Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten
Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir beginnen die Sitzung auf Wunsch der Sozialde-
mokraten etwas später, weil diese noch eine Fraktions-
sitzung hatten.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, teile ich
Ihnen mit, daß der Tagesordnungspunkt 2, Beratung der
Vorlagen zur ökologischen Steuerreform, abgesetzt ist
und in der nächsten Woche, voraussichtlich am Mitt-
woch, beraten wird. Wir setzen die Haushaltsberatungen
- Punkt 1 der Tagesordnung - fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 1999
({0})
- Drucksache 14/300 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft
- Drucksache 14/350 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({1})
Finanzausschuß
Wir kommen zur Schlußrunde. Ich erinnere daran,
daß wir am Dienstag für die heutige Aussprache zwei
Stunden beschlossen haben.
Das Wort hat der Kollege Jacoby von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir haben in den zurückliegenden
Tagen dieser Haushaltswoche des Deutschen Bundestages über zentrale Fragen unserer Haushalts-, Finanzund Steuerpolitik diskutiert. Dabei haben drei Themen
im Mittelpunkt der Diskussionen gestanden:
Erstens. Wie gelingt es uns, die Arbeitslosigkeit abzubauen und zu mehr Beschäftigung in unserem Land zu
kommen?
Zweitens. Was muß geschehen, damit die Systeme
der sozialen Sicherheit zukunftsfähig und wetterfest
gemacht werden?
Drittens. Wie und wo können wir sparen? Eine Reduzierung der Staatsquote, verbunden mit einer Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast, ist in unserem
Land dringend notwendig.
Das sind die drei zentralen Themen unserer Diskussion. Ich möchte an die Überschrift der Haushaltsrede
des Bundesfinanzministers „Versprochen - gehalten“
anknüpfen. Sie haben in der Tat in den letzten Wochen
und Monaten Gesetze beschlossen; allerdings ist deren
Finanzierung bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesichert,
sondern offen.
({0})
Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, haben darüber hinaus Gesetze, die wir in der
letzten Legislaturperiode beschlossen haben, zurückgenommen - kostenbegrenzende Maßnahmen, deren Gegenfinanzierung bis zur Stunde ebenfalls nicht geklärt
ist. Entscheidend ist - in dem Sinne, der auch in Ausführungen des Kanzleramtsministers nachzulesen ist -: Das
Zurücknehmen von Reformen bedeutet noch keine
Reform. Ich stelle fest: Am Ende der Beratungen in dieser Haushaltswoche gibt es bis zur Stunde noch kein geschlossenes Politikkonzept, das den Herausforderungen
der Gegenwart oder gar der Zukunft - den Herausforderungen wirtschaftspolitischer, finanzpolitischer oder arbeitsmarktpolitischer Art - entspräche.
({1})
In diese Kritik stimmen auch andere mit ein, und
zwar solche, die unverdächtig sind. Wenn zum Beispiel
der Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung darlegt,
die Bundesrepublik Deutschland stehe vor einem Jahrzehnt des Umbaus des Sozialsystems, des Subventions1760
systems, des Steuersystems und des Arbeitsmarktes,
dann kann ich nur sagen: Das alles vermissen wir in den
bisherigen Darlegungen der Koalition.
({2})
Jedenfalls schlagen Sie, auch in der Debatte dieser Tage,
die Schlachten der Vergangenheit.
Herr Minister, mir ist aufgefallen, daß Sie in dieser
Woche wieder das Argument mit dem Hinweis auf die
Steuerquote in unserem Land bemüht haben. Ich will
Sie daran erinnern, daß es in dieser Frage einen interessanten Brief des stellvertretenden Vizepräsidenten der
Industrie- und Handelskammer des Saarlandes, eines
Unternehmers, der weltweit über 5 000 Menschen beschäftigt, gibt, in dem er darauf hinweist, daß es völlig
falsch ist, die Steuerquote zum Vergleichsmaßstab zu
machen, weil in diese Steuerquote in anderen Ländern
ganz andere Mehrwertsteuerbeträge und zum Beispiel in
Dänemark, wo alles haushaltsfinanziert ist, Sozialversicherungsleistungen einfließen. Insofern ist der globale
Hinweis auf die Steuerquote nichts anderes als eine Ablenkung von den hausgemachten Herausforderungen, die
es hier in Deutschland anzunehmen gilt.
Besonders bedauernswert finde ich dies angesichts
der Tatsache, daß Sie in einer öffentlichen Diskussion
eingeräumt haben - Sie haben es so auf Papier gebracht
und unterschrieben; das ist also auch nachzulesen -, daß
die Steuerquote nicht taugt, um einen internationalen
Vergleich in bezug auf die Besteuerung einzelner Einkommensarten in unserem Land anzustellen. Wenn Sie
dieser Meinung sind, dann bringen Sie bitte in die Debatten des Deutschen Bundestages nicht dieses Totschlagargument ein. Das möchte ich Ihnen bei dieser
Gelegenheit sagen.
({3})
Deshalb bleibt für uns am Ende dieser Debatte bestehen: Ihre Steuerreform, die eine strategische Antwort
auf die Herausforderungen finanzpolitischer, wirtschaftspolitischer und arbeitsmarktpolitischer Art ist, erfüllt die Erwartungen in keiner Weise.
Herr
Kollege Jacoby, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Matthäus-Maier?
Ja.
Bitte
schön, Frau Matthäus-Maier.
({0})
Herr Kollege Jacoby,
ganz sicher sind Quoten immer schwierig zu benutzen,
weil man vieles, wie zum Beispiel das Kindergeld, herein- und herausrechnen kann. Können Sie mir erklären,
warum nach Ihrer Ansicht das Benutzen des Wortes
Steuerquote und die Einführung dieses Wortes in die
Diskussion durch den Finanzminister so furchtbar unsinnig sein sollen, wenn selbst die Bundesbank in ihren
letzten Berichten ausdrücklich auf die Steuerquote eingeht und feststellt, daß sie mit 22,1 Prozent sehr niedrig
liegt?
Frau Kollegin, daß mit
der Steuerquote argumentiert und diskutiert werden
kann, steht nicht in Frage. Nur, der Hinweis auf die
Steuerquote kann nicht dafür herhalten, die Notwendigkeit einer breiten Entlastung zugunsten des Mittelstands,
des Handwerks und der investierenden Wirtschaft zu bestreiten.
({0})
Das ist der entscheidende Punkt. Insofern geht Ihre Frage eindeutig an der Sache vorbei.
({1})
Meine Damen und Herren, was bisher an strategischen Antworten auf die Probleme, die sich in unserem
Land stellen, vorgelegt worden ist, erfüllt jedenfalls die
Erwartungen über weite Strecken in keiner Weise. Die
Absichten, das Steuersystem radikal zu vereinfachen,
sind völlig aufgegeben worden.
Herr
Kollege Jacoby, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?
Ja.
Herr
Michelbach, bitte.
Herr Kollege Jacoby, halten Sie die Diskussion um die Steuerquote nicht
für eine Frage, die zur Volksverdummung ins Volk getragen wird,
({0})
da eine Durchschnittsbewertung unter Einbeziehung der
Mehrwertsteuer, wie Sie gesagt haben, dem Vergleich
gar nicht standhält und gar keine Aussage zu der hohen
Steuerbelastung insbesondere der mittelständischen
Wirtschaft ermöglicht?
Ich will gleich im Zusammenhang mit den jüngsten Abläufen und den gestrigen Gesprächen im Rahmen des Bündnisses für Arbeit
auf die Notwendigkeit, eine wirkliche Steuerreform in
Kraft zu setzen, hinweisen. Jedenfalls hört man auch aus
der Bundesregierung heraus ganz unterschiedliche Zungenschläge zu diesem Thema, von denen manche das,
was ich eben gesagt habe, bestätigen. Deshalb ist meinen Ausführungen, Herr Kollege Michelbach, daß der
Hinweis auf die Steuerquote für die aktuelle Diskussion
völlig untauglich ist, nichts mehr hinzuzufügen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich will darauf hinweisen,
daß die Erwartungen nicht erfüllt worden sind. Deshalb
sind neben der Überschrift Ihrer Rede „Versprochen gehalten“, Herr Minister, als weitere Kategorie die Erwartungen in die Debatte einzuführen, die Teile Ihrer
Partei, an der Spitze der damalige Kanzlerkandidat, in
den Wochen und Monaten des Wahlkampfes im vergangenen Jahr geweckt haben. Damals ist jedenfalls die Rede davon gewesen, man müsse zu wirklichen Reformen
in unserem Land kommen. Dies ist unter der Überschrift
„Mit Mut und neuer Kraft für Innovation und Wachstum
in Deutschland“ zu Papier gebracht worden. Dort heißt
es:
Wir müssen Wirtschaft und Gesellschaft umfassend
modernisieren. Wer morgen sicher leben will, muß
heute zu Reformen bereit sein. Er muß sie kraftvoll
durchsetzen.
In dem Dresdner Manifest, das von Gerhard Schröder
geschrieben worden ist, heißt es sogar:
Um wirklich voranzukommen, müssen Brüche und
Sprünge gewagt werden, denn nur sie schaffen neue
Chancen.
Wir erleben in der Tat Brüche und Sprünge. Nur ergeben sich diese Brüche und Sprünge aus den nicht geklärten Grundsatzpositionen innerhalb der Regierung. Es
gibt in den zentralen Fragen jedenfalls kein überzeugendes Zukunftskonzept: Bewältigung der Herausforderungen des Arbeitsmarktes, des Umbaus des Sozialsystems
und der Verbreiterung der Möglichkeiten, um zu mehr
Investitionen und Wachstum in unserem Land zu kommen. Das gilt es, in der heutigen Debatte festzuhalten.
({1})
Wenn es noch eines Beweises für die nicht eingehaltenen Versprechen bedurft hätte, dann gibt es ihn jetzt.
Die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, die mit großen Erwartungen angekündigt wurden,
sind in ihrem bisherigen Verlauf und in ihrer Unverbindlichkeit nicht mehr zu überbieten. Auch dies muß
am heutigen Tag gesagt werden.
({2})
Wir können der heutigen Tagespresse entnehmen,
daß Schröder der Wirtschaft eine neue Steuerreform
verspricht.
({3})
Dazu will ich sagen: Sie haben in der letzten Woche den
erneuten Versuch unternommen, bei der Reform der
Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer über drei
Schritte zu einem Abschluß zu kommen. Das Thema
Unternehmensteuerreform haben Sie nur nachgeschoben
und waren gestern nicht in der Lage, entsprechende
Eckdaten zu präsentieren, was durch die kritischen
Kommentare sämtlicher Beteiligter deutlich wurde. Bezogen auf Ihr Motto „Versprochen - gehalten“ muß man
also feststellen, daß Sie im letzten Jahr weit hinter den
Erwartungen der sogenannten Neuen Mitte, des Handwerks, des Mittelstands und der investierenden Wirtschaft - im übrigen auch der Arbeitnehmerschaft, deren
Interesse auf den ersten und nicht allzusehr auf den
zweiten Arbeitsmarkt gerichtet ist - zurückgeblieben
sind.
({4})
Deshalb ist sich die gesamte Öffentlichkeit in der Bewertung Ihrer Politik einig: Sie ist enttäuscht.
Zum Bundeshaushalt selbst möchte ich sagen: Steigende Bundesausgaben, die weit über die Empfehlungen
des Finanzplanungsrates hinausgehen, eine höhere
Staatsquote und eine gemessen am Bruttoinlandsprodukt
niedrigere Investitionsquote sind die falschen Antworten
in der jetzigen Zeit. Herr Finanzminister, in diesem Jahr
können Sie trotz 30 Milliarden DM prognostizierter
Steuermehreinnahmen die Neuverschuldungsgrenze des
Art. 115 des Grundgesetzes nur deshalb einhalten, weil
Sie 10 Milliarden DM Privatisierungserlöse aus dem
vergangenen Jahr übertragen können. Soweit zum Thema Erblast und Bilanz im September 1998.
Angesichts der Tatsache, daß Sie außerdem die Neuverschuldungsgrenze nur deshalb einhalten können, weil
Sie die Bundesbürgschaften um 3 Milliarden DM ausgeweitet haben - diese werden als Investition gewertet,
sind es de facto aber nicht -, kann man feststellen, daß
Ihre Politik alles andere als der Ausdruck von Sparsamkeit und das ernsthafte Bemühen ist, die Staatsquote in
unserem Land zu reduzieren, um damit zu einer Senkung von Steuern und Abgaben als der Voraussetzung
für mehr Wachstum, Investition und Arbeitsplätze zu
kommen. Das ist der entscheidende Zusammenhang.
({5})
Deshalb sei noch einmal darauf hingewiesen: Was
wir bisher, in den ersten Monaten der Tätigkeit dieser
Bundesregierung, erlebt haben - das drückt sich auch im
Bundeshaushalt aus -, das ist nicht eine Entlastung
breiter Schichten der Bevölkerung, sondern das hat ausschließlich mit Belastung zu tun. Sie sollten die Gelegenheit des heutigen Tages nutzen, zu der Frage Stellung zu beziehen, mit welchen weiteren Steuererhöhungen - über die Einführung der Ökosteuer hinaus - zur
Bewältigung der von Ihnen selbst verursachten Risiken
in Milliardenhöhe zu rechnen ist. Das betrifft die Mehrwertsteuer, die Vermögensteuer und andere Steuerarten,
die in der Diskussion sind. Wir hören, daß jetzt die
zweite Stufe der Ökosteuerreform angegangen werden
soll. Wie wird die Entwicklung bei der Mineralölsteuer
und bei der Stromsteuer weiter vonstatten gehen?
Über diese Fragen muß diese Debatte Aufschluß geben. Denn das sind die Grundfragen, um die es in diesen
Wochen und Monaten geht angesichts dessen, daß sich
die konjunkturelle Situation eingetrübt hat, und angesichts der Situation, daß wir seit dem Regierungswechsel einen Zuwachs an Arbeitslosen in der Größenordnung von rund 470 000 haben. Das eine oder andere
mag saisonal bedingt sein. Aber Sie sehen selbst die
breite Enttäuschung, die breite Frustration derjenigen,
die Sie im vergangenen Jahr in den Wochen und Monaten des Wahlkampfes umworben haben und die wir jetzt
brauchen, damit wir die sozialen und die strukturellen
Probleme unseres Landes bewältigen können.
Das ist das Thema der heutigen Zeit. Deshalb sollten
wir auch in dieser Debatte zu diesen Themen von Ihnen
mehr erfahren, Herr Minister, als das bisher geschehen
ist.
({6})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ottmar
Schreiner von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst will ich einmal die
letztgenannte Zahl von Herrn Jacoby zurechtrücken. Sie
wissen genausogut wie ich, daß Vergleiche über wenige
Monate hinweg bei den Arbeitslosendaten völlig belanglos sind. Entscheidend sind die Jahresvergleiche.
Wir hatten im Januar dieses Jahres etwa 370 000 Arbeitslose weniger als im Januar letzten Jahres,
({0})
das heißt, die Arbeitslosenquote ist von 12,5 auf 11,6
Prozent gesunken. Das ist die Realität. Insoweit sind wir
auf diesem Feld auf einem guten Weg.
({1})
Ich habe heute das Vergnügen, zum erstenmal nach
sehr langen 16 Jahren hier als Mitglied einer Regierungsfraktion reden zu können. Das ist ein gutes Gefühl,
darf ich Ihnen mitteilen. Ich hoffe, das wird noch sehr
lange anhalten.
({2})
Ich erinnere mich sehr gut an den Wechsel 1982.
Damals sind wir jahrelang mit angeblichen Erblasten der
Regierung von Helmut Schmidt gepiesackt worden.
Gemessen an dem, was die neue Bundesregierung an
Erblasten übernommen hat, ist das, was 1982 der Fall
gewesen ist, ein wahres Kinderspiel.
({3})
Ich will Ihnen heute, wenige Monate nach der Wahl,
einige zentrale Daten in Erinnerung rufen, die mit Ihrer
Regierungstätigkeit untrennbar verbunden sind.
Wir hatten 1982 eine Arbeitslosenzahl von etwa 1,8
Millionen. Bestand beim Regierungswechsel im Herbst
vorigen Jahres: 4,3 Millionen.
({4})
Sozialhilfeempfänger 1982: 900 000, 1998: knapp 3
Millionen, also mehr als eine Verdreifachung von ausgegrenzten Menschen.
({5})
Die Summe der Sozialversicherungsbeiträge betrug
1982 einschließlich des Arbeitgeberbeitrages 34 Prozent
vom Bruttoeinkommen; 1998 waren es 42 Prozent, ein
historischer Höchststand an Lohnnebenkosten. - Sie haben alle Ihre zentralen Ziele verfehlt.
({6})
Die Markenzeichen Ihrer Politik, meine Damen und
Herren von den Oppositionsparteien: von Jahr zu Jahr
steigende Arbeitslosigkeit in Deutschland, wachsende
Abhängigkeit von Millionen von Menschen von Sozialleistungen, steigende Lohnnebenkosten, damit ein zentrales Beschäftigungshemmnis. Alle Ihre Ziele, die
Lohnnebenkosten zu senken, sind verfehlt worden.
({7})
Umverteilung von unten nach oben war ein weiteres
Markenzeichen Ihrer Politik seit 1982. Und Sie haben
einen der größten Skandale zu verantworten: In einem
der reichsten Länder dieser Welt ist das Vorhandensein
von Kindern zum gesellschaftlichen Armutsrisiko geworden.
({8})
Das sind die wesentlichen Bilanzierungen, die Sie zu
verantworten haben. Die Zeit liegt noch nicht sehr lange
zurück.
Deshalb macht es wenig Sinn, in den Parlamentsdebatten jetzt mit einem gehörigen Ausmaß an Maulheldentum zu argumentieren.
({9})
Sie sollten zunächst einmal bedenken, was Sie selbst angerichtet haben und in welch schwieriger Ausgangslage
sich die neue Bundesregierung befunden hat.
({10})
Wenn man sich nun am Ende dieser Haushaltsdebatte
fragt, welche Lehre Sie aus Ihrer eigenen Bilanz gezogen haben,
({11})
was Ihre politischen Schlußfolgerungen sind,
({12})
dann verbleibt ein leeres Blatt. Ich habe in der gesamten
Haushaltsdebatte von der Unionsfraktion zu keinem
zentralen Politikfeld irgendeinen diskussionsfähigen
Vorschlag gehört. Nichts, absolut nichts!
({13})
Wo sind Ihre diskussionsfähigen Alternativen in Sachen
Beschäftigungspolitik? Wo sind Ihre diskussionsfähigen
Vorschläge in Sachen Wirtschaftspolitik? Wo sind Ihre
diskussionsfähigen Vorschläge in Sachen Arbeits- und
Sozialpolitik? Nur Gemaule, nur Genörgel, nur Herumkritisiererei! Sie haben in diesem Parlament nichts Positives zu präsentieren.
({14})
Wo sind Ihre Vorschläge im Bereich der Energiepolitik?
Wo sind Ihre positiven Vorschläge im Bereich der überfälligen Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts?
Nichts ist da. Sie sind intern in einem hohen Maße zerstritten.
({15})
Durch bloßes Maulheldentum können Sie nicht über diese Negativsituation hinwegtäuschen. Sie sind zur Stunde
nicht einmal oppositionsfähig. Das ist die wahre Lage.
({16})
Ihre Alternativlosigkeit ist kein Zufall. Sie ist die
zwingende Folge von völlig ungelösten inhaltlichen Widersprüchen innerhalb der CDU/CSU, insbesondere innerhalb der CDU. Die CDU zerfällt in zwei Lager. Sie
haben auf der einen Seite ein neoliberales Lager, das das
Wahldebakel vom 27. September letzten Jahres gewissermaßen als einen Betriebsunfall abzutun scheint, und
Sie haben auf der anderen Seite einen Sozialstaatsflügel
innerhalb der Union, der sich offenkundig auf dem
Rückzug befindet.
Wenn Sie sich die Analysen von Teilen der Union
ansehen, dann werden Sie sehr schnell feststellen, daß
die zentrale Ursache für Ihr Wahldebakel am 27. September darin besteht, daß die Menschen in diesem Lande
den Eindruck gewinnen mußten, daß die abgewählte
Bundesregierung jede Sensibilität für soziale Gerechtigkeit verloren hatte. Das ist der entscheidende Grund
Ihrer Abwahl.
({17})
Ich will Ihnen das beispielhaft an Hand von einigen wenigen Aussagen im Verlauf dieser Woche präsentieren.
Ihr Fraktionsvorsitzender Schäuble hat in seiner Rede
immer wieder die Rücknahme sogenannter Reformen
durch die neue Bundesregierung beklagt; das hat der
Kollege Jacoby eben wiederholt. - Übrigens ist der Reformbegriff von Ihnen verhunzt worden.
({18})
Reformen sind eigentlich Maßnahmen, die die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Sie haben die
Lebensbedingungen der Menschen verschlechtert; das
hat mit Reformen überhaupt nichts zu tun. Diese Begrifflichkeit wollte ich nur klarstellen. ({19})
Schäuble und andere Oppositionsredner haben immer
wieder beklagt, daß die Reformen der abgewählten Regierung zurückgenommen worden seien.
Ich will einmal zitieren:
Zwei Tage nach dem Wahldebakel vom 27. September 1998 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Artikel von Georg Paul Hefty
unter der Überschrift: Vom sozialen Gewissen der
Union enttäuscht. Dieser Artikel beginnt mit dem
Satz: Die Niederlage der Union hat sachlich wohl
einen Hauptgrund: die Sozialpolitik der CDU/CSUFDP-Koalition.
Genau das ist richtig. Das ist der entscheidende Grund.
Nochmals: Sie haben in den letzten 16 Jahren, ganz besonders in den letzten Jahren, jedes soziale Gespür vermissen lassen. Deshalb sind Sie zu Recht abgewählt
worden.
({20})
Meine Damen und Herren, die Menschen in
Deutschland wie in Europa können, wenn sie die politische Entwicklung in der Europäischen Union verfolgen, feststellen, daß Sie nicht die einzige konservative
Regierung sind, die abgewählt worden ist. Nahezu alle
anderen konservativen Regierungen in Europa sind
ebenfalls abgewählt worden. Die Lehre daraus ist Ende
der 90er Jahre: Die Menschen in Deutschland, die Menschen in der Europäischen Union wollen keine Rückkehr
in die soziale Kälte einer radikalen Marktwirtschaft. Sie
wollen eine vernünftige Balance, einen vernünftigen
Ausgleich, ein Gleichgewicht zwischen Marktkräften
einerseits und sozialen Ausgleichsmechanismen andererseits. Das ist eine der entscheidenden Lehren der
späten 90er Jahre.
({21})
Ich will Ihnen nicht ersparen, Ihren früheren Generalsekretär
({22})
- nicht den der CSU, sondern den der CDU - aus einem
Artikel im „Publik-Forum“, der erst wenige Wochen alt
ist - er stammt vom 29. Januar dieses Jahres -, zu zitieren. Da schreibt Herr Geißler:
Die CDU hat in der Mitte verloren - die Folge einer
Politik, die das Bündnis für Arbeit zerstört hat, das
Ergebnis einer Koalition mit den Liberalen, die mit
ihrer kapitalistischen Philosophie des Shareholder
Value über soziale Leichen gingen,
({23})
das Resultat einer rechtskonservativ geprägten Innen- und Ausländerpolitik. Diese Politik mündete
in eine Entfremdung von den Gewerkschaften, den
großen Sozialverbänden wie Caritas und Diakonie
und den Kirchen.
({24})
Meine sechs Jahre alte Warnung wurde bestätigt:
Wer nach rechts rückt, wird links regiert.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist die Analyse
eines klugen Kopfes aus der CDU/CSU-Fraktion, der
bei Ihnen leider Gottes keine Rolle mehr spielt.
({25})
Meine Damen und Herren, Sie sind abgewählt worden, weil es die Menschen leid sind, wenn ihnen erzählt
wurde, daß es wirtschaftlich nur dann aufwärts gehen
könne, wenn es sozial abwärts geht. Sie sind abgewählt
worden, weil es die Menschen leid sind, wenn ihnen gesagt wurde, daß die Arbeitnehmer bei den Löhnen immer bescheiden sein sollen, während gleichzeitig die
Gewinne einen neuen Höchststand erreichen. Sie sind
abgewählt worden, weil es die Menschen leid sind, daß
die Familie in Sonntagsreden hochgehalten wird, aber
Ihre Steuerpolitik vor allen Dingen die ledigen Spitzenverdiener begünstigt hat.
Die Steuerurteile des Bundesverfassungsgerichts
aus den letzten Wochen haben in einmaliger Klarheit
und schwarz auf weiß festgestellt: Die Politik der früheren Bundesregierung hat sich massiv gegen Familien
und gegen Kinder gerichtet. Die CDU/CSU und die
F.D.P. sind dabei nicht einmal davor zurückgeschreckt,
gegen die zwingenden Vorgaben der Verfassung zu verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen im
nachhinein bestätigt, daß Ihre Familienpolitik einer
Bankrotterklärung gleichkommt.
({26})
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie uns Sozialdemokraten gesagt wurde, für die Erhöhung des Kindergeldes sei kein Geld da, weil der Spitzensteuersatz
auf 39 Prozent abgesenkt werden müsse.
({27})
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Herr
Schäuble die Erhöhung des Kindergeldes als unfinanzierbare soziale Wohltat diskriminiert und entwertet hat.
Das sind die Resultate Ihrer Erklärungen zur Familienpolitik.
({28})
Das „Bündnis für Arbeit“ ist das zentrale Projekt
der neuen Bundesregierung. Auch dazu möchte ich Ihnen ein Zitat von Herrn Geißler aus demselben Artikel
im „Publik-Forum“ nicht vorenthalten:
Aus diesem Grunde war das Scheitern des Bündnisses für Arbeit im Frühjahr 1996 der eigentliche
gravierende Fehler der Koalition, und dieses
Scheitern sollte in den darauffolgenden zwei Jahren
bis zur Bundestagswahl das gesamte sozial- und
wirtschaftspolitische Klima bestimmen. Statt im
Konsens mußten alle Reformen in der Konfrontation durchgesetzt werden. Mit der Aufkündigung des
Bündnisses für Arbeit
- durch die Bundesregierung hatte eine neoliberale Ideologie über die soziale
Marktwirtschaft gesiegt. Das Ende des Bündnisses
für Arbeit war der Anfang vom Ende der CDU als
Regierungspartei.
Das präzise ist die Situation.
({29})
Das von Ihnen mutwillig herbeigeführte Ende des
„Bündnisses für Arbeit“ war der Anfang vom Ende Ihrer
Regierungstätigkeit. Da kann man nur sagen: zu Recht.
({30})
Das jetzige „Bündnis für Arbeit“ ist auf einem guten
Weg. Jeder, der sich mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit beschäftigt hat, weiß, daß es keinen Königsweg gibt. Es geht darum, Vertrauenskapital zwischen allen beteiligten Akteuren anzusammeln und
Schritt für Schritt voranzukommen. Nochmals: Wir sind
da auf einem guten Weg.
Die ersten Schritte sind zurückgelegt worden:
Erster Punkt. Die Lohnnebenkosten werden zum erstenmal seit Jahren abgesenkt werden. Immer wieder ist
von Ihnen gesagt worden, die hohen Lohnnebenkosten
seien das zentrale Beschäftigungsproblem. Die jetzige
Regierung macht zum erstenmal seit Jahren Ernst damit,
die Sozialversicherungsbeiträge, die Lohnnebenkosten,
abzusenken, und zwar Schritt für Schritt und Jahr für
Jahr.
Zweiter Punkt. Die Bundesregierung hat ein Versprechen wahrgemacht, nämlich unverzüglich ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Wenn der Fraktionsvorsitzende der
CDU/CSU, Herr Schäuble, dieses Sofortprogramm zur
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das sich zum
Ziel gesetzt hat, viele junge Menschen von der Straße zu
holen, sie einer Beschäftigungsmöglichkeit zuzuführen,
ihnen einen Ausbildungsplatz anzubieten und ihnen in
ihrer Not zu helfen, als „Ruhigstellung von jungen Menschen“ denunziert,
({31})
dann ist das keine Entgleisung mehr, sondern eine perverse Verdrehung aller Tatsachen.
({32})
Ich sage Ihnen dazu: Wer so redet, muß darauf hingewiesen werden, daß die frühere Bundesregierung, die
tatenlos den jährlichen Anstieg der Zahl arbeitsloser
junger Menschen hingenommen hat, mitverantwortlich
ist für steigende Jugendkriminalität, für das steigende
Abgleiten in die Drogenszene und für die steigende Gewaltbereitschaft von jungen Menschen.
({33})
Wer so redet, muß an diese Sachverhalte erinnert werden. Das haben Sie sich an Ihre Brust zu heften, meine
Damen und Herren von der Opposition.
({34})
Wer so redet, hat jedes Maß verloren und hat den Anspruch verloren, in diesem Parlament noch ernst genommen zu werden.
({35})
Herr
Kollege Schreiner, würden Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken erlauben?
Ja, wenn sie halbwegs intelligent ist. Bei Ihnen ist man einiges gewohnt, Herr
Hinsken.
({0})
Herr
Hinsken, bitte schön.
Es kann nicht jeder so
intelligent sein wie Sie, Herr Schreiner,
({0})
der Sie heute schon wissen, was morgen passiert. Wir
liegen auf der Höhe der Zeit. Deshalb stellen wir Fragen,
die diesbezüglich eben berechtigt sind.
Wenn Sie hier die Jugendarbeitslosigkeit ansprechen
und anprangern, daß sie in den letzten Jahren gewachsen
ist, pflichte ich Ihnen bei. Es wäre aber angebracht, daß
Sie hier auch hinzufügen, wo diese Jugendarbeitslosigkeit besonders angewachsen ist: nicht in den CDU/CSUgeführten Ländern,
({1})
sondern vor allen Dingen dort, wo Sie an der Regierung
sind. Da haben Sie versagt.
({2})
Das ist vor allen Dingen ein länderpolitisches Problem.
Sie sollten das nicht außen vor lassen, sondern diesbezüglich Stellung nehmen.
({3})
Mir ist der Sinn Ihrer Frage nicht völlig klar. Sie wissen genauso gut wie ich, daß
die Arbeitslosigkeit in Deutschland ebenso wie in Frankreich, in England, in Italien und in den Vereinigten
Staaten von Amerika regional unterschiedlich ausgeprägt ist. Es gibt Regionen mit starken strukturellen Problemen, die gelöst werden müssen - dort ist die Arbeitslosigkeit vorübergehend höher -,
({0})
und andere Regionen, die ihre strukturellen Probleme für die es andere Gründe gibt - bereits hinter sich gebracht haben. Insoweit ist es eine Binsenweisheit, daß
wir in Deutschland Regionen mit unterschiedlich hoher
Arbeitslosigkeit haben. Das ist in allen anderen industriell geprägten Ländern ganz genauso. - Sie sollten sich
jetzt hinsetzen; das war keine sehr erleuchtende Frage.
