöchstgrenzen. In einigen
Gesetzen war hier seit mehr als 20 Jahren nichts mehr geschehen. Schwarz-Gelb hat da offensichtlich lange geschlafen, wenn die schwarz-gelbe Koalition auch kurz vor
Ende der letzten Legislaturperiode beinahe aufgewacht
wäre. Das aber hat die FDP dann noch verhindert.
Jetzt wird der Wert von Schäden an Leib und Leben
erstmals wieder deutlich angehoben. Damit wird der Abstand zu Schadenssummen in anderen Ländern überwunden. Deutschland gibt hier endlich seine Schlusslichtposition auf.
({0})
Bei einzelnen Personenschäden erhöhen wir die individuelle Haftungshöchstgrenze sogar um mehr als das
Doppelte. Bei einer schweren Querschnittslähmung hat
der bisherige Betrag von 500 000 DM für Heilungskosten,
den eingetretenen Erwerbs- und Unterhaltsschaden sowie
Schmerzensgeld hinten und vorne nicht ausgereicht. Deshalb werden künftig im Straßenverkehrsgesetz der Kapitalbetrag für die Tötung oder Verletzung eines Menschen bei
600 000 Euro und die Jahresrente bei 36 000 Euro liegen.
Zu gering war auch der bisherige Haftungshöchstbetrag
bei mehreren Verletzten. Wenn sich drei Schwerverletzte
bislang 750 000 DM teilen mussten, war dies eindeutig zu
wenig. Hier haben wir die Grenze auf 3 Millionen Euro
hoch geschraubt. Das ist für die beklagenswerten Opfer
solcher Tragödien auch gut.
({1})
Für Opfer von Arzneimitteln schaffen wir mit diesem
Gesetz endlich die nötigen Haftungserleichterungen. Ein
Auskunftsanspruch gegen Behörde und Pharmaunternehmen sowie eine angemessene Beweislastverlagerung wird
es den Betroffenen künftig ermöglichen, den Nachweis
der Kausalität zwischen Präparat und Schädigung leichter
zu führen. Nicht erst Lipobay hat uns daran erinnert.
Schon seit dem HIV-Bluter-Skandal in den 80er-Jahren
wissen wir, wie schwer es für die Betroffenen ist, ihre berechtigten Ansprüche auch tatsächlich gegen die potenten
Pharmaunternehmen durchzusetzen. Ich freue mich, dass
wir hier endlich vorangekommen sind. Unter SchwarzGelb war das nicht möglich.
Ich freue mich übrigens auch, dass wir im Gesetzgebungsverfahren keine Aufweichungen zulasten der Geschädigten mitgemacht haben, wie es die Pharmalobby
und die FDP wollten. Die Beweislastumkehr für die Erforderlichkeit einer Auskunft wieder abzumildern oder
sogar dem Pharmaunternehmer einen Auskunftsanspruch
gegenüber dem Patienten einzuräumen, wäre verfehlt gewesen. Solche Ideen widersprechen dem Geist dieses opferfreundlichen Gesetzes. Sie nehmen die rechtliche Verbesserung für die Patienten an anderer Stelle wieder
zurück. Das war mit uns nicht zu machen.
Abschließend noch ein Wort zum Entschließungsantrag, der diese Reform begleitet: Er belegt, wie sehr uns
der Schutz der Arzneimittelanwender am Herzen liegt.
Wir werden in den nächsten drei Jahren sorgfältig beobachten, ob das Gesetz in der Praxis auch die gewünschten Erleichterungen für die Patienten bringt. Wenn dies in
einigen Punkten noch nicht ausreichend der Fall sein
sollte, dann wird es zu einem Pharmahaftungsfonds
keine Alternative geben. Für uns ist eine Diskussion darüber mit diesem Gesetz noch nicht beendet. Aber wir
werden sie auch nur weiterführen, wenn wir feststellen
sollten, dass wir diesen Weg unbedingt brauchen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der
Kollege Rainer Funke für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Schadensersatzrechtsänderungsgesetz ist hinsichtlich seiner Wirkungen
auf die Bürger, aber auch hinsichtlich der wirtschaftlichen
Auswirkungen auf die betroffene Industrie, insbesondere
auf die Pharmaindustrie, sicherlich eines der wichtigeren
Gesetze der derzeitigen Bundesregierung. Dieses Gesetz
stützt sich auf Vorüberlegungen und Arbeiten der vergangenen Legislaturperiode. Umso mehr verwundert es, dass
die Bundesregierung so spät, nämlich erst am Ende der
Legislaturperiode, ihren Gesetzentwurf vorgelegt hat. Es
hätte sich durchaus angeboten, diese schadensersatzrechtlichen Fragen früher - vielleicht im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung - zu behandeln.
({0})
Meine Damen und Herren, meine Fraktion wird dem
Gesetz die Zustimmung verweigern. Die Verschärfung
der Arzneimittelhaftung ist zweifellos ein Schwerpunkt
des Gesetzes. Unter verbraucherpolitischen Gesichtspunkten mag man diese Verschärfung noch begrüßen, obwohl
Volker Beck ({1})
die dadurch höheren Kosten der Pharmaindustrie und der
Versicherungswirtschaft im Ergebnis auf die Verbraucherpreise und damit auf den Verbraucher umgelegt werden müssen. Dadurch werden Arzneimittel teurer; dies
führt zur Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Pharmaindustrie.
Insbesondere die in § 84 Abs. 2 des Arzneimittelgesetzes eingeführte Kausalitätsvermutung wird dazu führen,
dass die Zuerkennung unberechtigter Ansprüche erheblich steigt, weil nur einseitig ein Auskunftsanspruch besteht; ein solcher Anspruch des möglicherweise beklagten
Pharmaunternehmens gegenüber dem klagenden Patienten ist nicht gegeben. Dabei wäre es durchaus möglich gewesen, den Auskunftsanspruch nach dem Vorbild des
Umwelthaftungsrechts auszugestalten, also eine gewisse
Gegenseitigkeit der Auskunftsansprüche zu gewährleisten; denn gerade bei der Wirkung der Medikamente
kommt es doch nicht nur auf die Arzneien an, sondern
auch auf die Verhältnisse beim Patienten, zum Beispiel
auf das Zusammenwirken des eingenommenen Medikaments mit anderen Medikamenten oder den Gesundheitszustand des Patienten.
Wir räumen durchaus ein, dass es angemessen sein
kann, einen verschuldensunabhängigen Schmerzensgeldanspruch auch im Falle der Gefährdungshaftung zu kreieren, da dies international immer mehr üblich geworden ist.
Dabei ist jedoch streitig, wie weit ein angemessener
Schmerzensgeldanspruch gehen soll. Schon der 62. Deutsche Juristentag 1998 hat sich dafür ausgesprochen, diesen
Schmerzensgeldanspruch bei schwer wiegenden und dauerhaften Körper- und Gesundheitsschäden zu beschränken. Dieser Lösung hätten wir gegenüber der hier gefundenen den Vorzug gegeben.
({2})
Wir begrüßen die Regelung zur Verbesserung der
Rechtsstellung von Kindern bei Unfällen im Straßenund Bahnverkehr durch den grundsätzlichen Ausschluss
der Haftung und des Mitverschuldens von Kindern unter
zehn Jahren. Dies ist ja auch eine alte Forderung des Verkehrsgerichtstages; darauf hat Herr Professor Dr. Pick bereits hingewiesen.
Die anderen Änderungen des Straßenverkehrsrechts
und im Sachschadenabrechnungsrecht des BGB lehnen
wir jedoch ab.
Erstens. Der Haftungsausschluss des Kraftfahrzeughalters gegenüber nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern kann zu zahlreichen Ungerechtigkeiten gegenüber
Kraftfahrzeugführer und -halter führen, weil selbst vorsätzliches verkehrswidriges Verhalten des nicht motorisierten Verkehrsteilnehmers, zum Beispiel des Radfahrers
- das erleben wir tagtäglich im Straßenverkehr -, zur Haftung des sorgfältig handelnden Kraftfahrzeugfahrers führt.
Zweitens. Die Änderung der Sachschadenabrechnung in § 249 BGB wird zu zahlreichen Ungereimtheiten
bei der Abrechnung von Kraftfahrzeugschäden bei der
Versicherung führen. Dies gilt insbesondere für die Einbeziehung der 16-prozentigen Umsatzsteuer bei der Schadensberechnung. Darauf hat der ADAC in der Anhörung,
die wir in gründlicher Weise im Rechtsausschuss vorgenommen haben, hingewiesen. Im Übrigen trifft gerade
diese Regelung den kleinen Bürger ganz besonders, der
häufig unmittelbar nach dem Unfall noch nicht weiß, ob
er das Auto reparieren oder teilweise reparieren lassen
will oder ob er es verkaufen und sich vielleicht ein neues
Fahrzeug kaufen will. Die bisherige Abrechnung ist im
Grunde nicht auf größere Schwierigkeiten gestoßen
- auch nicht bei der Abwicklung -, sodass man sie durchaus hätte beibehalten können.
Meine Damen und Herren, wir werden auch den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen ablehnen.
({3})
Die Prüfung von Dokumentationspflichten hätten wir
nicht abgelehnt. Jedoch lehnen wir die Prüfung des Erfordernisses der ergänzenden Schaffung eines Haftungsfonds generell ab. Solche Haftungsfonds sind unter keinem Gesichtspunkt akzeptabel; denn dadurch finanzieren
die weißen Schafe die schwarzen Schafe der Branche.
Wer schadensbegründende Arzneimittel in den Verkehr
bringt, soll selber dafür haften. Im Übrigen bitte ich Sie,
unseren Änderungsanträgen zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Wir haben reizenden
Besuch auf der Besuchertribüne, meine Damen und Herren. Die Kornkönigin ist unter uns. Herzlich willkommen
bei uns im Deutschen Bundestag.
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von
der PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetzentwurf
will die Bundesregierung Haftungslücken schließen und
Gerechtigkeitsdefizite beseitigen. In der Tat werden wichtige Lücken geschlossen. Auch manches Gerechtigkeitsdefizit wird beseitigt, allerdings nicht, ohne neue Gerechtigkeitsprobleme entstehen zu lassen.
Es ist auf jeden Fall ein Fortschritt, dass das Schadensersatzrecht des BGB endlich novelliert wird. Das betrifft
zum Beispiel die Absenkung der Verantwortlichkeit von
Kindern bei der Teilnahme am Straßenverkehr und setzt
sich mit der Ausweitung des Schmerzensgeldanspruchs
fort. Der Ersatz des immateriellen Schadens bei Körperund Gesundheitsverletzungen und die Erhöhung der Haftungssummen bei Gefährdungshaftung gehören ebenso
dazu. Schließlich ist die Verbesserung der Rechtsstellung
der Geschädigten bei der Arzneimittelhaftung in diesem
Zusammenhang zu nennen.
Das Unternehmen ist also alles in allem im Interesse
der betroffenen Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich zu
begrüßen. Der Teufel liegt jedoch wie immer im Detail.
Ich begrüße sehr, dass es gelungen ist, den Opferschutz deutlich zu verbessern.
({0})
Dass auf die zunächst vorgesehene Bagatellgrenze für
Schmerzensgeld nunmehr verzichtet wurde und es der
Rechtsprechung überlassen bleiben soll, halte ich ebenfalls für vernünftig. Bedauerlich ist, dass der insbesondere
vom Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände vorgetragene Wunsch nach Einbeziehung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in die Aufzählung der geschützten Rechtsgüter nicht erfolgte. Gerade
hier gibt es bekanntlich ein verstärktes Rechtsschutzbedürfnis.
Begrüßenswert ist dagegen die Anhebung der Haftungshöchstgrenzen. Sie wird allerdings nicht in allen
Fällen zu befriedigenden Lösungen führen.
Beim Arzneimittelrecht sieht der Entwurf die Einführung eines Auskunftsanspruchs gegen Pharmaunternehmen, aber auch gegen Behörden vor. Durch ihn werden
die Möglichkeiten des Geschädigten, seinen Schadensersatzanspruch im Prozess durchzusetzen, klar erleichtert.
Aber es gibt weiter gehende Vorstellungen, die man nicht
als überzogen abtun sollte. Ein Haftungsfonds für Schadensfälle bei ungeklärter Kausalität für die Fälle, in denen
der Arzneimittelhersteller nicht mehr identifiziert werden
kann, sowie beim Fehlen einer Arzneimittelzulassung
bzw. Deckungsvorsorge wäre ebenfalls wichtig gewesen.
({1})
Auch die Haftungshöchstbeträge könnten durchaus höher
sein.
Wenn Kollegin Lambrecht in ihrer Rede zur ersten Lesung äußerte: „Es ist oft so, dass Dinge von großer Tragweite ohne die große Aufmerksamkeit stattfinden“, dann
hat sie sicherlich Recht. Aber ich habe im Zusammenhang
mit der Diskussion dieses Gesetzentwurfs die Erfahrung gemacht: Autofahrer merken alles und machen auch schnell
mobil. Das hat ein wenig genutzt. Dass der ursprünglich
vorgesehene vollständige Verzicht auf den Haftungsausschluss des „unabwendbaren Ereignisses“ und seine Ersetzung durch den Haftungsausschluss bei „höherer Gewalt“
nicht apodiktisch aufrechterhalten wurde, ist vernünftig.
Nun muss sich zeigen, wie die modifizierte Regelung
beim Schadensausgleich bei mehreren haftpflichtigen
Fahrzeughaltern wirken wird. Das gilt auch für die Unabwendbarkeitsdefinition.
Was noch übrig bleibt, ist die Einführung eines
Schmerzensgeldes für die verschuldungsunabhängige
Gefährdungshaftung. Wie schmerzhaft sich diese Regelung für die Autofahrer auswirkt, muss man abwarten. Finanzschwache Geschädigte werden im Einzelfall sowohl
den Autofahrer als auch die Verkehrsunternehmen belasten. Wie häufig das vorkommen wird und wie hoch die
Belastungen sein werden, wird sich zeigen. Da ich gegen
ungerechtfertigt hohe Belastungen bin, halte ich alsbald
einen Bericht für notwendig, aus dem man gegebenenfalls
die entsprechenden Konsequenzen ziehen kann.
Die Einschränkung der fiktiven Abrechnung bei KfzSchadensfällen durch Ausschluss des Ersatzes der fiktiven Umsatzsteuer lehne ich dagegen ab. Das bedeutet eine
Beschneidung der Dispositionsbefugnis der Betroffenen
und trifft letztlich vor allem finanzschwache Geschädigte.
Insofern unterstütze ich den diesbezüglichen Änderungsantrag der FDP.
Trotz meiner kritischen Anmerkungen zu bestimmten
Fragen befürwortet meine Fraktion den vorliegenden Gesetzentwurf; denn alles in allem verbessert er die gegenwärtige Rechtslage. In der nächsten Legislaturperiode
müssen wir jedoch nach einer rechtstatsächlichen Wirksamkeitsanalyse das Gesetz nochmals einer kritischen
Überprüfung unterziehen.
Danke.
({2})
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hartenbach.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrter Kollege Götzer, Sie haben vorhin zuerst vermutet, dass ich schlafe, dann aber festgestellt, dass
ich wachsam sei wie ein Luchs. Ich möchte mich bei Ihnen für dieses Kompliment bedanken und überreiche Ihnen deshalb die CD „Don Cato - Die Rückkehr des Luchses“.
({0})
Zum Abschluss der
Debatte hat das Wort die Kollegin Christine Lambrecht
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich werde versuchen, in ähnlich charmanter Weise wie Herr Hartenbach meine Rede
zu gestalten.
({0})
- Lassen Sie sich überraschen. Ich wäre mir an Ihrer Stelle
nicht so sicher, ob ich das schaffen kann.
Lassen Sie mich gleich zu Beginn meiner Rede etwas
zu den Änderungsanträgen der FDP sagen. Herr Funke,
Sie haben kritisiert, dass bei der Regulierung eines Schadens, der aufgrund eines Gutachtens, aber ohne tatsächliche Reparatur erfolgt, die Umsatzsteuer nicht mehr erstattet werden solle. Noch einmal zur Klarstellung: Wenn
jemand seinen Unfallschaden in einer Werkstatt reparieren lässt und zusätzlich zu den Reparaturkosten die
16-prozentige Umsatzsteuer zahlen muss, dann bekommt er auch nach der Novellierung des jetzt geltenden
Gesetzes die Umsatzsteuer erstattet. Ich halte es aber nur
für logisch, dass jemandem, der eine Reparatur nicht ausführen lässt und demnach auch keine Umsatzsteuer zahlt,
keine Umsatzsteuer erstattet wird. Das entspricht dem
Prinzip der Naturalrestitution, wonach keine Überkompensation erfolgen darf, das heißt, man darf nicht besser
gestellt werden als vor dem Schaden.
Im Übrigen finde ich es sehr dreist, dass Sie in diesem
Zusammenhang in Ihren Änderungsanträgen ausgerechnet
auf die so genannten freien Reparaturwerkstätten hinweisen und behaupten, dass diese nun benachteiligt würden.
Ich finde, das ist beinahe schon rufschädigend für diese
Art der Werkstätten. Ich sage Ihnen: Eine freie Werkstatt,
die die Arbeiten sauber und ordentlich durchführt, steht
einer an einen Autohersteller gebundenen Werkstatt in
nichts nach.
Ich möchte Ihnen aus meinem kurzen Leben ein Beispiel geben: Ich habe während meines Jurastudiums an
der Kasse einer Tankstelle gejobbt, an die eine freie Reparaturwerkstatt angeschlossen war. Mein damaliger
Chef hat die Reparatur- und Wartungsarbeiten, die TÜVVorbereitungsarbeiten und die ASU-Untersuchungen immer zur vollsten Zufriedenheit seiner Kunden durchgeführt. Wenn einer seiner Kunden einen bei einem
Verkehrsunfall entstandenen Schaden hatte, dann brachte
er sein Auto zur Reparatur in diese Werkstatt. Mein damaliger Chef hatte überhaupt keine Probleme, ganz normal, also inklusive Mehrwertsteuer, abzurechnen. Die
Schadensregulierung hat also mit der Frage der Umsatzsteuer nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Dass Sie das wissen und dass Sie von dem, was Sie in
Ihren Änderungsanträgen fordern, gar nicht überzeugt
sind, zeigt ein Gesetzentwurf aus der 13. Legislaturperiode. In der letzten Legislaturperiode hat nämlich die FDP
den Justizminister gestellt. Interessanterweise waren ausgerechnet Sie, Herr Funke, damals Parlamentarischer
Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz.
({1})
Aus dem damaligen Justizministerium kam damals ein
Gesetzentwurf, der Folgendes vorsah - gestatten Sie, dass
ich zitiere -:
Bei der Beschädigung einer Sache beläuft sich der
Geldbetrag auf die nachgewiesenen Kosten der Reparatur. Soweit der Geschädigte auf die Wiederherstellung durch einen gewerblichen Betrieb verzichtet,
bleiben die in dem Betrag enthaltenen öffentlichen
Abgaben bei der Feststellung des Schadensersatzes
außer Ansatz.
Das heißt, Sie gingen sogar noch einen Schritt weiter. Sie
haben nicht nur gesagt, dass die Umsatzsteuer nicht erstattet wird, sondern dass auch die öffentlichen Abgaben,
sprich: die Sozialabgaben, nicht erstattet werden.
({2})
- Ich finde das schon sehr dreist. Sie haben Recht. - In der
Begründung heißt es:
Der Geschädigte kann auch wie bisher auf eine Reparatur ganz verzichten oder die beschädigte Sache
in sonstiger Weise wiederherstellen.
