Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Das Wort
hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich
Merz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor zwei Jahren hat sich die Europäische
Union auf dem von Ihnen, Herr Bundeskanzler, zitierten
Rat in Lissabon das strategische Ziel gesetzt, „die Union
zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen, zu einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen
und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu realisieren“. Der Gipfel vom vergangenen Wochenende hätte
feststellen müssen, dass Sie von dem Ziel, dass Sie sich
vor zwei Jahren in Lissabon gesetzt hatten, weiter denn je
zuvor entfernt sind.
({0})
Ich bestreite nicht, dass die Zwischenbilanz, die Sie gezogen haben, in einigen wenigen Bereichen, etwa bei der
Computer- und Internetnutzung sowie bei einer Reihe von
Dienstleistungsrichtlinien insbesondere für die Finanzmärkte, durchaus positiv ausfällt. Ich begrüße auch ganz
ausdrücklich die unmissverständliche und klare Botschaft, die die Staats- und Regierungschefs am vergangenen Wochenende zum Konflikt im Nahen Osten abgefasst haben. Wir teilen das Bekenntnis zu einem
demokratischen und unabhängigen Staat Palästina ebenso
wie das Recht der Israelis, in sicheren staatlichen Grenzen
leben zu können. Wir alle sind über die Lage im Nahen
Bundeskanzler Gerhard Schröder
und Mittleren Osten besorgt und wünschen, dass die Europäische Union in dieser Region eine aktive politische
Rolle spielt, damit der Frieden dort auf Dauer gesichert
werden kann.
({1})
Auch wenn in diesen Fragen durchaus einige wichtige
Positionen bestimmt worden sind, so kann das Treffen in
Barcelona doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Europäische Union bei einer Reihe von ganz wichtigen
Punkten, die in Lissabon verabredet worden sind, kaum
oder überhaupt nicht vorangekommen ist. Ich werde Ihnen dazu gleich ein Beispiel nennen.
Das Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union,
das zur Zeit des Lissaboner Gipfels vor zwei Jahren immerhin noch bei 2,6 Prozent lag, ist im letzten Jahr auf
1,6 Prozent zurückgegangen. Die Produktivität je Arbeitnehmer ist etwa im Verhältnis zu der in den USA von
74 auf 72 Prozent zurückgegangen. Fortschritte beim Beschäftigungsaufbau in der Europäischen Union sind praktisch nicht messbar. Öffentliche und private Ausgaben in
der Forschung und in der Entwicklung sind nicht so signifikant erhöht worden, wie es vereinbart worden war.
Auch im Bereich der allgemeinen und der beruflichen Bildung hat es, wie es die PISA-Studie gerade für Deutschland gezeigt hat, keine wirklichen Fortschritte gegeben.
Herr Bundeskanzler, das, was ich Ihnen hier sage, ist
keine Analyse oder Schwarzmalerei der Opposition im
Deutschen Bundestag. Es entspricht vielmehr einem Bericht, den die EU-Kommission vorgelegt hat und in dem
sie sich besonders kritisch mit der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik Deutschland auseinander setzt. In diesem Bericht der EU-Kommission
vom 15. Januar 2002 wird - aus guten Gründen - darauf
hingewiesen, dass gerade in Deutschland Handlungsbedarf bestehe, so etwa bei der Deregulierung der Arbeitsmärkte, der Reform des Steuer- und des Rentensystems,
der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte sowie bei
den Investitionen in Forschung und Bildung.
Noch deutlicher als dieser Bericht, den die EU-Kommission den Staats- und Regierungschefs vorgelegt hat,
ist der Bericht der EU-Kommission über die Umsetzung
der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der EU-Staaten im
Jahre 2001 vom Februar des laufenden Jahres, der im Ecofin-Rat, also im Rat der Finanzminister, beschlossen worden ist. Das Zwischenzeugnis, das Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihrer Regierung in diesem Bericht ausgestellt
wird, ist nichts anderes als eine scharfe und in jeder Hinsicht berechtigte Kritik an Ihrer Regierungspolitik.
({2})
Es ist bezeichnend, Herr Bundeskanzler, dass Sie auf
diese Berichte der EU-Kommission und des Ecofin-Rates
heute Morgen in Ihrer Regierungserklärung mit keinem
Wort Bezug genommen haben.
({3})
Europa stände in der Tat besser da, wenn Deutschland
nicht einen solchen Wachstumseinbruch wie den im letzten Jahr gehabt hätte. Nicht die Europäische Union hat ein
Wachstums- und Beschäftigungsproblem. Es liegt vor allem an Deutschland, das unter Ihrer Führung, Herr Bundeskanzler, Schlusslicht in Europa geworden ist.
({4})
Ich weiß, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, dass Sie das nicht gerne hören. Aber Deutschland
ist Schlusslicht beim wirtschaftlichen Wachstum und bei
der Entwicklung des Arbeitsmarktes. Deutschland ist allerdings Spitzenreiter in der Europäischen Union, wenn es um
die Neuverschuldung geht. Die Europäische Union stände
insgesamt wesentlich besser da, wenn nicht Deutschland
ein solcher Problemfall in Europa geworden wäre.
({5})
Wir reden zu Recht viel über das Wachstum. Der Gipfel, der am vergangenen Wochenende in Barcelona stattgefunden hat, wollte sich ja mit den Wachstumsperspektiven beschäftigen. - Jetzt begibt sich Herr Fischer zu den
Abgeordneten, damit er wieder dazwischenrufen kann. Wenn man das Wirtschaftswachstum Deutschlands herausrechnet, dann stellt man fest, dass es in der Europäischen Union ein Wachstum von 2 Prozent gegeben hätte.
Mit Deutschland lag das Wirtschaftswachstum bei nur
1,6 Prozent. Das ist nicht verwunderlich; denn Deutschland ist mit einem Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent
Schlusslicht.
({6})
Nicht nur wir, sondern gerade auch ausländische Wirtschaftszeitungen stellen fest, Herr Bundeskanzler:
Deutschland ist während Ihrer Regierungszeit zum kranken Mann Europas geworden.
({7})
In Ihrer Regierungserklärung, die Sie, Herr Bundeskanzler, heute Morgen abgegeben haben, sowie in verschiedenen Reden, die Sie bei Ihren öffentlichen Auftritten in den letzten Tagen und Wochen gehalten haben, ist
erstaunlich - ich sage: erschreckend - häufig das Wort
von der deutschen Industriepolitik vorgekommen. Damit überhaupt kein Missverständnis entsteht: Wir brauchen in Deutschland eine produzierende Industrie. Wir
brauchen große, weltweit tätige und wettbewerbsfähige
Konzerne
({8})
- warum gibt es an dieser Stelle Zwischenrufe von Ihnen? -, die auch in Zukunft ihren Sitz in Deutschland
haben. Die deutsche Industrie braucht in Zukunft gute
Standortbedingungen, damit sie auch im Ausland Arbeitsplätze schaffen kann, die im Inland Arbeitsplätze sichern.
({9})
Aber - ich will das vorweg sagen, damit kein Missverständnis entsteht - wir brauchen doch keine Industriepolitik. Vor allem brauchen wir keine Industriepolitik, wie
Sie, Herr Bundeskanzler, sie uns heute Morgen vermittelt
haben.
({10})
Ich will dazu einige Anmerkungen machen: Wir brauchen eine langfristig angelegte und stetige Wirtschaftspolitik,
({11})
die sich auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
aller Unternehmen und nicht nur der Großen in Deutschland konzentriert.
({12})
Herr Bundeskanzler, es wirft ein bezeichnendes Licht auf
die Wirtschaftspolitik und auf die Industriepolitik, so wie
Sie sie verstehen, dass heute Morgen in Ihrer Regierungserklärung bei diesem Thema - das Thema ist die Dynamik
der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa und damit
auch die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in
Deutschland - vom deutschen Mittelstand mit keinem
einzigen Wort die Rede war.
({13})
Ihre Regierungserklärung vom heutigen Tag atmet genauso wie Ihre Wirtschaftspolitik, Herr Bundeskanzler, den
Geist des Interventionismus und des Protektionismus. Sie
atmet den Geist der staatlichen Unternehmensplaner am
grünen Tisch, die von abgrundtiefem Misstrauen gegenüber eigenverantwortlichen Unternehmern geprägt sind
({14})
und die den großen industriellen Einheiten, die in kollektiven Gremien gesteuert und kontrolliert werden, das Wort
reden. Das ist Ihre Vorstellung von Wirtschaftspolitik.
({15})
Da Sie darüber so fröhlich lachen, Herr Bundeskanzler,
möchte ich Ihnen Folgendes sagen - ich weiß nicht, ob Sie
schon Gelegenheit hatten, heute Morgen die Zeitungen zu
lesen -: Vermutlich wird an diesem Tag, vielleicht gerade
in dieser Stunde, das von Ihnen vor zweieinhalb Jahren so
spektakulär - angeblich - gerettete Unternehmen Philipp
Holzmann in Frankfurt Konkurs anmelden.
({16})
- Herr Bundeskanzler, der Zwischenruf, den Sie gerade
gemacht haben, nämlich „Das freut Sie!?“, ist wirklich
entlarvend. Ich will Ihnen einmal sagen, was Sie in den
zweieinhalb Jahren offensichtlich übersehen haben: Die
Rettungsaktion, die Sie damals so spektakulär vor den
Fernsehkameras der Republik
({17})
unternommen haben, ist bis heute nicht gelungen. Sie ist
ein Verstoß gegen geltendes Tarifrecht und gegen geltende europäische Beihilferegeln gewesen; darüber haben
Sie sich locker hinweggesetzt.
({18})
In der Zwischenzeit, seit gut zwei Jahren, sind in
Deutschland mehrere Hundert Unternehmen der Bauwirtschaft in Konkurs gegangen. Es sind fast 100 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Sie sind zum Teil verloren gegangen, weil das Unternehmen Philipp Holzmann mit
Ihrer Hilfe, mit Ihrer Industriepolitik in Deutschland
Löhne hat zahlen können, die kein anderes Unternehmen
zahlen konnte.
({19})
Mit Ihrer Industriepolitik, Herr Bundeskanzler, haben
Sie Philipp Holzmann eben nicht retten können.
({20})
Ich sage Ihnen jetzt einmal - das mag Ihnen nicht gefallen und vielleicht machen Sie auch parteipolitisch Gebrauch davon -: Es wäre für den Mittelstand und für die
Bauindustrie in Deutschland besser gewesen, wenn man
dieses Unternehmen dem Schicksal überlassen hätte, auf
das es heute wieder zusteuert.
({21})
In der Zwischenzeit hätten andere Arbeitsplätze in
Deutschland, gerade in der Bauindustrie, gerettet werden
können.
({22})
- Meine Damen und Herren, die Sie dazwischenrufen, Sie
wissen aus Ihren Wahlkreisen, wie wahr das ist. Bei den
mittelständischen Unternehmen, die in der Zwischenzeit
Pleite gegangen sind, ist kein Bundeskanzler da gewesen,
ist kein Außenminister da gewesen, ist kein Industriepolitiker dieser Bundesregierung da gewesen.
({23})
Ihre Arbeitsteilung ist wie folgt: Wenn der Große Pleite
geht, kommt der Bundeskanzler; wenn der Kleine Pleite
geht, kommt der Konkursverwalter. Das ist Ihre Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren.
({24})
Herr Bundeskanzler, ein mittelständischer Unternehmer, der heute Morgen die Zeit gehabt hätte, Ihnen bei Ihrer Regierungserklärung zuzuhören, hätte sich in Ihrer
Welt der großen Einheiten und der deutschen Industriepolitik nicht mehr wiedergefunden.
({25})
Ich will Sie an Folgendes erinnern: 60 Prozent des Umsatzes der deutschen Wirtschaft werden in kleinen und
mittleren Unternehmen gemacht. 70 Prozent der
Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze werden nicht von den großen Industrieunternehmen, sondern
von den kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland bereitgehalten. 90 Prozent der Unternehmen in
Deutschland sind mittlere und kleine Unternehmen. Auch
die wollen im europäischen Binnenmarkt Bestand haben;
auch die wollen in der Europäischen Union wettbewerbsfähig sein. Kein Wort von dieser Bundesregierung zu diesem Teil unserer Volkswirtschaft.
({26})
Jedes Kind in Deutschland weiß, Herr Bundeskanzler,
dass die Überwindung der Wachstums- und Beschäftigungskrise in unserem Land nicht nur mithilfe der Großen
- zwar auch mit denen - möglich ist; insbesondere die
kleinen und mittleren Unternehmen müssen einbezogen
werden. Diese Unternehmen fühlen sich jedoch von der
Wirtschaftspolitik Ihrer Bundesregierung, auch von Ihrer
Europapolitik sträflich vernachlässigt.
({27})
Meine Damen und Herren, ich will ein weiteres Beispiel Ihrer Industriepolitik geben. Ich komme dabei noch
einmal auf den Begriff der Reziprozität zurück. Es geht
um die Liberalisierung der Automärkte. Wollen Sie,
Herr Bundeskanzler, uns wirklich allen Ernstes erklären,
dass es richtig ist, gegen die Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes und insbesondere gegen die Liberalisierung der Automärkte zu polemisieren, weil dies die
Marktmacht der deutschen Automobilkonzerne einschränke? Was Sie dazu hier und an anderer Stelle gesagt
haben, ist blanker wirtschaftspolitischer Unfug.
({28})
Führende Personen von BMW haben Ihnen längst gesagt,
dass die Öffnung gerade des Vertriebs richtig gewesen
wäre. Mittelständische Handelsunternehmen brauchen
nämlich die sich aus der Öffnung ergebende Freiheit in
der Europäischen Union und gerade in Deutschland. Sie
wird von Ihnen aus industriepolitischen Gründen systematisch hintertrieben.
({29})
Es beruhigt mich an diesem ganzen Vorgang aber wirklich außerordentlich, dass sich die EU-Kommission und
vor allem die beiden für Binnenmarkt und Wettbewerb zuständigen Kommissare Bolkestein und Monti von Ihnen
nicht beirren lassen, da ihr Tun eine Rechtsgrundlage im
EU-Vertrag hat, der auch für Sie und Ihre Bundesregierung gilt. Sie können sich darüber nicht hinwegsetzen.
Diese beiden Kommissare und die Kommission insgesamt werden nicht wegen, sondern trotz der Politik von
Rot-Grün in Deutschland auch in Zukunft das Richtige für
die Verbraucher in Deutschland tun.
({30})
Jetzt lassen Sie mich noch einmal ein Wort zum Thema
Automobilindustrie und VW-Gesetz sagen! Herr Bundeskanzler, VW durfte in den letzten Jahren ziemlich nach
Belieben in Europa auf Einkaufstour gehen. Skoda, Seat,
({31})
Bentley und sogar die britische Traditionsmarke RollsRoyce standen auf der Shoppingliste dieses Unternehmens und gehören heute zum Konzern. Ich kritisiere diese
Entwicklung nicht.
({32})
Aber hätte in einem einzigen der betroffenen Länder, in
Großbritannien, in Spanien oder in der Tschechischen Republik, das Gesetz gegolten, das Sie für Deutschland und
für das Unternehmen VW in Anspruch nehmen, hätte
keine einzige dieser Fusionen durchgeführt werden können. Sie aber reden da von Reziprozität.
({33})
Sie beanspruchen jetzt eine Sonderrolle Deutschlands
in Europa. Nachdem Ihr Freund Piech seine Einkaufstour
in Europa erledigt hat, sprechen Sie, Herr Bundeskanzler,
davon, dass man die „gewachsenen Strukturen“ in
Deutschland nicht zerstören dürfe, und fügen unverhohlen eine offene Drohung an die EU-Kommission hinzu,
dass Sie das auch nicht zulassen würden, solange Sie und
die rot-grüne Regierung noch im Amt seien. Ich will Ihnen einmal eine Stimme, die Ihre Industrie- und Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen Union beurteilt
- aus einem Land, mit dessen Regierungschef Sie befreundet sind -, zu Gehör bringen. Die „Sunday Times“ in
London schreibt am Wochenende nach dem Gipfel
({34})
- ich sage es Ihnen so, wie es dort geschrieben steht -:
Jospin zieht es vor, über Steuerharmonisierung
statt über Wirtschaftsreformen zu reden. Gerhard
Schröder ist ein anderer Bremser, wenn es um ein
wettbewerbsfähigeres, unternehmensfreundlicheres
Europa geht. Er will verhindern, dass ausländische
Investoren deutsche Firmen aufkaufen können, weil
man Deutschlands industrielle Basis gegen ausländische Räuber schützen müsse.
({35})
Es wäre ein äußerst riskanter Schritt für Blair,
- für Ihren Freund Großbritannien den Beitritt zum Euro zu empfehlen,
ehe er nicht größere Fortschritte vorweisen kann, als
sie von Deutschland und Frankreich in Barcelona zugelassen wurden.
Dem ist nichts hinzuzufügen, Herr Bundeskanzler.
({36})
Nun mag es sein, dass Sie sich durch Ihre Industrieund Wirtschaftspolitik wenigstens einige Freunde in der
Industrie erhalten bzw. verschaffen. Herr Bundeskanzler,
langfristiger Schaden entsteht aber durch Ihren Ton und
durch Ihren Umgang mit den Partnern in Europa.
({37})
Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten fast
nur negative Schlagzeilen produziert. Der so genannte
blaue Brief, der in Brüssel nicht abgeschickt werden durfte
und der in Deutschland dann doch plötzlich irgendwie
angekommen ist, politische Verdächtigungen, abstruse
Verschwörungstheorien, die versuchten Täuschungen des
Parlaments, des Verfassungsgerichts, der europäischen
Partner im Hinblick auf das Vorhaben der Beschaffung eines militärischen Transportflugzeugs: Angesichts der Art
und Weise, wie die deutsche Bundesregierung, was Ton,
Stil und Umgangsformen angeht, in den vergangenen Wochen und Monaten mit den europäischen Partnern umgesprungen ist, muss einem unbehaglich werden.
({38})
Zum Schluss will ich Ihnen etwas aus der Zeit vortragen - wir alle haben viel Beifall geklatscht -, als wir von
Bonn Abschied genommen haben. Herr Schröder, Ihr
Amtsvorgänger, Helmut Kohl, hat am 1. Juli 1999 eine
Rede gehalten, die unter dem Motto „Auf dem Wege von
Bonn nach Berlin“ stand. Er hat der deutschen Politik als
erste und wichtigste Handlungsmaxime mit auf den Weg
nach Berlin gegeben:
Bewahren wir uns den Geist der Bescheidenheit und
der Hilfsbereitschaft.
Vom Protokoll wurde übrigens nach dem Schluss der
Rede vermerkt:
Bundeskanzler Gerhard Schröder gratuliert seinem
Amtsvorgänger.
Zum Schluss seiner Rede sagte Helmut Kohl:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns
allen, dass wir uns in Berlin beim Übergang in ein
neues Jahrhundert den Geist eines freiheitlichen Patriotismus bewahren, der Vaterlandsliebe, europäische Gesinnung und Weltbürgertum miteinander
verbindet. Tun wir ganz einfach unsere Pflicht! Stehen wir zu unseren Überzeugungen und behalten wir
Augenmaß, auch in schwierigen, turbulenten und unruhigen Zeiten. Seien wir gute Nachbarn und
verlässliche Partner. Bleiben wir deutsche Europäer
und europäische Deutsche. Dann haben wir eine gute
Aussicht auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit.
({39})
Wenn man dies heute, nach fast drei Jahren, liest und vor
dem Hintergrund dieser Worte die Europapolitik Ihrer
Bundesregierung in den letzten drei Jahren verfolgt, wenn
man sich anhört, was Sie heute und an anderen Tagen zu
sagen haben, dann hat man das Gefühl: Es hat sich etwas
verändert - und wahrlich nicht zum Besseren, nicht für
Europa und auch nicht für Deutschland.
({40})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Merz, wir müssen auch heute
feststellen, dass Sie in Ihrer Rede wiederholt die Unwahrheit gesagt haben.
({0})
Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe
mit keinem Wort den deutschen Mittelstand erwähnt. Der
Bundeskanzler hat in seiner Rede, in der er auf deutsche
Besonderheiten eingegangen ist, die besondere Finanzierungssituation des deutschen Mittelstandes ganz deutlich
erwähnt, die für das Handwerk und für die übrigen mittelständischen Unternehmen von Bedeutung ist.
({1})
Hat das etwa nichts mit kleinen und mittleren Unternehmen zu tun? Ich stelle also fest, Herr Kollege Merz: Sie
haben mit dieser Feststellung die Unwahrheit gesagt.
({2})
Ihr fahrlässiger Umgang mit der Wahrheit zog sich
durch Ihre ganze Rede. Sie haben behauptet, dass in Sachen Holzmann geholfen wurde, obwohl die Beihilfe
nicht genehmigt worden ist. Ich stelle fest: Die Beihilfe
wurde genehmigt, Herr Kollege Merz.
({3})
Wer so wie Sie mit der Wahrheit umgeht, der muss sich
hier entschuldigen oder - das wäre besser - die Fakten zur
Kenntnis nehmen.
({4})
So schlampig, wie Sie an dieser Stelle argumentieren,
so schlampig gehen Sie auch mit den Fakten in der
Schlusslichtdebatte und mit der Bewertung unserer Mittelstandspolitik um. Wir sind doch dabei, die Schieflage
zulasten des Mittelstandes, die in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden ist, schrittweise zu korrigieren.
({5})
Es war doch die Ära Kohl, Waigel und FDP, die zu dieser
Schieflage geführt hat.
({6})
Das gilt im Übrigen auch in Sachen Holzmann. Wie
viele Handwerker und mittelständische Unternehmen
sind denn involviert, wie immer die Dinge heute ausgehen
werden? Wie viele mittelständische Existenzen stehen auf
dem Spiel? Das sollten wir in dem Zusammenhang doch
nicht ausblenden.
Wenn wir uns dann noch vor Augen führen, wie Herr
Merz hier über Übernahmen gesprochen hat: Er hat feindliche Übernahmen mit gewollten Übernahmen, mit Fusionen, verwechselt.
({7})
Auch da ist offenkundig Nachhilfeunterricht notwendig.
Ich verstehe nicht, wie Sie hier einen Vorsitzenden nach
vorne schicken können, der nicht einmal das kleine Einmaleins der Wirtschaftspolitik beherrscht.
({8})
Damit die FDP nicht einfach so davonkommt: Sie haben doch Mitte der 90er-Jahre die Weichen in Sachen Liberalisierung falsch gestellt. Der Bundeskanzler hat vollkommen Recht, wenn er auf die Konsequenzen hinweist.
({9})
Es sind Tausende von Arbeitsplätzen in der Industrie in
der Bundesrepublik Deutschland bedroht, weil Sie die
Weichen in Sachen Liberalisierung falsch gestellt haben.
({10})
- Unterhalten Sie sich doch einmal mit den Geschäftsleitungen und den Betriebsräten dieser Unternehmen! Der
Bundeskanzler hat die Bereiche genannt.
So kann man diese Beispiele fortsetzen. Sie wissen genau wie wir, dass Ihr Klagen, Deutschland sei wirtschaftliches Schlusslicht in der Europäischen Union geworden,
nichts anderes als Wahlkampfgetöse ist.
({11})
- Natürlich, ein Rückblick auf Ihre Regierungszeit zeigt es
doch! Es waren CDU/CSU und FDP, die auf dem Konto
ihrer Wirtschaftspolitik negative Wachstumsraten zu verbuchen hatten. 1993 waren es real minus 1,1 Prozent.
({12})
In den Folgejahren - schauen Sie sich einmal die Tabellen
an, Herr Kollege - waren wir in der Europäischen Union immer 14. oder 15. Wer hier den Eindruck erweckt, wir hätten
beim wirtschaftlichen Wachstum an der Spitze der Europäischen Union gelegen, der täuscht die Öffentlichkeit.
({13})
Dass das nicht der Fall war, hat seine Gründe. Der Bundeskanzler hat auf die industriepolitischen Besonderheiten in der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen.
Aber wir haben darüber hinaus andere Besonderheiten,
die auch Sie selbst sonst nicht verschweigen. Natürlich
leiden wir ebenfalls darunter, dass Sie bei der deutschen
Einheit die Weichen in Sachen Ökonomie und sozialer
Vereinigung falsch gestellt haben.
({14})
Sie haben die deutsche Einheit zu einem großen Teil
falsch finanziert. Wir haben diese Erbschaft abzutragen.
Wenn Herr Merz heute Morgen feststellt, dass wir auch
bei der Neuverschuldung Schlusslicht seien,
({15})
dann darf er doch nicht verschweigen, dass Herr Solbes
und andere zu Recht gesagt haben, dass der Kurs der Bundesregierung, nämlich raus aus der Schuldenfalle, von der
Europäischen Kommission für vollkommen richtig gehalten wird.
({16})
Sie können diese Tatsachen nicht außen vor lassen.
So könnte ich, wenn ich denn die Zeit hätte, Punkt für
Punkt, Satz für Satz dieser fulminanten Merz-Rede auseinander nehmen. Es stimmt nichts, was da gesagt wurde,
({17})
jedenfalls nicht, soweit er sich in den Bereich von Fakten
begeben hat. Teilweise waren es nur sehr wolkige Aussagen. Im Bereich der Fakten hat diese Opposition bis heute
nichts zu bieten.
({18})
Daher kommt wohl auch Ihre Zögerlichkeit, Ihre Wahlvorstellungen zu präzisieren. In wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht wollten Sie das schon Anfang März erledigt haben. Jetzt hört man, Ende April; vielleicht wird es
auch Juni oder Juli, ehe Sie sich dazu in der Lage sehen. So
sieht es doch aus, wenn es um konkrete Alternativen geht.
Barcelona bedeutet weitere tragfähige gemeinsame
Schritte hin zu dem Ziel, das wir wohl alle wollen, nämlich Europa bis zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum zu machen.
Dazu zählt auch der erzielte Kompromiss zur weiteren
Öffnung des Strom- und Gasmarktes. Der Bundeskanzler
hat zu Recht darauf hingewiesen. Dieser Europäische Rat
hat klar gezeigt, dass die Europäische Union insgesamt
die Herausforderungen der Globalisierung angenommen
hat. Die Ergebnisse hinsichtlich der Entwicklungshilfefinanzierung und die Beratungen zur Einbeziehung von
Umweltbelangen in andere Politikbereiche machen deutlich, dass man allgemein anerkannt hat, dass Gestaltung
von Globalisierung nicht auf die ökonomischen Aspekte
allein beschränkt werden darf. Europa wächst auch aufgrund der Ergebnisse des Rates von Barcelona weiter zusammen. Jetzt geht es darum, die richtige Ausrichtung
dieses Zusammenwachsens zu bestimmen.
Wir wissen - auch das sollte einmal in den Reden der
Opposition anklingen -,
({19})
dass nationale Regierungen mit ihren Handlungsspielräumen an Grenzen stoßen. Deshalb suchen wir nach
europäischen Wegen, die wir gemeinsam mit den europäischen Partnern gehen, um die Chancen der internationalen Öffnung zu nutzen, ohne dass das europäische Zivilisations- und Gesellschaftsmodell in Gefahr gerät.
Unser Anspruch an Europa geht über das wirtschaftliche Ziel eines funktionierenden Binnenmarktes weit hinaus. Für uns steht Europa auch für sozialen, kulturellen
und ökologischen Ausgleich. Auch das unterscheidet uns
von dem, was Sie, Herr Merz, heute Morgen hier vorgetragen haben.
({20})
Der Rat in Barcelona hat die Notwendigkeit einer
wachstumsfördernden und stabilitätsorientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik festgehalten. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union vereint der Wunsch, die
Arbeitslosigkeit nachhaltig zu bekämpfen. Gestrigen
Meldungen konnte man entnehmen, dass sich die Wachstumsaussichten für dieses Jahr in ganz Europa - also
auch in der Bundesrepublik Deutschland - Gott sei Dank
günstiger entwickeln, als dies noch vor drei oder vier Wochen angenommen werden konnte. Darüber hätten Sie
ebenfalls ein Wort verlieren und diese Entwicklung begrüßen können. Warum malen Sie hier alles schwarz? Wollen
Sie denn aus rein parteitaktischen Gründen eine schlechte
Entwicklung und zusätzliche Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt? Das darf doch wohl nicht wahr sein!
({21})
Wir können nicht akzeptieren, dass Sie Tatsachen aus
parteitaktischen Gründen nicht erwähnen, und werden
deshalb offensiv darstellen, dass die Auftriebskräfte die
Oberhand gewinnen. Wo es sich noch nicht herumgesprochen hat, werden wir offensiv darstellen, was wir aus eigener Kraft dazu beigetragen haben, um die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren. Der Sachverständigenrat
hat festgestellt - auch das muss angesprochen werden -,
dass ohne unsere Steuerentlastung von 45 Milliarden DM
im letzten Jahr und ohne die Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge der wirtschaftliche Abschwung noch
stärker gewesen wäre.
Wenn Sie die hohe Arbeitslosigkeit beklagen - wir reden sie doch nicht schön -, dann dürfen Sie nicht verschweigen, dass wir im Januar 1998 leider 500 000 Arbeitslose mehr hatten.
({22})
Auch darf man die Augen nicht davor verschließen, dass
wir in die Phase des nächsten konjunkturellen Aufschwungs hineingehen.
({23})
Damit besteht die Chance, dass die Arbeitslosenzahl
im nächsten Konjunkturzyklus deutlich sinken kann.
Während der 16 Jahre Ihrer Regierung unter Kohl ist
doch die strukturelle Arbeitslosigkeit stets gestiegen,
unabhängig von der Konjunktur. Darin liegt der Unterschied: Wir finden uns mit steigender Arbeitslosigkeit
nicht ab. Sie, meine Damen und Herren, hatten sich
schon längst damit abgefunden.
({24})
Im Übrigen wäre es auch eine zu schlichte Betrachtung
der Ökonomie, die ökonomisch-soziale Position eines
Landes vor allem durch die reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes bewerten zu wollen. Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass unser hohes Maß an sozialem Frieden unsere Wettbewerbsfähigkeit in Europa
nachhaltig stärkt.
({25})
Das haben wir auch mit unserer Steuerpolitik gefördert.
({26})
Durch diese Politik wurden nicht irgendwelche Großkonzerne begünstigt.
({27})
In erster Linie wurden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Familien mit Kindern sowie der Mittelstand entlastet. Bei Ihnen hat man nur über eine Entlastung gesprochen.
({28})
- Herr Hinsken, diese Steuerpolitik kann sich im internationalen Vergleich - auch wenn Sie einen Vergleich mit
den USA und mit Frankreich ziehen - sehen lassen.
({29})
Aber das ändert nichts daran - ich hoffe, wir sind uns
in dieser Überzeugung einig -, dass Europa ökonomisch
wachsen muss, um sich in der Weltwirtschaft behaupten
zu können. Wenn die Europäische Union bei steigender
Mitgliederzahl handlungsfähig bleiben soll, muss sie sowohl die Kommission stärken als auch das Prinzip der
Subsidiarität ausweiten - jedenfalls da, wo ein europäischer Regelungsbedarf nicht besteht.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle betonen: Eine verstärkte Koordinierung ist sinnvoll und notwendig, um
nationale Maßnahmen nicht auf europäischer Ebene zu
konterkarieren. Wir sollten jetzt weitere Fortschritte erzielen. Die weitere Integration der Finanzmärkte bleibt
auf der europäischen Tagesordnung. Wir brauchen eine
zunehmende Koordinierung in der Steuerpolitik, eine
Harmonisierung der Energiebesteuerung sowie Deregulierung durch den Abbau von bürokratischen Hemmnissen. Dabei brauchen wir natürlich eine Verschlankung der
verschiedenen Prozesse und Strategien zur wirtschaftspolitischen Koordinierung. Wir unterstützen die Schaffung
eines europäischen Bildungs- und Forschungsraumes
auch durch die Erhöhung von Mobilität. Wir wissen, dass
Investitionen in die Bürger Europas unser stärkstes Kapital darstellen. Insoweit nehmen wir auch die Kritik der
EU-Kommission an unserer Arbeitsmarktpolitik auf.
Allerdings wissen Sie, meine Damen und Herren von
der Opposition, genau wie wir, dass die Kommission uns
auch in Sachen Arbeitsmarkt eine angemessene Reaktion auf die Problemlage attestiert. Sehr positiv erwähnt
wurden seitens der Kommission unsere Bemühungen im
Rahmen des JUMP-Programms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und unser Job-AQTIV-Gesetz. Deshalb
brauchen wir uns hier überhaupt nicht zu verstecken;
({30})
denn eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik ist das Kernstück unserer Reformbemühungen. Aber auch hier gilt:
Das System von „hire and fire“ wird es mit uns nicht geben, meine Damen und Herren.
({31})
Doch das ist Ihre Alternative. Auch das werden wir in der
nächsten Zeit noch deutlich machen. Wir stehen in einer
anderen Tradition. Wir stehen dafür, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf gleicher Augenhöhe begegnen
können und dass das auch das Modell für die Europäische
Union ist. Sie stehen für eine andere Philosophie. Dieser
Unterschied muss herausgearbeitet werden, und wir werden ihn herausarbeiten.
({32})
Wir respektieren den Wunsch der Partner, Rücksicht
auf nationale Traditionen zu nehmen. Der Bundeskanzler
hat das am französischen Beispiel erläutert. Wir wissen
um den besonderen Wert guter deutsch-französischer
Beziehungen. Wir wissen um die Notwendigkeit des
Fortschreitens der Integration und deshalb bleibt es dabei:
Franzosen und Deutsche bleiben engste Partner im Prozess
der Vertiefung der Europäischen Union und wollen nichts
mehr, als dass diese Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit bei zunehmender Größe nicht verliert. Wir befürworten eine starke EU-Kommission, eine Ausweitung der
Rechte des Europäischen Parlamentes und den Übergang
zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit. An unserem
Willen und an unserer Fähigkeit zur Reform kann niemand
ernsthaft zweifeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({33})
Die gemeinsame Initiative von Bundeskanzler Schröder
und Premierminister Blair ist ein beredtes Beispiel dafür.
Wir unterstützen nach Kräften den historisch einmaligen Verfassungskonvent, der für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein wird. Uns allen muss es aber
in der nächsten Zeit gelingen, auch die Bürger für eine
europäische Verfassung zu gewinnen.
({34})
Wenn es nicht überhöht wäre, könnte man sagen: Es muss
uns gelingen, sie für einen europäischen Verfassungspatriotismus zu gewinnen.
({35})
Nur so werden wir in Zukunft die innenpolitische Zustimmung erhalten, weiteren Souveränitätsverzicht zugunsten der Europäischen Union zu üben und zu leisten,
wo es nötig ist.
Aber wir legen auch Wert darauf, dass unsere Partner
die spezifischen Voraussetzungen unseres Landes respektieren. Der Herr Bundeskanzler hat die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion dafür,
({36})
dies am Beispiel der besonderen Bedingungen der Industrieproduktion in diesem Lande getan zu haben. Es wurde
wirklich Zeit, das noch einmal deutlich öffentlich zu debattieren, damit wir uns nicht in falschen Gegensätzen
verlieren. Es gibt nicht den Gegensatz, dass die einen
- angemessen in der Tonlage, wie Herr Merz hier betont
hat - Fortschritte in der weiteren Integration wollen, während die anderen nur ihre eigenen Interessen betonen und
damit möglicherweise Milch verschütten, was nicht nötig
wäre. Nein, es sind zwei Seiten einer Medaille. Wir können weitere Fortschritte bei der Integration und bei der
Vertiefung mit Zustimmung der deutschen Bevölkerung
nur erreichen, wenn auch deutlich wird, dass deutsche Interessen - auch Industrieinteressen, aber nicht nur diese respektiert werden, meine Damen und Herren.
({37})
Es ist eine gute Gelegenheit, das hier heute deutlich machen zu können.
Vielen Dank.
({38})
Das Wort
hat jetzt der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang
Gerhardt.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hatte
nach der Entscheidung in Lissabon und mit Blick auf den
Gipfel in Barcelona ein Papier vorbereitet, mit dem ich eigentlich voll übereinstimmen kann. Da ging es um die
Öffnung der Märkte, insbesondere der Energiemärkte, da
ging es um die Mobilität der Arbeit, um den Abbau bürokratischer Hemmnisse, um eine Stabilitätsorientierung
der Politik. Aber nirgendwo ist Papier so geduldig wie bei
den Initiativen der Bundesregierung.