({1})
Ich will zum Schluß sagen: Am Ende dieser Legislaturperiode wird die neue Bundesregierung nicht an der
Arbeit der ersten drei Monate gemessen werden. Im übrigen hat sie in den ersten drei Monaten mehr Aufgaben
geschultert als die Schlafmützen der alten Bundesregierung in den letzten zwei Jahren.
({2})
- Warum fassen Sie sich an den Kopf? Meinen Sie sich
damit selbst? Fehlt Ihnen etwas? Kann man Ihnen helfen?
Herr
Kollege Schreiner, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fromme?
Wenn es ihn zufriedenstellt, bitte sehr.
Herr
Fromme, bitte schön.
Herr Kollege Schreiner, geben Sie mir recht in der Tatsache, daß
sich die Arbeitslosenquoten in den einzelnen Bundesländern recht unterschiedlich entwickelt haben und daß
die Situation in Bayern früher ganz anders gewesen ist
als heute?
Ich habe eben versucht,
darauf hinzuweisen, daß es in Bayern früher große
strukturelle Probleme gegeben hat, die einigermaßen
gelöst sind,
({0})
daß es in anderen Bundesländern aus ganz anderen
Gründen ebenfalls strukturelle Probleme gibt, die jetzt
gelöst werden, und daß deshalb die regionale Verteilung von Arbeitslosigkeit ungleichgewichtig ist. Ich
sage es noch einmal: Das ist nicht nur in Deutschland so.
Das ist zum Beispiel in Italien und in allen anderen Ländern auch so. Deshalb glaube ich, daß wir diesen Punkt
wirklich abschließen können. Schauen Sie sich die Statistiken in anderen Ländern an.
Ich will zum Schluß sagen: Die Regierungsarbeit
wird nicht an den ersten drei Monaten gemessen werden.
Ich wiederhole es: In den ersten drei Monaten sind mehr
Lasten geschultert worden, als dies die alte Bundesregierung in den letzten zwei Jahren getan hat. Das war
Schlafmützigkeit, Mehltau und wie die Stichworte alle
geheißen haben mögen.
({1})
Die Bundesregierung wird daran gemessen werden,
ob sie es schafft, in ihren zentralen Projekten deutliche
Fortschritte zu machen, die Arbeitslosigkeit erkennbar
zu reduzieren, den sozialen Zusammenhalt in unserer
Gesellschaft zu fördern, eine familien- und kinderfreundliche Politik neu zu gestalten und ein gesellschaftliches Klima der Toleranz, der Liberalität und der
guten Nachbarschaft nach innen wie nach außen zu
schaffen. Meine Damen und Herren von der Opposition,
das trauen wir von den Regierungsfraktionen uns zu.
Wir wünschen uns eine Opposition, mit der es sich in
der Sache wirklich zu streiten lohnt. Dazu brauchen Sie
noch eine Weile.
Herzlichen Dank.
({2})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Ottmar Schreiner hat eben nach Alternativen gefragt. Eine solche will
ich jetzt nennen.
({0})
Ich meine nämlich, unser Ziel muß sein, Barrieren gegen
Beschäftigung und gegen Arbeitsmarktflexibilität abzubauen, unnötige Bürokratie für kleine und mittlere Betriebe einzudämmen, den europäischen Binnenmarkt zu
vollenden und dafür zu sorgen, daß soziale Hilfe beschäftigungswirksam ausgerichtet ist. Unsere Bürgerinnen und Bürger werden sich schlicht weigern, mehr
Steuern und Abgaben zur Finanzierung eines nicht reformierten sozialen Sicherungssystems zu zahlen. - Das
wäre unsere Alternative. Das ist übrigens auch die Alternative von Tony Blair gewesen. Das hat er nämlich
auf dem Kongreß der europäischen Sozialisten in
Malmö gesagt.
({1})
Wenn wir uns auf dieser Basis finden können, können
wir sehr schnell zu einer guten Zusammenarbeit kommen. Das jedenfalls wäre unsere Alternative. Aber Ihre
Politik sieht nicht so aus wie die Politik von Tony Blair.
({2})
Aus der Koalition höre ich aber auch andere Stimmen, die, finde ich, ernst zu nehmen sind. So hat der
Kollege Metzger erklärt, der Staat müsse auch Ansprüche an seine Bürger stellen können. Sie müßten sich aus
eigener Kraft aus der Patsche ziehen können. Dazu würden stärkere Anreize gebraucht, aber auch ein System
der Sanktionierungen, wenn Arbeitslose beispielsweise
nicht an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen oder
keine Arbeit annehmen. - Kollege Metzger, da stimmen
wir überein. Aber wenn wir Freien Demokraten das in
der Vergangenheit gesagt haben, haben Sie uns der sozialen Kälte bezichtigt.
({3})
Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken.
({4})
Es ist noch kein halbes Jahr her, da sah man in unserem Lande Wahlplakate der Sozialdemokraten mit dem
Slogan: „Wir sind bereit“. Schon nach 100 Tagen rotgrüner Bundesregierung muß festgestellt werden, daß
davon überhaupt keine Rede sein kann. Da kommt der
Bundeskanzler dann mit einer ganz einfachen Entschuldigung: Wir haben uns in den ersten 100 Tagen zuviel
vorgenommen und wollten zu vieles zu schnell umsetzen.
Die F.D.P. kann diese Entschuldigung nicht gelten
lassen. Bundeskanzler Schröder hat jahrelang Erfahrungen als Ministerpräsident eines großen Bundeslandes
gesammelt. Ihm zur Seite steht Oskar Lafontaine, der
ebenfalls viele Jahre Ministerpräsident eines Bundeslandes war. Aber statt diese Erfahrungen in die Regierungspolitik der rotgrünen Koalition einzubringen und
einen Neuanfang für Deutschland zu wagen, finden wir
jetzt nur Übereifer, Unfertigkeiten, planlose Hektik,
Konzeptlosigkeit und vor allem auch Ahnungslosigkeit
vor.
({5})
Von ausgereiften und durchdachten Konzepten ist weit
und breit nichts zu sehen. Statt dessen präsentieren Sie
uns das muntere Spiel - wie von der „FAZ“ ironisch
vermerkt wurde -: „Roter Kasper verhaut herzerfrischend das grüne Krokodil“.
Wie unabgestimmt die Politik des Bundeskanzlers ist,
hat der Bundesfinanzminister, der ja auch noch SPDVorsitzender sein soll, vor wenigen Tagen bei den SPDParteilinken offenbart. So meldet „dpa“, Oskar Lafontaine habe sich bei den Parteilinken beklagt, daß der
Bundeskanzler ihn in den vergangenen Wochen ohne
Absprache wiederholt vor vollendete Tatsachen gestellt
habe. Manche Entscheidung Schröders habe er, Lafontaine, erst aus der Zeitung erfahren. - Da geht es dem
Bundesminister der Finanzen anscheinend nicht besser
als den Fraktionen von SPD und Grünen.
Bundesminister Trittin hat die Arbeit der Bundesregierung öffentlich so kommentiert: „Wenn politische
Vereinbarungen eine Halbwertszeit von Stunden haben,
dann ist es schwer, eine Koalition zu führen.“
({6})
Da wundert es nicht, daß ein Haushalt vorgelegt wird,
der den Zustand dieser rotgrünen Koalition so widerspiegelt.
Ich will noch einmal Bundesminister Trittin zitieren.
Er hat gesagt, die Unentschlossenheit der SPD trage zu
einem negativen Gesamteindruck der Bonner Regierungspolitik bei. „Es gibt in der SPD“, so Trittin, „eine
Option Schröder und eine Option Lafontaine.“ Trittin
muß es wissen; denn er ist Mitglied im Bundeskabinett.
Nun wird aber alles viel besser; denn die Fraktionsvorsitzenden von SPD und Bündnis 90/Die Grünen werden
zukünftig regelmäßig am Kabinettstisch Platz nehmen.
Die Probleme der rotgrünen Koalition, meine ich,
werden aber nicht weniger werden; denn es gibt nicht
nur Streit in Sachthemen, sondern es gibt auch Probleme
im menschlichen Umgang. Das alles liegt bei Ihnen viel,
viel tiefer. Bundeskanzler Schröder rühmt sich eines
guten Verhältnisses zu Altbundeskanzler Helmut
Schmidt. Das ist in Ordnung; von dem kann er auch etwas lernen. Aber ich frage Sie, meine Kolleginnen und
Kollegen: Sind die Grünen, die jetzt der Koalition angehören, nicht deshalb gegründet worden, weil sie gegen
die Politik des Kanzlers Helmut Schmidt waren? Joschka Fischer hat das in einem Interview mit dem „Spiegel“
durchaus eingestanden. In diesen Tagen erleben wir das
bei der Kernenergie: Von Helmut Schmidt wurde das
Ganze eingeleitet; die Grünen rudern jetzt zurück. Der
eine ist also sehr für Helmut Schmidt, und die anderen
mögen Helmut Schmidt überhaupt nicht. Sie sind sich in
der Richtung Ihrer Politik überhaupt nicht einig.
Was die Grünen in Wirklichkeit von Gerhard Schröder halten, das hat Joseph Fischer, jetzt Außenminister,
ebenfalls im „Spiegel“ einmal erläutert, und das möchte
ich Ihnen nicht vorenthalten. Die Frage des „Spiegel“ an
Joseph Fischer lautete:
Schröder stilisiert sich als Neuauflage von Helmut
Schmidt. Wie können diese Grünen dessen Epigonen zum Regierungschef wählen?
Die Antwort von Joseph Fischer:
Wie Sie richtig sagen, stilisiert er sich. Wenn die
Mehrheit es morgen erfordert, daß er sich zu Kaiser
Wilhelm stilisiert, würde er sich einen wunderbaren
Zwirbelbart zulegen. Und wenn es notwendig wäre,
als bayerischer König Ludwig II. ins Bundeskanzleramt zu kommen, würde er im Starnberger See
schwimmen und einen Schwan küssen.
({7})
So Joseph Fischer über Gerhard Schröder.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundeshaushalt
1999 zeichnet sich vor allem durch eines aus: durch
Notoperationen, Einmaleffekte, Verschiebebahnhöfe
und verwirrenden Zahlensalat. Der grüne Partner in der
Koalition sattelt noch drauf: Der Vorsitzende der Grünen-Fraktion schließt Steuererhöhungen nicht aus;
({9})
der haushaltspolitische Sprecher der Grünen fordert
Kürzungen bei den Beamtenpensionen; seine Kollegin
Hermenau, die in dieser Debatte noch sprechen wird,
verlangt Kürzungen beim Straßenbau Ost usw. Das werden ganz spannende Haushaltsberatungen werden. Wir
sind gespannt, wie sich die Koalition einigen wird.
Ich will die Gelegenheit meiner heutigen Rede nutzen,
noch auf einen Punkt aufmerksam zu machen, der uns als
F.D.P. wichtig ist. Ich möchte an dieser Stelle an die
Bundesanstalt für Arbeit und an das beaufsichtigende Ministerium für Arbeit und Sozialordnung appellieren: Die
sorgfältige Kontrolle aller Leistungen muß fortgesetzt
werden! Das sage ich auch mit Blick auf ein Thema, das
uns, glaube ich, alle beschäftigt: Das ist das Thema
Schwarzarbeit. Die Schwarzarbeit muß bekämpft werden. Die Schwarzarbeit hat für unsere Volkswirtschaft,
besonders für den Mittelstand, fatale Folgen.
({10})
Ich befürchte allerdings, daß wir zukünftig eine Ausweitung der Schwarzarbeit erleben werden. Das fällt
dann in die Verantwortung der rotgrünen Koalition. Ihre
Gesetzgebung zu den 630-DM-Jobs wird die Ursache
dafür sein.
Die rotgrüne Koalition lobt sich und feiert sich ab zum Beispiel, weil sie das Kindergeld angehoben hat.
Eine löbliche Sache! Ich frage mich aber: Wenn wir als
Koalition und Opposition in wichtigen Fragen zusammenarbeiten wollen, wäre es dann nicht besser gewesen,
einmal darüber nachzudenken, ob wir das Geld, das wir
für die Erhöhung des Kindergeldes verwenden, nicht
statt dessen in Bildung oder in andere Aktionen für die
junge Generation hätten stecken sollen?
({11})
Das wären doch haushaltspolitische Maßnahmen gewesen, um die Zukunft der jungen Generation zu sichern.
Mit dem Kindergeld werden Sie das nicht schaffen.
({12})
Es gibt noch einen Spruch des Bundesfinanzministers
- ich verkneife mir nicht, darauf einzugehen, Herr Bundesfinanzminister, denn Sie haben ihn, glaube ich, nicht
das erste Mal gebracht -, und zwar in einem Interview
der „Bild“-Zeitung. Der Kollege Ottmar Schreiner hat
ähnliches gesagt - heute allerdings nicht auf die F.D.P.
bezogen -; er sprach immer von der sozialen Kälte und
von der sozialen Gerechtigkeit. Nun aber zum Zitat des
Bundesfinanzministers:
Die F.D.P. will, daß die Reichen immer reicher
werden und die Armen immer ärmer.
So Lafontaine.
({13})
Ich bin ein bißchen enttäuscht, denn in meinem Manuskript steht an dieser Stelle „Beifall bei der SPD“. Schade, daß Sie das nicht gemacht haben.
({14})
Herr Bundesfinanzminister, wenn zukünftig die Einkommensschwachen belastet werden, so ist das doch die
Folge der rotgrünen Regierung in dieser kurzen Zeit von
100 Tagen. Ich nenne Ihnen einmal Beispiele: Wo ist
denn im Bundeshaushalt 1999 eine Erhöhung des
Wohngeldes? Das hat die SPD vor der Wahl versprochen, und jetzt hält sie dieses Versprechen nicht. Der zuständige Bundesminister Müntefering erklärt: „Wohngeld unterstützt die Familien zielgenauer als das Kindergeld.“ Wo er recht hat, hat er recht. Das meinen wir
auch. Wo finde ich denn im Bundeshaushalt 1999 die
von der SPD versprochene Erhöhung des Wehrsoldes
für unsere Wehrpflichtigen? Nichts davon finde ich im
Bundeshaushalt.
({15})
Mit der Einführung der Ökosteuer werden besonders
Rentner und sozial Schwache belastet. Das muß ich
doch zur Kenntnis nehmen. Wir Freien Demokraten sind
für ein Steuersystem, das stärker ökologisch ausgerichtet
ist. Das macht Sinn; Sie werden uns auf Ihrer Seite finden.
({16})
Doch was Sie mit Ihrer Ökosteuer machen, ist reines
Abkassieren.
({17})
So werden jetzt zum Beispiel Bus und Bahn durch die
Ökosteuer stärker belastet. Die sozial Schwachen zahlen
wieder drauf.
Die Umsetzung des Vorschlages, der aus den sozialdemokratischen Reihen gekommen ist, daß man zukünftig nur noch dreimal pro Vierteljahr zum Arzt gehen
sollte, würde doch wohl auch eher die sozial Schwachen
als die Reichen treffen.
({18})
Sie haben versprochen, den sozialen Wohnungsbau
stärker zu fördern. Nichts davon haben Sie im Bundeshaushalt gemacht. Nicht die F.D.P. macht die Armen
ärmer, sondern Ihre Politik, Ihr Bundeshaushalt 1999.
Im übrigen, Herr Bundesfinanzminister, die Reichen
sehe ich viel mehr in trauter Runde mit dem Bundeskanzler als mit Mitgliedern der Freien Demokratischen
Partei.
({19})
Der Bundesfinanzminister hat davon gesprochen, daß
die Binnennachfrage gestärkt werden soll. Ich finde, er
übersieht bei seinen Vorstellungen, daß eine solche
Stärkung der Nachfrage nur über Investitionen und Beschäftigung zu erreichen ist und nicht über die Verteilung finanzieller Wohltaten aus dem Bundeshaushalt.
In der Debatte dieser Woche ist erneut deutlich geworden, daß wir alle über die hohen Arbeitslosenzahlen
in unserem Land besorgt sind. Der Bundesfinanzminister hat den Rückgang der Arbeitslosenzahlen um bis zu
200 000 angekündigt. Herr Bundesfinanzminister, wir
werden Sie an diese Zahlen erinnern. Ich sage allerdings, wir hoffen trotz aller politischer Differenzen - wir
haben eine andere Auffassung über den Weg zum Abbau der Arbeitslosigkeit -, daß Sie dieses Ziel erreichen.
Im Augenblick sieht die Realität jedoch ganz anders aus.
Seit dem Regierungswechsel sind die Arbeitslosenzahlen in Deutschland gestiegen. Die „Wirtschaftswoche“
vermeldet für diese Woche, daß es seit dem Regierungswechsel 489 789 Arbeitslose mehr gibt.
({20})
Der Kollege Kalb hält die „Wirtschaftswoche“ gerade
hoch. Ich gehe davon aus - die „Wirtschaftswoche“ ist
seriös -, daß die Zahlen stimmen. Das ist die Wirklichkeit.
Die F.D.P. sieht als Oppositionspartei bei den Haushaltsberatungen die Aufgabe, die Regierung und ihren
Haushaltsentwurf kritisch und konstruktiv zu begleiten.
Wir sind zur Diskussion bereit. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, wenn Sie wirklich das
Gespräch mit uns wollen - Sie haben die Mehrheit, das
wissen und akzeptieren wir -, dann bitte ich Sie darum,
wirklich in den Ausschüssen mit uns zu diskutieren.
({21})
Sie haben immer angekündigt, daß Sie uns zu allem
möglichen einladen. Das haben Sie zumindest von diesem Pult aus nach dem Motto „Nehmen Sie an der Diskussion teil“ immer verkündet. Anschließend sah es in
den Ausschüssen so aus, daß sich nur ein, zwei Leute zu
Wort melden durften
({22})
und daß Sie anschließend den Schluß der Debatte beantragten. So sieht die Wirklichkeit aus.
({23})
Deswegen sind wir so verärgert.
Wir führen in den Ausschüssen gar kein Gespräch
mehr.
({24})
Wir diskutieren gar nicht mehr. Eines haben wir nie
gemacht: Ich kann mich nicht daran erinnern - auch wir
als alte Koalition haben bestimmte Dinge durchziehen
müssen -, daß wir Ihnen jemals das Wort in den Ausschüssen abgeschnitten hätten.
({25})
Sie haben doch teilweise filibustert. Ich erinnere daran, wie oft der Kollege Diller seinen Zettelkasten im
Haushaltsausschuß aufgemacht und uns stundenlang genervt hat. Keiner von uns hat jemals gesagt: Schluß der
Debatte. Das haben wir nicht gemacht!
({26})
Wir dürfen überhaupt nicht mehr in den Ausschüssen
diskutieren. Das ist der Umgang, den Sie mit der Opposition augenblicklich pflegen.
({27})
Wir sind zur Diskussion mit Ihnen bereit. Wir tauschen gern mit Ihnen Argumente aus, aber dann geben
Sie uns als Opposition in den Ausschüssen auch die
Möglichkeit, unsere Argumente überhaupt nennen zu
können.
({28})
Wir Freien Demokraten - das erneuere ich hier - sind
zur Zusammenarbeit in bestimmten politischen Feldern
- auch bei diesem Haushalt - mit der Regierung bereit.
Ich will das ausdrücklich sagen. Die Ausführungen des
Bundesverteidigungsministers in dieser Woche hier im
Bundestag - so meinen wir als Freie Demokraten - bieten durchaus die Möglichkeit, zu versuchen, den Etat
des Bundesverteidigungsministers gemeinsam zu verabschieden. Wir jedenfalls sind dazu bereit.
({29})
Wir könnten uns das auch in anderen Politikfeldern vorstellen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
Der grüne Kollege Metzger, den ich gern zitieren will,
hat den Haushaltsentwurf des Bundesfinanzministers als
verbesserungsbedürftig kritisiert. Er fordert die SPD auf,
sich um ein echtes Konsolidierungsprogramm zu bemühen. In der „FAZ“ wird derselbe Kollege zitiert:
Metzger ist allerdings skeptisch, daß die Koalition
ein Sparprogramm zustande bringt. „Ich sehe noch
zuwenig Substanz“, sagt er selbstkritisch.
Kollege Metzger, die F.D.P. teilt Ihre Auffassung:
zuwenig Substanz nicht nur bei Oskar Lafontaine und
seinem Haushalt 1999, sondern auch zuwenig Substanz
in der gesamten Bundesregierung.
Vielen Dank.
({30})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr
erleichtert, Herr Koppelin, daß Sie in dieser Woche
nicht mit Ihrem Lieblingsplüschteddy nach uns geworfen haben. So, wie ich Sie verstanden habe, ist das, was
Sie zu diskutieren gedenken, keineswegs der Bundeshaushalt. Sie haben nur über Ihre verletzte Eitelkeit gesprochen.
({0})
Ich möchte mich gern dem eigentlichen Thema, dem
Debattengegenstand dieser Woche, nämlich dem Haushalt, zuwenden. Wenn sich in den sehr schwierigen Diskussionen etwas gezeigt hat, dann ist es die Tatsache,
daß der Haushalt, der uns vorgelegt worden ist, durchaus
eine belastbare Planungsgrundlage für die Aufgaben, die
1999 anstehen, darstellt.
Es ist darauf verzichtet worden, sich solcher Tricks
zu bedienen, wie sie noch in Waigels Entwurf für 1999
standen: zum Beispiel die Bundesergänzungszuweisungen für das Saarland und Bremen zu unterschlagen oder
die Steinkohlehilfe nicht ordentlich auszuweisen.
({1})
Insofern kann man schon einmal festhalten, daß es sich
bei dem von uns vorgelegten Haushalt um eine Planungsgrundlage handelt, die man einigermaßen belasten
kann.
Die verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenze wird
eingehalten werden. Die Kreditfinanzierungsquote sinkt
von 12,3 Prozent im letzten Jahr auf 11,5 Prozent in diesem Jahr. Der Aufwuchs beträgt weniger als 2 Prozent.
Wir haben auch eine größere Haushaltsklarheit geschaffen, indem die Schattenhaushalte in den Bundeshaushalt
aufgenommen und der allgemeinen Verschuldung zugeordnet worden sind.
Für besonders gelungen halte ich - das ist mir ein besonderes Anliegen -, daß es zum erstenmal seit mehreren Jahren nicht dazu gekommen ist, daß Bundesleistungen für Ostdeutschland gekürzt werden. Im Gegenteil, es
werden sogar Schwerpunkte betont. Das betrifft Forschung und Entwicklung in den neuen Ländern und auch
- so notwendig, wie es eben noch ist - den zweiten Arbeitsmarkt.
({2})
Wir alle haben in dieser Woche sehr viel mit dem
Thema Erblast argumentiert. Die einen weisen sie zurück, die anderen werfen sie vor; das ist auch ganz normal. Ich versuche, das Thema Erblast noch einmal anders anzufassen. Wir hatten 1995 in der Bundesrepublik
Deutschland eine sehr unerquickliche Debatte darüber,
daß in Ostdeutschland die Kläranlagen viel zu groß
projektiert worden sind. Es gab einen gewissen Größenwahn hinsichtlich der Vorstellung, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung in den fünf neuen Ländern vollziehen wird.
Wir haben auch eine Erblast in diesem Bereich:
Durch die Haushalte der alten Bundesregierung wurden
in den letzten Jahren sehr viele infrastrukturelle Vorhaben auf Jahre hinaus festgeschrieben, die in den Jahren
1990 und 1991 angemeldet worden sind und inzwischen
zum Teil durch die Realitäten auch in ihrer Dimensionierung ad absurdum geführt werden. Das betrifft die
Energiewirtschaft, den Straßenbau, die Gewerbegebiete
und den Wohnraum. Natürlich wird in den nächsten Jahren die Debatte über solche Großprojekte über uns hereinbrechen, und man wird sagen, daß das nicht alles
richtig funktioniert hat. Als Ostdeutsche befürchte ich,
daß wir wieder eine Debatte an den Hals bekommen, in
der es heißt, wir Ostdeutschen könnten nicht mit Geld
umgehen. Dazu möchte ich einmal deutlich sagen: Diese
Vorgaben wurden von der Bundesregierung aus Bonn
gemacht.
({3})
Eine der Hauptaufgaben, der wir uns bei den vielen
Aufgaben, die es anzufassen gilt, gestellt haben, ist, die
Sanierung der Staatsfinanzen in Kooperation mit den
Kommunen und den Ländern in Angriff zu nehmen. Daß
wir das ernst meinen und damit tatsächlich beginnen, erkennen Sie auch schon an diesem Übergangshaushalt.
Anders kann man ihn noch nicht bezeichnen; denn die
Zeit war zu kurz, um alle strukturellen Veränderungen,
die vorgenommen werden müssen, durchzuführen. Man
will ja auch seriös arbeiten. Vor diesem Hintergrund ist
es ganz klar, daß der Haushalt 1999 erst einmal das Management der Altlasten, die in dieser Woche in verschiedener Art und Weise beschrieben worden sind, darstellen muß. Das läßt sich noch nicht anders machen.
Dennoch haben wir nicht auf das Einschlagen eines
Konsolidierungspfades verzichtet, was Sie daran erkennen, daß wir versuchen wollen, weitere 0,5 Prozent einzusparen, um bei der Neuverschuldung auf deutlich unter 1,5 Prozent zu kommen. Das halte ich für einen ganz
wesentlichen Beitrag, wenn man bedenkt, wie schwierig
die Finanzlage der öffentlichen Hand ist.
({4})
Ich glaube sogar, daß man dem Übergangshaushalt
1999 schon ansehen kann, daß es um drei große Ziele
geht, die neben der Nachhaltigkeit der Finanzpolitik und
-struktur stehen. Das erste - das ist nun wirklich allen
bekannt - ist die Senkung der Arbeitslosigkeit. Das wird
in Angriff genommen: Wir reden über die Ökosteuer,
auch wenn sich das nun um eine Woche verspätet, und
wir reden dann natürlich auch über die Senkung der
Lohnnebenkosten. Damit gehen wir erste Schritte, um
den ersten Arbeitsmarkt zu entlasten und dazu beizutragen, daß mehr Leute auf dem ersten Arbeitsmarkt in
Lohn und Brot kommen. Das halte ich für wesentlich.
Wir führen die Gespräche im „Bündnis für Arbeit“.
Die Theorie, die Sie in dieser Woche aufzubauen versucht haben und die besagt, dieser Haushalt sei so
fürchterlich, daß er die Stimmung im Land drücke und
die Konjunktur beschädige, ist ad absurdum geführt,
wenn Sie sich die heutige Berichterstattung - Sie lesen
ja ständig Zeitung, Herr Koppelin, wie ich vorhin bemerkt habe - zu Gemüte führen und einmal nachlesen,
wie sich das Klima in der Gesprächsrunde des „Bündnisses für Arbeit“ im Laufe dieser Woche deutlich erholt
und verbessert hat. Das ist ein gutes Zeichen.
({5})
Das heißt, dieser Haushaltsberatung wird zumindest außerhalb des Parlamentes Bedeutung beigemessen, wenn
schon nicht von seiten der Opposition.
Wir haben auch versucht, notwendige Impulse für die
Wirtschaft zu geben. Wir reden da über Impulse für
einige Branchen. Die Ökosteuerdiskussion ist nicht nur
eine Finanzdebatte, sie ist natürlich auch eine Wirtschaftsdebatte. Denn es geht darum, bestimmte Branchen in diesem Land, die wir für zukunftsträchtig halten,
zu stärken und zu puschen. Es gibt sogar schon erste
Programme, die in diesem Haushalt etatisiert sind, wie
das 100 000-Dächer-Solarprogramm. Ich halte das für
ganz wesentliche Schritte. Die Sachinvestitionen belaufen sich auf 14,1 Milliarden DM, im Vorjahr waren es
im Vergleich nur 13,5 Milliarden DM. Ich glaube, daß
das der richtige Weg ist.
Zwei Gerüste stützen diesen Haushalt und auch unsere Überlegungen zur mittelfristigen Finanzplanung. Das
eine Gerüst ist die soziale Gerechtigkeit. Wir haben sie
in vielen Einzelfragen in dieser Woche debattiert. Deutlich wird sie daran, daß die Nettobezüge von Empfängern kleiner und mittlerer Einkommen steigen. Das ist
zum 1. Januar zum Teil schon eingetreten und wird sich
weiter verbessern. Daran erkennen viele Menschen, daß
auf diesem Gebiet tatsächlich etwas geschieht. Durch
diese Verschiebung zugunsten der kleinen und mittleren
Einkommen wird die soziale Gerechtigkeit verbessert.
Das zweite Gerüst, das man diesem Haushalt und der
mittelfristigen Finanzplanung anmerken kann, ist die
Generationengerechtigkeit, die unserer Fraktion besonders am Herzen liegt. Wir haben in den letzten vier
Jahren versucht, den Begriff der Nachhaltigkeit nicht
mehr nur auf ökologische Fragestellungen zu konzentrieren, sondern ihn auf soziale, auf finanzpolitische
Fragestellungen auszuweiten. Man kann doch nicht, genausowenig, wie man eine verdorbene Umwelt hinterlassen kann, eine Finanzstruktur hinterlassen, die den
nachfolgenden Generationen jegliche Handlungsspielräume nimmt und ihnen verwehrt, ihr eigenes Leben zu
gestalten.
({6})
Sie haben in den Debatten gehört, daß wir in diese
Richtung arbeiten. Wir haben über die nachhaltige
Finanzstruktur gesprochen, wir haben über die Notwendigkeit der Konsolidierung gesprochen, so schmerzhaft
sie auch ist, weil nicht alle Blütenträume reifen werden.
Das Konsolidieren muß sein. Wenn es etwas gibt, was
alle erschrecken sollte, die sich mit der Finanzpolitik beschäftigen, dann ist es der sprunghafte Anstieg in zwei
Bereichen des Haushalts in den letzten Jahren, strukturell bedingt: Das betrifft die Alterssicherung und die
Zinsen. Das sind zwei Beispiele, die vor allem die jungen Leute und die nachfolgenden Generationen drastisch
belasten werden. Diese beiden Themen müssen angeAntje Hermenau
gangen werden. Diese Verpflichtung hat Ihre Generation, hat meine Generation den nachfolgenden Generationen gegenüber. Das ist eindeutig.