Für den Geschädigten ist
- trotz der Einschränkung, dass ihm die öffentlichen Abgaben nicht erstattet werden sichergestellt,
- das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen dass er grundsätzlich weiterhin den vollen Ersatz seines Schadens erhält. Allerdings muss er nun eine
Entscheidung treffen, welche der beiden Alternativen für ihn vorteilhaft ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Funke?
Nein. Herr Funke und
ich haben unsere Argumente im Rechtsausschuss bereits
ausgetauscht. Darauf komme ich gleich zu sprechen.
In Ihrem Entwurf von 1998 gingen Sie viel weiter, als
wir das nun tun. Jetzt kritisieren Sie das Ganze. Ich weiß
nicht genau, was ich davon halten soll.
({0})
Ich weiß nicht, wie die Bürgerinnen und Bürger Ihre Position in diesem Zusammenhang einschätzen. Vielleicht
war der Gesetzentwurf von 1998 gar nicht ernst gemeint,
das heißt, er entsprach gar nicht Ihrer Position, obwohl er
aus Ihrem Hause kam.
({1})
Wir werden diesen Antrag ablehnen. Was Sie vorgetragen
haben, ist nicht sonderlich glaubwürdig. Ähnlich verhält
es sich mit Ihrem zweiten Änderungsantrag, in dem Sie
einen Auskunftsanspruch auf Gegenseitigkeit im Arzneimittelrecht fordern.
Einen Schwerpunkt des heute zu verabschiedenden
Gesetzentwurfs bildet die Beseitigung von Haftungslücken bei Arzneimittelschäden. Seit dem Skandal um
aidsverseuchte Blutprodukte zu Beginn der 90er-Jahre
besteht Einigkeit, dass der Schutz geschädigter
Arzneimittelanwender dringend verbessert werden muss.
Die Koalition bringt die seit zwei Legislaturperioden andauernde Diskussion über die notwendigen Änderungen
im Arzneimittelgesetz endlich zum Abschluss.
({2})
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des 3. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zu den
HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte wird die
haftungsrechtliche Position des Arzneimittelanwenders
durch mehrere Neuregelungen konsequent gestärkt. Es
wird ein Auskunftsanspruch des Geschädigten eingeführt,
der sich gegen die pharmazeutischen Unternehmen richtet, aber auch gegen die für die Zulassung und Überwachung des Arzneimittels zuständige Behörde. Eine Reihe
von Beweiserleichterungen, wie eine dem Umwelthaftungsgesetz nachgebildete Kausalitätsvermutung, trägt
der besonders schwierigen Beweissituation des geschädigten Anwenders Rechnung. Jetzt ist ausreichend, dass
der Geschädigte im Einzelfall die Schadensgeeignetheit
des Arzneimittels darlegt. Es liegt in den Händen des Herstellers, dies zu widerlegen. Dass dies jetzt im Interesse
der Anwender leichter möglich ist, ist Folge des eingeführten Auskunftsanspruchs des Arnzeimittelanwenders.
Sie, meine Damen und Herren der FDP, wollen, dass
dies ein Anspruch auf Gegenseitigkeit ist, das heißt, er soll
im gleichen Umfang auch den Arzneimittelherstellern gegenüber den Verbrauchern zustehen. Das verwundert
schon. Sie übersehen offensichtlich völlig, dass im Rahmen einer Schadensersatzklage wegen einer Schädigung,
etwa durch ein Medikament, der Geschädigte schon durch
die Vorlage der erforderlichen Krankenakten einen weit
gehenden Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte zulassen
muss. Das wollen Sie noch mehr ausweiten, egal, ob die
erlangte Information etwas mit dem konkreten Fall zu tun
hat oder nicht.
Wenn ich mir den besagten Entwurf aus der letzten Legislaturperiode anschaue, dann muss ich feststellen, dass
Sie dort ebenfalls einen Auskunftsanspruch des Geschädigten vorgesehen haben, wenn auch in modifizierter
Form, jedoch keine Gegenseitigkeit. Es gilt das bereits
Gesagte: In Ihren Änderungsanträgen fordern Sie etwas,
was von Ihnen selbst nicht vorgesehen war. Das spricht
nicht für eine glaubwürdige Politik und ist bei einem so
wichtigen Gesetz wie dem vorliegenden nicht angebracht.
Lassen Sie mich jetzt noch etwas zu dem Entschließungsantrag sagen, der Ihnen vorliegt. Sämtliche Verbesserungen sind gut und schön; aber es muss auch beobachtet werden, ob sie sich in der Realität, das heißt in der
Praxis, durchsetzen lassen. Aus diesem Grunde wollen
wir Bericht darüber bekommen, inwieweit die Dokumentation so erfolgt, dass diese Rechte auch durchgesetzt werden können.
Darüber hinaus wollen wir nach drei Jahren einen Bericht darüber vorgelegt bekommen, wie sich die Änderungen der schadensersatzrechtlichen Vorschriften ausgewirkt haben. Das entspricht bei weitem nicht der
Forderung nach einem Fonds, Herr Funke. Auch ich als
Jurist weiß, dass es keinen Fonds als Auffangtatbestand
geben kann und geben wird. Aber es muss ja wohl gestattet sein, zu schauen, ob sich das, was wir heute beschließen, in der Realität bewährt oder ob in dem einen
oder anderen Punkt noch eine Veränderung erforderlich
ist.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem zentralen
Ansatz der Neuregelung des Schadensersatzrechts kommen, dem verbesserten rechtlichen Schutz der Kinder
im Straßenverkehr. Mich hat die Medienberichterstattung zu diesem Thema - das muss ich zugeben - zum Teil
schon sehr verwundert. Offensichtlich trägt man in einigen Medien der Tatsache Rechnung, dass der größte Teil
der Leser bzw. der Zuschauer Autofahrer sind. Ein großer
Teil sind aber auch Eltern. Der Blick unserer Politik auf
die Welt sollte nicht der Blick durch die Frontscheibe
eines Autos sein.
({3})
Unser Blick bezieht vielmehr alle Verkehrsteilnehmer
mit ein. Wir wissen, dass Kinder aufgrund ihrer Statur und
ihres Wahrnehmungsvermögens im Straßenverkehr benachteiligt und besonders gefährdet sind. Dies bestätigen
die Zahlen von Verkehrsunfällen, an denen Kinder beteiligt sind. In meinem Wahlkreis - Bergstraße - wurden im
Jahr 2001 1 640 Menschen im Straßenverkehr verletzt.
Davon waren 123 unter 15 Jahren. Zwei in der Altersgruppe kamen bedauerlicherweise sogar zu Tode. Das
macht deutlich: Kinder sind im Straßenverkehr besonders
gefährdet und bedürfen eines besonderen Schutzes.
Diesem Umstand tragen wir jetzt Rechnung. Es gilt inzwischen als erwiesen, dass Kinder aufgrund ihrer physischen und psychischen Fähigkeiten frühestens ab Vollendung des 10. Lebensjahres imstande sind, die besonderen
Gefahren des Straßenverkehrs zu erkennen und sich dann
auch dementsprechend zu verhalten. Das Gesetz zieht
daraus die notwendigen Konsequenzen für das Haftungsrecht. Die Haftung von Kindern vor Vollendung des 10. Lebensjahres wird nunmehr ausgeschlossen. Nur zur Klarstellung, damit hier nichts, wie in manchen Medien, in den
falschen Hals gerät: Hiervon werden keine Vorsatztaten erfasst. Das heißt, das Werfen von Kanaldeckeln auf Autobahnen oder andere Straßen führt selbstverständlich auch
weiterhin zur Haftung. Das wird von dieser Novellierung
nicht berührt.
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum
Schluss. - Lassen Sie mich noch den Dank an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechtsausschuss aussprechen. Wir haben dort in sehr sachlicher Weise über die
Novellierung beraten.
({0})
Mein Dank geht ganz besonders an die Vertreter des Justizministeriums, allen voran an die Frau Ministerin, die
heute krankheitsbedingt nicht dabei sein kann, an den Parlamentarischen Staatssekretär nicht minder, aber ganz besonders an die Mitarbeiter, die keine Mühen gescheut haben, um uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Dass ein guter Gesetzentwurf zustande gekommen ist,
der im Großen und Ganzen aus dem Wahlkampfgetöse
herausgehalten werden konnte, sieht man am Abstimmungsergebnis im Rechtsausschuss. Alle vertretenen Parteien - außer der FDP - haben zugestimmt. Zur Glaubwürdigkeit Ihrer Position, meine Kolleginnen und
Kollegen der FDP, habe ich schon einiges ausgeführt. Ich
kann Sie im Interesse der Sache nur auffordern, dieser
sinnvollen und dringend notwendigen Novellierung heute
hier zuzustimmen.
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Funke das Wort.
({0})
Frau Kollegin Lambrecht, Sie
haben in diese Diskussion jetzt doch ein bisschen Schärfe
hineingebracht.
({0})
- Nein, das kann ich gar nicht; das wissen Sie auch. - Sie
sollten sich nicht nur auf Ihre sehr klugen juristischen
Ausführungen beschränken, sondern sich auch einmal die
politische Situation in der letzten Legislaturperiode vergegenwärtigen. Es hatte zuvor einen Untersuchungsausschuss gegeben. Da sind Emotionen entstanden, auch bei
Kollegen der CDU beispielsweise. Sie haben hinsichtlich
des Arzneimittelrechts einen dringenden Änderungsbedarf geltend gemacht. Das Justizministerium ist natürlich
auch Dienstleister. Insoweit ist in diesem Dienstleistungsbereich ein Gesetzentwurf entstanden, den Sie ja zitiert
haben. Aber dass man politisch nicht immer hinter diesen
Gesetzen gestanden hat, können Sie sich vielleicht vorstellen.
({1})
Dass wir dieses Gesetz nicht wollten, habe ich immer
deutlich gemacht, auch in den Beratungen.
({2})
Dass es nicht zu diesem Gesetz gekommen ist, haben wir
sicherlich mit zu vertreten gehabt.
Nun darf die Kollegin
Lambrecht antworten.
Ich habe Sie dann recht
verstanden, Herr Funke, dass Sie, wie ich es in meiner
Rede auch schon ausgeführt habe, als Parlamentarischer
Staatssekretär im Justizministerium, das von einem FDPMinister geleitet wurde, einen Gesetzentwurf vorgelegt
hatten, der zu keinem Zeitpunkt von Ihnen ernst gemeint
war. Das war also lediglich weiße Salbe, gefühlvoll verabreicht für die verängstigten und emotional aufgeregten
Kollegen der CDU/CSU. - Das ist das Fazit, das ich jetzt
aus Ihrem Redebeitrag ziehe.
Vielen Dank.
({0})
Nun schließe ich die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften, Drucksachen 14/7752 und 14/8780. Es liegen Änderungsanträge
vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 14/8797? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen
der FDP, bei Enthaltung der CDU/CSU mit den Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen, SPD und PDS abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 14/8798? - Gegenprobe! - Der Antrag ist abgelehnt.
({0})
- Das Präsidium ist sich einig.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der
FDP ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung und
damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen
der FDP in dritter Lesung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8799. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung von CDU/CSU ist der Entschließungsantrag angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlJosef Laumann, Brigitte Baumeister, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Arbeitsrecht flexibilisieren - Beschäftigung
schaffen
- Drucksache 14/8267 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das ist jetzt
so beschlossen.
({2})
- Ich lese einmal die vereinbarte Redezeiten vor. Vielleicht können sich die Geschäftsführer darauf einigen:
CDU/CSU sieben Minuten, SPD sieben Minuten, Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten, FDP fünf Minuten und
PDS fünf Minuten.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Karl-Josef Laumann. Bitte sehr.
({3})
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren
heute den von der Union eingebrachten Antrag mit dem
Titel „Arbeitsrecht flexibilisieren - Beschäftigung schaffen“. Wir haben in unserem Antrag eine Reihe von Vorschlägen zur Reform des Arbeitsrechts gemacht, von der
Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit über
eine Lockerung der Arbeitnehmerüberlassung bis hin zur
Erleichterung befristeter Arbeitsverhältnisse. In dem Antrag wird deutlich aufgezeigt, worin die Unterschiede
zwischen SPD und Union liegen: Nicht in der weiteren
Zementierung des Arbeitsrechts liegt die Lösung der Beschäftigungskrise, sondern in einem modernen, an den
betrieblichen Erfordernissen orientierten Arbeitsrecht.
Die Bundesregierung hat auf dem Gebiet der beschäftigungsorientierten Flexibilisierung des Arbeitsrechts völlig versagt. Die seit Regierungsantritt vom Arbeitsminister durchgeführten Reformen waren nicht auf ein Mehr an
Beschäftigung gerichtet, sondern haben die ohnehin starren arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen noch verhärtet. Das Ergebnis liegt auf der Hand: eine konstant hohe
Arbeitslosigkeit trotz demographischer Entlastung, ein
Rekordniveau bei den Insolvenzen und steigende Sozialversicherungsbeiträge.
Der zum 1. Januar 2001 eingeführte Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit hat in der betrieblichen Praxis zu vielfältigen Problemen geführt. Die unterschiedlichen Entscheidungen der Arbeitsgerichte sind Beleg hierfür. So
wundert es nicht, wenn Fachanwälte für Arbeitsrecht zusammenfassend feststellen:
Bis hier das Bundesarbeitsgericht Klarheit geschaffen hat, scheint die Umsetzung des Teilzeitanspruches in jeder Hinsicht unkalkulierbar.
So zu lesen in der „FAZ“ am 6. April dieses Jahres.
So schreibt auch der Sachverständigenrat in seinem
Gutachten:
Die anderen in diesem Jahr vorgenommenen gesetzlichen Änderungen sind für die Flexibilität eindeutig
kontraproduktiv.
Und weiter heißt es:
Demnach hat das Gesetz beschäftigungshemmende
Effekte für teilzeitinteressierte Arbeitnehmer.
Hätten Sie auf die Fachleute wirklich gehört, hätten Sie
ein solches Gesetz nicht verabschiedet. So hat der
63. Deutsche Juristentag im September 2000 vor einem
wie dem von Ihnen verabschiedeten Gesetz gewarnt und
klar festgestellt: „Ein Teilzeitanspruch für alle Arbeitnehmer darf nicht begründet werden.“
Die Regierung hat auch die Forderungen des Sachverständigenrats nach Flexibilisierung des Arbeitsrechts
ignoriert. Unter der Überschrift „Wo der Gesetzgeber gefragt ist“ fordert der Sachverständigenrat - wie auch die
Union -, endlich eine Modifikation des Günstigkeitsprinzips innerhalb des Tarifvertragsgesetzes vorzunehmen, um betriebliche Bündnisse für Arbeit auf eine rechtlich einwandfreie Grundlage zu stellen.
Dabei geht es nicht, wie von Ihnen immer wieder behauptet, um die Abschaffung der Tarifautonomie. Vielmehr geht es darum, die ohnehin gängige Praxis endlich
abzusichern. Jeder von uns kennt doch Betriebe, in denen
Unternehmensführung, Betriebsrat und die Beschäftigten
sich auf Entgelt- oder Arbeitszeitregelungen verständigt
haben, die am geltenden Tarifvertrag vorbeigehen, aber
letztlich den Bestand des Betriebes und damit die Arbeitsplätze sichern. Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dulden diese Tarifabweichungen in aller Regel,
weil es ihnen um die Sicherung von Arbeitsplätzen geht.
Ich meine, hier darf man nicht wegschauen, sondern
muss sich zu diesen Bemühungen der Betriebspartner klar
bekennen und die rechtlichen Rahmenbedingungen für
betriebliche Bündnisse für Arbeit schaffen. Die gesetzgeberische Umsetzung scheitert in diesem Haus allein an
den Strukturkonservativen in der SPD. Union, FDP und
auch die Grünen dagegen wollen die betrieblichen Bündnisse für Arbeit auf eine sichere Rechtsgrundlage stellen. Allein die SPD-Ideologen verhindern durch ihren Widerstand,
dass in vielen Fällen Arbeitsplätze gerettet werden könnten.
({0})
Als Ergebnis dieser Politik des Nichtstuns steigt stattdessen die Zahl der Insolvenzen auf ein Rekordniveau.
Nicht nur die Wirtschaftssachverständigen haben die
Beschäftigungspolitik in Deutschland stark kritisiert, sondern auch die Europäische Union. So hat die Europäische
Kommission am 12. September 2001 Deutschland ein besonders schlechtes Zeugnis ausgestellt. Dort heißt es,
Deutschland müsse Arbeitsverträge und Arbeitsorganisation flexibilisieren.
Der Bundeskanzler wartet dagegen nur auf die konjunkturelle Erholung. Abwarten allein aber wird die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht lösen. Reformen müssen endlich her, um den Arbeit Suchenden wieder neue
Perspektiven zu geben. Das Fazit ist klar: Deutschland
braucht einen flexibleren Arbeitsmarkt für mehr Beschäftigung. Mit der jetzigen Bundesregierung war dies und
wird dies auch in Zukunft leider nicht zu schaffen sein.
Heute diskutieren wir das erste Mal über unseren Antrag. Da nicht mehr so viele Themen im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung auf der Tagesordnung stehen,
würde ich mir schon wünschen, dass unser Antrag und damit unsere konkreten Vorschläge dort einmal Punkt für
Punkt unideologisch diskutiert werden.
({1})
Ich habe in meiner Rede mit vielen Beispielen aus der
Fachwelt und aus der Politik sowie mit Stellungnahmen
von unabhängigen Sachverständigenkommissionen deutlich gemacht - das wird uns schon seit Jahren gesagt -,
was in diesem Bereich zu tun ist.
Da ich weiß, dass man mit diesem Thema große Emotionen wecken kann,
({2})
würde es dem Arbeitsmarkt dienen und sicherlich auch
die Politik auszeichnen, wenn wir wenige Monate vor der
Wahl einmal unideologisch über solche schwierigen Fragen miteinander reden könnten.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat nun der
Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Laumann, Ihr Antrag trägt den Titel „Arbeitsrecht
flexibilisieren - Beschäftigung schaffen“. Ich bin wirklich davon beeindruckt,
({0})
dass Sie sich einen solch schönen Titel für Ihren unsäglichen Antrag ausgedacht haben.
Flexibilisieren ist ja eines von den derzeit so beliebten
Modezauberwörtern; alles muss flexibel sein. Wenigstens
mit dem Titel Ihres Antrages liegen Sie voll im Trend.
Aber mit dem Inhalt, der sich dahinter verbirgt, befinden
Sie sich auf der Gegenfahrbahn.
({1})
Jeder von uns weiß: Wer sich auf der Gegenfahrbahn befindet, der kommt nicht vorwärts. Er muss zurückrudern.
({2})
Für Sie gilt die simple Gleichung: je weniger Arbeitsrecht, desto mehr Beschäftigung. Diese Auffassung ist absurd. Tatsächlich besteht kein nachgewiesener Zusammenhang zwischen dem Arbeitsrecht und der Höhe der
Arbeitslosigkeit.
({3})
Das zeigt auch ein vergleichender Blick auf Europa.
Selbst die OECD, gewiss eine eher wirtschaftsfreundliche
internationale Institution, kommt in ihrer Analyse zu dem
Schluss, dass ein solcher Zusammenhang empirisch nicht
nachweisbar ist.
Der Abbau von Arbeitsrechten während Ihrer Regierungszeit hat jedenfalls nicht zu mehr, sondern zu weniger Beschäftigung geführt. Zur Erinnerung und um Ihnen
einen Spiegel vorzuhalten, will ich Ihnen folgende Zahlen
nennen: 1996 - das war das Jahr, in dem Sie das grausame
Sparpaket beschlossen haben - hatten wir 3,96 Millionen
Arbeitslose. Nachdem Ihre gesetzlichen Maßnahmen zur
Deregulierung griffen, hatten wir 1997 im Jahresdurchschnitt 4,38 Millionen Arbeitslose. Die Auffassung, dass
der Abbau von Schutzrechten zu mehr Beschäftigung
führt, ist damit eindeutig widerlegt.