An diesem Anspruch von Lissabon gemessen, nämlich
Europa nach vorn zu bringen, zu einem Global Player zu
machen, Beschäftigungsdynamik auszulösen, in einem
ernsthaften transatlantischen Wettbewerb bestehen zu
wollen, sich auf Zukunftstechnologien hin zu orientieren,
die Märkte zu öffnen, Verbraucher zu begünstigen, ist
Barcelona - auch wenn jeder Gipfel Licht und Schatten
hat - ein kompletter Fehlschlag gewesen. Das muss eindeutig festgestellt werden.
({0})
Herr Bundeskanzler, beschreiben Sie nicht legitime deutsche Interessen, wenn wir über die Frage reden, wie Industriepolitik für Deutschland, zum Beispiel für die Chemieindustrie, aussehen kann und welchen Standpunkt man hier
auf europäischer Ebene vertreten sollte! Es ist nämlich nicht
nur die Opposition, die Ihre Verhaltensweisen in diesem
Frühjahr gegenüber der EU-Kommission als falsch und sogar schädlich für die deutschen Interessen empfindet.
Vorhin fiel schon in einem Zwischenruf der Name
Murdoch. Ich habe hier keine Murdoch-Zeitung mitgebracht, sondern zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“:
Seit Jahresbeginn verrennt sich der Kanzler in einer
Politik, die in den Augen seiner 14 Partner pubertäre
Züge trägt. Erst wird mit starken Sprüchen ... der drohende „blaue Brief“ aus Brüssel zerrissen, dann
greift Berlin nach eben jedem dieser Fetzen, sieht rot,
sobald Brüssel irgendetwas artikuliert, was sich in
Euro oder Cent übersetzen lässt.
Diese neue Linie
- so schreibt eine führende deutsche Tageszeitung durchkreuzt selbst marktwirtschaftliche Ideen, die
auf lange Sicht der größten Ökonomie Europas just
jene Wachstumskräfte und Jobs bescheren würden,
die der kränkliche Riese so dringend zur Genesung
braucht.
Der Artikel schließt mit folgenden Worten:
Die EU will nicht einfach am deutschen Wesen genesen. Das spürt der Kanzler nicht.
({1})
Die deutsche Politik begreift die Europäische Union zu
wenig als Chance. Das ist der Kern.
({2})
Sie tragen hier vor, dass die Daten einen leichten Konjunkturaufschwung zeigen. Die größte europäische Volkswirtschaft aber wird nicht dadurch in Beschäftigungsdynamik kommen, dass Sie mit dem Fernglas auf leicht
bessere Konjunkturdaten, die am Horizont auftauchen,
schauen, sondern nur dann, wenn Sie diese mit einer Politik untermauern, die Beschäftigungsdynamik auslöst.
Diese Politik aber werden Sie nicht gegen die EU führen
können. Deutschlands Chance liegt in der Öffnung der
Märkte, und zwar in einer Politik mit der Europäischen
Union und mit der Kommission.
({3})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, haben Sie lange Zeit darauf verwandt, in gemessenem und ruhigem Ton zu
beschreiben, was die industriepolitischen Interessen
Deutschlands sein könnten. Nach außen haben Sie diesen
Stil und diese Sprache in den letzten Monaten nicht gepflegt. Sie sind in der Europäischen Union mit dem Hinweis auf gewachsene kulturelle Strukturen als ein Sachwalter erschienen,
({4})
der blockieren will, der gegen eine Öffnung ist, der die
Entfaltung von Dynamik verhindert, der sich dem Wandel
nicht stellt. Notwendig aber ist das glatte Gegenteil.
({5})
Es hat auch frühere Bundesregierungen gegeben, die auf
einem Gipfel ihre Vorstellungen nicht abschließend durchsetzen konnten. Denen konnte aber nie der Vorwurf gemacht
werden, leichtfertig Chancen zu vertun und alte, rückwärtsgewandte Interessen zu vertreten. Kern dessen, woran
Deutschland krankt, ist die mangelnde Zukunftsorientierung, die mangelnde Öffnung. Das Problem unseres Landes,
({6})
das als äußeres Zeichen explosionsartig bei dem Thema
der Bundesanstalt für Arbeit deutlich geworden ist,
({7})
sind die kartellartigen Strukturen, die sich gegen alles
wenden, was aufbricht, was neu am Horizont erscheint,
was Dynamik entfaltet. Das muss geändert werden.
({8})
Das ist ein Änderungsweg, den die Europäische Union
vorangebracht hat, den die frühere deutsche Bundesregierung gepuscht hat,
({9})
weil sie immer wusste, dass deutsche nationale Interessen
nur in europäischer Einbettung vorankommen und zum
Erfolg geführt werden können.
({10})
Die Sprache, die Sie gewählt haben, lässt daran zweifeln,
ob die gegenwärtige deutsche Bundesregierung das beherzigt.
Die Zeitung schreibt: Welchem Schröder sollen die
Partner denn glauben, jenem Kanzler, der neulich noch
die Kommission in seinem Papier zu einer Art europäischer Regierung vollenden wollte,
({11})
oder dem „garstigen Gerhard“, der launig Kommissare
abwatscht und Brüssel kujoniert, sobald ihm etwas nicht
passt? Das ist der Kern!
Das Ergebnis des Gipfels in Barcelona war, gemessen
an der deutschen Erledigung innenpolitischer Hausaufgaben und an den hehren Zielen der Proklamation von Lissabon, kein Erfolg, sondern ein Fehlschlag. Dies muss
man ganz klar festhalten.
Der Punkt, an dem ich die Bundesregierung loben
muss,
({12})
betrifft die Beschlussfassung zum Nahen Osten, die ich
inhaltlich voll billige, die richtig ist und wo mit einer klaren europäischen Stimme gesprochen wird. Herr Bundeskanzler, wir stimmen Ihnen auch voll darin zu, dass wir
nicht glauben sollten, wir könnten Größeres bewirken, als
wir es wirklich können. Aber in Bezug auf die beiden
Konfliktparteien zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit
und Klarheit eine einvernehmliche europäische Stimme
zu vernehmen ist richtig. Wir wollen Ihnen dafür, dass Sie
das mit erreicht haben, ausdrücklich unseren Respekt zollen.
({13})
Wir sagen das ganz bewusst, denn wir haben besondere
Verpflichtungen gegenüber Israel. Für keinen meiner
Kolleginnen und Kollegen hier im Haus quer durch alle
Parteien steht die Chance für Israel, in gesicherten Grenzen in die Zukunft zu gehen, infrage. Aber als Freund Israels dürfen wir auch sagen, dass kein Weg daran vorbeiführt - wie es die Europäische Union jetzt beschlossen
hat -, dass Israel seine Siedlungspolitik ändern muss, dass
es sein völkerrechtswidriges Verhalten ändern muss und
dass es keine außergesetzlichen Arten von Hinrichtungen
mehr geben kann.
Genauso klar müssen wir den Palästinensern sagen,
dass es keine Akzeptanz für terroristische Anschläge gibt.
Natürlich können wir dies dort nicht allein bewerkstelligen, aber dass die Europäische Union das an der Seite der
Vereinigten Staaten einmal klar ausgedrückt hat, ist von
gewaltigem internationalem Wert, mit dem man weiter arbeiten kann.
Wir als Fraktion möchten aber auch, dass dies mit der
gleichen Klarheit und der gleichen Stilsicherheit in der
Formulierung auch bei anderen Themen gilt. Wir wissen,
was die transatlantischen Beziehungen und die Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika
für Deutschland bedeuten. Wir wissen um die erhebliche
ökonomische Bedeutung. Wir wissen, dass diese beiden
Kontinente in Bezug auf die Weltwirtschaft ohne Beispiel
sind, wenn sie transatlantische Beziehungen richtig verstehen und klar miteinander umgehen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch sagen: Natürlich gibt es Vorwürfe seitens der Vereinigten Staaten an
die Europäische Union. Sie beziehen sich auf mangelnde
wirklich ernsthafte sicherheitspolitische Anstrengungen
auch mit vom Haushalt entsprechend gedeckter Finanzierung. Es gibt aber auch ein erhebliches Engagement der
Europäischen Union außerhalb der Bereitstellung militärischer Mittel. Darunter fällt die Osterweiterung als ein
Stück Sicherheitspolitik, die den Vereinigten Staaten von
Nordamerika sicherheitspolitisch genauso nutzt wie unseren nationalen Interessen. Die deutschen Soldaten, die
jetzt nahezu überall verteilt sind, genießen nicht nur hohen Respekt, sondern sind ein beträchtlicher deutscher
Beitrag zur internationalen Konfliktprävention und -verhütung.
Deshalb ist es richtig, dass die deutsche Stimme - besser noch wäre: die europäische Stimme, die in Barcelona
so leider nicht erhoben worden ist ({14})
auch gegenüber den Vereinigten Staaten im Hinblick auf
geopolitische Konsequenzen freundschaftlich, fair und im
richtigen Stil erhoben werden sollte, wenn wir über das
Thema Irak diskutieren. Es geht nicht um europäische
Weicheierei, sondern darum, welche Haltung die Europäer annehmen dürfen. Dies heißt für die Europäer und
die Deutschen: multilaterale Annäherung, Mandat der
Vereinten Nationen, kein unilaterales Vorgehen. Das muss
man unter Freunden offen sagen können. Wir müssen darauf hinwirken, dass dies die europäische Haltung wird,
auch wenn sie es bis heute noch nicht geworden ist.
({15})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, drängen wir darauf, dass
die Bundesregierung in diesen Tagen im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit gegenüber den Vereinigten Staaten alles unternimmt, um auf diese Position hinzuweisen.
Es gibt dazu eine legitime deutsche Haltung. Es gibt auch
eine europäische Haltung dazu. Diese mag vielen anders
erscheinen - sie ist es auch - als die der Vereinigten Staaten, soweit wir das hören. Unter Freunden müssen aber
auch diese unterschiedlichen Haltungen akzeptiert werden.
Nicht akzeptiert werden kann, wenn diese Haltung nur
mit dem Megaphon über den Atlantik und nur über Zeitungsinterviews statt über persönliche Begegnungen mit
der diesen innewohnenden Intensität der Kommunikation
verkündet wird.
({16})
Da ist, Herr Bundeskanzler, aus meiner Sicht auf dem
Gipfel in Barcelona eine Chance verpasst worden. Denn
das Wochenende in Barcelona wäre der richtige Zeitpunkt
gewesen, neben dem Thema „Israel und Palästina“ genau
diesen Sachverhalt mit den europäischen Partnern zu besprechen. Es geht um eine Region, in der es viele Konfliktherde gibt. Die Europäische Union muss die außenpolitische Fähigkeit und Kraft haben, eine gemeinsame
Position zu entwickeln und dies den Vereinigten Staaten
mitzuteilen.
Natürlich ist das eine Aufgabe, bei deren Lösung wir
Deutsche in aller Ruhe sagen können, wo unsere außenpolitischen Interessen liegen. Wir wollen uns nicht größer
machen, als wir sind. Wir sollten uns aber auch nicht kleiner machen. Aufgrund unseres wirtschaftspolitischen Potenzials, unserer Bündnisverpflichtungen und unserer europäischen Orientierung ist es ganz legitim - und es schadet
keinem befreundeten Staat -, wenn wir unseren amerikanischen Freunden vermitteln, dass wir, die Deutschen, bei
Konfliktlösungen in europäischer Einbindung auf das
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen achten wollen.
Jede Nation hat ihre geschichtlichen Erfahrungen. Wir haben unsere, die uns zu diesem Ergebnis führen. Wir erwarten, dass das unter Freunden respektiert wird, ohne
dass an der Freundschaft gezweifelt wird.
({17})
Mit einem solchen Vorgehen könnte die Europäische
Union einen partnerschaftlichen, wirkungsvollen und
präventiven Beitrag leisten. Diese Chance ist auf dem
Gipfel in Barcelona verpasst worden.
Es mag sein, dass manche europäische Beteiligte dies
anders sehen oder dort nicht so bescheiden wollten. Nur,
aufgeben sollten wir diese Position nicht. Dafür sollten
wir an jedem Tag werben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort
hat Bundesminister Joseph Fischer.
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen
({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europapolitik der Bundesregierung des Bundeskanzlers Schröder hat in den vergangenen dreieinhalb
Jahren ganz wesentliche Fortschritte in der europäischen
Integration erzielt.
({1})
- Ja, aus der Erweiterung haben wir eine konkrete politische Entwicklung gemacht. Es gab Versprechungen, bereits im Jahre 2000 solle Polen Mitglied der Europäischen
Union sein, aber erst unter dieser Bundesregierung, unter
der deutschen Präsidentschaft von Bundeskanzler
Schröder und dann unter der finnischen Präsidentschaft,
wurden Nägel mit Köpfen gemacht.
({2})
Heute können wir sagen, dass wir 2004 vermutlich zehn
neue Mitglieder haben werden und damit aus der Vision
Wirklichkeit wird. Das ist ein wesentlicher Beitrag unserer Europapolitik.
({3})
Aber diese Erweiterung macht auch klar - dabei gibt es
einen Zusammenhang mit dem, worüber hier diskutiert
wurde; dies sollte nicht in Polemik entgleiten -, dass es sehr
ernste Fragen gibt, die es wert sind, sie bereits heute intensiv in der Debatte hier im Parlament zu untersuchen: Wie
soll eine solche Union der 25 tatsächlich funktionieren,
und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Erweiterung? Bei weitergehenden Integrationsfortschritten spüren
wir doch in einzelnen Fragen, dass sich immer mehr die
Herausforderung der demokratischen Legitimation und
der Legitimität der europäischen Institutionen stellt.
Dies gilt in einer Union der 25 nicht nur für Kompromisse. Dabei haben wir, sowohl die Staats- und Regierungschefs als auch die Außenminister, ja erlebt, was es heißt,
wenn eine Runde der 25 als Arbeitsgremium tätig ist. Der
entscheidende Punkt ist vielmehr ein anderer: In der Integration in der Sache, also in einzelnen wirtschafts-, sozialund umweltpolitischen Punkten, stellt sich natürlich immer
mehr die Frage nach der demokratischen Legitimität. Deswegen ist die Vertiefung bzw. das Schaffen einer europäischen Demokratie von Anfang an eines der Hauptprojekte
der Europapolitik dieser Bundesregierung gewesen.
({4})
Wir haben jetzt in Europa den Konvent, die verfassunggebende Versammlung. So etwas hat uns, als wir angetreten sind, niemand zugetraut. Mit der Erweiterung
und der Vertiefung, der Schaffung des Konvents und der
konkreten Erweiterungsperspektive 2004, sind von dieser
Bundesregierung zwei ganz zentrale historische Fragen
angepackt, angeschoben und gemeinsam mit unseren
Partnern erfolgreich auf den Weg gebracht worden.
({5})
Nun wissen wir so gut wie all unsere Partner - der Bundeskanzler hat es angesprochen -, dass die Reform der
Agrarpolitik notwendig ist. Die Fragen der Kohäsion und
der Strukturfonds in einer erweiterten Union sind ganz
entscheidend. Die Fragen der Finanzierung und der finanziellen Vorausschau werden natürlich bereits im Prozess der Erweiterung aufgeworfen, zwar nicht als zusätzliche Erweiterungshemmnisse, aber im Hinterkopf aller
Beteiligten, sowohl der Beitrittskandidaten als auch der
Alt-Mitgliedsländer, spielt dies bereits eine Rolle.
In dem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des größten
und wirtschaftlich wichtigsten Mitgliedslandes. Bei genau diesem Punkt weist der Bundeskanzler völlig zu
Recht darauf hin, dass wir für das große historische Projekt der Erweiterung, für das es keine Alternative gibt,
eine leistungsfähige Bundesrepublik Deutschland und
eine leistungsfähige Wirtschaft brauchen. Das ist die Herausforderung an uns, innenpolitische Reformen durchzuführen. Das setzt allerdings auch eine konsistente Politik
der Kommission voraus, durch die keine zusätzlichen und
unnötigen Hemmnisse für ökonomische und soziale
Reformen in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen werden. Wenn Sie so wollen, ist das der Kern der Diskussion, die gegenwärtig mit der Kommission geführt
wird und zu führen ist.
({6})
Herr Merz, bei Ihnen werde ich den Verdacht nicht los,
dass Sie die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung
- bei der es darum geht, ob Sie das Modell des sozialen
Wandels als Konfliktmodell oder als Konsensmodell wollen -, die völlig legitim ist - das sage ich, damit Sie mich
nicht missverstehen - und innenpolitisch geführt werden
muss, letztendlich auf dem Umweg über die Kommission
führen wollen.
({7})
Diese Koalition und diese Bundesregierung haben sich
verpflichtet, die Interessen derArbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bei dem zugegebenermaßen manchmal
schmerzhaften, aber notwendigen Strukturwandel zu
berücksichtigen und Politik nicht gegen sie, sondern mit
ihnen zu machen. Das ist der entscheidende Unterschied.
({8})
Sie müssen sich schon überlegen, welche Zeitung Sie
zitieren. Dazu, dass Sie sozusagen als Nachweis Ihrer Position ausgerechnet die „Sunday Times“ zitieren, kann ich
nur sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob Sie für diese Position in der CDU - in der CSU erhalten Sie sie garantiert
nicht - eine Zustimmung bekommen. Sie werfen dort der
Bundesregierung vor, dass sich der Bundeskanzler eingesetzt hat. Es waren doch weder die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer noch die Bundesregierung - auch nicht
Ihre -, die Holzmann gegen die Wand gefahren haben.
Wir können uns noch daran erinnern, welches Managementversagen dahinter stand.
({9})
Wenn es um das konkrete Schicksal von Tausenden von
Arbeitnehmern geht, wird diese Bundesregierung aber
nicht einfach tatenlos dabeisitzen. Man konnte damals, als
der Bundeskanzler in Frankfurt war, ja auch sehen, dass
der hessische Ministerpräsident nichts Besseres zu tun
hatte, als sich auf das Bild zu drängen.
({10})
Wir werden Ihnen die Rede, die Sie heute gehalten haben, hier vorlesen, wenn Kirch gegen die Wand fährt. Das
Engagement der bayerischen Landesregierung werden
wir uns dann sehr genau anschauen.
({11})
Wir werden dann auch die Frage beantwortet bekommen,
warum die Bayerische Landesbank Kredite in Höhe von
1,5 Milliarden Euro für Geschäfte, die mehr als ein Fragezeichen aufwerfen, dort hineingepumpt hat.
({12})
Sie müssen dann auch die Frage beantworten, warum
sich die Bayerische Staatsregierung zum Beispiel seit Jahren so intensiv um die Maxhütte kümmert und dieses Problem nicht gelöst bekommt. Dabei handelt es sich um einen einzigen Montanstandort. Was sollen denn der
Kollege Clement in Nordrhein-Westfalen oder andere
Kollegen in anderen Industriestandorten dann erst sagen?
Herr Merz, Sie müssen also bei Ihrer Kritik schon konsistent bleiben und können nicht in Bayern akzeptieren,
was Sie im Bund kritisieren. Das gilt insbesondere, wenn
es um so wichtige Fragen geht.
({13})
Sie werfen uns vor, dass der Mittelstand in Barcelona
keine Rolle gespielt habe: Schauen Sie sich doch zum
Beispiel die Struktur der Chemieindustrie an. Es ist nicht
wahr, dass es nur große Unternehmen sind. Im Wesentlichen ist die Chemieindustrie nämlich mittelständisch. Die
Zulieferindustrie für die deutsche Automobilwirtschaft ist
ebenfalls ganz entschieden mittelständisch geprägt. Daran hängen sehr viele Arbeitsplätze.
({14})
All diese Dinge zusammengenommen lassen sich auf
einen Punkt bringen: Es geht nicht darum - das wäre eine
völlig verfehlte Politik -, eine Politik gegen die Europäische Kommission zu machen. Es geht auch nicht darum,
dass wir den notwendigen Strukturwandel nicht weiter
voranbringen. Sie sagen, dass Deutschland zum kranken
Mann geworden ist. An dem Punkt kann ich Sie nur fragen: Bei euch gab es vorher also nur blühende Landschaften? - Schaut euch doch einmal die Verschuldungszahlen an!
({15})
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann war
Deutschland sieben Jahre nach der Einheit das Schlusslicht.
({16})
Im Jahre 1996 lag die Verschuldungsquote meines Wissens bei 3,2 Prozent, also deutlich über 3 Prozent. Im
Jahre 1997 lag diese Quote ganz knapp unter 3 Prozent.
({17})
Ich werde mir die Zahlen noch einmal genau anschauen.
({18})
Ich weiß, dass es für das, was wir vorgefunden haben,
Gründe gab. Die deutsche Einheit ist eine anhaltende Herausforderung, der sich jede Bundesregierung stellen
muss. Aber es ist billige Oppositionspolitik, die sich nur
auf den Gedächtnisverlust gründet, wenn Sie das, was Sie
uns hinterlassen haben, nicht ebenfalls nennen.
({19})
Ich sage Ihnen: Der Strukturwandel muss weiter fortgeführt werden. Aber es geht um die Einstiegsbedingungen. Diese Einstiegsbedingungen müssen berücksichtigt
werden. Europa braucht eine leistungsfähige deutsche
Volkswirtschaft für die Erweiterung. Genau dieser Leistungsfähigkeit weiß sich diese Bundesregierung verpflichtet.
Sie haben uns vorgeworfen, in Barcelona sei diesbezüglich nichts gemacht worden. Schauen Sie sich doch die
Entscheidung allein zum Projekt „Galileo“ an. Es ist ein
strategisches Projekt; darüber brauchen wir nicht zu reden. Es ist ein Projekt, Herr Gerhardt, das nicht bereits
morgen seine Früchte trägt. Aber allein die Reaktion aus
Übersee auf dieses Projekt macht klar, welche Bedeutung
es für die Zukunft und für die Aufstellung Europas im
21. Jahrhundert haben wird. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die Breitbandnetze. So viel zu Ihrer Behauptung, Barcelona habe nichts gebracht.
({20})
Ein anderes Thema: Wir haben uns gewünscht, die Deregulierung der Strom- und Gasmärkte zu 100 Prozent
Bundesminister Joseph Fischer
zu vereinbaren. Gemeinsam mit unseren französischen
Partnern haben wir eine Liberalisierung von 60 Prozent
erreicht. Der Bundeskanzler hat dargestellt, warum. Aber
ich bitte Sie: 60 Prozent sind nicht mehr nur ein halb
volles Glas, sondern schon deutlich mehr. Wir haben ganz
konkrete Dinge erreicht.
({21})
Bei allem Respekt muss ich auch auf Kleinigkeiten
hinweisen. In Kalifornien ist schon mehrfach eine Energiekrise ausgebrochen. Ich will keinem einen Vorwurf
machen, aber wir müssen feststellen, dass es dort kein gesamtkontinentales Stromnetz gibt. Auch andere Dinge
gibt es dort nicht. Wir haben uns angewöhnt, unsere eigenen Stärken wie Solidität und soziale Stabilität trotz aller
Probleme, die wir haben - ich will dies überhaupt nicht
abstreiten -, in den Hintergrund zu stellen.
Wir sind sicherlich nicht so dynamisch wie unsere
Partner auf der anderen Seite des Atlantiks.
({22})
Aber dafür gibt es Gründe. Wer den kulturellen historischen Hintergrund von Marktwirtschaft ausblendet, wird
gegen die Wand fahren.
({23})
Für die USA sind Freiheit und gesellschaftliche Selbstorganisation - das ist von ganz entscheidender Bedeutung; deswegen hat auch die Übertragung dieser Modelle
auf Russland nach der Wende niemals funktionieren können - zentrale Elemente der Kultur und damit auch der
Wirtschaft dieses Landes.
Wir Europäer haben einen ganz anderen historischen
Kontext. Für unser Land ist - insbesondere aufgrund des
Dramas des 20. Jahrhunderts, aber auch der Zeit davor die Frage der Sicherheit von ganz anderer Bedeutung gewesen. Nun werden wir ein Stück weit in Richtung mehr
Freiheit gehen müssen. Das wird im demokratischen Prozess auszufechten sein. Aber wer ignoriert, dass es höchst
unterschiedliche Bedingungen gibt und dass aus der
größeren Stabilitätsorientierung der Europäer gleichzeitig
so etwas wie sozialer Zusammenhalt entsteht und - so behaupte ich - entstehen muss, wenn man ein Interesse an
demokratischer Integration in Europa hat, wird meines
Erachtens den gesamten Prozess gefährden.
Deswegen wissen wir uns dem Modell des sozialen
Wandels im Konsens auf der Grundlage der europäischen
Tradition verpflichtet. Wir wollen die Vollendung der
europäischen Integration in einem überschaubaren Zeitraum, also noch in diesem Jahrzehnt. Aber wir werden die
Menschen mitnehmen und nichts gegen die Menschen in
unserem Lande machen.
({24})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die technokratische Rede von
Herrn Merz gehört hat, kann sich nur noch wundern. Man
hat bei Ihnen, Herr Merz, den Eindruck, dass Sie hier am
liebsten verkündet hätten: Wirtschaftstheorie erfüllt,
20 000 Holzmann-Kumpel arbeitslos. Eine solche Politik,
die pragmatisches Handeln in der Wirtschaftspolitik und
das Einbringen von politischem Gewicht nicht als notwendig ansieht, ist zum Scheitern verurteilt, bringt soziale
Kälte mit sich und grenzt die Menschen ein Stück weit
aus. - Die PDS ist immer dafür eingetreten, dass sich Politiker auf lokaler Ebene als Bürgermeister oder Landräte
darum kümmern müssen, wenn klein- und mittelständische Unternehmen in der Region in Schwierigkeiten kommen. - Sie haben das auch gemacht und das, Herr Merz,
ist der Grund dafür, warum Ihre Landräte und Kommunalpolitiker reihenweise abgewählt und durch PDS-Landräte und PDS-Kommunalpolitiker ersetzt werden.
({0})
Der Barcelona-Gipfel muss daran gemessen werden,
ob das Ziel, Europa zum dynamischsten, wettbewerbsfähigsten und nachhaltigsten Wirtschaftsraum der Welt
weiterzuentwickeln, erreicht worden ist. Wir müssen feststellen, dass das nicht gelungen ist. Wir konnten sehen,
dass es in Barcelona zwei Gipfel gegeben hat: auf der einen Seite einen Gipfel, auf dem über 500 000 Menschen
auf die Straße gegangen sind, und zwar Menschen unterschiedlichster Prägung, aus Arbeitsloseninitiativen, Gewerkschaften, aus Sozialverbänden, Landwirte, die Angst
haben, ihre Bauernhöfe dichtmachen zu müssen, Menschen, die spüren, dass in Europa das Kapital und die
Großunternehmen immer weiter vorangebracht werden,
während die Sorgen und die Nöte der kleinen Leute immer mehr vergessen werden. Diese Menschen haben in
Europa deutlich gemacht: Wir wollen ein anderes Europa,
wir wollen ein Europa der Menschen und setzen uns dafür
ein, dass Europa auch für die Menschen arbeitet.
({1})
Herr Fischer, eines werfe ich Ihnen und der rot-grünen
Bundesregierung vor: Sie haben das Gespür dafür verloren, dass Europa nicht zu einem Europa der Gipfel werden darf, bei denen sich Politikerinnen und Politiker,
geschützt durch 9 000 Polizisten, Militärs und Flugabwehrraketen, in einer Burg einigeln, die kein Mensch
mehr erreichen kann. Es muss gelingen, dass sich die politische Klasse der Bundesrepublik und Europas wieder
den Menschen stellt, die Anforderungen an die Politik haben, zum Beispiel den Gewerkschaften, und mit ihnen gemeinsam über die Sorgen und Nöte Europas diskutiert. Es
muss eine Politik geben, die wieder erkennt, dass die
Armut und die Ausgrenzung in Europa zunehmen, eine
Politik, die wahrnimmt, dass sich die Arbeitslosigkeit in
Europa auf höchstem Stand festgefressen hat. Eine solche
Politik muss den Dialog mit den Initiativen pflegen und
aufnehmen, was ATTAC, die Euromarschbewegung und
die Arbeitslosenbewegung Europas in die politische Debatte eingebracht haben. Eine solche Politik hat die rotgrüne Bundesregierung aber aus den Augen verloren.
Wir glauben, dass die Aufgabe der Linken in Europa
darin bestehen muss, das aufzugreifen, was auf den DeBundesminister Joseph Fischer
monstrationen in Barcelona am Rande des Gipfels deutlich gemacht wurde, dass Europa weiterentwickelt werden muss und dass es gelingen muss, Europa wieder die
Chance zu geben, politische Probleme zu lösen. Wir müssen deshalb weg von einem Europa der Regierungen, in
dem sich Ministerpräsidenten und Staatschefs einschließen. Wir brauchen eine Parlamentarisierung Europas. Demokratisch gewählte Parlamente müssen darüber entscheiden, wie sich Europa entwickelt. Deshalb darf es
nicht mehr angehen, dass eine Entscheidung, die in Europa getroffen wird, ohne Zustimmung des Europäischen
Parlamentes gefasst wird.
Es muss erreicht werden, dass in Europa die Grundrechte durch die einzelnen Bürgerinnen und Bürger in
Europa über europäische Gerichte einklagbar sind. Deshalb dürfen die Grundrechte in Europa nicht mehr in soziale und bürgerliche Grundrechte getrennt werden.
Wir glauben auch, dass eine Reform des Rates in Europa dazu führen muss, dass sich Regierungschefs nicht
mehr in Geheimsitzungen einschließen und nicht öffentlich darüber reden, wie sich beispielsweise Gesetze oder
legislative Funktionen in Europa entwickeln. Daher muss
die grundsätzliche Öffentlichkeit von Räten durchgesetzt
werden, bei denen es um den legislativen Charakter, um
Gesetze geht.
Die Lissaboner Strategie - das, was in Europa bewertet werden sollte - war vor einigen Jahren der Versuch,
den sozialdemokratische Regierungen gestartet haben,
um gemeinsam ein anderes Europa zu errichten. Es ging
um ein Europa, das deutlich machen sollte, dass es kein
Diktat der Geldpolitik durch eine abgehobene Europäische Zentralbank geben darf, sondern vielmehr das, was
beispielsweise Oskar Lafontaine in seinem Credo der Repolitisierung der Geldpolitik
({2})
und des verstärkten makroökonomischen Dialogs oder
beispielsweise die französische sozialistische Partei mit
der Forderung nach der Schaffung einer europäischen
Wirtschaftsregierung als Gegenmaßnahme gegen die rein
monetaristisch orientierte Europäische Zentralbank gefordert hatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Weg ist leider
gescheitert, und zwar nicht, weil sich die lafontainesche
Politik durchsetzen konnte, sondern weil sie innerhalb der
Sozialdemokratie bzw. der sozialdemokratischen Parteien
Europas beendet wurde und stattdessen der so genannte
Dritte Weg à la Schröder und Blair eingeschlagen wurde.
Dieser Weg hat aber völlig andere Grundsätze - nämlich
neoliberale Grundsätze im Rahmen einer europäischen
Strategie - durchgesetzt. Die Kernbotschaft der heutigen
sozialdemokratischen Parteien lautet nicht mehr, die Vollbeschäftigung dadurch voranzubringen, dass den Menschen geholfen wird, sondern dem einzelnen Arbeitslosen
Schuld zuzuweisen und zu behaupten, der einzelne Arbeitslose müsse aktiviert werden und sich darum kümmern, dass die vielen Arbeitsplätze, die angeblich auf der
Straße liegen, durch ihn wahrgenommen werden. Eine
solche Politik ist aber zum Scheitern verurteilt.
Der so genannte Dritte Weg, den Sie zur europäischen
Politik gemacht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Sozialdemokratie und den Grünen, ist nach unserer Überzeugung einer der Gründe, warum sich neoliberale Politik in immer mehr Nationalstaaten Europas wieder durchsetzt. Wir erleben zurzeit in Europa, dass eine
sozialdemokratische Regierung nach der anderen abgewählt wird. Europa wird wieder rechts - angefangen in Österreich bis derzeit in Portugal -, weil Sie die Grundlage
dafür gelegt haben, dass neoliberale Ansätze in der aktuellen nationalen Politik wieder eine Rolle spielen, rechtspopulistische Kräfte zugespitzter als Sie wieder neoliberale Politikansätze durchsetzen und dadurch Europa die
Chance, die das so genannte sozialdemokratische Jahrhundert hätte bieten können, schlichtweg versäumt hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir von der
PDS fordern Sie auf: Kommen Sie zu einer Politik des
Dialogs zurück! Nehmen Sie wahr, dass Gewerkschaften
und Sozialverbände bzw. eine halbe Million Menschen,
die auf die Straße gehen, dies nicht tun, weil sie gegen Europa sind, sondern weil sie gemeinsam ein soziales und
ökologisches Europa, ein Europa für die Menschen durchsetzen wollen, das deutlich macht: Europäische Politik
begreift sich als Gegenpolitik zu der Fiskalpolitik und der
monetaristischen Politik, die die Interessen der Menschen
vergessen. Setzen Sie sich dafür ein, dass Gewerkschaften und Sozialverbände in Europa wieder ein Sprachrohr
haben!
Danke schön.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Bevor ich mit meinen Ausführungen zum
Gipfel in Barcelona beginne, erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung zu den Äußerungen von Herrn Merz.
Herr Merz, sagen Sie das, was Sie hier zum Thema
Philipp Holzmann gesagt haben, auch einmal auf einer
Betriebsversammlung den Kolleginnen und Kollegen bei
Philipp Holzmann ins Gesicht, nämlich dass Sie keinerlei
Ambitionen zeigen, ihnen zu helfen, ihre Arbeitsplätze zu
erhalten. Was die Kolleginnen und Kollegen von dieser
Art von CDU-Wirtschaftspolitik halten, möchte ich erleben. Diesen Zynismus, den Sie hier an den Tag gelegt haben, müssen die Leute live erleben.
({0})
Auch wenn ich sehe, dass meine Worte die Opposition
wohl richtig getroffen haben, möchte ich gerne auf die
Bilanz des Gipfels in Barcelona zurückkommen. Meine
Damen und Herren, natürlich war Barcelona nicht der
Gipfel der weltweit bedeutenden Entscheidungen, aber es
war ein Arbeitsgipfel, der die Europäische Union in vielen
Punkten ein Stück vorangebracht hat, auch wenn Sie das in
der Diskussion gerne unter den Tisch fallen lassen wollen.
Bei diesem Gipfel ist deutlich geworden, dass die
Europäer bereit sind und auch weiterhin dafür arbeiten wollen, das Ziel, zum „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ zu werden, nicht aus den Augen
zu verlieren. Dabei unterscheidet uns - ich betone dies, weil
es bisher noch nicht erwähnt wurde - von anderen ökonomischen Modellen, dass wir Europäer diesen Prozess sozial
und ökologisch flankieren wollen. Das unterscheidet das
Modell Europa von einem kalten Neokapitalismus.
({1})
Die entscheidende Botschaft von Barcelona ist, dass
die EU zuversichtlich sein kann, weil die Konjunktur
wieder anspringt, und im Rahmen ihrer Zielsetzung alles
tun wird, um die Konjunktur noch stärker zu beleben.
Meine Damen und Herren von der Opposition, lassen Sie
sich von diesem Optimismus und dieser Tatkraft in Europa anstecken, anstatt den Wirtschaftsstandort Deutschland weiter mies zu reden.
({2})
Es ist schon viel zur Liberalisierung der Energiemärkte gesagt worden. Ich halte es für einen Erfolg,
dass nun auch in Frankreich 60 Prozent des Marktes
geöffnet wurden. Sicherlich hätten wir uns noch mehr gewünscht; aber an dieser Stelle war eben nur ein Kompromiss möglich. Hätten wir Deutschen nämlich darauf beharrt, die Position Frankreichs zu schwächen, hätten
diejenigen, die uns jetzt vorwerfen, wir seien in der Liberalisierung nicht weit genug gekommen, vorgeworfen,
dass wir das deutsch-französische Verhältnis belastet hätten. Man kann mit diesem Thema nicht so beliebig umgehen, wie Sie es tun, meine Damen und Herren von der Opposition.
({3})
Lassen Sie mich noch etwas zu der Liberalisierung des
Energiemarktes sagen: In meinem Wahlkreis finden sich
Braunkohlentagebaue und -kraftwerke von RWE Rheinbraun. Sie sollten sich einmal anhören, was von den
Managern in den obersten Etagen bis hinunter zu den Kolleginnen und Kollegen von den strukturpolitischen Entscheidungen gehalten wird, die noch unter der Ägide der
alten Regierung getroffen worden sind und die eine Ungleichzeitigkeit bei der Öffnung der Energiemärkte auf
europäischer Ebene erst möglich gemacht haben, die
letztlich auf dem Rücken deutscher Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer ausgetragen worden ist. Für diese Politik, die wir jetzt zurechtrücken müssen, hat man Ihnen
eine sehr schlechte Note verpasst. Das sollten Sie sich lieber anhören; aber offensichtlich haben Sie auch hier den
Kontakt zur wirtschaftlichen Basis verloren.