({7})
Ich hoffe, daß sich die Debatte weiter mit dem Bundeshaushalt beschäftigt, und freue mich auf die nachfolgenden Redner.
Danke.
({8})
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Christa Luft von der PDS.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie, daß ich mit
einem Wort an den Kollegen Jacoby und den Kollegen
Koppelin beginne. Auch wir von der PDS als Oppositionspartei prüfen diesen vorgelegten Haushaltsentwurf
natürlich ganz kritisch und wollen vor allen Dingen wissen, ob sich das, was als Einstieg in den Politikwechsel
angekündigt war, hier niederschlägt. Da haben wir vieles
auch Enttäuschende zu sagen. Aber daß Sie beide für Ihre Parteien so gar nichts an diesem Haushalt gefunden
haben, von dem man sagen könnte, es gibt etwas Hoffnungsvolles, hat mich doch sehr erstaunt. Sie haben eine
vorgefaßte Meinung zu diesem Haushalt. Sie desinformieren auch die Öffentlichkeit, wenn Sie nicht auf einige Punkte eingehen, die unser aller Unterstützung bedürfen. In den kommenden Berichterstattergesprächen, in
den kommenden Haushaltsberatungen müssen wir einige
Punkte festklopfen.
Frau
Kollegin Luft, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Ja.
Bitte
schön, Herr Kollege.
Kollegin Luft, haben Sie
vielleicht nicht zur Kenntnis nehmen können, daß ich
gesagt und auch angeboten habe, daß es durchaus Möglichkeiten gibt, bestimmte Politikfelder gemeinsam zu
beschließen? Ich habe als Beispiel - da werden Sie aber
Schwierigkeiten haben; ich vermute, daß da nur die PDS
nicht mitmachen wird - den Verteidigungshaushalt genannt. Es ist zum Beispiel eine positive Sache, daß wir
versuchen, dort gemeinsam etwas zu bewirken.
Herr Kollege Koppelin, Sie
haben Ihre Frage gestellt, bevor ich diesen Satz sagen
konnte: Bei Ihnen habe ich sehr wohl vernommen, daß
es einen Etat gibt, mit dem Sie sehr übereinstimmen, das
ist der Verteidigungsetat. Sie können überzeugt sein,
daß wir dazu eine Menge von Anträgen stellen werden,
um an diesem Etat noch etwas zu verändern.
({0})
Kolleginnen und Kollegen von der neuen Koalition,
wir finden es wichtig und gut, daß der Titel für die aktive Arbeitsmarktpolitik aufgestockt worden ist. Dadurch werden wir endlich davon wegkommen können,
im Haushaltsausschuß im nachhinein pausenlos überplanmäßige Ausgaben zu bewilligen, wie in der vergangenen Legislaturperiode geschehen, obwohl, wie es immer hieß, vorher realistisch geplant worden ist. Zudem
sind wir mit Wahlkampf-ABM konfrontiert worden. Das
war Ihre Hinterlassenschaft.
Wir sind also einverstanden mit der Aufstockung dieses Titels. Sie werden uns aber gestatten müssen, daß
wir sehr genau hinschauen, ob es nur bei einer quantitativen Aufstockung bleibt oder ob auch Kurs genommen
wird auf die Einleitung einiger qualitativ neuer Projekte.
Ich sage Ihnen: Wir werden einen Antrag zum Einstieg in eine Projektförderung, zum Beispiel für die
Schaffung eines Programms für feste Stellen in der Jugendarbeit, stellen. Jugendarbeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
({1})
Die Kommunen sind damit weit überfordert. Im übrigen
gibt es auf diesem Gebiet keinerlei Konkurrenz mit privaten Unternehmen, was immer als Einwand gebracht
wird, weshalb man die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik für die Finanzierung solcher Projekte nicht nutzen könne. Wir wollen den Einstieg in mehrjährige Projekte, beispielsweise in ein Programm für feste Stellen in
der Jugendarbeit, einfordern. Das ist für uns eine Umsetzung der neuen Quantitäten in eine neue Qualität.
Dasselbe darf ich bezogen auf die neuen Bundesländer sagen. Meine Ausschußkollegin Hermenau hat eben
schon gesagt, daß es in den neuen Bundesländern eine
große Verschwendung von Mitteln gegeben hat, nicht
weil die Menschen dort zu dumm waren, diese einzusetzen, sondern weil es in den vergangenen Jahren an zielgenauen Vergabekriterien mangelte. Es gab keinerlei
Beschäftigungsorientierung bei ihrem Einsatz. Auch das
wollen wir diesmal einfordern.
Wir wollen auch ein Modellprojekt zur Schaffung
regionalisierter wirtschaftlicher Kreisläufe einfordern. Wir müssen doch einmal wegkommen von der
Mittelstandsrhetorik.
({2})
Wenn wir endlich regionalisierte wirtschaftliche Kreisläufe initiieren, dann ist dies zum Nutzen kleiner und
mittlerer Unternehmen, die doch vor allen Dingen lokal
und regional anbieten, und auch zum Nutzen der Landwirtschaft, die gerade in diesen Tagen höchste Angst um
ihre Zukunft hat. Wir werden also einen Antrag stellen,
den Einstieg in ein Pilotprojekt zur Förderung regionalisierter wirtschaftlicher Kreisläufe mit Bundeshilfe auf
den Weg zu bringen.
Leider ist in der Rede des Bundeskanzlers, der den
Aufbau Ost zur Chefsache machen wollte und hoffentlich auch noch machen will, kein Wort explizit zu den
neuen Bundesländern gefallen. Ich möchte nicht annehmen, daß für Ihr Schweigen gilt: nomen est omen.
Ich habe heute früh mit großer Aufmerksamkeit gelesen, daß die ostdeutschen SPD-Abgeordneten, eine große Gruppe, sich nun zu einer Einsatztruppe formieren
und, wie es heißt, die Muskeln spielen lassen wollen. Ich
kann Sie dazu nur couragieren. Aber ein Kompliment
für Staatsminister Schwanitz, der aus dem Osten kommt
und erstmals die Chance hat, im Bundeskabinett wirksam zu werden, ist dies wahrlich nicht.
({3})
Ich beglückwünsche Sie aber, daß Sie die Muskeln
spielen lassen wollen. Wir wollen gerne konstruktiv dabei mitmachen.
Nun einige Worte zu dem, was uns enttäuscht. Sie
von der Koalition haben hier im Laufe der Woche
mehrmals gesagt, Ihr Markenzeichen bei diesem Haushalt sei: versprochen, gehalten. Ich könnte eine ganze
Reihe von Punkten aufführen, wo dies bei weitem nicht
zutrifft.
Hier wird immer das Stichwort Wohngeldreform
genannt und gesagt, daß dazu die Finanzierung fehle.
Ich will es aber einmal andersherum sagen: Dahinter
steckt doch die notwendige Absicherung des menschlichen Grundbedürfnisses auf sicheres und bezahlbares
Wohnen. Dies müßte bei der neuen Bundesregierung
ganz oben auf der Agenda stehen, wie es der Bundeskanzler auch im Wahlkampf angekündigt hat. Leider ist
das nicht der Fall. Bei diesem wichtigen Thema können
Sie auch nicht sagen: Wir sind erst ganze vier Monate
im Amt. Sie stellen schließlich einen Etat für ein Viertel
Ihrer Legislaturperiode auf. Dann müßte bei der Wichtigkeit des Themas der Einstieg auf jeden Fall gegeben
sein.
({4})
Auch die ökologischen Akzente sind schwach, wenn
man einmal von dem 100 000-Dächer-Solarpogramm
absieht. Das habe ich bei einer Regierungsbeteiligung
der Grünen nicht erwartet. Ich habe gedacht, daß jetzt
ein weites Herz für den Schienenverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr zum Vorschein kommt.
Was finden wir statt dessen? - Die Hand wird weiter
über den Transrapid gehalten. Man sagt heute: Da gibt
es Verträge; aus ihnen kommen wir nicht heraus. In all
den Jahren, als Sie über die notwendige Beendigung dieses unsinnigen Projekts gesprochen haben,
({5})
haben Sie gewußt, daß es Verträge gibt und daß man
schwer aus Verträgen herauskommt. Ich glaube, Sie
müßten in dieser Frage auf andere Weise Farbe bekennen, als das jetzt geschieht.
Nun lassen Sie sich auch noch von der F.D.P. den
Rang ablaufen, was die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale betrifft. Das finde ich noch nicht einmal zum Lachen. Wir haben das lange Zeit gefordert;
damals wurde das immer abgelehnt. Es steht in den
Wahlprogrammen der beiden heutigen Koalitionsparteien; im Haushalt findet sich nichts. Jetzt kommt die
F.D.P., die ja die Chance gehabt hat, beispielsweise
unsere Anträge auf diesem Gebiet zu unterstützen, und
meldet sich bei diesem für wahrlich viele Menschen
wichtigen Thema zu Wort. Sei es, wie es sei. Wir würden, wenn Sie, Herr Koppelin, morgen einen entsprechenden Antrag einbringen würden, diesem Antrag zustimmen.
Daß Sie beim Thema der Einnahmenerhöhung - jedenfalls zur Zeit - den Mehrwertsteuersack fest zugebunden halten, ist für mich sehr verständlich, und hoffentlich haben Sie die Courage, das auch durchzuhalten.
Daß Sie aber in bezug auf die Steuern allgemein
- von der Ökosteuer abgesehen - einer einzigen Tendenz das Wort reden, nämlich einer Steuersenkung, das
werden Sie nicht durchhalten können. Auch aus Ihren
eigenen Reihen sind ja Stimmen zu vernehmen, wonach
die Wiedereinführung der Vermögensteuer dringlich ist,
daß eine schnellere Reduzierung des jetzigen Ehegattensplittings unabdingbar ist und daß Sie nicht darum herumkommen, statt dessen eine konsequente Individualveranlagung oder auch ein Familienrealsplitting einzuführen. Das sind aber Steuererhöhungstendenzen, und
das könnten und sollten Sie auch heute sagen, weil das
die Masse der Bevölkerung gar nicht beunruhigen wird,
da sie nicht von solchen Steuererhöhungsmaßnahmen
betroffen sein wird. Diese sind aber unendlich wichtig,
damit die Löcher im Haushalt nicht noch größer werden.
({6})
Von diesem Haushalt 1999 meinte Herr Riester
gestern, er sei ein Haushalt des Vertrauens. Er ist aber in
seinen Einnahmestrukturen und seinen Ausgabestrukturen nicht wiederholbar. Herr Kollege Metzger hat ja
deshalb auch von einem Übergangshaushalt gesprochen.
Ob also das, was Sie heute einen Haushalt des Vertrauens nennen, auch noch im kommenden Jahr ein
Haushalt des Vertrauens sein kann, bleibt abzuwarten.
Insofern stellt sich die Frage, ob denn der Charakter der
Politik der neuen Koalition an diesem Haushalt schon
erkennbar ist. Eine solche Einschätzung kann man heute
überhaupt noch nicht vornehmen. Dieses Vertrauen muß
im kommenden Jahr neu erworben werden - unter zugegebenermaßen viel komplizierteren Bedingungen.
Bei den Einnahmen werden Privatisierungserlöse
nicht noch einmal im bisherigen Umfang zu erzielen
sein. Es ist ja auch fast nichts mehr da, was man verkaufen könnte.
({7})
Der Kollege Diller hat, als er hier als haushaltspolitischer Sprecher der damaligen oppositionellen SPD gestanden hat, immer gegen die von Herrn Waigel betriebene Ausplünderung des Bundesvermögens gewettert,
und er hat ihn zu Recht kritisiert. Daß aber diese Tendenz auch im 99er Haushalt mit Unterstützung der SPD
fortgesetzt werden wird, das gibt natürlich auch zu denken.
({8})
Auch was die Ausgabenstrukturen betrifft, wird es
angesichts der beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts viele Veränderungen geben müssen. Mir
scheint allerdings jede Häme, die hier im Laufe der
letzten Tage von manchem Kollegen der heutigen oppositionellen CDU/CSU und F.D.P. - vor allen Dingen von
der CDU/CSU - gekommen ist, unangebracht; denn Sie
haben eigentlich diese Urteile zu vertreten, von denen
ich sagen muß, daß sie notwendig und richtig sind.
({9})
Frau
Kollegin Luft, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ich bin am Ende. - Wenn es
um das Stopfen von Löchern geht, ist natürlich vor allen
Dingen wichtig, daß das „Bündnis für Arbeit“ zum Erfolg führen muß. Das wird die wichtigste Maßnahme
sein, um höhere Steuereinnahmen und Ausgabensenkungen möglich zu machen. Aber ich will Ihnen auch
sagen: Sie werden nicht darum herumkommen, zum
Beispiel über eine Millionärsabgabe nachzudenken.
Das ist auch in Ihren eigenen Kreisen kein Tabu mehr;
Konzerne, Banken, Versicherungen müssen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechend besteuert
werden.
Frau
Kollegin Luft, kommen Sie wirklich zum Schluß. Sie
haben anderthalb Minuten überzogen.
Wir können nicht durch
Eingriffe in soziale Leistungsgesetze die Haushaltslöcher, die entstanden sind, stopfen. Vielmehr brauchen
wir dazu schon einen Zugriff auf die Vermögen und die
Einkommen, die heute weder investiv noch konsumtiv
verwendet werden.
Danke schön.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Seehofer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Haushaltsdebatten
dienen im allgemeinen auch der Standortbestimmung in
allen wichtigen Politikfeldern. Gerade am heutigen Tag
findet ein informelles Treffen der europäischen Staatsund Regierungschefs statt, um die wichtigen Entscheidungen zur Agenda 2000 vorzubereiten. Es geht um den
künftigen Finanzrahmen der Europäischen Union, um
die schwierige Reform der Agrarpolitik und um die
Neuausrichtung der Struktur- und Regionalförderung.
Jedes dieser Themen ist von elementarer Bedeutung für
die innere Struktur der EU und auch eine wichtige Voraussetzung dafür, daß die Europäische Union im nächsten Jahrhundert weitere Staaten aus Mittel- und Osteuropa aufnehmen kann.
Wir bedauern außerordentlich, daß trotz der wichtigen Bedeutung dieses Gipfeltreffens in Bonn weder der
Bundeskanzler noch sonst irgendein Regierungsmitglied
auch nur mit einem einzigen Satz dem deutschen Parlament mitgeteilt hat, was sie bei diesen schwierigen Verhandlungen als deutsche Position einbringen wollen.
Wir bedauern dies und wiederholen, daß dies eine Verletzung der parlamentarischen Rechte und auch des
Grundgesetzes ist, das wir gemeinsam vor einigen Jahren dahin gehend geändert haben, daß vor solchen wichtigen Entscheidungen das deutsche Parlament informiert
und in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden
soll.
({0})
Alle europäischen Entscheidungen in den 90er Jahren
- vom Vertrag von Maastricht über den Amsterdamer
Vertrag bis hin zum Euro - sind mit breiten Mehrheiten
im Deutschen Bundestag und auch im Bundesrat verabschiedet worden. Dies war dadurch möglich, daß die
Bundesregierung unter Helmut Kohl immer rechtzeitig
den Deutschen Bundestag, die Ministerpräsidenten und
den Bundesrat in die Entscheidungsprozesse einbezogen
hat. Das führte am Ende dazu, daß es hier im Parlament
immer einen breiten Konsens über die Entscheidungen
in der Europäischen Union gab.
Die jetzige Regierung - Gerhard Schröder spricht viel
von Konsens - versucht immer wieder, an den wichtigen
Entscheidungsträgern vorbei Politik zu machen, jetzt
auch in der Europapolitik. Herr Lafontaine, Sie werden
in den nächsten Wochen erleben, daß die Ausschaltung
des Parlaments bei den wichtigen Gesprächen über die
Agenda 2000 ein ganz schwerer politischer Fehler war.
({1})
Sie verzichten auf die Unterstützung des deutschen Parlaments bei diesen schwierigen Verhandlungen, obwohl
diese Unterstützung ohne weiteres möglich wäre. Wir
sind dazu bereit, wenn man sich auf die im Juni und Juli
letzten Jahres im Parlament vereinbarten gemeinsamen
europäischen Positionen zurückbesinnt.
Es ist in den letzten Tagen oft behauptet worden, die
CDU/CSU würde in der Opposition eine neue Europapolitik - Gerhard Schröder sprach von einer populistischen Europapolitik - formulieren. Herr Lafontaine, wir
vertreten exakt die gleichen Positionen, die im Juni auf
einer Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz verabschiedet wurden und in der wir beim Finanzrahmen sowie bei
der Agrar- und Strukturpolitik übereinstimmten. Wir
vertreten auch jetzt exakt die gleichen Positionen bei
den Verhandlungen über die Agenda 2000, die der
Deutsche Bundestag noch im Juli letzten Jahres übereinstimmend festgelegt hat. Wir haben uns in keinem einzigen Punkt von diesen einvernehmlich erzielten PosiDr. Christa Luft
tionen entfernt. Deshalb fordern wir Sie auf, daß Sie sich
ab heute wieder auf diese Positionen zubewegen und die
Regierung den europapolitischen Konsens nicht mehr
einseitig aufkündigt.
({2})
Worum geht es uns? Ich beschränke mich auf einige
Punkte.
Zunächst möchte ich über den geltenden Finanzrahmen sprechen, der verändert werden muß. Vor Weihnachten ist von Ihrem Bundeskanzler einiges Unappetitliche gesagt worden: Scheckbuchdiplomatie; der Erfolg
der ganzen Europapolitik sei nur darauf zurückzuführen,
daß die Deutschen immer den Geldbeutel aufgemacht
haben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß der geltende
Finanzrahmen und die geltenden Beiträge an die Europäische Union gemeinsam mit Ihnen beschlossen worden sind - in diesem Parlament und auch im Bundesrat.
Der Beitrag, den die Bundesrepublik Deutschland im
Moment an die Europäische Union entrichtet, hat Ihre
Zustimmung gefunden.
Wir alle waren und sind der Überzeugung, daß der
Beitrag, der seit Mitte der 90er Jahre befristet bis Ende
1999 geleistet wird, auch aus übergeordneten Gründen
gerechtfertigt ist. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die deutsche Einheit und das herausgehobene
Interesse der Deutschen an der Fortsetzung und Verwirklichung der europäischen Integration auf Grund unserer Geschichte und unserer geographischen Lage.
Das war 1995 hier gemeinsame Position. Sie haben
diesem Finanzrahmen und auch dem deutschen Beitrag
dazu zugestimmt. Wir waren gemeinsam der Überzeugung, daß dieser deutsche Beitrag bis Ende 1999 gilt
und daß die Bundesregierung Helmut Kohl bis dahin ein
neues Beitragssystem in der Europäischen Union aushandelt. Damit haben wir auch begonnen.
Es ist der Regierung Helmut Kohl und dem Finanzminister Theo Waigel zuzuschreiben, daß die Europäische Kommission die Berechtigung der Forderung der
Deutschen nach einem gerechteren Beitrag - eine lange
umstrittene Frage - anerkennt. Dies ist von der Europäischen Kommission noch im letzten Jahr akzeptiert worden.
Es war lange umstritten, ob es sich hierbei nur um
einen deutschen Sonderweg handelt. Nein, die Europäische Kommission hat noch im letzten Jahr auf das
Drängen der Regierung Helmut Kohl und des Finanzministers Theo Waigel hin die Berechtigung dieses Anliegens festgestellt. Sie hat darüber hinaus festgehalten,
es gebe kein Argument, das rechtfertigen würde, daß die
Deutschen auf Dauer höhere Beiträge zahlen, als es
ihrem Anteil am Bruttosozialprodukt in Europa entspricht.
({3})
Herr Lafontaine, mir erscheint sehr wichtig klarzustellen: Es war ein gemeinsamer Weg.
Was wollen wir? Wir wollen für die Zukunft nach
dem Jahre 1999, daß die europäischen Mitgliedsländer
einen Beitrag zur Europäischen Union leisten, der ihrem
Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand entspricht. Herr
Lafontaine, wir werden in dieser Frage auch in der Öffentlichkeit so lange keine Ruhe bekommen, wie wir die
Bevölkerung nicht überzeugen können, daß unser Anteil
an der Finanzierung der Europäischen Union deshalb gerecht ist, weil er unserem Anteil am wirtschaftlichen
Wohlstand in Europa entspricht.
Wir sagen hier sehr deutlich: Die Bundesrepublik
Deutschland wird immer Nettozahler in der Europäischen Union sein; denn Solidarität in der Europäischen
Union ist nur denkbar, wenn die starken Staaten zur Solidarität mit den wirtschaftlich schwachen Staaten bereit
sind. Zur Akzeptanz dieser Solidarität wird die deutsche
Bevölkerung auf Dauer nur in der Lage sein, wenn wir
dem Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit entsprechen.
Wir werden Sie nach diesen Verhandlungen daran
messen, ob Sie diesen Grundsatz realisieren können.
Herr Lafontaine, es genügt nicht, daß der Bundeskanzler
am Mittwoch hier gesagt hat, es sei schon ein großer Erfolg, Ausgabenkonstanz zu erreichen. Ausgabenkonstanz, also eine Deckelung der Ausgaben, wäre schon
ein großer Erfolg; aber sie beseitigt nicht die Ungerechtigkeit der Finanzierung dieser Ausgaben.
({4})
Uns kommt es darauf an, daß die Ungerechtigkeit der
Finanzierung beseitigt wird.
Wir müssen einfach sehen: Momentan bezahlt die
Bundesrepublik Deutschland etwa 29 Prozent der Bruttoeinnahmen der Europäischen Union. Wir müßten nur
24 Prozent bezahlen. Jeder Prozentpunkt weniger bedeutet 1,5 Milliarden DM. Wir zahlen momentan 5 Prozent zuviel, das sind 7,5 Milliarden DM. Das ist exakt
derjenige Betrag, den Theo Waigel schon im letzten Jahr
als diejenige Summe bezeichnet hat, die bei den Verhandlungen über die Agenda 2000 erreicht werden muß.
Herr Lafontaine, wir werden Sie daran messen, ob Sie
dieses Ziel erreichen.
Es ist ein falscher Weg, auf der einen Seite darüber
zu verhandeln, wie die Deutschen weniger in die Europäische Union einzahlen können, aber auf der anderen
Seite eine Politik zu betreiben, wonach der Europäischen Union immer mehr Aufgaben und damit immer
mehr Finanzlasten übertragen werden. Wenn Sie auf der
einen Seite weniger Beitrag zahlen, aber auf der anderen
Seite die Kompetenzen für die Beschäftigungspolitik
oder die Harmonisierung der Sozialsysteme auf die Europäische Union übertragen wollen, werden Sie politischen Schiffbruch erleiden. Das geht nicht zusammen.
({5})
Ein Satz noch zu den 14 Milliarden DM: Herr Lafontaine, wir erheben die Senkung der Zahlungen um 14
Milliarden DM nicht zu einer politischen Forderung.
Wenn wir aber pausenlos mit dem Vorwurf konfrontiert
werden, wir würden eine populistische Europapolitik
betreiben, erlauben wir uns schon, darauf hinzuweisen,
daß diese Forderung von 14 Milliarden DM von den
Länderfinanzministern Deutschlands 1997 beschlossen
worden ist. Damals kamen sie zu dem Ergebnis, daß die
Bundesrepublik Deutschland im Durchschnitt der letzten
Jahre auf der einen Seite zuviel bezahlt und auf der anderen Seite zuwenig Rückflüsse erhalten hat. Diese Beschlüsse aus dem Jahre 1997 haben die Länderfinanzminister 1998 bestätigt, und alle Ministerpräsidenten haben
im Juni 1998 diese Forderung in Höhe von 14 Milliarden DM beschlossen.
Wir weisen nur darauf hin, Herr Lafontaine: Diese
Zahl wurde nicht von uns erfunden, sondern Sie haben
sie mit beschlossen. Deshalb müssen Sie sich gefallen
lassen, daß wir die Hälfte dieses Betrags - das ist der
Betrag, den Theo Waigel als Forderung in die Verhandlungen mit der Europäischen Union eingebracht hat nun zur Meßlatte für Sie, meine Damen und Herren, machen, damit gewährleistet wird, daß wir auf dem Boden
der Europapolitik der Vergangenheit bleiben.
({6})
Ein weiterer Punkt ist die Struktur- und Regionalförderung. Auch hier verfolgen wir zwei Ziele, die
nicht neu sind, sondern in der Kontinuität unserer bisherigen Europapolitik stehen. Wir wollen erstens die
Finanzmittel für die Strukturförderung konzentrieren
und zweitens auf diesem Feld eine höhere nationale Eigenverantwortung. Für das Erreichen dieser Ziele ist
das, was bisher im Zusammenhang mit der Agenda 2000
auf Arbeitsebene diskutiert worden ist, kontraproduktiv.
Sie wollen zum Beispiel die ländlichen Räume aus den
Fördergebieten herausnehmen und die Förderung einseitig auf die städtischen Ballungsräume verlagern. Wir
wissen um die Bedeutung der ländlichen Räume für
Kultur, Landschaftspflege und vieles andere mehr. Deshalb sage ich, Herr Lafontaine: Den Weg, die ländlichen
Räume als eigenständiges Fördergebiet aus der Regionalförderung herauszunehmen, werden wir nicht mitgehen.
({7})
Unser zweites Ziel bei der Regionalförderung ist, daß
die Bundesrepublik Deutschland größere Möglichkeiten
für die eigenständige Förderung von Problemgebieten
erhält. Genau gegensätzlich dazu laufen derzeit Ihre
Verhandlungen auf der europäischen Ebene. Sie wollen
die Möglichkeiten für die Bundesrepublik Deutschland,
Problemgebiete eigenständig zu fördern oder zu unterstützen, im Verhältnis zum geltenden Recht schmälern.
Wir haben heute die Möglichkeit, etwa 5 Prozent der
Problemgebiete in Deutschland unabhängig davon, ob
sie auch von Europa gefördert werden, national zu fördern. Diese 5 Prozent wollen Sie drastisch zurückfahren.
Ich sage Ihnen deutlich: Das paßt nicht zu unserer
gemeinsamen Überzeugung, daß wir mehr Subsidiarität
in Europa brauchen. Die Europäische Kommission
möchte, daß national nur die Gebiete gefördert werden
dürfen, die auch von der Europäischen Union gefördert
werden. Das entspricht nicht mehr Subsidiarität, sondern
mehr Zentralismus. Ich sage vorsorglich: Einen solchen
Weg zu mehr Zentralismus in der Regionalpolitik und in
der Strukturförderung, Herr Lafontaine, werden wir
nicht mitgehen.
({8})
Die Europapolitik wird durch den Vorschlag, über
den Sie verhandeln und den auch Sie vertreten, daß die
Europäische Kommission künftig die Möglichkeit für
eine Effizienzreserve bei der Strukturpolitik erhalten
soll, völlig auf den Kopf gestellt. Das heißt, daß die
Europäische Kommission unabhängig von irgendwelchen Gesetzen, Richtlinien oder Vereinbarungen einen
Reservetopf, der mit Milliardenbeträgen ausgestattet ist,
bekommt, aus dem sie nach eigenem Gusto verteilen
kann. Nach allem, was wir wissen, haben Sie, Herr Lafontaine, sich für diesen Weg eingesetzt. Sie wollen diesen Weg mitgehen. Angesichts der Kumpanei und der
Falschverwendung von Mitteln, über die wir in den
letzten Monaten diskutiert haben, stelle ich fest, daß dies
genau der falsche Weg ist. Nehmen Sie das Geld, geben
Sie es den Nationalstaaten, damit sie eine eigenständige
Regionalpolitik betreiben können.
({9})
Bezüglich des Kohäsionsfonds bleiben wir bei unserer Forderung. Dieser Fonds war immer dafür gedacht,
den Mitgliedstaaten zu helfen, an der Währungsunion
teilnehmen zu können. Nach Realisierung der Währungsunion hat er seine Funktion und seine Berechtigung für Staaten, die an der Währungsunion teilnehmen,
eigentlich verloren. Deshalb legen wir Wert darauf, daß
der Kohäsionsfonds degressiv im nächsten Förderzeitraum bis zum Jahr 2005 oder 2006 ausläuft.
Herr Lafontaine, ich wiederhole: Dies sind keine neuen Forderungen. Wir waren bis Juni, Juli auf nationaler
Ebene in diesem Punkt völlig einer Meinung. Nach allen
Verhandlungsergebnissen, die uns bisher bekannt sind,
kann man aber sagen, daß Sie diesen nationalen Konsens
sowohl im Hinblick auf die Beitragsfinanzierung als
auch auf die Struktur- und Regionalförderung einseitig
aufgegeben haben.
Der dritte Punkt ist die Landwirtschaft. Auch wir sind
für eine Reform der Agrarpolitik.
({10})
Aber die Vorschläge, die im Moment dazu auf dem
Tisch liegen, führen in den nächsten Jahren zu einem
höheren Finanzaufwand für die Europäische Union,
({11})
zu geringeren Einkommen für die Landwirte und zu
einer größeren Bürokratie für alle. Sie werden in
Deutschland niemandem erklären können, daß eine
Agrarreform mit dem Ziel durchgeführt werden soll, die
Agrarausgaben in der Europäischen Union zurückzufahren, wenn tatsächlich genau das Gegenteil passiert. Deshalb haben die Landwirte, die im Moment in Bonn protestieren, diesbezüglich unsere volle Unterstützung. Ihre
Agrarpolitik, Herr Minister, ist falsch.
({12})
Wir haben mehrfach von diesem Pult Ausführungen
zu der Frage gehört, wie es zusammenpaßt, auf der einen
Seite geringere deutsche Beiträge zu fordern und auf
der anderen Seite gegen eine Agrarreform zu sein. Herr
Finanzminister, wir haben einen ganz einfachen Vorschlag. Wir wollen, daß in der Agrarpolitik endlich das
Prinzip der Subsidiarität realisiert wird.
({13})
Wir wollen, daß die Nationalstaaten in der Agrarpolitik
mehr nationale Verantwortung erhalten. Das hat nichts
mit Renationalisierung zu tun. Wenn die Rückübertragung mancher Aufgaben derzeit nicht konsensfähig ist,
dann wollen wir zumindest, daß die Mitgliedstaaten in
einem höheren Maße als bisher die Einkommenspolitik
in der Europäischen Union mitfinanzieren - Stichwort:
Kofinanzierung.