({4})
Genau das Gegenteil tritt ein.
Ich war im Übrigen nicht nur beeindruckt, sondern
auch ein wenig überrascht angesichts des so sorgsam formulierten Titels Ihres Antrages. Ansonsten sind Sie von
der Opposition nicht so wählerisch in Ihrer Wortwahl.
Herr Stoiber und Frau Merkel sprechen immer gern davon, dass der Arbeitsmarkt und das Arbeitsrecht „entrümpelt“, „entriegelt“ oder „entfesselt“ werden müssten.
({5})
Sie tun gerade so, als hätten wir den Arbeitsmarkt geknebelt. Das ist ein ungeheuerlicher Vorwurf. Wir haben die
Schutzrechte der Arbeitnehmer verbessert und wir haben
da, wo es notwendig war, den Missbrauch eingeschränkt.
Wir haben Ihre sozialen Versäumnisse aufgearbeitet und
Fehlentwicklungen korrigiert.
({6})
Mich wundert in diesem Zusammenhang, dass gerade die
Sozialpolitiker in den Reihen der CDU/CSU das noch nicht
gemerkt haben. Man sieht, wie tief Sie gesunken sind.
Ein ganz wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist
das Teilzeit- und Befristungsgesetz. Mit dem Gesetz
über Teilzeit und befristete Arbeitsverträge haben wir einen effektiven Beitrag zum Beschäftigungsaufbau und
zur Beschäftigungssicherung geleistet. Wir haben damit
zwei Missstände beseitigt: erstens den Mangel an Teilzeitarbeitsplätzen und zweitens den Missbrauch von befristeten Arbeitsverträgen.
({7})
Es war gut und richtig, die Dauerbefristungen abzuschaffen. Dauerbefristungen und die Umgehung des Kündigungsschutzes haben nie zu unbefristeten Arbeitsverträgen,
sondern zur Rechtlosigkeit von Arbeitnehmern geführt.
Dort, wo eine Befristung wirklich zur Beschäftigung
beiträgt, haben wir sie erhalten und sogar ausgedehnt. Für
Arbeitnehmer ab dem 58. Lebensjahr sind befristete Einstellungen weiterhin dauerhaft möglich. Dies hält den Zugang zum Arbeitsmarkt lange offen und verbessert die
Einstiegschancen - und das übrigens mit Erfolg: In den
letzten drei Jahren, in denen wir die Regierungsverantwortung hatten, ist die Arbeitslosigkeit der über 55-Jährigen um 250 000 gesunken. Das belegt, dass unsere Politik richtig ist und auf dem Arbeitsmarkt wirkt.
({8})
Der Teilzeitanspruch war unsere Antwort auf das steigende Bedürfnis nach Teilzeitarbeit. Das ist wahre Flexibilisierung! In statistischen Erhebungen ist nachgewiesen
worden, dass Arbeitnehmer zunehmend den Wunsch nach
Teilzeitarbeit haben. Wir haben das gesetzlich möglich
gemacht. Sie können das zum Beispiel an den Zahlen des
Mikrozensus für Baden-Württemberg, der im Jahr 2001
veröffentlicht worden ist, nachlesen. Von 1980 bis 2001
ist dort die Teilzeitquote von 14 auf 24 Prozent gestiegen.
Fast jede zweite weibliche Beschäftigte, 47 Prozent, arbeitet in Teilzeit. Ein besonders sprunghafter Anstieg der
Teilzeitbeschäftigung ist in dem Bereich der bis zu 21 Wochenstunden Beschäftigten erfolgt. Die Zahl der BeschäfKarl-Josef Laumann
tigten, die bis zu 15 Stunden arbeiten, hat sich von 1990
bis heute mehr als verdoppelt.
({9})
Aus den bisherigen Erfahrungen in der Praxis wissen wir,
dass der Teilzeitanspruch flexibel und praktikabel ist. Die
Behauptung der CDU/CSU, das neue Gesetz verhindere
Jobs, ist schlichtweg falsch und wurde durch diese Zahlen
nachdrücklich widerlegt.
({10})
Wenn man den uns heute vorliegenden Antrag genau
liest, dann wird leider deutlich, was Sie tatsächlich wollen: Es geht Ihnen nicht um eine Flexibilisierung, sondern
darum, den Arbeitnehmern Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten wegzunehmen. Da hilft es auch nicht, dass der
Kanzlerkandidat mit wolkigen Aussagen durch das Land
reist und verkündet, er wolle auf die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zugehen. Damit will der bayerische
Ministerpräsident nur von seiner wahren Politik ablenken.
Denn hier wird schwarz auf weiß offenbar, was die
CDU/CSU eigentlich im Schilde führt: Sie wollen nicht
nur die Rechte zum Schutz der Arbeitnehmer beschneiden, sondern gleichzeitig auch die Mitbestimmung wieder
einschränken, weil sie angeblich zu teuer ist.
Was haben Sie eigentlich gegen mehr Teilhabe, gegen
mehr Demokratie in den Betrieben? Mit der Reduzierung
der Mitbestimmung nehmen Sie den Arbeitnehmern die
Möglichkeit, an der Sicherung und dem Erhalt der Beschäftigung selber mitzuwirken. Dabei ist das Kostenargument nur vorgeschoben. Die zusätzlichen Kosten werden nämlich durch eine kompetente und qualifizierte
Arbeit der Betriebsräte wettgemacht.
Das, was hingegen Sie in Ihrem Antrag vorschlagen,
grenzt an einen Missbrauch der Betriebsräte. Kollege
Laumann hat es gerade deutlich gemacht: Sie wollen, dass
die Betriebsräte Vereinbarungen treffen, die die Tarifverträge unterlaufen. Das ist ein Angriff auf die Tarifautonomie.
({11})
Das gilt, eindeutig gesagt, auch für die Vorschläge zum Tarifvertragsgesetz, die Sie hier formuliert haben. Tarifverträge, die nicht verbindlich sind, sind nämlich nichts wert.
({12})
Die Tarifverträge und die Tarifpolitik in Deutschland
sind flexibel. Da Sie der Sozialdemokratischen Partei in
diesem Zusammenhang Ideologie unterstellen, muss ich
Ihnen sagen: Ideologie führen Sie ein, weil Sie einseitig
Arbeitgeberinteressen formulieren. So plappern Sie in
Ihrem Antrag von Punkt 1 bis zum Schluss nur die politischen Forderungen nach, die die Arbeitgeber in diesem
Land vorher formuliert haben. Von Arbeitnehmerorganisationen, von Gewerkschaften, findet man in Ihrem Antrag nicht ein Wort. Das zeigt, welche Positionierung Sie
in diesem Lande eingenommen haben.
({13})
Die Tarifverträge, die gerade bei VW abgeschlossen
worden sind, zeigen, dass die Gewerkschaften keine Prinzipienreiter sind, sondern nach vorne marschieren, wenn
es um die Beschäftigten, um Neueinstellungen und die
Nutzung neuer Chancen geht.
Die Union ist in diesem Fall aus meiner Sicht auf einem Holzweg. Sie unterschätzt nämlich die Wähler. Die
lassen sich nichts vormachen. Das zeigt sehr eindrucksvoll die letzte Forsa-Umfrage.
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme sofort zum
Schluss. - Der Unionskanzlerkandidat verliert nämlich
durch diese Politik bei den Bürgern - auch bei den Managern - deutlich an Zustimmung.
({0})
AP meldet: Kanzlerkandidat Stoiber im Stimmungstief.
({1})
Die Popularität von Kanzlerkandidat Edmund Stoiber ist
einer Umfrage zufolge stark gesunken. Nur 29 Prozent der
Deutschen würden den CDU/CSU-Kandidaten derzeit direkt zum Bundeskanzler wählen - 6 Prozent weniger als
in der Vorwoche.
Das ist das Ergebnis einer Politik, mit der Sie den Arbeitnehmern vorgaukeln wollen, Sie wollten für sie mehr
Beschäftigung erreichen; tatsächlich wollen Sie ihre
Rechte abbauen. Das können Sie mit Sozialdemokraten
nicht machen. Wir stehen für die Arbeitnehmerrechte. Wir
werden dafür auch weiterhin eintreten und erfolgreiche
Beschäftigungspolitik betreiben.
({2})
Nun hat der Kollege
Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es geht, Herr Kollege
Brandner, anders als Sie hier vorgetragen haben, eben
nicht darum, Rechte zu mindern oder gar zu beseitigen.
Vielmehr geht es uns darum - das nehme ich für uns in
Anspruch -, die Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze
in Deutschland zu schaffen.
({0})
Den Kollegen von der Unionsfraktion muss man Recht
geben, wenn sie in ihrem Antrag schreiben:
Die Bundesregierung hat auf dem Gebiet der beschäftigungsorientierten Flexibilisierung des Arbeitsrechts versagt.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Ich habe Ihnen, Herr Brandner, in den letzten dreieinhalb Jahren in fast jeder Debatte zum Thema Arbeitsrecht
Ihre Sündenfälle vorgetragen - ob es um das 630-MarkGesetz, um Scheinselbstständigkeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitarbeit, Reform der Betriebsverfassung
oder die völlig verkorkste Neuregelung des Betriebsübergangs in § 613 a BGB ging.
({1})
All das hat leider nicht gefruchtet. Vielmehr hat die rotgrüne Bundesregierung entgegen dem Rat aller Sachverständigen weiter reglementiert, den deutschen Arbeitsmarkt weiter „verriestert“ und verrammelt. Damit haben
Sie das Gegenteil von dem erreicht, was eigentlich das
Ziel sein sollte, nämlich mehr Beschäftigung.
({2})
Letztendlich, Herr Brandner - ich will es Ihnen noch
einmal erklären -, sind Empirie und Wissenschaft an der
Stelle gar nicht so ausschlaggebend. Die Frage ist: Wie
empfinden die Menschen, die in Deutschland über Beschäftigung entscheiden, also diejenigen, die konkret einen Arbeitsplatz anbieten - oder auch nicht -, die Regelungen, die Sie geschaffen haben? Hier muss man sagen:
Ihre Regelungen sind deutlich kontraproduktiv. Insbesondere dem Mittelstand steht zunehmend die Regelungsdichte, die er von Ihnen auferlegt bekommt, bis zum Hals.
Das führt dazu, dass Beschäftigungsdynamik nicht stattfindet.
({3})
Wenn Sie, Herr Brandner, aber nicht bereit sind, das
aus dem Mund eines mittelständischen Unternehmers entgegenzunehmen, dann muss ich doch einmal aus den Gutachten des Sachverständigenrates zitieren. Zum Rechtsanspruch auf Teilzeit - dazu hat Herr Kollege Laumann
auch schon zitiert - heißt es dort:
Demnach hat das Gesetz beschäftigungshemmende
Effekte für teilzeitinteressierte Arbeitnehmer.
Das sagt Ihr Sachverständigenrat! - Zur Einschränkung
der Befristungsmöglichkeiten heißt es dort:
Auf diese Weise wird die Nachfrage nach Arbeitnehmern reduziert.
Auch das schreibt Ihr Sachverständigenrat! - Zur so genannten Reform der Betriebsverfassung heißt es:
Zu befürchten ist, dass die inhaltliche Erweiterung
der Mitbestimmung in den unternehmerischen
Handlungsspielraum eingreift, die Betriebsabläufe
komplizierter macht und damit der notwendigen Flexibilität bei den betrieblichen Entscheidungsprozessen entgegenwirkt.
Daran sehen Sie doch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün: Es hat eine Ursache, dass Sie nach dreieinhalb Jahren mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik gescheitert
sind
({4})
und dass wir, anders als alle anderen Länder in Europa, im
letzten Aufschwung eben nicht die Arbeitslosigkeit reduziert haben. Sie haben im Vergleich die schlechteste Arbeitsmarktbilanz in ganz Europa. Sie haben die Chance
vertan, Strukturreformen durchzusetzen. Im Bündnis für
Arbeit wurde zwar groß debattiert,
({5})
aber der entsprechende Benchmarkingbericht durfte gar
nicht veröffentlicht werden, weil Empfehlungen geäußert
wurden, die konträr zu Ihrer Politik im Deutschen Bundestag standen.
({6})
Herr Kollege Laumann hat ja gesagt, mit diesem Antrag würden die Unterschiede zwischen CDU/CSU und
SPD deutlich. Ich will hier klar sagen: Mit dem vorliegenden Antrag, Herr Laumann, werden auch die Unterschiede zwischen CDU/CSU und FDP sehr deutlich. Wir
teilen mit Ihnen die Analyse des heute zu debattierenden
Antrages. Bei den Lösungen sind wir dann aber im Detail
doch etwas konkreter. Um es umgekehrt zu sagen: Ich
finde Ihre Lösungsvorschläge oft zu bescheiden, zu zaghaft und zu wenig entschlossen.
({7})
So wollen Sie, ausgehend von dem Bekenntnis zur
Tarifautonomie die „Möglichkeiten tarifdispositiver
Rechtsvorschriften genutzt, aber auch, um tarifdispositive
Regelungen erweitert“ sehen.
({8})
Schön gesagt, aber welche? Mit diesen Leerformeln können wir nichts anfangen. Sie wollen den Spielraum für betriebliche Bündnisse für Arbeit erweitern, indem Sie Lohn
und Arbeitszeit in den Günstigkeitsvergleich einbeziehen.
Der Knackpunkt aber ist: Den Tarifvertragsparteien soll
ein begründetes Vetorecht verbleiben. Dazu muss ich Ihnen sagen: Da fallen Sie hinter frühere Einsichten zurück.
Das haben wir doch in der Debatte anlässlich unseres Gesetzentwurfs zur Legalisierung betrieblicher Bündnisse
für Arbeit schon gehabt und damals haben Sie in namentlicher Abstimmung einem Entwurf ohne ein solches Vetorecht zugestimmt. Warum gehen Sie hinter diese Forderung zurück?
Lassen Sie eine Frage
des Kollegen Laumann zu?
Sehr gern.
Bitte sehr, Herr Kollege Laumann, Sie dürfen eine Frage stellen.
Herr Kollege
Kolb, mir ist wichtig, hier festzustellen, dass ich anlässlich der Debatte über Ihren Antrag für die CDU/CSUFraktion ganz eindeutig festgestellt habe, dass eine solche
Öffnung beim Günstigkeitsprinzip ohne ein Vetorecht der
Tarifvertragsparteien für uns nicht infrage kommt. In dieser Frage besteht in der Tat ein Unterschied zwischen
CDU/CSU und FDP. Wir begründen unsere Haltung damit, dass sich ein Arbeitgeber mit dem Eintritt in den
Arbeitgeberverband bewusst einer Tarifgemeinschaft anschließt - genauso wie ein Arbeitnehmer, der Mitglied einer tarifabschließenden Gewerkschaft wird. Wenn man
anschließend davon abweichen will, denke ich, müssen
die Tarifvertragsparteien ein Einspruchsrecht haben.
Wenn das ein Unterschied ist, kann ich gut damit leben.
Mir war vor allen Dingen wichtig: Wir haben damals
in der Debatte sehr deutlich gemacht, dass hier ein wesentlicher Unterschied besteht. Wir haben dem Antrag
dennoch zugestimmt, weil er in allen anderen Punkten unserer Auffassung sehr nahe kam.
({0})
Was war Ihre Frage?
({0})
- Ob ich das mitnehme? Ich nehme das gerne mit, Herr
Laumann, ich frage mich aber im Nachhinein, warum die
CDU damals in namentlicher Abstimmung unserem Antrag zugestimmt hat, wenn sie hier so offensichtliche Bedenken hat.
Herr Kollege, jetzt
will der Kollege Schemken Sie etwas fragen.
Sehr gern.
Bitte sehr.
Eine Frage, Herr Kollege Kolb: Können Sie bestätigen, dass zu dem, was Herr
Kollege Laumann gesagt hat, doch ein Unterschied besteht?
Herr Kollege Schemken,
ich kann Ihnen bestätigen, dass hier ein Unterschied besteht. Ich kann Ihnen aber auch gern bestätigen, dass dieser Unterschied in Ihrem damaligen Abstimmungsverhalten nicht deutlich geworden ist. Deswegen müssen Sie
sich heute diese Frage stellen lassen. Ich finde es auch
nicht schlimm, dass es Unterschiede zwischen CDU/CSU
und FDP gibt, im Gegenteil!
Auch in anderen Bereichen, bei der Betriebsverfassung
etwa, gibt es deutliche Unterschiede. Sie schreiben zwar
auch, dass diese wieder mittelstandsfreundlicher gestaltet
werden muss. Aber Sie schreiben nicht, ob Sie auch ein
Quorum für die Wahl des Betriebsrats wollen, ob Sie die
Mitbestimmung in Betrieben mit bis zu 20 Beschäftigten
formalisieren wollen oder ob Sie glauben, dass die informelle Mitbestimmung, die es dort gibt, ausreicht, unter
Umständen sogar die bessere Lösung ist. Hier gibt es noch
sehr viele Fragen.
Ich kann, weil meine Redezeit langsam zu Ende geht,
nur feststellen: Die CDU/CSU-Fraktion fällt als Reformmotor in dem Bereich der Überarbeitung des Arbeitsrechts offensichtlich aus.
({0})
- Sie fällt als Motor aus, habe ich hier sehr deutlich gesagt. Der Antrag, den Sie hier vorlegen, ist ein Me-tooProdukt. Sie wollen auch ein bisschen Flexibilisierung,
aber Schrittmacher in diesem Bereich ist die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag. Das ist gut so und soll auch
in Zukunft so bleiben.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt hat die Kollegin
Thea Dückert für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Ich sehe, dass das Telefonieren mit Handy hier zunimmt. Das finde ich nicht so gut. - Das war eine geschäftsleitende Bemerkung.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach
diesem besserwisserischen Vortrag der FDP muss ich eine
kleine Vorbemerkung machen. Da Sie, Herr Kolb, die
FDP sozusagen zum Schrittmacher stilisieren wollten,
muss ich doch noch einmal daran erinnern, was nach
29 Jahren Regierungsbeteiligung der FDP übrig geblieben
ist:
({0})
die höchste Steuerbelastung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die höchste Staatsverschuldung
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die
höchste Arbeitslosigkeit in unserer Geschichte und die
höchsten Sozialabgaben, und zwar auf der Basis einer verfassungswidrigen Vernachlässigung von Kindern und einer verfassungswidrigen Vernachlässigung des Arbeitslosengeldes; sie haben nämlich die Einmalzahlungen den
Arbeitslosen nicht zugute kommen lassen. Das war Ihre
Bilanz. Das ist Ihr „Schrittmachertum“. Das ist unsozial
und das wollen wir nicht.
({1})
Jetzt zum Antrag der CDU/CSU:
({2})
- Ich habe zur FDP gesprochen, Herr Kollege. - Dies ist
ein interessanter Antrag, weil er uns in dem beliebten Ratespiel „Was will die CDU?“, das in den letzten Wochen
und Monaten lief, weiterhilft.
({3})
Die Antwort darauf steht in diesem Antrag. Er sagt uns
nämlich, dass Sie vorschlagen, zu dem Arsenal von alten
beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen
zurückzukehren. Zudem präsentieren Sie uns hier eine
Liste - sie ist sehr lückenhaft - Ihrer Streichungsvorschläge, mit der Sie eine zukunftsgerichtete Politik einleiten wollen.