({4})
Meine Damen und Herren, angesichts der gegebenen
Möglichkeiten der konjunkturellen Erholung müssen wir
beherzt zugreifen und diesen Prozess unterstützen. Hierzu
hat der Rat von Barcelona die richtigen Signale ausgesandt. Der Europäische Rat hat gefordert, die Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf
3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Wegen
des Rückgangs der Forschungspolitik in den letzten Jahren der Regierungszeit von Helmut Kohl sollten Sie eigentlich Tränen der Dankbarkeit in den Augen haben, dass
in Europa jetzt das gemacht wird, was Sie jahrelang in der
nationalen Politik versäumt haben.
({5})
- Ich glaube, dass Ihnen das wehtut. Die Wahrheit tut eben
manchmal weh.
Ich komme noch einmal auf das Projekt „Galileo“ zu
sprechen: Auch dieses Projekt hat in eindrucksvoller
Weise gezeigt, dass Europa nicht nur bereit, sondern auch
in der Lage ist, sich im Hinblick auf die forschungspolitische Strategie neu zu positionieren. Es ist gelungen, Weltraumforschung mit anwendungsorientierter Forschung zu
kombinieren und die Weichen für die Bildung eines eigenständigen europäischen Forschungs- und EntwicklungsKnow-Hows gerade in diesem wichtigen Zukunftsbereich
zu stellen. An dieser Stelle lobe ich die Bundesregierung
ausdrücklich, die im Hintergrund immer zu denen gehört
hat, die eine solche Entwicklung möglich gemacht haben.
({6})
Im Telekommunikationsbereich wurden die Entscheidungen getroffen - ich denke hier an die Verfügbarkeit
und den weiteren Ausbau von Breitbandnetzen -, die
notwendig sind, um den technologischen Fortschritt in
Europa in einen ökonomischen Fortschritt umzusetzen.
Auch hier wurde Wichtiges auf den Weg gebracht, wenn
auch nur in kleinen Schritten. Aber diese kleinen Schritte
zeigen nach vorn und das sollten Sie würdigen.
Der Prozess hin zu einer leistungsfähigen Ökonomie in
Europa darf - ich sagte dies eingangs bereits - nicht auf
dem Rücken von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
oder der Umwelt ausgetragen werden.
({7})
Deshalb möchte ich an dieser Stelle sagen, dass die Entscheidungen des Europäischen Rates, auch in der Sozialpolitik den Prozess von Luxemburg zu straffen, das Ziel
der Vollbeschäftigung nicht aus den Augen zu verlieren
und die Förderung des Dialogs der Sozialpartner in den
Mittelpunkt der europäischen Sozialpolitik zu stellen, damit es präventive Maßnahmen gibt, die den Strukturwandel sozialverträglich gestalten, ein Signal dafür ist,
dass man den Strukturwandel in Europa mit den Menschen und nicht auf ihrem Rücken gestalten will. Auch
das sollte als positives Signal des Gipfels von Barcelona
herausgestellt werden.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zu der ökologischen Flankierung sagen. Dass in Weiterentwicklung der Ergebnisse des Gipfels von Göteborg nun auch in Barcelona
klar festgelegt wurde, dass die Integration von Umweltaspekten in alle Politikbereiche der EU weiter voranschreiten und stärker institutionalisiert werden müsse, zeigt,
dass ökonomische Entwicklung auch mit ökologischer
Entwicklung und mit nachhaltigen Strategien einhergehen muss. Das ist ein Novum in der europäischen Politik.
Das ist in dieser Klarheit noch nie formuliert worden. Ich
kann die Bundesregierung nur auffordern - sie gehört zu
den Antriebskräften dieses Prozesses -, in ihrem Bemühen um die ökologische Orientierung hin zu einer
nachhaltigen EU-Politik nicht nachzulassen.
({9})
Ich sehe es als Erfolg gerade der deutschen EU-Politik
an, dass wirtschaftliche, soziale und ökologische Erwägungen - das kann in den Schlussfolgerungen wörtlich
nachgelesen werden - im Rahmen politischer Entscheidungen die gleiche Beachtung finden müssen. Ich
denke, das ist eine klare Aussage. Dieser Gleichklang von
ökonomischer, sozialer und ökologischer Entwicklung
- er ist so erstmals in den Schlussfolgerungen schriftlich
fixiert - ist auch ein Verdienst der sozial und ökologisch
orientierten Politik der Bundesrepublik Deutschland.
({10})
Lassen Sie mich noch einmal auf die Ausführungen
von Herrn Merz zurückkommen. Er hat behauptet, dass
wir eine egoistische Industriepolitik machten. Ich sage
Ihnen, Herr Merz: Wer wie Sie in Ihrer Regierungszeit als
einzigen Beleg für seine industriepolitische Kompetenz
nur die Zerstörung der industriepolitischen Kerne in den
neuen Ländern nach der Wiedervereinigung vorzuweisen
hat, der braucht uns keine Vorschriften zu machen, wie Industriepolitik zu gestalten ist. Sie müssten erst einmal in
sich gehen und darüber nachdenken, was Sie in unserem
Land industriepolitisch angerichtet haben.
({11})
Herr Merz, Sie haben zwar Recht, wenn Sie auf die in
vielen strukturpolitischen Bereichen grassierende „deutsche Krankheit“ hinweisen, die auch - das leugnet ja niemand - von der EU-Kommission kritisiert wird. Aber Sie
machen es sich wirklich sehr einfach, wenn Sie behaupten, dass derjenige, der seit fast vier Jahren versucht, diese
Krankheit zu kurieren, auch der Verursacher dieser
Krankheit sei. Diese Logik kauft Ihnen niemand ab.
({12})
Wenn Sie das, was wir gemacht haben, mit dem vergleichen, was in den letzten vier Jahren der Kohl-Regierung
geschehen ist, dann werden Sie feststellen: Eine große
Steuerreform, die diesen Namen tatsächlich verdient, eine
große Rentenreform, die Senkung der Lohnnebenkosten
sowie mehr Geld für Investitionen in Forschung und Bildung haben Sie nicht vorweisen können. Aber die jetzige
Regierung kann das alles in die Bilanz ihrer letzten vier
Jahre einstellen. Das ist auch im Sinne der Kriterien, die
die Europäische Union aufgestellt hat.
({13})
Abschließend sage ich: Ihre Ausführungen, insbesondere - das war für mich bezeichnend - das lange Zitat von
Helmut Kohl am Ende Ihrer Rede, zeigen, dass Sie noch
immer in der Vergangenheit leben. Wir aber machen jetzt
Politik für die Zukunft und für die Menschen. Das wird
auch in den nächsten Monaten deutlich werden. Sie haben
an keiner Stelle Ihrer Rede konstruktive Vorschläge oder
Visionen vorgetragen. Solche scheinen Sie nicht zu haben. Mit kleinkariertem Herumgemäkel können Sie bei
den Menschen kein Profil gewinnen, erst recht nicht in
Europa.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort
hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die Meldung des heutigen
Tages ist ohne Frage die Aussage des Bundeskanzlers - er
ist inzwischen nicht mehr anwesend -, dass er in der Europapolitik die innere Organisation der Bundesregierung
- das bestätigt uns - für falsch halte.
({0})
Das war eine schallende Ohrfeige für unseren Bundesaußenminister.
({1})
Ich finde es erstaunlich, dass der Bundesaußenminister in
seiner Rede mit keinem Wort Stellung dazu genommen hat.
({2})
Im Übrigen: Der Bundesaußenminister hat hier eben
am Pult ohnehin schon wie ein Oppositionspolitiker gesprochen.
({3})
Er läuft sich bereits ein bisschen für die Rolle warm, die
er nach dem 22. September in diesem Haus wahrnehmen
will.
({4})
Polemik, ziemlich weit entfernt vom Sachverhalt, ist, wie
wir wissen, seine Stärke.
({5})
Nun will ich zu dieser europapolitischen Frage doch
ein Wort sagen. Eines, Herr Fischer, bescheinige ich
Ihnen gern: Der Vorschlag des Bundeskanzlers löst in mir
unterschiedliche Gefühle aus.
({6})
Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, dass die eigentliche Europapolitik bei Ihnen, Herr Fischer, sogar etwas besser aufgehoben ist als bei Herrn Schröder,
({7})
der jetzt wieder in seine alte Rolle als niedersächsischer
Ministerpräsident zurückfällt, in der er schon gegen Europa polemisiert hat. Was das Anliegen und auch was die
Beamten angeht, so habe ich das Gefühl: Im Auswärtigen
Amt hat man ein Herz für die Europapolitik.
({8})
Auf der anderen Seite natürlich kommt der Bundeskanzler mit seinem Vorschlag einem Gedanken nach, den
der Deutsche Bundestag, übrigens durch Änderung des
Grundgesetzes, schon vor Jahren umgesetzt hat. Die Trennung zwischen der Außenpolitik und der Europapolitik
hat der Bundestag auch in der Organisation der parlamentarischen Arbeit durch Einführung des Europaausschusses
deutlich gemacht. Insofern hinkt die Regierung dem Bundestag hinterher, wenn sie erst jetzt erkennt: Europapolitik ist etwas anderes als Außenpolitik.
({9})
Natürlich geht es in der Europapolitik im Wesentlichen
um die Fragen der Innenpolitik, der Wirtschaftspolitik
und der Finanzpolitik, also um Fragen, die in der Bundesregierung logischerweise nicht das Auswärtige Amt
koordiniert;
({10})
für diese Koordination ist der Kanzler höchstpersönlich
verantwortlich. Uns macht allerdings Sorge, wie der Bundeskanzler diese Verantwortung im Moment wahrnimmt.
Wodurch zeichnet er sich da aus? Er zeichnet sich dadurch
aus, dass er in der Europapolitik in nationalstaatlichen
Egoismus zurückfällt. Seine wesentlichen Initiativen in
den letzten Wochen und Monaten waren Angriffe gegen
die Kommission, und zwar gegen den Wettbewerbskommissar, gegen den Binnenmarktkommissar und gegen den
Währungskommissar. Diese drei Kommissare - Monti,
Bolkestein und Solbes - tragen für das Funktionieren des
Binnenmarkts die Verantwortung. Deutschland müsste
das allergrößte Interesse daran haben, dass diese Kommissare in Schutz genommen, in ihrer Aufgabe unterstützt
und nicht daran gehindert werden, einen Binnenmarkt mit
fairen Wettbewerbsbedingungen aufrechtzuerhalten.
({11})
Heute Morgen ist der Fall Philipp Holzmann angesprochen worden. Da muss man einmal eine klare und
nüchterne Unterscheidung treffen. Natürlich verstehen wir
jeden Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin, der oder die
Sorge um den Arbeitsplatz hat und den Wunsch hat, dass
der Arbeitsplatz erhalten bleibt, wie auch immer. Unser
Vorwurf ist, dass die Politik dieser Regierung eher zur Zerstörung von Arbeitsplätzen als zu ihrem Erhalt führt.
({12})
Dabei ist nicht nur der Versuch gescheitert, Arbeitsplätze
bei einem Großunternehmen zulasten von mittelständischen Unternehmen zu erhalten.
({13})
Die Kanzleraktion „Philipp Holzmann“ war sogar so ungelenk angelegt, dass Arbeitsplätze sowohl im Mittelstand als auch bei Holzmann selbst gefährdet wurden. Das
ist eine total verfehlte Politik.
({14})
Wenn der Bundeskanzler sagt, es müsse jetzt Industriepolitik gemacht werden und man dürfe sich nicht an
ordnungspolitischen Leitlinien orientieren,
({15})
dann muss ich fragen: Was für eine Politik sichert eigentlich eine industrielle Entwicklung in Europa? Was für eine
Politik sichert Arbeitsplätze? Die Antwort lautet: nur eine
Politik, die gegen die ordnungspolitischen Leitsätze der
sozialen Marktwirtschaft nicht so krass verstößt, wie das
bei der Politik der rot-grünen Regierung dauerhaft der
Fall ist.
Ich möchte gern einen weiteren Punkt ansprechen. Wir
stehen vor der Osterweiterung der Europäischen
Union. Das ist eine große Herausforderung, eine ökonomische, eine politische und auch eine moralische Herausforderung, der wir uns stellen werden. Nun hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán vor kurzem darauf
hingewiesen, dass sich eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit einem Ja zu Vertreibungsdekreten nicht
verträgt.
({16})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wünschen von ganzem Herzen den Beitritt
Tschechiens zur Europäischen Union. Wir wissen um die
Rolle der tschechischen Bevölkerung im Freiheitskampf
gegen den Kommunismus. Deshalb empfinden wir den
Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union als einen
großen Gewinn.
({17})
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sagen: Unrecht muss Unrecht genannt werden dürfen. Die BenesDekrete verstoßen gegen allgemein gültige Menschenrechtsstandards. Wenn der frühere tschechische Premier
Klaus und der jetzige Ministerpräsident Zeman diesen unseligen Dekreten noch irgendeine Wirkung zusprechen
oder sie sogar in den europäischen Verträgen zu verankern
suchen, dann müssen wir hier ein entschiedenes und klares Nein im Sinne der Menschenrechte sprechen.
({18})
Ich finde es sehr gut, dass der Vorsitzende des Europaausschusses, unser Kollege Pflüger, beim Deutschen Bundestag ein Gutachten in Auftrag gegeben hat, das prüfen
soll, ob von den Benes-Dekreten heute und in Zukunft
noch eine diskriminierende Wirkung ausgeht. Eines muss
man klar sagen: Wenn dieses Gutachten zu dem Ergebnis
kommt, dass dem so ist, dann müssen diese Dekrete aus
der Welt geschafft werden; denn Europa ist eine Rechtsund Wertegemeinschaft. Wir fühlen uns den Menschenrechten verpflichtet. Das gilt auch für diese Frage.
({19})
Ein weiterer Punkt, der hier eben vom Außenminister
und auch vom Kanzler angesprochen wurde, ist die Landwirtschaftspolitik in Europa. Diese möchte ich hier zum
Schluss noch ansprechen. Es ist richtig, wenn die Regierung sagt, dass wir eine Reform der gemeinsamen Agrarpolitik benötigen. Wir brauchen sie auch schon für die EU
der 15, aber erst recht brauchen wir sie in der EU der 25.
Nur, es kann nicht angehen - das wäre unfair -, dass die
Reform der gemeinsamen Agrarpolitik allein auf dem
Rücken der neu hinzukommenden Mitgliedsländer der
Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa ausgetragen wird. Das dürfen wir nicht zulassen.
({20})
- Ich bin dem Bundesaußenminister dankbar dafür, dass er
„Richtig!“ sagt. Aber er soll bitte einmal hierüber auch mit
seinem Finanzminister sprechen. Das eine Extrem vertritt
ja der polnische Landwirtschaftsminister, indem er fordert,
die osteuropäischen Bauern müssten sofort voll an den direkten Einkommensbeihilfen beteiligt werden. Demgegenüber steht das Wort des deutschen Finanzministers,
dass in den nächsten Jahren überhaupt nichts passieren
soll. Das ist das andere Extrem.
Im Kommissionsvorschlag, der im Europaausschuss
von Bundestag und Bundesrat von Frau Schreyer und
Herrn Verheugen sehr plausibel begründet wurde, heißt
es: Der faire Umgang miteinander gebietet eine gewisse
Beteiligung auch an diesen Hilfen, weil sonst diejenigen,
die neu hinzukommen, sich zu Recht fragen, was das für
eine Europäische Union ist, die die Agrarreform allein auf
ihrem Rücken austragen will. Der Vorschlag der Europäischen Union findet unsere Unterstützung. Die Hartleibigkeit unseres Finanzministers mag sich in populistischer Hinsicht gut auswirken, ruft aber unseren Widerspruch hervor.
Herr Kollege Hintze,
jetzt muss ich Sie leider abbremsen.
({0})
Wir wollen die Europäische Union gemeinsam bauen. Daran müssen auch die
Staaten, deren Aufnahme wir als Gewinn empfinden, beteiligt werden. Wenn sie zu uns kommen, sollen sie auch
spüren, dass sie dazugehören.
Herzlichen Dank.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Christian Sterzing für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das war jetzt nicht nur ein interessanter Einblick in den Gefühlshaushalt eines Pfarrers, sondern auch
ein interessanter Einblick in den Argumentationshaushalt
der Opposition.
({0})
Heute Morgen hatten wir eine Unterredung über die Erweiterung. Da wurde der Vorschlag der Kommission aus
Ihren Reihen, Herr Hintze, als kapitaler strategischer Fehler bezeichnet.
({1})
Dem Ausmaß der Beliebigkeit der Argumente steht man
manchmal hilflos gegenüber. Das überrascht wirklich.
({2})
- Ja, das ist die neue Unübersichtlichkeit bei der Opposition.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns alle, wie
ich glaube, darüber einig - das klang ja doch in vielen Reden an -, dass Barcelona kein großes geschichtliches
Ereignis ist. Es gab keine spektakulären Beschlüsse. Die
Ehrlichkeit gebietet aber doch, differenziert mit dem umzugehen, über was in Barcelona verhandelt und was beschlossen worden ist. Wenn man sich das genauer anschaut, dann stellt man fest, dass dort sozusagen die
integrationspolitische Kärrnerarbeit geleistet wurde.
Diese Arbeit ist mühsam und kleinteilig. Es handelt sich
dabei nicht nur um den schwierigen Ausgleich sich widersprechender nationaler Interessen, sondern auch um
den Versuch, Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund sehr
unterschiedlicher rechtlicher, sozialer und ökonomischer
Traditionen zu finden. Insofern kann sich das, was in
Barcelona beschlossen worden ist, sehen lassen.
Ich weiß nicht, woher der Vorwurf mangelnder Zukunftsorientierung, mangelnder Dynamik und mangelnder Offenheit kommt. Man muss die Frage stellen, wer
sich in der Zeit vor und während der Verhandlungen in
Barcelona für die Öffnung der Strom- und Gasmärkte in
Europa eingesetzt hat. - Das war doch die Bundesregierung. Wer hat die Überlegungen hinsichtlich einer Ratsreform angestellt? - Auch das war die Bundesregierung,
insbesondere der Bundeskanzler durch ein Schreiben, das
er gemeinsam mit Herrn Blair verfasst hat. Mit den
europapolitischen Halbwahrheiten, die Sie hier zum Teil
geäußert haben, dient man weder der Sache noch wird
man der Komplexität der Probleme gerecht.
Die Lissabon-Strategie stand im Mittelpunkt der Beratungen. Ich glaube, es ist richtig, dass wir uns in Europa
nicht nur zusammensetzen sollten, um hehre Ziele zu formulieren. Wir sollten vielmehr in regelmäßigen Abständen selbstkritisch überprüfen, ob wir auf dem richtigen
Weg sind und ob wir auf nationaler Ebene das Richtige
getan haben. Mit der kritischen Auseinandersetzung über
den Lissabon-Prozess wurden in Barcelona insofern
wichtige Signale gesetzt. Es geht wirklich um die zentrale
Botschaft, dass die Europäische Union im Zeitalter der
Globalisierung alles tun will und auch alles tut, um den
Strukturwandel sozial und ökologisch zu gestalten.
Ich will das Augenmerk auf einen Aspekt richten, der
nur am Rande erwähnt wurde, nämlich auf die Tatsache,
dass in Barcelona 28 Staats- und Regierungschefs, also
die Vertreter der 15 Mitgliedstaaten mit den 13 Beitrittsländern, zusammensaßen. Es ging bei den Beratungen nicht um Beitrittsprobleme oder um die Formulierung
von Kompromissen im Beitrittsprozess. Vielmehr hat das
Europa der 28 über die Gestaltung des wirtschaftlichen
und sozialen Zukunftsprozesses gemeinsam diskutiert.
Zum ersten Mal war es eine Selbstverständlichkeit, dass
alle 28 beieinander saßen. Auch dies ist ein ganz wichtiges
Signal, das in die Beitrittsländer ausgesandt wurde: Wir
rechnen mit euch, wir rechnen mit eurem Beitritt und wir
wollen mit euch gemeinsam auch schon vor dem Beitritt
die anstehenden Zukunftsprobleme diskutieren.
({3})
Die Auseinandersetzung über die Öffnung der Gasund Strommärkte war ein Hauptthema, das besonders in
den Medien seinen Niederschlag gefunden hat. Wir alle
hätten uns - das können wir gemeinsam feststellen - mehr
gewünscht. Die Öffnung der Märkte ist ein zähflüssiger
Prozess, der leider nicht so schnell vorangeht, wie wir es
uns erhofft haben. Wir müssen uns jetzt aber nicht nur mit
unseren Partnern kritisch auseinander setzen und den
Zeigefinger auf den einen oder anderen richten, sondern
auch deutlich machen, dass wir selbst uns kritisch mit den
Verhältnissen bei uns im Hinblick auf diese Marktöffnung
auseinander setzen müssen.
({4})
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Selbstkritik
durchaus angebracht ist. In unseren Papieren ist immer von
der hundertprozentigen Liberalisierung unserer Märkte
die Rede. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen
werden, dass das mit dem Wettbewerb nicht in allen Bereichen so glasklar ist, dass wir Probleme der Marktbeherrschung haben und dass wir uns mit Problemen
möglicher Fusionen auseinander setzen müssen.
({5})
Wir müssen sicherlich klar machen - auch das wurde
erwähnt -: Marktöffnung ist keine Einbahnstraße. Es geht
nicht, dass mit den Monopolgewinnen auf dem einen nationalen Markt Einkaufspolitik auf anderen liberalisierten
nationalen Märkten betrieben wird. Das ist von der Bundesregierung heute sehr deutlich gemacht worden, sodass
daran kein Zweifel bestehen kann.
Barcelona hat gezeigt, dass der mühsame Weg der Integration in vielen Bereichen schrittweise gegangen werden muss. Der Europäische Rat hat aber auch gezeigt,
dass Barcelona in einen sehr grundsätzlichen Reformprozess eingebettet ist, der mit dem Stichwort Konvent
richtig umschrieben ist.
Herr Kollege Sterzing,
auch Sie muss ich leider an die Redezeit erinnern.
Ja. - In diesen Tagen wird deutlich, dass die mühsame integrationspolitische Alltagsarbeit gemacht wird, aber die
darüber hinaus bestehende grundsätzliche Reformnotwendigkeit und -bereitschaft innerhalb der EU im Konvent, der heute tagt, ihren Ausdruck findet. Insofern können wir sagen, dass wir uns auf dem richtigen Weg
befinden.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort
erteile, muss ich von hier oben leider etwas Unangenehmes erledigen. Aus dem stenografischen Protokoll geht
hervor, dass der Kollege Rezzo Schlauch einen Zwischenruf gemacht hat, der nicht den Gepflogenheiten des
Hohen Hauses entspricht.
({0})
- Ich möchte ihn nicht wiederholen. Sie können das im
Protokoll nachlesen. Aber es ist nicht üblich - das wissen
Sie alle -, Mitglieder des Bundestages oder andere Kolleginnen und Kollegen aus der Politik persönlich zu diffamieren. Deshalb weise ich diesen Zwischenruf hiermit
zurück.
({1})
Jetzt fahren wir in der Aussprache fort. Das Wort hat
der Kollege Dr. Gerd Müller für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Matt - das ist das Problem - ist nicht
nur der Kanzler, sondern sind auch seine Politik und
insbesondere seine Wirtschaftspolitik. „Der müde Kanzler“, so titelte die „Süddeutsche Zeitung“.
({0})
Das kann man auch für die Vorstellung heute früh übernehmen.
({1})
Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum entwickeln
und dem Vollbeschäftigungsziel näher kommen, das waren die großen Versprechungen. Herausgekommen ist nahezu nichts.
({2})
Der Aufschwung in Europa wird kommen, aber er geht
an Deutschland vorbei und das liegt an dieser Bundesregierung.
({3})
Wir sind Wachstumsschlusslicht in Europa und das liegt
an dieser Bundesregierung.
({4})
Deutschland steht am Scheideweg: weiterer Abstieg mit
Schröder oder ein neuer Aufbruch.
Wenn die Zuhörerinnen und Zuhörer, die wirklich an
der Sache interessiert sind, heute die Rede des Bundeskanzlers verfolgt haben, dann müssen sie doch denken:
Unsere Menschen, unsere Unternehmer, unsere Jugend,
wollen nicht Schlusslicht sein; nein, wir wollen nach
vorne kommen, wir wollen wieder Spitze sein in Europa!
({5})
Die Menschen fragen sich doch: Wo sind die Konzepte,
wo sind die Reformvorschläge, wo sind die Visionen dieser müden Bundesregierung? Ich habe einen müden
Kanzler gesehen, der bereits weg ist.
({6})
Ich habe einen grauen Außenminister gesehen und ich
sehe eine kraftlose Regierungsbank.
({7})
Wo sind die Vorschläge? fragen die Menschen. Wenn
es Vorschläge gibt,
({8})
zur Deregulierung des Arbeitsmarktes, zur Entlastung des
Mittelstandes, zur Vereinfachung des Steuerrechts,
({9})
zum Abbau der Bürokratie, zum Umbau der Sozialsysteme, können wir uns sachlich darüber auseinander
setzen.
({10})
Es klingt doch wie Hohn. Wenn Sie heute die „Welt“ lesen,
({11})
sehen Sie, dass Bundeskanzler Schröder mit dem Ausspruch zitiert wird: „Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland sind so gut wie lange
nicht mehr.“ Das ist wie das Märchen vom Sandmann: Er
verstreut Sand und setzt darauf, dass seine Sprüche das
Volk einschläfern. Aber wir sind hellwach.
({12})
Friedrich Merz hat die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die der Kanzler „gut“ nennt, sehr präzise beschrieben.
({13})
Wie sind die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland? - Wir sind Schlusslicht beim Wachstum und Nummer zehn bei der Arbeitslosigkeit. Seit Ihrer
Wahl gab es 330 776 neue Arbeitslose. Wie müsste der
Satz des Kanzlers demnach lauten? - Wir haben es nicht
verdient, wiedergewählt zu werden.
({14})
Deutschland ist bei den Pleiten nicht Schlusslicht, sondern Spitze. Ihre Politik hat 36 000 Mittelständler die
Existenz gekostet. Chefsache Schröder: Jetzt ist nicht nur
der Mittelstand, sondern auch Holzmann pleite.
({15})
Wir sind außerdem Spitze bei der Steuer- und Abgabenbelastung. Bei der Preisentwicklung und -stabilität ist Italien unser Vorbild. Das ist so, als wenn sich Borussia
Dortmund als Vorbild die Spielvereinigung Unterhaching
nehmen würde.
({16})
Sie können sich doch nicht mit Italien messen!
Ich möchte noch eine Bemerkung zur Finanzpolitik
machen. Kohl und Waigel haben mit einer Defizitquote
von 2,2 Prozent die Regierung übergeben.
({17})
Jetzt liegt die Quote bei 2,7 Prozent. Die Bundesschuld
von Finanzminister Eichel liegt im Jahr 2002 um 40 Milliarden höher als vor vier Jahren. Das sind die Fakten.
({18})
So sehen die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus, die der Kanzler Schröder heute als „so gut
wie nie zuvor“ beschreibt, obwohl man die Lage als mittelmäßig beurteilen müsste. Er erinnert mich an einen
Schüler, der aus einer Vier eine Eins machen will. Ich sage
Ihnen voraus: Dieser Kanzler wird von einer Vier auf eine
Sechs abrutschen. Der blaue Brief wird seine Entlassungsurkunde sein.
Herr Kollege Müller,
ich muss jetzt Lehrerin spielen und Sie an Ihre Redezeit
erinnern.
Mit dem Stichwort Entlassungsurkunde komme ich zum Schluss.
({0})
- Lassen Sie mich noch einen Satz sagen, meine Damen
und Herren von den Regierungsfraktionen.
Das muss aber ein
kurzer Satz sein.
Der größte Innovationssprung für ein modernes Europa könnte die Abwahl
dieser Regierung am 22. September sein.
Danke schön.
({0})
Als letztem Redner in
dieser Debatte gebe ich dem Kollegen Christoph
Moosbauer für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Abgeordneter aus München muss ich zunächst die Spielvereinigung Unterhaching in Schutz nehmen.
({0})
Die Spielvereinigung Unterhaching ist keine Provinzmannschaft und taugt daher nicht für diesen Vergleich.
Dieser Verein ist vielmehr ein Beispiel dafür, wie man mit
viel Engagement, Kampfgeist und Arbeit an die Spitze
kommt.
({1})
Ich bin natürlich versucht, vieles zu kommentieren,
was in der Debatte angesprochen worden ist. Aber ich bin
von meiner Fraktion gebeten worden, vor allen Dingen
auf die Außenpolitik Bezug zu nehmen, was ich natürlich
gerne tue.
Im Vordergrund der außenpolitischen Debatte beim europäischen Gipfeltreffen in Barcelona - der Kanzler hat
dies schon erwähnt - stand die fortdauernde Krise im Nahen Osten. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bezogen in einer Erklärung mit erstaunlich
deutlichen Worten Stellung zur Lage im Nahen Osten, vor
allen Dingen, was das Vorgehen der israelischen Regierung angeht.
Das Recht, den Terrorismus zu bekämpfen, ist unbestritten. Aber die Staats- und Regierungschefs fordern
Israel auf, seine Streitkräfte unverzüglich aus den von der
palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierten Gebieten zurückzuziehen,
({2})
die Praxis der außergerichtlichen und präventiven Hinrichtungen zu beenden sowie den Siedlungsbau zu stoppen. Gleichzeitig wird die palästinensische Autonomiebehörde in die Pflicht genommen, alles in ihrer Macht
Stehende zu tun, um terroristische Aktivitäten zu stoppen.
({3})
Beide Seiten werden zur Einhaltung des Völkerrechts und
der Menschenrechte ermahnt. Man könnte meinen, dass
es eine Selbstverständlichkeit sei, diese einzuhalten. Aber
die Realität im Nahen Osten zeigt, dass es nach wie vor
notwendig ist, dies mit Nachdruck einzufordern.
Es ist nun eineinhalb Jahre her, dass der politische Prozess in dieser Nachbarregion Europas, der den Frieden
bringen sollte, kollabierte. Die Europäische Union und
ihre Mitglieder haben sich seitdem stärker und erfolgreicher als zuvor in der Nahostpolitik engagiert. Das ist vor
allem natürlich auch ein Verdienst des deutschen Außenministers.
({4})
Meine Damen und Herren, viele kritisieren - das ist
heute auch wiederholt angesprochen worden -, der europäische Einfluss auf den politischen Prozess im Nahen
Osten sei im Vergleich zum Einfluss der USA gering. Diesen Leuten muss gesagt werden, dass Nahostpolitik kein
Schönheitswettbewerb ist und dass es hier nicht um ein
Wettrennen um Friedensnobelpreise geht. Nicht in der
Konkurrenz zur amerikanischen Nahostdiplomatie, nein,
gerade in Ergänzung zur amerikanischen Diplomatie
macht eine europäische Stimme Sinn. Dass diese europäische Stimme in Barcelona noch einmal deutlich erhoben
wurde, das hat die Mission des US-Sonderbeauftragten
Zinni unterstützt. Denn im Ziel sind wir uns ja einig: Nur
wenn die USA, die Europäer, Russland und die Vereinten
Nationen geschlossen auftreten, wird ein bedeutender
Beitrag zur Lösung des Konflikts auch möglich sein. Das
Engagement Javier Solanas und des Nahostsonderbeauftragten Moratinos sollte daher nicht gering geschätzt werDr. Gerd Müller
den, schon gar nicht vom Deutschen Bundestag, der sich
hier im Plenum seit mehr als 16 Monaten nicht mehr mit
dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigt hat.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um eine solche Debatte hier im Bundestag nachdrücklich einzufordern.
({5})
Europäische Außenpolitik kann gelingen. Nichts zeigt
das deutlicher als die Verhinderung eines offenen Konflikts in Mazedonien oder die friedliche Einigung zwischen Serbien und Montenegro, die es in den letzten Tagen gab. Dass der neue Staatenbund, der dort entstanden
ist, in Belgrad ironisch Solanien genannt wird, sollte uns
nicht ärgern, sondern uns auch ein wenig stolz machen auf
die Fortschritte, die die gemeinsame europäische Außenpolitik in den letzten Jahren erreicht hat.
({6})
So wichtig die Konzentration unserer Außenpolitik auf
die unmittelbar an Europa angrenzende Region Südosteuropa sein mag, so entscheidend ist es, dass wir uns auch
engagiert um den Nahen Osten kümmern. Durch das
Schengener Abkommen ist Deutschland quasi ein Mittelmeeranrainerstaat geworden. Daher kann es uns politisch
nicht unberührt lassen, was im Nahen Osten vor sich geht.
Jede Eskalation militärischer Gewalt in dieser Region
wird in Zukunft Auswirkungen auf Europa und damit
auch auf Deutschland haben. Daher ist es wichtig, die europäische Stimme zu erheben.
({7})
Das gilt auch - das sage ich bewusst auch in diesem Zusammenhang mit Barcelona und der europäischen Außenpolitik - für die offenbar vor der Tür stehende neue IrakKrise. Obwohl gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass
das Thema eines militärischen Vorgehens gegen den Irak
nicht auf der Tagesordnung steht, wird erstaunlich viel darüber geredet. In Barcelona stand es auf der Tagesordnung, zwar nicht auf der offiziellen, aber, wie man hört,
hinter den Kulissen.
Auf die Gefahr hin, dass ich vonseiten der Opposition
- das geschieht ebenso gebetsmühlenartig - den Vorwurf
des Antiamerikanismus auf mich ziehe:
({8})
Europa muss in der Tradition der europäischen Außenpolitik hart daran arbeiten, dass es zu einer Lösung des IrakKonfliks mit diplomatischen Mitteln im Rahmen der Vereinten Nationen kommt.
({9})
Das ist natürlich leicht gesagt, aber schwer getan. Natürlich will auch ich nicht, dass ein Diktator wie Saddam
Hussein, der seine zynische Brutalität und Menschenverachtung sowohl in der Region als auch seinem eigenen
Volk gegenüber mehr als einmal gezeigt hat, in die Situation kommt zu entscheiden, wo, wann und gegen wen er
Massenvernichtungswaffen einsetzt. Ich weiß aber auch,
dass eine rein militärische Strategie, um dies zu verhindern, das Risiko einer regionalen Eskalation in sich trägt.
Diese Eskalation kann nicht nur die Region in einen Krieg
stürzen, sondern auch auf Europa ungeahnte Auswirkungen haben.
Lasst uns, lasst Europa daher die politische und die diplomatische Offensive in den Vordergrund stellen! Die
Stärke der europäischen Außenpolitik liegt im Dialog und
in der Prävention.
({10})
Wir haben in der europäischen Außenpolitik viel erreicht,
wenn wir berücksichtigen, dass es den erklärten Willen zu
einer abgestimmten und zu einer wirklich gemeinsamen
und mit einer Stimme sprechenden Außenpolitik in Europa ja erst seit wenigen Jahren gibt. Umso wichtiger ist
es, dass bei den Treffen der Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union die Außenpolitik einen bedeutenden Stellenwert einnimmt. In Barcelona war das so.
Ich danke dem Bundeskanzler und ich danke der deutschen Delegation für ihren Beitrag zum Erfolg des Gipfeltreffens, auch und gerade im Hinblick auf die gemeinsame europäische Außenpolitik.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8619. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 14/8182.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/7788 zu der Abgabe einer Regierungserklärung
des Bundeskanzlers zur Tagung des Europäischen Rates
in Laeken am 14./15. Dezember 2001 anzunehmen. - Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltung? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen von FDP- und PDS-Fraktion bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7781 mit dem Titel „Europa richtig voranbringen - Weichenstellung durch den Europäischen Rat in
Laeken/Brüssel.“ Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und
FDP-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss, den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7789
zu der Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Tagung des Europäischen Rates in Laeken am
14./15. Dezember 2001 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU-, FDP- und PDS-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8182 empfiehlt der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7790 zur
Regierungserklärung zur Tagung des Europäischen Rates
in Laeken abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5, den
Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7791 zur Regierungserklärung zur Tagung des Europäischen Rates in Laeken abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion angenommen.