Wir schlagen eine 50prozentige Kofinanzierung der
direkten Einkommensbeihilfen in der Europäischen
Union vor. Würde man sich darauf verständigen, dann
würde der gesamte EU-Haushalt jährlich um insgesamt
13 Prozent - das sind 23 Milliarden DM - und der
Agrarhaushalt um 30 Prozent entlastet werden. Deshalb,
Herr Lafontaine, war der von uns bis zur Bundestagswahl gemeinsam vertretene Standpunkt schlüssig. Sie
haben im Bundesrat als Ministerpräsident mitbeschlossen, daß der einfachste und beste Weg zur Durchsetzung
des Subsidiaritätsprinzips und zur Entlastung der EUHaushalte eine stärkere Kofinanzierung der Agrarhaushalte ist. Greifen Sie deshalb den Vorschlag wieder auf!
({14})
Eine letzte Bemerkung zur Osterweiterung. Wir sind
und bleiben für die Osterweiterung der Europäischen
Union. Wir wollen alles dazu beitragen, daß aus der
westeuropäischen Union eines Tages eine gesamteuropäische Union wird. Wir wollen keine neue Politik und
bleiben bei unserem Standpunkt, den wir vor der Bundestagswahl immer wieder formuliert haben:
Erstens muß sich bis zum Jahre 2002 die Europäische
Union institutionell reformieren, um erweiterungsfähig
zu sein. Dazu gehört die Verkleinerung der Kommission
und die Klärung der Frage von Mehrheits- bzw. Einstimmigkeitsbeschlüssen.
Zweitens müssen in absehbarer Zeit die Beitrittsinteressenten Reformen durchführen, um ihrerseits beitrittsfähig für die Europäische Union zu werden.
Drittens sollen für bestimmte Bereiche, wie zum Beispiel für den Bereich der Landwirtschaft, ausreichend
lange Übergangsfristen vereinbart werden, die im Interesse sowohl der Beitrittsinteressenten als auch der Europäischen Union liegen.
Das ist unsere eindeutige Position, an der wir nichts
verändert haben. In diesem Zusammenhang, Herr Finanzminister, möchte ich noch drei Punkte anführen.
Erstens. Lassen Sie davon ab, pausenlos vom Konsens zu reden, wenn Sie in wichtigen politischen Bereichen, wie jetzt bei der Vorbereitung der Agenda 2000,
am deutschen Parlament vorbei verhandeln! Weder Sie
noch der Bundeskanzler haben ein Wort über die Zielsetzungen verloren, die Sie heute bei den Gesprächen
auf dem Petersberg vertreten. Mit diesem Verhalten
werden Sie Schiffbruch erleiden. Es ist ein schwerer
politischer Fehler und - das sage ich noch einmal - eine
Verletzung des Art. 23 des Grundgesetzes,
({15})
nach dem Sie verpflichtet wären, vor wichtigen Verhandlungen das deutsche Parlament zu unterrichten und
ihm die Möglichkeit einzuräumen, eine Meinung zu äußern.
({16})
Zweitens. Herr Lafontaine, wir vertreten exakt die europapolitischen Positionen, die wir gemeinsam definiert,
formuliert und beschlossen haben, Sie als Ministerpräsident in den Bundesländern, wir hier im Deutschen Bundestag.
Drittens. Wir bieten Ihnen an, daran mitzuwirken, daß
die Agenda 2000 ein Erfolg wird. Sie ist eine sehr wichtige, elementare Entscheidung für die Zukunft der Europäischen Union und eine wichtige Voraussetzung für die
Erweiterung der Europäischen Union. Aber wir werden
diesem Reformpaket nur unter der Voraussetzung zustimmen, daß die notwendigen Kompromisse den Interessen der Bundesrepublik Deutschland entsprechen und
daß sie Europa wirtschaftlich, politisch und sozial tatsächlich voranbringen.
Europa ist für die Menschen und für die weitere
Wohlfahrt der Menschen kein Hindernis, sondern eine
große Chance. Wir fordern Sie auf, diese Chance in der
Realisierung ernster zu nehmen,
({17})
als Sie dies in den letzten Tagen und Wochen getan haben.
Herzlichen Dank.
({18})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Klaus Müller,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Seehofer, ich
sehe ein, daß man in einer Haushaltsdebatte nahezu alles
unterbringen kann, insbesondere wenn man am Tag davor in der GO-Debatte gescheitert ist.
Ich finde es richtig, daß wir die Europadebatte führen,
und freue mich, daß wir sie auch sehr detailreich führen
werden. Aber einen Punkt habe ich nicht verstanden.
Wenn ich Ihren Ausführungen richtig gelauscht habe,
dann sind Sie für Einsparungen irgendwo zwischen 7 und
14 Milliarden DM, für die zügige Osterweiterung der
EU und für die Wahrung des Finanzstatus in der Agrarpolitik. Wie wir das alles finanzieren sollen, müssen wir
nicht heute ausdiskutieren. Ich bin aber sehr gespannt
auf Ihre Vorschläge, um dann tatsächlich zu sehen, was
Ihre konkreten Anliegen sind und wie das seriös zu finanzieren ist.
({0})
Finanz- und Haushaltspolitik sind zwei Seiten einer
Medaille. Wenn Finanzpolitiker in Haushaltsdebatten
reden, dann ist das immer ein bißchen zwielichtig, weil
dann die Haushaltspolitiker recht leicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden könnten.
({1})
Denn wenn wir jetzt die Lösung für all die Haushaltsprobleme anbieten würden, womöglich über Mehreinnahmen, dann würden wir uns das, glaube ich, zu
leicht machen. Das wollen wir nicht, in voller Solidarität
mit den Kollegen Metzger und Wagner. Der Haushalt
1999 gehört erst einmal euch, inklusive der schweren
Aufgaben, die zu lösen sind und die wir dann gemeinsam mit den beiden Koalitionsfraktionen zu schultern
haben.
({2})
Trotzdem sind Finanz- und Haushaltspolitik zwei
Seiten der gleichen Medaille. Wenn die eine Seite so
versagt hat wie die Steuerpolitik der Regierung
Kohl/Waigel in den vergangenen Jahren, dann gerät
auch die andere Seite ins Trudeln. Das ist das Problem.
Das ist die Suppe, die wir jetzt auszulöffeln haben, mit
den Haushaltslöchern, die in den vergangenen Tagen
ausführlich zur Sprache gekommen sind.
In nur wenigen Bereichen ist die rotgrüne Koalition
so schnell ans Werk geschritten wie in der Steuerpolitik.
Inzwischen gehört es zum guten Ton, einzuräumen, daß
Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehört hätte. Wir hätten
uns bestimmt manche Probleme erspart, wenn wir uns
mehr Zeit genommen hätten; das ist richtig. Nur, umgekehrt haben wir die Sicherheit, daß wir nächste Woche
tatsächlich eine Steuerreform verabschieden werden,
was die letzte Koalition leider nicht geschafft hat, weil
sie schlicht zu spät daran gedacht und zu spät damit angefangen hat.
({3})
Die nächste Woche im Parlament wird dann die steuerpolitische Woche schlechthin. Wir werden am Mittwoch die erste Stufe der ökologisch-sozialen Steuerreform beschließen, mit einem Volumen von immerhin
zirka 12 Milliarden DM pro Jahr, und das Steuerentlastungsgesetz mit einem Entlastungsvolumen von immerhin 57 Milliarden DM, über vier Jahre verteilt.
({4})
- Herr Michelbach, schreien Sie doch nicht so!
Es wird aber auch Zeit, daß diese Verabschiedung erfolgt. Immer wieder wurde in den vergangenen Wochen,
mit kräftiger Hilfe aus der Opposition, Verwirrung gestiftet. Es ist notwendig, daß wir nächste Woche Klarheit darüber schaffen, daß die Steuersätze im Eingangsbereich um 6 Prozentpunkte sowie im Spitzensteuerbereich um immerhin 4,5 Prozentpunkte und die Lohnnebenkosten um 0,8 Prozentpunkte sinken werden. Beide
Gesetze sind sauber und solide gegenfinanziert. Wir belasten den Haushalt durch unsere Steuerpolitik nicht in
unzumutbarer Weise, wie das in steuerpolitischen Vorschlägen von CDU/CSU und F.D.P. vorgesehen war.
({5})
Wir haben einen klaren Kurswechsel vollzogen, der
keineswegs in Richtung Abkassieren geht,
({6})
wohl aber in Richtung Umschichten. Nach 16 Jahren
Politik zu Lasten von Kindern, Ökologie und nichtselbständiger Arbeit kann eine zukunftsweisende Finanzpolitik ohne Umschichtungen nicht auskommen. Auf die
zwei Projekte, die wir vor uns haben, möchte ich kurz
eingehen.
Wissenschaftler aller Nationen und selbst deutscher
Fakultäten sagen: Die Energiepreise geben nicht die
wahren Kosten wieder, und die Arbeitskosten sind zu
hoch. Dieser Gedanke muß für die F.D.P. so abschrekkend sein, daß sie alles darangesetzt hat, die abschließende Debatte zu verzögern.
({7})
Ihren eigenen Antrag, der endlich schriftlich vorliegt,
haben Sie nicht einmal in das Beratungsverfahren des
Finanzausschusses eingebracht.
({8})
Das fand ich extrem enttäuschend; denn das wäre
wirklich eine inhaltliche Debatte gewesen - nicht nur
dagegen sein, sondern auch eigene Vorstellungen entwickeln.
({9})
Kollegen von der F.D.P., das wäre hilfreich.
Wenn hier beklagt worden ist, wir hätten im Finanzausschuß nicht ausführlich genug debattiert,
({10})
dann antworte ich darauf: Das stimmt nicht. Mit Verlaub, kaum ein Ausschuß außer vielleicht dem Arbeitsund Sozialausschuß und dem Haushaltsausschuß hat in
den vergangenen Monaten soviel getagt wie der Finanzausschuß. Sie hatten Zeit, ausführlich über alles zu reden: drei Tage zum Steuerentlastungsgesetz, zwei Anhörungen zur ökologischen Steuerreform. Dafür war viel
Zeit. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
sind nicht nur der Sand im Getriebe, sondern das Geröll
im Getriebe.
({11})
Klaus Wolfgang Müller ({12})
Aber damit werden Sie trotzdem nicht zu Potte kommen. Denn wir werden die Politik, für die wir gewählt
worden sind, in der nächsten Woche verabschieden und
Ende März da, wo es notwendig ist, die Mehrheit im
Bundesrat dafür finden.
Wir haben in den vergangenen Tagen die Bedenken
des Präsidenten des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche, Herrn Jürgen Gohde, gehört. Ich finde,
das ist ein Punkt, den man sehr ernst nehmen muß. Denn
er hat sich konstruktiv in die Debatte eingebracht und
angemahnt, daß es in der zweiten und dritten Stufe der
Ökosteuer eine soziale Komponente geben muß. Das
ist richtig; das sehen auch wir so. Ich bin sicher, daß wir
dies vereinbaren werden. Für die Rentnerinnen und
Rentner ist dies bereits automatisch durch die Anpassung der Renten an die Nettolöhne, die ja steigen werden, der Fall. Aber wir sehen auch, daß wir in der zweiten und dritten Stufe tatsächlich weitere Änderungen
vornehmen müssen.
Lassen Sie mich jetzt zu der netten Äußerung von
Frau Hasselfeldt Anfang der Woche kommen. Sie hat
die Erhöhung des Kindergeldes als „für die betroffenen sicherlich schöne Angelegenheit“ bezeichnet. Ich
finde, hier kommt ein zweites Mal in dieser Woche neben der Anmerkung von Herrn Schäuble zur Ruhigstellung in bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit ein Zynismus durch.
({13})
1999 wird eine Familie mit zwei Kindern um rund 1 200
DM entlastet.
({14})
Sie nennen das eine „sicherlich schöne Angelegenheit“.
Ich nenne das - ich glaube, da haben wir Karlsruhe auf
unserer Seite - einen notwendigen Schritt in Richtung
Steuergerechtigkeit. Es ist der erste für Familien; weitere werden mit dem Familienentlastungsgesetz folgen.
Das ist notwendig und richtig.
({15})
Wir sind mit unserem Steuerentlastungsgesetz aber
auch den Belangen der Wirtschaft entgegengekommen:
Erhalt der Teilwertabschreibung, mittelstandsfreundlicher Verlustrücktrag, Freibeträge bei den Veräußerungsgewinnen, Steuerfreiheit von Abfindungen und
Senkung der Körperschaftsteuersätze. Wir haben uns
bewegt, weil wir ein lernender Gesetzgeber sind.
({16})
Wir sind nicht arrogant, wir sind nicht beratungsresistent, sondern wir hören zu, wenn uns Leute Ideen
geben.
({17})
Wir halten aber gleichzeitig an unseren Zielen der Steuersatzsenkung und der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage fest.
({18})
Darin werden wir uns nicht beirren lassen.
({19})
Der Bundeskanzler hat gestern angekündigt, daß die
nächste Etappe der Unternehmen-, Familien- und Ökosteuerreform zusammengefaßt und in einem Guß erarbeitet werden soll. Dies begrüßen wir ausdrücklich.
Denn damit wird garantiert, daß wir in diesem Jahr zwar
erstens noch viel Arbeit im Finanzausschuß haben werden, aber zweitens sowohl die Familien durch das Familienentlastungsgesetz entlasten als auch für die Unternehmen durch die Reform der Unternehmensbesteuerung ein vernünftiges, modernes Steuerrecht schaffen
werden. Gleichzeitig werden wir die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer und die Umwelt durch die zweite und
dritte Stufe der Ökosteuer entlasten. Es ist gut, daß wir
all dies noch dieses Jahr auf den Weg bringen, damit wir
nicht in die gleiche Situation geraten wie die jetzige Opposition in der letzten Legislaturperiode.
({20})
Herr
Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Gerne.
Bitte
schön.
Herr Kollege Müller, darf
ich Ihre Äußerung so verstehen, daß wir das zu verabschiedende Gesetz zur Familienentlastung rückwirkend
zum 1. Januar 1999 beschließen werden? Denn Sie sagten soeben: Es wird in diesem Jahr auf alle Fälle zu einer
Entlastung der Familien kommen. Es wäre ja auch möglich, daß wir in diesem Jahr über ein entsprechendes Gesetz gründlich beraten und daß es zum 1. Januar 2000 in
Kraft tritt. Ihre Äußerung soeben klang anders. Ich würde die von Ihnen genannte Richtung der Koalition sehr
begrüßen.
Frau Kollegin Höll, wie Sie sicherlich aus
dem Finanzausschuß wissen, sieht das Steuerentlastungsgesetz,
({0})
Klaus Wolfgang Müller ({1})
das wir rückwirkend zum 1. Januar 1999 beschließen,
vor, daß die Familien - das heißt, das Zusammenleben
mit Kindern - bessergestellt werden. Eine Erhöhung des
Kindergeldes zum 1. Januar 1999 - es wird ja bereits
ausgezahlt - haben wir bereits in einem Vorläufergesetz
beschlossen. Das meinte ich mit meinen Ausführungen,
daß Familien noch 1999 bessergestellt werden.
Das Familienentlastungsgesetz werden wir selbstverständlich zum 1. Januar 2000 in Kraft setzen, so wie uns
das die Beschlüsse von Karlsruhe aufgetragen haben.
Wir halten dies für richtig, da wir das Jahr 1999 nach
dem Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ nutzen
wollen, um ausführlich darüber zu beraten und es auf
eine vernünftige Grundlage zu stellen.
({2})
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Rössel
von der PDS? - Bitte schön.
Kollege Müller, Sie
haben davon gesprochen, daß die Koalition an einer
Modernisierung des Unternehmensteuerrechts arbeiten
will. Nun frage ich Sie: Welche Perspektiven hat denn
Ihre Koalition für die Gewerbesteuer, die ja bekanntlich nicht nur eine wichtige Unternehmensteuer, sondern
traditionell auch eine herausragende Steuereinnahme der
Städte und Gemeinden ist? In der Vergangenheit war zu
hören, daß daran gedacht ist, im Rahmen einer rechtsformneutralen Unternehmensteuer die Gewerbesteuer
abzuschaffen, was auf entschiedenen Protest der kommunalen Spitzenverbände gestoßen ist. Welche Perspektive haben Sie im Hinblick auf die Gewerbesteuer?
Herr Kollege Rössel, vielen Dank. Ich finde, das ist eine sehr wichtige Frage.
({0})
- Klasse! - Das zentrale Problem im Rahmen der Unternehmensteuer in Deutschland ist, daß wir zu hohe
nominale Steuersätze und gleichzeitig eine Bemessungsgrundlage haben, die zu schmal ist.
({1})
Dies wollen wir ändern. Wir werden das in der Richtung
ändern, daß wir dafür sorgen werden, daß die vorhandenen Steuersätze auch wirklich gezahlt werden und daß
das Unternehmensteuerrecht einfacher und transparenter
wird.
Wir werden gleichzeitig im Auge behalten, daß die
Finanzkraft, die Finanzeinnahmen der Kommunen in
keiner Weise geschmälert werden. Die Kommunen können sich darauf verlassen, daß wir ihre finanzielle Kraft
stärken werden. Wir werden sie erhalten, die entsprechende Steuerart aber möglichst integrieren. Zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form - ob in einer eigenständigen Steuerform oder in Form eines Hebesatzes,
wie auch immer - wir das schaffen werden, ist noch ungewiß.
Das ist der Grund dafür, daß wir eine Unternehmensteuerreformkommission eingesetzt haben. Sie besteht
aus Wissenschaftlern, Vertretern der Länder, Vertretern
der Unternehmen und aus einem Vertreter der kommunalen Spitzenverbände. Wir wollen damit erreichen, daß
uns nicht das gleiche passiert wie bei anderen Steuerreformprojekten, die das Parlament erarbeitet hat und
worüber dann alle herfallen. Wir wollen genau umgekehrt erreichen, daß sich die Expertinnen und Experten
zusammensetzen, uns einen Vorschlag unterbreiten und
daß wir diesen dann im Parlament auf der Basis eines
gewissen gesellschaftlichen Konsenses erörtern und
einen Gesetzentwurf erarbeiten. In diesem Sinne werden
wir dafür sorgen, daß die Kommunen bedacht werden,
daß die Unternehmen ein modernes Steuerrecht erhalten
und daß der Staat vernünftige und solide Einnahmen hat.
({2})
Ich möchte noch kurz auf das Vorhaben des „Bündnisses für Arbeit“ eingehen, weil genau das gleiche
Konzept, das wir jetzt im Hinblick auf die Unternehmensteuerreform vorhaben, auf die Ökosteuer und dieFamilienentlastung ausgeweitet werden kann. Wir versprechen uns davon, daß eine entsprechende Lösung im
„Bündnis für Arbeit“ vorbereitet wird. Die Verantwortung dafür werden wir im Parlament tragen müssen. Wir
werden uns ja in vier Jahren der Wiederwahl stellen
müssen.
Trotzdem ist es gut, daß auf diesem Gebiet vorgearbeitet wird. Gleichzeitig müssen wir natürlich dafür sorgen, daß wir die Ziellinien für diese Arbeit mit auf den
Weg geben, wozu ein Dreieck aus sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Verträglichkeit und wirtschaftlicher
Vernunft gehört. Das sind auch die Koordinaten des
internationalen Prozesses im Rahmen der Agenda 21.
Dazu gehört ferner die Besserstellung der Familien.
Ich bin sicher, daß hier Unternehmer bereit sind, nicht
nur über Steuerpolitik zu sprechen, sondern auch über
andere Aspekte, zum Beispiel darüber, wie sie dem
Geist des Karlsruher Urteils auch in ihren Unternehmen
- sei es durch Arbeitszeitgestaltung oder durch andere
Maßnahmen - familiengerechter entsprechen können.
Auch das ist ein Vorteil davon, dies im „Bündnis für
Arbeit“ zu diskutieren.
Als weitere Leitlinien nenne ich Transparenz und
Ehrlichkeit, das Angleichen der nominalen Steuersätze
an die realen Steuersätze - genauso wie der Nettolohn
an den Bruttolohn angeglichen werden soll - und die
Sicherung der finanziellen Handlungsfähigkeit des
Staates.
Hier schlage ich den Bogen zurück zur Haushaltspolitik. Der Haushalt ist das Königsrecht des ParlamenKlaus Wolfgang Müller ({3})
tes. Zuerst müssen wir entscheiden, welche Aufgaben
wir als rotgrüne Koalition finanzieren wollen; dann werden die Finanzexperten dafür sorgen, daß es auch die
richtigen Einnahmen an der richtigen Stelle gibt. Ich
freue mich auf die Vorarbeiten im „Bündnis für Arbeit“
und bin mir sicher, daß wir - inklusive der Opposition dazu eine konstruktive Debatte führen werden.
Vielen Dank.
({4})
Zu einer
Zwischenbemerkung erteile ich dem Kollegen Walter
Hirche das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Müller, Sie haben eben ausgeführt, Sie wollten in der nächsten Woche mit Sicherheit,
- so haben Sie es gesagt - „eine Steuerreform hingekriegt haben“. Die Wortwahl ist schon interessant: Es
geht nicht darum, diese Steuerreform sauber und solide
zu machen.
Ich stelle erstens zur Ökosteuer fest: Sie ist nicht
sozial. Eine Belastung bei den Schwachen bleibt übrig.
Es gibt keine Form der Entlastung für Rentner oder Geringverdienende, die kein normales Arbeitsverhältnis
haben.
({0})
Zweitens. Sie ist nicht wirtschaftlich; denn der
Strompreis in Deutschland ist schon heute 50 Prozent
höher als in den Ländern, in denen Steuern darauf erhoben werden. Im übrigen - deswegen ist die Steuerreform
drittens auch nicht ökologisch - ist die CO2-Emission in
diesen Ländern, zum Beispiel in Dänemark und den
Niederlanden, in den letzten Jahren gestiegen. Sie können nicht behaupten, daß das ein Beitrag zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland sei.
Wichtiger ist mir aber ein anderer Punkt. Sie haben
im Finanzausschuß eine saubere und ordentliche Beratung verweigert, indem Sie es abgelehnt haben, noch
einmal eine Anhörung zu dem überfallartig eingebrachten neuen § 2b durchzuführen. Ich stelle hier in aller
Deutlichkeit fest: Die unausgegorene Bestimmung, die
eingefügt worden ist, wird dazu führen, daß wir in
Deutschland über 100 000 Arbeitsplätze verlieren.
({1})
Sie meinen, damit die Konstruktion der Verlustzuweisungsgesellschaften zu bekämpfen. Wir haben gesagt, daß wir uns in diesem Zusammenhang durchaus
gemeinsam bewegen können.
({2})
Sie treffen damit aber die Arbeitsplätze in Deutschland.
Sie treffen damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen in
der Bauwirtschaft. Sie werden Arbeitsplätze in der Versicherungswirtschaft, auf den Werften und in der Filmwirtschaft treffen. Überall gehen Sie gnadenlos mit den
Arbeitsplätzen um.
Diese Steuerreform, die Sie beabsichtigen, ist eine
Belastung für den Bundeshaushalt 1999 - über den wir
uns unterhalten -, weil Sie anschließend mehr Arbeitslosigkeit in Deutschland haben werden als vorher. Sie ist
schlampig gemacht im Verfahren, unerträglich im Inhalt, ein Anschlag auf den Arbeitsmarkt
({3})
und schafft kein Vertrauen in die Berechenbarkeit von
Politik, die auf der Grundlage von Vertrauen mit längerfristigen Regelungen arbeiten muß.
({4})
Zu einer
Erwiderung hat der Kollege Klaus Wolfgang Müller das
Wort.
({0})
Herr Kollege Hirche, Sie haben zwei
Punkte angesprochen und beide Punkte falsch dargestellt. Das möchte ich gerne kurz korrigieren.
Sie haben zum ersten die ökologisch-soziale Steuerreform angesprochen. Diese haben wir mit zwei Anhörungen und mit ausführlichen Debatten im Finanzausschuß eingehend beraten.
Sie haben das Beispiel Dänemark angesprochen: Wie
Sie sicherlich wissen, verfügt Dänemark über eine Arbeitslosenquote, die fast nur die Hälfte der unseren beträgt. Dänemark verfügt über einen ausgeglichenen
Staatshaushalt. Auch davon können wir nach Ihrer Vorarbeit in den letzten 16 Jahren nur träumen. Das heißt,
wir sehen, daß Dänemark - und nicht nur Dänemark; es
gibt zahlreiche europäische Länder, die diesen Weg erfolgreich beschritten haben; siehe Skandinavien - wesentliche Erfolge erzielt hat. Wir knüpfen mit der ökologisch-sozialen Steuerreform endlich an die europäische
Debatte um ein modernes Steuerrecht an.
({0})
Wir hätten darüber heute lang und ausführlich diskutieren können, hätte nicht Ihre Fraktion im Finanzausschuß dafür gesorgt, daß das verzögert, verhindert und
blockiert wird.
({1})
Der zweite Punkt, den Sie erwähnt haben, betrifft das
Steuerentlastungsgesetz.
({2})
Klaus Wolfgang Müller ({3})
Auch hierzu haben wir am kommenden Montag abschließende Beratungen im Finanzausschuß. Auch dieses Gesetz haben wir in einer dreitägigen Anhörung eingehend diskutiert.
({4})
Da sind alle wichtigen Punkte im Rahmen der Mindestbesteuerung ausführlich zur Sprache gekommen.
({5})
Auf der Grundlage haben wir im Finanzausschuß diskutiert und gesagt: Wir ziehen daraus Konsequenzen. Wir
verstecken uns nicht
({6})
hinter vorgeblichen Anhörungen, sondern beraten politisch.
Meine lieben Kollegen, ist es so schwer zu ertragen,
sich anzuhören, wie der Ablauf im Finanzausschuß war?
({7})
Wir werden am Montag im Finanzausschuß und am
Donnerstag im Plenum eine Steuerreform beschließen,
mit der die Steuersätze gesenkt werden und die Bemessungsgrundlage verbreitert wird. Wir werden dies mit
wirtschaftspolitischer Vernunft tun.
Abschließend: Ihr Geblöke finde ich extrem nervig.
Vielen Dank.
({8})
Das
Wort hat als nächster Redner der Kollege Jochen Borchert von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In
dieser Woche wird in Europa über Reformen verhandelt.
Am Wochenende tagt der europäische Gipfel in Bonn.
Deshalb, meine ich, muß auch im Bundestag über die
laufenden Verhandlungen auf der europäischen Ebene
gesprochen werden, auch wenn die Koalition gestern erklärte, das seien komplizierte Verhandlungen und man
dürfe den Kanzler in seiner Ruhe nicht stören.
Die Europäische Kommission hat mit der Agenda
2000 Vorschläge auch für die Reform der europäischen
Agrarpolitik gemacht. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl, der europäische Agrarrat, die Agrarminister
der Länder - auch der damalige niedersächsische Landwirtschaftsminister Funke - haben wesentliche Änderungen dieser Reformen gefordert. Wir alle waren einhellig der Überzeugung, daß diese Agenda den Interessen und den Bedürfnissen der deutschen Landwirtschaft
nicht gerecht wird. Wir haben deshalb gemeinsam in
voller Übereinstimmung gefordert, Preissenkungen nur
gegen vollen Ausgleich und ausreichenden Außenschutz
vorzusehen.
Ich habe geglaubt, daß auch die Regierung Schröder
diesen Standpunkt teilt und auf eine umfassende Korrektur der Vorschläge drängt. Ich habe von Bundesminister Funke, dem Präsidenten des europäischen Agrarrates, selbstverständlich erwartet, daß er für die Interessen der deutschen Bauern und für Veränderungen
kämpft. Aber er hat nicht einmal den Versuch dazu unternommen; das hat mich schon sehr überrascht. Er hat
in dieser Woche einen ersten Kompromißvorschlag vorgelegt. In diesem sogenannten Kompromiß hat er alle
Positionen der Kommission übernommen, also 30 Prozent Preissenkungen und einen Teilausgleich für diese
Preissenkungen. Dies bedeutet Einkommensverluste für
die Bauern von im Durchschnitt 20 Prozent.
Meine Damen und Herren, wenn es doch noch zu
Verbesserungen kommt - was wir sehr hoffen -, dann
haben die deutschen Bauern dies auf keinen Fall dem
Einsatz der Bundesregierung zu verdanken, sondern ausschließlich anderen Mitgliedstaaten. Die kämpfen für die
Interessen ihrer Bauern, die kämpfen um Veränderungen. Davon könnten dann auch die Bauern in Deutschland profitieren. Sie müssen darauf hoffen, daß andere
Mitgliedstaaten ihre Interessen vertreten.
({0})
Die Bauern in Deutschland protestieren; sie protestieren heute hier in Bonn. Seit der Vorschlag von Minister
Funke auf dem Tisch liegt, wissen sie: Es geht um ihre
Existenz, es geht um Sein oder Nichtsein. Es geht auch
um die Wirtschaft im ländlichen Raum, es geht um viele
Arbeitsplätze. Meine Damen und Herren von der Koalition, auch Bauernhöfe sind Arbeitsplätze.
({1})
Es geht um Tausende menschlicher Schicksale.
({2})
Der Bundeskanzler hat im Wahlkampf mehr Gerechtigkeit versprochen. Doch Ihre Vorstellungen von der
Verringerung der Beitragszahlungen gehen voll zu Lasten der Bauern. Damit schaffen Sie erst die Gerechtigkeitslücken, zu deren Schließung Sie doch angetreten
sind. Oder wie nennen Sie es, wenn Zehntausende von
Bauern in den Ruin getrieben werden?
({3})
- Ja, meine Damen und Herren, Sie nennen das Reform.
Herr Schreiner hat uns vorhin vorgeworfen, wir würden
das Wort Reform verhunzen. Er hat gesagt:
Reformen sind eigentlich Maßnahmen, die die Lebensbedingungen der Menschen verbessern.
Dann nennen Sie doch das, was Sie in der Agrarpolitik
vorhaben, nicht Reformen!
Sie behaupten, diese Reformen seien notwendig, um
auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Was ist das
für ein Weltmarkt, auf dem man nur bestehen kann,
wenn man ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt proKlaus Wolfgang Müller ({4})
duziert? Wir wollen keinen Weltmarkt, der Hormone
notwendig macht, um Milch und Fleisch billig produzieren zu können. Wir wollen keinen Weltmarkt, der die
Natur ausräumt und Produktionssteppen erzwingt. Wir
wollen keinen Weltmarkt, auf dem die Wellblechschuppen der Agrarfabriken das Bild unserer Dörfer prägen.
({5})
Wenn Herr Minister Funke glaubt, die Agenda 2000
sei in dieser Form nötig und es sei dafür ein zigtausendfaches „Bauernopfer“ zu bringen, so sage ich Ihnen: Wir
wollen diesen Preis für die Agenda nicht zahlen.