({4})
Es tut mir Leid, aber Sie schlagen nichts anderes vor als
Streichungen. Dies gilt beispielsweise für das Teilzeitgesetz, für die Reduzierung der Mitbestimmungsrechte
und für die Aushöhlung des Flächentarifvertrages durch
Zurückschrauben des Günstigkeitsprinzips. Sie wollen alles verändern. Sie waren sogar so weit - das haben Sie
wieder zurückgenommen -, die Ökosteuer zurückzunehmen, die dazu geführt hat, dass wir die Sozialabgaben haben senken können. Auch dies haben Sie vorgeschlagen.
Die erste Antwort, die Sie auf die beliebte Frage, was
die CDU will, geben, ist also: rückwärts gewandt in die
Zukunft. Dies wird uns nicht weiterbringen.
({5})
Frau Kollegin
Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr.
Kolb?
Wir hatten uns zwar geeinigt, heute eine kurze Debatte zu
führen, aber wenn es denn sein muss: Ja.
({0})
Also lassen Sie eine
Frage zu?
Ja.
Ich bedanke mich auch
ausdrücklich, Frau Kollegin Dückert. Aber wenn es gar zu
schlimm wird, muss man nachhaken dürfen. Ich möchte
nicht, dass hier der Eindruck bestehen bleibt, Sie hätten
im Bereich der Sozialversicherungsbeiträge wirklich etwas Nachhaltiges erreicht. Wenn Sie alles hineinrechnen,
stimmt das ganz einfach nicht. Sie haben nur durch eine
Manipulation der Mindestreserve den Beitragssatz auf
19,1 Prozent senken können.
({0})
Auch haben wir in diesem Jahr mit 37 Milliarden DM
einen neuen Höchststand bei den Einnahmen durch die
Ökosteuer.
({1})
Wenn Sie wissen, dass 17 Milliarden DM einen Prozentpunkt in der Rentenversicherung ausmachen, und Sie dies
umrechnen, stellen Sie fest, dass wir einen neuen Höchststand bei den Beitragssätzen erreicht haben,
({2})
dass also das, was Sie gesagt haben, nicht stimmt. Wie stehen Sie dazu?
Herr Kollege Kolb, ich danke Ihnen für diese Frage, weil sie
ein bezeichnendes Licht auf Ihr kurzes Gedächtnis wirft.
({0})
Ich will Ihnen zwei Zahlen nennen.
Erstens. Die Sozialversicherungsbeiträge sind unter
CDU-Regierungsbeteiligung zwischen 1993 und 1998
um 6,6 Prozent gestiegen.
({1})
Zweitens. Die Sozialversicherungsbeiträge sind in den
ersten Jahren rot-grüner Regierung innerhalb von drei
Jahren um 1,2 Prozent gesunken, und zwar auch mithilfe
der Ökosteuer. Ohne die Ökosteuer, die Sie ja abschaffen
wollen, hätten wir jetzt um zwei Prozentpunkte höhere
Rentenversicherungsbeiträge. Das ist Ihre Art von Sozialpolitik.
({2})
Sie halten die Augen und Ohren zu. Das ist die Politik der
drei Affen: Sie wollen nicht wissen, was Sie getan haben,
und schlagen etwas ohne richtiges Konzept vor.
({3})
Herr Kolb, ich fasse zusammen: Wir haben die Sozialversicherungsbeiträge gesenkt und Sie haben sie exorbitant steigen lassen.
({4})
Kommen wir zurück zu dem Antrag der CDU/CSU,
über den wir hier diskutieren. Ich würde gerne mit Ihnen
über weitere Reformschritte in der Arbeitsmarktpolitik
diskutieren, weil diese wirklich notwendig sind. Wenn Sie
aber all die Modernisierungsmaßnahmen der letzten Jahre
überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen oder zurückdrehen
wollen wie zum Beispiel das Job-AQTIV-Gesetz mit seinem bei der Verhinderung von Arbeitslosigkeit ansetzenden neuen Konzept, das neue Elemente wie Jobrotation
und Ähnliches beinhaltet, wenn Sie solche Ansätze einfach in Bausch und Bogen ablehnen,
({5})
weiß ich nicht, worüber wir in diesem Zusammenhang
noch reden wollen.
Was haben Sie in der letzten Zeit noch abgelehnt? Zum
Beispiel haben Sie an einer Stelle, an der wirklich Reformbedarf besteht, nämlich bei der Bundesanstalt für
Arbeit, abgelehnt, die Spitze zügig zu verändern. Das war
der erste Punkt. Zweitens wollten Sie auch noch den gesamten Reformprozess aufhalten.
({6})
Es tut mir wirklich Leid, aber ich weiß nicht, wie ich mit
Ihnen über arbeitsmarktpolitische Veränderungen für die
Zukunft reden soll, wenn Sie noch nicht einmal über das
diskutieren, was hier aktuell notwendig ist.
({7})
Sie schlagen - Herr Laumann hat es eben noch einmal
vorgetragen; das finde ich vom Ansatz her auch richtig zum Beispiel mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit
vor. Natürlich brauchen wir die.
({8})
Was sind aber die Voraussetzungen dafür, dass wir mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit erhalten? Es gibt drei Voraussetzungen: Erstens brauchen wir starke Betriebsräte,
({9})
zweitens brauchen wir - sozusagen als Korsett - funktionierende Flächentarifverträge und drittens brauchen wir
ein funktionierendes allgemeines Bündnis für Arbeit, weil
es diesen Prozess unterstützen kann.
({10})
Wenn diese Voraussetzungen eingehalten werden, können so zukunftsfähige Bündnisse für Arbeit auf betrieblicher Ebene wie bei VW zustande kommen. Dort gibt es
den Vertrag „5000 mal 5000“.
Sie haben gesagt, Sie wollen, dass die betrieblichen
Bündnisse für Arbeit auf einer rechtlich einwandfreien
Basis stehen. Das Bündnis für Arbeit bei VW steht auf einer rechtlich einwandfreien Basis. Nach unserem Recht
ist es möglich. Es gibt sehr viel mehr Bündnisse für Arbeit auf betrieblicher Ebene in dieser Republik. Ich denke,
wir müssen sehr viel dafür tun, dass diese - auch das allgemeine Bündnis für Arbeit in der Bundesrepublik - vorangebracht werden.
({11})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Ja,
ich lasse sie zu, obwohl es mich langsam reizt, wieder ein
Zitat des Weihbischofs Hengsbach anzuführen, das ich
bereits beim letzten Mal gebracht habe. Das mache ich
jetzt aber nicht.
Frau Kollegin Dückert, können Sie bestätigen, dass, wenn wir die Arbeitsmarktpolitik nicht reformiert und wir nicht das Prinzip des Förderns
und Forderns eingeführt hätten, es heute noch mehrere
hunterttausend Menschen in ABM-Stellen versteckt
gäbe, sodass die Arbeitslosenstatistik geschönt würde?
({0})
Das kann ich Ihnen bestätigen. Wir haben hier eine sehr
ehrliche Politik betrieben. Im Gegensatz dazu - wir befinden uns ja in einem Wahljahr - hat die alte Regierung
im Wahljahr die Zahl der ABM-Stellen verdoppelt. Kurzfristig hat sie 5 Milliarden DM dort hineingepumpt.
({0})
In den vergangenen Jahren haben wir in diesem Bereich
die ABM zurückgefahren und haben andere Instrumente,
die arbeitsmarktnah sind, genutzt.
({1})
Das heißt, wir versuchen hier eine ehrliche Politik zu machen
({2})
und haben gleichzeitig die Arbeitslosenzahl noch einmal
um 400 000 gesenkt und über 1 Million neue Arbeitsplätze geschaffen. Das hat in der Tat mit unserer Politik zu
tun.
({3})
Ich möchte noch eine abschließende Bemerkung machen, weil Sie einiges, zum Beispiel das Teilzeitgesetz,
abschaffen wollen. Ich finde Ihre Argumentation in diesem Zusammenhang wirklich absolut absurd. Sie haben
sie im Ausschuss vorgetragen. Dieses Teilzeitgesetz hat
die Gleichbehandlung von Männern und Frauen zur
Grundlage. Sie sagen, dass Sie es verändern wollen, weil
es zur Diskriminierung von Frauen führen würde. Es tut
mir furchtbar Leid, aber aufgrund meiner Erfahrungen aus
der Vergangenheit bin ich sehr misstrauisch, wenn Männer plötzlich Frauenrechte auf dem Arbeitsmarkt verteidigen. Da wird es schon komisch.
Sie wissen doch auch, dass die Schutzrechte von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt in der Vergangenheit immer
dazu geführt haben, dass sie letzten Endes ausgeschlossen
worden sind. Hier treffen wir Regelungen für eine Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Teilzeitbereich.
({4})
Wir wollen Männern und Frauen die gleiche Möglichkeit
geben, sich zum Beispiel durch Teilzeitarbeit mehr um die
Familie zu kümmern. Sie drehen den Spieß in absurder
Weise um und behaupten, dass dies eine Diskriminierung
von Frauen sei.
Frau Kollegin, jetzt
müssen Sie aber zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Ich glaube, das, was Sie hier
präsentiert haben, ist rückwärts gewandt und hilft uns
nicht weiter. Ich lade Sie gerne ein, mit uns über vorwärts
gewandte Konzepte zu diskutieren.
Schönen Dank.
({0})
Da es eine kurze Debatte ist, lasse ich keine Zwischenfragen mehr zu und erteile nun der Kollegin Pia Maier für die PDS-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist ein interessanter Antrag. Die Oppositionspartei zählt all das auf, was die Regierung gemacht hat, was nicht ihrer Meinung entsprach. Sie ist
dagegen und will, dass das alles zurückgenommen wird.
Alle Vorschläge, die die CDU/CSU hier bringt, sind bekannt. Bei jeder arbeitsmarktpolitischen Debatte und als
jedes einzelne hier genannte Gesetz verabschiedet wurde,
haben Sie das alles schon ausgeführt.
Entweder kennen wir die Ideen, weil es zu Ihrer Zeit so
war - dann haben Sie den Regierungswechsel wohl noch
nicht verwunden -, oder Sie reden schon seit Jahren davon und haben es selbst nicht umgesetzt. Die Reden und
Forderungen jedenfalls sind immer wieder dieselben.
Dieser Antrag ist so interessant wie die Zeitung von vorgestern. Das alles können Sie in Ihrem Wahlprogramm
fordern, aber als neue Initiative im Bundestag kurz vor der
Wahl ist der Antrag ziemlich überflüssig.
({0})
Zu den einzelnen Punkten. Sie fordern eine Ausweitung befristeter Beschäftigung. Die Ausweitung von
Rot-Grün reicht Ihnen noch nicht. Das Gesetz soll zurückgenommen werden, damit noch öfter noch länger befristet
eingestellt werden kann. Wie damit Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, kann ich nicht nachvollziehen. Es
werden höchstens Möglichkeiten zum Jobben geschaffen,
aber keine existenzsichernden Arbeitsplätze.
Als Nächstes will die CDU/CSU den Teilzeitanspruch,
der jüngst eingeführt wurde, wieder rückgängig machen.
({1})
Im Wahlkampf müssen die einzelnen Teile Ihres Programms noch nicht richtig zusammenpassen. Diese Forderung verträgt sich überhaupt nicht mit der Familienförderung, die auch Sie heute Morgen hochgehalten
haben. Herr Merz hat die Familienförderung beschworen.
Gerade in den Jahren, in denen eine Familie Kinder erzieht, ist Teilzeit eine Möglichkeit, Beruf und Familie zu
vereinbaren. Das geht aber nur, wenn ein entsprechender
Anspruch besteht und der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin ein Recht darauf hat und nicht dem Willen des
Chefs ausgeliefert ist.
Das Teilzeitgesetz müsste um das Recht ergänzt werden, nach einer solchen Familienphase mit reduzierter Arbeitszeit wieder voll arbeiten zu können. Das wäre Familienförderung und keine Wahlkampfquietscheente.
({2})
Dann wollen Sie natürlich das Betriebsverfassungsgesetz
wieder zurückverändern. Es ist ein Wunder, dass bei diesem
Betriebsverfassungsgesetz die Wirtschaft überhaupt noch
funktioniert. Sie beschwören in Ihrem Antrag Kosten in
Milliardenhöhe, die den Unternehmen allein durch das
Betriebsverfassungsgesetz entstanden sein sollen.
({3})
Wenn Sie mit diesen Zahlen nicht so übertreiben würden,
dann könnte man vielleicht darüber reden. Allerdings ist
Ihre Schlussfolgerung, dass den Betrieben mit diesem Betriebsverfassungsgesetz Schaden entstanden wäre, garantiert falsch, wenn es um Arbeitsplätze geht.
In den Tarifauseinandersetzungen werden jetzt die Betriebsräte und Gewerkschaften hoffentlich für mehr Beschäftigung sorgen, indem mehr Lohn ausgehandelt und
damit die Binnennachfrage angekurbelt wird. Die
Lohnzurückhaltung hat in den letzten Jahren keine
Arbeitsplätze geschaffen. Jetzt ist eine andere Strategie
gefragt.
Die Antwort der CDU/CSU auf die Arbeitslosigkeit
heißt, Sicherheiten für Arbeitnehmer abschaffen und
mehr Leiharbeit zulassen.
({4})
Für diesen Weg in die Unsicherheit, den Weg des Abbaus
aller erkämpften Standards bekommen Sie von uns keine
Unterstützung.
({5})
Dies geschieht vor allem aus einem einfachen Grund: Es
bringt keine Arbeitsplätze. Sie schaffen nichts Neues, aber
gute Regeln ab.
Wer hierzulande Arbeitsplätze schaffen will, muss
Geld in die Hand nehmen. Ein Beispiel, damit die Kommunen wieder investieren können, ist eine kommunale
Investitionspauschale. Die Kommunen, die kein Geld
für Investitionen haben, können ihre Infrastruktur nicht
mehr renovieren und erhalten. Für den Ausbau von Schulen und Straßen in den Kommunen, die überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen und pleite sind,
braucht es ein besonderes Programm. Hier müssten der
Bund und die Länder Geld geben, ohne eine Kofinanzierung von den Kommunen einzufordern, weil sie
schon pleite und zusätzlich von überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Die PDS schlägt als Grenze 30 Prozent über dem
Durchschnitt der alten Bundesländer vor. Viele Ostkommunen, aber auch besonders betroffene Gemeinden im
Westen liegen unterhalb dieser Grenze. Damit kann man
einen Teufelskreis verhindern, der entsteht, wenn Kommunen wegen Arbeitslosigkeit und Verarmung wenig Einnahmen haben, damit schlechtere Bedingungen für Investoren und Bildung bieten, um dann weiter zu verarmen
und Arbeitsplätze zu verlieren.
Dieser Entwicklung schieben wir mit Investitionen einen Riegel vor. Befristete Beschäftigung, Teilzeitverbot
und Leiharbeit sind Ihre Antworten. Damit schaffen Sie
Unsicherheit, aber keine Arbeitsplätze. Das soll nur der
Disziplinierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dienen. Das alles ist nichts Neues und wird heute genauso schlecht wie in den letzten Jahren funktionieren.
Danke.
({6})
Die Vereinbarung
über die verkürzte Redezeit hat mit sich gebracht, dass der
Kollege Schemken und der Kollege Meckelburg ihre Reden zu Protokoll gegeben haben. Ist das richtig so?
({0})
- Wenn etwas zu Protokoll gegeben worden ist, müssen
Sie mir die Redner nennen. Ich stelle fest: Herr Grotthaus
und Frau Kramme geben ihre Reden ebenfalls zu Proto-
koll.1) Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8267 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 e
sowie Zusatzpunkt 8 auf:
9 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Verbraucherinformationsgesetzes ({1})
- Drucksache 14/8738 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit
- Drucksache 14/8747 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus
({4})
- Drucksache 14/8768 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({5})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Obstbauern vor dem Ruin retten - Plantomycin
für Notfallmaßnahmen zulassen
- Drucksache 14/8180 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marita
Sehn, Ulrich Heinrich, Walter Hirche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Pflanzenschutzpolitik neu ausrichten, heimische Produzenten unterstützen und Verbraucher schützen
- Drucksache 14/8430 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({7})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Verbraucherinformationsgesetz effektiv gestalten
- Drucksache 14/8784 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8})
1) Anlage 3
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Mir ist mitgeteilt worden, dass alle Reden zu Protokoll
gegeben worden sind. Ich eröffne die Aussprache, nehme
alle Reden zu Protokoll und schließe die Aussprache.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksachen 14/8738, 14/8747, 14/8768, 14/8180,
14/8430 und 14/8784 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Willi Brase, Klaus Barthel ({9}),
Hans-Werner Bertl, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Christian Simmert, Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard
Loske, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Berufsbildungsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes
- Drucksache 14/8359 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({11})
- Drucksache 14/8699 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Dr.-Ing. Rainer Jork
Hans-Josef Fell
Maritta Böttcher
Auch hier höre ich, dass die Reden zu Protokoll gege-
ben sind. Dann eröffne ich die Aussprache, nehme die Re-
den zu Protokoll und schließe die Aussprache.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Berufsbil-
dungsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes auf Druck-
sache 14/8359. Der Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung empfiehlt auf Druck-
sache 14/8699, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
der dritten Lesung angenommen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b
auf:
11 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulf
Fink, Wolfgang Lohmann ({12}), Maria
Eichhorn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verstärkung der Personalausstattung
in Pflegeheimen ({13})
- Drucksache 14/8364 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der ambulanten Hospizarbeit
- Drucksache 14/6754 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({16})
- Drucksache 14/8518 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Schmidbauer ({17})
Hierzu ist interfraktionell vereinbart worden, dass die
Redezeit eine halbe Stunde betragen soll. - Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Ulf Fink für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion legt Ihnen einen Gesetzentwurf vor, der zum
Inhalt hat, dass vom 1. Juli dieses Jahres an bis einschließ-
lich 2004 die Pflegekassen an die Pflegeheime je Pflege-
bedürftigen der Stufen II und III - das sind die Schwer- und
Schwerstpflegebedürftigen - monatlich einen Betrag von
102 Euro und für jeden Pflegebedürftigen, der als Härte-
fall anerkannt ist, einen Betrag von 204 Euro zahlen sol-
len. Dies bedeutet eine Erhöhung der Leistungen der
Pflegeversicherung um etwa 5 Prozent. Gemessen am
Gesamtvolumen der Leistungsausgaben der sozialen Pfle-
geversicherung von über 30 Milliarden DM ist das eine
verhältnismäßig geringe Summe. Da wir auf keinen Fall
wollen, dass das eine Auswirkung auf die Beitragssätze
hat, haben wir diese Erhöhung auf den Zeitraum von zwei-
einhalb Jahres begrenzt. Das bedeutet jährlich zusätzliche
Mittel der Pflegeversicherung von knapp 400 Milli-
onen DM. Falls die Einnahmeverbesserung der Pflegever-
sicherung nicht ausreichen sollte, lassen sich diese Mittel
gegebenenfalls aus den Rücklagen finanzieren, die be-
kanntlich ein sehr viel höheres Ausmaß haben.
Wir halten diese Änderungen für zwingend, weil sich
seit Einführung der Pflegeversicherung vor sieben, acht
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 4
2) Anlage 5
Jahren die Preise und Lohnkosten erhöht haben und in fast
allen Feldern Kostensteigerungen festzustellen sind. Lediglich die Leistungen der Pflegeversicherung sind seit
Mitte der 90er-Jahre überhaupt nicht angepasst worden.
Es gab nicht einmal einen Inflationsausgleich oder etwas
Ähnliches.
({0})
- Nein, die Leistungen der Pflegeversicherung sind in all
diesen Jahren um keinen Pfennig erhöht worden.