Der Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung auf Drucksache 14/8323 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: „Mitteilung der
Kommission: Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und Betrugsbekämpfung - Aktionsplan 2001
bis 2003“ und „Schutz der finanziellen Interessen der
Gemeinschaften und Betrugsbekämpfung - Jahresbericht 2000“ soll zur Kenntnis genommen werden. - Ich
gehe davon aus, dass es dagegen im Hause keinen Widerspruch gibt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Dietmar Bartsch,
Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Lage und Zukunft der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 14/5834, 14/6923 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen, wobei die
PDS elf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die PDSFraktion ist deren Fraktionsvorsitzender, Roland Claus.
Meine Damen und Herren!
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Eine Große Anfrage ist
ein wirksames Instrument der Opposition, wenn diese vieles genauer wissen will. Genau dies ist hier der Fall.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher,
Sie bedauern mit mir, dass nicht ein einziger Minister oder
eine Ministerin dieser Debatte folgt.
({0})
Dies ist insofern bemerkenswert, als wir alle wissen, dass
die Kabinettsmitglieder zwar viel zu tun haben, sie aber
gleich - trotz ihrer vielen Termine - wieder hier erscheinen werden, wenn es um eine Wahl und eine Abstimmung
geht. Insofern kann man dieses Argument hier nicht gelten lassen.
({1})
Die Grundfrage dieser Großen Anfrage heißt: Wie
wirkt sich die Politik der Bundesregierung auf die Lage
der Kommunen, das heißt auf den Lebensalltag der Bürgerinnen und Bürger in der Republik, aus? Erwartungsgemäß stellt sich die Bundesregierung ein gutes Zeugnis
aus. Dies findet man komprimiert in dem Satz: Die
Finanzsituation der Kommunen hat sich erfreulich entwickelt. - So weit die Antwort der Bundesregierung.
Dazu können wir Ihnen nur sagen: Dies mag aus der
Sicht des Bundesfinanzministers stimmen, wenn es ihm
wieder einmal gelungen ist, Lasten des Bundes bei den
Kommunen abzuladen. Dies mag auch noch für manche
SPD-Spendenkasse stimmen.
({2})
Aus der Sicht der Stadträte und Gemeindevertreter trifft
dies aber garantiert nicht zu - und schon gar nicht für die
Lage der Einwohnerinnen und Einwohner der Kommunen.
({3})
Es geht uns hier ausdrücklich darum, die gesamte Bundesrepublik, also alle Kommunen, im Blick zu halten und
nicht die zwar großen, hier aber nicht in erster Linie zu
thematisierenden Unterschiede zwischen Ost und West
geltend zu machen. Dazu will ich Ihnen folgende Fakten
aufzählen: Die Kommunen hatten im Jahre 2001 im Vergleich zum Vorjahr infolge Ihrer Steuerreform ein Minus
von über 4 Milliarden Euro zu verzeichnen. Grund ist der
Rückgang bei den Gewerbesteuereinnahmen. Im Gegenzug erhöhen Sie Schritt für Schritt auch noch die Gewerbesteuerumlage von 20 auf 28 Prozent, nehmen damit den
Kommunen noch einen weiteren Spielraum.
Darüber hinaus haben wir in Ost und West leider einen
weiteren Rückgang kommunaler Investitionen zu verzeichnen. Weil heute hier schon so viel über Holzmann
geredet worden ist, will ich dazu nur eines sagen: Natürlich ist nicht die Rettung von Holzmann das Problem. Das
geht in Ordnung. Das Problem von Holzmann und der
Bauwirtschaft ist doch das Ausbleiben öffentlicher Aufträge infolge Ihrer verfehlten Politik.
({4})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Deshalb möchte ich einige Partnerstädte in Ost und
West miteinander vergleichen, weil es, wie ich finde, um
die Partnerstadtbeziehungen ein wenig zu ruhig geworden
ist. Ich möchte vor allem die Gewerbesteuereinnahmen
des Jahres 2001 im Vergleich zum Vorjahr ansprechen. In
der Stadt Wuppertal ist ein Rückgang von 27 Prozent und
in ihrer Partnerstadt Schwerin von ebenfalls 27 Prozent zu
verzeichnen. Einen besonders dramatischen Einbruch bei
den Gewerbesteuereinnahmen haben wir in Ludwigshafen, und zwar um 69 Prozent. In der Partnerstadt Dessau
sind es immerhin 40 Prozent. In Karlsruhe sind die Gewerbesteuereinnahmen um 35 Prozent zurückgegangen,
in der Partnerstadt von Karlsruhe, in Halle an der Saale,
um 33 Prozent. Sie sehen, dass es in Ost und West dramatische Finanzprobleme gibt. Dies alles soll Ihrer Meinung
nach aber keine Krise der Kommunalfinanzen sein. Dies
nehmen wir Ihnen nicht ab.
({5})
Dazu kommen die bekannten Kürzungen der Zuweisungen an die Länder wegen der erheblichen Steuerausfälle. Auch dies ist eine Lastenverschiebung von oben
nach unten. Leider trifft auch für Rot-Grün zu, was schon
lange kritisiert wird: Reichtum wird in diesem Lande privatisiert, soziale Not wird kommunalisiert. Dies darf so
nicht hingenommen werden.
({6})
Auch dazu will ich Ihnen einen Fakt nennen, den Sie
kennen: Die Leistungen an Langzeitarbeitslose, die von
den Kommunen gezahlt werden, machen inzwischen
37 Prozent des Volumens der Sozialhilfe aus. So war die
Sozialhilfe in ihrer Funktion ursprünglich aber nicht angelegt. Deshalb ist auch hier leider festzustellen: Reiche
Unternehmen und Banken können sich vor dem Hintergrund Ihrer Steuerreform arm rechnen, aber arme Kommunen können sich nicht reich rechnen.
({7})
Ich weiß, dass Sie selbst die Lage kennen. Die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik
schreibt in ihrem Rechenschaftsbericht:
Verschiebungen von Lasten vom Bund auf die Kommunen sind nicht hinnehmbar.
Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik, was helfen Ihnen denn solche rebellischen Berichte, wenn Sie hier im
Bundestag so handzahm sind? Das hilft doch nicht weiter.
({8})
Die eigentliche Frage, die an das Gemeinwesen von
Bund und Ländern zu stellen ist, heißt doch nicht: Wie
viele Almosen tritt der Staat an Gemeinden ab? Vielmehr
muss sie heißen: Wie viel Staat brauchen die Gemeinden
und die Staatsbürger?
Mit Blick auf die neuen Bundesländer möchte ich
ausdrücklich sagen, dass wir selbstverständlich nicht verkennen, welche bemerkenswerten Leistungen es bei der
Veränderung des Antlitzes der Städte und Gemeinden gegeben hat. Wir sind dankbar für diese Veränderungen.
Inzwischen haben wir aber folgendes Problem: Auch
das neu Geschaffene wird gefährdet, indem wirtschaftliche und finanzielle Entwicklungen nicht fortgesetzt
werden können. Da manche - auch aus diesem Hohen
Hause -, was die Lage in den neuen Ländern betrifft, der
PDS gern etwas zuschreiben, was sie einen Alleinvertretungsanspruch nennen, muss ich sagen: Aus der Sicht
mancher Betroffener geht das in Ordnung. Aber nicht die
PDS hat diesen Alleinvertretungsanspruch postuliert. Das
ist vielmehr durch das verursacht, was Sie aufgrund Ihrer
Politik im Hinblick auf die neuen Länder zu verantworten
haben. An der Spitze, so denke ich, steht hier mit der
höchsten Versagerquote die grüne Fraktion.
({9})
Ich möchte mich deshalb abschließend an die Bundesregierung wenden und sagen: Tun Sie - zum Beispiel
durch die Wiedereinführung einer kommunalen Investitionspauschale - zumindest etwas dafür, dass Leistungen in
den Kommunen in Ost und West ermöglicht werden! Legen Sie ein Stadtumbauprogramm auf, das diesen Namen
wirklich verdient! Wir denken, unsere Große Anfrage ist
ein Anlass zum Umdenken und zum Umsteuern. Deutschland braucht endlich wieder eine moderne und zukunftsfähige Kommunalpolitik!
({10})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Harald Friese.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man der PDSFraktion zugestehen will, sie wolle den Städten und Gemeinden mit dieser Großen Anfrage etwas Gutes tun,
({0})
muss man leider feststellen: Untauglicher Versuch bzw.
Ziel verfehlt!
({1})
Ich habe selten ein solches Sammelsurium von 85 Fragen gelesen:
({2})
vom „Reformnetzwerk bürgerorientierter Kommune“
über die Förderung „selbst verwalteter Jugendzentren“
bis hin zur „Zahl kommunaler Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragter“.
({3})
Sie fragen nach Dingen, für die die Bundesregierung und
dieser Bundestag keine Verantwortung tragen. Wenn man
Ihre Fragen liest, hat man den Eindruck, Sie wollten dies
alles zentral regeln.
({4})
Nehmen Sie doch einmal bitte eines zur Kenntnis: Wir
leben in einem föderalen Staat mit einem in der Welt einmaligen System der kommunalen Selbstverwaltung.
Die Kommunen sollen, dürfen und wollen ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung regeln.
({5})
Aber Sie tun sich offensichtlich schwer, diese Dezentralisierung staatlicher Macht auch innerlich nachzuvollziehen.
({6})
Nehmen Sie noch etwas zur Kenntnis: Kommunale
Demokratie lebt von der Vielfalt, von eigenständigen Entscheidungen und von Lösungen, die den örtlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen entsprechen.
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang eine theoretische Brücke bauen. Karl Marx schrieb in seiner Kritik
des Gothaer Programms: „Jeder nach seinen Fähigkeiten,
jedem nach seinen Bedürfnissen!“.
({7})
Diese These kann man wirklich unmittelbar auf die kommunale Selbstverwaltung übertragen: Jede Gemeinde
nach ihren Fähigkeiten und jede Gemeinde nach ihren Bedürfnissen. - Vielleicht hilft Ihnen der Hinweis auf Karl
Marx, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu pflücken.
Das würde Ihnen gut tun.
({8})
Kommunale Demokratie ist ein faszinierender Gesellschaftsentwurf, der sich an folgenden Grundsätzen
orientiert: Subsidiarität, so die europäische Definition,
dezentrale Machtverteilung und Entscheidungskompetenz, demokratische Entscheidungsstrukturen und demokratische Kontrolle öffentlicher Entscheidungen. Wenn
dies funktionieren soll, sind zwei Bedingungen zu erfüllen:
Erstens. Die Kommunen müssen - da haben Sie Recht ausreichend Geld haben, um ihre Aufgaben erfüllen zu
können.
({9})
Dazu wird mein Kollege Bernd Scheelen noch etwas sagen. Ich möchte nur eine Bemerkung vorweg machen:
Diese Regierung hat eine Steuerreform mit der größten
Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik
auf den Weg gebracht, die in geradezu selbstloser Weise
Rücksicht auf die kommunalen Finanzen nimmt.
({10})
Die Städte und Gemeinden sind nämlich mit 12,2 Prozent
an den Steuereinnahmen, aber nur mit 8,9 Prozent an den
Steuermindereinnahmen beteiligt.
Die zweite Voraussetzung lautet: Kommunale Demokratie kann nur dann funktionieren, wenn die Kommunen
Aufgaben haben, die sie eigenständig erledigen können.
Zum Kernbestand der kommunalen Demokratie
gehören die Aufgaben der Daseinsvorsorge. Darunter
sind die Energie-, Strom-, Gas-, Wärme- und Wasserversorgung, die Abwasser- und Abfallentsorgung, der ÖPNV,
das Gesundheitswesen und auch das öffentliche Sparkassensystem zu verstehen. Diese Aufgaben sind zurzeit einem Generalangriff derjenigen ausgesetzt, die sich als
große Neoliberale, als Deregulierer, als Liberalisierer, als
Anhänger eines schrankenlosen Wettbewerbssystems verstehen.
({11})
Die Anhänger dieser politischen Ziele unterliegen einem grundlegenden Irrtum und Missverständnis: Deregulierung und schrankenloser Markt und Wettbewerb dürfen
nicht selbstständige Ziele der Politik sein, sondern allenfalls Mittel zur Erreichung bestimmter politischer Ziele.
({12})
Diesem Missverständnis scheint auch Brüssel anzuhängen. Ich will an die Mitteilung zur Leistungs- und Daseinsvorsorge aus dem Jahre 1996 erinnern, wonach die
Wahrnehmung der Aufgaben der Daseinsvorsorge durch
die Kommunen in ihrem Kernbestand gefährdet war, weil
Brüssel die These vertreten hat, dass auch in diesem Bereich ein genereller Wettbewerb - Ausschreibungen seien
generell vorzunehmen - gelten müsse. Maggy Thatcher
aus Großbritannien lässt grüßen.
Jetzt möchte ich Ihnen einige Beispiele nennen, die
deutlich machen, dass sich diese Regierung und diese Regierungskoalition in ihrem kommunalfreundlichen Verhalten von niemandem übertreffen lassen:
Beispiel eins. Wer hat ein Umdenken in Brüssel bewirkt? Das war diese Regierung. Der Bundeskanzler hat
auf der Sondertagung des Europäischen Rates in Lissabon
im Frühjahr 2000 dafür geworben, eine neue Mitteilung
zur Daseinsvorsorge erarbeiten zu lassen, die dann auch
Realität wurde.
({13})
Darin wird die grundlegend andere These vertreten, dass
die historischen und funktionellen Besonderheiten eines
Staates auch bei der Wahrnehmung der Aufgaben zur Daseinsvorsorge zu berücksichtigen sind. Dazu gehört auch
Art. 28 des Grundgesetzes.
({14})
Das ist eine konkrete Politik zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung.
Beispiel zwei. Das Europäische Parlament hat auf Initiative der sozialistischen Fraktion beschlossen, dass
ÖPNV-Leistungen nicht mehr ausgeschrieben werden
müssen. Die Kommunen sollen das in eigener Zuständigkeit erledigen können. Das ist eine konkrete Politik zur
Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, damit die
Kommunen die Aufgabe des ÖPNV vor Ort wahrnehmen
können.
Beispiel drei. Jeder Kommunalpolitiker fragt, was mit
dem steuerlichen Querverbund sei. Wir sind der Bundesregierung dafür dankbar, dass sie am steuerlichen Querverbund festhält, sodass die Kommunen die Gewinne aus
der Energiewirtschaft mit den Verlusten aus dem ÖPNV
verrechnen können. Dies ist keine steuerliche Quersubventionierung.
({15})
Dies ist nichts anderes als ein steuerlicher Verbund, wie er
in der Privatwirtschaft jeden Tag gang und gäbe ist. Im
Rahmen einer Holding können Gewinne und Verluste
nämlich verrechnet werden. Die Holding heißt hier: Aufgabenwahrnehmung zur kommunalen Daseinsvorsorge.
({16})
Beispiel vier. Ich erinnere an das Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1998. Dieses hat die Energiemärkte
von heute auf morgen liberalisiert und die Kommunen einem gnadenlosen Wettbewerb ausgesetzt. Was haben wir
getan? Wir haben das Energiewirtschaftsgesetz beschlossen. Damit wird den kommunalen Stadtwerken die Möglichkeit gegeben, sich als fairer Wettbewerber am Wettbewerb im Energiebereich zu beteiligen. Wir haben das
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zur Förderung der KraftWärme-Kopplung beschlossen, weil diese eine ökologisch und energiewirtschaftlich richtige Methode der
Stromerzeugung ist und weil die kommunalen Stadtwerke, die dadurch im Wettbewerb bestehen können, auf
diesem Gebiet ihre Stärken haben.
({17})
Beispiel fünf. Die Koalitionsfraktionen haben einen Entschließungsantrag auf den Weg gebracht, der im Bundestag
noch beraten werden muss. Darin sprechen sie sich gegen
eine Liberalisierung der Wasserwirtschaft aus, weil das eine
zentrale Aufgabe der Daseinsvorsorge ist. Wenn die Kommunen privatisieren wollen - das ist ihre eigene Entscheidung -, dann müssen sie gewisse Mindeststandards einhalten. Das ist wiederum ein Beispiel für eine konkrete Politik
zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung.
({18})
Beispiel sechs. Wir sind uns darin einig, dass die Kosten der Arbeitslosigkeit nicht allein von den Kommunen
getragen werden dürfen. Das BSHG ist in der Vergangenheit missbraucht worden. Eine effektive Arbeitsmarktpolitik entlastet also die kommunale Seite von Sozialhilfeausgaben. Auch wenn es Ihnen nicht passt - ich weiß
schon, was Sie jetzt sagen werden -: Von Januar 1998 bis
zum Januar 2002 gab es 500 000 weniger Arbeitslose, was
die Sozialhilfeetats der Kommunen maßgeblich entlastet
hat. Dies gilt auch für das JUMP-Programm, mit dem
400 000 Jugendliche wieder Arbeit gefunden haben oder
sich in Qualifizierungsmaßnahmen befinden.
({19})
Beispiel sieben. Diese Bundesregierung hat die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien
geändert. Gesetzesvorlagen sind jetzt in einem frühen
Stadium, noch bevor es einen Entwurf gibt, den kommunalen Spitzenverbänden zuzuleiten.
({20})
Das ist eine uralte Forderung der kommunalen Spitzenverbände und der kommunalen Seite. Auch wenn ein Entwurf vorliegt, sind die kommunalen Spitzenverbände zu
beteiligen. Es ist eine zentrale Änderung der bisherigen
Politik, dass die kommunale Seite die Möglichkeit hat,
schon im Entwurfstadium eines Gesetzes an der Gesetzesformulierung mitzuwirken bzw. darauf aufmerksam zu
machen, welche Auswirkungen auf die Kommunen ein
Gesetz gegebenenfalls hat.
Ich will eine abschließende Bemerkung machen. Kommunale Daseinsvorsorge als Kernbestand der kommunalen Demokratie und wirtschaftliche Betätigung der
Gemeinden haben ihren rechtlichen Grund nicht ausschließlich in Art. 28 des Grundgesetzes. Das Grundgesetz trifft keine Entscheidung für eine bestimmte Wirtschaftsordnung. Das Grundgesetz verbietet auch nicht die
wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, der Gemeinden und der Länder. Das muss man immer wieder in
Erinnerung rufen, weil dies in öffentlichen Diskussionen
sehr gerne anders dargestellt wird.
Dies gilt insbesondere für die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, wenn es um einen öffentlichen Zweck
geht. Wenn sich die Gemeinden wirtschaftlich betätigen,
dann handelt es sich hier um den öffentlichen Zweck der Daseinsvorsorge. Die Situation wird nämlich grotesk, weil
manche den Wettbewerb so verstehen - das haben wir bei
der Energiewirtschaft gesehen -, dass große Energiekonzerne den Gemeinden Konkurrenz machen dürfen und sich
am Wettbewerb beteiligen, die Gemeinden aber dann, wenn
sie kommunale Stadtwerke besitzen, nicht die Möglichkeit
haben, sich außerhalb ihres Gemeindegebietes am Wettbewerb zu beteiligen. Das nennt man Rosinenpickerei und hat
mit Wettbewerbsordnung nichts zu tun.
Wenn es Wettbewerb gibt, dann muss er für alle gelten.
Deshalb will ich an dieser Stelle den Appell an die Länder
richten, die Gemeindeordnungen und das Gemeindewirtschaftsrecht dahin gehend zu ändern, dass Kommunen,
wenn sie sich wirtschaftlich betätigen, in diesem Land die
gleichen Wettbewerbschancen haben.
({21})
Wir wollen keine Nachtwächtergemeinden. Wir wollen
keine Gemeinden, die nur Parkraum bewirtschaften,
Geschwindigkeitskontrollen durchführen und vielleicht
noch die Sozialhilfe auszahlen. Wir wollen starke Gemeinden, die für ihre Bürgerinnen und Bürger im Rahmen
der Daseinsvorsorge, wenn sie diese Aufgaben selbst
wahrnehmen, dafür sorgen, dass man in den Gemeinden
eine hohe Lebensqualität erreicht. Das wollen wir sicherstellen. Das ist konkrete Politik für die kommunale Demokratie, aber, meine Damen und Herren von der PDS,
nicht Ihre Große Anfrage.
Vielen Dank.
({22})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter Götz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Der Deutsche Bundestag debattiert heute
zum dritten Mal in diesem Jahr über die Lage der Städte,
Gemeinden und Kreise in Deutschland.
({0})
Das macht deutlich, wie sehr es auf der kommunalen
Ebene brennt.
({1})
Die guten Rahmenbedingungen aus der Regierungszeit
von Helmut Kohl wurden innerhalb von dreieinhalb Jahren durch eine kommunalfeindliche Politik systematisch
zerstört.
({2})
Innerhalb kürzester Zeit hat die Regierung Schröder viele
Städte und Gemeinden in Deutschland an den Rand des finanziellen Ruins regiert.
({3})
Der Bundeskanzler hat mit den Kommunen nichts am
Hut. Sie sind ihm sogar lästig. In Europa läuft er mit der
roten Laterne herum und streitet sich mit Portugal um den
letzten Platz.
({4})
Das hat auch Auswirkungen auf die Städte und Gemeinden in unserem Land.
({5})
Wir wollen, dass Deutschland bei der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit wieder zur Spitze in Europa gehört.
Dann geht es auch den Kommunen erneut besser.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, nicht nur wir, sondern auch der Deutsche Städtetag,
der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag haben immer wieder auf die dramatische Entwicklung aufmerksam gemacht. Aber Sie reagieren überhaupt nicht.
({6})
Noch im Mai letzten Jahres, Herr Kollege, hatte der Bundeskanzler bei der Hauptversammlung des Deutschen
Städtetags die Arroganz zu sagen: Ich freue mich, bei reichen Verwandten zu Gast zu sein. Seine Genossen, die
von der kommunalen Front dort vertreten waren, verdrehten die Augen, denn die Wirklichkeit sah bereits vor
einem Jahr anders aus.
In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung von 1998
steht unter anderem:
Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken
und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden
Prüfung unterziehen.
({7})
Das liest sich gut. Dieses Versprechen wurde aber auf der
ganzen Linie gebrochen. Die Prüfung des Gemeindefinanzsystems wird auf die lange Bank geschoben und erst
als die Finanzkrise der Gemeinden jeden Tag auf den ersten Seiten der Zeitungen stand und nachdem der blaue
Brief aus Brüssel drohte, gaben Schröder und Eichel ihre
Abwehrschlacht auf. Am 21. November wurde vollmundig eine Kommission zur Vorbereitung der Gemeindefinanzreform angekündigt. Das ist auf den Tag genau vier
Monate her. Die Kommission gibt es noch immer nicht
und noch nicht einmal der Vorsitzende ist benannt. Das ist
erstaunlich, denn wir haben eine dramatische Finanzkrise
bei den Kommunen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist.
({8})
Der Bundesfinanzminister kündigt eine Reformkommission an und dann geschieht vier Monate lang überhaupt nichts. Heute soll angeblich die Kommission vorgestellt werden. Welch ein Zufall! Lassen wir uns nichts
vormachen: Diese Kommission wird bis zu den Wahlen
im September keine Ergebnisse mehr vorlegen. Offensichtlich darf sie auch keine mehr vorlegen.
({9})
Danach werden wir regieren und werden dafür sorgen, dass die kommunalfeindliche rot-grüne Politik in
Deutschland ein Ende hat.
({10})
Das Problem ist nur: Die Kommunen können nicht
noch länger warten, bis sich irgendetwas bewegt. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Die Einbrüche in den
kommunalen Haushalten sind katastrophal, auch wenn
Sie das vielleicht nicht sehen. Viele Städte, Gemeinden
und Kreise können ihre Haushalte nicht mehr ausgleichen, obwohl sie der Staat gesetzlich dazu verpflichtet.
Sie müssen mit teuren Kassenkrediten laufende Ausgaben
finanzieren, und zwar von den Gehältern bis zur Sozialhilfe. In Nordrhein-Westfalen haben bereits ein Drittel der
Städte und Gemeinden nicht ausgeglichene Haushalte.
Letzte Woche haben die Landkreise ihre Haushaltsprognosen vorgestellt. In diesem Jahr werden ein Viertel oder
80 von 323 deutschen Landkreisen keinen ausgeglichenen Haushalt mehr haben. Im vergangenen Jahr waren es
17 Prozent.
({11})
- Es waren über ein Viertel, 80 von 323, Herr Kollege
Repnik.
({12})
Das hat Konsequenzen in vielfältiger Form: Schulen
oder Straßen können nicht mehr renoviert werden, dringend notwendige kommunale Investitionen brechen total
weg. Das hat auch Auswirkungen auf die Bauwirtschaft.
Den mittelständischen Baubetrieben fehlen die Aufträge.
Sie stehen vor dem Aus. Zu ihnen kommt kein Bundeskanzler um zu helfen, zu ihnen kommt bestenfalls der Gerichtsvollzieher. Schwimmbäder, Bibliotheken oder
Theater werden geschlossen, weil das Geld fehlt.
({13})
Das ist eine schlimme Entwicklung, die Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen, Herr Schmidt.
Ich erinnere daran, dass der Kanzler vor vier Jahren die
Stärkung der kommunalen Finanzen versprochen hat.
Auch in diesem Punkt hat er sein Versprechen gebrochen
und genau das Gegenteil gemacht.
({14})
Er hat damit eine Entwicklung eingeleitet, die für die lokale Demokratie, die Sie, Herr Kollege Friese, gerade in
den Himmel gehoben haben, dramatisch ist.
({15})
- Dann handeln Sie auch danach, wenn Sie der Meinung
sind, sie gehöre dahin.
Nachdem die Gewerbesteuereinnahmen total eingebrochen sind, beginnen auch immer mehr SPD-Mandatsträger, ihren Unmut über die Politik der Regierung
Schröder öffentlich zu artikulieren. Wenn der SPD-Oberbürgermeister von Hannover, Schmalstieg - um nur einen
zu zitieren; ich könnte die Reihe fortsetzen -, zu Recht vor
dem Ende der kommunalen Selbstverwaltung warnt,
müssten doch alle rot-grünen Alarmglocken klingeln, und
dann können Sie keine solche Rede halten, wie Sie sie,
Herr Kollege Friese, vorhin gehalten haben.
({16})
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen: Ihre ganzen politischen Entscheidungen der letzten
Jahre widersprechen auch dem Geist des Grundgesetzes.
Sie sind deshalb auch verfassungsrechtlich problematisch. Ich will das an dem Beispiel der Auswirkungen der
Versteigerung der UMTS-Lizenzen deutlich machen.
({17})
Der Bundesfinanzminister kassierte von den Telekommunikationsunternehmen nahezu 100 Milliarden DM. Das
ist ein Fünftel seines gesamten Jahresetats. Die Telekommunikationsunternehmen setzen diese exorbitanten Kosten steuerlich ab und schreiben auf Jahre hinaus Verluste.
Die Folge ist: Den Gemeinden fehlen allein 14 Milliarden DM in ihren Kassen. Sie finanzieren damit über Steuerausfälle indirekt die Einnahmen des Bundes. Der Bundesfinanzminister kassiert und die Stadtkämmerer zahlen
letztlich die Zeche. Wir nennen das eine kommunalfeindliche Politik.
({18})
Warum klagt der SPD-Oberbürgermeister von Wuppertal gegen das Land Nordrhein-Westfalen wegen unzureichender kommunaler Finanzausstattung und erklärt öffentlich, dass er noch lieber den Bund verklagen würde? Zu Wuppertal will ich gar nicht mehr sagen. ({19})
Dafür gibt es Ursachen, die nicht schöngeredet werden
können.
Wir erleben einen ständigen Verschiebebahnhof von
Aufgaben und Ausgaben zulasten der kommunalen
Haushalte, von der Grundsicherung bei der Rente - bei der
übrigens nach Ihrer Geschäftsordnung die kommunalen
Spitzenverbände nicht beteiligt waren - über die Kindergeldmitfinanzierung bis zur Langzeitarbeitslosigkeit, die
mit zunehmender Tendenz zur kommunalen Sozialhilfe
verschoben wird. Um die Arbeitslosenstatistik zu verbessern, werden einfach die Kosten aus dem Bundeshaushalt
nach unten weggeschoben. Die menschlichen Schicksale
spielen dabei keine Rolle. „Kommunalisierung der Kosten
der Langzeitarbeitslosen“ ist fast schon ein geflügeltes
Wort für das rot-grüne Versagen auf dem Arbeitsmarkt geworden.
({20})
Aber die Probleme am Arbeitsmarkt lassen sich nicht
durch statistische Tricks lösen. Die Regierung muss endlich handeln. Es ist zu wenig, Herr Kollege Friese, hier
das Hohelied der kommunalen Selbstverwaltung zu singen und in Ihren konkreten politischen Entscheidungen
genau das Gegenteil zu tun.
({21})
Es gibt einige klare Anstandsregeln im Leben. Eine davon lautet: Wer bestellt, zahlt. Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit einem gut gelaunten Bundeskanzler in eine Gaststätte. Herr Schröder bestellt und bestellt und bestellt.
({22})
Es wird Ihnen schon fast unheimlich wegen der hohen
Rechnung, die auf Herrn Schröder zukommt. Aber am Ende
kommt die Überraschung: Der Bundeskanzler steht auf,
schiebt Ihnen still und leise die Rechnung über den Tisch
und sagt, er müsse gerade seinen Haushalt konsolidieren.
({23})
Genauso läuft es zwischen dem Bundeskanzler und den
deutschen Kommunen ab. Das ist in unseren Augen unanständig.
({24})
Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel. Wir streiten in
diesen Tagen über dieses unsägliche Zuwanderungsgesetz.
({25})
Auch das verstößt neben vielen Mängeln auch bei der Finanzierungsregelung gegen die guten Sitten.
({26})
Über Kosten steht in diesem Gesetz überhaupt nichts. Die
Integrations- und Sprachkurse kosten viel Geld. Der
Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit einer
dreiviertel Milliarde pro Jahr. Es ist schon ein starkes
Stück, die Kosten- und Finanzierungsfragen beim Zuwanderungsgesetz auszuklammern, um sie dann später
per Rechtsverordnung oder wie auch immer den Gemeinden aufzubürden.
({27})
- Da steht nichts drin. Wir haben hineingeschaut.
Genauso schlimm ist, was wir heute in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen - hören Sie gut zu! -: Der Bundeskanzler will sich mit finanziellen Zugeständnissen im
Bundesrat eine Mehrheit sichern, das heißt finanzschwache Länder kaufen.
({28})
Der Bundeskanzler und SPD-Bundesvorsitzende ist gut
beraten, den Eindruck, Deutschland sei eine Bananenrepublik, der durch die SPD-Schmiergeldaffären zunehmend entsteht,
({29})
nicht noch durch Kaufen von Länderstimmen im Bundesrat zu vergrößern. Der Schaden in Deutschland ist groß
genug.
({30})
Politik darf nicht käuflich sein, und zwar von niemandem,
auch nicht vom Bundeskanzler. Das gilt auch gegenüber
dem Bundesrat, ob Ihnen das passt oder nicht.
({31})
- Frau Präsidentin, bekomme ich die Chance, weiterzureden?
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir sind nicht auf dem Fußballfeld, sondern im Plenarsaal des Deutschen Bundestags. Ich bitte
um die entsprechende Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe Verständnis dafür, dass das schmerzt.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Diese Bundesregierung hat die Kommunen innerhalb von nur dreieinhalb
Jahren an den Rand des finanziellen Ruins regiert.
({0})
Das ist schlimm
({1})
- das ist überhaupt nicht zum Lachen; reden Sie doch mal
mit den Kämmerern in Ihrem Wahlkreis -, das ist schlimm
für die Städte und Gemeinden, aber auch für unser Land.
Damit muss jetzt Schluss sein.
Zweitens brauchen wir dringend einen Politikwechsel.
({2})
In Deutschland brauchen wir wieder eine kommunalfreundliche anstatt einer kommunalfeindlichen Politik.
Wir wollen, dass sich die Menschen in unseren Städten
und Gemeinden wohl fühlen. Dazu gehört auch eine gute
kommunale Struktur. Nur leistungsfähige und starke
Kommunen können zum Erfolg beitragen. Die Politik
muss dafür die Rahmenbedingungen setzen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dazu bereit.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist
der Kollege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine beiden Vorredner von SPD und CDU/CSU waren Bürgermeister, der eine in Heilbronn, der andere - das habe ich
inzwischen nachgelesen, Herr Götz - in Rastatt. Ich bin
seit 22 Jahren Kommunalpolitiker. Bei dieser Debatte
muss es einem kommunalen Praktiker wie mir ein bisschen übel werden. Die Kommunalpolitiker aller Fraktionen haben doch seit Jahrzehnten dasselbe Problem mit
den übergeordneten Ebenen.
({0})
Die klebrigen Finger der Landesfinanzminister und des
Bundesfinanzministers greifen, wenn es schicklich zu
sein scheint, in die kommunalen Taschen. Das ist doch die
Wirklichkeit; insofern brauchen wir uns hier gegenseitig
nichts vorzuhalten.
Die PDS hat heute zum ersten Mal seit langem eine
Debatte in der Kernzeit. Das muss in diesem Parlament
auch von einem Koalitionsredner einmal erwähnt werden.
Ich halte es für verdienstvoll, dass die PDS dieses Thema
in die Kernzeit hineingebracht hat.
({1})
Es ist richtig, dass sich die Situation der Kommunalfinanzen innerhalb der letzten zwei Jahre ins Gegenteil
verkehrt hat, weil seit dem Herbst des vorletzten Jahres
die Konjunktur abgestürzt war, wodurch alle Prognosen
im Hinblick auf die Unternehmensteuerreform zum
Scheitern verurteilt wurden.
({2})
- Kollege Götz, ich habe die Zahlen gut im Kopf: 1995
- in jener Zeit regierten Sie zusammen mit der FDP stürzten die Gewerbesteuereinnahmen auf netto 30,5 Milliarden DM, nachdem sie zwei Jahre zuvor noch fast
35 Milliarden DM betragen hatten. Im Jahre 2000 - da regierten bereits wir - lagen die Einnahmen bei der
Gewerbeertragsteuer netto bei fast 38 Milliarden DM;
hinzu kam als Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer ein Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer von
über 5 Milliarden DM.
Herr Kollege
Der
Absturz, der vor allem im letzten Jahr zu konstatieren war,
({0})
hat sich sektoral sehr unterschiedlich entwickelt. Sie sind
auch Baden-Württemberger, Herr Götz. In meinem Landkreis hatte im letzten Jahr mehr als die Hälfte der Gemeinden und Städte ein Plus gemacht. In der großen nordrhein-westfälischen Stadt, aus der der Präsident des
Städte- und Gemeindebundes kommt, in Bochum, hat es
im letzten Jahr ein Gewerbeertragsteuerplus gegeben. Daher sollten Sie die abstürzenden Gewerbeertragsteuereinnahmen nicht vordergründig für eine große Leidenslitanei nutzen, zumal aufgrund des Rückgangs der
Arbeitslosenzahlen bis Anfang 2001 die Ausgaben für Sozialhilfe bei den Kommunen rückläufig waren. Auch das
ist eine Tatsache. Man muss einfach die Fakten benennen,
um damit Ruhe in die Diskussion zu bringen.
Herr Kollege
Metzger, es ist sehr schwer, Sie in Ihrem Redefluss zu
bremsen. Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Götz zu?
Aber gerne. - Bitte, Herr Bürgermeister a. D.
Herr Kollege Metzger, ist Ihnen bekannt, dass die kassenwirksamen Auswirkungen
der Gewerbesteuer in der Regel um zwei Jahre nachhinken und dass Sie insoweit gerade bestätigt haben, dass
sich die erfolgreiche Politik der Regierung Kohl bis zum
Jahr 1998 in den Jahren 1999/2000 bei den Gewerbesteuereinnahmen zeitverzögert ausgewirkt hat? Ist Ihnen
auch bewusst, dass Ihre Politik jetzt erst richtig durchschlägt? Ich wage die Prognose, dass sich die negative
Durchschlagskraft in den nächsten ein, zwei Jahren noch
verstärken wird, weil es eben diesen Zeitverzug von zwei
Jahren gibt.
Herr Götz, der Einbruch von 1995 - das war ja mein Beispiel - und die zweijährigen Ausgleichsmechanismen des
kommunalen Finanzausgleichs sind mir sicherlich
bekannt. Diese hat man vor allem 1997 gemerkt, also zu
einem Zeitpunkt, als Sie noch an der Regierung waren. Insofern ist Ihr Vergleich schlecht; denn der Ausgleichsmechanismus fiel, wie gesagt, in Ihre Regierungszeit.
Ich möchte meine Rede auch nutzen, um nach vorne zu
blicken.
({0})
- Ich habe mich doch gerade mit Ihren Vorhaltungen beschäftigt und versucht, das Tableau, um das es hier geht,
deutlich zu machen. Kommunalpolitiker aller Couleur
sind sich im Zweifelsfall natürlich in ihrer Kritik einig:
Die Oberen schieben uns Lasten zu und sorgen nicht für
einen entsprechenden Ausgleich. Da ist manches dran.