({6})
Wir wollen eine Reform, die die bäuerliche Landwirtschaft und die Kulturlandschaft in Deutschland auch für
die Zukunft sichert.
Kollege Seehofer hat auf die ungleiche Lastenverteilung in Europa hingewiesen. Ein System gerät aus der
Balance, wenn ein Mitgliedstaat auf Dauer 60 Prozent
der Nettotransferleistungen erbringt. Wir brauchen mehr
Leistungsgerechtigkeit. Wir brauchen eine gerechte Lastenverteilung. Was Sie aber anstreben - eine lineare
Senkung der Beiträge für alle Mitgliedstaaten -, ändert
nichts an der Lastenverteilung. Die Ungerechtigkeit
bleibt: Deutschland bleibt weiterhin mit 60 Prozent der
Transferzahlungen belastet.
Was machen Sie nun, um die Beträge zu senken? Sie
fordern eine jährliche Degression der Prämien im
Agrarbereich um 3 Prozent. Diese Degression bedeutet
für die Bauern immer weiter sinkende Einkommen Jahr für Jahr. Damit legen Sie den Bauern einen Strick
um den Hals, den Sie von Jahr zu Jahr weiter zuziehen;
damit werden Tausende bäuerlicher Existenzen vernichtet.
Bundesminister Funke hat in dieser Woche seine
Aufgabe, auch Anwalt der Bauern zu sein, endgültig
aufgegeben.
({7})
Er hat seine Zusage, im Interesse der deutschen Bauern
die Agenda 2000 zu verändern, schlicht gebrochen. Herr
Bundeskanzler, Sie haben beim Gipfel noch die Möglichkeit zu retten, was noch zu retten ist. Aber wenn die
Bundesregierung dieser Agenda und dem Vorschlag ihres Landwirtschaftsministers zustimmt, dann ist der
Bundeskanzler, dann ist diese Bundesregierung für das
Höfesterben in Deutschland verantwortlich.
({8})
Meine Damen und Herren, da können Sie ruhig schreien. Sie sind bereit, die Landwirtschaft und den ländlichen Raum zu opfern.
({9})
Der Bundeskanzler hat am Mittwoch der Debatte
deutlich gemacht, wie er seine Politik versteht. Ich will
das gern zitieren. Er sagte,
daß ein Wahlsieg immer nur eine Momentaufnahme in der Gesellschaft ist und daß es insbesondere
Aufgabe der Sieger ist, dafür zu sorgen, daß die
Mehrheiten, die sie am Wahltag bekommen haben,
als gesellschaftliche Mehrheiten dauerhaft zur Verfügung stehen.
Mit einer solchen Aussage wird Klientelpolitik betrieben. Die Bauern gehören nicht zu den Mehrheiten, die
Sie haben wollen. Deswegen lassen Sie diese Bauern
durchs Rost fallen.
({10})
Die CDU/CSU will eine leistungsfähige bäuerliche
Landwirtschaft und einen leistungsfähigen ländlichen
Raum. Dehalb brauchen wir einen vollen Einkommensausgleich bei Preissenkungen und eine aktive Mengensteuerung. Wir brauchen mehr Subsidiarität, das heißt,
mehr nationale Zuständigkeit.
Dies sind die Voraussetzungen für unser Modell einer
europäischen Landwirtschaft - einer Landwirtschaft, die
natur- und umweltverträglich produziert, die qualitativ
gesunde Nahrungsmittel liefert, die unsere wunderschönen Kulturlandschaften prägt und pflegt und die tüchtigen Bauern wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten
eröffnet. Dafür müssen wir die Finanzierung der Europäischen Union auf eine geordnete Grundlage stellen
und eine gerechte Lastenteilung innerhalb der Europäischen Union erreichen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister der Finanzen, Oskar Lafontaine.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte den Schluß der Debatte zum Anlaß
nehmen, zunächst auf die Europapolitik einzugehen;
schließlich sind einige Bemerkungen zur Europapolitik
gemacht worden, und die Regierungschefs bemühen
sich, während wir hier tagen, in Gesprächen zu sondieren, wie ein Kompromiß gefunden werden kann - mit
der klaren Maßgabe, daß der endgültige Kompromiß erst
im März gefunden werden wird, weil bekanntlich bis zu
diesem Datum die jeweiligen Nationalstaaten ihre Interessen vertreten und sich nur schwer auf einen Kompromiß zubewegen.
In diesem Zusammenhang hat Herr Seehofer die
Position der Bundesrepublik Deutschland dargestellt und
die Frage aufgeworfen, warum nicht das Parlament vorher - er hat dann die Positionen im einzelnen dargestellt
- etwa zur Kofinanzierung in der Agrarpolitik - darauf
komme ich noch zu sprechen -, zur Degression beim
Kohäsionsfonds, zur Degression beim Strukturfonds
oder zur Finanzierung entsprechend dem Bruttosozialprodukt einbezogen worden sei.
Herr Kollege Seehofer, ich kann Ihnen die Antwort
geben: Das sind alles Positionen, die gegenwärtig von
der Bundesregierung vertreten werden. Das sind gemeinsame Positionen. Insofern geht Ihr Vorwurf, hier
würde ohne Rückendeckung des Parlamentes verhandelt, ins Leere. Genau die Position, die Sie deutlich gemacht haben, vertritt derzeit auch die Bundesregierung.
Ich möchte das hier sachlich feststellen.
({0})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?
Ja,
bitte.
Bitte, Herr
Schäuble.
Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie sagen, daß das, was Herr Seehofer gesagt hat und was die Parteivorsitzenden von
CSU und CDU, der Kollege Stoiber und ich, am vergangenen Freitag in der Öffentlichkeit vorgetragen haben,
den Positionen entspricht, die die Bundesregierung derzeit vertritt, dann kann ich das erstens mit Genugtuung
zur Kenntnis nehmen, und ich möchte zweitens die Sozialdemokraten bitten, daß sie den Vorwurf - ({0})
- Ich würde gern die Sozialdemokraten bitten; denn bitten kann man auch als Frage verstehen.
({1})
Im übrigen haben wir die Regelung abgeschafft, daß man nur förmliche Fragen stellen kann. Man kann auch Zwischenbemerkungen machen. Das zur Klarstellung.
Jetzt haben Sie, Herr Schäuble, das Wort.
Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie auch
ausdrücklich sagen würden, daß die von der CDU/CSU
vertretenen Positionen Positionen für Fortschritte in der
europäischen Einigung sind und daß die gegen uns gerichteten Angriffe der SPD offensichtlich ohne Substanz
sind, wenn es sich doch um Positionen handelt, die Sie
selbst vertreten.
({0})
Kollege Schäuble, vielleicht ergibt sich einmal die
Möglichkeit, daß ich das so sagen kann, aber Sie haben
mich noch nicht zu Ende gehört. Ich bin erst am Anfang
meiner Ausführungen zu diesem Thema und hatte zunächst zu vier Punkten Stellung genommen: Kofinanzierung in der Agrarpolitik, Kohäsions- und Strukturfonds
und Finanzierung entsprechend dem BSP.
Nun ist die Frage weiterhin streitig: Was kann von
dem Kompromiß hinsichtlich des deutschen Nettozahlerbeitrags ernsthaft erwartet werden? Sie haben das
alles richtig dargestellt. Ich bin auch gerne bereit, einen
Finanzministerbeschluß herbeizuführen, der beinhaltet,
den Nettobeitrag auf Null zurückzuführen oder ähnliches.
({0})
Was kann man von einer Finanzministerkonferenz erwarten?
({1})
- Sie glauben doch nicht, daß die Länderfinanzminister
beschließen, der Nettobeitrag solle möglichst erhöht
werden.
({2})
- Ich wollte nur Ihre Ausführungen etwas relativieren.
Die Ministerpräsidenten, die ja nun praktisch auf jeder Ministerpräsidentenkonferenz von dem bayerischen
Kollegen mit der Europapolitik beschäftigt worden sind,
sind natürlich nicht der Meinung gewesen - für so naiv
dürfen Sie niemanden halten -, daß eine Reduktion in
Höhe von 14 Milliarden DM das Ergebnis der Verhandlungen sein werde. So naiv sind die Ministerpräsidenten nicht. Vielmehr haben sie hier eine Verhandlungsposition formuliert, um die Bundesregierung zu
unterstützen, wohl wissend, daß es angesichts der Tatsache, daß die Deutschen immer draufgezahlt haben,
schon ein Durchbruch sein wird, wenn die Deutschen
einmal nicht draufzahlen, sondern wenn die Zahlungen
Deutschlands heruntergehen. Ich bitte Sie also, die Kirche im Dorf zu lassen.
({3})
Ich möchte auch gar nicht die Zahlen des Kollegen
Lamers bemühen, die er kürzlich vorgetragen hat. Ich
möchte nur Sie alle bitten, die Erwartungen nicht zu
hoch zu spannen. Die Frage wird letztendlich sein, wie
wir auf europäischer Ebene zurechtkommen. Dabei können wir uns aus den Festlegungen der Vergangenheit
überhaupt nicht befreien, um das einmal in aller Klarheit
zu sagen. Manches, was sich dort strukturell entwickelt
hat, gefällt mir überhaupt nicht; aus Zeitgründen kann
ich darauf nicht im einzelnen eingehen. Aber aus vielerlei Gründen können wir uns daraus nicht befreien.
Herr Kollege Seehofer, Sie haben immer wieder gesagt, wir hätten doch den Verträgen zugestimmt. Das ist
zwar wahr, aber wir hatten zwischen dem, was wir
sachlich für richtig hielten, und dem Fortgang der gesamteuropäischen Einigung abzuwägen. In diesem
Abwägungsprozeß haben wir manchmal auch Verträgen
zugestimmt, bei denen wir in einzelnen Sachfragen völlig anderer Auffassung waren. Wir haben es aber nicht
für vertretbar gehalten, die europäische Einigung insgesamt zu beschädigen. Ich wünsche mir, daß auch Sie
sich so verhalten, meine Damen und Herren.
({4})
Dann sagten Sie, Sie seien nicht genügend beteiligt.
Ich nehme gern diesen Fingerzeig auf und werde darauf
drängen, daß eine stärkere Beteiligung von Ihnen oder
auch eine Abstimmung mit Ihnen stattfindet, weil wir
schon aus dem Europäischen Parlament immer wieder
gefragt werden, was sich denn bei uns verändert habe.
Früher haben die Deutschen zumindest in der europäischen Position - ich habe das gerade dargestellt - unabhängig, ob Regierung oder Opposition, im großen und
ganzen an einem Strick gezogen. Nun wird gefragt,
warum sich das plötzlich geändert habe. Das ist die Diskussion, die in Europa geführt wird.
Zur Sache selbst möchte ich Ihnen sagen, daß ich als
SPD-Parteivorsitzender in den schwierigen Jahren, als es
darum ging, den Euro einzuführen, nicht die Gelegenheit
hatte, mit einem führenden Politiker des Koalitionslagers über diese Frage ausführlich zu sprechen, obwohl
Ihnen bekannt war, daß meine Entscheidung durchaus
eine Rolle gespielt hat, und obwohl ich diese Entscheidung für eine der wichtigsten überhaupt gehalten habe.
Dennoch hat die SPD als große deutsche Volkspartei
den Euro unterstützt. Wir haben es um der Sache willen
getan, weil wir uns als europäische Partei verstehen und
unsere Antwort das Gesamtinteresse zu berücksichtigen
hatte. Ich appelliere an Sie, ähnlich zu verfahren.
({5})
Ich möchte nun auf die Beiträge eingehen, die eben
wirklich nicht sachlich waren und die in mir die Befürchtung verstärkt haben, daß Sie bei der Europawahl natürlich unter der Vorgabe, europäischen Zielen zu
dienen - eine antieuropäische Kampagne machen wollen. Das beginnt bei der Landwirtschaft. Die dazu vorgetragenen Positionen sind sachlich schlicht und einfach
nicht haltbar; denn die Partei, die am stärksten eine Reduktion der deutschen Zahlungen an Europa fordert die CSU vertritt hier die weitestgehenden Forderungen -,
kann nicht zugleich sagen, für die Bauern müsse in Europa noch mehr ausgegeben werden. Das ist doch völlig
unglaubwürdig.
({6})
Ich frage mich manchmal, wie man so etwas machen
kann.
({7})
Ich habe vorhin auch Herrn Sonnleitner, der mir zusammen mit Bauern eine Resolution übergeben hat, gesagt, daß ich seine Anliegen sehr wohl verstünde.
Gleichwohl müsse hier auch angesichts der bayerischen
CSU - ich sage nicht Bayern; ich spreche immer von der
bayerischen CSU - Klarheit geschaffen werden.
Es geht nun wirklich nicht, daß man die ganze Welt
verrückt macht, indem man sagt, wir zahlten viel zuviel
für Europa, und damit ganze Kampagnen macht und
dann noch fordert, die bayerischen Bauern sollten mehr
Geld aus Europa erhalten. Das ist unmöglich.
({8})
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seehofer?
Herr Finanzminister,
darf ich Sie noch einmal darauf hinweisen, daß wir erstens ja zu einer Agrarreform sagen und daß wir zweitens, was die Finanzierungsfrage betrifft, gemeinsam
den Vorschlag vertreten, die Agrarausgaben und direkte
Beihilfen stärker national mitzufinanzieren, und daß wir
eine 50prozentige Kofinanzierung vorschlagen, mit der
Folge, daß der EU-Haushalt jährlich insgesamt um
23 Milliarden DM entlastet würde? Selbst wenn man
nicht alles davon verwirklicht, wäre das eine deutliche
Entlastung, jedenfalls eine deutlichere Entlastung als
durch die jetzt vorgelegte Agrarreform. Es hätte für die
Bauern allerdings nicht den Nachteil, daß sie massenhaft
in ihrer Existenz gefährdet würden. Würden Sie zur
Kenntnis nehmen, daß wir hier voll in der Kontinuität
unserer bisherigen Vorschläge bleiben, wie die EUAusgaben deutlich reduziert werden können und daß wir
nicht einerseits die Senkung der Beiträge und andererseits Mehrausgaben fordern?
({0})
Ich kenne Ihre Haltung, Herr Kollege Seehofer, daß Sie
eine stärkere nationale Finanzierung der Landwirtschaft
fordern. Ich sage Ihnen dazu aber schon jetzt: Glauben
Sie nur nicht, daß das alles aus dem Bundeshaushalt
kommt. Ich sage das in aller Sachlichkeit. Ich habe das
alles aufmerksam registriert. Sie können bei dieser Frage
in mir einen Verbündeten haben. Aber glauben Sie
nicht, daß das alles aus dem Bundeshaushalt kommt. Ich
will das in aller Klarheit sagen, auch angesichts der Diskussion, die wir geführt haben.
({0})
Diese Methode, Versprechungen zu machen, ist mir zu
einfach. Ich will das nicht vertiefen, sondern nur einmal
klargestellt haben.
({1})
- Die letzte Frage bitte noch, aber dann bitte ich, mich
auch ein bißchen reden zu lassen. - Frau Präsidentin,
wenn Sie gestatten.
Ist gestattet.
Herr Finanzminister,
Sie haben eben darauf hingewiesen, daß wir bei der Kofinanzierung, bei der dann die Bauern nicht belastet
werden, nicht erwarten dürften, daß die Zahlungen aus
dem Bundeshaushalt kommen.
„Alle“ Zahlungen aus dem Bundeshaushalt, immer präzise bleiben.
Ich will darauf eingehen. Wenn wir eine Kofinanzierung in Europa durchsetzen, dann brauchen wir nur die Hälfte der Mittel, die
wir nicht nach Europa einzahlen müssen, um den Bauern
eine Preissenkung in voller Höhe ausgleichen zu können. Hier würde der Bundeshaushalt nicht belastet, sondern entlastet. Heißt Ihre Aussage, daß Sie dann die
Rückflüsse zu Lasten der Landwirte voll für den Bundeshaushalt vereinnahmen wollen?
Herr Kollege Borchert, so gehen die Rechnungen auf
europäischer Ebene nicht. Was Sie vorgetragen haben,
ist richtig, sofern nicht alle anderen Entscheidungen auf
europäischer Ebene damit verbunden werden. Aber Sie
wissen ganz genau, daß die Struktur des Agrarhaushalts
natürlich von der Struktur des Strukturfonds, des Kohäsionsfonds und von anderen Entscheidungen, die getroffen werden, bestimmt wird. Insofern ist das, was Sie
vorgetragen haben, eine glatte Milchmädchenrechnung.
Ich muß Ihnen das in aller Deutlichkeit sagen. Man kann
sich so frohrechnen, aber es ist eine glatte Milchmädchenrechnung.
({0})
Wir werden das mit Aufmerksamkeit verfolgen, wenn
Sie hier Gemeinsamkeit suchen. Ich lasse es als Vorsitzender der SPD Ihnen persönlich nicht durchgehen, daß
Sie alle Landwirte verrückt machen und die Forderungen erheben, einerseits weniger Geld nach Brüssel zu
zahlen und andererseits den Bauern mehr Geld aus
Brüssel zukommen zu lassen. Diesen Widerspruch werden wir aufdecken und zum Gegenstand der Diskussion
machen.
({1})
Dasselbe gilt für die Osterweiterung. Ich habe mit
großem Interesse gehört, wie hier für die Osterweiterung
gesprochen worden ist. Auch an dieser Stelle gibt es
sehr viel Unredlichkeit. Das sage ich nicht nur an die
Adresse einer Partei, sondern damit möchte ich mehr
umfassen. Wenn man auf der einen Seite nur noch darüber redet, wie man Ausgaben reduzieren oder degressiv
gestalten kann, und gleichzeitig in Europa herumreist
und Erwartungen weckt, daß die Länder die von den
Zahlen her einen hohen Subventionsbedarf und Ausgleichsbedarf aufweisen, sehr schnell in die Gemeinschaft kommen, ist das unglaubwürdig. Das muß in aller
Klarheit gesagt werden. Wer für eine schnelle Osterweiterung ist, der muß bitte schön auch bereit sein, die
Finanzierungsmittel zur Verfügung zu stellen. Ansonsten ist er unglaubwürdig.
({2})
Nachdem ich auf Ihre Ausführungen zur Landwirtschaft und zur europäischen Politik eingegangen bin
- ich will das gar nicht polemisieren; wir müssen diese
Debatte führen, auch mit den Landwirten -, einige Bemerkungen zur Debatte über den Haushalt.
Es ist unstreitig - ich habe keinen gehört, der das hier
bestritten hat -, daß der Bundeshaushalt unter Einrechnung der Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Familienpolitik ein strukturelles Defizit
in Höhe von 30 Milliarden DM aufweist. Das ist schlicht
die Wahrheit. Ich bitte sehr herzlich darum, dies nicht in
irgendeiner Form schönzureden oder so zu tun, als hätten wir ein Erbe übernommen, für das wir uns noch bedanken sollten. Es ist schon ein großes Problem, und
zwar für uns alle, dieses strukturelle Defizit abzubauen.
Das ist nicht leicht; das will ich in aller Klarheit sagen.
Ich habe hier selbstkritisch eingeräumt, daß man mit
dem Abbau dieses Defizits eigentlich sehr schnell beginnen müßte, daß ich es aber angesichts der labilen
konjunkturellen Lage für falsch gehalten habe, diesen
Trend durch Kürzungsmaßnahmen noch zu verstärken.
Das kann man anders sehen. Ich möchte dies hier aber
noch einmal ansprechen.
({3})
Nur, als sich Ihr Sprecher, der Kollege Merz, am
Schluß seiner Rede an mich wandte und mit Tremolo in
der Stimme sagte: „Herr Lafontaine, Sie gehen einen
schweren Gang“, kam mir das schon merkwürdig vor.
Das war, als würde ein Betriebsinhaber, nachdem er den
Betrieb so richtig ruiniert hat, dann zu dem Sanierer sagen: Sanierer, du gehst wirklich einen schweren Gang.
({4})
Sie haben ja völlig recht: Es ist wirklich ein schwerer
Gang. Da stimmen wir überein. Ich habe mich nur etwas
an dem Ton gestört.
({5})
- „Sanierer des Saarlands“ haben Sie dazwischengerufen. Dazu kann ich nur sagen: Sie sind schlicht und einfach nicht informiert. Die CDU/F.D.P.-Koalition an der
Saar ist im Jahre 1985 mit, was es meines Wissens in
der Bundesrepublik sonst noch nie gegeben hat, absoluter Mehrheit von der Oppositionspartei abgelöst worden,
weil sie nicht mehr weiterwußte, weil die Finanzen total
zerrüttet waren
({6})
und weil die Zins-Steuer-Quote bei 19,8 Prozent lag.
Das heißt: Dieses Land war finanziell schlicht und einfach heruntergewirtschaftet. Es ist gelungen, natürlich
auch mit Hilfe des Bundes, diese Zins-Steuer-Quote zu
halten. Ich habe es Ihnen schon einmal vorgerechnet:
Wenn Sie hier im Bund ebenso gewirtschaftet hätten,
dann könnte ich mich wirklich für das Erbe bedanken.
Leider aber kann ich das nicht.
({7})
Auch da liegen Sie also völlig falsch.
Ich gebe Ihnen noch einen kleinen Hinweis, weil Sie
das doch so oft getan haben. Dies kann ich heute freier
tun als früher, weil ich gemeinsam mit meinen Freunden
in diesem Bundesland dreimal eine absolute Mehrheit
erreicht habe. Das Urteil der Wählerinnen und Wähler
über die Regierungspolitik ist wichtig, nicht Ihr Urteil.
({8})
Natürlich haben Sie sich auch ausführlich mit der
Steuerquote beschäftigt. Ich will dies gern noch einmal
aufgreifen. Der Kollege Jacoby, der schon im Stadtrat
von Saarbrücken zu meiner Opposition gehörte
({9})
- insofern erinnert man sich immer wieder an frühere
Zeiten -, führte aus, es sei nicht zulässig, sich hinsichtlich der Steuerquote vor Verschiebungen in der Steuerstruktur zu drücken.
Es ist doch völlig unstreitig, daß die Steuerquote
nichts über die Steuergerechtigkeit aussagt. Sie sagt
überhaupt nichts über die Besteuerung einzelner Betriebe oder der Arbeitnehmer und Familien aus. Das ist
gemeinsame Position. Wir haben deshalb zwei Fragen
zu beantworten. Zum einen: Ist die Steuerquote ausreichend, oder kann sie weiter gesenkt werden, oder ist sie
angesichts der Aufgaben nicht ausreichend? Zum anderen: Wie verteilen wir die Steuerlast? Darüber streiten
wir uns.
Sie haben recht mit Ihrem Hinweis, daß wir nicht nur
über die Steuerquote reden müssen, sondern auch über
die Abgabenquote. Das ist deshalb notwendig, weil
eine ganze Reihe von Leistungen, die eigentlich aus
Steuermitteln finanziert werden müßten, über die Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden. Wir haben
oft kritisiert, daß Sie das getan haben. Das hat zwei
Gründe: Das ist wirtschaftspolitisch falsch, weil Sie dadurch die Arbeitsplätze zu stark besteuern, und es ist sozialpolitisch falsch, weil nur die aktive Arbeitnehmerschaft zur Kasse gebeten wird.
({10})
Das ist der Grund, warum wir Ihre Vorgehensweise kritisieren. Die deutsche Steuer- und Abgabenquote ist
Ausweis Ihrer völlig falschen Politik. Denn die Steuerquote ist - wenn Sie so wollen - zu gering, und die Abgabenquote ist zu hoch. So einfach ist das. Das wollte
ich nur einmal im Überblick gesagt haben.
Nun komme ich zu der Steuer- und Abgabenquote
im einzelnen. Ausweislich des letzten Finanzberichts
haben wir im Jahre 1997 eine Steuer- und Abgabenquote
von 40,2 Prozent gehabt. Ich spreche jetzt, wohlgemerkt,
von der Steuer- und Abgabenquote. Darunter liegen in
Europa nur Irland, Portugal, Spanien und Großbritannien, wobei ich in bezug auf Großbritannien noch darauf
hinweisen möchte, daß dort das Bruttosozialprodukt pro
Kopf weitaus geringer ist als in Zentraleuropa. Ich bitte,
das bei dieser Betrachtung mit zu würdigen. Wir haben
neben diesen vier von mir genannten Staaten die geringste Steuer- und Abgabenquote. Wir haben dabei eine
Aufgabe zu leisten, die kein anderer europäischer Staat
zu leisten hat, nämlich den Aufbau Ost zu finanzieren.
Dies macht rund 4 Prozent des Sozialproduktes aus. Das
ist die Lage, in der wir sind.
Deshalb muß ich Ihnen als Finanzminister sagen: Wir
können in Deutschland angesichts des gewaltigen
Schuldenstandes, den wir haben, sehr wohl über die
Struktur unseres Steuersystems diskutieren. Wer sich
aber hier hinstellt und mehr Geld für die Landwirtschaft
fordert und wer fordert, das Wohngeld solle erhöht werden, man solle mehr Geld in die Bildung stecken,
({11})
und wer gleichzeitig eine Steuer- und Abgabensenkung
fordert, der ist ebenfalls total unglaubwürdig. Das muß
man einmal in dieser Deutlichkeit sagen.
({12})
Denn es ist nicht so, daß in den übrigen europäischen
Staaten, die weitaus höhere Steuer- und Abgabenquoten
als wir in Deutschland haben, nur unfähige Leute am
Werk sind. So ist es nicht.
Daß die Steuer- und Abgabenquote mit ökonomischen und verteilungspolitischen Folgen sowie mit den
Möglichkeiten des Staates zu tun hat, Infrakstrukturaufgaben, Bildung, Forschung und Wissenschaft zu finanzieren, das weiß doch jeder. Deshalb können wir sehr
intensiv über die Struktur der Ausgaben diskutieren; da
ist sicherlich einiges zu reformieren. Lassen Sie uns
ebenso sehr intensiv über die Struktur der Steuern in
Deutschland diskutieren; da ist vieles zu reformieren;
wir sind dabei. Lassen Sie uns auch über das Abgabensystem und seine Struktur sehr intensiv diskutieren; auch
da ist vieles zu reformieren.
Aber wer hier die Bevölkerung immer wieder in die
Irre führt und behauptet, wir hätten bei einem strukturellen Defizit von 30 Milliarden DM, das Sie uns hinterlassen haben, einen großen Spielraum für eine Senkung der Steuer- und Abgabenquote - das zu behaupten
ist populär -, der gibt falsch Zeugnis in diesem Lande.
Das sollte man schlicht und einfach unterlassen.
({13})
- „Mehrwertsteuererhöhung“. Ich bin Ihnen dankbar,
verehrter Herr Zwischenrufer.
({14})
Ich respektiere jeden Kollegen, ob mir nun ein Zwischenruf paßt oder nicht. - Sie sprechen also von einer
Mehrwertsteuererhöhung. Mancher von Ihnen meint,
meine Ausführungen, daß die jetzige konjunkturelle Lage kein Signal gebe, um Steuererhöhungsdiskussionen
zu führen, seien unzureichend; ich solle mich langfristig
an dieser Stelle festlegen. Das ist doch Ihre Forderung?
({15})
- „Jawohl“, sagen sie.
So blöd bin ich schlicht und einfach nicht
({16})
und auch nicht so unehrlich. Ich will nicht in die Situation einiger meiner Kollegen kommen, etwa in die von
Helmut Kohl, der vielleicht guten Glaubens versprochen
hat, es werde in der betreffenden Legislaturperiode nie
eine Mehrwertsteuererhöhung geben, und der dann mit
unserer Hilfe - damit die Rentenkasse nicht aus dem
Ruder lief - die Mehrwertsteuer erhöhen mußte. So soll
man mit dem Volk nicht umgehen, und deshalb soll man
nur das sagen, was man im Moment vertreten kann, und
soll keine unglaubwürdigen Festlegungen für alle Zeiten
treffen, die einem sowieso kein Mensch abnimmt. Das
wissen auch Sie.
({17})
Gerade in bezug auf die Steuerpolitik hat sich das deutsche Volk daran gewöhnt, daß es immer wieder belogen
worden ist.
({18})
Das wollen wir ändern. Es hat doch keinen Sinn, das
Volk immer wieder zu belügen.
({19})
Wenn man gnädig ist, müßte man sagen, daß sich die
Betreffenden immer wieder geirrt haben. Aber so blöd,
das anzunehmen - das habe ich vorhin gesagt -, bin ich
nicht. Ich halte auch nicht alle, die solche Versprechen
gegeben haben, für so blöd. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Das war auch das Problem von Chirac,
Major und Bush. Überall in der Welt ist vor Wahlen bezüglich der Steuerpolitik gelogen worden, daß sich die
Balken bogen. Nach den Wahlen wurde das Gegenteil gemacht. Gerade das wollen wir nicht. Deshalb ist
unsere Steuerpolitik so angelegt.
({20})
Unser Steuerkonzept ist überschaubar, wenn auch die
Materie - ich komme gleich noch einmal darauf zurück sehr schwierig ist. Wir entlasten die Arbeitnehmer und
die Familien um 20 Milliarden DM. Das kann man für
richtig oder für falsch halten. Aber wir wollen das, weil
wir der Meinung sind, daß Arbeitnehmer und Familien
im Rahmen der Steuerstruktur der letzten Jahre die
Leidtragenden waren und überproportional belastet wurden. Deshalb werden wir das ändern. Wir werden das
auf Grund des Bundesverfassungsgerichtsurteils noch
stärker ändern müssen.
({21})
Wir wollen den Mittelstand entlasten. Wir haben das
auch mit unserem Steueränderungsgesetz getan, vielleicht nicht in dem wünschenswerten Umfang. Nach den
Berechnungen des Ifo-Instituts liegt die Entlastung hier
bei rund 3 Milliarden DM. Wir haben auch - weil wir
nicht pfuschen - darauf hingewiesen, daß diejenigen
- vor allem die Großbetriebe -, die in den letzten Jahren
durch die betriebliche Vermögensteuer, die Gewerbekapitalsteuer und andere Steueransätze überproportional
entlastet worden sind, im Rahmen unserer Strukturveränderung belastet werden. Wir sagen ehrlich: Das wollten wir so. Deshalb ist unser Steuergesetz so angelegt.
({22})
Im übrigen weise ich darauf hin, daß auch Sie langfristig die Körperschaften hätten mehr belasten müssen.
Das ist in einer schriftlichen Anfrage niedergelegt. Das
sage ich denjenigen, die das wider besseres Wissen in
Frage stellen. Das ist hier im Bundestag schriftlich zu
Protokoll gegeben worden. Ich wollte das nur in Erinnerung rufen.