Lese ich die diesbezügliche Regierungserklärung von
Kanzler Schröder oder führe ich mir die Wahlaussagen
der Sozialdemokraten aus dem Jahr 1998, noch einmal
vor Augen, so finde ich darin vor allem die Aussage, Sie
wollten sich für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen. Ich
frage Sie: Wie können Sie es denn damit vereinbaren, dass
die Leistungen der Pflegeversicherung, also für diejenigen, die der Leistungen des Staates besonders bedürfen,
nicht angepasst wurden?
({1})
Stellen Sie sich nur einmal vor, was in der Bundesrepublik Deutschland los wäre, wenn seit sechs, sieben,
acht Jahren die Renten nicht erhöht, die Leistungen der
Arbeitslosenversicherung nicht angepasst oder gar die
Löhne um überhaupt keinen Pfennig erhöht worden
wären: Sie würden sich vor Demonstrationen überhaupt
nicht mehr zurechtfinden.
({2})
Nur, bei den Pflegebedürftigen denken Sie, Sie könnten es
sich leisten.
({3})
Ich sage Ihnen, wozu das führt. Wir haben die Pflegeversicherung in einer nicht einfachen Situation gegen zum
Teil erhebliche Widerstände eingeführt, und zwar nicht
zuletzt deshalb, weil wir es nicht länger vertreten zu können glaubten, dass die Rente von Menschen, wenn sie in
ein Pflegeheim müssen, nicht ausreicht, um die Kosten
des Pflegeheims zu decken, sodass sie auf Sozialhilfe angewiesen sind und sogar ihr Taschengeld beim Sozialamt
abholen müssen. Das hielten wir für einen unwürdigen
Zustand. Wir haben erklärt: Wir müssen erreichen, dass
Menschen, wenn sie das Schicksal ereilt, pflegebedürftig
zu werden, aus eigener Kraft, von ihrer Rente und von den
Leistungen der Pflegeversicherung, leben können, ohne
auf das Sozialamt angewiesen zu sein. Das war der Sinn
der Einführung der Pflegeversicherung.
({4})
Jetzt darf ich darstellen, wie sich das entwickelt hat. Ich
habe die Zahlen des Statistischen Bundesamtes vor mir.
Danach hat sich die Zahl der Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, bei denen die Leistungen aus der Pflegeversicherung sowie die Rente nicht ausgereicht haben und
die deshalb zum Sozialamt gehen mussten, wie folgt entwickelt: 1994 waren 454 000 Menschen wegen zu geringer Eigenleistungen auf Leistungen des Sozialamtes angewiesen. Dann wurde die Pflegeversicherung eingeführt.
Die Zahl sank von 454 000 auf 373 000. Im Jahr 1996, als
wir die Leistungen im stationären Bereich eingeführt haben, sank die Zahl auf 285 000, 1997 auf 251 000 und im
Jahr 1998 sogar auf 222 000. Das waren immer noch
222 000 zu viel, aber immerhin war ihre Zahl von ehedem
454 000 auf 222 000 gesunken.
Dann traten Sie die Regierung an und sagten, Sie wollten es besser machen und mehr soziale Gerechtigkeit
schaffen. Ich darf Ihnen die Zahlen vorlesen: 1999 stieg
die Zahl derjenigen, die wegen Pflegebedürftigkeit wieder auf ergänzende Hilfen des Sozialamtes angewiesen
waren, auf 247 000 und im Jahr 2000 - das ist die letzte
mir vorliegende Zahl - bereits auf 261 000. Lägen mir die
Zahlen für 2001 und 2002 vor, würde deutlich, dass schon
wieder mehr als 300 000 Menschen wegen zu geringer eigener Leistungen auf ergänzende Leistungen des Sozialamtes angewiesen sind. Das ist ein Menetekel für Ihre Politik.
({5})
Aber das ist nicht alles. Hinzu kommt, dass die Heime
häufig nicht in der Lage waren, die Leistungen so anzupassen, wie es der gestiegenen Kosten wegen eigentlich
notwendig wäre. Als Konsequenz mussten die Heime bei
der Personalausstattung sparen. Mir liegen auch hierzu
Zahlen vor. Danach hat sich die personelle Ausstattung
der Pflegeheime in den vergangenen Jahren kaum verbessert und ist in vielen Fällen deutlich zurückgegangen.
({6})
Mittlerweile liegen auch einige Studien zur Personalbemessung vor. Ich darf auf ein besonders wichtiges Verfahren aufmerksam machen. Fast alle diese Studien haben
ergeben, dass die Personalausstattung in den Heimen um
fast 20 Prozent unter dem liegt, was eigentlich notwendig
wäre. Frau Kollegin, Herr Kollege Schmidbauer, eine
Studie zum Verfahren PLAISIR hat ergeben, dass zum
Beispiel in den Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt die
personelle Ausstattung sogar um mehr als 20 Prozent hinter dem herhinkt, was eigentlich erforderlich wäre.
({7})
Bei den Untersuchungen in Schleswig-Holstein sind
ebenfalls solche Ergebnisse zutage getreten.
({8})
Wir hatten vor kurzem die Gelegenheit, uns das
Verfahren in Quebec anzuschauen. Wir waren alle der
Überzeugung, dass es sich um gute Methoden handelt.
PLAISIR ist sogar in einem Gesetzentwurf aufgeführt.
({9})
- Das ist eine Abkürzung für ein Verfahren, das nichts anderes beinhaltet, als dass gefragt wird: Was ist eigentlich
nötig? Man fragt also nicht: Welche Personalausstattung
haben die Heime? Vielmehr geht es darum: Was müsste
eigentlich vorhanden sein, damit die Menschen ordentlich
versorgt werden? Danach liegen wir in fast allen Bereichen weit unterhalb der für die Sicherstellung einer ordentlichen Versorgung notwendigen Zahlen.
Wir schlagen ja eine Sofortmaßnahme vor. Es ist erkennbar, dass wir gern mehr getan und die Leistungen um
mehr als 5 Prozent erhöht hätten. Wir hätten auch gern für
den ambulanten Sektor noch etwas getan. Trotzdem müssen
wir uns jetzt darauf konzentrieren, die dringendsten Missstände in der finanziellen Ausstattung der Heime zu lindern.
Es hilft nichts, dass Sie auf der einen Seite die mangelnde Qualität in den Pflegeheimen beklagen, aber auf
der anderen Seite ein Pflege-Qualitätssicherungsgesetz
verabschieden, das nur zum Inhalt hat, dass die Pflegenden zusätzlich zu den ohnehin großen Belastungen ihre
Zeit noch darauf verwenden müssen, Tausende von Formularen auszufüllen. Pflegequalität kann man nicht in die
Heime hineinprüfen, sondern man muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen in den Heimen
gut gepflegt werden.
({10})
Nun erteile ich der
Kollegin Marga Elser für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ihr Antrag, sehr
geehrter Herr Fink und sehr geehrte CDU/CSU-Fraktion,
ist wortwörtlich von einem Antrag Bayerns für den Bundesrat abgeschrieben.
({0})
Der bayerische Antrag ist bereits im Bundesrat abgelehnt
worden.
({1})
Ihrem Antrag wird es sicherlich heute auch so ergehen.
Ich halte es schon für merkwürdig, wenn Sie in diesem
Antrag beispielsweise auf die Ökosteuer und anderes
- ich möchte gar nicht darauf eingehen - verweisen.
Ich meine, unsere Regierungskoalition hat in dieser
Legislaturperiode viel für die Pflege getan.
({2})
Aus dem Wissen heraus, dass wir für die Pflege älterer
Menschen mehr tun müssen, dass wir politische Rahmenbedingungen für eine hochwertige, menschenwürdige
Pflege schaffen müssen, haben wir drei Gesetzesvorhaben
angestoßen und zum Abschluss gebracht. Mit dem PflegeQualitätssicherungsgesetz setzen wir verstärkte Kontrollen und die Einführung eines Qualitätsmanagements in
den Heimen und den Pflegediensten durch. Damit lösen
wir einen Qualitätsschub aus.
({3})
Es ist in dem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz auch
etwas über die Instrumentarien für eine ausreichende Personalausstattung zu lesen. Es wird verlangt, dass landesweite Personalbedarfsermittlungsverfahren oder landesweite Personalrichtwerte Teil der Rahmenverträge über
die pflegerische Versorgung werden. Außerdem ist vorgesehen, dass sich die Vertragspartner künftig über die Personalausstattung eines jeden Pflegeheims einigen müssen. Voraussetzung für den Betrieb eines Heimes ist, dass
der Träger sicherstellt, dass die Zahl der Beschäftigten sowie ihre persönliche und fachliche Eignung für die von ihnen zu leistende Tätigkeit ausreichen. Ob und inwieweit
dies der Fall ist, wird von den Heimaufsichtsbehörden geprüft werden. Jetzt kommt das PLAISIR ins Spiel. Es wird
im Mai eine Sitzung geben. Wir möchten das einführen.
Unsere Novelle des Heimgesetzes stärkt die Bedürftigen in ihren Rechten. Sie erhalten mehr Mitbestimmungsrechte in den Heimbeiräten.
Im November letzten Jahres haben wir das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz beschlossen. Damit haben wir
nach der Verbesserung der stationären Pflege auch Entlastungen für die häusliche Pflege von Demenzkranken auf
den Weg gebracht.
({4})
- Herr Fink, man muss ja einmal anfangen.
({5})
Wenn wir heute darüber reden, wie schwierig es ist,
Personal für die Pflege in ausreichender Zahl zu finden,
dann kann es aber nicht nur darum gehen, welche Rahmenentscheidungen die Politik trifft. Ich halte es für ganz
wichtig, dass sich auch die Träger von Heimen und Pflegestationen für den Pflegeberuf einsetzen und ihn attraktiver machen.
({6})
Die Pflegeberufe werden in unserer älter werdenden Gesellschaft immer wichtiger. Der Personalbedarf wird in
den kommenden Jahren - ich denke, darüber gibt es keine
Meinungsverschiedenheiten, Herr Fink - weiter steigen.
Dabei kommt den Trägern die wichtige Aufgabe zu, junge
Menschen für diesen Beruf zu gewinnen. Dass wir von
politischer Seite her die Rahmenbedingungen erheblich
verbessert haben, ist dabei eine wichtige Unterstützung.
({7})
Auch in der Frage des Personals - ich bitte Sie, genau
zuzuhören - waren wir nicht untätig. Die Bundesregierung will die Pflegeausbildung bundeseinheitlich gesetzlich regeln. Aber blockiert wird dieses Vorhaben derzeit
durch die bayerische Landesregierung. Diese hat das Bundesverfassungsgericht angerufen.
({8})
Wir könnten ohne diese Kompetenzrangeleien heute
schon sehr viel weiter sein.
({9})
Ich habe bei meinen Heimbesuchen immer wieder den
Eindruck gewonnen, dass manche Träger von Pflegeheimen ihrem Personal die Auffassung vermitteln, dass alle,
die in den Pflegeheimen arbeiten dürfen, froh sein müssen. Das, was in anderen Berufen gang und gäbe ist, nämlich dass man für den eigenen Beruf wirbt und dass man
den Berufseinsteigern klar macht, in welchem schönen
und erfolgreichen Beruf sie sich ausbilden lassen, gibt es
in den Pflegeberufen nur ganz selten. Wir brauchen aber
offensive Maßnahmen, zum einen um Pflegekräfte zu gewinnen und zum anderen um sie - ich denke, das ist noch
wichtiger - an ihren Beruf zu binden. Die in der Pflege
Tätigen sind täglich starken Belastungen ausgesetzt. Man
darf sie deshalb nicht alleine lassen. Die Träger sollten
beispielsweise Instrumente wie die Supervision nutzen,
um Probleme und Belastungen offen ansprechen zu können. Das verbessert das Arbeitsklima und stärkt die Motivation unter den Mitarbeitern.
Auch das Zuwanderungsgesetz, dem Sie ebenfalls
Ihre Zustimmung versagt haben, dient dazu, hoch qualifizierte Arbeitskräfte für Arbeitsplätze zu gewinnen, die
trotz Arbeitslosigkeit im Inland nicht besetzt werden können. Die CDU-regierten Länder wollen auf der einen Seite
ausländische Pflegekräfte anwerben, haben aber auf der
anderen Seite das Zuwanderungsgesetz abgelehnt. Ich
weiß nicht, wie das zusammenpasst. Für mich passt es
nicht zusammen.
Was die nicht ausgebildeten Pflegekräfte anbelangt:
Auch hier haben wir eine pragmatische Lösung auf den
Weg gebracht. Gerade für die Familien, die Angehörige zu
Hause pflegen, soll weiterhin eine bezahlbare Entlastung
gesichert werden.
Auch der Bundespflegeausschuss zur Fortentwicklung
der Pflegeversicherung hat unter anderem die Themen
„Personalausstattung“ und „Qualität in der Pflege“ auf
der Tagesordnung. Von diesen Erörterungen erhoffen wir
uns weitere Anregungen für künftige Maßnahmen und
Initiativen aller, die am Pflegegeschehen beteiligt sind.
Auch der Schlussbericht der Enquete-Kommission
„Demographischer Wandel“, der uns seit kurzem vorliegt,
macht mit seinen Überlegungen zur Personalentwicklung
und zur Personalgewinnung deutlich, dass in naher Zukunft große Herausforderungen auf diesem Gebiet auf uns
zukommen werden. Mit unserer bisherigen Politik sind
wir auf dem richtigen Weg, um Lösungen für unsere Gesellschaft zu finden.
({10})
Jetzt hat der Kollege
Detlef Parr für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es ist der Wunsch vieler Menschen, in Würde zu
Hause zu sterben, in der vertrauten Umgebung, die ein Leben lang Geborgenheit bedeutet hat, und nicht in einer Einrichtung. Aus diesem Grund begrüßt die FDP den Gesetzentwurf des Bundesrates, und zwar insbesondere deshalb,
weil er den größten Fehler der Regelung, die die rot-grüne
Koalition im Zuge des Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes beschlossen hat, vermeidet, nämlich einen zu starken
Anspruch an eine Professionalisierung der Helfenden.
Gerade das kann nicht im Sinne der Sache sein. Sterbebegleitung ist von der Idee der ehrenamtlichen Hilfe
sehr stark geprägt. Dass die Helfer Unterstützungsangebote brauchen, um einen Sterbenden kompetent zu begleiten und um besser damit umgehen zu können, wenn
ein Mensch stirbt, ist eine Selbstverständlichkeit. Aber
das möge doch bitte nicht als Pflicht oder als Zwang geschehen, sondern als Angebot.
({0})
Gesetzentwürfe müssen gerade im Gesundheitsbereich
solide finanziert sein. Wir wissen um die Finanzprobleme.
Wenn die CDU/CSU hier vorschlägt, dass ab dem
1. Juli 2002 die GKV die Kosten für die medizinische
Behandlungspflege übernimmt - das ist im Gesetz bisher
erst ab dem 1. Januar 2005 vorgesehen -, dann erfüllt dieser Vorschlag gerade diese Bedingung nicht. Die gesetzliche Krankenversicherung soll hiermit noch schneller in
die Pflicht genommen werden. Es wäre wohl sachgerechter gewesen, die Behandlungspflege auf Dauer bei der
Pflegeversicherung zu belassen. Pflege und Behandlungspflege in den Heimen gehen stark ineinander über.
Durch den Gesetzentwurf der CDU/CSU würde eine
künstliche Schnittstelle geschaffen, die zu Problemen
zwischen GKV und gesetzlicher Pflegeversicherung und
damit zu Versorgungsproblemen führen kann.
({1})
Zudem: Hat nicht auch die Union noch vor kurzem die
Verschiebebahnhöfe hinsichtlich der sozialen Sicherungszweige vehement verdammt? Mit diesem Gesetzentwurf will sie jetzt die Begrenzung aufheben, dass die
Pflegekassen nicht mehr als durchschnittlich 15 339 Euro
pro Jahr je Pflegebedürftigen ausgeben dürfen. Nicht
mehr als 5 Prozent der Pflegebedürftigen der Stufe III dürfen als Härtefälle eingestuft werden. Die Pflegekassen
sollen verpflichtet werden, bis Ende 2004 je Pflegebedürftigen der Stufen II und III 102 Euro monatlich an
die jeweilige Pflegeeinrichtung zu zahlen. Zusätzliches
Personal soll eingestellt werden.
Die Mehrkosten sollen aus den Rückstellungen finanziert werden. Das ist angesichts der großen Probleme, die
aufgrund unserer älter werdenden Bevölkerung auf die
Pflegeversicherung zukommen, Beispiel Demenzerkrankungen, nicht zu verantworten.
({2})
Die sozialpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion der letzten Legislaturperiode, Gisela Babel, hatte
schon Recht: Reserven bei gesetzlichen Sicherungssystemen, auf die der Gesetzgeber Zugriff hat, sind vor Übergriffen nicht geschützt. Sie dürfen deshalb innerhalb dieses Systems eigentlich gar nicht erst entstehen. Wenn
Vorsorge getroffen wird, liebe Freunde, dann nur in einer
privaten Absicherung als ergänzender Säule zur Pflegeversicherung.
({3})
Einer Forderung der FDP entspricht dagegen die geplante Einrichtung einer Schiedsstelle zur Schlichtung
von Streitigkeiten im Rahmen der häuslichen Krankenpflege über die Einzelheiten der Versorgung, die Preise
der Leistungen und ihre Abrechnung. Zu häufig beobachten wir, dass der Anreiz für eine vernünftige Einigung aufseiten der Kostenträger eher begrenzt ist, weil eine Nichteinigung ihnen Vorteile bringt. Ein Schlichtungsgremium
ist deshalb notwendig und sollte so schnell wie möglich
eingerichtet werden.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Gesetzgebung in unserem Nachbarland, den Niederlanden, die Autonomie am
Lebensende betreffend, und der damit verbundenen Diskussion auch bei uns haben wir immer wieder betont, dass
der Förderung der Palliativmedizin und der ambulanten
Hospizarbeit eine besondere Bedeutung zukommt. Deshalb stimmen wir dem Bundesratsentwurf gerne zu.
Der Gesetzentwurf der Union bedarf dagegen noch einer eingehenden Diskussion im Gesundheitsausschuss
und neuer Überlegungen. Dazu werden wir gern unseren
Beitrag leisten.
({4})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Katrin Göring-Eckardt für das Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Parr, Sie sind auf den Gesetzentwurf zur
ambulanten Hospizarbeit eingegangen. Was die Inhalte
angeht, stimmen wir insoweit überein, als auch wir als
Regierungskoalition der Meinung sind, dass steriles Sterben, das heute noch allzu oft Alltag und Normalfall in unserer Gesellschaft ist, nicht mehr die Norm sein soll. Deswegen haben wir schon ein entsprechendes Gesetz
beschlossen, das bereits in Kraft getreten ist. Ein Tod in
technischer Atmosphäre, ein anonymer Tod, ein Tod in
einem klinischen Umfeld ist nicht das, was wir unseren
Angehörigen, Freunden, Bekannten und uns selbst wünschen. Deswegen ist die ambulante Hospizarbeit so wichtig.
Deswegen bin ich auch froh darüber, dass wir mit dem
Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz seit dem 1. Januar die
ambulante Hospizarbeit verbessert haben. Die Voraussetzungen dafür, die Möglichkeiten, zu Hause zu sterben, zu
fördern und die Angehörigen und Pflegenden bei dieser
Aufgabe zu unterstützen, sind damit geschaffen worden.
Ich bin wirklich der Überzeugung, dass wir mit diesem
Gesetz bereits das Richtige getan haben.