Aber als Kommunalpolitiker muss man auch selbstkritisch sein.
In den nächsten Jahren geht es um die Reform der Gemeindefinanzen. Deshalb wird voraussichtlich übernächsten Freitag die Gemeindefinanzreformkommission mit
Finanzminister Eichel und Walter Riester als Vorsitzenden eingesetzt werden. Sie soll Vorschläge zur Reform der
Gewerbeertragsteuer und zur Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe machen, die dazu führen sollen, dass
künftig die Ebene, die zahlt und die die Kompetenz hat
- Stichwort „Konnexitätsprinzip“ -, auch entsprechend
finanziell ausgestattet wird.
({1})
- Herr Fromme, der Gemeindefinanzreformkommission
gehören nicht nur die beiden Minister, sondern auch Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und wissenschaftliche Experten an. Diese Kommission wird Vorschläge machen, die genau dem Subsidiaritätsprinzip
entsprechen werden. Das, was vor Ort - möglicherweise
sogar effizienter - geleistet werden kann, soll auch vor Ort
gemacht werden. Aber wenn man das tut - deshalb ist es
so wichtig, sich in diesem Zusammenhang die GemeinOswald Metzger
definanzverfassung genau anzuschauen -, dann darf der
Bund die Arbeitslosenhilfe, für die im laufenden Etat immerhin 13 Milliarden Euro eingestellt sind, nicht den
Landkreisen und Kommunen quasi vor die Tür kippen.
Darüber sind wir uns völlig einig. Sie können sicher sein:
Grüne und Sozialdemokraten werden darauf achten, dass
es hier keinen Verschiebebahnhof geben wird. Diese Reformagenda ist entscheidend.
({2})
Zum Konnexitätsprinzip: Natürlich haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt, dass diesem Prinzip im Rahmen
des kommunalen Finanzausgleichs mehr Geltung verschafft werden soll. Aber es lag nicht an der SPD-Bundestagsfraktion, dass das nicht möglich war.
({3})
- Nein. - Erinnern Sie sich bitte daran, dass drei Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Finanzausgleich geklagt haben. Sie wissen ganz genau, dass
in der Rechtspflege Stillstand herrschte, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, wie der Finanzausgleich auszusehen hat. Wenn Sie sich auch noch die Diskussion über das Maßstäbegesetz aus dem letzten Jahr in
Erinnerung rufen, dann wissen Sie ganz genau, dass nicht
nur die Finanzminister der SPD-regierten Bundesländer,
sondern auch die der unionsgeführten Bundesländer im
Zweifelsfall die Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf mehr Entflechtung der
Ebenen und eines Finanzausgleichs, der mehr Verantwortung auf der jeweiligen Ebene ansiedelt, unmöglich gemacht haben.
Es gibt in Deutschland einen Exekutivföderalismus,
der es der Bundesregierung und den Länderregierungen
möglich macht, im Zweifelsfall zulasten anderer staatlicher Ebenen zu agieren. Nur dann, wenn die Verantwortungsbereiche im Sinne eines aktivierenden Sozialstaates,
der zum Beispiel verlangt, dass ein Gemeinderat nicht nur
die Hoheit über die Einnahmen, sondern auch über die
Ausgaben hat, wenn er Entscheidungen trifft, klar getrennt sind, wird wirtschaftlich effektiv und demokratisch
entschieden und nur dann kann die untere staatliche
Ebene nicht mehr die Verantwortung nach oben abschieben, nach dem Motto: Ihr übertragt uns Aufgaben und wir
haben keine Finanzmittel.
Kolleginnen und Kollegen von der Union, denken Sie
an die Debatte über das Konnexitätsprinzip. Als damals
der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in
§ 218 festgelegt wurde - das war ein Bundesgesetz -, haben sich die Kommunen quer durch die Republik beklagt:
Ihr habt uns keine Finanzmittel dafür zur Verfügung gestellt. Der Vorwurf war damals richtig. Er wäre auch bei
der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe
richtig, wenn wir nicht eine faire Lösung im Gespräch mit
den kommunalen Spitzenverbänden und mit der interessierten Öffentlichkeit anstreben würden. Das sind die
Fakten.
Wir wollen uns sicherlich nicht kommunalfreundlicher
gerieren, als die Bundespolitik tatsächlich ist. Aber die
Bundespolitik ist besser als ihr Ruf. Wenn sich die Gewerbeertragsteuereinnahmen in den nächsten Monaten
- das zeichnet sich ab - konsolidieren werden, dann werden auch Sie merken, dass die Mär, den Gemeinden sei
durch unsere Unternehmensteuerreform Geld entzogen
worden, schon vor dem Wahltag in sich zusammenbrechen wird. So sieht es aus.
Vielen Dank.
({4})
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! „Lage und Zukunft der
Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland“ lautet
der Titel der Großen Anfrage. Das ist einfach zu beschreiben: Die Lage ist schlecht, schlechter als jemals in
der Geschichte der Bundesrepublik.
({0})
Die Zukunft ist grau und wolkenverhangen. Das ist das
Ergebnis der rot-grünen Regierungspolitik.
({1})
Der Deutsche Städtetag hat dies offensichtlich bereits
Ende 1998 vorausgesehen, als der Präsident, dessen Amt
zurzeit ruht - er ist übrigens SPD-Mitglied -, öffentlich
die mangelnde Berücksichtigung der Städte im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung rügte.
({2})
Es fehle eine Garantie der kommunalen Selbstverwaltung,
so der Oberbürgermeister von Saarbrücken, der - das ist
einer Bemerkung wert - noch immer im Amt ist, obwohl
Anklage gegen ihn erhoben worden ist.
Noch im vergangenen Jahr, am 27. August, schrieb der
Kollege Poß an seine Genossen in der SPD-Fraktion:
Liebe Genossinnen und Genossen, die Gewerbesteuer als
Haupteinnahmequelle der Kommunen wird durch das
Steuersenkungsgesetz in ihrer Substanz nicht berührt.
Weiter schrieb er: Der Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Unternehmensteuerrechts führt zu kommunalen
Steuermehreinnahmen von 850 Millionen DM.
({3})
Selbst in der Antwort auf die Große Anfrage der PDSFraktion brüstet sich Rot-Grün noch, den Kommunen
gehe es doch gut.
({4})
Nichts davon ist wahr.
({5})
Die miserable Lage der Kommunen ist die logische
Konsequenz des Vollzugs von Bundes- und Landesgesetzen, deren Finanzierung allein bei den Gemeinden abgeladen wurde. In den vergangenen drei Jahren ist die
Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben auf kommunaler Ebene immer weiter auseinander gegangen.
({6})
Mehr als 50 Prozent der Kommunen - das sind die neuesten Daten - haben derzeit keinen ausgeglichenen Haushalt mehr.
({7})
Wann hat es das schon einmal gegeben, meine Damen und
Herren? Und da sagen Sie: Den Kommunen geht es doch
gut.
({8})
Die Gesamtverschuldung der deutschen Kommunen
ist im Jahr 2001 auf 100 Milliarden Euro angewachsen.
Die Städte und Gemeinden stehen unter immer höherem Kostendruck. Sie können kaum noch ihren Pflichtaufgaben gerecht werden. Freiwillige Aufgaben und Investitionsaufgaben werden immer weiter zurückgeführt zulasten der Bürger, die aber schließlich in unseren Gemeinden leben.
({9})
Kultur- und Bildungseinrichtungen, Stadtbüchereien
und Freizeiteinrichtungen - die Liste könnte man beliebig
verlängern - werden geschlossen. Nur einige Beispiele:
Braunschweig schließt sein Bildungs- und Freizeitzentrum.
({10})
In Cottbus sind bereits 62 Prozent der Straßen in einem
Zustand, der eine wirtschaftliche Straßenunterhaltung
nicht mehr erlaubt. Um auf diesem schlechten Niveau allein den Bestand zu sichern, müssten jährlich 2,5 Milliarden Euro aufgebracht werden. Die Stadt muss ihre Mittel
für den Unterhalt von Straßen aber weiter kürzen.
Die Stadt Krefeld - man höre und staune, Herr
Scheelen - hat im Haushaltsplan für das Jahr 2002 überhaupt keine neuen Investitionen vorgesehen. Zurückgestellt wurden die Sanierung des Theaters, der Bau von
Kinderspielplätzen und der notwendige Neubau einer
Hauptfeuerwache.
({11})
Die Stadt Wuppertal schließt fünf Grundschulen.
({12})
Bund und Länder verlagern immer mehr Aufgaben,
zum Beispiel die Kinderbetreuung, auf die Kommunen.
Unbekannt ist noch die Höhe der Integrationskosten, mit
denen die Kommunen durch das neue Zuwanderungsgesetz belastet werden sollen.
Diese Bundesregierung tut wirklich alles, um den
Kommunen den finanziellen Teppich unter den Füßen
vollständig wegzuziehen.
({13})
Darum kann von der kommunalen Selbstverwaltung - das
mögen Sie noch so sehr bestreiten; diejenigen, die in den
Kommunen Verantwortung tragen, sagen Tag für Tag,
dass das so ist - nun wirklich keine Rede mehr sein.
({14})
Die Gründe für die katastrophale Haushaltssituation
der Kommunen liegen offen zutage. Die rot-grüne
Steuerreform hat sich verheerend auf die kommunalen
Haushalte ausgewirkt. Der Einbruch bei der Körperschaftsteuer führt zum Beispiel dazu, dass der nordrheinwestfälische Finanzminister an vier Unternehmen 1,7 Milliarden Euro Körperschaftsteuer zurückzuzahlen hat.
({15})
Das kommt davon, wenn man ein Gesetz beschließt, das
es möglich macht, dass Verluste, die im Ausland anfallen,
mit Gewinnen in Deutschland verrechnet werden können.
({16})
- Sie wissen ja, dass das wahr ist, darum regen Sie sich ja
auch so auf.
({17})
Die Einbrüche bei der Gewerbesteuer sind katastrophal - der Kollege Claus hat schon Beispiele genannt -:
Ludwigshafen minus 68 Prozent, Leverkusen minus
64 Prozent, Krefeld minus 50 Prozent, Frankfurt am Main
minus 38 Prozent, Rostock minus 46 Prozent usw.
({18})
Aber Herr Poß sagt, den Gemeinden gehe es gut, sie hätten
850 Millionen DM Mehreinnahmen. Das ist doch ein Witz.
({19})
Die Konsequenz dieser Entwicklung: Die Bürger erhalten
immer weniger Leistungen, werden aber immer mehr belastet. Immer mehr Ausgaben der Kommunen fließen in
so genannte Pflichtaufgabenbereiche wie den Sozialbereich.
Damit aber nicht genug: Unsere Städte und Gemeinden
stecken nicht nur in einer Finanzmisere, sie werden auch
für den Einzelnen immer unattraktiver, denn das tägliche
Leben der Menschen wird von Jahr zu Jahr kostspieliger
und beschwerlicher. So steigen die Energiekosten für private Haushalte in den Gemeinden ständig - das muss man
den Gemeinden nicht vorhalten -: Anfang der 80er-Jahre
genügten 4 200 DM, im Jahr 2001 zahlt ein Familienvater
7 200 DM an Nebenkosten. Die Kosten für Müllabfuhr
stiegen in diesem Zeitraum um 400 Prozent, für Abwasser
im gleichen Zeitraum um 300 Prozent und für Wasser um
200 Prozent. Die so genannte zweite Miete ist deshalb bereits zu einem festen Begriff in den Kommunen geworden.
Ein anderes Dauerthema der Kommunalpolitik ist die
miserable Verkehrssituation in deutschen Städten. Auch
das ist Ergebnis rot-grüner Politik, einer Politik, die auf
einer auf wirklichkeitsfremden Erwägungen beruhenden
Ideologie fußt. Der Kampf gegen die motorisierte Gesellschaft wird nicht allein dadurch geführt, dass man es systematisch unterlässt, defekte Straßen zu reparieren, hinzu
kommen Einrichtungen von Dauerbaustellen und generelle Einbahnstraßenbeschilderungen in Innenstädten zur
Erzeugung regelmäßiger Verkehrsstaus, absurde Verkehrsleitsysteme, unsinnige Radwege. In meiner Heimatstadt Hagen
({20})
gibt es mittlerweile Fahrradwege an Straßen, die ein derartiges Gefälle haben, dass nur ausgewiesene Mountainbikefahrer sie überhaupt bezwingen können. Dies nur deshalb, weil die rot-grüne Landesregierung mit der
Gießkanne für einen solchen Unsinn Fördergelder verteilt.
({21})
Was tut diese Bundesregierung? Jahrelang saß der Altoberbürgermeister Eichel auf dem Schoß der deutschen
Großindustrie; da war es warm und gemütlich.
({22})
Langsam hat die Ungemütlichkeit auch den Bundesfinanzminister, den Herrn Altoberbürgermeister von Kassel
- übrigens eine der Städte mit der höchsten Verschuldung erreicht. Was macht er? Er versucht, die Situation auszusitzen, indem er eine Kommission zur Gemeindefinanzreform einsetzt.
Vor noch anderthalb Jahren hat der Bundesfinanzminister vehement bestritten, dass überhaupt eine Gemeindefinanzreform notwendig sei. Was fällt den Funktionären des Deutschen Städtetages ein? Nichts weiter als
die alte Leier von der Revitalisierung der Gewerbesteuer.
Doch: Etwas Neues gibt es noch, nämlich Überlegungen,
den bisherigen Freibetrag bei der Gewerbeertragsteuer
deutlich zu reduzieren. Das ist ein weiterer massiver Anschlag auf den Mittelstand, meine Damen und Herren.
({23})
Die Liberalen fordern die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie Sie wissen. Ein höherer Anteil an der Umsatzsteuer und ein Zuschlag auf die Einkommensteuer garantieren den Kommunen eine verlässliche, weitgehend
konjunkturunabhängige Einnahmequelle.
({24})
Noch eins, meine Damen und Herren, gehört zur Zukunft der Kommunen.
Das muss aber kurz
sein, weil die Redezeit vorbei ist.
Ja. - Was die Öffentlichkeit zurzeit über Ämterpatronage, Vetternwirtschaft, Parteienfilz und Korruption zu hören und zu wissen bekommt, ist erschreckend. Hierdurch sind die Interessen
der Steuern zahlenden Bürger tangiert; schließlich sind
sie die Finanzierer des Staates. Sie haben Anspruch auf
eine leistungsfähige, wirtschaftliche und sparsame öffentliche Verwaltung und ebensolche öffentlichen Gesellschaften.
Das Parteibuch ist heute entscheidender als Qualität
und Leistung, um eine Führungsposition einzunehmen.
Ein qualifizierter Beamter ohne Parteibuch hat kaum eine
Chance. Das ist ein Grundübel unserer Parteiendemokratie, das beseitigt werden muss.
({0})
Letztlich ist die Neugestaltung der bundesstaatlichen
Finanzverfassung und der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, die untrennbar damit verbunden sind, die entscheidende Voraussetzung für eine gute Zukunft der Gemeinden.
Herr Kollege Schüßler,
jetzt muss ich Sie wirklich bremsen.
Letzter Satz: Einen anderen Weg für eine gute Zukunft der Gemeinden gibt es
nicht.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Eine Bemerkung vorab: Kommunale Selbstverwaltung funktioniert in Deutschland hervorragend,
und zwar auch deswegen, weil es Tausende ehrenamtlicher Ratsmitglieder gibt, deren Engagement man in einer solchen Debatte erwähnen sollte. Man sollte diesen
Menschen in unserem Lande Dank sagen.
({0})
Genauso wichtig ist es, deutlich zu machen, dass die
kommunale Selbstverwaltung für den Erfolg des Modells
Deutschland ein ganz entscheidender Punkt ist. Wir werden dieses Modell der kommunalen Selbstverwaltung
auch in Europa verteidigen und dafür sorgen, dass sie dort
zukünftig möglich bleibt.
({1})
Ich komme auf den Verlauf dieser Debatte zu sprechen.
Ich finde es fast ein bisschen scheinheilig,
({2})
wenn über kommunale Finanzen in der Art und Weise diskutiert wird,
({3})
wie es die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
insbesondere der FDP getan haben. Anhand von Schaubildern kann man die Finanzierungssalden der Gemeinden und der Gemeindeverbände in den Flächenländern
sehr gut deutlich machen. Man kann beispielsweise feststellen, dass diese Gemeinden und Gemeindeverbände
von 1992 bis 1997 ein Minus verbuchten. Die Bandbreite
lag im Jahr 1997 zwischen 2,8 Milliarden Euro und
8,3 Milliarden Euro. Wann ging es aufwärts? 1998; das ist
politisch belegbar.
({4})
Ich bitte ganz herzlich darum, die Mär hinsichtlich der
Frage der Finanzsituation nicht weiterzuverbreiten. Am
Beispiel der Entwicklung des Nettogewerbesteueraufkommens von 1992 bis 2001 kann ich Ihnen das verdeutlichen. Sie können die entsprechenden Zahlen zur Kenntnis nehmen. Diese Bundesregierung kann darauf stolz
sein und braucht sich aufgrund dieses Ergebnisses in keiner Weise zu verstecken.
({5})
Ich bitte Sie darum, dass Sie, wenn Sie sich mit dieser
Frage schon auseinander setzen, dies auch realistisch tun.
Lieber Herr Claus, das Bild, das Sie von der kommunalen Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland
zeichnen, hat mit der Realität absolut nichts zu tun. Das
sage ich ganz deutlich.
({6})
Insbesondere einem Bürgermeister wie Herrn Götz
möchte ich Folgendes mit auf den Weg geben:
({7})
Lieber Herr Götz, ich hätte schon erwartet, dass Sie als
ehemaliger Bürgermeister ein bisschen qualifizierter über
die Situation der kommunalen Gebietskörperschaften in
Deutschland reden.
({8})
Das sage ich hier in aller Deutlichkeit.
Der Bundesinnenminister, der gleichzeitig Kommunalminister ist, hat vor wenigen Tagen ein Gespräch mit den
Vertretern der kommunalen Spitzenverbände geführt. Wir
haben von den kommunalen Spitzenverbänden übrigens
eine große Zustimmung zum Entwurf des Zuwanderungsgesetzes, der jetzt vorliegt, geerntet.
({9})
Lieber Herr Götz, diesen Gesetzentwurf mit dem Adjektiv „unsäglich“ zu verbinden, wie Sie es getan haben,
zeigt, dass Sie in unverantwortlicher Art und Weise mit einem solchen Problem, das gelöst werden muss, umgehen.
({10})
Es ist doch völlig klar, dass diese Bundesregierung
kein Problem zulasten der kommunalen Gebietskörperschaften lösen will. Schauen Sie sich einmal an, welchen
Vorschlag wir bei dem Thema Integrationskosten gemacht haben. Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sind bereit, sich auch im Bereich
der Integration finanziell zu engagieren. Das wäre schon
längst fällig gewesen. Es ist wichtig, dass es nun getan
wird. Davon profitieren auch die kommunalen Gebietskörperschaften.
({11})
Die Gewerbesteuer darf man nicht nur allgemein betrachten, sondern man muss in der Lage sein, sie differenziert zu betrachten. Es ist das Beispiel Ludwigshafen
herangezogen worden. Davon verstehe ich etwas, weil ich
nicht allzu weit von dort herkomme. Die Faktoren, die
hier maßgebend sind, sind regional, speziell, individuell
bedingt. Das muss man sehen. Man muss die Frage stellen, inwieweit sie systemimmanent sind und man sie beseitigen kann.
Wie glaubwürdig Sie mit den kommunalen Finanzen
umgehen, wird beispielsweise an der Tatsache deutlich,
dass einige von Ihnen, wie der Kanzlerkandidat oder die
Parteivorsitzende - leider hat sich auch die FDP daran beteiligt -, mir nichts, dir nichts das Vorziehen der Steuerreform für das Jahr 2002 propagiert haben. Das wäre der finanzielle Ruin der kommunalen Gebietskörperschaften
gewesen, das müssen Sie wissen.
({12})
Da halte ich es ein bisschen mit der Seriosität. Ich bitte
ganz herzlich darum, dass auch Sie anders mit diesem
Thema umgehen.
Eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Dass die öffentlichen Haushalte - nicht nur die Haushalte der Gemeinden,
der Städte, der Gemeindeverbände, sondern auch die der
Länder und der des Bundes - in einer solch schwierigen
finanziellen Situation sind, haben wir letztendlich 16 Jahren CDU/CSU-FDP-Regierung zu verdanken.
({13})
Sie haben Ihre Schulden gemacht und wir haben jetzt die
Aufgabe, aus dieser Schuldenfalle herauszukommen.
Lieber Herr Metzger, wie schwierig das ist, wissen wir
alle. Aber wir packen das in verantwortlicher Art und
Weise an und lassen uns von Ihnen auf der rechten Seite
des Hauses an dieser Stelle nicht irritieren. Das sage ich
hier ganz deutlich.
({14})
Ich könnte Ihnen noch etwas vorhalten. Die alte Bundesregierung hat ja mit Privatisierungserlösen ihre Erfahrung.
({15})
Ich könnte Ihnen einmal die Frage stellen: Wie viel
D-Mark und Pfennig - heute Euro und Cent - sind denn
von diesen Privatisierungserlösen an die kommunalen
Gebietskörperschaften gegangen? - Nichts, keinen Pfennig haben die kommunalen Gebietskörperschaften gesehen. Das war Ihre Finanzpolitik und daran müssen Sie
sich noch heute messen lassen. Hier Krokodilstränen zu
verdrücken ist nicht okay; das sage ich Ihnen an dieser
Stelle ganz deutlich.
({16})
Die Bundesregierung hat bei ihren Entscheidungen die
kommunalen Interessen berücksichtigt. Das belegt beispielsweise das am 20. Dezember 2001 verabschiedete
Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmensteuerrechts, das zu Mehreinnahmen und zur Sicherung eines
Gewerbesteueraufkommens von rund 1 Milliarde Euro
führt. Das ist konkrete Politik, wie wir sie gemacht haben.
Durch die Änderungen können zukünftig auch die Gewerbesteuermindereinnahmen, die aus der verschobenen
Anpassung der branchenbezogenen Abschreibungstabellen resultieren, insgesamt mehr als aufgefangen werden.
Eine Senkung der Gewerbesteuerumlage ist deshalb auch
im Hinblick auf die konjunkturelle Entwicklung sachlich
derzeit nicht zu begründen. Wir entscheiden die wichtige
Frage der kommunalen Finanzen gemeinsam, auch mit
den Bundesländern.
Wie sieht die praktische Politik dieser Bundesregierung aus?
({17})
Wir haben beispielsweise das Kindergeld bei Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern erhöht, was bei den
kommunalen Gebietskörperschaften zu einem Entlastungseffekt in einer Größenordnung von über 300 Millionen Euro führt. Das ist konkrete entlastende Politik vonseiten der Bundesregierung.
({18})
Ich sage Ihnen auch Folgendes, ob Sie das hören wollen oder nicht. Ich weiß, dass sich einige Fraktionen der
Opposition im Haushaltsausschuss um eine Kürzung der
Mittel für das so genannte JUMP-Programm bemüht
haben,
({19})
für das diese Bundesregierung mit den sie tragenden Fraktionen über 2 Milliarden DM in die Hand genommen hat,
um die Ausbildungs- und Fortbildungsprogramme zu finanzieren.
Wir haben über 300 000 junge Menschen vor dem Abrutschen in die Sozialhilfe bewahrt und somit einen konkreten Beitrag zur Verbesserung der finanziellen Situation
der kommunalen Gebietskörperschaften geleistet. Das ist
die Situation.
({20})
Wir haben die so genannte bedarfsorientierte Grundsicherung für ältere Menschen, die ab dem Jahr 2003 gilt,
eingeführt. Die Bundesregierung hat dabei eine Kompensation für die kommunalen Gebietskörperschaften ins Auge
gefasst. Wir haben nämlich eine Kompensation in Höhe
von über 400 Millionen Euro vorgesehen und stehen in der
Diskussion mit den kommunalen Gebietskörperschaften.
Wir werden uns den Aufgaben stellen, die mit der
zukünftigen Entwicklung der Gemeindefinanzen und mit
der Gemeindefinanzreform verbunden sind. Eine entsprechende Kommission wird in der nächsten Woche durch einen Kabinettsbeschluss eingesetzt. Wir gehen in einer
sehr verantwortlichen Weise mit diesem Thema um. Ich
bin sicher, dass wir gemeinsam mit den kommunalen Gebietskörperschaften und mit den Ländern diese Gemeindefinanzreform weiterentwickeln werden, sodass sie zukunftsfähig ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({21})
Die nächste Rednerin
in der Debatte ist die Kollegin Margarete Späte für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Staatssekretär Körper, Ihrem Dank an
die zahlreichen in den Kommunen tätigen ehrenamtlichen
Gemeinderäte will ich mich gerne anschließen. Trotzdem
gilt, dass sich viele allein gelassen fühlen. Die Städte und
Gemeinden in Deutschland erzielen zurzeit weniger Einnahmen und müssen bei steigenden Kosten mehr Aufgaben wahrnehmen.
({0})
Die Kommunen haben auf den Kostendruck reagiert.
Verwaltungsmodernisierung war und ist ganz überwiegend eine kommunale Angelegenheit. So haben die Kommunen in den letzten zehn Jahren mehr Personal abgebaut
als Bund und Länder zusammen.
Trotz dieser Konsolidierungserfolge und der Veräußerung von kommunalem Vermögen reicht die Finanzausstattung der Kommunen nicht aus. Die kommunalen
Investitionen lagen 2001 in den neuen Ländern um
45 Prozent und in den alten Ländern um 25 Prozent unter
dem Niveau von 1992.
({1})
Die Investitionszuweisungen von Bund und Ländern sind
seit 1992 in den alten Ländern um ein Viertel und in den
neuen Ländern um über ein Drittel gekürzt worden.
({2})
Im Jahr 2001 wurden sie noch einmal um 6,3 bzw. um
1,7 Prozent gekürzt. Die rot-grüne Bundesregierung
nimmt negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und
auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung dabei offenbar
in Kauf.
Morgen wird der Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt. Fast 12 Jahre
nach der Wiedervereinigung und nach fast vier Jahren
rot-grüner Politik geht es den Städten und Gemeinden in
Deutschland finanziell schlecht.
({3})
Viele Kommunen in den neuen Bundesländern stecken
tief in der Misere.
({4})
Schauen wir doch einmal dorthin, wo die PDS Mitverantwortung trägt.
({5})
Die finanzielle Lage der Städte und Gemeinden in Sachsen-Anhalt hat sich in den Jahren der SPD-geführten
und PDS-tolerierten Landesregierung stets verschlechtert.
Sachsen-Anhalt ist Schlusslicht aller neuen Bundesländer
mit der niedrigsten Erwerbstätigenquote, dem größten
Rückgang der Industriebeschäftigung, mit der höchsten
Arbeitslosenquote und Abwanderung sowie mit den geringsten Investitionen in die wirtschaftsnahe Infrastruktur.
({6})
Die PDS hat auf ihrem Parteitag in Berlin beschlossen,
den öffentlich geförderten Arbeitsmarkt zu erweitern. Die
Realität ist, dass den Kommunen das Geld zur Finanzierung der Eigenanteile fehlt.
({7})
Wie soll ein Arbeitsmarkt geschaffen werden, der über
Steuern und Abgaben zur Finanzierung der Kommunen
beiträgt, wenn die Kommunen zum öffentlich geförderten
Unternehmen werden? Das ist Sozialismus.
({8})
Die PDS plant weiterhin eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Luxusgüter zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Das erinnert mich fatal an DDR-Zeiten, in denen
ein Auto, ein Farbfernseher, ja sogar der Kaffee zu Luxusgütern erklärt wurden.
Im Juli 2001 veröffentlichte die von der PDS tolerierte
SPD-Landesregierung in Sachsen-Anhalt Eckwerte des
Haushalts 2002 mit weiteren Kürzungen der Finanzzuweisungen für die Kommunen um 183 Millionen Euro.
So erhielt Sachsen-Anhalt im Jahr 2001 2,08 Milliarden Euro an Finanzausgleichszahlungen; davon waren
1,48 Milliarden Euro Schlüsselzuweisungen. Laut Haushaltsplanentwurf wird für das Jahr 2002 durch den verminderten Anteil an Gemeinschafts- und Landessteuern
sowie Einbrüche bei der Gewerbesteuer mit Einnahmen
von 1,8 Milliarden Euro gerechnet. Nach der Steuerschätzung werden wahrscheinlich nur 1,75 Milliarden Euro
herauskommen.
Die Stadt Leuna mit 7 300 Einwohnern und einigen
großen Industrieunternehmen muss einen enormen Rückgang der Gewerbesteuer verkraften, vom Jahr 2000 zu
2001 ein Minus von 581 000 Euro.
({9})
Leidtragende sind vor allem Handwerksbetriebe, die
Arbeitsplätze in der Region sichern und welche schaffen
könnten. Investitionen der Kommunen bedeuten nun einmal Aufträge für ortsansässige Firmen.
Lassen Sie mich als ehrenamtliche Bürgermeisterin
meiner Heimatgemeinde Kayna im Süden Sachsen-Anhalts und als Mitglied des Kreistages des Burgenlandkreises mit 143 000 Einwohnern auf einige konkrete Zahlen
aus diesem Landkreis eingehen.
({10})
- Das ist die Realität. - Ein Vergleich der Haushaltspläne
von 1995 und 2002 zeigt folgendes Bild: Betrug das
Volumen des Vermögenshaushalts 1995 umgerechnet
28,3 Millionen Euro, so sind es im Jahr 2002 nur noch
9,97 Millionen Euro.
({11})
Konnten im Jahr 1995 noch 15,45 Millionen Euro für
Baumaßnahmen ausgegeben werden, so können im Jahr
2002 lediglich 1,3 Millionen Euro für Baumaßnahmen an
Schulen verwendet werden. Das ist dann auch gleich die
Summe, die insgesamt für Baumaßnahmen zur Verfügung
steht. Die Investitionszuweisungen des Landes betrugen
1995 noch 1,59 Millionen Euro. Im Haushaltsplan 2002
sucht man vergebens danach, da das Land diese Investitionszuweisungen gestrichen hat.
Konnten 1995 noch 2,86 Millionen Euro aus dem Verwaltungshaushalt dem Vermögenshaushalt für Investitionen und zusätzlich 1,02 Millionen Euro der Rücklage
zugeführt werden, so ist dies im Jahr 2002 umgekehrt. Da
müssen 0,6 Millionen Euro Investitionshilfe dem Verwaltungshaushalt zugeführt werden.
Die Kreisumlage stieg von 17,3 Millionen Euro im
Jahr 1995 auf 22,7 Millionen Euro in diesem Jahr;
({12})
allerdings sanken im gleichen Zeitraum die allgemeinen
Zuweisungen vom Land an den Landkreis von 35 Millionen Euro im Jahr 1995 auf nur noch 27 Millionen Euro
im Jahr 2002.
({13})
Das Land hat sich, um seine überhöhten Personalkosten
zu finanzieren, bei den Bundesergänzungszuweisungen
und dem Länderfinanzausgleich bedient.
Betrachten wir den Bereich der freiwilligen Aufgaben.
Lag der Zuschuss des Kreises für AB-Maßnahmen 1995
noch bei 305 600 Euro, so sind für 2002 lediglich
12 700 Euro eingestellt. Die freie Kulturarbeit, Theater,
Denkmalschutz, Sport- und Vereinsförderung standen
1995 mit 1,17 Millionen Euro zu Buche; in diesem Jahr
sind es gerade noch 712 000 Euro.
Die Auswirkungen sind deutlich. Betrug die Arbeitslosenquote 1995 19,8 Prozent, so lag sie Ende 2001 bei
21,8 Prozent. Die Ausgaben für Sozialhilfe sind von 1995
bis 2002 um 4,1 Millionen Euro gestiegen. Diese Zahlen
belegen doch eindeutig,
({14})
wie ernst es auch die PDS mit vielen ihrer Forderungen
nimmt, die sich in der Realität nahezu in Luft auflösen.
Die CDU und die CSU wollen keinen Zentralismus,
erst recht keinen wie auch immer daherkommenden Sozialismus.
({15})
Frau Kollegin Späte,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Wir wollen auch in
Zukunft in unserem Land und in Europa eine starke kommunale Selbstverwaltung mit viel Eigenverantwortung im
Interesse der Menschen, für die wir Politik machen.
({0})
Dafür gilt es noch viel zu tun.
({1})
Jetzt spricht der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute
über ein tragendes Element unserer demokratischen
Grundordnung. Über die Frage der finanziellen Not der
Kommunen ist hier - von meinem Fraktionskollegen
Oswald Metzger wie von Kollegen aus anderen Fraktionen - schon einiges gesagt worden. Ich möchte mich in
meinem kurzen Redebeitrag primär der Frage der Stellung
der Kommunen in einem sich vereinigenden Europa widmen und die Frage aufwerfen, welche Rolle die Kommunen in dem europäischen Einigungsprozess künftig spielen sollen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({0})
- Es freut mich, dass es Ihnen gut geht. Ich hoffe, es geht
Ihnen auch noch am Abend des 22. September gut.
({1})
Mir geht es so - dies wollte ich sagen -, dass ich immer tief beeindruckt bin, wenn ich die Bilder aus der
Schweiz sehe, von Bürgerinnen und Bürgern, die sich auf
den Plätzen ihrer Kommune versammeln und sich für ihre
Kommune engagieren. Das ist wahre direkte Demokratie, das ist die direkteste Form der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an ihren Kommunen.
({2})
Auch wir in der Bundesrepublik Deutschland haben in
vielen Kommunen schon positive Erfahrungen mit direkter
Demokratie auf kommunaler Ebene gemacht. Ich will die
Gelegenheit nutzen, um deutlich zu machen - das ist ein
Anliegen nicht nur meiner Fraktion, sondern auch der Kollegen aus der SPD und, wie ich glaube, der PDS und der
FDP -, dass wir die direkte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland auf allen staatlichen Ebenen, auf kommunaler wie auf Landes- und Bundesebene, stärken sollten.
({3})
Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir starke Kommunen wollen, in denen die Bürgerinnen und Bürger das
Gefühl haben, dass sie in ihrer Kommune gefragt werden,
und zwar nicht nur dann, wenn es um Kommunalwahlen,
um Stadtrats- oder Kreistagswahlen, geht.
Ich bleibe beim Beispiel der Schweiz; ich habe mir das
mit dem Innenausschuss angeschaut. Manches kommunale Denkmal eines Bürgermeisters wäre uns möglicherweise erspart geblieben, wenn über ihm - wie in der
Schweiz; mich hat das wirklich beeindruckt - das Damoklesschwert einer direkten Abstimmung geschwebt hätte.
Schauen Sie sich die Schweiz an und vergleichen Sie das
mit uns! Dann wissen Sie, dass das Verfahren nicht dazu
führt, dass unvernünftige Entscheidungen gefällt werden.
Im Gegenteil, es führt dazu, dass die Kommunen sehr
kritisch und sehr achtsam mit den Finanzen umgehen, weil
sie wissen, dass sie ihr Verhalten im Zweifelsfall auch zwischen den Wahlen rechtfertigen müssen. Das schwächt die
Kommunen nicht, im Gegenteil, es stärkt sie.
({4})
Ein Aspekt ist sicher auch die Frage, wie wir künftig
die Eigenständigkeit unserer Kommunen innerhalb Europas stärken können. Die Eigenständigkeit der Kommunen ist eben, wie bereits in der Debatte betont, nicht nur
von den Ländern und dem Bund bedroht, sondern wird
zunehmend auch von Europa infrage gestellt.
({5})
Hier muss es eine Neuordnung der Kompetenzen geben,
eine Neuordnung des Mehrebenensystems innerhalb
Europas. Nur so kann - ich glaube, hier für alle sprechen
zu können - die kommunale Selbstverwaltung innerhalb
Europas gesichert werden. Dabei geht es - zu den Finanzen will ich, wie bereits betont, nichts sagen ({6})
um eine Mischfinanzierung genauso wie um eine Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips, das heißt: so zentral wie
nötig und so dezentral wie möglich. Das muss unser Grundsatz sein im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses.
Herr Staatssekretär Körper hat bereits ein Lob für die
Stadträte ausgesprochen.
({7})
Ich will dieses Lob ergänzen um ein Lob für all diejenigen, die auf kommunaler Ebene Verantwortung übernehmen, beispielsweise im Prozess der Lokalen Agenda 21.