Herr Kollege Merz hat einen Treffer gelandet, indem
er gesagt hat, daß der Finanzminister auf einer Pressekonferenz fachlich inkompetent gewirkt habe. Sie haben
diesen Treffer deshalb gelandet, weil ich schlicht und
einfach herumgeeiert habe. Ich spreche das hier offen
an. Dieser Treffer sei Ihnen gegönnt. Ich habe deshalb
herumgeeiert, weil uns auch noch jetzt die Versicherungswirtschaft, die Energiebranche und viele andere
Branchen permanent drängen, bestimmte Positionen im
Gesetzentwurf zu verändern. Deshalb war ich auf der
besagten Pressekonferenz nicht in der Lage, exakte
Auskünfte darüber zu geben, wie das Gesetz am Ende
aussehen würde. Ich räume das ein. Nur, verehrter Herr
Kollege Merz, wenn Sie das mit der Attitüde eines Menschen vortragen, der über fachlich unschlagbares Wissen
verfügt, dann kann ich Sie nur davor warnen, daß das
auf Sie zurückfallen könnte. Wenn man ein Gesetz mit
70 Subventionsstreichungstatbeständen machen und es
in einem bestimmten Zeitraum über die Hürden bringen
will, ohne daß es irgendwelche Korrekturen oder Nachbesserungen gibt, dann kann ich Ihnen nur sagen, daß
das völlig unmöglich ist.
({23})
Wenn wir den Dialog mit der Wirtschaft sowie das parlamentarische Verfahren und Anhörungen ernst nehmen,
dann müssen wir korrigieren, ansonsten können wir uns
das Ganze sparen. Das wollte ich einmal in aller Klarheit sagen.
({24})
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch weitere Zwischenfragen?
Nein, ich hatte darum gebeten, daß ich meine Ausführungen zusammenhängend vortragen kann. Ich habe
mehrere Zwischenfragen zugelassen. Ich werde noch
öfters hier sprechen.
Wir müssen es deshalb so machen, damit wir Einwendungen - soweit das irgendwie möglich ist -, die
gegen unser Steuergesetz erhoben werden, einarbeiten
können. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Lobby
teilweise massiv übertreibt,
({0})
wenn sie mit Abwanderung und Arbeitsplatzverlusten
droht sowie mit Zahlen operiert, die schlicht und einfach
falsch sind. Das weiß niemand besser als der Kollege
Waigel, der momentan sehr intensiv mit der Lektüre
einer Zeitung beschäftigt ist. Er war früher in einer solchen Situation. Ich bin jetzt in dieser Situation. Zu einer
guten Regierung gehört, daß sie die vorgebrachten Argumente nach sachlicher Prüfung und Diskussion aufgreift, aber nicht irgendwelchen Kampagnen der Lobby
nachgibt, die einfach unsachlich und nicht begründet
sind. Wir werden das so machen.
({1})
Ich möchte noch etwas zur Unternehmensteuerreform - es handelt sich um eine wirkliche Strukturreform, wenn man eine Betriebsteuer einführt - sagen:
Die Zahlen, die jetzt öffentlich gehandelt werden, sind
nicht akzeptiert. Sie sind deshalb nicht akzeptiert, weil
erst das Verfahren - um das auch hier klarzustellen abgewartet werden muß: Die Kommission arbeitet zu
Ende. Sie legt dann unter Beteiligung der Wirtschaft
ihren Bericht vor. Danach werden wir darüber beraten,
wie die Ergebnisse zu bewerten sind. Dann werden das
Parlament und die Regierung entscheiden, ob der Bericht als Ganzes realisiert werden soll oder ob es noch
Veränderungen geben soll. Anders kann es nicht gehen.
Ich wollte das in dieser Debatte noch einmal klarstellen;
denn an dieser Stelle - das ist der zweite Punkt, wo ich
Ihnen einen Treffer einräume - haben Sie recht: Wer
zuviel auf einmal beginnt, dem unterlaufen handwerkliche Fehler. Daraus sollte man lernen. Deshalb wird
dieses Gesetz ordentlich eingebracht und sorgfältig beraten. Das ist die Konsequenz daraus.
({2})
Ich will gerade in diesen Tagen einen Punkt aufgreifen, in dem wir unterschiedlicher Meinung sind und der
unser Volk beschäftigt: Es handelt sich um die Lohnund Einkommenspolitik, die gerade jetzt wieder streitig ist. Ich akzeptiere Ihre Position schlicht und einfach
nicht. Ich spreche das ganz offen an. Wir sollten die
Diskussion dazu immer wieder führen.
Wir von seiten der Bundesregierung haben gesagt:
Wir wollen eine Lohn- und Einkommenspolitik, die sich
am Produktivitätsfortschritt orientiert und die die Zielinflationsrate der EZB mit einbezieht. Das kann man für
richtig oder für falsch halten. Es gibt die andere Überzeugung, daß praktisch jede Lohnforderung unanständig
ist. - Wo sind wir in Deutschland eigentlich hingekommen? - Man argumentiert so, als sei grundsätzlich die
Arbeitnehmerschaft diejenige Gruppe, die man ansprechen müsse, wenn Fehlentwicklungen zu korrigieren
seien und wenn es gelte, den Gürtel enger zu schnallen.
Ich sage in allem Freimut, obwohl es in den Ohren
eines jeden neoliberalen Marktfundamentalisten unglaublich klingt: Wer über Lohnzurückhaltung spricht,
der kann sich doch irgendwann einmal die Frage stellen,
warum nicht einmal über Gewinnzurückhaltung gesprochen wird.
({3})
Schließlich ist der Lohn der Gewinn des Arbeitnehmers,
und der Gewinn ist der Lohn des Unternehmers. Warum
wird immer nur auf die eine Seite geschaut? Im übrigen
ist diese Überzeugung nicht nur verteilungspolitisch
falsch, sondern auch wirtschaftspolitisch erwiesenermaßen falsch.
Sie sind deshalb gescheitert, weil Sie - das habe ich
Ihnen immer unterstellt - guten Glaubens ({4})
- Frau Kollegin, ich bin vielleicht etwas zu großzügig immer sagten: Wir müssen nur Lohnzurückhaltung üben
- wir hatten in den letzten drei Jahren wieder sinkende
Lohnstückkosten -, und dann baut sich die Arbeitslosigkeit ab.
Ich sage Ihnen noch einmal: Das geht nur, wenn man
Exporterfolge hat, sonst logischerweise nicht. Anscheinend ist an dieser Stelle eine ideologische Sperre, diesen
Sachverhalt überhaupt anzunehmen. Von Lohnzurückhaltung haben bekanntlich der Einzelhändler und der
Handwerker, die uns hier vielleicht zuhören, nichts;
denn sie brauchen Kunden, die ihre Waren kaufen bzw.
ihnen Aufträge geben. Wir haben es hier mit einer wirtschaftspolitischen Lehrmeinung zu tun, die so zu formulieren ist: Die Wirtschaft verdient am meisten Geld,
wenn die Kunden am wenigsten in der Tasche haben.
({5})
Solange man auf dieser Lehrmeinung mit großer
Hartnäckigkeit beharrt, darf man sich über die fehlenden
Erfolge einer solch unsinnigen Wirtschafts-, Finanz- und
in diesem Fall auch Lohnpolitik nicht wundern. Wir
brauchen endlich einmal verbindliche Formeln.
So wie es etwa 1992 falsch war, weit über dem Produktivitätsfortschritt abzuschließen, so ist es falsch - ich
sage das hier in aller Klarheit -, permanent unterhalb der
Möglichkeiten zu bleiben, weil die Löhne und Einkommen ein solch großes Aggregat der Volkswirtschaft und
so wichtig für den Binnenmarkt sind, daß man sie auf
Dauer nicht zum alleinigen Mechanismus der Zurückhaltung machen kann. Das geht volkswirtschaftlich
schlicht daneben.
Wenn man diese Politik in guten Jahren sehr forciert
betreibt, dann kann es einem passieren, daß in einem
Jahr, das weniger gut läuft, die Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr stark sind und daß
man dann insgesamt keine optimalen Ergebnisse erreicht.
({6})
- Der verehrte Herr Hirche hat hier dazwischengerufen:
„Sie zerstören Arbeitsplätze!“ - Wenn Sie schon ideologisch fixiert sind,
({7})
dann schauen Sie doch einmal auf die Vereinigten Staaten. Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Reallöhne
in den letzten Jahren dort und wie sie sich bei uns entwickelt haben. Wenn Sie sich dann immer noch hier
hinstellen und unsinnigerweise behaupten, bei uns seien
die Reallöhne gestiegen und dort gesunken, dann muß
ich feststellen, daß Sie einfach aus ideologischer Verblendung nicht bereit sind, irgendwelche Zahlen zur
Kenntnis zu nehmen.
Anders ausgedrückt: Irgend jemand hat von Ludwig
Erhard gesprochen. Da man sich mit diesem Mann, der
im übrigen auch zur Geld- und Währungspolitik viel
Interessantes geschrieben hat, natürlich auseinandersetzen muß, will ich ihn einmal zitieren: „Ziel allen Wirtschaftens ist der Konsum.“ Wer die Arbeitnehmereinkommen immer wieder stranguliert und Lohnzurückhaltung predigt, der hat Erhard zumindest nicht verstanden. Das möchte ich hier einmal in aller Klarheit feststellen.
({8})
Steuergerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit
sind zwei wichtige, konstituierende Elemente unserer
gesamtstaatlichen Ordnung. Es ist selbstverständlich,
daß die Frage, ob Steuer- oder Verteilungsgerechtigkeit
existiert, von den verschiedenen gesellschaftlichen
Gruppen unterschiedlich beantwortet wird. Wenn Sie
sich aber einmal in den Statistiken die Selbständigenhaushalte, die Rentnerhaushalte, die Arbeitnehmerhaushalte, die Arbeitslosenhaushalte oder die Haushalte von
Sozialhilfeempfängern anschauen, kann eines festgehalten werden: Die Arbeitnehmerhaushalte hatten in den
letzten Jahren relativ am wenigsten Zuwachs. Genau das
wollen wir ändern. Dafür sind wir angetreten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch unsere Haushalts- und
Steuerpolitik.
({9})
Ich würde es begrüßen - ich weiß nicht, ob das zwischenzeitlich korrigiert worden ist -, wenn der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion seine Bemerkung im Hinblick auf das Programm für arbeitslose
Jugendliche zurücknehmen würde. Es kann jedem im
Eifer des Gefechts einmal passieren, daß er einen Satz
sagt, den er nachher bedauert. Ich würde eine Zurücknahme begrüßen. Bei diesem Programm handelt es sich
um einen Schwerpunkt unserer Regierungspolitik. Wir
wissen um die Schwierigkeiten, die dann auftreten,
wenn man Jugendliche, die schlecht ausgebildet sind,
die keinen Schulabschluß haben und vielleicht auch
schon eine ganze Reihe von Jahren sich auf der schiefen
Bahn, wie man das so im Volksmund sagt, bewegt haben, in den Arbeitsprozeß integrieren will. Hier wollten
wir nun einen Schwerpunkt setzen. Ich hatte eigentlich
unterstellt, daß wir bei diesem Ziel auch Ihre Unterstützung hätten. Deshalb bitte ich Sie: Korrigieren Sie diesen Satz. Dann soll es erledigt sein. Es wäre besser im
Hinblick auf die Jugendlichen, die uns vielleicht zuhören und unsere Debatten hier im Parlament verfolgen.
({10})
Der Bundeshaushalt setzt genau die Akzente, die wir
in unserem Programm vor den Wahlen den Wählerinnen
und Wählern versprochen haben. Die Argumentationsweise des Kollegen von der F.D.P., der zu Beginn der
Debatte die Bereiche Wohngeld und Wehrsold moniert
hat, ist doch nicht fair.
({11})
Gleichzeitig werfen Sie uns ja vor, daß wir beim Kindergeld, beim Eingangssteuersatz und bei den anderen sozialpolitischen Maßnahmen finanzpolitisch viel zu viel getan hätten. Wenn man diesen Vorwurf aufrechterhalten
will, meine Damen und Herren, dann darf man nicht zusätzlich sagen: Wo bleiben die Erhöhungen des Wohngeldes und des Wehrsoldes? Das ist die typische Argumentationsweise von Oppositionsparteien. Die Redner von der
F.D.P., die sich immer als besonders sachkundig in finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen geben, müßten
eigentlich diese ganzen Reden ändern, denn sonst wirken
sie völlig unglaubwürdig. Jeder, der uns jetzt zuhört,
weiß, daß das alles nicht stimmt. Meine Erfahrung ist: Mit
solchen Geschichten macht man keine Politik.
({12})
Wir haben, meine Damen und Herren, zwei Schwerpunkte gesetzt: Wir wollten ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und Innovationen in Deutschland in Gang
setzen - deshalb auch unsere Bemühungen um die Forschung und um erneuerbare Energien. Den Vorwurf, daß
wir in den vier Monaten noch nicht so weit gekommen
sind, wie wir eigentlich kommen wollten, den stecken
wir gerne ein. Auch den Vorwurf, daß hier oder da Fehler gemacht worden sind, nehme ich gerne auf mich. Es
wäre ja albern, wenn wir den Menschen draußen vormachen würden, es würden keine Fehler gemacht. Wir haben aber klare politische Akzente gesetzt: mehr soziale
Gerechtigkeit, mehr Erneuerung und Innovation. So
wollen wir fortfahren.
Vielen Dank.
({13})
Damit schließe
ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 14/300 und 14/350
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({0})
- Drucksache 14/371 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
W. Möllemann, Cornelia Pieper, Horst Friedrich
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
- Drucksache 14/358 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher und der Fraktion der PDS
Umsetzung der Reform der Ausbildungsförderung
- Drucksache 14/398 ({4}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Bundesministerin Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Heute geht es darum, krasse
Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen bei der Ausbildungsförderung zu korrigieren. Das BAföG hat die
Aufgabe, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit
im Bildungswesen zu gewährleisten.
Die alte Bundesregierung hat jedoch das BAföG
durch eine nicht erfolgte Anpassung der Elternfreibeträge und durch eine unzureichende Erhöhung des Förderbetrages derartig ausgehöhlt, daß das BAföG heute in
keiner Weise seiner Aufgabe gerecht werden kann. Die
alte Bundesregierung hat damit versäumt, in die Zukunft
der jungen Generation zu investieren.
Vorrangiges Ziel dieser Bundesregierung ist es, möglichst allen jungen Menschen, unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern, eine Ausbildung zu ermöglichen, die
ihren Fähigkeiten, Leistungen und Neigungen entspricht.
({0})
Ich möchte den Generationenvertrag bezüglich der
Bildung auf eine neue, dauerhafte und tragfähige
Grundlage stellen. Damit leiten wir eine Trendwende in
der Ausbildungsförderung hin zu mehr Chancengleichheit und zu mehr Gerechtigkeit ein.
Als einen ersten Reparaturschritt gegen die jahrelange
Talfahrt des BAföG lege ich deshalb heute dem Deutschen Bundestag den Entwurf für das Zwanzigste Gesetz
zur Änderung des BAföG-Gesetzes zur ersten Beratung
vor. Damit sollen Sofortmaßnahmen getroffen werden,
mit denen wir die Ausbildungsförderung konsolidieren
wollen. So wird verhindert, daß noch mehr Studierende
aus der BAföG-Förderung herausfallen. Das weitere Abfallen der Gefördertenquote wird gestoppt und ein Aufwuchs in naher Zukunft ermöglicht.
Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, die Bedarfssätze um 2 Prozent und die Freibeträge um 6 Prozent anzuheben, um wieder mehr jungen Menschen ein
Studium zu ermöglichen und die Studierenden wieder zu
einem Auslandsstudium zu ermuntern, statt durch eine
Verschlechterung der Förderart zu bestrafen, um Sanktionen für einen begründeten frühzeitigen Fachrichtungswechsel im Studium zurückzunehmen und um die
Gremientätigkeit von Studierenden in der studentischen
Selbstverwaltung wieder zu honorieren und nicht durch
eine Verschlechterung der Förderart zu bestrafen.
Zu den Einzelpunkten des Gesetzentwurfs. Mit der
Anhebung der Bedarfssätze um 2 Prozent und der
Freibeträge um 6 Prozent zum Herbst dieses Jahres
werden jährlich 289 Millionen DM zusätzlich in die
Ausbildungsförderung investiert. Damit steigt der Förderungshöchstsatz beim BAföG von 1 010 DM auf
1 030 DM. Studierende können sich damit wieder stärker auf ihr Studium konzentrieren, so daß ein Abschluß
des Studiums in angemessener Zeit möglich ist.
Von besonderer Bedeutung ist die vorgesehene Anhebung der Freibeträge um 6 Prozent.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, es
ist wohl die Scheinheiligkeit in Potenz, wenn Sie sich
über eine unzureichende Anhebung beklagen, nachdem
Sie in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung jahrzehntelang nicht die Entschlußkraft und den Mut gefunden haben, hier für eine vernünftige Ausbildungsförderung Sorge zu tragen.
({2})
Da kann ich nur sagen: Packen Sie die Heuchelei in den
Koffer. Damit können Sie keinen Blumentopf gewinnen.
({3})
Die Heuchelei ist wirklich das allerletzte. Ich muß
ganz offen sagen: Gerade von der F.D.P. hätte ich in den
letzten 16 Jahren die Entschlußkraft erwartet, die Sie
jetzt vollmundig an den Tag legen.
({4})
Jetzt, wo Sie nichts mehr zu entscheiden und zu sagen
haben, kommen Sie auf einmal mit den Vorschlägen
heraus. In der letzten Legislaturperiode haben Sie alle
Bemühungen und Fortschritte torpediert, weil Sie nicht
die Courage hatten, den Streit mit Ihrem Koalitionspartner zu führen.
({5})
- Ich gehe gleich sehr gerne darauf ein, warum ich die
Strukturreform jetzt nicht mache.
Ich kann Ihnen nur sagen, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von der F.D.P.: Wer zu spät kommt, den
bestraft das Leben.
({6})
Das trifft für Sie zu.
({7})
Zu der Anhebung der Elternfreibeträge.
({8})
Das ist nämlich der Kernpunkt in dieser Reform, neben
den „Korrekturen“, die Sie sträflicherweise durchgeführt
hatten.
({9})
- Wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann stellen Sie
eine Frage, Herr Möllemann. Ich antworte gerne auf
eine Frage.
Herr Kollege
Jürgen W. Möllemann.
Frau Ministerin,
Sie haben gerade prophetisch gesagt: Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben. Ich möchte aus eigener
Erfahrung hinzufügen und Sie fragen, ob Sie sich das
vorstellen können: Das Leben ist eine Achterbahn.
Herr Kollege Möllemann, ich kann mir
sehr gut vorstellen, daß das Leben nicht nur eine ständige Aufwärtsbewegung ist, sondern daß es ab und zu
auch bergab geht. Daß es bei Ihnen jetzt bergab geht,
haben wir festgestellt. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, Herr Möllemann, daß Sie die Versuchung verspürt haben, eiligst einen Entwurf in den Bundestag einzubringen, einen Entwurf, dessen Grundelemente praktisch dem entsprechen, was die SPD, was die Länder in
den letzten Jahren erarbeitet haben.
Das Ärgerliche, Herr Möllemann - das ist noch immer die Antwort -, ist nur, daß das Bundesverfassungsgericht inzwischen Beschlüsse gefaßt hat, die eine Veränderung des Familienleistungsausgleiches beinhalten.
Das kümmert Sie aber offensichtlich überhaupt nicht.
({0})
Sie bringen einfach einen Entwurf ein, in dem Sie die
notwendigen Änderungen, die uns das Bundesverfassungsgericht auferlegt, nicht aufgenommen haben. Sie
lassen sich überhaupt nicht beirren und bringen diesen
Antrag unverdrossen ein. Ich bin aus dem Staunen nicht
mehr herausgekommen, als ich gesehen habe, mit welcher Unbekümmertheit Sie hier einen Sockelbetrag von
400 DM für verfassungsrechtlich möglich halten, obwohl das überhaupt nicht geprüft ist, und mit welcher
Unbekümmertheit Sie zum Beispiel sagen: Wir nehmen
das Kindergeld; die Ausbildungsfreibeträge und sonstigen Freibeträge werden nicht berücksichtigt.
Ich kann nur sagen, ich hätte mir wirklich gewünscht,
daß Sie diese „Entscheidungsstärke“, die Sie mit der
Einbringung dieses Entwurfes heute demonstrieren
wollen, einmal in den letzten 16 Jahren Ihrer Regierungszeit an den Tag gelegt hätten,
({1})
zu einem Zeitpunkt, als Sie entscheiden konnten und solide hätten prüfen können.
({2})
Ich sage Ihnen auch ganz klar, was mich noch gewundert hat, nämlich daß auf einmal sämtliche juristischen Argumente, die ich mir in den letzten vier Jahren
ungefähr 30 000 mal habe anhören müssen, zum Beispiel bezüglich der Änderung des Unterhaltsrechtes,
überhaupt nicht mehr auftauchen, sondern Sie sie völlig
beiseite lassen, als hätte es sie nie gegeben. Dabei waren
es doch zwei F.D.P.-Justizminister, die genau diese juristischen Vorbehalte formuliert haben. Ein Stück Glaubwürdigkeit dient der Politik.
({3})
Frau Ministerin, der Herr Kollege Möllemann möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Ich wollte aber doch noch darauf
hinweisen, daß Zwischenfragen und Antworten möglichst nicht länger sein sollten als der Redebeitrag.
Herr Möllemann, vielleicht stellen Sie
die Zwischenfrage etwas zurück. Ich gehe davon aus,
daß ich darauf, was Sie fragen möchten, im Verlauf
meiner Rede ohnehin noch eingehe.
({0})
- Gerne, dann noch eine zweite Zwischenfrage.
Frau Präsidentin,
abgesehen davon, daß meine Frage wirklich kurz war
und nur die Antwort lang, nicht beides, möchte ich die
zweite Frage stellen. Frau Ministerin, Sie sagten gerade,
Sie empfänden es als zu eilig, daß wir den Vorschlag mit
dem Drei-Körbe-Modell, der bislang Ihr Vorschlag war,
eingebracht hätten. Könnten Sie sich vorstellen, daß wir
nach dem, was Oskar Lafontaine gerade gesagt hat, der
Meinung waren, es sei nicht das Privileg der Bundesregierung, eilig zu handeln?
Herr Möllemann, ich kann mir vorstellen, daß eine Opposition durchaus für sich das Privileg
in Anspruch nimmt, Fehler zu machen und einen Entwurf einzubringen, obwohl sich inzwischen die juristische Grundlage verändert hat. Durch den Bundesverfassungsgerichtsbeschluß haben wir eine andere Grundlage,
als wir sie noch vor einem Jahr hatten. Ich kann nur
wiederholen: Wenn Sie in der letzten Legislaturperiode
die Courage gehabt hätten,
({0})
den breiten Konsens mitzutragen, den Entwurf, den wir
vorgelegt haben, zu einem verabschiedungsfähigen Gesetzestext zu machen, dann müßten wir heute nicht darüber diskutieren. Da Sie die Courage nicht gehabt haben, müssen wir heute, aber vor allen Dingen in den
kommenden Monaten die Debatte darüber führen. Denn
das, was ich heute vorlege, ist eine Eilmaßnahme, ein
erster Schritt, eine Reparatur. Wir werden in den nächsten Monaten sehr intensiv über das eigentliche Reformkonzept miteinander diskutieren müssen.
({1})
- Nein, ich bin nicht sauer. Mein lieber Herr Hirche, ich
glaube wirklich, daß diese Reform nicht für parteitaktische Spielchen geeignet ist.
({2})
Vielmehr geht es um die lebensnotwendige Förderung
vieler Jugendlicher aus einkommensschwächeren Familien.
({3})
Deshalb muß man solide arbeiten. Was Sie vorgelegt
haben, entbehrt jeglicher Solidität.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme auf die
Anhebung der Freibeträge zurück. Dies ist wirklich
ein ganz wichtiger Bestandteil des Vorschlages. Von
1993 bis 1997 ist - ich bitte Sie, sich das noch einmal
vor Augen zu halten - die Zahl der geförderten Studierenden von 408 000 auf 238 000 gesunken. Mittlerweile
kann eine Familie mit zwei studierenden Kindern nur
noch dann mit einer Vollförderung rechnen, wenn das
monatliche Bruttoeinkommen 2 985 DM unterschreitet.
Soweit sind wir inzwischen durch Ihre Säumnisse, durch
Ihre Fehler in den letzten 16 Jahren gekommen. Daß
diese Grenze zu niedrig ist, ist eigentlich jedem sonnenklar. Deshalb will ich mit diesem Gesetzentwurf, mit
dieser Eilmaßnahme die Bedarfs- und Freibetragssätze
anheben, um ein weiteres Absinken der Gefördertenquote zu verhindern.
Mit dem zweiten Teil der Novelle werden krasse
Fehlentscheidungen, die wiederum die Opposition zu
verantworten hat, korrigiert.
Erstens. Wir wollen Auslandsaufenthalte und Mobilität von Studierenden stärker fördern, weil wir das für
wichtig halten. Wir wollen, daß unsere Jugendlichen die
Möglichkeit haben, ihre Fach- und Fremdsprachenkompetenz zu erweitern. Die Jugendlichen müssen für die
internationalen Herausforderungen gerüstet sein, um im
internationalen Vergleich mithalten zu können.
Meine Damen und Herren, fast die Hälfte aller Studierenden würde nach Umfragen an einem obligatorischen Auslandsjahr als Bestandteil eines Studiengangs
mit geregelter Anerkennung der Studienleistung teilnehmen.
({5})
Das Haupthindernis für einen Auslandsaufenthalt von
Studierenden sind zur Zeit die Probleme bei der Finanzierung. Dies bestärkt uns, jetzt im 20. BAföGÄnderungsgesetz den Bereich der Auslandsförderung
wieder auszubauen. Deshalb führen wir die bewährte
Regelung des § 5a wieder ein.
({6})
Meine Damen und Herren, es müssen künftig wieder
alle Studierenden unabhängig vom Einkommen ihrer
Eltern die gleichen Chancen auf ein Auslandsstudium
haben. Die alte Bundesregierung hat Internationalität
und Mobilität verhindert. Es war einfach ein krasser
Fehler, die Studierenden mit den restriktiven BAföGRegelungen ausgerechnet für ihre Mobilitätsbereitschaft
zu bestrafen.
({7})
Wir werden deshalb die Attraktivität von Ausbildung im
Ausland wieder erhöhen. Künftig bleibt nach unserem
Vorschlag im Rahmen der Förderungshöchstdauer ein
Auslandsaufenthalt bis zu einem Jahr unberücksichtigt.
Zweitens. Wir erwarten von allen Studierenden ein
zielgerichtetes Studium. Aber wir können die Augen
vor bestehenden Orientierungsbedürfnissen in der ersten
Studienphase nicht verschließen. Dies wird zukünftig in
angemessener Weise bis zum Beginn des vierten Fachsemesters durch das Zulassen eines Ausbildungsabbruchs oder Fachrichtungswechsels aus wichtigen Gründen berücksichtigt. Der Beirat für Ausbildungsförderung
hat nachdrücklich bestätigt, daß es Fälle gibt, in denen
der Studienaufbau einen Fachrichtungswechsel aus
wichtigen Gründen noch am Ende des dritten Fachsemesters rechtfertigt. Es wäre ungerecht, wenn das Förderungsrecht die Ausbildung junger Menschen aus einkommensschwachen Familien erschweren würde. Deshalb ist diese Korrektur notwendig.
Drittens. Eine weitere Korrektur, die wir durchführen
werden, bezieht sich auf das Engagement von Studierenden in Gremien und Organen der studentischen
Selbstverwaltung. Wir möchten erreichen, daß dieses
Engagement entsprechend berücksichtigt wird, weil es
für eine lebendige Hochschule wichtig ist. Das muß
dann auch im Ausbildungsförderungsrecht seinen Niederschlag finden. Nachteile für besonders engagierte
Studierende müssen vermieden werden. Deshalb sieht
unser Gesetzentwurf vor, daß Studierende, bei denen
sich die Förderungshöchstdauer durch eine Gremientätigkeit verlängert, für die Zeit dieser Verlängerung wieder auf die Normalförderung zurückgreifen können. Ihnen entstehen also praktisch keine finanziellen Nachteile
durch engagiertes Mitarbeiten in den Gremien der Hochschule. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit
sein.
({8})
Diese Möglichkeit muß natürlich erst recht gelten,
wenn soziale oder andere schwerwiegende Verlängerungsgründe den Ausbildungsabschluß innerhalb der
Förderungshöchstdauer unmöglich machen. Darunter
fallen zum Beispiel Krankheit, Unterbrechung der Ausbildung durch Grundwehr- bzw. Zivildienst oder Ableistung eines freiwilligen sozialen bzw. ökologischen Jahres. Deshalb führen wir die vorgesehenen Korrekturen
durch.
Viertens. Wir verlängern - auch dies ist eine weitere
Korrektur, die wir durchführen - das bewährte Instrument der Studienabschlußförderung um weitere zwei
Jahre bis zum 30. September 2001. Denn es gibt noch
immer Studentinnen und Studenten, die alle erforderlichen Studienleistungen innerhalb der Förderungshöchstdauer erbracht haben, die ihre Ausbildung aber trotz
Zulassung zur Abschlußprüfung aus hochschulinternen
Gründen nicht beenden können. Eine solche Examensverzögerung, die auf organisatorische Defizite der
Hochschule zurückgeht, darf nicht zu Lasten der Studierenden gehen. Deshalb ist die Verlängerung der Studienabschlußförderung dringend geboten.
Ich habe bereits vorhin in meiner Antwort auf Ihre
Zwischenfrage, Herr Möllemann, gesagt, daß wir zwar
mit der vorliegenden BAföG-Novelle eine Trendwende
hin zu mehr Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit einleiten, daß aber die Hauptaufgabe noch vor
uns liegt, nämlich eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung.
Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein entscheidungsreifes Konzept vorlegen. Wir bauen bei unseren Überlegungen auf den breiten Konsens auf, ausbildungsbezogene staatliche Leistungen wie Kindergeld
und Freibeträge zu einer elternunabhängigen Förderung
zusammenzufassen. Ergänzen wollen wir dieses elternunabhängige Ausbildungsgeld durch eine einkommensabhängig gewährte Ausbildungshilfe.
Meine Herren und Damen, wer allerdings glaubt das richtet sich jetzt noch einmal ganz konkret an die
Adresse der F.D.P. -, diese Reform ohne Berücksichtigung der jüngsten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes zum Familienleistungsausgleich auf den Weg
bringen zu können, der liegt falsch.