Herr Fink, Sie haben noch einmal das alte Lied davon
gesungen, dass man Qualität nicht in die Heime hineinprüfen könne. Ich bin auf der einen Seite wirklich der
festen Überzeugung, dass die Frage der Qualität eine ganz
zentrale Frage ist und dass wir da nicht über bestimmte
Dinge hinwegsehen dürfen. Ich bin auf der anderen Seite
der festen Überzeugung, dass es in der Tat darum geht, die
Rechte derjenigen zu stärken, die sich als zu Pflegende in
diesen Heimen finden. Deswegen ist das, was wir im
Sinne von Mitbestimmung, im Sinne von Rechten der
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner beschlossen
haben, ganz zentral. Diese Rechte können nur wahrgenommen werden, wenn auch tatsächlich überprüft werden kann und überprüft wird, wie die Situation in den Heimen tatsächlich ist. Solche Überprüfungen finden statt
und sie führen vor allem hinsichtlich des Managements
und der Managementplanungen auch tatsächlich zu einer
neuen Qualität.
Es ist zu einfach zu sagen, glaube ich, dass man nur das
Personal aufstocken muss. Ich stimme mit Ihnen zwar
darin überein, dass wir in vielen Bereichen tatsächlich zu
wenig Personal haben, aber vordringlich müssen die Fragen geklärt werden, wie das Personal aufgestockt werden
soll und wie das Management verbessert werden soll. Insofern sind wir mit den Gesetzen zu den Qualitätsverbesserungen auf dem richtigen Weg.
Gemeinsam mit meiner Vorvorrednerin bedaure ich,
dass die Frage der Ausbildung in der Pflege nicht geklärt
werden konnte, weil sich das Land Bayern querstellt. Wir
brauchen in diesem für die Zukunft so wichtigen Beruf
tatsächlich einen Neuanfang. Dieser Neuanfang ist zurzeit
nicht möglich. Wenn wir das nicht sehr bald schaffen,
dann - davon bin ich ganz fest überzeugt - werden wir in
eine Situation hineinkommen, die sich niemand wünschen kann und die in der Tat bedrohlich ist.
Alles in allem, meine Damen und Herren: Wir sind in
der Pflege auf dem richtigen Weg. Wir sind noch nicht da,
wohin wir wollen, aber wir sind so weit gekommen, wie
es zurzeit vor dem Hintergrund der Finanzierungsfragen
und der Tatsache, dass sich andere quer stellen, möglich
ist.
({0})
Ich bin der Überzeugung, wir müssen hier in der Tat zu
weiteren Qualitätsverbesserungen kommen. Die Evaluation findet jetzt statt. Darüber bin ich sehr froh.
Vielen Dank.
({1})
Nun ist es für Herrn
Fink zu spät, noch eine Zwischenfrage zu stellen.
Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Heute früh in der Kernzeit der
Debatte haben wir sehr ausführlich und teilweise sehr
emotional über Familienpolitik gesprochen. Der Wahlkampf ließ grüßen. Mir fällt dabei auf, dass überhaupt
niemand über Familien mit pflegenden Angehörigen
spricht. Ist das vielleicht im Wahlkampf kein Thema? Interessiert das etwa niemanden? Heute Abend sprechen wir
über zwei Gesetzentwürfe. Einer davon ist von Ihnen,
Herr Fink und liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, in dem es um die Pflege in Heimen geht und
wieder nicht um die pflegenden Angehörigen.
Aber nun zur Sache: Im Kern schlagen Sie vor, den
Heimen bzw. Einrichtungen mehr Geld zu geben, um Personal einzustellen. Dagegen kann man im Prinzip nichts
sagen; denn nötig ist es allemal. Jedenfalls ist es viel nötiger als das so genannte Pflege-Qualitätssicherungsgesetz, das nichts anderes ist als Bürokratisierung und
zusätzlicher Papierkram - wodurch die pflegefernen Bereiche gestärkt werden und nicht die pflegenahen - das
nicht am Menschen arbeitet, sondern am Papier.
Aber, Herr Fink, was Sie überhaupt nicht tun - das
kreide ich Ihnen auch heute wieder an -: Sie kritisieren die
Pflegeversicherung und sagen dazu nicht, dass sie von
Ihnen mit dem Geburtsfehler erfunden wurde, dass sie
nicht einmal einen Dynamisierungsfaktor beinhaltet,
({0})
geschweige denn, dass Sie das Dogma der Beitragsstabilität auch nur antasten.
Sie wollen im Grunde genommen die geringen Überschüsse, die zurzeit noch da sind, auffressen. Deswegen
sagen Sie, dass Sie Ihr Vorhaben auf zwei Jahre befristen
und dann einmal sehen, wie es weitergeht. Wenn wir sagen würden, dass wir diese zwei Jahre nutzen, um bis
dahin dieses Dogma zu durchbrechen und eine zukunftssichere Lösung zu finden, die tatsächlich mehr qualifiziertes Personal in die Einrichtungen bringt, dann wäre
ich auf Ihrer Seite. Darüber möchte ich einmal im Ausschuss diskutieren und vielleicht könnten wir dann am
Ende auch etwas Vernünftiges beschließen.
Aber nur zu sagen:„Wir leben von der Substanz“, ist
mir zu billig. Das reicht im Prinzip auch nicht aus, jedenfalls nicht, wenn es eine Dauerlösung sein soll. Dies
ist nur eine Übergangslösung, die wir sofort umsetzen
könnten. Das ist notwendig, aber leider nicht der Fall. Die
Kuschel-Lösung wäre ganz gut umzusetzen.
Mehr und qualifiziertes Pflegepersonal brauchen wir
so bald als möglich. Das kann ich Ihnen nur sagen. Reden
Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen von der CSU, damit nun endlich diese unsägliche Blockierung in Form
des Altenpflegeausbildungsgesetzes verschwindet. Lassen Sie uns zu vernünftigen Lösungen kommen!
Leider reicht meine Zeit jetzt nicht mehr aus, ausführlich über die Förderung der Hospizarbeit zu reden. Ich
habe zu einer anderen Zeit an diesem Ort schon ausführlich darüber gesprochen. Die Betroffenenorganisationen
wissen, wie die PDS dazu steht. Wir werden den Gesetzentwurf des Bundesrates unterstützen; denn er geht in die
richtige Richtung. Das Geld muss dorthin, wo die ambulante Pflege geleistet wird, und nicht in die Bürokratie.
Wir werden versuchen, in der Richtung dieses Vorschlages weiterzukommen.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
({1})
Bei den Zwischenfragen bin ich ein bisschen zögerlich, weil wir gemeinsam
vereinbart haben, nur kurze Debatten zu führen. Es ist am
besten, wenn sich alle daran halten.
Zum Abschluss hat jetzt der Kollege Horst
Schmidbauer das Wort. Danach bitte ich alle Geschäftsführer aufzupassen, weil wir dann einen Abstimmungsmarathon haben, bevor wir einen weiteren Punkt debattieren.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass heute
schon wieder über Hospizarbeit in Deutschland geredet
wird, finde ich gut; denn wir können nicht dankbar genug
sein, dass wir die Hospizarbeit in Deutschland im Kern
verankert haben und dass sie einen festen Stand hat.
Wir können den 35 000 Frauen und Männern nicht oft
genug danken, die ehrenamtlich in der Hospizbewegung
tätig sind. Wir können auch nicht oft genug den 10 000
Profis, Frauen und Männern, danken, die als Ärzte oder
Pflegefachkräfte - teilweise im 24-Stunden-Dienst ihren Einsatz in der hauptamtlichen Hospizarbeit leisten.
({0})
Aber heute noch einmal über die Förderung der ambulanten Hospizarbeit durch die Krankenkassen zu beraten,
macht eigentlich keinen Sinn. Wir haben die Aufgabe, die
dringend anstand und auf deren Lösung wir stolz sind,
gelöst, indem wir endlich die ambulante Versorgung in
der Hospizarbeit durch Beitragsgelder sichergestellt haben. Dies haben wir bereits mit der Neufassung des § 39 a
des Sozialgesetzbuches V vor 22 Wochen geleistet.
({1})
Heute können wir feststellen, dass wir mit unserer Lösung richtig liegen. Wir haben von den Betroffenen der
Hospizbewegung die volle Anerkennung erhalten. Das
sollte man auch in diesem Hause endlich zur Kenntnis
nehmen. Wir haben für diesen neuen Weg auch bei den
Krankenkassen die volle Anerkennung und Akzeptanz
verzeichnen können und wir haben die Anerkennung bei
dem Gros der Bundesländer gefunden.
Man muss deutlich sagen: Bei der Lösung ging es nicht
um das Ob der Finanzierung der ambulanten Hospizarbeit
an sich, sondern es ging vor allem um das, was mit Krankenkassenbeitragsgeldern finanziert werden soll.
Das, was die Hospizbewegung leisten soll, hat sie selbst
auf den Punkt gebracht. Gerda Graf, die Vorsitzende der
Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz, hat dazu bei der Anhörung zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates gesagt,
...dass es im Grunde genommen auch darum geht,
dass gerade die Ehrenamtler erfahren, dass sie qualifiziert begleitet und geführt werden, damit sie eben
nicht zu Lückenbüßern in der Gesellschaft werden.
({2})
Das ist ein ganz wichtiger Ansatz, wo wir auch in der
Hospizarbeit sagen: Es muss ein qualifiziertes Netzwerk im Sinne einer palliativen Versorgung geben,
damit Ehrenamtliche so begleitet werden, dass sie
nicht selber zum hilflosen Helfer degradieren.
Herr Kollege Parr, ich glaube, man sollte das einfach
einmal zur Kenntnis nehmen. Frau Graf hat nämlich
Recht.
Der zentrale Unterschied heißt also: Qualität und Qualifikation. Über Qualität und Qualitätsanforderungsprofile kann man nicht, auch nicht durch eine Bundesratsinitiative, in Verhandlungen eintreten. Entweder man ist
dafür oder man ist nicht dafür.
({3})
Aber gerade dieses hohe Anforderungsprofil an Qualität ist notwendig, damit die Ehrenamtler auch eine qualifizierte Anleitung, Ausbildung und Unterstützung erhalten können. Am Sonntag war ich Schirmherr beim
zehnjährigen Bestehen einer Hospizbewegung. Dort sagten die Betroffenen, als sie vor 20 Jahren angefangen hätten, habe man für die Ehrenamtlichen 20 Stunden Ausbildung aufgewendet. Heute erhalten sie 250 Stunden
Ausbildung, und zwar durch höher qualifiziertes Personal; denn es ist klar geworden, dass man das den Menschen schuldig ist, die sich für das Ehrenamt zur Verfügung stellen. Darüber kann man nicht verhandeln,
sondern man muss mit Blick auf das handeln, was die
Menschen benötigen und was notwendig ist.
Deshalb ist es konsequent, dass wir diese Fragen auch
im Gesetz verankert haben. Ich zitiere aus dem Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz:
...dass der ambulante Hospitzdienst ...unter der fachlichen Verantwortung einer Krankenschwester, eines
Krankenpflegers oder einer anderen fachlich qualifizierten Person steht, die über mehrjährige Erfahrung
in der palliativ-medizinischen Pflege oder über eine
entsprechende Weiterbildung verfügt und eine Weiterbildung als verantwortliche Pflegefachkraft oder
in Leitungsfunktionen nachweisen kann.
Ansonsten müssten wir die Frage stellen: Was hilft den
Ehrenamtlichen eine hauptamtliche Kraft, die keine Erfahrung in der Leitung von Menschen hat und die nicht
weiß, wovon sie spricht, wenn es um die Sterbebegleitung
und um die Bedeutung von palliativ-medizinischer Versorgung oder Palliativpflege geht?
Noch schlimmer: Wenn der hauptamtlichen Kraft diese
Qualifikationen und Kompetenzen fehlen, bleiben die
Ehrenamtlichen mit ihrer schwierigen Arbeit allein. Die
Folge ist, dass die Ehrenamtler dann niemanden mehr haben, auf den sie sich stützen können.
Es ist noch ein zweiter Punkt unbedingt zu beachten.
Ich zitiere noch einmal aus dem Gesetz:
Voraussetzung der Förderung ist außerdem, dass der
ambulante Hospizdienst... mit palliativ-medizinisch
erfahrenen Pflegediensten und Ärzten zusammenarbeitet.
Aus dem bereits am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen
Gesetz geht also ein weiteres Förderkriterium hervor: Voraussetzung für eine Förderung ist, dass die ambulanten
Hospizdienste mit in der Palliativpflege erfahrenen Pflegediensten zusammenarbeiten müssen, und das ist gut so.
Nur Palliativmedizin und Sterbebegleitung, in einer Einheit zusammengefasst, verkörpern Hospizarbeit. Wer
Teile davon abtrennt, kann nicht mehr von einer sinnvollen Hospizarbeit sprechen. Palliativmedizin und Sterbebegleitung müssen unabdingbar als eine Einheit betrachtet werden.
({4})
Bis zuletzt würdig zu leben beinhaltet eine qualifizierte
ambulante Versorgungsstruktur für Schwerkranke und
Sterbende, um möglichst vielen Menschen ein Sterben zu
Hause zu ermöglichen. Der Wunsch von 80 Prozent der
Menschen in Deutschland, zu Hause in ihrer familiären
Umgebung ihre letzten Tage verbringen zu können, ist leider nicht bestimmend. Die Wirklichkeit sieht nämlich anders aus: Nur 5 Prozent sterben tatsächlich zu Hause;
4 Prozent sterben in Hospizen oder Palliativstationen.
Bis zuletzt würdig zu leben bedeutet aber vor allem: ein
schmerzfreies Leben bis zuletzt. Ein schmerzfreies Leben
in dieser letzten Lebensphase ist aber nicht ohne Palliativpflege und Palliativmedizin zu erreichen. Ohne das Muss
zur Zusammenarbeit zwischen palliativ-medizinisch erfahrenen Pflegediensten und Ärzten ist das Ziel, bis zuletzt würdig zu leben, nicht zu erreichen.
Es ist nachvollziehbar und nicht überraschend, wenn
wir sagen: Qualität muss sein. Deshalb muss die Qualität,
die beschlossen worden ist, durchgesetzt werden. Sie werden daher nicht überrascht sein, wenn wir dem Gesetzentwurf des Bundesrates, der hinter unseren Vorstellungen geblieben ist, heute nicht zustimmen werden.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/8364 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 b: Abstimmung über den vom
Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung
der ambulanten Hospizarbeit auf Drucksache 14/6754.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8518, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die
Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die dritte Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Iris Gleicke, Dr. Hans-Peter Bartels, Anni
Brandt-Elsweier, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Albert
Schmidt ({0}), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Helmut Wilhelm ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes ({2})
Horst Schmidbauer ({3})
- Drucksache 14/6434 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({5})
- Drucksache 14/8354 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Letzgus
Ich eröffne die Aussprache. Mir ist mitgeteilt worden,
dass alle Reden zu Protokoll gegangen seien.1) Da für
mehrere Tagesordnungspunkte die Reden zu Protokoll gegeben wurden, sind Sie sicherlich damit einverstanden,
dass ich die entsprechenden Namen nicht alle nenne. Sie
erscheinen mit den Reden im Protokoll. - Damit sind Sie
einverstanden.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes, Drucksachen 14/6434 und 14/8354. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung
der CDU/CSU in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Schmidt ({6}), Dr. Wolfgang Bötsch,
Dr. Hans-Peter Friedrich ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Untätigkeit
der Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommission im Hinblick auf den Abschluss des Hauptprüfverfahrens in Sachen
Investitionsbeihilfen für Leuna/Minol
- Drucksache 14/8283 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Ich öffne die Aussprache. Auch hier sind alle Reden zu
Protokoll gegeben worden, sodass ich die Aussprache
schließe.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8283 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch damit sind Sie
einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heide
Mattischeck, Reinhard Weis ({10}), HansGünter Bruckmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Winfried Hermann, Marieluise Beck ({11}),
Volker Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fahr Rad - für ein fahrradfreundliches
Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({13}), Dirk Fischer ({14}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für ein fahrradfreundliches Deutschland
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs
- Drucksachen 14/6441, 14/3773, 14/3445,
14/8431 Berichterstattung:
Abgeordnete Heide Mattischeck
Wolfgang Börnsen ({15})
Albert Schmidt ({16})
Hans-Michael Goldmann
Ich eröffne die Aussprache. Auch hier sind alle Reden
zu Protokoll gegeben worden.3)
({17})
Deswegen schließe ich die Aussprache, was ich sehr bedauere.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8431. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 14/6441 mit dem Titel „Fahr Rad - für ein
fahrradfreundliches Deutschland“.
({18})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen
die Stimmen von CDU/CSU angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/3773 mit dem Titel „Für
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 6
2) Anlage 7 3) Anlage 8
ein fahrradfreundliches Deutschland“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des „Berichts der Bundesregierung
über Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs“ auf
Drucksache 14/3445 eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({19}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Klaus
Hofbauer, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Förderung der Grenzregionen zu den Beitrittsländern
- Drucksachen 14/6638, 14/7970 Berichterstattung:
Abgeordnete Winfried Mante
Markus Meckel
Peter Hintze
Michael Stübgen
Klaus Hofbauer
Christian Sterzing
Manfred Müller ({20})
Auch hier eröffne ich die Aussprache und stelle fest,
dass alle Reden zu Protokoll gegeben worden sind.1) Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf
Drucksache 14/7970 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Förderung der Grenzregionen
zu den Beitrittsländern“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/6638 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und der
Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus
({21})
- Drucksache 14/8739 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({22})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Auch hier eröffne ich die Aussprache und stelle fest,
dass alle Reden zu Protokoll gegeben worden sind.2) Des-
wegen schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/8739 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Dazu gibt es
keine weiteren Vorschläge. Sie sind einverstanden? -
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b
auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzierung der Sanierung von Rüstungsaltlasten in der
Bundesrepublik Deutschland
Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz - RüstAltFG
- Drucksache 14/7464 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({23})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Petra Bläss, Maritta Böttcher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Sofortmaßnahmen des Bundes bei der Rüstungskonversion einleiten
- Drucksache 14/8657 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({24})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Auch hier eröffne ich die Aussprache und stelle fest,
dass alle Reden zu Protokoll gegeben worden sind.3) Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7464 und 14/8657 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden? - Das sehe ich. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Neumann ({25}), Heide Mattischeck, Rudolf
Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD, der Abgeordneten Dr. Christian SchwarzSchilling, Hermann Gröhe, Hartmut Koschyk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU, der Abgeordneten Christa Nickels, Kerstin
Müller ({26}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 9
2) Anlage 10
3) Anlage 11
der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP
Menschenrechte und Entwicklung in Tibet
- Drucksache 14/8782 -
Ich eröffne die Aussprache und stelle fest, dass alle Re-
den zu Protokoll gegeben worden sind.1) Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache 14/8782
mit dem Titel „Menschenrechte und Entwicklung in Tibet“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Gegenprobe! Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS ist dieser Antrag
angenommen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Weltoffenheit als Chance für die Hochschulen
- Drucksache 14/7425 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({27})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Ich eröffne die Aussprache. Auch hier sind alle Reden
zu Protokoll gegeben.2) Deswegen schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7425 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Jetzt kommt noch ein Zusatzpunkt. Ich habe die Tagesordnungspunkte getauscht, damit wir nicht auf eine zu
Protokoll gegebene Debatte zurückkommen müssen. Somit ist nun dieser Zusatzpunkt der letzte Punkt des heutigen Tages.
Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Oktober 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft über die Durchführung der
Flugverkehrskontrolle durch die Schweizerische
Eidgenossenschaft über deutschem Hoheitsgebiet
und über Auswirkungen des Betriebes des Flughafens Zürich auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ({28})
- Drucksache 14/8731 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({29})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine halbe Stunde vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Stephan Hilsberg.