Was dort an vorbildlicher Arbeit fraktionsübergreifend in
vielen Kommunen geleistet wird - dies gilt im Übrigen
auch für die Nichtregierungsorganisationen -, verdient
ausdrücklich Anerkennung. Denn hier wird Verantwortung für die Kommune übernommen, aber darüber hinaus
auch für eine sich vereinigende Welt. Das sollte durchaus
einmal gewürdigt und anerkannt werden.
({8})
- Richtig, Herr Kollege. - Das bedeutet, dass auch in der
Kommune Wirtschaft, Soziales und Umwelt zusammengehen müssen, so wie es 1992 auf dem Kongress in Rio
von allen gefordert wurde.
Ich will das Lob aber noch konkretisieren: Ich denke
beispielsweise an unsere württembergische Gemeinde
Konstanz, die Vorbildliches geleistet hat, übrigens mit
einem grünen Oberbürgermeister.
({9})
- So ist es. - Der Prozess, der dort stattgefunden hat, führte
dazu, dass sich die Bürgerinnen und Bürger engagieren
und einbringen, sei es für Spielplätze, für eine fußgängerfreundliche Gestaltung von Umgehungsstraßen, sei es für
den Ausbau von Radwegen. Dies hat der Kommune gut
getan. Die Bürgerinnen und Bürger haben dementsprechend ein sehr viel stärkeres Gefühl, dass dies ihre Dinge
sind, als wenn alles nur von oben par ordre du mufti verordnet wird.
In einer sich globalisierenden Welt geht es natürlich
auch um die Frage der Daseinsvorsorge. Auch hier sind
die Kommunen zunehmend mit der Liberalisierung von
Aufgaben der Daseinsvorsorge beschäftigt. Dies bedeutet
beispielsweise im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs für mich auch - ich weiß, dass dies unterschiedlich gesehen wird -, dass der Verkauf von Anteilen der
Versorgungs- und Verkehrsbetriebe nicht in jedem Fall
der richtige Weg ist, im Gegenteil: Ich glaube, dass die
Kommunen gut beraten sind, wenn sie hier ihre Zuständigkeiten behalten.
Auch hierzu ein Beispiel aus dem Ländle, weil es dort
oftmals ganz gut klappt: Die Stadt Freiburg hat einen
vorbildlichen öffentlichen Personennahverkehr, der flächendeckend ausgebaut wurde, der getaktet ist und der
- jetzt kommt es - wirtschaftlich arbeitet. Daran sieht
man, dass sich ein gut ausgebauter öffentlicher Personennahverkehr, der von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen wird, durchaus rechnen kann und eben nicht zu
den in diesem Zusammenhang oft befürchteten roten Zahlen führt.
({10})
- Richtig. Kommunen können wirtschaften.
Ähnliches gilt für die Wasserwirtschaft. Wasser ist ein
nicht ersetzbares Lebensmittel und unglaublich wertvoll.
Daher eignet sich dieser Bereich auch nicht für Privatisierungen. Auch hier müssen wir mit den Kommunen
gemeinsam an einem Strang ziehen.
({11})
Ich möchte zum Schluss noch einmal auf den jetzt eingerichteten Verfassungskonvent unter Führung von
Giscard d’Estaing eingehen. Wahrscheinlich wissen nur
wenige, dass Giscard d’Estaing wie kein anderer für dieses Amt geeignet ist. Er ist nämlich auch Präsident des
Rates der Gemeinden und Regionen Europas,
({12})
des ältesten europäischen Städtenetzwerkes. Ich bin mir
daher ziemlich sicher, dass die Interessen der Kommunen
im europäischen Verfassungskonvent gut aufgehoben
sind.
({13})
Dadurch werden die Rechte der Kommunen gestärkt
werden.
Die Koalition - Herr Kollege, machen Sie sich darüber
keine Sorgen - hat bereits deutlich gemacht, dass sie den
Konvent auf alle nur erdenkliche Weise unterstützen wird.
Ich glaube, dies ist auch für den Einigungsprozess sehr
wichtig.
Dabei geht es auch um die Anhörungsrechte von Kommunen, die in Deutschland bereits bestehen. Ich halte die
Regelung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der
Bundesministerien, die eine obligatorische Anhörung
vorsieht, für sehr vernünftig. Dies ist ein gutes Beispiel,
welches es in Europa nachzuahmen gilt. Ähnliches gilt für
die Frage des Klagerechts vor dem Europäischen Gerichtshof. Auch dies ist ganz wichtig für die Stärkung der
Kommunen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass der
Nationalstaat zunehmend weniger Heimat bieten kann.
Wir haben hier in Berlin - die meisten von uns kommen
ja nicht aus Berlin - gelernt, wie es ist, sich eine neue Heimat zu schaffen. Für mich ist dies die schwäbische Butterbrezel, die ich hier kaufe. Für die anderen sind es der
rheinische Karneval sowie die Ständige Vertretung, die sie
hierher gebracht haben.
Jeder von uns weiß: In den Kommunen wird Demokratie praktiziert. Ohne die starken und unabhängigen
Kommunen gibt es keine Demokratie.
({14})
Jetzt spricht der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Özdemir, ich stimme
natürlich mit Ihnen darin überein, dass die Kommunalpolitik die hohe Schule der Demokratie ist. Aber dann
passt es doch nicht in die Landschaft, dass die überwiegende Mehrzahl der Städte, Gemeinden und Landkreise in
der Bundesrepublik Deutschland unter einer akuten
Finanznot leidet und sich diese Not sogar weiter zugespitzt hat.
({0})
Die Finanzmisere der Gemeinden schadet dem sozialen Klima in den Städten und Gemeinden. Sie ist wirtschaftsfeindlich, denn sie bremst die Unternehmen in ihrer Eigeninitiative. Sie ist aber auch demokratiefeindlich.
Ein Bürgermeister, eine Bürgermeisterin, die über immer
weniger Geld zur Lösung der Probleme verfügt,
({1})
ist diskreditiert. Damit hat auch die nachlassende Wahlbeteiligung in den Kommunen etwas zu tun. Hier müssen
wir uns alle etwas einfallen lassen.
({2})
Für das Finanzdesaster der Kommunen gibt es viele
Ursachen. Klar ist aber eines: Bund und Länder haben ein
gerüttelt Maß Anteil daran. Dies hat auch die Debatte gezeigt. Eine Reform der Kommunalfinanzen ist dringend
geboten und dürfte eines der aktuellen, nicht mehr aufschiebbaren finanz- und steuerpolitischen Projekte in der
Gegenwart und der Zukunft sein.
Die PDS-Fraktion ist im Übrigen die einzige Fraktion
im Deutschen Bundestag, die ein Konzept in das Parlament eingebracht hat und dies auch laufend weiter konkretisiert.
({3})
Wir setzen uns dafür ein, dass die Kommunen dauerhaft
eigene, stabile Steuereinnahmen haben und dass sie darüber weitestgehend selbst verfügen können. Die Erhöhung
der so genannten Gewerbesteuerumlage, die an Bund
und Land fließt, muss sofort rückgängig gemacht werden.
({4})
Die frei werdenden Mittel könnten angemessen für Investitionen und zur Verbesserung der sozialen Lage in den
Städten, Gemeinden und Landkreisen genutzt werden.
Wir wollen die Modernisierung einer wirtschaftskraftbezogenen Steuer für die Städte und Gemeinden. Wir wollen, dass die Unternehmen diese Steuer nach ihrer Leistungsfähigkeit zahlen.
({5})
Wir alle müssen uns einhellig dagegen wehren, dass der
Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Breuer, einerseits
einen Gewinn von 650 Millionen Euro verkündet und das
Institut andererseits mitteilt, dass kein Pfennig Gewerbesteuer an die Stadt Frankfurt am Main gezahlt wird. Diese
Zustände dürfen wir uns nicht mehr gefallen lassen.
({6})
Wir wollen auch, dass eine sachliche Debatte über die
Zukunft von Arbeitslosen- und Sozialhilfe geführt wird.
Wir lehnen die voreiligen Pläne einer Zusammenlegung
der Arbeitslosen- und Sozialhilfe ab. Denn diese Zusammenlegung führt in erster Linie dazu, dass den Kommunen ganz offensichtlich weitere Lasten aufgebürdet werden und ihnen neue Aufgaben ohne entsprechende
logistische und finanzielle Verantwortung zugewiesen
werden.
({7})
Deshalb Schluss mit diesen Plänen! Diese lehnen im
Übrigen auch die kommunalen Spitzenverbände ab, auf
die wir uns in unserer Großen Anfrage stark gestützt haben.
Dafür möchte ich mich an dieser Stelle sehr bedanken.
Wir brauchen Sofortmaßnahmen für die Stärkung der
Finanzkraft der Kommunen, die noch in den nächsten
Wochen und Monaten auf den Weg gebracht werden können. Wir fordern daher die Bundesregierung von dieser
Stelle aus auf, die vor einem Jahr, nämlich im April 2001,
zugesagte Entschädigungszahlung für Vermögensschäden der Kommunen endlich auf den Weg zu bringen. Die
Treuhandanstalt und deren Nachfolgerin BvS haben
zuordnungswidrige Privatisierungen dergestalt durchgeführt, dass sie beim Verkauf von Unternehmen in Ostdeutschland gleich noch - das war gegen Recht und Gesetz - Kindergärten und Ferienlager mitverkauft haben.
({8})
Die Zuständigkeit dafür liegt bei den Kommunen. Vor
einem Jahr wurde in Berlin die Vereinbarung getroffen,
den Kommunen einen dreistelligen Millionenbetrag auszuzahlen. Bisher ist kein Pfennig bzw. Cent geflossen.
Das darf nicht hingenommen werden.
({9})
Die gesunkene Finanzkraft der Kommunen drückt sich
in mangelnder Investitionskraft aus. Die öffentlichen Unternehmen verfügen über immer weniger entsprechende
finanzielle Mittel. Ein Weg, um aus diesem Teufelskreis
herauszukommen, wäre die Auflage einer kommunalen
Investitionspauschale des Bundes. Sie soll direkt vom
Finanzministerium in Berlin in die Städte und Gemeinden
fließen. Nutznießer sollen ostdeutsche Städte und Gemeinden sein, aber auch solche im Altbundesgebiet, dort
vor allem Regionen, die dauerhaft strukturschwach sind.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Die Debatte zeigt erneut, dass nicht nur die Finanzausstattung der Kommunen, sondern auch die öffentlichen Finanzen insgesamt in einer Dauerkrise sind. Deshalb ist es notwendig, gemeinsame Anstrengungen zu
unternehmen, um die öffentlichen Haushalte endlich vom
Kopf auf die Füße zu stellen und die Mittel vor allem dort
hinzubringen, wo die Musik, das heißt das Leben, spielt:
in den Städten und Gemeinden.
Herr Kollege Rössel,
hier oben spielt die Musik. Ich muss Sie an Ihre Redezeit
erinnern.
Ich komme zum
Schluss. - Eine Kommunalfinanzreform muss sofort auf
den Weg gebracht werden. Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages müssen daran beteiligt werden. Das ist
zurzeit nicht vorgesehen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der nächste Redner ist
für die SPD-Fraktion der Kollege Bernd Scheelen.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Ich hätte von dem Kollegen
Rössel eigentlich erwartet, dass er sich zunächst einmal
für die Aussage seines Fraktionsvorsitzenden entschuldigt, der kritisiert hatte, dass der Bundesinnenminister
nicht anwesend ist. Ich freue mich, dass der Bundesinnenminister schon seit über einer Stunde hier ist.
({0})
Er hat sich die Reden anhören müssen, die manchmal
wirklich wehgetan haben. Das war schon eine große Leistung. Herzlichen Dank.
Wenn die PDS beantragt, über die kommunale Situation und die Kommunalfinanzen zu reden, muss man sich
immer fragen, warum sie das tut.
({1})
Die Erfahrung zeigt, dass die PDS immer dann damit
kommt, wenn in den neuen Bundesländern auf kommunaler Ebene Wahlen anstehen. Die Anfrage der PDS datiert vom 4. April vorigen Jahres; das ist also fast ein Jahr
her. Die Antwort datiert vom 19. September vorigen Jahres. Sie haben ein halbes Jahr gebraucht, um zu beantragen, dass wir hier darüber reden.
Am 14. April stehen in Rostock, Schwerin und Wismar
Bürgermeister- bzw. Oberbürgermeisterwahlen an.
Deswegen haben Sie Wert darauf gelegt, dass heute darüber gesprochen wird. Wir debattieren immer sehr gerne
über die Situation in den Kommunen.
({2})
Ich sage Ihnen: Ihre Strategie wird nicht aufgehen;
denn der Oberbürgermeister von Rostock, Arno Pöker, ist
ein sehr guter Mann und wird am 14. April wieder gewählt.
({3})
Dasselbe gilt für Dr. Rosemarie Wilcken aus Wismar.
Auch sie wird wiedergewählt werden; denn sie macht eine
sehr gute Politik. Axel Höhn wird in Schwerin erstmalig
ins Amt gewählt, um dem SPD-Bürgermeister nachzufolgen. Das wird das Ergebnis des 14. April sein.
Wenn man in die Anfrage der PDS schaut und sie liest
- es tut manchmal weh, sie zu lesen -, stellt man fest, dass
in ihr sehr viel Polemik enthalten ist. Einige Punkte
möchte ich unter dem Stichwort Polemik herausgreifen:
Polemik I: Eine Ihrer Aussagen in der Anfrage lautet,
dass es übliche Praxis sei, dass der Bund beschließe, die
Kommunen aber bezahlen und ausführen müssten. Es
mag sein, dass das bis 1998 so war, danach aber nicht
mehr. Ich werde Ihnen gleich belegen, dass diese Aussage
barer Unsinn ist.
({4})
Als erstes Beispiel nenne ich die Rentenreform inklusive der Grundsicherung. In der Debatte wird es immer so
dargestellt, als habe der Bund beschlossen, dass es eine
Grundsicherung geben müsse und dass die Kommunen
das bezahlen müssten.
({5})
Das ist aber nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass es
ein Problem zu lösen galt. Das Problem lautete: verschämte Altersarmut. Verschämte Altersarmut bedeutet,
dass Menschen - das betrifft im Wesentlichen ältere
Frauen -, die ein schweres Schicksal haben - sie haben
den Krieg mitgemacht und mussten den Aufbau bewältigen - und Kinder erzogen haben - teilweise mussten sie
dies ohne Partner tun -, jetzt in Verhältnissen unterhalb
des Niveaus der Sozialhilfe leben. Sie trauen sich aber
nicht oder können es mit ihrer Würde nicht vereinbaren,
zum Sozialamt zu gehen, um eine ergänzende Sozialhilfe
zu beantragen. Diese Fälle gibt es, weil die Betroffenen
beispielsweise auch befürchten, dass Rückgriffe auf ihre
Kinder genommen werden.
Dieses Problem galt es zu lösen. Zu diesem Zweck haben wir die Grundsicherung eingeführt. Jeder hat jetzt Anspruch auf eine sozusagen ergänzende Sozialhilfe. Es
wird jedoch als Grundsicherung bezeichnet. Das Geld
dafür liefert der Bund; er übernimmt die Kosten dafür. Es
steht eine Summe von 800 Millionen DM im Raum.
({6})
- Herr Fromme, Sie wissen ganz genau, dass es nach zwei
Jahren eine so genannte Spitzabrechnung geben wird.
Dann wird man sehen, ob man mit dem Geld auskommt
oder nicht und ob vielleicht zu viel gezahlt worden ist.
Das Konnexitätsprinzip wurde hier ganz klar eingehalten:
Der Bund regelt es und liefert auch die Finanzmittel. Das
ist eine sinnvolle und richtige Regelung.
({7})
Der zweite Punkt ist hier bereits mehrfach angesprochen worden, weswegen ich ihn nur kurz ins Gedächtnis
rufen will. Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien regelt in § 47, dass die kommunalen Spitzenverbände und die Länder im Vorfeld von Gesetzesvorhaben zu hören sind. Diese Errungenschaft steht in nur
zwei bis drei Sätzen dieser Geschäftsordnung, hat aber
eine weitreichende Bedeutung. Es ist nämlich absolut neu,
dass eine Bundesregierung kommunale Spitzenverbände
und Länder im Vorfeld anhört, um Gesetzesvorhaben zu
gestalten. Ich finde, auch das ist einen Applaus wert.
({8})
- Vielen Dank.
Dritter Punkt. Auch das JUMP-Programm wurde
schon erwähnt; man sollte es aber noch einmal unterstreichen: 400 000 Jugendliche wurden durch das JUMP-Programm mit jährlich 2 Milliarden DM gefördert.
({9})
Das bedeutet ganz konkret, dass die Sozialhilfe entlastet
wurde. Die Zahlen der Sozialhilfe in den letzten Jahren
zeigen, dass das ein durchaus erfolgreiches Programm
dieser Bundesregierung für eine sinnvolle Arbeitsmarktförderung ist.
({10})
Polemik II aus dem Antrag der PDS-Fraktion. Da steht,
die Reform der Kommunalfinanzierung sei auf die
nächste Legislaturperiode verschoben. Auch das, Herr
Kollege Rössel, ist barer Unsinn; denn Sie wissen, dass
das Bundeskabinett am nächsten Mittwoch den Beschluss
fassen wird, eine Kommission einzusetzen, damit diese
unmittelbar nach Ostern mit der Arbeit beginnen kann.
Das, was an dieser Kommission besonders wichtig ist, ist,
dass dort zwischen den Vertretern der Kommunen, der
Länder und des Bundes auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird. Auch das ist eine besonders kommunalfreundliche Regelung dieser Bundesregierung.
({11})
Polemik III aus dem Antrag der PDS-Fraktion. Da
steht, die Kommunen müssten unter den Einnahmeausfällen der Steuerreform am stärksten leiden. Auch das ist
barer Unsinn. Der Kollege Götz und andere haben diese
Behauptung ständig wiederholt. Aber auch durch ständige
Wiederholung wird sie nicht wahrer. Die kommunalen
Spitzenverbände haben sich nach der Beschlussfassung
über die Steuerreform ausdrücklich bei uns bedankt, dass
ihre Belastungen deutlich unter dem Durchschnitt liegen.
({12})
Ich will die Zahlen gerne ins Gedächtnis rufen. Die Gemeinden waren im Schnitt des Jahres 2000 mit 12,1 Prozent an den Steuereinnahmen beteiligt. Die Steuerreform,
so wie sie verabschiedet worden ist, belastet die Kommunen im Zeitraum bis 2005 im Durchschnitt mit nur
8,9 Prozent. Dafür waren uns die Kommunen außergeBernd Scheelen
wöhnlich dankbar. Ich finde, das ist ein besonders kommunalfreundlicher Zug dieser Reform.
({13})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rössel?
Herr Kollege Rössel, bitte.
Herr Kollege Scheelen,
sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich bei
der Aussage zu den Steuerausfällen der Kommunen infolge der Steuerreform bei den genannten 8,9 Prozent ausschließlich um die direkten Steuerausfälle der Kommunen
handelt?
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
massiven Steuerausfälle der Länder über den kommunalen Finanzausgleich natürlich an die Kommunen weitergegeben werden und sich unter Berücksichtigung dieser
Tatsache der Beitrag der Kommunen an den Einnahmeausfällen der öffentlichen Hand von 8,9 Prozent auf
17 Prozent erhöht? War es aus diesem Grunde nicht richtig, diese Frage zu stellen?
Herr Kollege Rössel, Sie
wissen, dass der Bund keine direkten Beziehungen zu den
Gemeinden unterhalten kann, da dies im Grundgesetz
nicht vorgesehen ist. Der Staatsaufbau ist zweigliedrig:
Der Staat besteht aus Bund und Ländern.
({0})
Wir können deshalb nur das regeln, was der Bund beeinflussen kann. Ich sage Ihnen noch einmal: Die 8,9 Prozent waren nicht einfach durchzusetzen. Es war nicht so,
als hätte es darüber keine Diskussionen gegeben. Klar ist,
dass uns die kommunalen Spitzenverbände für diese
Regelung sehr dankbar waren. Wie die Länder mit dem
Problem im Einzelnen umgehen, ist sehr unterschiedlich.
Es mag sein, dass Sie es in CDU-regierten Ländern erleben, dass die Kommunen dort einen Beitrag von 17 Prozent an den Einnahmen übernehmen müssen. Ich kann das
in SPD-geführten Bundesländern nicht erkennen.
({1})
Polemik IV aus dem Antrag der PDS-Fraktion. Da
steht: Die Kommunen werden an den Einnahmen aus dem
Verkauf der UMTS-Lizenzen nicht beteiligt; es profitiert
nur der Bund. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Die
UMTS-Erlöse erbrachten 100 Milliarden DM. Diese hat
der Bund zu 100 Prozent in die Schuldentilgung gesteckt.
Es war absolut richtig und wichtig, das zu tun; denn Sie
wissen, dass wir 1998 einen Schuldenberg von 1,5 Billionen DM übernommen haben, der uns jährlich mit 82 Milliarden DM Schuldzinsen belastet.
({2})
Schuldenabbau zu betreiben ist eine der vornehmsten
Aufgaben einer neuen Regierung, die den Schutt wegräumen muss, den die alte Regierung hinterlassen hat.
({3})
Diese 100 Milliarden DM Schuldentilgung führen zu
jährlichen Zinsersparnissen von 5 Milliarden DM, die wir
nicht dazu genommen haben, weiteren Schuldenabbau zu
betreiben; auch das wäre sinnvoll gewesen. Dieses Geld
steht vielmehr für Investitionen in wichtige Bereiche bereit, zum Beispiel in Bildung und Infrastruktur. Auch hiervon profitieren die Gemeinden, beispielsweise beim Programm Ortsumgehung mit 900 Millionen DM oder beim
Programm Gebäudesanierung mit 400 Millionen DM.
({4})
Das heißt, die Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen und die daraus entstehenden Zinsersparnisse kommen
auch den Gemeinden unmittelbar zugute.
Ich sage noch etwas zu den UMTS-Erlösen. Es wird
immer so getan, als ob es etwas Schlimmes wäre, wenn
Unternehmen investieren, um demnächst Gewinne zu machen. Ich gehe davon aus, dass die Telekommunikationsunternehmen die UMTS-Lizenzen nicht gekauft haben,
um Verluste zu machen.
({5})
Vielmehr wollen sie damit Gewinne machen. Wenn sie
Gewinne machen, dann zahlen sie auch Gewerbesteuer.
Es wird sicherlich nicht die Forderung erhoben werden,
dass der Bund an den zusätzlichen Gewinnen in irgendeiner Form beteiligt wird; denn auch Bund, Länder und Gemeinden veräußern öffentliches Eigentum. Wenn beispielsweise die Bayern ihre Anteile an Eon verkaufen und
der Firmensitz von Eon in Düsseldorf ist, dann zahlen
letztlich die nordrhein-westfälischen Bürger durch Mindereinnahmen bei der Steuer dafür, dass Bayern Mehreinnahmen hat. Auch da könnte man sagen, Bayern müsste
NRW an den Einnahmen beteiligen. Das ist aber eine
sinnlose Debatte, weil das System unserer Wirtschaftsordnung entspricht und dazu führt, dass Wachstum und
Beschäftigung auf Dauer gefördert werden.
({6})
Ich möchte Ihnen ein Zitat aus einem Antrag, den wir
im Januar dieses Jahres in das Hohe Haus eingebracht haben, in Erinnerung rufen. Sie wissen, dass wir uns schon
damals mit der Lage der Gemeindefinanzen beschäftigt
haben. Die Koalition hat ausdrücklich anerkannt, dass die
Probleme der Kommunen, auch die finanziellen Probleme,
sehr ernst zu nehmen sind. Natürlich sehen wir die Schwierigkeiten, die dadurch entstanden sind, dass die Gewerbesteuereinnahmen des vorigen Jahres zurückgegangen
sind. Ich sage noch einmal: Das hat nichts mit der Steuerreform zu tun, denn wir haben an der Gewerbesteuer überhaupt nichts verändert. Das wissen Sie ganz genau.
Wir haben die Sätze bei der Einkommensteuer und der
Körperschaftsteuer gesenkt. Wir haben die Gewerbesteuer aber nicht angepackt, sondern sie in ihrem Bestand
erhalten, aber auf der andere Seite für den Mittelstand sozusagen eliminiert. Es ist eine großartige Leistung, den
Mittelstand von der Gewerbesteuer in der Weise zu entlasten, dass die gezahlte Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer zu verrechnen ist. Das geht im Wesentlichen
zulasten von Bund und Ländern, und zwar zu 85 Prozent.
Auch das ist ein besonders kommunalfreundlicher Zug
dieser Regierung.
Wir erkennen an, dass die Lage schwierig ist. Deswegen haben wir im vorigen Jahr bereits reagiert. Sie wissen,
dass wir im Unternehmensteuerfortführungsgesetz Regelungen bezüglich der Organschaften getroffen haben, um
Steuerverrechnungsmodelle auf Konzernebene zu erschweren, Mehrmütterorganschaften zu verbieten und Organschaften bei Versicherungen ebenfalls nicht zuzulassen. In Verbindung mit weiteren Maßnahmen ergibt das
auf der Gewerbesteuerseite eine Mehreinnahme von
knapp 1 Milliarde Euro für dieses Jahr. Das ist die kurzfristige Maßnahme.
Die mittelfristige Maßnahme ist die Einsetzung einer
Kommission. Das ist wichtig und richtig. Diese Kommission ist die erste seit 30 Jahren. Die letzte gab es 1969 und
die Ergebnisse schlugen sich 1970 im Gesetzblatt nieder.
Immer dann, wenn Sozialdemokraten regieren, gibt es
Gemeindefinanzreformen. Wenn Sie von der Opposition
regiert haben, haben Sie sich um die Gemeindefinanzen
nie gekümmert.
({7})
Deswegen sage ich Ihnen: Die Vertreter der Kommunen wissen das zu schätzen. Das einzige, was sie fürchten,
ist eine Neuauflage von Schwarz-Gelb. Dazu wird es aber
nicht kommen, da die Signale bei der Konjunktur - Sie
wissen das - auf Grün stehen und sich das Wachstum beschleunigt. Heute hat das „Handelsblatt“ getitelt, der
Osten werde steil aus dem Konjunkturabschwung hervorgehen und das Wirtschaftswachstum werde sich bis Ende
des Jahres vermutlich auf einen Wert von knapp 3 Prozent
einpegeln.
({8})
Das sind die besten Voraussetzungen, um eine sinnvolle
Gemeindefinanzreform auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank.
({9})
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht der Kollege JochenKonrad Fromme für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich über das
volle Haus und würde mich freuen, wenn Sie sich alle für
Kommunalfinanzen interessieren würden.
Herr Staatssekretär Körper - wenn Sie mir Ihr geneigtes Ohr leihen würden -, Sie haben gesagt, die Kommunalpolitiker müssten belobigt werden. Da bin ich Ihrer
Meinung. Ich bin sogar der Meinung, sie müssten eine
Tapferkeitsmedaille bekommen; denn sie wurden als
Ratsmitglieder gewählt und betätigen sich als Konkursverwalter.
({0})
Die Bundesregierung sagt in ihrer Antwort auf die
Große Anfrage, sie wolle einen effizienten und bürgerfreundlichen Staat und werde deswegen auch die kommunalen Handlungsspielräume und Entscheidungsbereiche respektieren und stärken.
({1})
Ich höre das wohl, allein mir fehlt der Glaube. Allein
wenn ich den Kollegen Scheelen höre, der ständig von
Mehreinnahmen spricht, obwohl die Einnahmen in Wahrheit immer niedriger werden, dann macht das deutlich,
dass Sie ein völlig anderes Bild von der Realität haben.
({2})
In Ihrer Antwort sagen Sie, insgesamt habe sich die Finanzsituation der Kommunen in den letzten Jahren erfreulich entwickelt und die Finanzierungsdefizite seien
geringer geworden. Das ist aber nur möglich geworden
durch den Verkauf von Tafelsilber. Es geht doch um die
Tatsache, dass die laufenden Einnahmen die laufenden
Ausgaben nicht mehr decken. Darin liegt das Problem.
Bei allem anderen handelt es sich um eine Statistik, die
gar nichts aussagt.
({3})
Wie erfreulich die kommunale Finanzsituation ist,
möchte ich anhand eines Zitats deutlich machen. Ich führe
nicht Ihren Präsidenten des Deutschen Städtetags, Hajo
Hoffmann, an, der sein Amt derzeit ruhen lassen muss,
sondern die Äußerung des Oberbürgermeisters von Salzgitter, Knebel, SPD, die Städte und Gemeinden seien in
der vertrackten Lage, dass Bund und Länder ihre Haushalte sanieren, und dies zu einem erheblichen Teil auf
Kosten der Kommunen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Die Lage der kommunalen Finanzen ist dramatisch.
({4})
Es geht nicht nur um ein Thema für Kommunalpolitiker
oder Bürgermeister und Ratsmitglieder, sondern um ein
Thema für die Wirtschaft. Denn wenn die Kommunen als
größter öffentlicher Nachfrager ausfallen, muss man sich
nicht darüber wundern, dass die Bauwirtschaft riesengroße Probleme hat. Der Fall Holzmann spricht Bände. Es
geht nicht darum, dass ich nicht mit den Mitarbeitern mitfühle, aber Sie haben der Bauwirtschaft die Grundlage
entzogen, meine Damen und Herren. Deswegen sind die
Arbeitsplätze gefährdet.
Ein Blick auf die Finanzsituation zeigt, dass die Verwaltungshaushalte 1991 182 Milliarden DM, 1995
229 Milliarden DM und im Jahr 2000 189 Milliarden DM
betrugen. Bei den Einnahmen liegen wir also auf dem
Stand von 1990 und bei den Ausgaben - dank Ökosteuer
und allem, was dazugehört - auf dem gestiegenen Kostenniveau. Das ist die wahre Lage. Die Kassenkredite maBernd Scheelen
chen das deutlich. Wenn laufende Ausgaben, Zinsen, Sozialhilfe und Personalkosten mit Krediten bestritten werden, ist das der dramatische Ausdruck der Finanzsituation
der Gemeinden.
In den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, in denen die SPD schon lange an der Regierung ist, ist die Lage besonders dramatisch. Obwohl die
Niedersachsen nur 10 Prozent des Haushaltsvolumens
aufweisen, haben sie 20 Prozent aller Kassenkredite. Der
Bundeskanzler hat schon einmal bewiesen, was er von
den Kommunen hält. Was er in Niedersachsen siebeneinhalb Jahre lang angerichtet hat, setzt er im Bund durch
Eingriffe in die kommunalen Haushalte nahtlos fort.
({5})
Das kommunale Investitionsvolumen liegt weit unter
dem Niveau von 1991. Das macht deutlich, wo die Probleme liegen. Die Ursachen liegen unter anderem in der
Konjunktur. In der Konjunktur hat diese Bundesregierung
besondere Impulse gegeben. Sie hat dafür gesorgt, dass
wir in Europa nicht mehr die Lokomotive sind, sondern
zum Träger der roten Laterne geworden sind. Das ist doch
das Problem.
({6})
- Mein lieber Bernd Brinkmann, sei ganz vorsichtig mit
deinen Ausdrücken! - 4,3 Millionen Arbeitslose sprechen
doch Bände.
({7})
Dazu kommt, dass immer mehr soziale Grundlasten
auf die Kommunen konzentriert wurden, ohne dafür einen
finanziellen Ausgleich zu schaffen.
Dem Bund geht es bei allen finanzpolitischen Maßnahmen auch um die Belange der Kommunen.
Das ist ein Zitat aus Ihrer Antwort auf die Große Anfrage.
Die Praxis ist doch eine andere. Ich nenne nur die neuen
Risiken in Verbindung mit den Integrationskosten im Zusammenhang mit der Zuwanderung, die Folgen von
PISA, die Zusammenlegung der Sozialhilfe mit der Arbeitslosenhilfe usw.
Ich zitiere Folgendes:
Das Finanzsystem zwingt Kommunen, denen aufgrund bundespolitischer Entscheidungen Einnahmen
fehlen oder Ausgaben aufgetragen werden, sich an
die jeweilige Landesregierung zu wenden. Die Bundesregierung macht es sich allerdings zu leicht, wenn
sie die Finanznöte der Städte und Gemeinden mit einem Hinweis auf die Finanzverantwortung der Länder abtut. Für einen Teil der Kommunalhaushalte,
vor allem die Jugend- und Sozialhilfe, ist das Ausgabenvolumen bundesrechtlich vorgegeben. Zu Recht
fordern für solche Fälle die kommunalen Spitzenverbände, dass der Bund nach dem Prinzip der Konnexität zwischen Aufgabenübertragung und Finanzverantwortung die kommunalen Zweckausgaben trägt,
soweit die kommunalen Verwaltungen kein nennenswertes Ausführungsermessen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine gewisse Unruhe ist angesichts der bevorstehenden Wahl verständlich, aber im Moment ist der Geräuschpegel so hoch, dass er für den
Redner und diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
zuhören wollen, nicht mehr erträglich ist. Ich muss darum
bitten, dass die Kolleginnen und Kollegen insbesondere in
den hinteren Reihen die Plätze einnehmen.
Meine Damen und Herren, ich fahre fort.
Mehr noch: Das durch die Finanzkrise angespannte
Verhältnis zwischen den Kommunen und den Ländern kann nur durch eine Gemeindefinanzreform
verbessert werden, die das Verhältnis von Aufgaben
und Finanzausstattung wieder in Übereinstimmung
bringt.
Das ist ein Originalzitat von Gerhard Schröder aus dem
Jahr 1995. Wo er Recht hat, hat er Recht. Das gilt auch für
seine Äußerung: Bei 4,3 Millionen Arbeitslosen haben
wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.
({0})
Da Sie von den UMTS-Mitteln gesprochen haben,
weise ich darauf hin, dass die Ministerpräsidentin
Simonis, die bekanntlich nicht der CDU angehört, deutlich
gemacht hat, dass Abschreibungen in Höhe von 18 Milliarden Euro in den kommunalen Kassen landen. Das ist
Ihre Strategie: Sie verbuchen Einnahmen beim Bund und
lassen sich für die Sanierung des Haushalts feiern. Bezahlen müssen das die Kommunen zum Beispiel an dieser
Stelle und zum Beispiel beim Kindergeld; dort müssen die
Kommunen und Länder gegen die Bestimmungen des
Grundgesetzes jedes Jahr 1,6 Milliarden tragen. Genau
dieses Geld fehlt den Kommunen für Investitionen.
({1})
Herr Kollege Scheelen, da Sie sagten, Sie hätten bei der
Unternehmensteuerreform die Kommunen geschont,
verweise ich Sie auf Ziffer 30 der Antwort der Bundesregierung. Sie haben zu Recht von einem kommunalen Anteil an den Steuererleichterungen von 12,1 Prozent gesprochen. Laut Antwort der Bundesregierung beträgt der
Anteil der Kommunen in den Jahren 2001 bis 2006 aber
18,7 Prozent, 10,1 Prozent, 15,2 Prozent, 15,5 Prozent,
19,6 Prozent und 19,3 Prozent. So sieht die Wirklichkeit
bei Ihnen aus. Sie machen vor einem Teil des deutschen
Finanzsystems einfach die Augen zu und nehmen nur die
Zahlen, die Ihnen passen. Sie machen es wie bei der Bundesanstalt für Arbeit: Sie fertigen eine Statistik aus Ihrer
Sicht an und halten sie für die Realität.
({2})
Ihre eigenen Bürgermeister sagen Ihnen an jedem Tag das
Gegenteil.
Zu Ihrem Argument, Sie beteiligten die Kommunen
laut der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien an den Anhörungen, stellt sich natürlich
die Frage, warum Sie immer mehr Fraktionsentwürfe
einbringen, für die dieses Anhörungsverfahren nicht gilt,
sodass die kommunalen Spitzenverbände in den Tageszeitungen lesen müssen, was Ihre Politik ist.
Meine Damen und Herren, angesichts dieses Bildes
kann ich nur feststellen: Eine kommunalfeindlichere Politik als die der letzten drei Jahre hat es in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben.
({3})
Wenn Sie dann mit dem Wort Gemeindefinanzreform wie
mit einer Wundertüte durchs Land ziehen, dann frage ich
Sie erstens, warum Sie sich damit drei Jahre Zeit gelassen
haben,
({4})
und zweitens, ob Sie tatsächlich glauben, dass sich das
Geld aufgrund einer Gemeindefinanzreform vermehrt.
Sie sagen doch in Ihrer Antwort selbst, dass es für Mehreinnahmen der Kommunen keinen Spielraum gibt. Deswegen sollten Sie nicht so tun, als könnte mit dieser Wundertüte der Wahlkampf bestritten werden.