({9})
Eine Reform der Ausbildungsförderung kann es nur in
enger Verknüpfung mit der Reform des Familienleistungsausgleiches geben. Im Interesse der jungen Menschen ist deshalb Sorgfalt angebracht.
({10})
Um es noch einmal zu wiederholen: Die erforderliche
Neuorientierung der Ausbildungsförderung darf nicht zu
einem parteitaktischen Spielchen verkommen.
({11})
Dabei handelt es sich um eine zu ernste Angelegenheit.
Deshalb will ich noch einmal ausdrücklich festhalten:
Die Bundesregierung wird noch in diesem Jahr ein Reformkonzept vorlegen. Genauso klar ist aber auch: Ich
lasse mich nicht zu unbotmäßiger Hast von denjenigen
treiben, die in jahrzehntelanger Regierungsverantwortung die Entschlußkraft, Änderungen vorzunehmen und
eine Strukturreform auf den Weg zu bringen, nicht aufgebracht haben.
({12})
- Ich meine damit eine Hast, die dazu führen würde, daß
wir hier ein Gesetz verabschieden, Herr Möllemann, das
langfristig nicht tragfähig ist. Wir werden eine BAföGReform durchführen, die auch auf längerfristige Sicht
Sicherheit für Studierende aus einkommensschwächeren
Familien bietet.
({13})
Frau Kollegin
Pieper, ich kann leider keine Zwischenfrage mehr zulassen, weil die angemeldete Redezeit schon überschritten
ist. Frau Ministerin, ich habe kein Recht, Sie zu unterbrechen - das wissen Sie -, aber ich kann es Ihnen zur
Kenntnis geben.
Ein letzter Satz: Ich wünsche mir, daß
dieser Entwurf eine breite Mehrheit in diesem Hause
findet, damit die vielen jungen Menschen, die die notwendigen Leistungsverbesserungen beim BAföG dringend brauchen, diese auch erhalten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Volquartz.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Über die Bedeutung von
Studium und Hochschule, Wissenschaft und Forschung
brauchen wir in diesem Hause nicht zu streiten. Die
Daten liegen auf dem Tisch. Professor Wolfgang Frühwald, ehemaliger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, weist darauf hin, daß sich die Zahl der
Naturwissenschaftler in den USA innerhalb von 13 Jahren verdoppelt. Jürgen Rüttgers stellt fest: Weltweit erscheinen pro Arbeitstag 20 000 Fachpublikationen in
Wissenschaft und Technik.
Wenn wir vom Aufbruch in die Wissensgesellschaft
sprechen, dann geht es nicht um eine Utopie, sondern
um die Lösung drängender praktischer Probleme. Dazu
zählt die Situation an den Hochschulen ebenso wie die
Förderung der Studierenden. Es geht um Chancen für
den einzelnen und um unseren Platz im globalen Wettbewerb. Lassen Sie mich deshalb zunächst mit der gebotenen Deutlichkeit feststellen: Der Zugang zum Studium und dessen Verwirklichung dürfen nicht von der
wirtschaftlichen Lage des Elternhauses abhängen. Das
war schon immer CDU/CSU-Position.
({0})
Die Union war es schließlich, die mit dem Vorläufer des
BAföG, dem Honnefer Modell, im Jahre 1957 die Ausbildungsförderung in Deutschland überhaupt begründet
hat. Das muß einmal festgestellt werden.
({1})
Der Entwurf des 20. BAföG-Änderungsgesetzes, über
den wir heute beraten, wird von der Regierung als „Reparaturgesetz“ bezeichnet. Die Frage ist allerdings, was
dieses Gesetz repariert. Es besteht sicherlich Einigkeit
auf allen Seiten des Hauses, daß bei insgesamt 1,8 Millionen Studierenden in Deutschland der Kreis der Geförderten in den letzten Jahren - mit einer Förderquote
von 22 Prozent im Jahre 1998, berechnet nach der normativen Methode, bei der die dem Grunde nach BAföGBerechtigten die Bezugsgröße sind - aus verschiedenen
Gründen deutlich kleiner geworden ist. Wir sind uns
auch darüber einig, daß die Anhebung der Bedarfssätze
und der Freibeträge für die Auszubildenden bzw. Studierenden selbstverständlich zu begrüßen ist.
Auch hier gilt: Bildungsinvestitionen sind Zukunftsinvestitionen. Jeder Manager weiß, was der
Standortfaktor Bildung bedeutet. Die letzte OECDBildungsstudie stellt kurz und prägnant fest, daß Bildung ebenso zur Stärkung des wirtschaftlichen Wachstums wie zur persönlichen und sozialen Weiterentwicklung und auch zur Verringerung sozialer Ungleichheiten
beitragen kann. Deshalb waren in dem von uns zu verantwortenden Regierungsentwurf für den Haushalt 1999
noch entsprechende Erhöhungen beim BAföG vorgesehen.
Ich muß Sie, meine Damen und Herren von der rotgrünen Mehrheit, allerdings auch daran erinnern, daß Sie
mit Ihrer BAföG-Novelle deutlich hinter dem zurückgeblieben sind, was Sie hier im Hause vor der Wahl lautstark gefordert haben.
({2})
Erinnern wir uns: 2 Prozent mehr bei den Bedarfssätzen
und 6 Prozent mehr bei den Freibeträgen - das sah die
von uns verantwortete 19. Novelle vor, also exakt die
von Ihnen in der 20. Novelle geplante Erhöhung. Doris
Odendahl, die damalige bildungspolitische Sprecherin
der SPD, hat diese 19. Novelle hier am 2. April 1998, also vor noch nicht einmal einem Jahr, mit der Note „unzureichend“ versehen.
({3})
Da stellt sich natürlich die Frage, ob dieses Hohe Haus
die damalige Bewertung auch für die 20. Novelle übernimmt. Naheliegend wäre das.
Die Ministerin spricht davon, daß mit der vorliegenden 20. Novelle krasse Ungerechtigkeiten beseitigt würden und daß die alte Bundesregierung Investitionen in
die Zukunft nicht vorgenommen habe. Da muß ich Sie
fragen: Wo ist der Unterschied zwischen dem letzten
Jahr und diesem Jahr?
({4})
Dazu und zu Ihrer Äußerung, es sei seitens der vorherigen Koalition nichts geschehen, würde ich gern noch
etwas von Ihnen hören.
({5})
Wir sind schließlich bei der 20. BAföG-Novelle. Davor
muß doch irgend etwas gelaufen sein. Ich denke, man
sollte darüber noch einmal gründlich nachdenken.
({6})
Mit der 19. Novelle haben wir eine Trendwende bei
der rückläufigen Entwicklung der Förderquote erreicht.
({7})
Wurden 1998 - berechnet nach der eingangs erwähnten
normativen Methode - insgesamt 22 Prozent der Studierenden gefördert, sind es nach der von uns zu verantwortenden 19. Novelle für 1999 nunmehr 22,5 Prozent.
Hier von „Schweinereien“ der alten Regierung zu reden,
die es nun zu beseitigen gelte, wie es der Kollege Stephan Hilsberg am 12. November 1998 von dieser Stelle
aus getan hat, erscheint grotesk.
({8})
Meine Damen und Herren, mit der Ankündigung der
Verdoppelung der Aufwendungen im Bildungsbereich in den nächsten fünf Jahren sind Sie in den Wahlkampf gezogen.
({9})
Von diesen Aufwendungen muß ein Teil auch in das
BAföG gehen, für Investitionen in Köpfe verwendet
werden. Sie erhöhen die Bedarfssätze jetzt aber lediglich
um 2 Prozent und die Freibeträge um 6 Prozent.
({10})
Da gibt es natürlich Erklärungsbedarf. Sie haben in Ihrem sonst so schwammigen Koalitionsvertrag das Thema BAföG als einen Hauptschwerpunkt benannt. Trotzdem sehen Sie eine Erhöhung der Bedarfssätze um nur
2 Prozent vor.
({11})
Das bedeutet eine Realkürzung. So ist eine erfolgreiche
BAföG-Reform nicht möglich. Im übrigen fallen die
BAföG-Steigerungen nicht höher aus als der Durchschnitt der übrigen Erhöhungen im Bildungshaushalt.
Wenn Sie also gewissermaßen überall nur einen Schnaps
drauftun, kann von einem Hauptschwerpunkt wirklich
nicht mehr die Rede sein.
({12})
Wie schon in anderen Fällen von dieser Stelle aus
gesagt wurde: Sie haben ein Hauptversprechen aus dem
Wahlkampf und dem Koalitionsvertrag gebrochen. So
sieht es offensichtlich auch die Zeitschrift „Die Woche“,
von der man wahrlich nicht sagen kann, daß sie der Opposition sonderlich nahesteht. Dort heißt es lapidar:
Auch das BAföG-Reförmchen im Mai, maximal 20 DM
- oder 10,23 Euro - mehr im Monat, bringt da keine
Besserung. Wenn die Ministerin an der Stelle davon
spricht, Studierende könnten sich mit dieser Erhöhung
wieder mehr dem Studium widmen, dann frage ich mich
wirklich: Frau Ministerin, wissen Sie eigentlich, was
20 DM mehr bedeuten?
Damit kommen wir zum eigentlichen Problem: Mehr
als 25 Prozent der Studierenden brechen das Studium ab.
- Das hat vor allem strukturelle Ursachen. Natürlich
stellt sich die Frage, ob das Reifezeugnis heute noch in
jedem Fall Hochschulreife bedeutet. - Das hat gravierende Folgen für den einzelnen und für die Gesellschaft.
Niemand wird annehmen, daß dieses Problem mit
20 DM BAföG mehr oder weniger gelöst sei.
Wenn wir uns die Studiendauer an deutschen Hochschulen ansehen, dann müssen wir uns die Frage nach
der Organisation des Studiums auch vor dem Hintergrund der studentischen Erwerbstätigkeit stellen.
Während Ende der 60er Jahre die studentische Erwerbstätigkeit noch überwiegend in den Semesterferien
stattfand, ist der Anteil derjenigen, die während des Semesters arbeiten, heute höher, nämlich so hoch, wie er
damals auf das ganze Jahr verteilt war: zirka 65 Prozent.
Von diesen jobbenden Studierenden arbeiten 49 Prozent
tatsächlich, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen,
({13})
hingegen arbeiten 46 Prozent von ihnen mit dem Motiv,
Erfahrung für die Berufspraxis zu sammeln. So sagt es
die 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes.
Man muß also differenzieren, warum gejobbt wird, und
kann nicht alles über einen Kamm scheren.
Es ist nicht nur erforderlich, eine BAföG-Novelle
voranzubringen; wir müssen den Studierenden zugleich
deutlich machen, daß damit Leistungsanforderungen
verknüpft werden. Es ist im Interesse der Studierenden
ebenso wie im Interesse der Hochschulen, Studienfortschritte durch Prüfungen festzustellen. Deshalb haben
wir bereits in der letzten Wahlperiode das Hochschulrahmengesetz geändert und am 20. August 1998 in § 15
HRG studienbegleitende Prüfungen festgeschrieben.
Nachweise von Studienfortschritten sind inzwischen in
den meisten OECD-Ländern ein wichtiges Kriterium.
Die Bundesrepublik Deutschland als Export- und
Wissenschaftsnation ist im Hinblick auf die europäische
Entwicklung auf den Dialog mit ausländischen Eliten
angewiesen. Deshalb begrüße ich für meine Fraktion
ganz außerordentlich, daß die geplante Wiedereinführung des § 5a BAföG tatsächlich stattfindet. Wir unterstreichen, daß das eine richtige Maßnahme ist.
({14})
Weitere Anstrengungen sind auf dem Gebiet der
Vergleichbarkeit und gegenseitigen Anrechenbarkeit
von Leistungsnachweisen erforderlich, wenn die Mittel
für Auslandsausbildung wirklich effizient verwendet
werden sollen. Ein besonders geeigneter Weg ist das
„European Credit Transfer System“. Es trägt zu einer
höheren Kompatibilität von im gesamten europäischen
Ausland erbrachten Studienleistungen bei und stellt ein
geeignetes Berechnungsmodell für deren Anerkennung
dar. Eine Ausweitung des Systems sollte zum Beispiel
durch die Schaffung einer zentralen, unabhängigen und
effizienten Beratungsstelle erreicht werden. In einem
weiteren Schritt ist anzustreben, daß die Studienförderung der fortschreitenden europäischen Integration angeglichen wird.
Wenn wir heute in der ersten Lesung über die
BAföG-Novelle beraten, dann müssen wir auch über die
schon genannten Leistungsanforderungen, die sich verändert haben und die sich verändern müssen, und über
die Hochschulsituation sprechen. Es ist kontraproduktiv,
daß der Ausbildungsabbruch oder der FachrichAngelika Volquartz
tungswechsel einmal mehr möglich sein soll, ohne daß
diese zahlenmäßig erweiterte und studienverlängernde
Möglichkeit begründet wird. Drei Semester für die
Selbstfindungsphase an der Hochschule für Studierende,
die im allgemeinen mit dem Reifezeugnis ausgestattet
sind, das ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die Zeit. Das Zeichen am Rednerpult
soll Ihnen das signalisieren.
Danke, Frau Präsidentin, ich bin gleich fertig. - Es reicht nicht, darauf zu
vertrauen, daß die Geförderten im eigenen Interesse ihre
Abschlüsse zügig anstreben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns bei der gemeinsamen Diskussion über die weitere Förderung der
Studierenden daran arbeiten, die relativ bescheidenen
Veränderungen, die heute bei der ersten Lesung der
20. BAföG-Novelle deutlich geworden sind, auszuweiten. Lassen Sie uns gemeinsam an einer Reform arbeiten, an der sich die CDU/CSU-Fraktion konstruktiv
beteiligen wird. Das ist selbstverständlich.
Herzlichen Dank.
({0})
Das war die
erste Rede der Kollegin Volquartz in diesem Plenum.
Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Diese Regierung hat sich ein sehr ehrgeiziges Ziel gesetzt, ein Ziel, von dem noch nicht klar ist, ob wir es erreichen werden. Das zeigt die Diskussion, die die Bildungspolitiker mit den Rechts- und Finanzpolitikern
auch in der Amtszeit der von der CDU/CSU geführten
Bundesregierung geführt haben. Für die Bildungspolitiker ist noch nicht klar, ob wir es schaffen werden, eine
Strukturreform des BAföG auf den Weg zu bringen. Für
sie ist noch nicht entschieden, ob es uns gelingt, das
Versprechen, das wir den Wählerinnen und Wählern gegeben haben, tatsächlich einzuhalten. Ich gestehe Ihnen
gern zu, daß das ein Problem sein wird, bei dessen Lösung die Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker
durchaus an einem Strang ziehen müssen. Insofern freue
ich mich über die Hinweise der F.D.P. zu ihrem möglichen Verhalten gegenüber der Regierung, und ich freue
mich, daß Sie, Frau Volquartz, das Angebot zur Mitarbeit gemacht haben.
Uns geht es darum, den Startschuß für eine zweite
Stufe der Bildungsreform in Deutschland zu geben. Das
BAföG hat eine ganz wesentliche Rolle bei der letzten
Bildungsreform gespielt.
({0})
Ohne die Einführung des BAföG wären die Hochschulen nicht geöffnet worden. Ohne die Einführung des
BAföG hätten eine Menge Leute keine Chance zum
Studieren gehabt. Selbst unser Bundeskanzler erwähnt
immer wieder, daß das BAföG für ihn eine relevante
Rolle gespielt habe. Deshalb ist für die zweite Stufe der
Bildungsreform eine große Veränderung bei der Studierendenförderung unabdingbar. Das BAföG stand für die
erste Stufe der Bildungsreform. Das Ausbildungsgeld,
das diese Koalition verwirklichen will, wird für die
zweite Stufe stehen.
Ein wesentlicher Punkt, an dem wir uns orientieren
werden, wird sein, die Studierenden als selbständige
erwachsene Menschen zu betrachten, von denen wir an
der Hochschule etwas verlangen. Wir verlangen von ihnen, daß sie etwas leisten, wobei man sich - das schiebe
ich gern ein - inzwischen einig ist, daß die Leistungsbereitschaft der Studierenden sehr hoch ist und die Zumutungen, mit denen sie an den Universitäten zu tun haben,
das eigentliche Problem darstellen. Also: Wir behandeln
diese Menschen als Erwachsene, und auch die Förderung sollte sich daran orientieren. Sie sollte ihnen möglichst viele Freiheiten geben und Elemente von Elternunabhängigkeit beinhalten. Diesen Weg wollen wir gehen.
({1})
Vor diesem Hintergrund komme ich zur Benotung
der „BAföG-Reparaturnovelle“, die wir vorlegen. Ich
denke, das, was wir vorlegen, ist selbstverständlich unzureichend. Es ist noch keine Strukturnovelle. Was wir
vorlegen, reicht überhaupt noch nicht aus. Wir haben in
der letzten Legislaturperiode im Vergleich zu dem, was
wir heute vorlegen, viel mehr eingefordert. Wir sagen
aber auch gar nicht, daß diese Novelle der große Wurf
ist, sondern wir sagen: Das ist die erste Stufe, das ist eine „Reparaturnovelle“; die zweite Stufe wird die entscheidende sein. Insofern fühlen wir uns auch durch die
Angriffe, die von seiten der Opposition geführt worden
sind, nicht getroffen; denn dies ist nur die „Reparaturnovelle“, entscheidend ist die zweite Stufe.
Unsere Koalitionsvereinbarung ist an dieser Stelle
keineswegs schwammig, sondern sie setzt sich ein ehrgeiziges Ziel. Wir sagen: Ende 1999 wollen wir den
Vorschlag zur Strukturreform auf den Tisch legen. Bis
Ende 1999 - bekanntermaßen hat das Jahr bereits begonnen - wollen wir die BAföG-Strukturreform angepackt und Ihnen eine Lösung, über die es sich zu diskutieren lohnt, auf den Tisch gelegt haben. Meine Damen
und Herren, das ist ein ehrgeiziges Ziel. Ich freue mich
aber, daß wir in der Bildungspolitik nicht den Fehler
gemacht haben, den diese Regierung in vielen anderen
Bereichen gemacht hat. Wir haben uns nämlich nicht
treiben und hetzen lassen, um dann Vorschläge, die zum
Teil noch nicht ausgegoren waren, vorzulegen und uns
letzten Endes nicht mehr um die Substanz der Reform zu
streiten, sondern um zu verbessern, zu verbessern, zu
verbessern. Unsere Ministerin ist den geschickteren Weg
gegangen. Ich glaube auch, sie wird den erfolgreicheren
Weg gehen und diese Strukturreform mit Sorgfalt auf
den Weg bringen. Sie ist uns zu wichtig, als daß wir uns
von irgend jemandem - sei es von der Opposition, sei es
von der öffentlichen Meinung - hetzen lassen.
({2})
Sollten wir dies nicht erreichen, sollten wir in der Regierungsverantwortung keinen Vorschlag auf den Tisch
legen, von dem man wirklich sagen kann, das sei die
Strukturnovelle, dann können Sie auf uns losprügeln.
Aber ich bitte Sie doch so lange um die nötige Geduld
und erwarte von Ihnen, daß Sie uns zumindest erst einmal diese Chance einräumen.
Im übrigen bin ich sehr optimistisch, weil bei dieser
Regierung nicht nur die Bildungspolitiker sagen, wir
bräuchten diese Reform, sondern weil - das haben Sie
bei den Haushaltsberatungen gemerkt; hier haben wir
Akzente gesetzt - die gesamte Regierung und die gesamte rotgrüne Koalition die Bildungsreform für eine
zentrale Frage halten. Das ist einer der ganz wesentlichen Unterschiede zu der Zeit vor dem Regierungswechsel. Sie haben in den letzten Jahren beim BAföG
gespart. Wir hingegen sind einen anderen Weg gegangen und werden diesen anderen Weg gemeinsam mit
allen Kolleginnen und Kollegen der rotgrünen Koalition
auch zu Ende gehen. Jeder, der sich von der Opposition
dem anschließen möchte, ist dazu herzlich eingeladen.
({3})
- Herr Kollege Möllemann, wenn Sie wieder einmal
aufstehen möchten, dann stellen Sie mir doch einfach
eine Frage. Ich werde sie Ihnen auch gerne beantworten.
Im übrigen haben Sie mich nicht gekitzelt; dazu sind Sie
mir doch ein bißchen zu weit entfernt.
({4})
Der entscheidende Punkt ist folgender, Herr Kollege
Möllemann: Sie waren vier Jahre lang in den Gesundheitsausschuß strafversetzt. Insofern haben Sie die Bildungsdebatte nicht verfolgen können, und auch Sie, Frau
Kollegin Pieper, waren damals noch nicht hier. Aber für
uns ist es schon eine komische Situation, daß die Fraktion, die ständig herumgenölt hat und sich im offenen
Streit mit Rüttgers befand, an der entscheidenden Stelle
aber immer wieder eingeknickt ist, uns jetzt sagen will,
wie wir es machen sollen. Darüber wundern wir uns ein
wenig. Sie haben das Glück der Gnade des Zuspätkommens in den Bildungsausschuß. Trotzdem dürfen wir
uns einmal über Ihre Fraktion und Ihre politische Initiative köstlich amüsieren. Das ist insofern kein Kitzeln,
sondern nichts anderes als das Eingeständnis, daß Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., in der
Opposition angekommen sind. Wir wollen, daß Sie
möglichst lange da bleiben. Ob Ihre Opposition einmal
außerparlamentarisch sein wird, lasse ich dahingestellt.
Wir wollen die Reform gestalten, und Sie können
Hinweise dazu geben und daran mitarbeiten. Wir können einen breiten Konsens dazu hinbekommen. Aber Sie
werden nicht diejenigen sein, die diese Reform komplett
ausgestalten werden.
({5})
Für den Aufbruch in die Wissensgesellschaft, für die
Veränderung der Art und Weise, wie Studierende studieren, ist es nötig, daß man von einem Entwurf wegkommt, der alles bis ins letzte Detail regelt, und zu
einem Entwurf gelangt, der den Geförderten möglichst
viel Freiheit läßt. Es wird auch nötig sein, daß der Entwurf wieder dem Gebot der sozialen Gerechtigkeit
Rechnung trägt. Wir haben beim BAföG und bei der
sonstigen Förderung der Studierenden heute das Problem, daß es eine große soziale Ungerechtigkeit gibt. Es
werden nämlich viele Wohlhabende weit mehr als solche gefördert, die es nötig haben.
Das bedeutet, daß man innerhalb der Studierendenförderung eine Umverteilung vornimmt. Das wird diese
Koalition versuchen. Wir werden zusammen mit den
Kolleginnen und Kollegen, die sich um das Familienrecht kümmern, mit denen, die sich um das Steuerrecht
kümmern, und mit denen, die sich darum kümmern, die
BAföG-Reform zu finanzieren, einen vernünftigen Vorschlag auf den Tisch legen, der sozial gerechter ist als
alles, was bisher war.
({6})
Das wird allerdings ausgesprochen kompliziert, weil
das Bundesverfassungsgericht uns die Lösung einiger
zusätzlicher Probleme aufgegeben hat. Ich freue mich
aber trotzdem darüber, weil das Verfassungsgericht dem
Grunde nach gesagt hat, daß mehr Geld zu den Familien
fließen müsse. Daß wir eine bessere Ausstattung der
Familien brauchen, bedeutet in der Konsequenz, daß
auch die Ausstattung der Studierenden am Ende besser
sein muß als das, was wir heute auf den Tisch gelegt haben.
({7})
Wer definiert nun, was soziale Gerechtigkeit ist?
({8})
- Entschuldigen Sie, dazu haben wir höchstrichterliche
Urteile. In Karlsruhe sitzt jemand, der für diese Politik
einsteht und der jetzt höchstrichterlich bestätigt hat, daß
den Familien während der Regierung Kohl 20 Milliarden DM jährlich vorenthalten wurden.
({9})
Jetzt fragen ausgerechnet Sie uns, wer definiert, was soziale Gerechtigkeit ist. Das ist meiner Meinung nach etwas, was Sie sich in der Opposition leisten können, aber
was Sie sich gegenüber den Menschen außerhalb dieses
Parlaments nicht erlauben können.
Schauen Sie sich an, wie wenig junge Menschen aus
Familien mit geringem Einkommen den Weg in die
Universität tatsächlich finden. Angesichts dessen ist
heute das Bildungssystem in Deutschland jedenfalls
nicht mit dem Label zu versehen, daß es sozial gerecht
sei. Vielmehr ist es sozial selektiv, und das wollen wir
ändern.
({10})
- Jetzt gehe ich auf die Landesregierungen ein, und ich
finde es ausgesprochen wichtig, daß Sie das ansprechen.
Dazu gab es nämlich im Bildungsausschuß - Herr Friedrich hat die Diskussion auch verfolgen können - eine
sehr einhellige Meinung. Wir haben mit gutem Grund in
den Koalitionsvertrag hineingeschrieben, daß wir bei
dieser Reform die Zusammenarbeit mit den Ländern
brauchen; denn sie müssen dieser Reform zustimmen.
Bis jetzt sieht die Arbeitsteilung zwischen Bund und
Ländern ungefähr so aus: Man streitet sich über die Reform, erreicht am Ende nichts, das BAföG sinkt, alle
freuen sich, daß ein bißchen Geld gespart wird, aber
man übersieht, daß das zu Lasten derer geht, die den
Weg in die Universität nicht finden können. Das ist ein
stillschweigendes Agreement gewesen, an dem Grüne,
Sozialdemokraten, die verbliebenen Liberalen, vor allem
aber auch die Konservativen beteiligt waren. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist, daß diese stillschweigende
Übereinkunft gebrochen wird. Die Aufgabe, vor der wir
stehen, ist, daß wir auch die Länder für diese Reform
gewinnen müssen. Insofern brauchen wir ein klares Signal auch von den CDU-regierten Ländern, daß sie eine
elternunabhängige Förderung wollen.
({11})
Wir brauchen das klare Signal, daran mitarbeiten zu
wollen. Wir haben diese klaren Signale bereits von den
sozialdemokratischen Landesregierungen, auch gibt es
Gesetzentwürfe, so daß ich mich in diesem Fall ausnahmsweise an die CDU-regierten Länder wenden muß.
Dieses klare Signal zur Zusammenarbeit ist nötig,
weil wir bei dieser Reform schnell sein müssen. Wir
müssen schnell sein, damit die Bildungsreform in Gang
kommen kann. Sie kommt nicht in Gang, solange die
Studierenden gezwungen sind, zu jobben, statt zu studieren. Sie wird auch dann nicht in Gang kommen, wenn
wir weiterhin sagen: Wer reich ist, der kann im Ausland
studieren, die anderen nicht. - Insofern haben wir bei
dieser Novelle an einer ganz wesentlichen Stelle angesetzt. Wir haben uns über Herrn Rüttgers sehr geärgert,
der das einfach weggestrichen hat. Wir haben uns auch
sehr darüber geärgert, daß er gesagt hat, Gremientätigkeit sei ihm nicht wichtig. Ich finde es gut, daß Sie eingestehen, daß das ein Fehler war. Die Bundesregierung
hält es für elementar, daß sich Studierende engagieren.
Wir wollen, daß nicht der Geldbeutel darüber entscheiden darf, wer international, sprich: im Ausland studieren
darf.
Angesichts der Zahlen liegt eine enorme Arbeit vor
uns. Diese Arbeit schaffen wir nur gemeinsam. Ich wünsche mir, daß die CDU mitarbeitet. Ich verspreche
Ihnen, daß diese Bundesregierung eine Strukturreform
auf den Weg bringen wird, die diesen Namen verdient
hat.
({12})
Auch dann werden Sie mäkeln, aber wir werden am Ende zufrieden sein.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Ministerin
Bulmahn, bei allem Respekt für Ihr bildungspolitisches
Engagement meine ich, man sollte nicht mit Steinen
werfen, wenn man selbst im Glashaus sitzt. Ich bin der
Auffassung, Sie haben sich hinter Ihren Bemerkungen
über das parteipolitische Kalkül, das die Opposition, das
die F.D.P. mit ihrem Antrag verfolge, versteckt. Wir haben ein gemeinsames Ziel, auch das will ich hier einmal
feststellen. Wenn das so ist, dann sollten wir diese Debatte nicht auf dem Rücken der jungen Menschen, der
Studierenden in diesem Lande austragen. Wenn wir ein
gemeinsames Ziel haben, dann, denke ich, sollte man
eigentlich gemeinsam das Ziel verfolgen, die BAföGReform endlich in Gang zu bringen. Da muß sich die
F.D.P. sicher selbst einmal auf die Schulter klopfen.
({0})
- Auch an die Nase fassen. - Aber ich sage ganz deutlich, Herr Berninger: Die Liberalen sind diejenigen gewesen, die in der alten Koalition die BAföG-Reform
überhaupt zum Thema gemacht und vorangetrieben haben. In der Tat haben wir alle einen großen Zeitverlust
hinnehmen müssen. Ich denke, Sie sollten jetzt nicht
mehr dafür sorgen, daß dieser Zeitverlust noch größer
wird. Sie haben im Bundestagswahlkampf doch große
Versprechungen gemacht, das will ich hier einmal festhalten. Sie haben den Studierenden versprochen, daß bei
einer Regierungsübernahme die BAföG-Reform stattfindet. Wenn die BAföG-Reform stattfinden soll, dann
müssen wir sie jetzt anschieben.
({1})
Ziel unseres Antrags ist, daß die Bundesregierung bis
zum Sommer einen Gesetzentwurf vorlegt, weil wir
wollen, daß das reformierte Gesetz zur Bundesausbildungsförderung den Studierenden bereits im Wintersemester 1999/2000 zugute kommt.
({2})
Sie erreichen dies nicht mehr, wenn dieser Gesetzentwurf erst Ende des Jahres vorgelegt wird. Das heißt, Sie
betreiben hier ein Täuschungsmanöver. Dieses Täuschungsmanöver werden wir nicht hinnehmen.
({3})
Sie sollten eigentlich klüger sein und die offene Hand
ergreifen, die wir Ihnen reichen.
({4})
Wir sollten die Zeit gemeinsam nutzen, um auch im
Ausschuß über diesen Gesetzentwurf zu beraten. In der
Tat darf dieser Gesetzentwurf kein Schnellschuß sein,
wie wir es bei Ihnen in Ihrer ersten Regierungszeit oftmals erfahren mußten. Wir wollen uns die Zeit nehmen,
über diesen Gesetzentwurf gemeinsam zu beraten, aber
dazu muß er im Ausschuß vorliegen. Dazu soll unser
Antrag letztendlich beitragen.