Sehr ge-
ehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gegenstand der heutigen Abenddebatte ist der Einstieg in
das Ratifizierungsverfahren eines deutsch-schweizeri-
schen Staatsvertrages. Dieser zielt auf eine deutliche Ent-
lastung des süddeutschen Raumes - insbesondere von
Baden-Württemberg - von dem Fluglärm, der von dem
Hauptflughafen der Schweiz, nämlich dem Flughafen
Zürich, ausgeht. Dabei spielen folgende Essentials eine
Rolle:
Erstens. Am Tag nach der Vertragsunterzeichnung
- das ist bereits jetzt - ist für die Nachtzeit von 22 bis
6 Uhr eine Nachtflugbeschränkung in Kraft getreten, die
insbesondere den Landkreis Waldshut entlastet. Landun-
gen auf den beiden Pisten 14 und 16 - dieser Flughafen
hat drei Pisten; die Pisten 14 und 16 befinden sich im We-
sentlichen in Nord-Süd-Richtung - dürfen über deut-
schem Gebiet nur abgewickelt werden, wenn es flug-
betrieblich und technisch unvermeidbar ist. Die anderen
Flüge über deutschem Gebiet haben in der Regel eine
Mindestflughöhe von circa 3 000 Metern über Normalnull
einzuhalten.
Zweitens. Ab dem 27. Oktober dieses Jahres treten für
Wochenenden und Feiertage für die Tagesrandstunden
von 6 bis 9 Uhr und von 20 bis 22 Uhr die gleichen Be-
schränkungen wie nachts in Kraft.
Drittens. Die Anzahl der Anflüge wird nach einer
Übergangszeit von 41 Monaten auf 100 000 pro Jahr be-
schränkt; diese Zahl bleibt dann konstant, unbeschadet ei-
ner wahrscheinlichen Zunahme des Gesamtluftverkehrs
am Standort Zürich.
Viertens. Mit der Festlegung eines Grenzabstandes für
die Abflüge und einer Mindesteinflughöhe von 3 000 Me-
ter über Normalnull in den deutschen Luftraum wird die
deutsche Bevölkerung vor dem wesentlich lauteren Ab-
fluglärm geschützt.
Fünftens. Mit der Verpflichtung der Schweiz, zusätz-
lich zu den Pisten 14 und 16 Präzisionsanflugverfahren
auf andere Pisten und Anflugverfahren mit Warteverfah-
ren über schweizerischem Gebiet einzurichten und ent-
sprechend zu nutzen, wird erneut ein erheblicher Teil der
aus dem Anflugverkehr resultierenden Umweltbelastung
auf Schweizer Gebiet verlagert werden.
Insgesamt, meinen wir, sind dies wesentliche Punkte,
die den süddeutschen Luftraum deutlich zulasten der
Schweiz entlasten. Gegenüber der alten Regelung von
1984, die die Benutzung des deutschen Luftraumes bis
zum Mai 2001 geregelt hat, sind weit gehende Verbesse-
rungen erreicht worden. Zum Beispiel enthielt die alte
Vereinbarung keinerlei Nachtflugbeschränkungen. Die
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 12
2) Anlage 13
Zahl der Überflüge in den Höhen unter 3 000 Metern über
Normalnull war eben nicht begrenzt. Vor dem Abschluss der
Vereinbarungen sind 154 000 Flüge unter 3 000 Metern über
Normalnull abgewickelt worden. Das ist deutlich mehr als
das, was jetzt im Vertrag als Zielvorgabe geregelt ist. Für die
Abflüge nach Norden bestanden überhaupt kaum Einschränkungen. Die wenigen Beschränkungen, die die Vereinbarung enthielt, wurden zudem von der Schweiz kaum
eingehalten.
Die alte Bundesregierung kannte das Problem. Sie hat
sich damit nicht beschäftigt. Protestbriefe sind keine politischen Maßnahmen. Die Landesregierung von BadenWürttemberg hat dabei mitgespielt, weil sie offenbar befürchtete, sonst auch für den Landesflughafen Stuttgart
mit gleichen Forderungen nach Beschränkung des Flugbetriebs konfrontiert zu werden.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hornhues?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege,
Sie haben uns ja geschildert, wie sehr wir entlastet und die
Schweizer belastet werden. Plant die Bundesregierung,
auch dafür zu sorgen, dass künftig weniger deutsche
Staatsbürger ab Zürich fliegen, damit vielleicht auch die
Schweizer durch die Deutschen entlastet werden können?
Sehr geehrter Herr Kollege, es wird weiterhin den deutschen
Staatsbürgern überlassen bleiben, zu entscheiden, von
und zu welchem Flughafen sie fliegen. Das betrifft auch
den Flughafen Zürich.
({0})
Lassen Sie mich fortfahren: Wir wissen, dass sich die
süddeutsche Bevölkerung noch mehr erhofft hatte, doch in
einem Kompromissverfahren bekommt man nie 100 Prozent dessen, was man gerne hätte. Ich glaube, Sie stimmen
mir zu, dass eine gütliche und ausgewogene Lösung immer besser ist als einseitige Maßnahmen.
Viele werden auf ein Schreiben des Schweizerischen
Bundesrats an das schweizerische Parlament verweisen,
mit dem dort das Vertragsgesetz zur Ratifizierung eingebracht worden ist. Dies spielt in der politischen Debatte
eine Rolle. Das Schreiben hat - das ist wichtig - auch den
politischen Zweck, dem schweizerischen Parlament die
Ratifizierung des Staatsvertrags nahe zu bringen; denn
- das ist unüberhörbar - es gibt in der Schweiz Stimmen,
die sagen, die Schweiz führe besser damit, wenn sie diesen Staatsvertrag nicht ratifizierte.
Wir meinen schon, dass das der Schweiz nicht gut
bekäme; denn dann sähen wir uns gezwungen, folgende
Maßnahmen durchzuführen: Zum einen würde die Flugsicherung sofort an uns zurückfallen, und zum anderen
entstünde sofort ein rechtsfreier Raum, den wir dann mit
einer eigenen Rechtsverordnung ausfüllen müssten, und
zwar ohne Rücksicht auf eventuelle Nachbarn im dortigen
Raum zu nehmen. Wir sind deshalb der Auffassung, dass
die Ratifizierung dieses Staatsvertrags auch für die
Schweiz die bessere Lösung ist.
In den vergangenen Monaten gab es den bedauerlichen
Absturz eines Flugzeugs der Crossair in Zürich. Danach
wurde der Vorwurf erhoben, der Staatsvertrag werde
schon in seiner Anfangsphase nicht eingehalten. Wir haben die Abwicklung des Verkehrs immer, insbesondere
nach diesem Absturz, sorgfältig beobachtet. Natürlich gewinnt man den Eindruck, dass Ausnahmeregelungen über
einen längeren Zeitraum zugegebenermaßen intensiv genutzt wurden. Das lag nicht nur an den infolge des Absturzes hoch gesetzten Wettermindestbedingungen für
Landungen auf die nachts zu nutzende Piste.
Wir werden der Schweiz gegenüber sehr deutlich werden, wenn bei uns der Eindruck entstehen sollte, dass der
Vertrag nicht eingehalten wird. Ich verweise hier auf die
Konsequenzen eines gar nicht erst zustande gekommen
Vertrags. Diese stehen uns jederzeit zur Verfügung. Es
gibt genug Möglichkeiten, diesen Vertrag durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deshalb: Unterstützen Sie dieses Gesetz, damit die süddeutsche Bevölkerung durch die Regelungen dieses Vertrags geschützt wird und wieder Frieden in der Region einkehrt.
Diesen hat die Region und haben wir insgesamt nötig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Thomas Dörflinger für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ich fürchte, Sie würden das nicht verstehen, und wir
bräuchten noch einen Übersetzer, Herr Kollege.
Es lohnt die Überlegung, was passiert wäre, wenn die
Tagesordnung des heutigen Tages so abgewickelt worden
wäre, wie sie ausgedruckt war, und die Kolleginnen und
Kollegen vor uns Ihre Reden nicht zu Protokoll gegeben
hätten. Dann hätten wir diese Debatte entweder um
2.30 Uhr morgens geführt oder aber die Reden zu Protokoll gegeben.
Ich frage, Herr Staatssekretär, nachdem diese Debatte
auf ausdrücklichen Wunsch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion heute in erster Lesung stattfindet: Warum sind Sie
so öffentlichkeitsscheu bei einem Staatsvertrag,
({1})
der der süddeutschen Bevölkerung bezüglich der Belastungen durch den Luftverkehr geradezu paradiesische Zustände zu versprechen scheint?
Es gibt Gründe, die ich ausführen werde. Zur Vorgeschichte will ich eine Bemerkung machen: Es war richtig
und fand die ausdrückliche Unterstützung unserer Fraktion und meiner Kollegen im Deutschen Bundestag, die in
ihren Wahlkreisen ebenso betroffen sind - das sind die
Kollegin Störr-Ritter, der Kollege Belle aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis und die Kollegen Kauder und Repnik -,
dass die Bundesregierung die Vereinbarung von 1984
gekündigt hat. Es fand auch unsere Unterstützung, dass die
Bundesregierung Verhandlungen mit der Schweiz aufgenommen hat, um die Fragen, die bekannt sind, in einem
Staatsvertrag zu regeln.
Wenn Sie aber die Botschaft nachlesen - im Sprachgebrauch unserer Geschäftsordnung würden wir von einer
Beschlussempfehlung reden -, die der Schweizer Bundesrat an den Nationalrat gegeben hat, dann wird deutlich,
wo der Knackpunkt dieses Vertrags liegt. Der Beratungsverlauf teilt sich in zwei Phasen. In der ersten Phase standen wir auf der Seite der Bundesregierung. Da wurde
nämlich glaubhaft der Eindruck vermittelt, der Vertrag
würde dazu dienen, die Belastungen künftig abzuschaffen
oder aber deutlich zu verringern.
In der zweiten Phase wurden die Verhandlungen auf
die ministerielle Ebene gehoben. Von diesem Punkt an
- dies ist nicht nur ausschließlich meine Meinung, sondern dies ist auch in der Botschaft des Bundesrates an die
Nationalrätinnen und Nationalräte nachzulesen - gestaltete sich der Beratungsprozess so, dass der Vertrag für die
Schweizer zustimmungsfähig wurde, weil nämlich die
deutsche Verhandlungsdelegation unter der Leitung von
Kurt Bodewig Zug um Zug die Positionen, die sie auch im
Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg, also vor der
Landtagswahl, vertreten hat, verlassen hat. Dadurch
wurde der Vertrag für die Schweizer zustimmungsfähig.
Heute stellen Sie sich, Herr Staatssekretär, hierher und sagen, dass nur das im Vertrag steht, was Sie ursprünglich
angekündigt haben. Das ist nachweislich nicht der Fall.
Es gibt acht zentrale Kritikpunkte zu diesem Staatsvertrag; ich will sie im Einzelnen nennen. Der erste Punkt,
der auch zu einer Bundesratsinitiative des Landes BadenWürttemberg geführt hat, betrifft die Frage der Verfassungskonformität mit Blick auf Art. 24 und Art. 87 d des
Grundgesetzes,
({2})
und zwar hinsichtlich der Frage, ob es denn gestattet ist,
dass die Bundesregierung Hoheitsrechte an einen ausländischen Staat respektive an ein ausländisches Unternehmen, in diesem Fall die Skyguide als privatrechtliche
Flugüberwachungsorganisation der Schweiz, überträgt.
Das Grundgesetz spricht von der Zulässigkeit der Übertragung an zwischenstaatliche Organisationen.
Ein Blick in den renommiertesten Grundgesetzkommentar, den wir haben, von Maunz, Dürig, Roman Herzog
und Rupert Scholz, hätte genügt, um festzustellen, dass
die Grenzen einer Übertragung von Hoheitsrechten sehr
eng gezogen sind und dass diese Bestimmung in dem
Staatsvertrag zumindest am Rande der Verfassungsmäßigkeit steht. Ich hätte erwartet, dass man die Verfassungskonformität dieses Vertrages klärt, bevor man ihn
dem Deutschen Bundestag zur Beschlussfassung vorlegt.
({3})
Der zweite Punkt hängt damit zusammen: Es ist durchaus gebräuchlich, dass bei grenznahen Flughäfen der angrenzende Staat die Luftverkehrsüberwachung übernimmt. Dies ist zum Beispiel beim Flughafen Salzburg
und dem angrenzenden Gebiet in Bayern der Fall. Wenn
Sie sich aber einmal das Gebiet ansehen, das zukünftig
nicht von der Bundesrepublik Deutschland, sondern von
der Schweiz luftverkehrsüberwacht werden soll, werden
Sie feststellen, dass dieses Gebiet nicht nur halb BadenWürttemberg, sondern auch einen Zipfel des Freistaates
Bayern umfasst. Dies geht weit über das hinaus, was eigentlich notwendig wäre, um den Betrieb auf dem Flughafen Zürich-Kloten zu regeln.
({4})
Dritter Punkt: Sie haben selbst darauf hingewiesen,
welche mögliche martialische Reaktion die Bundesregierung für den Fall plant, dass der Vertrag nicht eingehalten
wird. Der Fehler wurde schon einen Schritt vorher gemacht, Herr Staatssekretär. Wie nämlich soll bewiesen
werden, dass der Staatsvertrag nicht eingehalten worden
ist, wenn die Daten, die zur Überprüfung notwendig sind,
von einer der beiden Vertragsparteien bzw. einer nachgeordneten Organisation kommen? Wie wollen Sie in der
Gemeinsamen Luftverkehrskommission überprüfen, ob
die Schweiz diesen Staatsvertrag möglicherweise nicht
eingehalten hat, wenn die Daten von Skyguide geliefert
werden? Das ist schlichtweg nicht möglich.
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt zu sprechen
kommen: Sehen Sie sich bitte einmal genau die Ausnahmeregelungen in diesem Staatsvertrag an. Hierbei spreche ich einmal die Juristen unter den Kolleginnen und
Kollegen an. Ich habe noch keinen Vertrag gesehen, in
dem die Worte „und so weiter“ vorkommen. Selbst für
mich als Nichtjuristen erscheint diese Formulierung gänzlich unjuristisch. Juristen pflegen in der Regel sehr konkret und explizit zu formulieren. In diesem Staatsvertrag
werden bestimmte meteorologische Erscheinungen wie
Nässe und hohe Temperaturen erwähnt. Danach findet
man die Worte „und so weiter“. Damit haben Sie eigentlich jede meteorologische Erscheinungsform abgedeckt,
die man sich vorstellen kann.
Einen zweiten Punkt bei den Ausnahmeregelungen haben Sie selbst angesprochen: Die Beschränkungen gelten
nur für Flüge unterhalb einer Flughöhe von Flugfläche
100. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch daran,
dass wir über ein Gebiet reden, das nicht nur in BadenWürttemberg, sondern auch in der gesamten Bundesrepublik Deutschland zu den bevorzugten Feriengebieten
gehört. Das gilt für den Hochrhein, für den Südschwarzwald und insbesondere für den Bodensee. Ich frage mich,
wie die Zukunft dieser Tourismusregionen aussieht, wenn
Sie einen solchen Staatsvertrag abschließen.
({5})
Nächster Punkt. Herr Staatssekretär, Sie haben vermutlich zur Kenntnis genommen, dass vor wenigen Tagen ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs in BadenWürttemberg über den Warteraum RILAX ergangen ist.
In Ihrem Staatsvertragsentwurf steht, dass Sie der
Schweiz zumindest in der nächsten Zeit das Recht zubilligen, Warteräume auf deutschem Gebiet einzurichten.
Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg stellt in
seinem Urteil von vor wenigen Tagen fest, dass die Einrichtung des Warteraumes RILAX die Interessen der dort
betroffenen Bevölkerung nicht ausreichend berücksichtigt. Das heißt, Sie hätten sehr wohl die Möglichkeit
gehabt, in den bilateralen Verhandlungen zwischen der
Schweiz und Deutschland darauf zu drängen, dass die
Schweiz ihre Möglichkeiten ausschöpft, um auf ihrem
Staatsterritorium die notwendigen Warteräume für ZürichKloten einzurichten.
Ein Letztes: Sie räumen eine Übergangsfrist von
41 Monaten ein. Innerhalb dieser 41 Monate soll - es ist
eine Soll- und keine Mussbestimmung - die Schweiz beispielsweise durch die Umrüstung der Pisten dafür sorgen,
dass den Forderungen, die Sie erhoben haben, anschließend Genüge getan wird.
Erinnern Sie sich an die Genese des Staatsvertrages
und daran, wie die Schweiz mit der Vereinbarung von
1984 verfahren ist, die sie - das gehört auch zur Vollständigkeit - gut zwei Jahre eingehalten hat. Es wäre notwendig gewesen, das Ganze etwas konkreter zu formulieren
und nicht den Versuch zu unternehmen, dem Deutschen
Bundestag nur deshalb einen Staatsvertrag vorzulegen,
damit ein solcher vorgelegt wird.
Der vorliegende Entwurf schützt die Interessen der betroffenen Bevölkerung im deutschen Südwesten nicht.
Deswegen lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesen Staatsvertrag ab.
Herzlichen Dank.
({6})
Nun erteile ich dem
Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat ist es so: Wer in Südwestdeutschland Politik macht und Verantwortung trägt, weiß, dass die Themen
Fluglärm und Züricher Flughafen seit vielen Jahren eine
immense Rolle spielen, und zwar mit wachsender Vehemenz.
Überall, querbeet durch alle Parteien und in allen
Wahlkreisen entlang des Hochrheins, am Bodensee sowie
im Schwarzwald-Baar-Kreis, gibt es Proteste. - Meine
Kollegen von der CDU nicken mir zu: Die Zunahme des
Fluglärms in dieser Region ist belästigend und belastend.
Von daher war es aus unserer Sicht allerhöchste Zeit, etwas zu tun.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn es
1998 eines Grundes bedurfte, weshalb ein Regierungswechsel gut war, dann war es der, dass Sie als Opposition
jetzt erkennen können, was Sie hätten tun müssen, als Sie
in der Regierung waren.
({0})
Das ist die Weisheit, die ich aus der Rede des Herrn
Dörflinger herausgehört habe. Er hat durchaus kritische
Punkte erwähnt und viele Punkte der Bürgerinitiativen
aufgegriffen. Man fragt sich aber wirklich, warum in all
den Jahren weder die Landes- noch die letzte Bundesregierung diesen schwierigen und unsäglichen Zustand
durch ein Vertragswerk, das genau Ihren Forderungen entsprochen und die Bürgerinteressen berücksichtigt hätte,
nicht angegangen ist.
Das alles haben Sie nicht gemacht. Insofern muss ich
Ihnen leider sagen, dass Sie heute besserwisserisch aufgetreten sind. Man kann Ihnen zugute halten, dass Sie, genau wie ich, neu im Parlament sind. Da kann man das, was
vorher war, schon einmal vergessen. Kollege Repnik ist
aber schon lange genug in einer mächtigen Position dabei
und hätte schon längst aktiv werden können.
Unbestreitbar ist, dass dieser Staatsvertrag - gemessen
an den Zuständen vorher - bedeutende Verbesserungen
bringt. Man kann doch nicht bestreiten, dass mit diesem
Staatsvertrag eine deutliche Reduktion der Flugbewegungen innerhalb von drei Jahren erreicht wird.
({1})
Man kann auch nicht bestreiten, dass durch die Nachtflugverbote und die sie ergänzenden Beschränkungen an
Feiertagen insgesamt ein bedeutender Fortschritt für die
Bevölkerung erreicht wird. Ein Großteil der Bürger, die
protestieren, erkennen dies an und auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in dieser Region sagen das.