Für die Kommunen wird es keine Mark mehr geben und
deswegen sind die Kommunen bei Ihnen schlecht aufgehoben. Jeder Bürger und jeder Ratsherr, der für sich selbst
und für seine Gemeinde etwas Gutes tun will, wird am
22. September für die Ablösung dieser Regierung sorgen,
damit endlich wieder geordnete Verhältnisse eintreten.
Danke schön.
({5})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS, Drucksache 14/8618.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS
abgelehnt.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN, der FDP und der PDS
Einsetzung des Bundesschuldengremiums
gemäß § 4 a des Bundeswertpapierverwal-
tungsgesetzes
- Drucksache 14/8588 -
b) Wahl der Mitglieder des Bundesschuldengremiums gemäß § 4 a des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes
- Drucksache 14/8587 Wir kommen sofort zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/
CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der
PDS auf Drucksache 14/8588 ({0}). Wer stimmt da-
für? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der An-
trag ist einstimmig angenommen. Damit ist das Gremium
gemäß § 4 a des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes
mit der Bezeichung „Gremium zu Fragen der Kreditfi-
nanzierung des Bundes“ eingesetzt und die Mitglieder-
zahl auf fünf festgelegt.
Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des soeben einge-
setzten Gremiums kommen, bitte ich Sie um Ihre Auf-
merksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren.
Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglie-
der des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer min-
destens 334 Stimmen erhält.
Die blauen Stimmkarte wurden im Saal verteilt. Soll-
ten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch
die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu er-
halten.
Sie können auf Ihrer Stimmkarte bis zu fünf Namens-
vorschläge ankreuzen. Ungültig sind Stimmkarten, die
andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der
Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Die
Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimmkarten
also an Ihrem Platz ausfüllen.
An der Wahlurne benötigen Sie außerdem Ihren
weißen Wahlausweis, den Sie den Schriftführerinnen und
Schriftführern übergeben, bevor Sie die Stimmkarte in
eine der Wahlurnen werfen. Die Abgabe des Wahlauswei-
ses dient als Nachweis zur Teilnahme an der Wahl.
Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die
vorgesehenen Plätze eingenommen? - Das ist der Fall. Ich
eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim-
mung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 30 a bis
30 i sowie die Zusatzpunkte1 a und 1 b auf - es handelt
sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne
Debatte -:
30. a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Getto und zur Änderung des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 14/8583 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingeJochen-Konrad Fromme
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Absatzfondsgesetzes
- Drucksache 14/8585 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Mutterschutzrechts
- Drucksache 14/8525 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Gesundheitsstrukturgesetzes
- Drucksache 14/7462 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Energiestatistiken ({5})
- Drucksache 14/8388 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft über gemeinschaftliche Informations- und
Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse ({7})
- Drucksache 14/8526 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
g) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Ostrowski, Maritta Böttcher, Dr. Ruth
Fuchs, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes ({8})
- Drucksache 14/8078 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewachungsgewerberechts
- Drucksache 14/8386 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Albowitz, Dr. Günter Rexrodt, Hans-Joachim Otto
({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen als Gedenkstätte erhalten und ausbauen
- Drucksache 14/7110 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({12})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
ZP1a) Erste Beratung des von der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Getto und zur Änderung des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 14/8602 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Faße, Reinhard Weis ({14}), Hermann
Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt ({15}), Helmut Wilhelm ({16}),
Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für einen sanften Ausbau der Donau zwischen
Straubing und Vilshofen
- Drucksache 14/8589 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b sowie
31 d bis 31 k und die Zusatzpunkte 2 a bis 2 f auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 31 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung von Rechtspflegeraufgaben auf den
Urkundsbeamten der Geschäftsstelle
- Drucksache 14/6457 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19})
- Drucksache 14/8628 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Ronald Pofalla
Volker Beck ({20})
Dr. Evelyn Kenzler
Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Wir nehmen zu Protokoll, dass der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU bei Enthaltung der PDS und Gegenstimmen
der FDP angenommen ist.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung
angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Februar 1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen sowie zu
der auf der zweiten Konferenz der Parteien in Sofia am 27. Februar 2001 beschlossenen Änderung
des Übereinkommens ({21})
- Drucksache 14/8218 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23})
- Drucksache 14/8578 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/8578, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({24}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler,
Roland Claus, Sabine Jünger, Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS
Änderung der Pfändungsfreigrenzen
- Drucksachen 14/1627, 14/8302 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({25})
Dr. Evelyn Kenzler
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1627 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({26}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundervierundvierzigste Verordnung zur
Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum
Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 14/7981, 14/8086 Nr. 2.2, 14/8408 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 14/7981 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({27}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung abfallrechtlicher
Nachweisbestimmungen
- Drucksachen 14/8461, 14/8555 Nr. 2.1, 14/8622 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann ({28})
Georg Girisch
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8461 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung
der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({29}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung abfallrechtlicher
Bestimmungen zur Altölentsorgung
- Drucksachen 14/8462, 14/8555 Nr. 2.2, 14/8626 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann ({30})
Georg Girisch
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8462 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der FDP mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 367 zu Petitionen
- Drucksache 14/8532 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 367 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 368 zu Petitionen
- Drucksache 14/8533 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 368 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 369 zu Petitionen
- Drucksache 14/8534 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 369 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen
die Stimmen von FDP und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 370 zu Petitionen
- Drucksache 14/8535 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 2 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 372 zu Petitionen
- Drucksache 14/8605 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 373 zu Petitionen
- Drucksache 14/8606 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 2 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 374 zu Petitionen
- Drucksache 14/8607 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Zusatzpunkt 2 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 375 zu Petitionen
- Drucksache 14/8608 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 2 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 376 zu Petitionen
- Drucksache 14/8609 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Zusatzpunkt 2 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Sammelübersicht 377 zu Petitionen
- Drucksache 14/8610 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hermann Bachmaier, Wilhelm Schmidt ({41}), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Gerald Häfner, Cem
Özdemir, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz
- Drucksache 14/8503 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({42})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das
Haus ist damit einverstanden.
Dann kann ich die Aussprache eröffnen und gebe
zunächst für die SPD-Fraktion dem Kollegen Hermann
Bachmaier das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Nach mehr als 50 Jahren Grundgesetz können wir feststellen, dass sich unsere Verfassung
bewährt hat und dass sie im Bewusstsein der Menschen
fest verankert ist. Dies ist wichtig für die Legitimation einer Verfassung.
Das gilt im Besonderen auch für die Ausgestaltung der
parlamentarischen Demokratie und die weit reichenden
Kompetenzen, die dem Parlament als Dreh- und Angelpunkt unseres Verfassungslebens zukommen. Es war richtig, dass sich die verantwortlichen Frauen und Männer des
Parlamentarischen Rates im Jahre 1949 für diese konsequente Form der parlamentarischen Demokratie entschieden haben. Das Grundgesetz hat auch einen entscheidenden Anteil an der gewachsenen inneren Stabilität unseres
Landes.
Meine Damen und Herren, zwar spricht Art. 20 des
Grundgesetzes davon, dass die vom Volk ausgehende
Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt
werde. Jedoch gibt das Grundgesetz praktisch keinen
Raum für eine unmittelbare Mitwirkung des Souveräns
bei Sachentscheidungen. De facto beschränkt sich die
Mitwirkung des Volkes auf Wahlen. In den Landesverfassungen und Gemeindeordnungen wurden jedoch mittlerweile in der gesamten Bundesrepublik vielfältige
Möglichkeiten geschaffen, Bürgerinnen und Bürger unmittelbar an Sachentscheidungen zu beteiligen. Die Erfahrungen zeigen, dass von diesen Rechten sinnvoll Gebrauch gemacht wird. Die Erfahrungen zeigen auch, dass
diese Rechte in erheblichem Umfang zur Belebung und
Verankerung der Demokratie auf Landes- und Kommunalebene beigetragen haben.
({0})
In manchen Ländern, wie zum Beispiel in Bayern, sind
die recht breit ausgestalteten unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeiten aus dem staatlichen Leben schon gar nicht
mehr wegzudenken. Kein CSU-Ministerpräsident würde
es wagen, Hand an die dortigen unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeiten zu legen.
({1})
Wir Sozialdemokraten sind deshalb schon lange der
Überzeugung, dass die Instrumente der direkten Demokratie, die sich auf Landesebene hervorragend bewährt
haben, endlich auch auf Bundesebene ihren angemessenen Platz bekommen müssen. Die Ängste, die die Väter
und Mütter des Grundgesetzes nach der Naziherrschaft
bewogen haben, von Volksentscheiden eher abzusehen,
haben heute ihre Berechtigung verloren.
({2})
Mehr als 50 Jahre gefestigte Demokratie in der Bundesrepublik haben deutlich gezeigt: Die Menschen in unserem Land sind in ihrer übergroßen Mehrheit davor gefeit, radikalen Verführern auf den Leim zu gehen. Heute
droht eher eine andere Gefahr: Immer mehr Menschen
sind politikmüde. Die Bereitschaft zur demokratischen
Mitwirkung sinkt. Wir leisten dieser Entwicklung Vorschub, wenn wir die Ausübung der Staatsgewalt durch das
Volk ausschließlich auf alle vier Jahre stattfindende Parlamentswahlen beschränken.
({3})
Die nachlassende Wahlbeteiligung sollte für uns ein
Alarmsignal sein. Die Menschen möchten stärker und unmittelbarer, auch auf Bundesebene, in Entscheidungen
einbezogen werden. Mündige Bürgerinnen und Bürger
wollen eben nicht nur wählen, sondern hin und wieder
auch direkt an Entscheidungen mitwirken. Die Sorge,
dass die parlamentarischen Strukturen dadurch gefährdet
oder gar ausgezehrt würden, ist nicht berechtigt. Wir gehen davon aus, dass die von uns ins Auge gefasste unmittelbare Bürgerbeteiligung durch Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide eine belebende Wirkung
auch auf die parlamentarischen Entscheidungsprozesse
haben wird,
({4})
und zwar nicht nur dann, wenn von den Instrumenten der
Bürgerbeteiligung tatsächlich auch Gebrauch gemacht
wird.
Es war und ist unser erklärtes Ziel, das parlamentarische Entscheidungssystem sinnvoll zu ergänzen. Keinesfalls möchten wir das Parlament als den zentralen Ort demokratisch legitimierter Entscheidungen schwächen.
Nicht umsonst haben wir alle drei in die Verfassung einVizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
zufügenden Instrumente unmittelbarer Bürgermitwirkung
äußerst eng mit dem Parlament verzahnt.
Wir wollen keinen Paradigmenwechsel herbeiführen.
Auch im parlamentarischen System sind unmittelbare
Mitwirkungsbefugnisse eine gute und sinnvolle Ergänzung. Wir wollen bei den direkten Beteiligungsrechten in
der Sache zu einem Fortschritt kommen, und zwar mit
Ihnen. Sehr geehrte Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, wir wissen, dass es auch in Ihren
Reihen nicht wenige Politikerinnen und Politiker gibt,
die diesem Anliegen aufgeschlossen gegenüberstehen.
Äußerungen des bayerischen Innenministers Günther
Beckstein, des stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden und Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen CDU
Jürgen Rüttgers und des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, um nur einige zu nennen, belegen dies.
Wir wissen, dass es ohne eine breite Unterstützung des
Parlaments keine Grundgesetzänderung geben kann. Zur
Durchsetzung unseres Anliegens brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit. Auch deshalb laden wir Sie schon jetzt
ausdrücklich zu Gesprächen ein. Wir suchen den für eine
Verfassungsänderung notwendigen Konsens. Ich hoffe,
dass dabei die im April durchzuführende Sachverständigenanhörung im Innenausschuss, die in dieser Woche bereits einvernehmlich beschlossen wurde, hilfreich sein
wird.
Das hin und wieder zu hörende Argument, für die Beratungen stünde nicht mehr genügend Zeit zur Verfügung,
ist nicht zutreffend. Zum einen befassen wir uns mit den
aufgeworfenen Fragen nicht zum ersten Mal, zum anderen haben wir bis zu den abschließenden Beratungen noch
fast drei Monate Zeit. Diese Zeit reicht unseres Erachtens
aus, wenn wir den notwendigen Willen zur Verständigung
aufbringen.
({5})
- Wir haben keine drei Jahre gebraucht, sondern den richtigen, günstigen und für Sie zumutbaren Zeitpunkt gesucht,
({6})
damit wir einen Konsens finden. Herr Stadler, das war unser Anliegen, sonst nichts. Wie können Sie uns ein anderes Motiv unterstellen? Das finde ich geradezu abwegig.
({7})
Im Übrigen wäre es durchaus auch an Ihnen gewesen, einen Gesetzentwurf einzubringen. Sie sind doch sonst auch
nicht zaghaft, wenn Sie Ihren Anliegen durch Gesetzesvorstöße mehr Nachdruck verleihen wollen. Sie wissen,
dass wir dafür offen gewesen wären.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den in
unserem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen
machen: Erster Schritt der unmittelbaren Bürgerbeteiligung soll die Volksinitiative sein. 400 000 Stimmberechtigte sollen das Recht haben, im Bundestag einen Gesetzentwurf einzubringen und mit ihrem Anliegen gehört zu
werden.
Hat das Parlament den eingebrachten Gesetzentwurf
nicht innerhalb von acht Monaten verabschiedet, kann ein
Volksbegehren eingeleitet werden. Dem Volksbegehren
müssen dann innerhalb von weiteren sechs Monaten
5 Prozent der Stimmberechtigten, das heißt ungefähr
3 Millionen Wahlberechtigte, zustimmen.
Ist das Volksbegehren erfolgreich, findet ein Volksentscheid statt, an dem sich nach unseren bisherigen Vorstellungen mindestens 20 Prozent der Stimmberechtigten bei
einfachen Gesetzen und mindestens 40 Prozent der
Stimmberechtigten bei Verfassungsänderungen beteiligen
müssen.
Während bei einfachen Gesetzen die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichen soll, ist bei Verfassungsänderungen selbstverständlich eine Zweidrittelmehrheit
erforderlich. Eine Mehrheit muss auch in so vielen Bundesländern erreicht werden, dass dies einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat entspricht.
Wir haben Quoren vorgesehen, denn wir möchten
nicht - dies betone ich ausdrücklich -, dass Volksbegehren und Volksentscheide zu einer Spielwiese von Minderheiten werden.
Wir haben uns, wie Sie im Gesetzentwurf sehen, auch
auf einen Ausnahmekatalog verständigt. Das Haushaltsgesetz selbst, die Abgabengesetze, die Dienst- und Versorgungsbezüge, das Besoldungsrecht, die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages und die
Wiedereinführung der Todesstrafe sollen nach unseren
Vorstellungen nicht Gegenstand einer Volksinitiative sein
können. Selbstverständlich gilt auch für plebiszitäre Entscheidungen Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach
die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche
Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in
den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze nicht geändert werden dürfen.
Vor der Durchführung eines Volksbegehrens ist nach
unserem Gesetzentwurf eine Überprüfung durch das
Bundesverfassungsgericht möglich, sodass gegebenenfalls verfassungswidrige Vorlagen schon frühzeitig vermieden werden können. Wenn eine Entscheidung unmittelbar durch das Volk getroffen werden soll, ist es
sinnvoll, bei strittigen verfassungsrechtlichen Fragen eine
Vorprüfung durchzuführen. Dies hatten wir auch in unserem letzten Entwurf aus dem Jahre 1993/94 schon so vorgesehen.
Gegen Volksbegehren und Volksentscheide wird immer wieder vorgebracht, dass sie emotions- und ressentimentgeladenen Entscheidungen bei entsprechender populistischer Begleitmusik Vorschub leisten könnten. Das ist
bei dem von uns vorgesehenen Instrumentarium und der
vorgegebenen zeitlichen Abfolge kaum zu befürchten.
Zwischen Volksinitiative und Volksentscheid vergehen
gut und gerne zwei Jahre. Schon dadurch werden irgendwelche Stimmungs- oder Hauruckentscheidungen nicht
möglich sein. Daneben wird die Einschaltung des Parlaments und des Bundesverfassungsgerichts zu einer zusätzlichen sachbezogenen Diskussion beitragen.
Schon allein die Tatsache, dass Plebiszite lediglich
über Gesetzentwürfe durchzuführen sind, trägt zu einer
Rationalisierung der Diskussion bei. Auch die hin und
wieder zu hörende Befürchtung, Volksentscheide könnten
zulasten von Minderheiten gehen, halte ich nicht für berechtigt. Zum einen haben wir in unserer Verfassung und
auch in unserem Gesetzentwurf hinreichende Sicherungen gegen eine derartige Fehlentwicklung vorgesehen.
Zum anderen glaube ich, dass die grundrechtlichen Freiheiten und auch der Schutz von Minderheiten mittlerweile
zu einem festen Bestandteil unserer politischen Kultur geworden sind.
({8})
Dagegen lassen sich im Rahmen der von uns vorgesehenen Instrumentarien sicherlich keine Mehrheiten finden.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Plebiszite und Entscheidungen durch das Parlament sind keine Gegensätze.
Sie ergänzen und befruchten sich wechselseitig. Für die
immer wieder geäußerten Befürchtungen, Volksinitiative,
Volksbegehren und Volksentscheide würden zu einer
Emotionalisierung der Politik beitragen, gibt es nach
50 Jahren gelebtem Grundgesetz keine Anhaltspunkte.
({9})
- Sie misstrauen dem Volk; das ist kennzeichnend, Herr
Geis.
({10})
Auf diesen Aufschrei habe ich fast die ganze Zeit gewartet. Jetzt gehen Sie doch einmal in sich und beraten Sie
sich mit uns.
({11})
Ich bin mir sicher, dass wir einen vernünftigen Kompromiss für ein Anliegen finden werden, das im Übrigen in
Ihrem Heimatland Bayern schon Verfassungstradition
hat. Ich weiß also nicht, warum das, was für Bayern gut
ist, dem Bund abträglich sein soll. Für diese Auffassung
habe ich kein Verständnis.
({12})
Ich möchte wiederholen: Plebiszite und Entscheidungen durch das Parlament sind keine Gegensätze. Sie
ergänzen und befruchten sich wechselseitig. Herr Geis,
das musste ich Ihnen noch einmal sagen.
({13})
Für die immer wieder geäußerten Befürchtungen hinsichtlich der Emotionalisierung gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Wir meinen, dass eher das Gegenteil richtig ist.
Menschen, die mit ihren Anliegen ernst genommen und
beteiligt werden, gehen mit ihrer Verantwortung in aller
Regel sehr behutsam um.
In unserem Lande ist die Zeit reif, dem gewachsenen
demokratischen Bewusstsein durch mehr Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene Rechnung zu tragen. Angst
vor dem Volk ist der schlechteste Ratgeber für Demokraten bzw. in einer Demokratie.
({14})
Uns muss nicht bange sein, auch nicht vor ein bisschen
frischer Luft durch mehr Bürgerbeteiligung.
({15})
Etwas mehr Demokratie kann unser Land wahrlich vertragen. Wir laden Sie ein, an dem Projekt einer behutsamen Öffnung hin zu mehr Bürgerbeteiligung in unserer
Verfassung mitzuwirken und mit uns die entsprechenden
konstruktiven Gespräche zu führen. Wir sind, wie gesagt,
offen dafür und erwarten von Ihnen eine konstruktive Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens. Ich habe schon
häufig aus Ihren Reihen gehört, dass dies eigentlich kein
schlechter Weg in einer gewachsenen Demokratie sei.
({16})
Lassen Sie den Worten Taten folgen!
Herzlichen Dank.
({17})
Ich gebe
dem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
- Dem Präsidenten von Hertha BSC.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein verblüffender
Tatbestand, dass Sie sechs Monate vor der Bundestagswahl mit einer solchen Initiative kommen, die unsere
gewachsenen Demokratiestrukturen in fundamentaler
Weise berührt und die sich durch eine Unschlüssigkeit
auszeichnet, die angesichts der Wichtigkeit dieses TheHermann Bachmaier
mas - es geht schließlich um unsere Demokratie - kaum
nachzuvollziehen ist. Ich will das im Einzelnen erläutern.
Es ist im Grunde ein populistisches Vorhaben, das Sie
hier ankündigen. Herr Bachmaier, wenn man Ihnen zuhört
- Sie sprechen von Misstrauen und Angst vor dem Volk -,
dann hat man das Gefühl, dass Sie Angst und Misstrauen
schon bei der Erstellung Ihres Gesetzentwurfes gehabt
haben. Angesichts der Tatsache, dass von einem Volksentscheid zum Beispiel die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten, die Regelungen hinsichtlich der Beamten- und
Versorgungsbezüge und die Abgabengesetze ausgeschlossen sein sollen, frage ich: Warum? Entweder Sie haben
das Vertrauen oder Sie haben es nicht.
({0})
- Sie werden noch erfahren, was ich im Einzelnen meine.
Wer für Plebiszite eintritt, der pflegt - das hat auch der
Kollege Bachmaier getan - von mehr Bürgerbeteiligung,
mehr Partizipation und mehr „wirklicher Demokratie“
zu sprechen. Demokratie basiert natürlich in entscheidender Weise auf der politischen Partizipation der
Bürger, die sie zu realisieren hat. Aber politische Partizipation bedingt in einer Demokratie vor allen Dingen
Gleichheit. Gleichheit ist die Grundidee der Demokratie
und sie mündet in das Mehrheitsprinzip ein. Politische
Partizipation basiert also auf der demokratischen Gleichheit aller Staatsbürger, was im Ergebnis aber auch die
unbedingte Akzeptanz jener Institution erfordert, die diese Gleichheit gewährleistet, nämlich der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie.
({1})
Sie beruht auf Wahlen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Demokratie auf Gleichheit gegründet ist und
gleichheitswahrend wirkt. Gerade dies - das belegt Ihr
Gesetzentwurf in besonderer Weise - ist bei plebiszitären
Verfahren in aller Regel nicht gewährleistet.
Plebiszitäre Verfahren gewährleisten des Weiteren auch
nicht die notwendige Kompromissfähigkeit, auf die jede
pluralistische Gesellschaft angelegt und angewiesen ist.
Das wissen wir aus unserer parlamentarischen Arbeit.
Parlamentarische Arbeit bedeutet Bewältigung hoher
Komplexität. Sie bedeutet darüber hinaus die einem pluralistischen Gemeinwesen immer zuvörderst aufgegebene
Suche nach einem vernünftigen gemeinwohlorientierten
Kompromiss.
Plebiszitäre Verfahren sind dazu in aller Regel nicht in
der Lage. Plebiszitäre Verfahren kennen in aller Regel wesensgemäß nur das vielfältig allzu vereinfachende Ja oder
Nein, Schwarz oder Weiß. Schon Theodor Heuss, unser
erster Bundespräsident, hat einmal treffend darauf
hingewiesen, dass ein Plebiszit im Grunde schon derjenige entscheidet, der die abzustimmende Fragestellung
formuliert.
({2})
In vielen Fällen ist das in der Tat so, und es zeigt, wie
vorsichtig mit einem solchen Instrument umgegangen
werden muss. Das mir Wichtigste dabei ist aber, dass das
Plebiszit wesensgemäß in aller Regel nicht imstande ist,
Kompromisse zu schmieden und zu vermitteln. Ja oder
Nein, Schwarz oder Weiß - eine pluralistische Gesellschaft, die in polarisierende Verfahren dieser Art eintritt,
schädigt sich letztendlich selbst.
({3})
Plebiszitäre Verfahren fordern naturgemäß für den
Bürger überschaubare, also relativ wenig komplexe
Entscheidungsgegenstände. Solche Entscheidungsgegenstände sind in aller Regel auf der regionalen Ebene, im
kommunalen Bereich und auch im Länderbereich, durchaus gegeben. Hier ist es überschaubar, hier kann der
Bürger erkennen, wozu er Ja oder Nein sagen soll. Auf der
Bundesebene ist dies aber nicht der Fall. Deshalb gilt das
Argument, das Herr Bachmaier eben wieder benutzt hat,
was in Bayern gut sei, sei auch für den Bund gut, in fast
allen Bereichen unseres Landes, aber nicht in diesen Verfassungsstrukturen. In der Wirtschaftspolitik gilt das mit
Sicherheit.
({4})
- Wie schön, dass Bayern größer ist als mancher Nationalstaat. Das freut mich, aber das ändert nichts daran, dass
die Zuständigkeiten, über die zu entscheiden ist, in der
Bundesgesetzgebung angesiedelt sind - das wissen Sie
ganz genau, Herr Wiefelspütz - und eben nicht in der
Entscheidungshoheit eines Bundeslandes, so groß es auch
immer sein mag, liegen.
({5})
- Herr Wiefelspütz, das tun Sie ja, wie ich vorhin schon
belegt habe, mit diesen fabelhaften Ausnahmen, über die
das Volk dann plötzlich nicht mehr abstimmen darf.
({6})
Da Sie das Land Bayern genannt haben, komme ich
zum nächsten ganz entscheidenden Einwand gegen das,
was Sie vorhaben: die föderative Struktur unseres Landes und die föderative Struktur auch der Gesetzgebung bei
uns im Lande. Dass Bundesrat und Bundestag gemeinsam
für die Bundesgesetzgebung zuständig sind, ist ein zentrales Element unseres Bundesstaates, das nicht zur Disposition steht und das sich außerordentlich bewährt hat.
({7})
Wer auf der Bundesebene das Plebiszit, den Volksentscheid, einführen will, gibt dieses Verfahren im
Grunde auf; denn es entscheidet dann das Bundesvolk in
seiner Gesamtheit. Wenn das Bundesvolk in seiner
Gesamtheit entscheidet, gibt es keine Möglichkeiten
mehr, ländermäßig, vielfaltmäßig, länderwettbewerblich
abgestufte Positionen auch politisch Andersdenkender
über das Bundesratsverfahren umzusetzen und zu wahren.
Es entscheidet das Bundesvolk in seiner Gesamtheit. Ein
entscheidender Pfeiler unseres gesamten bundesstaatlichen Prinzips würde durch den Volksentscheid auf der
Bundesebene aufgegeben.
Das von Ihnen, Herr Bachmaier, vorgeschlagene Verfahren, bei Verfassungsänderungen solle man es so
handhaben, dass jedenfalls dann auch relativ noch die
jeweilige Mehrheit in den beteiligten Ländern gewährleistet wird, ist doch eine Scheinlösung. Geben wir uns
doch keinen Illusionen hin! Eine Scheinlösung wäre es
auch zu sagen: Ein Plebiszit, ein Volksentscheid, findet
statt, und anschließend geht die Entscheidung in den Bundesrat. Ich möchte den Bundesrat sehen, der unter dem
zentralistischen und massiv zentralisierenden Druck einer
Abstimmung, die das Bundesvolk in seiner Gesamtheit,
ohne Rücksicht auf regionale, auf föderative Unterschiede getroffen hat, noch eine eigenständige, den Länderinteressen, denen er verpflichtet ist, gerecht werdende
Entscheidung treffen soll.
({8})
Mit anderen Worten: Sie stürzen nicht nur einen
Großteil unserer bewährten stabilen parlamentarischdemokratischen Struktur der repräsentativen Demokratie
in ein ungewisses Fahrwasser, um es sehr vorsichtig zu
formulieren, sondern Sie stürzen auch einen entscheidenden Pfeiler unseres gesamten föderativen Systems.
Das werden Sie mit der CDU/CSU niemals erreichen.
({9})
Meine Damen und Herren, schauen wir uns im Einzelnen das an, was Sie uns wirklich vorschlagen. Ich habe
großen Wert darauf gelegt, zu betonen, dass Demokratie
auf der Gleichheit aller Staatsbürger basiert und dass
Demokratie das Mehrheitsprinzip bedingt. Das Mehrheitsprinzip ist nicht nur ein formales Prinzip, sondern ein materiales Wertprinzip, das jede Form von Demokratie bestimmt und voraussetzt. Das, was Sie hier vorschlagen, ist
der Abschied von der Mehrheitsdemokratie und der Einstieg in die Minderheitsdemokratie.
({10})
Das kann man an den von Ihnen vorgelegten Vorschlägen
sehr leicht nachvollziehen.
Für eine Volksinitiative sehen Sie ein Quorum von
lediglich 400 000 vor.
({11})
Für das Volksbegehren wollen Sie mit einem Quorum von
3 Millionen operieren. Denken Sie einmal daran, welche
Repräsentanz der Wähler für eine Gesetzgebungsinitiative
in diesem Haus nötig ist! Schon da stimmt die Gleichung
nicht. Entscheidend aber - selbst wenn man Letzteres einmal beiseite lässt - wird es beim Volksentscheid: Der
Volksentscheid soll bei Ihnen die Teilnahme von mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten bedingen. Ein
Gesetz kann demnach - wenn ich einmal von einer Abstimmungsbeteiligung von 20 Prozent ausgehe - mit einer
Mehrheit von 10 Prozent plus einer Stimme unseres
Volkes verabschiedet werden. Das heißt Minderheitendemokratie. In diesem Hause müssen Sie die Repräsentanz von 50 Prozent plus einer Stimme haben, in Ihrem
Verfahren dagegen genügen 10 Prozent plus einer
Stimme. Das kann doch nicht ernst gemeint sein, Herr
Bachmaier!
({12})
Bei den Verfassungsänderungen wird es noch abstruser: Sie sagen, dafür müssen 40 Prozent der Wahlberechtigten an der Volksabstimmung teilnehmen. Innerhalb dieser 40 Prozent soll eine Zweidrittelmehrheit
notwendig sein. Wenn ich richtig rechne, genügen demnach 26,6 Prozent der Wahlberechtigten für eine Verfassungsänderung. Hier dagegen brauchen Sie die Repräsentanten - das Gleiche gilt übrigens für den Bundesrat - von
66 Prozent unseres Volkes. Es ist doch undenkbar, dass ein
Verfassungsänderungsverfahren einmal 66 Prozent und
einmal 26 Prozent - ein Unterschied von 40 Prozent! - bedarf. Das ist nicht mehr Mehrheitsdemokratie. Das heißt
Aufgabe des Mehrheitsprinzips. Das ist ein gefährliches
Spiel mit den Grundstrukturen unserer Demokratie, vor
dem man nur nachdrücklich warnen kann.
({13})
Man kann sicherlich über vieles reden. Ich persönlich
kann mir in diesen Zusammenhängen zum Beispiel
durchaus Massenpetitionen vorstellen. Ich kann mir auch
ein Verfahren der Volksinitiative vorstellen,
({14})
das heißt eine Befassungspflicht des Bundestages. Aber
auf der Basis dessen, was Sie hier vorschlagen, ist das undenkbar. Denn das bedeutet eben nicht, dass repräsentative Mehrheiten unseres Volkes zu Wort gebracht werden. Sie gehen den Weg: Abschied von der Mehrheit und
Verabsolutierung der Minderheit. Das bedeutet letztlich:
Ende der Demokratie.
({15})
Dieses Spiel sollten Sie niemandem zumuten.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Gerald Häfner vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist in
meinen Augen eine große Stunde dieses Parlamentes,
({0})
auch wenn es vielleicht nicht dem Anlass gemäß gefüllt
ist. Vielleicht haben diese Bedeutung auch noch nicht alle
im Hause in ausreichendem Maße erkannt. Trotzdem will
ich sagen: Es ist eine große Stunde für das Parlament, und
es ist - das kann ich jetzt nur hoffen - meines Erachtens
auch eine große Stunde für Deutschland.
({1})
- Ob es so ist, liegt in den Händen dieses Hauses, auch in
Ihren Händen selbstverständlich, verehrte Kollegen von
der Opposition.
Viele Gesetze werden im Laufe einer Legislaturperiode
vom Parlament gemacht, aber so gut wie nie machen wir
Gesetze, in denen das Parlament selbst einen Teil seiner
Rechte dorthin zurückgibt, wo sie herkommen und wo sie
hingehören, nämlich an den Souverän, an die Bürgerinnen
und Bürger.
({2})
Denn der Kern jeder Demokratie - dies erscheint mir angesichts dessen, dass wir allzu häufig in parteipolitischen
Gräben verfangen diskutieren, wichtig - ist die Volkssouveränität. Wir sind hier nicht für uns tätig; wir sind
vielmehr Volksvertreter. Und wenn wir entscheiden
- etwa auch am Ende dieser Debatte über dieses Gesetz -,
dann entscheiden wir für das Volk.
Herr Scholz, es ist schade, dass Sie uns jetzt, nachdem
Sie das Ihre gesagt haben, verlassen. Ich hätte Ihnen gerne
geantwortet. Und es wäre erfreulich, wenn Sie auch noch
zuhören könnten.
Herr Kollege Häfner, der Kollege Scholz hat sich gerade entschuldigt. Er muss in den Bundesrichterwahlausschuss.
Das
ist etwas anderes, Herr Scholz. Treffen Sie gute Entscheidungen!
({0})
Der Kern jeder Demokratie ist die Volkssouveränität.
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, steht in Art. 20
des Grundgesetzes. Der Text geht dann nicht weiter: „und
kehrt nie mehr zurück“, wie der Volksmund oft sagt. Vielmehr heißt es dort klar und deutlich:
Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ...
ausgeübt.
Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf erfüllen
Bündnis 90/Die Grünen und die SPD gleich drei große
Versprechen: erstens das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag von 1998, Volksentscheide auf Bundesebene
einzuführen, zweitens das Versprechen dieses Grundgesetzes, wonach die Demokratie auf beiden Beinen zu stehen hat, dem der Wahlen und dem der Abstimmungen,
und nicht nur auf dem einen der Wahlen, und drittens das
Versprechen von Willy Brandt in den 70er-Jahren - „Mehr
Demokratie wagen“ -, welches damals zunächst leider
ganz andere Konsequenzen als die angekündigten und die
von uns erhofften, einer Stärkung der Bürgerbeteiligung,
hatte. Auch dieses Versprechen werden wir heute erfüllen.
Warum ist die Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid so wichtig? Die Distanz
zwischen Repräsentanten und Repräsentierten wird
- das bekommen wir alle mit - immer stärker. Die Parteien haben sich ein Monopol auf die politische Willensbildung durchgesetzt, das - ich glaube, hier ist es berechtigt,
sich auch einmal selbstkritisch auf die eigene Brust zu klopfen - so mitnichten im Grundgesetz vorgesehen ist, sondern sich in der Verfassungswirklichkeit dieser Republik
über mehr als 50 Jahre immer mehr verfestigt hat. Im
Grundgesetz heißt es stattdessen in Art. 21:
Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.
Das in der Bevölkerung weit verbreitete Gefühl „Wir
können ja eh nichts machen, die da oben machen sowieso,
was sie wollen“ ist fatal für ein Gemeinwesen, fatal für
eine Demokratie. Sehen wir das denn nicht? Nehmen
nicht alle hier im Hause die Zeichen wahr: die zurückgehende Wahlbeteiligung beispielsweise oder die immer geringer werdende Anzahl von Jugendlichen, die sich zum
Beispiel in politischen Parteien engagieren, obwohl sie
keineswegs unpolitisch sind? Immer weniger junge Menschen betrachten das bestehende Angebot etwa der Mitarbeit in Parteien als angemessen für ihr eigenes Verständnis von effizientem Sicheinbringen in die Politik und das
Gemeinwesen. Das alles bedeutet eine ernst zu nehmende
Gefahr für die Demokratie. Die Identifikation geht zurück. Das Engagement und die Beteiligung gehen zurück.
Wer hier nur zuschaut, der fährt einen fahrlässigen Kurs.
Wir sollten diese Entwicklung ernst nehmen.
Ich glaube, dass es dringend nötig ist, dass sich die
Bürgerinnen und Bürger mehr einbringen, vor allem, dass
sie erleben, dass sie in der Demokratie gewünscht sind,
dass ihre Beteiligung gewünscht ist. Wir müssen dann
aber auch angemessene Möglichkeiten für diese Beteiligung schaffen. In der modernen Demokratie ist es wahrlich nicht genug, wenn die Bürgerinnen und Bürger nur
alle vier Jahre ihre Stimme bei den Wahlen - durchaus im
doppelten Wortsinn - abgeben. Die Demokratie des
21. Jahrhunderts muss vielmehr eine aktive Bürgergesellschaft sein. Eine aktive Bürgergesellschaft funktioniert aber nur mit aktiven Bürgern, die sich auch angemessen und verbindlich einschalten und einmischen
können. Das ist insbesondere für die Jugend wichtig, die
sich nur engagiert, wenn das auch etwas bewirkt. Eine aktive Bürgergesellschaft bedeutet, dass die Bürger selbst
die Agenda der Politik bestimmen, dass sie Initiativen einbringen können, wie dies unser Gesetzentwurf vorsieht,
und dass sie durch Volksbegehren und Volksentscheid,
wenn die Quoren erfüllt sind, auch selbst über Sachfragen
entscheiden können.