Frau Ministerin, Sie machen es der Opposition leicht,
weil Sie ausgerechnet den Gesetzentwurf einbringen,
den Sie selbst als Opposition in der 13. Wahlperiode
kritisiert haben. Wieder einmal ist der Hebel des Gesetzes an den Symptomen und nicht an den Ursachen angesetzt worden. Auch die neue Regierung hat damit die
Chance einer längst überfälligen Reform des BAföG im
ersten Anlauf verpaßt.
Die Wahrheit ist, daß Ihre 20. Novelle mit der
2prozentigen Anhebung der Bedarfssätze und der
6prozentigen Anhebung der Elternfreibeträge lediglich einen - notwendigen - Inflationsausgleich darstellt.
Das soll hier noch einmal gesagt werden. Auch Ihre Ankündigung, eine Steigerung des BAföG-Satzes um 20
DM, von 1 010 DM auf 1 030 DM, vorzunehmen, kann
man den Studierenden weiß Gott nicht als ein Mehr an
sozialer Gerechtigkeit verkaufen.
Die 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes hat deutlich gemacht, daß die Lebenshaltungskosten für die Studierenden in den alten Bundesländern
seit 1994 um 4 Prozent gestiegen sind, in den neuen sogar um 19 Prozent. Auch das ist bedauerlicherweise kein
Thema für Sie. Sie haben mit dieser 20. Novelle das
Wahlversprechen gegenüber den Studierenden aus den
fünf neuen, nun langsam nicht mehr ganz so neuen Bundesländern und einem Teil Berlins nicht eingehalten, das
heißt: einen Betrug vollzogen. Diese nämlich gehen
trotz fast gleich hoher Lebenshaltungskosten mit geringeren Bedarfssätzen und geringeren Zuschüssen für den
Wohnbedarf leer aus.
Ich empfehle Ihnen, einmal die Drucksache des federführenden Ausschusses im Bundesrat zu lesen, der deutlich gemacht hat, daß es jetzt an der Zeit sei, die für die
Unterkunft gemäß § 13 Abs. 2 BAföG gewährten Beträge endlich anzugleichen. Auch das beinhaltet Ihr Gesetzentwurf nicht. Ich frage mich erneut: Hat der Bundeskanzler die neuen Bundesländer nicht zur Chefsache
erklärt? Auch zu diesem Punkt hört man von Ihnen
nichts.
Im übrigen ist die F.D.P. der Auffassung, daß mit der
BAföG-Reform endlich auch die Angleichung der übrigen Bedarfssätze erfolgen sollte, daß also keine Differenzierung mehr zwischen den Studierenden in Ost und
West vorgenommen wird.
({5})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie sind mit einer großen BAföG-Reform im Wort.
Das, was Sie vorgelegt haben, ist unglaubwürdig. Sie
sind dringend aufgefordert, Ihren Gesetzentwurf bis zur
Sommerpause vorzulegen. Wir haben Ihnen ein DreiKörbe-Modell vorgeschlagen, welches nicht nur die
Zustimmung des zuständigen Ausschusses im Bundesrat
findet. Auch der Bundesrat, Frau Ministerin, also die
Länder, hat sich für eine umfassende Reform der Ausbildungsförderung ausgesprochen. Er ist für die Schaffung einer einheitlichen Grundförderung. Damit ist die
Zusammenfassung aller ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen gemeint. - Sie können sich also nicht
damit rausreden, daß die Länder, in denen die Union und
die F.D.P. an der Regierung beteiligt sind, nicht willig
seien, die BAföG-Reform mit auf den Weg zu bringen.
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Unterstützen Sie den
Antrag der F.D.P., damit wir den Gesetzentwurf endlich
im Ausschuß behandeln können! Legen Sie einen Gesetzentwurf vor! Wenn Sie, meine Damen und Herren
von der Koalition, den Antrag der F.D.P. heute im Plenum ablehnen, dann ist das ein eindeutiges Zeichen dafür, daß Sie nicht vorhaben, bis zum Wintersemester
1999/2000 eine BAföG-Reform umzusetzen und den
Studierenden damit das zu geben, was sie schon seit Jahren einfordern. Unterstützen Sie das Anliegen der
F.D.P.! Bringen wir die BAföG-Reform endlich auf den
Weg! Es ist Zeit dafür.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Kollegin Pieper, Sie waren in
der letzten Legislaturperiode noch nicht im Deutschen
Bundestag. Aber was Sie sagen, klingt schon ein bißchen eigenartig. Es klingt, als wäre die F.D.P. heimlich
Opposition gewesen. Das war sie wahrlich nicht.
({0})
Frau Bulmahn, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen, eigentlich
hatte ich nach dem Wahlergebnis erwartet, daß wir bereits zum jetzigen Zeitpunkt über die BAföGStrukturreform diskutieren können, um spätestens im
nächsten Studienjahr zu neuen, gerechteren Förderbedingungen zu kommen. Das findet nun leider nicht statt.
Mehr als das Signal „Wir bleiben dran“ kann von dem
vorliegenden Entwurf nicht ausgehen; das hat allerdings
die Frau Ministerin ehrlicherweise hier gesagt.
Daß die 20. Novelle nicht geeignet ist, grundlegende
Negativtrends in der Ausbildungsförderung zu stoppen,
kann ein einfacher Kostenvergleich deutlich machen.
Wenn sich der Finanzaufwand von Bund und Ländern für das BAföG 1997 auf dem Niveau von 1988
bewegt - und das trotz deutscher Einheit -, so wird er
sich auch angesichts der Verbesserungen des vorliegenden Entwurfs 1999 auf dem Niveau von 1977 und im
Jahre 2002 auf dem Niveau von 1975 bewegen. Richtig
ist zwar, daß bei der Rüttgersschen Zukunftsvariante zu
diesem Zeitpunkt schon die Ansätze von 1972 unterschritten worden wären; an der Tendenz hat sich jedoch
nicht allzuviel geändert.
Die Auswüchse des neoliberalen Bildungsprogramms
kann keine Reparaturnovelle mehr beseitigen, mit der
man nur an einigen Details herumbastelt - auch das
noch unzureichend. So werden weder die Erwartungen
der Studierendenvertretungen, der studentischen Verbände, der Gewerkschaften noch die des Deutschen Studentenwerkes erfüllt. Die Verschlechterungen der 18.
Novelle, die 1996 auch mit den Stimmen der SPD beschlossen wurde, werden nur teilweise korrigiert.
Vor allem aber bleibt die Verzinsung von Teilen der
Förderung erhalten. Die Studienabschlußförderung ist
weiterhin nur als verzinsliches Volldarlehen verfügbar.
Seit Einführung im Herbst 1996 verzichtet ein Großteil
der Studierenden auf diese Förderung. Zunehmend wird
die fehlende finanzielle Absicherung durch vermehrte
Werksarbeit kompensiert. Inzwischen sind 24 Prozent
der Studierenden dauerhaft erwerbstätig. Fast die Hälfte
davon arbeitet über 13 Stunden pro Woche, und die Tatsache, daß 70 Prozent der erwerbstätigen Studierenden
keinen und weitere 19 Prozent nur einen geringen Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und dem Studienfach sehen, widerlegt die landläufige Meinung, sie würden arbeiten, um praktische Erfahrungen für den künftigen Beruf zu sammeln.
Die ersten Erfahrungen mit den Zwangsexmatrikulationen von sogenannten Langzeitstudierenden über Studiengebühren in Baden-Württemberg zeigen doch,
daß es sich bei den meisten von ihnen um hart arbeitende Selbstfinanzierer handelt, die seit Jahren versuchen,
einen Studienabschluß zu erlangen und sich dazu ihren
Lebensunterhalt verdienen müssen. Über den sozialen
Nummerus clausus werden sie endgültig ins Aus gedrängt. Die Begeisterung der baden-württembergischen
Landesregierung über den Rückgang der Studierendenzahlen zeigt einmal mehr, wie weit sich Politik hierzulande schon von den Realitäten entfernt hat. Entgegen
den verbreiteten Ansichten wird in Deutschland nämlich
nicht zuviel, sondern zuwenig studiert. Laut OECDAnalysen nimmt hier nur jeder vierte Jugendliche ein
Studium auf, während in den USA jeder zweite studiert,
in Polen, Finnland und Großbritannien über 40 Prozent
studieren. An diesem Zustand könnte durchaus etwas
geändert werden, nicht zuletzt mit Hilfe einer vernünftigen Politik. Dazu gehören eben auch grundlegende Veränderungen in der Ausbildungsförderung, die seit Jahren
auf der Tagesordnung stehen.
Die jetzige BAföG-Anpassung, die hoffentlich endgültig die letzte Korrektur des alten BAföGs sein wird,
hat trotzdem noch einige Verbesserungen nötig. Außerdem weiß man ja nie, wie lange die angekündigten großen Reformwerke auf sich warten lassen; Notlösungen
sind ja bekanntlich auch die dauerhaftesten - und das
nicht nur in diesem Bereich.
Neben der schon angesprochenen ausstehenden
Rücknahme der Verzinsung wurde auch wieder einmal
die Ost-West-Anpassung verpaßt. Wir haben in unserem Antrag die einzelnen Punkte aufgeführt. Das
Grundproblem, eine Förderung zu entwickeln, die weiter
greift als nur für jene 15 Prozent der Studierenden und
die eine dauerhafte, bedarfsgerechte, elternunabhängige
Absicherung während des Studiums ermöglicht, muß in
einem neuen Gesetz geregelt werden. Da, liebe Kollegin
Pieper, gebe ich Ihnen recht: Das muß sehr, sehr schnell
passieren, das muß bis Sommer vorgelegt werden. Wir
werden auf jeden Fall dabei sein.
({1})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?
Ja bitte, Herr Kollege.
Frau Böttcher, wollen Sie
bitte zur Kenntnis nehmen, daß sich die Benachteiligung
in Ostdeutschland nicht auf finanzielle Dinge, sondern
auf ein Problem der reinen Verwaltung erstreckt? Was
den finanziellen Beitrag des BAföG zu Studium und
Unterhalt betrifft, so können ostdeutsche Studenten den
gleichen Betrag in Anspruch nehmen wie die westdeutschen Studenten.
Das nehme ich sehr wohl
zur Kenntnis. Aber Sie wissen auch, Herr Kollege Hilsberg, daß am Ende, wenn man es nachrechnet, der ostdeutsche Student oder die ostdeutsche Studentin weniger
im Geldbeutel hat als der oder die westdeutsche Studierende.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt kann ich
den Abgeordneten Ernst Dieter Rossmann aufrufen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich
hier die Debatte anhört, dann könnte man das Gefühl
haben, daß dem Parlament ein Grundsatz verlorengegangen ist: Wir dürfen auch den kleinen Fortschritt nicht
verachten.
({0})
Deshalb ist es gut, wenn heute in erster Lesung eine Novelle zum BAföG eingebracht wird. Dies ist vor allen
Dingen nicht nur gut für die jungen Menschen an den
Schulen und Hochschulen; mit dieser BAföG-Novelle
werden auch die Richtsätze für die berufliche BilMaritta Böttcher
dung, für die Eingliederung Behinderter und für die
Meisteraufstiegsfortbildung erhöht. Ich stelle das hier
deshalb heraus, damit sich nicht bei der Bevölkerung der
Eindruck festsetzt, man würde hier eine Extrawurst für
Studentinnen und Studenten braten. Diese Richtsätze
sind der Bezugspunkt für die persönliche Ausbildungsförderung, und diese geht über die Hochschule hinaus.
Darauf muß immer wieder hingewiesen werden, wenn
wir uns hier im Parlament gemeinsam Mühe geben, die
Akzeptanz von Erhöhungen beim BAföG zu erreichen.
Dafür setzt sich die SPD ein. Das haben wir versprochen. Wir haben auch versprochen, den kleinen Fortschritt in den ersten hundert Tagen unserer Regierungszeit voranzubringen, und zwar immer dort, wo es möglich ist, die soziale Lage von jungen Menschen zu verbessern, und sei es in kleinen Schritten.
({1})
Unser Grundsatz ist: Ohne ausreichende soziale Grundförderung gibt es kein freies Lernen. Ohne freies Lernen gibt es keine Chancengleichheit, keine Leistung und
keine Motivation. Dies ist die Grundüberzeugung der
Sozialdemokraten. Diesen Grundsatz haben wir in Ihrer
politischen Handlungsweise der letzten Jahre nicht immer wiederfinden können. Wenn man in eine bestimmte
Ecke dieses Parlaments geht, kann man einen schönen
Spruch des Dichters Jandl - er wird auch Sie erfreuen,
Herr Möllemann - lesen, in dem er mit den Worten
„lechts“ und „rinks“ veranschaulicht, daß rechts und
links durcheinandergebracht werden. Das ist vielleicht
hier gar nicht mehr die Frage. Aber was es bedeutet, soziale Gerechtigkeit in kleinen Schritten umzusetzen, das
kann man auch an einer solchen Reparaturnovelle sehen.
({2})
Ich möchte Ihren Eifer ebenso wie Ihre Scheinheiligkeit deshalb ein bißchen dämpfen, indem ich drei Fragen
stelle: Haben Sie eigentlich vergessen, daß das BAföG
während Ihrer 16 Jahre dauernden Regierung nicht jedes
Jahr angepaßt wurde? Da sollten Sie jetzt erst recht keine großen Töne spucken. Haben Sie eigentlich vergessen, daß die Gegenfinanzierung Ihrer Verbesserungen
beim BaföG häufig nur durch Kürzungen in vielen anderen Bereichen erreicht werden konnte? Um es anders
auszudrücken: Sie haben das Kleingedruckte verschlechtert, damit auf dem Titelblatt noch eine einigermaßen passable Zahl stehen konnte. Das unterscheidet
sich von dem Ansatz, den wir jetzt verfolgen. Hier wird
eben auch im Kleingedruckten verbessert, aber nicht
verschlechtert.
({3})
- Zu dem Großgedruckten, das Sie hier einfordern: Haben Sie vergessen, daß Ihre Politik in der letzten Legislaturperiode - wenn ich mich richtig erinnere - lediglich
zu 12 Prozent höheren Freibeträgen und zu 6 Prozent
höheren Bedarfssätzen geführt hat? Auf diese bemerkenswerte Leistung hat einer Ihrer F.D.P.-Kollegen noch
einen Lobgesang abgehalten. Aber wenn Sie sich diese
Zahlen vergegenwärtigen, dann müssen Sie feststellen,
daß wir schon im ersten Schritt fast die Hälfte der Steigerungen realisiert haben, für die Sie vier Jahre gebraucht
haben.
({4})
Deshalb sollte man etwas vorsichtiger sein.
Im übrigen ist auch eine Erhöhung um 20 DM im
Sinne eines zeitnahen Inflationsausgleiches nicht zu verachten. Für viele, die durch die Erhöhung der Freibeträge überhaupt erst BAföG-fähig werden oder bleiben, ist
das mehr als die in der Dienstag-Debatte von Herrn Rachel eingeführte und mittlerweile vielgerühmte Pizza.
Ich finde, daß hier Herr Rachel damit auf eine bemerkenswert subtile Weise den vormaligen Bildungsminister Rüttgers nachträglich als Pizzaminister abqualifiziert hat. Das ist er auch tatsächlich gewesen.
({5})
Ich möchte wieder auf das zurückkommen, was junge
Menschen von uns erwarten. Die Ministerin hat es angesprochen: Gerade die Erhöhung der Freibeträge ist das
eigentlich Wichtige, wenn wir die Zahl der geförderten
Fälle halten wollen. Ich will darauf hinweisen, daß eine
Erhöhung um 6 Prozent dazu führt, daß 23 000 junge
Menschen mehr gefördert werden können. Diese Zahl
mag gering erscheinen. Aber es handelt sich - dies zur
Veranschaulichung; vor allem weil Kollegin Volquartz
wie ich auch aus Schleswig-Holstein stammt - immerhin
um die gesamte Anzahl von Menschen, die an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel studieren.
({6})
Wir stehen nicht an, hier zu sagen, daß diese kleine
Novellierung, diese Reparaturnovelle, nicht der entscheidende Durchbruch ist. Dennoch möchten wir herausheben, daß es neben der Anpassung auch darum gegangen ist, klare Fehlentscheidungen der alten Mehrheiten aus dem Jahre 1996 zu korrigieren. Als Sozialdemokrat mag man den RCDS, Ihren Führungsnachwuchs, nicht häufig als Kronzeugen für die Richtigkeit
unserer Politik heranziehen wollen. Aber der RCDS hat
ausdrücklich begrüßt, daß genau diese beiden Punkte repariert werden, und er hat ausdrücklich anerkannt, daß
dies Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen machen.
Als vorhin Frau Volquartz geredet hat, hatte ich das
Gefühl, daß sie gar nicht sagen mochte, was Sie damals
den Studentinnen und Studenten wirklich eingebrockt
haben. Ihre Ausdrucksweise war auf einmal - um es
deutlich zu sagen - sehr verschwommen und sehr verquast. Haben Sie sich eigentlich vorgestellt, die beste
Hochschule sei diejenige, in der sich keine jungen Menschen mehr in Selbstverwaltungsgremien der Hochschulen engagieren? Haben Sie deshalb 1996 diese
Strafbelastung eingeführt? Man muß hier offen ansprechen, daß wir dies ausdrücklich wieder zurücknehmen.
({7})
In bezug auf die Spracherfahrung und die Auslandserfahrung, die junge Menschen generell machen sollen,
hat es zumindest gewisse Verbesserungen gegeben. Ich
finde es durchaus bemerkenswert, daß der Aufwuchs
an Studenten, die Auslandserfahrung haben, wenn ich
die Zahlen richtig im Kopf habe, bis zu 27 Prozent beträgt.
Aber es geht doch nicht an, daß wir gerade denjenigen, die BAföG beziehen und damit aus Familien kommen, die materiell schlechter gestellt sind, mit der Bestrafung von Auslandsstudienzeiten die Garotte in den
Nacken legen. Wir machen damit jetzt Schluß. An Ihrer
Stelle wäre es fairer gewesen, zu sagen: „Wir haben damals Mist gemacht; die neue Regierung nimmt es wieder zurück; das ist gut, das ist in Ordnung“, statt den
Mantel des Schweigens darüber zu breiten.
({8})
Ich stelle fest: Es wird sicherlich keine großen Debatten
mehr dazu geben, daß diese Reparaturnovelle in sich
sinnvoll ist. Wir wollen ja auch noch weitergehen.
Es fällt auf, daß es von vielen Anträge gibt, aber keinen von der CDU. Zeigt das Ihr Desinteresse? Zeigt das
Ihr schlechtes Gewissen? Zeigt das vielleicht auch, daß
Sie nicht fähig sind, in diesem Gebiet Positionen zu
formulieren?
({9})
Jedenfalls haben F.D.P. und PDS, die vereinigten kleinen Oppositionsparteien, Anträge vorgelegt. Wir müssen
ausdrücklich anerkennen, daß das bei der PDS zur politischen Linie gehört.
({10})
Bei der F.D.P. hat man dagegen das Gefühl, daß sie ihre
Linie - aus der Regierung in die Opposition und von
dort ins Nirgendwo - noch sucht. Wir haben von der
F.D.P. im übrigen nichts anderes erwartet. Ihr konstanter
Ehrgeiz als „Möchtegernbauchnabel“ der deutschen
Nachkriegsgeschichte bewegt Sie dann natürlich dazu,
auch noch besonders viel zu fördern.
Auch wenn Sie jetzt 16 Jahre lang geübt haben, unter
dem Teppich Fallschirm zu springen, nehmen wir Ihr
Angebot dennoch an, sich um eine gemeinsame grundlegende BAföG-Novellierung zu bemühen. Immerhin
haben 1971 Willy Brandt und Walter Scheel in bester
sozialliberaler Tradition das wirkliche BAföG, nicht das
Honnefer Modell, mitbegründet.
Ich möchte an die F.D.P. im übrigen nur ein paar
Bemerkungen richten.
Erstens. Der Grundgedanke des Drei-Körbe-Modells
ist endlich auch von Ihnen akzeptiert.
Zweitens. Wenn Sie jetzt das Hohelied der Basisförderung mitsingen wollen, dann ist es gut. Ich denke an
Sockelbeträge und anderes. Wenn aber in der Parlamentsdebatte am Mittwoch der Kollege Gerhardt mit
Vehemenz gegen soziale Sicherungssysteme, gegen
Kollektivismus, gegen Immobilität und anderes wettert,
dann möchte ich an Sie die Rückfrage stellen: Ist das,
was Sie jetzt als Ihr BAföG-Modell einbringen - wo offensichtlich die Sozialliberalen Wort führen -, noch mit
dem vertretbar, was am Mittwoch von Ihren Neoliberalen als Grundsatzposition verkündet wurde?
({11})
Ich habe das Gefühl, daß Ihre Position uneinheitlich
ist, was jetzt überdeckt werden kann, weil Sie in der
Opposition sind. Wir wollen sehen, ob Ihre Position am
Ende Teil der Regierungsposition wird;
({12})
denn wir wissen, daß wir die Länder in die große
BAföG-Reform einbeziehen müssen.
Drittens. Für uns als Sozialdemokraten bleibt der Zugang aller Bevölkerungsschichten, besonders der finanziell Schlechtergestellten, zur höheren Bildung und
Ausbildung sicherlich der Kern. Aber der Hinweis ist
richtig, daß speziell der sogenannte Mittelstand, die
„Neue Mitte“, in den letzten 16 Jahren - da haben Sie
regiert - von manchem, was in bezug auf Bildungsförderung bei ihm ankommen müßte, abgekoppelt worden ist.
Das haben Sie ja jetzt sogar in einen Ihrer Anträge hineingeschrieben. Der Mittelstand wird jetzt erleben, daß
von der SPD zusammen mit den Grünen mehr Bildungsförderung ausgehen wird, als es CDU/CSU und F.D.P.
geschafft haben.
({13})
Viertens: Solidarität durch Solidität. Unser Finanzminister würde relativ schnell merken, daß Ihr Finanzplafond mit 5,9 Milliarden DM zu kurzsichtig angelegt
war. Wir tun wirklich gut daran, wie es die Ministerin
gesagt hat, nicht nur die aktuelle Kindergelderhöhung,
die ja immerhin mit zusätzlichen 420 Millionen DM
neues Wasser auf die Mühlen des Drei-Körbe-Modells
gebracht hat, sondern auch das Gebot des Bundesverfassungsgerichts mit einzubeziehen. Es ist nämlich nun
einmal so, daß man, wenn man etwas grundlegend Neues auf den Weg bringen will, nachdenken darf und muß.
Die große BAföG-Reform wird tatsächlich ein Jahrhundertwerk werden, auch weil es in dieser Form in Europa
dafür keine Beispiele gibt. Es wird gut sein, wenn es
gleich am Anfang des nächsten Jahrhunderts steht.
Sie sind herzlich eingeladen, uns Beifall zu klatschen
und unser Projekt mit kritischen Fragen nach vorne zu
bringen. Wir sagen Ihnen aber ganz ehrlich: Ihre Vaterbzw. Mutterschaft brauchen wir an dieser Stelle nicht.
Danke schön.
({14})
Auch Ihnen,
Herr Kollege Rossmann, im Namen des Hauses meine
Gratulation zur ersten Rede.
({0})
Als letzter in der Debatte hat jetzt der Abgeordnete
Dr. Martin Mayer das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung behandeln, vollzieht eine routinemäßige Anpassung. Es handelt sich um
keine Reparatur, sondern im Grunde um eine routinemäßige Anpassung der Sätze des Bundesausbildungsförderungsgesetzes an die gestiegenen Lebenshaltungskosten.
({0})
Die Union stimmt dem im Grundsatz zu.
Wenn Sie, Frau Ministerin, hier von einer Trendwende sprechen, dann kann ich nur sagen, Sie haben sehr
bescheidene Ansprüche.
({1})
Der Gesetzentwurf ist nämlich wahrlich kein Anlaß, um
Weihrauchfässer zu schwingen oder Lorbeerkränze zu
binden. Der Mehrbetrag von 20 DM, den die Studierenden bekommen sollen, wird nämlich den Studenten
durch die Beschlüsse der Koalition zur Scheinökosteuer
sehr schnell wieder aus der Tasche genommen.
({2})
Am Ende der Rechnung wird für viele ein Minus bleiben.
Die groß angekündigte Strukturreform ist auf Herbst
verschoben. Das hat vielleicht auch etwas Gutes, weil
damit genügend Zeit bleibt und zumindest eine gewisse
Chance besteht, daß sie etwas solider wird als all die
Gesetze, die die Koalition bisher unter selbstgewähltem
Zeitdruck verabschiedet hat und die letztlich zum Schaden der Nation durchgepeitscht worden sind.
({3})
Eine Strukturreform der Ausbildungsförderung
des Bundes, die diesen Namen wirklich verdient, wird
nur dann gelingen, wenn wir alle unsere fest eingefahrenen Positionen auch einmal verlassen. Dazu gehört, daß
wir die Grundsätze vorurteilsfrei diskutieren. Als
Grundvoraussetzung gehört dazu auch, daß wir die Meister- und Hochschulausbildung in der staatlichen Förderung gleich behandeln, weil das, was gleich ist, auch
gleich behandelt werden muß. Die Ausbildungsgänge
haben unterschiedliche Zeitabläufe und unterschiedliche
Anteile theoretischer Ausbildung. Aber der Teil der
theoretischen Ausbildung, wo der Meister genauso wie
der Student kein Geld verdient, muß gleich behandelt
werden.
({4})
Die frühere Koalition hat ja mit dem Meister-BAföG
einen Einstieg geschaffen. Ich meine, daran sollten wir
festhalten.
Einigkeit besteht auch darin, daß niemand, der eine
entsprechende Begabung und den Fleiß mitbringt, aus
Geldmangel an einer Ausbildung gehindert werden soll.
Der Leistung des Staates muß aber auch eine entsprechende Gegenleistung des Geförderten gegenüberstehen.
Diese Gegenleistung besteht darin, daß er einen seiner
Begabung entsprechenden Ausbildungsgang ernsthaft
und mit Fleiß betreibt.
({5})
Die Ernsthaftigkeit, mit der jemand einen Ausbildungsgang betreibt, muß mit laufenden - ich sage: in der
Regel jährlichen - Leistungsnachweisen dokumentiert
werden. Diese Leistungsnachweise liegen auch im Interesse der Studierenden selbst, denn so können sie
rechtzeitig erkennen, ob ihr Studiengang ihren Neigungen und Fähigkeiten entspricht.
Wie in fast allen Systemen der Sozialleistungen kann
auch die staatliche Ausbildungsförderung vor einer allzu
großzügigen Ausnutzung der Solidargemeinschaft letztlich nur dadurch geschützt werden, daß wir ein gewisses
Maß an Eigenleistung und Eigenbeteiligung von den
Betreffenden fordern. Dies ist ein Hilfsmittel, um eine
vernünftige Verwendung von Steuergeldern zu erreichen
und entspricht auch - dieser Punkt ist noch viel wichtiger - dem Subsidiaritätsprinzip; denn jeder sollte, wenn
er oder seine Familie dazu in der Lage ist, zunächst sich
selbst helfen, bevor er nach der Gemeinschaft ruft. Es
entspricht auch unserem christlich-abendländischen
Menschenbild, daß jeder in erster Linie zunächst einmal
für sich selbst Verantwortung trägt.
({6})
Bei der Diskussion über die neue Struktur der Ausbildungsförderung sollten wir auch über unkonventionelle Modelle nachdenken. Es sind schon einige vorgelegt worden. Ich füge hinzu, daß wir bereit sind, darüber
nachzudenken, ob die finanzielle Leistung des Kindergeldes den erwachsenen Studierenden direkt oder - wie
bisher - über die Eltern gegeben wird. Über diesen
Punkt sollten wir durchaus einmal nachdenken.
({7})
Im Zusammenhang mit der BAföG-Strukturreform
möchte ich zwei Sätze aus der „Süddeutschen Zeitung“
zitieren:
Auf lange Sicht wird eine neue BAföG-Regelung
den Weg für Studiengebühren ebnen. Je näher eine
gerechte Ausbildungsförderung rückt, um so näher
rücken damit auch Studiengebühren.
Dieser Kommentar macht deutlich, daß, wenn eine
vernünftige Regelung für bedürftige Studierende getroffen wird, Studiengebühren ein Element der Eigenverantwortung und Eigenbeteiligung sein können. Die
ideologische Festlegung der SPD auf ein Verbot von
Studiengebühren bringt die Strukturreform in einem
wichtigen Punkt von vornherein zum Scheitern. Deshalb
sollten Sie von dieser ideologisch festgelegten Position
abrücken.
({8})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Im Zusammenhang mit dem eben zitierten lesenswerten Kommentar möchte ich darauf hinweisen, daß
die Frau Ministerin mit Blick auf die 18. BAföGNovelle von „gröbsten Schweinereien“ spricht. Ich bitte
Sie, diese Äußerung zurückzunehmen.
({9})
Als Bildungsministerin sind Sie auch dem Stil der politischen Auseinandersetzung verpflichtet und sollten insoweit ein Vorbild sein.
({10})
Insgesamt kann eine Reform der finanziellen Ausbildungsförderung nur dann gelingen, wenn sie in eine entsprechende Gesamtreform eingebettet ist. Ich kann dies
jetzt nicht im einzelnen ausführen, will aber sagen, daß
die Hochschulen durch Elemente des Wettbewerbs und
mit Leistungsanreizen effizienter gestaltet werden müssen. Der Weg, den die unionsgeführte Koalition mit der
Novellierung des Hochschulrahmengesetzes vorgezeichnet hat, muß weiter gegangen werden. Eine Verfestigung
von Strukturen und der Abbau von Leistungsanreizen und
Elementen des Wettbewerbs, wie von der neuen Koalition
im letzten Vierteljahr im Bereich der Sozialgesetze
durchgeführt, läßt für die Reform des Hochschulwesens
und des BAföGs nichts Gutes erahnen.
Deshalb rufe ich Ihnen von der Koalition zu: Schwören Sie dieser rückwärtsgerichteten Politik ab
({11})
und verwirklichen Sie mit uns gemeinsam, was Sie vor
den Wahlen versprochen haben, nämlich Innovation, Initiative und Kreativität zu fördern!
({12})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/371, 14/358 und 14/398 ({0}) an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 14/371 soll dem Haushaltsausschuß zur
Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung
überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 3. März 1999, 13 Uhr ein.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß am Dienstag,
dem 2. März, aus Anlaß des Jubiläums „40 Jahre Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages“ im Ersatzplenarsaal Wasserwerk eine Feierstunde stattfindet, zu der
Sie alle herzlich eingeladen sind.
Die Sitzung ist geschlossen.