({2})
- Nein, ich bin oft genug dort. Diese Wahlkreise betreue
ich. Ich weiß, wovon ich rede.
Es ist vollkommen richtig - Sie müssen Ihren eigenen
Kollegen zurücknehmen, der danach gefragt hat, in wessen Interessen wir eigentlich reden und was mit den
Schweizern ist -, dass der große Schweizer Verkehrsflughafen Zürich seine Fluglärmbelastungen im Wesentlichen
auf Südwestdeutschland abgeladen hat. Natürlich fliegen
von dort auch Deutsche, aber es ist in erster Linie ein
Schweizer Flughafen. Es ist nicht rechtens und nicht richtig, dass vor allen Dingen die deutsche Bevölkerung davon betroffen ist.
Nun will ich gerne einige Kritikpunkte aufnehmen; das
sage ich in aller Offenheit. Ein Staatsvertrag wird von der
Regierung ausgehandelt. Parlamentarier werden dabei
weitgehend nicht einbezogen. Deswegen ist es klar, dass
einige der Punkte der Bürgerinitiativen nicht aufgenommen wurden. Ich kann aus Sicht der Grünen sagen: Wir
hätten uns gewünscht, dass die Zahl der Flugbewegungen
schneller reduziert und insgesamt niedriger wird. Die
Flughöhen von 3 000 Meter über Normalnull, die Sie genannt haben, können unter Umständen 2 000 Meter über
Grund bedeuten. Es wäre schön, wenn wir hier niedrigere
Höhen hätten vereinbaren können.
Das alles sind Punkte, die ich sofort unterschreiben
würde. Ich glaube, dies sollte nicht auf Dauer so bleiben.
Eine dauerhafte Belastung der Menschen durch den
Fluglärm ist nicht zu ertragen. Da der Flugverkehr so organisiert ist, dass Flugzeuge über dem Fughafen Warteschleifen drehen müssen, wodurch es zu Lärmbelästigungen kommt, muss es bei der Abwicklung des Flugverkehrs
zu einer Verbesserung kommen. Es ist nicht einzusehen,
dass Flugzeuge überhaupt aufsteigen dürfen, wenn man
weiß, dass sich ihre Landung verzögert, was dazu führt,
dass sie über Regionen kreisen müssen, die dann schwer
belastet werden.
Ich wünsche mir, dass beim Abschluss eines Staatsvertrags und bei möglichen Nachverhandlungen eine bessere
Beteiligung der Bürger vor Ort erreicht wird. Es ist doch
völlig klar: Wenn Bürgerinitiativen und Bürgermeister
mit ihrem Sachverstand einbezogen werden, dann werden
sie den Staatsvertrag anders als jetzt akzeptieren können,
weil sie sehen, wo Kompromisse gemacht wurden und zu
machen waren.
Ich finde es erstaunlich, dass Sie heute so auftreten,
als könne man bei internationalen Vertragsverhandlungen die eigenen Interessen einseitig durchsetzen. Ihr eigener Kollege hat so getan, als sei es völlig illegitim,
deutsche Bürgerinteressen in diesem Rahmen durchzusetzen. Sie haben sich zwar davon distanziert, aber innerhalb Ihrer Fraktion deutet das auf keine gute Absprache hin.
Ich will zum Schluss den Bürgerinitiativen und den
Bürgern vor Ort meinen herzlichen Dank aussprechen.
Mich jedenfalls haben sie immer mit Argumenten unterstützt und mich in der Sache kundig gemacht. Bleiben Sie
weiter dran. Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren
eine deutliche Verbesserung schaffen werden. Aber wir
sollten nicht aufgeben, um noch mehr herauszuholen.
Ein letztes Wort an die Opposition. Die eigentliche Lösung wäre, in Deutschland ein ambitioniertes Gesetz zur
Reduktion des Fluglärms durchzusetzen.
({3})
Dazu brauchen wir die Unterstützung aller, also auch Ihrer Landesfürsten. Es wäre gut gewesen, wenn zu Beginn
der Beratungen zum neuen Fluglärmgesetz nicht alle Ministerpräsidenten sowohl von der SPD als auch von der
CDU - allen voran Ministerpräsident Teufel - deutlich
signalisiert hätten: Wir wollen kein ambitioniertes Fluglärmgesetz. Dieses Gesetz hätte natürlich auch Veränderungen für die Flughäfen in Stuttgart, Frankfurt und in anderen Städten bedeutet. Wenn man etwas gegen Fluglärm
und für die Bevölkerung tun will, dann muss man konsequent sein und im eigenen Land neue Regelungen finden,
die dem Anspruch einer bürgerfreundlichen fluglärmreduzierenden Politik tatsächlich gerecht werden.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Ernst Burgbacher für die FDP.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich würde gern eine Bemerkung zur vorherigen Zwischenfrage des Kollegen
Hornhues machen. Sehr geehrter Herr Hornhues, Sie haben hier angedeutet, dass Deutsche nicht von einem
Schweizer Flughafen fliegen. Natürlich fliegen viele
Deutsche von Zürich aus. Übrigens ist der Flughafen
Zürich-Kloten auch für die deutsche Bevölkerung in diesem Raum ein ganz wichtiger Arbeitgeber. Das ist völlig
unbestritten.
Zumindest die große Mehrheit der Bevölkerung und
auch die Abgeordneten der Region sind nicht der Meinung, wir müssten den ganzen Lärm auf das Schweizer
Gebiet verlagern. Die Frage ist eine ganz andere. Die
Frage lautet: Ist eine gerechte Lastenverteilung zwischen
den Gebieten möglich? Man muss an dieser Stelle die
berühmte Goldküste am Zürichsee mit ihren schönen Villen erwähnen. Wenn ein verantwortlicher Schweizer Politiker offen erklärt: „Es geht nicht an, dass wir die Flieger
über der Goldküste beim Anflug warten lassen“, dann
können Sie sich vorstellen, zu welchen Reaktionen das in
der deutschen Bevölkerung führt. Hinzu kommt, dass die
Schweiz 50 Prozent ihres Luftraums für militärische
Zwecke gesperrt hat. Das hat natürlich enorme Auswirkungen, ist aber für die andere Seite so nicht nachvollziehbar. Diese Dinge spielen in unserer Region eine große
Rolle.
Durch die jahrzehntelange Nutzung des süddeutschen
Luftraumes für den Flughafen Zürich-Kloten hat sich der
Warteraum mehr und mehr auf deutsches Gebiet verlagert. Das ist nicht über Nacht gekommen, sondern diese
Entwicklung erfolgte nach und nach. Die Belastungen
durch den vermehrten Luftverkehr wurden immer stärker
und die Lärmbelästigung vor allem im Kreis Waldshut,
aber auch in den angrenzenden Kreisen Konstanz und
Schwarzwald-Baar bis hin zum Kreis Tuttlingen ist zum
Teil schon unerträglich.
Eines der Hauptanliegen der Betroffenen - in der Kürze
der Zeit kann ich nur auf wenige Punkte eingehen - war
die Verlagerung des Warteraumes RILAX. Das ist nach
wie vor ein großes Problem. Der Text des Staatsvertrags
enthält keine verbindliche Regelung, die eine Verlagerung
vorsieht, soweit diese - das ist völlig klar; mehr fordern
wir nicht - flugtechnisch möglich ist. Die Prüfungsoption,
die lediglich im Protokoll verankert ist, ist völlig unzureichend. Nach unserer Auffassung muss der Warteraum
RILAX unbedingt überprüft werden, da dessen Einrichtung nicht ordnungsgemäß zustande kam. In diesem
Punkt hat uns der Verwaltungsgerichtshof Recht gegeben;
daher muss es auf jeden Fall eine Überprüfung geben.
Die FDP fordert die Bundesregierung auf, Herr Staatssekretär, auf die Schweiz dahin gehend Einfluss zu nehmen, dass sie ihre Verpflichtung baldmöglichst erfüllt, eigene Warteräume einzurichten und auch tatsächlich zu
nutzen. Die Rechtsverordnung, in der die Einrichtung des
Warteraumes RILAX geregelt ist, muss entsprechend
geändert werden.
Ein zweiter Punkt: Im Staatsvertrag ist geregelt, dass
die „Warteverfahren über deutschem Hoheitsgebiet in der
Regel nur für Anflüge auf die Pisten 14 und 16 genutzt“
werden. Dieser Grundsatz muss präzisiert sowie streng
überprüft werden.
Ein dritter Punkt: In Art. 17 des Staatsvertrages wird
ausdrücklich den im sektoriellen Abkommen zwischen
der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft „festgelegten Rechten und Verpflichtungen“ ein Vorrang eingeräumt. Dies sorgt zumindest für Unsicherheit; denn offensichtlich kann nach
Schweizer Erwartungen die Kontingentierung der Anflüge durch zukünftiges EU-Recht hinfällig werden. Der
Verzicht auf entsprechende Vorrangregelungen des Vertrags ist aus Sicht der FDP unverständlich. Wir werden
Schwierigkeiten haben, dem so zuzustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten immer
ein hervorragendes Verhältnis zu unserem Nachbarn im
Süden. Dieses Verhältnis wird auch nicht auf den Prüfstand gestellt werden. Der vorliegende Vertrag ist aber absolut unzureichend. Wir können dem Bundesverkehrsminister den Vorwurf nicht ersparen, dass der Vertrag
schlecht ausgehandelt ist. Deshalb fordern wir im Interesse der betroffenen Bevölkerung dringend Nachbesserungen des deutsch-schweizerischen Staatsvertrages.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun
Dr. Winfried Wolf für die PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Es ist ziemlich klar, dass dieser Vertrag für die baden-württembergische Bevölkerung einen Fortschritt darstellt, und zwar
unabhängig von der Frage, ob er juristisch sauber ist oder
nicht. Die Festlegungen, dass zum Teil ein Nacht- und
Wochenendflugverbot gelten soll und dass eine Reduktion der Überflüge stattfinden soll, sind wirklich ein Fortschritt.
Man muss aber sagen - mich wundert, dass bisher niemand dieses Wort in den Mund genommen hat -, dass der
Vertrag durch und durch von einer Doppelmoral geprägt
ist, weil alle dort vorgeschlagenen Regelungen der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland vorenthalten werden. So finden zum Beispiel in Frankfurt am Main
pro Nacht 120 Flüge statt.
({0})
- Es wird gerade korrigiert und gesagt, es seien noch
mehr. - Hunderttausende von Menschen engagieren sich
dafür, dass dort wenigstens ein begrenztes Nachtflugverbot eingeführt wird. Dabei wird auch darüber diskutiert,
dass im Koalitionsvertrag von 1998 versprochen wurde,
den „Schutz vor Verkehrslärm, besonders während der
Nachtruhe, auf eine verbesserte gesetzliche Grundlage“
zu stellen. Wir haben jedoch vier Jahre Nichtstun oder Lavieren erlebt. Wir stellen fest, dass Herr Trittin als grüner
Kaiser ohne Kleider dasteht. Wir stellen fest, dass es keine
Gesetzesinitiative zur Verminderung des Fluglärms gibt,
dass der Lärm bleibt und weiter wächst.
Ich halte fest, dass der Binnenflugverkehr in Deutschland seit 1990 um 50 Prozent gesteigert wurde, so auch in
den Jahren 1999 und 2000, und dass die durchschnittliche
Reiseweite bei jedem Binnenflug heute bei 454 Kilometern liegt, also eindeutig auf die Schiene verlagert werden
könnte. Ich stelle fest, dass die Entwicklung des Fernverkehrs der Bahn trotz des Wachstums des Binnenflugverkehrs seit acht Jahren stagniert.
Ich füge hinzu, dass zum Beispiel das Flugzeug
A 380/A 3XX ein Projekt darstellt, das mit 600 Millionen DM subventioniert wird. Die interne Kalkulation
von Airbus - schriftlich festgelegt von Herrn Bischoff von
DASA - basiert darauf, dass sich das Flugzeug nur rechnet, wenn sich der Flugverkehr nochmals verdoppelt.
Man muss 800 Jets verkaufen; man kann sie nur in den
Weltmarkt hineindrücken, wenn sich der Flugverkehr
nochmals verdoppelt, wie dies bereits in den letzten zwölf
Jahren geschehen ist.
Deswegen sage ich, dass dieser Vertrag möglicherweise unterstützenswert ist - das werden wir in den Diskussionen im Ausschuss sehen -, aber durch und durch
von Doppelmoral geprägt ist. Ich meine auch, Herr Staatssekretär Hilsberg, dass der von Ihnen geäußerte Satz, es
„würde der Schweiz nicht gut bekommen“, wenn sie den
Vertrag im Parlament nicht annähme, im Grunde auf den
Tatbestand der Erpressung hinausläuft. Es fragt sich, was
noch passieren soll. Ein nochmaliger Abgang eines Botschafters kann es ja wohl nicht sein.
Nochmals: Der Vertrag hat gute Seiten, ist aber durch
und durch problematisch.
({1})
Nun hat das Wort die
Kollegin Karin Rehbock-Zureich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin
schon erstaunt über die hier geführte Diskussion.
({0})
Wir haben seit 1998 Folgendes zustande gebracht: Erstens
wurde in einem Staatsvertrag mit der Schweiz festgeschrieben, dass eine Sonn- und Feiertagsregelung für
Ruhe von 20 Uhr abends bis 9 Uhr morgens sorgt. Zweitens haben wir festgelegt, dass die Nachtruheregelung für
die Zeit von 22 Uhr bis 6 Uhr in der Region einzuhalten
ist. Drittens - das ist das Wichtigste - haben wir festgelegt, dass der bisher zu 90 Prozent von Norden her erfolgende Anflug zum Schweizer Flughafen Kloten nun gedeckelt ist. Wir hatten bisher 160 000 Anflüge auf diesen
Flughafen ausschließlich über deutsches Gebiet. Nun haben wir eine Deckelung auf 100 000 Anflüge erreicht, unabhängig davon, wie die weitere Entwicklung der Flugbewegungen in Kloten insgesamt verlaufen wird. Dies
sind Erfolge für die deutsche Bevölkerung, von denen sie
in den letzten 16 Jahren nur geträumt hat, Herr Dörflinger.
Das muss man hier einmal ganz deutlich sagen.
({1})
Wir hatten 1984 eine Vereinbarung. Ich will Ihnen sagen, warum die Verhandlungen mit der Schweiz, die sich
über drei Jahre erstreckten, so schwierig waren. Der
Grund lag im Gewohnheitsrecht der Schweizer. In den
letzten 16 Jahren hat man sich aufgrund der ständigen Proteste der Bevölkerung zusammengesetzt, der Protest
wurde vorgetragen, aber es wurde nichts getan. Es hat sich
nichts bewegt. Aus dieser Haltung heraus, die man in den
letzten 16 Jahren vonseiten Deutschlands erlebt hat, dass
es nämlich sowohl der konservativen baden-württembergischen Landesregierung wie auch der konservativen Bundesregierung egal war, welche Proteste vonseiten der Bevölkerung herangetragen wurden, hat man einfach gar
nichts getan.
Ich gebe Ihnen Recht: Die Übergangsfrist ist sicherlich eine Kröte. Man muss der Ehrlichkeit halber aber sagen, warum diese Übergangsfrist festgelegt wurde. Wenn
wir diese Deckelung nämlich in einer kürzeren Frist verlangt hätten, hätte die Schweiz, die jetzt die bilateralen
Verträge mit der EU abgeschlossen hat, die am 1. Juni
rechtskräftig werden, diese Diskriminierung vor der EU
beanstanden können. Dies wäre ein Diskriminierungstatbestand gewesen, weil das in der Schweiz in diesem Zeitraum verwaltungstechnisch nicht abwickelbar ist. Das ist
für den Zeitraum von 41 Monaten - wie übrigens auch
von dem konservativen Landrat in einem Gutachten festgehalten wurde - eine Kröte, die es zu schlucken gilt.
Selbstverständlich waren die Verhandlungen schwierig. Wir mussten das EU-Recht und internationale Verträge berücksichtigen. Aber ich meine, mit dem Kompromiss, den wir erzielt haben, haben wir es endlich
geschafft, dass auch vor dem Hintergrund zu erwartender
steigender Flugbewegungen eine verbindliche Regelung
für die Region festgeschrieben wird.
Wenn Sie dem Staatsvertrag nicht zustimmen, frage ich
Sie, welche Alternative es mit Ihrer Politik gäbe.
({2})
Wäre die Alternative wieder 14 Jahre warten, reden und
nichts tun? Bei aller Kritik und angesichts dessen, dass bei
allen Kompromissen nicht für beide Seiten alles 100-prozentig geregelt werden kann, ist dies eine Regelung,
({3})
die die Region entlastet - aus der Region ist auch sehr
wohl Zustimmung zu hören - und es zustande gebracht
hat, dass wir endlich und vor allen Dingen auch nachts
Ruhe haben.
({4})
Wir haben die Situation - der Staatssekretär ist auch
darauf eingegangen und ich bin dankbar für diese klaren
Worte -, dass wir - auch das ist aus dieser Haltung heraus
entstanden - zwar selbstverständlich Ausnahmeregelungen zulassen, um bei schwierigen Wetterlagen Flugsicherheit zu gewährleisten, dass diese aber vonseiten der
Schweiz in manchen vergangenen Wochen in einem Ausmaß in Anspruch genommen wurden, das wir so nicht zulassen können und werden.
Ich meine, dass in der Schweiz der Bundesrat selbstverständlich gegenüber dem Parlament darlegen muss,
dass der Vertrag positiv zu beurteilen ist. Es ist nämlich
für die Schweiz schwierig, den Vertrag zu vertreten, wenn
in der Presse berichtet wird, dass man sich vom großen
Nachbarn über den Tisch gezogen fühlt. Auch diese Diskussionen zeigen, dass wir einen Kompromiss geschlossen haben und bereit sind, Lasten zu tragen. Die ganze Region legt auch immer Wert auf ein gutnachbarschaftliches
Verhältnis. Die Schweiz muss aber - das ist die Erwartung
für die Zukunft - endlich sämtliche Pisten mit allen technischen Voraussetzungen ausrüsten, damit die Anflüge
von allen Seiten - Nord, Süd, Ost und West - so abgesichert sind, dass sie genau wie von Norden her erfolgen
können.
Wir werden Wert darauf legen - das ist gegenüber der
Vereinbarung von 1984 auch neu -, dass eine gemeinsame
Luftverkehrskommission diesen Staatsvertrag begleitet
und die Einhaltung kritisch beobachtet. Das heißt, wir haben ein Gremium, in dem wir immer das zur Sprache bringen, was aus der Sicht der Region nicht in Ordnung ist.
Dass die technischen Voraussetzungen geschaffen werden
müssen, damit der Anflug auch von Süden möglich ist,
wird auf der Tagesordnung stehen.
({5})
Sie haben hier ausgeführt, dass Sie diesem Staatsvertrag nicht zuzustimmen werden. Wenn Sie diesem Staatsvertrag nicht zustimmen, werden Sie sich wahrscheinlich
genauso wie die Konservativen in der Schweiz verhalten,
die dem Staatsvertrag auch nicht zustimmen wollen.
Verfolgen Sie denn hierbei die gleiche Linie?, muss ich
Sie fragen. Wenn Sie dem Staatsvertrag nicht zustimmen,
dann stimmen Sie auch nicht zu, dass es hierbei zu einer
Verbesserung in der Region kommt. Gott sei Dank haben
wir die Mehrheit,
({6})
sodass wir dafür sorgen können, dass eine Entlastung
stattfindet.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/8731 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 19. April 2002, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend. Die
Sitzung ist geschlossen.