({1})
Alle ernsthaften Politiker in diesem Land müssen sich
heute mehr und mehr die Frage stellen - viele, übrigens
aus allen Fraktionen, haben dazu inzwischen auch nachdenkliche Beiträge publiziert -: Was hält heute unser
Gemeinwesen zusammen? Wie schaffen wir es, dass die
Bürger nicht immer mehr eine Haltung nach dem Motto
einnehmen: Was kann ich dabei für mich herausholen?,
sondern dass sie sich fragen: Was kann ich einbringen?
Welches ist mein Beitrag zu dem Ganzen?
Ich glaube, dass diese Demokratie ohne ein Mehr an
Beteiligung und damit auch an Identifikation und Engagement Gefahr läuft, zu einer Zuschauerdemokratie zu
werden, zu einer Demokratie, in der sich die Bürger zunehmend als Objekt und nicht als Subjekt sehen. Sie sind
aber Subjekt im Gemeinwesen und müssen das in der
Realität auch sein können.
Ich staune immer über die Horrorvorstellungen, die offenbar auf einer bestimmten Seite des Hauses - Herr
Scholz ist ja jetzt leider nicht mehr da - im Hinblick auf
die Bürgerinnen und Bürger herrschen. Wenn Sie von der
CDU/CSU wirklich eine solche Angst vor dem Volk haben, dann wundert es mich, dass Sie sich überhaupt zur
Wahl stellen.
Ich wundere mich über die von Ihnen vorgetragenen
Argumente, die ich alle schon so oft gehört und genauso
oft widerlegt habe: angefangen bei den vorgeblich historischen und verfassungsrechtlichen bis hin zu so platten
Argumenten wie zum Beispiel dem, bei einem Volksentscheid könne man doch nur mit Ja oder Nein entscheiden.
Wie entscheiden wir denn eigentlich hier im Bundestag?
Entscheiden Sie anders? Man kann immer nur mit Ja oder
Nein entscheiden - das haben Entscheidungen so an sich -,
aber eben mit einem Ja oder Nein zu einem bestimmten
Gesetzentwurf oder einer Vorlage. Gerade darum geht es.
Durch Volksbegehren und Volksentscheide wächst die
Zahl der Alternativen.
Im vorliegenden Gesetzentwurf haben wir Regeln
dafür vorgesehen, wie aus der Bevölkerung Gesetzentwürfe eingebracht werden können und wie beispielsweise
in Fällen, in denen etwa das Parlament der Auffassung ist,
ein bestimmter Gesetzentwurf gehe zu weit oder in eine
falsche Richtung, auch noch eine Konkurrenzvorlage
eingebracht werden kann, damit am Ende, wo nötig, auch
zwischen unterschiedlichen Entwürfen abgewogen werden kann. Versuchen wir doch nicht, die Bürgerinnen und
Bürger für dumm zu verkaufen. Vor allen Dingen sollten
wir hier nicht wahrheitswidrig absurde Horrorvorstellungen aufbauen.
Ich habe den dringenden Wunsch an die Union und
auch an die anderen Fraktionen in diesem Hause, dass sie
die Chance, die in diesem Entwurf liegt, erkennen und
dass sie sich nicht - wir Grünen haben das seit mehr als
zehn Jahren schon hinter uns; ich staune, dass Sie jetzt anfangen, diesen Fehler zu begehen - in Fundamentalopposition und Totalverweigerung üben, sondern dass sie mit
uns gemeinsam darüber nachdenken, wie man in bestmöglicher Form die Bürgerinnen und Bürger mehr beteiligen kann.
Heute Morgen, als ich mit der S-Bahn hierher gefahren
bin, habe ich ein riesiges Plakat mit folgendem Schriftzug
gesehen - viel Geld wurde dafür ausgegeben, diese Plakate zu kleben -: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“ Derjenige, der das gesagt hat, ist Mitglied der CDU.
Es war Roman Herzog. Ich stimme ihm zu. Ich würde mir
wünschen, dass Sie von der Union sich endlich einen
Ruck geben für eine große, überfällige Reform hin zu
mehr Bürgerbeteiligung. 74 Prozent Ihrer Anhängerinnen
und Anhänger befürworten die Einführung der Möglichkeit eines bundesweiten Volksentscheids. Ich wäre froh,
wenn auch Sie das täten und wir dann gemeinsam dieses
Gesetz auf den Weg bringen könnten.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Jeder hier im Hohen Haus
weiß, dass ohne das Engagement des Kollegen Gerald
Häfner, der gerade gesprochen hat, dieser Gesetzentwurf
heute nicht zur Debatte stünde.
({0})
Das hat mich daran erinnert, dass ich Sie, Herr Häfner,
bei einer Podiumsdiskussion vor ziemlich genau zehn
Jahren kennen gelernt habe. Es war eine Veranstaltung der
katholischen Kirche. Wie Sie sich denken können, lautete
das Thema: Plebiszitäre Elemente im Grundgesetz. Auf
dem Podium saßen Sie und Norbert Geis von der CSU.
Ich habe die FDP vertreten. Sie vermuten richtig, dass
Herr Häfner Argumente vortrug, die ein begeistertes Eintreten für Volksentscheide auf der Bundesebene zum Ausdruck brachten. Vonseiten des Kollegen Geis gab es eine
entschiedene Ablehnung und von meiner Seite ein Eintreten für ein vorsichtiges Weiterentwickeln plebiszitärer
Elemente - also mehr als eine wohlwollende Enthaltung.
Ich erinnere deswegen daran, weil sich die Argumentationen von damals und heute, das Pro und Kontra, das
nun wirklich auf der Hand liegt, kaum voneinander unterscheiden. Der Unterschied zu der damaligen Situation besteht allerdings darin, dass die Parteien selbst eine zunehmende Politikverdrossenheit verschuldet haben, und zwar
durch Geschehnisse, die an anderer Stelle passiert sind.
Gerade in diesem Moment werden solche in der Katholischen Akademie im Rahmen des Untersuchungsausschusses wieder einmal erörtert; der SPD-Spendenskandal ist dort das Thema. Es ist sehr wohl ein plausibles
Argument, durch die Schaffung mehr direkter Entscheidungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger dieser
zunehmenden Politik- und Parteienverdrossenheit entgegenzuwirken. Das möchte ich ausdrücklich anerkennen.
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Professor
Scholz hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es hier um
einen fundamentalen Einschnitt in das Entscheidungsgefüge des Grundgesetzes geht. Da muss ich Ihnen wirklich
sagen - das ist nicht die Schuld von Gerald Häfner; das
wissen auch wir -: Ihr Gesetzentwurf kommt entschieden
zu spät. Wenn Sie in den lediglich sieben Sitzungswochen, die in dieser Legislaturperiode verbleiben, hier noch
eine so weitreichende und komplexe Materie abhandeln
wollen, dann muss man kein Prophet sein, um zu sagen:
Bei einer solchen Verfahrensweise wird ein wichtiges
Thema eher verschenkt, als dass man damit eine Sternstunde des Parlaments initiiert.
Wie komplex die Problematik ist, will ich Ihnen anhand einiger weniger Punkte aufzeigen. Es geht bei der
Frage von mehr Mitbeteiligung der Bevölkerung nicht nur
um Volksbegehren und Volksentscheid, sondern es geht
um ein Bündel von Maßnahmen, an das zu denken ist.
Die FDP hat in ihrem Nürnberger Parteitagsbeschluss
vom Juni 2000 unter dem Leitsatz „Mehr Demokratie wagen - Vom Parteienstaat zur Bürgerdemokratie“ aufgezeigt, dass die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise des demokratischen Parteienstaats - so wurde dort formuliert - eine
Generalinventur erfordert. Die Parteienmacht muss
zurückgedrängt und die Bürgermacht muss gestärkt werden.
Dazu gehört aber vielerlei: Dazu gehört eine klare Gewaltenteilung. Diese beinhaltet unserer Meinung nach
auch, dass sich die Parteien nicht an Medienunternehmen
beteiligen, die ja die vierte Gewalt im Staat darstellen.
Dazu gehört Subsidiarität statt Zentralismus. Dazu gehört
weniger Staatswirtschaft und damit automatisch weniger
Parteienwirtschaft. Dazu gehört eine Stärkung der Parlamente durch die Aufwertung des einzelnen Mandats gegenüber den Apparaten.
({2})
Dazu gehören die Direktwahl der kommunalen Mandatsträger und schließlich - das ist ein ganz wichtiges Thema auch die Diskussion um die Direktwahl des Bundespräsidenten.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass es nicht nur
um Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide
geht. Aber auch dieser kleine Ausschnitt, den Sie heute
zur Debatte stellen, wirft natürlich zahlreiche Fragen auf.
Möglicherweise empfiehlt es sich, die repräsentative Demokratie schrittweise um Elemente der direkten Demokratie zu ergänzen. Es spricht sehr viel dafür, das Institut
der Volksinitiative zunächst einmal praktisch zu erproben. Man wird sehen, ob aus der Bevölkerung Themen an
den Bundestag herangetragen werden oder ob es, wie
manche befürchten, eher zu einer Art Verbändedemokratie statt zur Bürgerdemokratie führt.
Ich meine, dass sowohl von Herrn Häfner als auch von
Herrn Scholz manche Punkte schief dargestellt worden
sind. Herr Scholz meinte, dass Plebiszite kompromissunfähig seien. Die Praxis in Bayern beweist das Gegenteil.
Oft hat schon allein die Androhung eines Volksbegehrens
dazu geführt, dass im Parlament Kompromisse gefunden
wurden.
({3})
Das Argument stimmt so also nicht.
Herr Häfner wiederum meint, dass es ein falscher Kritikpunkt sei, dass die Entscheidung auf ein Ja oder Nein
verengt wird. Der Kritikpunkt trifft aber zu. Die Initiatoren eines Volksbegehrens können nämlich auch nach
Ihrem Gesetzentwurf ihren eigenen Entwurf im Laufe der
Debatte nicht verändern und auch nicht die Elemente aus
der Diskussion in den eigenen Entwurf einfügen. Das ist
ein elementarer Fehler Ihres Entwurfs;
({4})
denn damit kommt man doch zu dem von Herrn Scholz
kritisierten Merkmal der Kompromissunfähigkeit.
Wegen der Kürze der Zeit muss ich mich auf diese wenigen Bemerkungen beschränken. Ich kündige an, dass
wir Ihnen für die Anhörung im Innenausschuss als Sachverständigen einen Experten aus der Schweiz - er ist
Staatsrechtslehrer - vorschlagen werden, damit wir die
praktischen Erfahrungen in diesem Land in unsere weiteren Überlegungen einbeziehen können.
Ich schlage Ihnen vor: Lassen Sie sich mit uns auf eine
Einigung über das Institut der Volksinitiative ein und lassen Sie für alle anderen komplexen Fragen genügend
Raum für die Diskussion! Diese wird mehr Zeit in Anspruch nehmen als einige wenige Wochen zum Schluss einer Legislaturperiode.
({5})
Bevor
ich das Wort weitergebe, möchte ich zunächst das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 4 a
des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes, Drucksache
14/8587 ({0}), bekannt geben: Abgegebene Stimmkarten
557. Davon gültig 555, Enthaltungen 2. Von den gültigen
Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Hans Georg
Wagner 489 Stimmen, auf den Abgeordneten Hans Jochen
Henke 530 Stimmen, auf den Abgeordneten Oswald
Metzger 495 Stimmen, auf den Abgeordneten Dr. Günter
Rexrodt 499 Stimmen und auf den Abgeordneten Dr.
Uwe-Jens Rössel 349 Stimmen.1) Damit sind alle Abgeordneten gewählt; denn sie haben die erforderliche Mehrheit von 334 Stimmen erreicht.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Gerald Häfner das
Wort zu einer Kurzintervention.
Herr
Kollege Stadler, ich möchte kurz auf das eingehen, was
Sie gesagt haben. Es ist wirklich wert, sich hierüber aus-
zutauschen. Dabei muss ich mich auf einige Punkte be-
schränken.
Zunächst: Ich habe mich mit meiner Bemerkung zu
„Ja“ oder „Nein“ auf das Ende des Verfahrens beim
Volksentscheid bezogen. Am Ende kann, wie bei jeder
Entscheidung, nur mit Ja oder Nein abgestimmt werden.
Das gilt übrigens nicht nur für den Bundestag; auch im
1) Alphabetisches Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Leben muss man oft mit Ja oder Nein eine Entscheidung
treffen. Selbst die Frage, ob man einen Menschen heiratet, muss am Ende mit Ja oder Nein beantwortet werden,
auch wenn es hinsichtlich des Entscheidungsinhalts bzw.
der Person denkbar viele Alternativen gäbe.
In Kenntnis und Auswertung der internationalen Erfahrungen von Tausenden Volksentscheiden in anderen Ländern haben wir uns für die denkbar vernünftigste, Besonnenheit und Sachlichkeit sichernde Regelung entschieden.
Diese ermöglicht es der Initiative, ihr Anliegen schon nach
der Volksinitiative noch einmal neu zu überprüfen. Zuvor
wird im Bundestag über ihren Vorschlag beraten, sodass
die Initiative im Lichte der dort gehörten Argumente überdenken kann, ob sie ihr Anliegen unverändert weiterverfolgt, es verändern will, oder ob sie es ganz aufgibt. Es gibt
keinen Automatismus, dass danach ein Volksbegehren
stattfinden muss, wie es teilweise in anderen Entwürfen
verlangt worden ist, sondern es ist so, dass danach neu entschieden wird. An dieser Stelle können auch Dinge im Entwurf verbessert respektive geändert bzw. kann das ganze
Verfahren neu begonnen werden.
Schließlich haben wir das Instrument der Konkurrenzvorlage eingeführt. Danach wird dann, wenn ein
vielleicht berechtigtes Anliegen aufgegriffen wurde, der
Entwurf selbst aber nicht in allen Punkten überzeugt, die
Möglichkeit eröffnet, einen zweiten Entwurf als Alternative daneben zu stellen, sodass man dann die Wahl hat.
Dieses Verfahren hat sich dort, wo es angewandt wird,
etwa auch in Bayern, durchaus bewährt. Es gibt also keine
Reduktion auf ein einziges „Ja oder Nein“.
Ich möchte einen anderen Punkt in aller Kürze ansprechen. Wir haben jetzt März. Bis zur letzten Sitzungswoche im Juli ist denkbar viel Zeit. Ich habe Ihren Beitrag
als Wunsch verstanden und möchte meine Worte umgekehrt als Einladung formulieren, zu dem von uns vorgelegten Entwurf eine unvoreingenommene und gründliche Debatte in den Details zu führen. Sie haben einige
zusätzliche Punkte aufgelistet: Änderungen im Parteienrecht beispielsweise oder die Stärkung der Rechte der
Abgeordneten und eine umfassende Parlamentsreform.
Sie wissen mich da auf Ihrer Seite. Und ich würde mich
freuen, wenn Sie noch weitere Punkte nennen würden. Sie
würden bei uns sehr viel Unterstützung dafür finden.
Nun aber liegt dieser gründlich ausgearbeitete Gesetzentwurf auf dem Tisch. Wir sollten darüber ernsthaft beraten. Ich denke, gerade auch vor dem Hintergrund, dass
die Diskussion über das Thema nun schon 20 Jahre andauert, dass die Monate bis Juli ausreichen, um eine gemeinsame und positive Entscheidung zu finden.
Danke sehr.
({0})
Zur Erwiderung hat Herr Dr. Stadler das Wort.
Herr Kollege Häfner, das Verfahrensargument ist natürlich nicht das einzige Argument,
das in einer solchen Diskussion anzubringen ist. Aber ich
muss schon daran erinnern, dass die rot-grüne Koalition
im Koalitionsvertrag aus dem Jahre 1998 angekündigt
hat, einen Gesetzentwurf über Volksentscheide auf Bundesebene vorzulegen. Sie waren über drei Jahre nicht imstande, diesem Hohen Haus einen solchen Gesetzentwurf
vorzulegen. Das lag auch daran, dass Sie persönlich dem
Bundestag vorübergehend nicht angehört haben; denn jeder weiß, dass innerhalb der Koalition Sie der Motor dafür
waren, dass es am Ende doch noch zu diesem Gesetzentwurf gekommen ist. Das habe ich auch betont.
Aber sehen Sie sich doch die Relation an: Die Koalition braucht nahezu dreieinhalb Jahre für die Erarbeitung
dieses Gesetzentwurfes, mutet dem Parlament aber zu,
eine solch fundamentale Änderung unseres Rechtssystems in sieben Sitzungswochen abzuhandeln. Dies ist ein
Ungleichgewicht. Es spricht viel dafür, dass es notwendig
sein wird, dieses Thema auf die nächste Legislaturperiode
zu verlagern.
Ich will noch kurz etwas zu einem inhaltlichen Punkt,
den Sie aufgegriffen haben, sagen. Ein solches Mitwirkungsverfahren muss so ausgestaltet sein, dass das, was
im Gesetzgebungsverfahren an Erkenntnissen gewonnen
wird - die Sachverständigenanhörungen dürfen nicht nur
eine Feigenblattfunktion haben -, auch bei dieser Art von
Gesetzgebung Eingang findet. Das ist sehr schwierig.
Ich habe mich nicht umsonst auf Schweizer Erfahrungen bezogen. Dort gibt es nämlich ein Referendum
mit dem dieses Problem vermieden wird, nämlich das so
genannte kassatorische Referendum. Dabei hat die Bevölkerung die Möglichkeit, eine Fehlentscheidung des
Gesetzgebers zu korrigieren. Es schadet dann auch nicht,
dass nur mit Ja oder Nein entschieden wird. Das ist eine
Form des Referendums, über die man sprechen sollte.
Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass das Grundanliegen Ihres Entwurfs, die Volksinitiative als Möglichkeit das Parlament zu zwingen, sich mit bestimmten
Themen zu befassen, unstrittig ist. Es sind aber - bei allem Grundverständnis für Ihr Anliegen - so komplexe
Diskussionen zu führen, dass ich nur sage: Wir werden
uns dieser Diskussion stellen; jedoch spricht sehr viel
dafür, hier „step by step“, wie Herr Wiefelspütz immer
sagt, bzw. Schritt für Schritt vorzugehen.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir reden heute über ein zentrales Reformprojekt, das Rot-Grün versprochen hat. Das war allerdings vor knapp vier Jahren.
({0})
Die große Überschrift hieß: „Mehr Demokratie wagen“.
Das deckte sich durchaus mit den Ansprüchen der Opposition zur Linken, mit den Ansprüchen der PDS.
Wenn ich hier sage: „war“, „hieß“ und „deckte“, so geschieht dies angesichts der Schere, die zwischen der
Ankündigung und dem Vorliegenden klafft. Das, was jetzt
vorliegt, ist eine Demokratie-light-Version. Außerdem
kommt sie zu spät, um ernsthaft den Anspruch auf die notwendige Zweidrittelmehrheit zu erheben. Insofern - bei allem persönlichen Respekt, Kollege Häfner - ist dies weder der große Wurf noch eine große Stunde, was übrigens
auch die Anwesenheit vonseiten der Koalitionsfraktionen
zeigt. Dies verdeutlicht, wie sehr die Angelegenheit, mehr
Demokratie zum Ende der Koalitionszeit zu wagen, Herzenssache von Rot-Grün ist. - Zudem enthält diese Initiative zu hohe Hürden, um tatsächlich mehr direkte Demokratie zu ermutigen.
Umso bemerkenswerter ist allerdings die schroffe Abwehr aus den Reihen der Opposition zur Rechten, aus den
Reihen von CDU/CSU.
({1})
Dass Sie mit mehr direkter Demokratie auf Kriegsfuß stehen, ist so neu nicht - bis auf eine Ausnahme, zu der ich
gleich noch komme. Interessant finde ich die Begründungen, die Sie dazu immer wieder vortragen; denn diese laufen stets darauf hinaus, das letzte Wort müsse allein das
Parlament haben und dabei müsse es bleiben.
({2})
Ich gebe zu: Als ich 1998 in den Bundestag einzog, habe
ich nicht gedacht, dass ausgerechnet ich Ihnen einmal
Nachhilfe in Sachen Grundgesetz geben muss.
({3})
Kollege Scholz hat es aber mit seiner Ablehnung zur
Volksgesetzgebung geradezu herausgefordert. Deshalb
zitiere auch ich das Grundgesetz, nämlich Art. 20 Abs. 2:
({4})
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom
Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt.
Um aber abstimmen zu können, bedarf es entsprechender
Regelungen. Genau diese fehlen bislang in der Bundesrepublik und um solche geht es in dem vorliegenden Gesetzentwurf.
({5})
Aus Sicht der PDS sind die im Gesetzentwurf enthaltenen
Regelungen ungenügend. Sie aber wollen keine derartigen Regelungen, um den Verfassungsgrundsatz im Alltag umzusetzen.
Ich habe noch ein Wort zur CDU/CSU versprochen:
Ihre Geringschätzung jeder Kritik - allemal wenn sie von
der so genannten Straße kommt - ist sprichwörtlich, bis
auf eine einzige Ausnahme: Immer dann,
({6})
wenn es gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger geht, suchen Sie die Straße, mobilisieren Stammtische
und initiieren Unterschriftenlisten. Dann geht Ihnen das
Wort des ungewählten Volkes plötzlich über alles. Das
war beim Doppelpass so, das ist beim Einwanderungsgesetz so. Das ist einfach widersinnig und schäbig.
({7})
Nun noch einmal zu dem Entwurf: Ich habe schon gesagt, dass er zu spät kommt. Ich muss Sie daran erinnern,
dass rechtzeitig ein Angebot der PDS vorlag. Nun mögen
wir ja in den Lösungen nicht übereinstimmen. Spätestens
unser Papier hätte jedoch Anlass dafür sein können, sachund fachkundig darüber zu reden, wie man Volksinitiativen, Volksbegehren, aber auch Fragen der Mindestbeteiligung und des In-Kraft-Tretens miteinander lösen kann,
um dann rechtzeitig Mehrheiten innerhalb des Parlaments
und außerhalb des Parlaments für einen solchen großen
Schritt zu finden. Insofern habe ich nicht den Optimismus, dass wir in der Anhörung und in den Ausschussberatungen noch zu einem erfolgreichen Abschluss dieses
Gesetzesvorhabens kommen werden. Aber vielleicht sollten wir die verbleibenden sieben Wochen nutzen, um für
die nächste Legislaturperiode den Boden für die Akzeptanz von mehr direkter Demokratie zu bereiten.
Danke schön.
({8})
Als letzter Redner
zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dieter
Wiefelspütz von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bedauerlich,
dass sich der Kollege Scholz aus guten Gründen - er hat
eine andere parlamentarische Verpflichtung - hat entschuldigen lassen. Es wäre schon schön gewesen, mit ihm
von Angesicht zu Angesicht zu diskutieren. Man kann
zwar über vieles sehr kritisch diskutieren, aber wenn Herr
Scholz sagt, dieser Gesetzentwurf bedeute das Ende der
Demokratie, dann bleibt Herr Scholz deutlich unter seinem eigenen Niveau.
({0})
Das ist unterirdisch - sagen Sie das bitte Herrn Scholz
weiter, lieber Herr Geis - oder auch grottenschlecht und
nicht die Argumentationshöhe, auf der wir über eine solch
wichtige Frage reden sollten.
Ich möchte mit der gebotenen Nüchternheit darauf hinweisen, Frau Pau, dass erstmals im Deutschen Bundestag
eine parlamentarische Mehrheit für mehr direkte Demokratie besteht. Das ist noch keine verfassungsändernde
Mehrheit, aber es gibt im Hause eine Mehrheit für die Einführung plebiszitärer Elemente. Das ist immerhin ein
Sachverhalt, den es mit der gebotenen Nüchternheit, aber
auch mit dem gebotenen Selbstbewusstsein zum Ausdruck zu bringen gilt.
({1})
Auch wenn so etwas drei Jahre dauert, Frau Pau, und
möglicherweise mit dem besonderen Engagement von
Herrn Häfner, Herrn Bachmaier und anderen zu tun hat,
verdient das durchaus Anerkennung.
Wir haben keinen Paradigmenwechsel vor. Die repräsentative parlamentarische Demokratie in Deutschland ist
eine Erfolgsgeschichte. Wir haben auch keinen Grund,
uns für unser Grundgesetz zu entschuldigen. Das ist ein
großartiger politischer Text auch in den Institutionen, die
sich immer wieder bewährt haben. Auch zählt im Parlament - in diesem Fall im Deutschen Bundestag - nicht unbedingt die Masse, sondern die Qualität derjenigen, die
sich an der Diskussion beteiligen. Was wir heute vorlegen,
lohnt es meiner Meinung nach, weiter erörtert zu werden.
Herr Bachmaier hat bereits darauf hingewiesen: Vieles ist
ein Angebot. Über manches kann und muss man noch
reden. Wir führen dazu eine große Anhörung durch.
Die 14. Wahlperiode des Deutschen Bundestags dauert
bis Ende September bzw. Mitte Oktober. Wir wollen die
gesamte Zeit, die uns zur Verfügung steht, nutzen. Ich verstehe nicht, dass von sechs oder sieben Wochen, die wir
noch haben, die Rede ist.
({2})
Ich finde es auch sehr seltsam, wenn der Eindruck erweckt wird, plebiszitäre Demokratie sei nur etwas für regionale Bereiche. Bayern ist doch größer als mancher
Mitgliedstaat der UNO und das Land Nordrhein-Westfalen ist größer und bevölkerungsreicher als die Niederlande. Wenn dort Entscheidungen über die direkte Demokratie gefällt werden, mag es sich zwar nicht unbedingt
um Steuergesetzgebung handeln, aber es sind keine unwichtigen Entscheidungen. Auch in Bayern werden keineswegs unwichtige Entscheidungen getroffen.
Ich sage Ihnen eines sehr deutlich - auch im Widerspruch zu Herrn Scholz -: Das erste Wort in unserem Land
bzw. in der parlamentarischen Demokratie hat das Volk.
Das Volk hat bei uns auch das letzte Wort.
({3})
Das steht in anderer Form auch in unserem Grundgesetz.
Ich sage Ihnen aus tiefer Überzeugung, Herr Geis: Sie
und ich sind als Parlamentarier nicht klüger als das Volk,
das wir vertreten. Ich rate übrigens auch allen, nicht immer davon zu reden, dass wir Abgeordnete seien. Wir sind
Volksvertreter.
({4})
Wenn wir über mehr direkte Demokratie, über Plebiszit, Volksentscheid usw. sprechen, dann geht es nicht
darum, unsere Verfassungsordnung umzukrempeln,
sondern darum, unsere bewährte parlamentarische Demokratie mit Augenmaß weiterzuentwickeln. Ich bin der
festen Überzeugung, dass es gar nicht nur um Ja oder Nein
geht; Herr Häfner hat darauf hingewiesen. Wieso soll das
Volk nicht dazu in der Lage sein, komplexe Entscheidungen zu treffen? Auch die Wahlentscheidung am 22. September ist eine hoch komplexe Entscheidung. Jeder Bürger wird sie sich sehr sorgfältig überlegen. Die Vorstellung, es gehe um eine Schwarz-Weiß-Entscheidung, um
ein einfaches Ja oder Nein, entspricht doch nicht der
Wirklichkeit.
Herr Geis, mich wundert Ihre Angst und Sorge vor
mehr direkter Demokratie. Ich nenne Ihnen einmal ein
eher ironisches Argument: Wenn Sie erst einmal begriffen
haben werden, wie viel Musik in diesem Thema steckt,
könnte es sogar für die Koalition schwierig werden; denn
über manche Details kann man mit Fug und Recht reden.
Das ist von Herrn Scholz mit durchaus erwägenswerten
Argumenten hier vorgetragen worden. Wieso dann die
Angst vor Entscheidungen des Volkes? In diesem Punkt
sind wir aber gesprächs- und verhandlungsbereit. Man
kann sogar darüber reden, ob das Volk nicht auch über
Steuerrecht und Grundgesetzänderungen entscheiden
kann, da man keine Sorge davor zu haben braucht, dass
auch hoch bedeutsame Entscheidungen vom Volk getroffen werden. Hier sollten wir alle dem Volk, das wir vertreten, etwas zutrauen.
Ich bin froh, dass wir heute eine parlamentarische
Mehrheit für dieses Projekt haben.
({5})
Ich bin froh darüber, dass wir in Gestalt der öffentlichen
Anhörung nach Ostern ein öffentliches Forum haben werden. Das Thema wird - das verspreche ich Ihnen - nicht
mehr von der Tagesordnung verschwinden. Wir werden
dieses Thema regeln müssen. Wir wären auch an Teillösungen wie der Stärkung des Petitionsrechts oder der
Volksinitiative interessiert. Wir sollten jede Chance nutzen, unsere erfolgreiche Demokratie weiterzuentwickeln.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Nun hat
sich noch ein Kollege zu Wort gemeldet, nämlich der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Ja, er hat noch fünf Minuten Redezeit.
Ich werde die fünf Minuten nicht ausschöpfen. Ich war von meiner Fraktion nicht
als Redner vorgesehen worden. Aber ich bin so oft angesprochen worden, dass ich noch schnell drei Punkte dazu
klarstellen möchte.
Erstens. Sie meinen es mit Ihrem Gesetzgebungsvorschlag selbst nicht ganz ernst. Anderenfalls sähen Sie
keine Ausnahmen vom Volksentscheid vor.
({0})
Das ist ein Zeichen dafür, dass Sie dem Volk nicht alles
zutrauen. Insofern ist Ihr Gesetzentwurf nicht ganz plausibel und vielleicht auch nicht ganz glaubwürdig.
Zweitens. Sie sollten ein wenig vorsichtiger mit dem
umgehen, was in diesem Haus an Gesetzgebungsarbeit
geleistet wird. Oft kann eine sehr komplizierte Materie
erst nach mehreren Anhörungen, nach mehreren Debatten
und Abwägungsprozessen sowie nach mehreren Gesprächen der Berichterstatter im Ausschuss verabschiedet
werden. Danach muss sie noch einmal im Plenum beraten
und verabschiedet werden. So etwas ist - das werden Sie
mir zugeben - in dem Meinungsbildungsprozess einer
Volksinitiative natürlich nicht möglich. Sie können von
der Bevölkerung auch nicht verlangen, dass sie sich in
eine einzelne Sachfrage so einarbeitet, wie man es von einem Vertreter des Volkes verlangen kann und muss. Dafür
sitzt er hier; er ist von der Bevölkerung in dieses Parlament abgeordnet worden, damit er sich um diese Angelegenheit besser, intensiver und vielleicht auch mit mehr
Sachverstand kümmern kann, als es ein Geschäftsmann,
ein Arbeiter an der Drehbank oder eine Erzieherin im Kindergarten tun könnte. Diese haben einen anderen Beruf
und damit auch andere Sorgen und können sich nicht so
in Details von Gesetzgebungsfragen vertiefen. Das ist
eine Lebenserfahrung, die man bei dieser Debatte nicht
wegwischen sollte.
({1})
Drittens. Man darf natürlich auch nicht das Prinzip der
Verantwortlichkeit in einer Massendemokratie übersehen. Man kann eine Partei dafür verantwortlich machen,
wenn sie eine falsche Entscheidung trifft. Man kann einen
Politiker verantwortlich machen, wenn er eine falsche
Entscheidung trifft oder wenn man mit seiner Entscheidung nicht einverstanden ist. Aber man kann nicht all diejenigen, die im Rahmen eines Volksentscheides eine Entscheidung getroffen haben, verantwortlich machen, wenn
die Entscheidung - das kann ja auch sein - falsch und
nicht im Sinne der Fortentwicklung des Volkes ist. Das
Prinzip der Verantwortlichkeit sollten Sie bei dieser Debatte nicht außer Acht lassen. Ich wollte das nur noch einmal deswegen anmerken, weil ich darauf öfter angesprochen worden bin.
Danke schön.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/8503 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Erwin Marschewski ({0}), Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Straftaten der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus
- Drucksache 14/6834 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Kronzeugenregelungen im Strafrecht ({2})
- Drucksache 14/5938 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung ({4})
- Drucksache 14/6079 ({5})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsauschusses ({6})
- Drucksache 14/8627 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Volker Kauder
Volker Beck ({7})
Dr. Evelyn Kenzler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Volker Kauder von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die organisierte Kriminalität und der Terrorismus sind eine ernsthafte Bedrohung für den inneren Frieden unserer Gesellschaft.
Gewaltakte, Tote und ungeheure materielle Schäden sind
die Auswirkungen auf die Öffentlichkeit. Es wäre ein gefährlicher Irrtum, gerade diese Kriminalitätsform zu unterschätzen. Es ist die vornehmste Aufgabe des Staates,
den inneren Frieden unserer Gesellschaft zu schützen;
denn nur so wird dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben,
seine persönliche Freiheit zu leben, wie es das Ideal unserer Staatsverfassung ist.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist davon überzeugt,
dass dieses hohe Ziel dauerhaft nur dann aufrechterhalten
werden kann, wenn das Ausmaß der inneren Sicherheit in
Deutschland spürbar erhöht wird.
({0})
Auch in diesem Punkt, der inneren Sicherheit, muss ein
Ruck durch Deutschland gehen. Genau dieses Ziel hatten
wir vor Augen, als wir uns im Sommer 2001 - ich betone:
im Sommer 2001 - entschlossen haben, den vorliegenden
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der eben genannten Straftaten in den Bundestag einzubringen. Das Vorhaben, der zunehmenden Bedrohung
unserer Gesellschaft durch bestimmte, besonders gefährliche Verbrechensformen Einhalt zu gebieten, wurde damals von der Bundesregierung mit Desinteresse quittiert.
Erst nach dem 11. September, Herr Staatssekretär Pick,
hat die Bundesjustizministerin auf einmal von ganz neuen
Herausforderungen gesprochen. Ich werfe der Bundesregierung vor - dafür gibt es keine Entschuldigung -, dass
sie den schon damals bekannten Gefahren durch die organisierte Kriminalität und den Terrorismus zu wenig Beachtung geschenkt hat.
({1})
Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung, welches
auch durch den hinlänglich bekannten Aktionismus nach
dem 11. September nicht mehr wettgemacht werden kann.
Im Gegensatz zur Bundesregierung haben verantwortungsbewusste Politiker aus den Bundesländern dieses
drängende Problem deutlich und viel früher erkannt. Ihre
Wachsamkeit hat die beiden sehr vernünftigen Gesetzentwürfe des Bundesrates hervorgebracht, über die wir heute
mitberaten. Die Bundesratsentwürfe und unser eigener
Gesetzentwurf zielen in ein und dieselbe Richtung: Die
Situation der Menschen in Deutschland soll dadurch verbessert werden, dass dem Staat ein besseres straf- und
strafverfahrensrechtliches Instrumentarium an die Hand
gegeben wird.
Worum geht es im Einzelnen? Zuerst wollen wir den
Verbrechern den Geldhahn zudrehen. Das ist bisher nicht
leicht und nicht weitgehend genug möglich. Die rechtlichen Instrumentarien sollen jetzt auf den neuesten Stand
gebracht werden, um kriminell erlangte Gewinne noch
besser als bisher abschöpfen zu können. Insbesondere die
so genannten mittelbaren Gewinne müssen durch die Abschöpfung erreicht werden. Durch den wirklich effektiven
Entzug finanzieller Mittel kann man die bandenmäßige
Schwerstkriminalität äußerst wirksam treffen. Dabei geht
es nicht nur um den luxuriösen Lebenswandel der Kriminellen; es geht vor allem um die Verhinderung der Finanzierung neuer Straftaten.
({2})
Wir müssen verhindern, dass Mittel, die durch organisierte Kriminalität gewonnen wurden, wieder in neue Aktivitäten der organisierten Kriminalität investiert werden.
({3})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Telekommunikationsüberwachung. Der für diese Überwachung geschaffene Straftatenkatalog muss dringend aktualisiert werden.
Es müssen endlich auch Delikte wie Bestechung, Menschenhandel und Computerbetrug in die Überwachung
einbezogen werden; anderenfalls hinkt der Staat in seinen
rechtlichen Möglichkeiten den Entwicklungen im täglichen Leben hinterher.
Dies gilt ebenso für den Einsatz verdeckter Ermittler.
Es ist wirklich an der Zeit, eine klare Rechtsgrundlage zu
schaffen, die zeitgemäße Ermittlungen rechtlich absichert.
({4})
- Herr Kollege Stünker, an Ihrer Stelle würde ich mich in
diesem Punkt außerordentlich zurückhalten; denn Sie haben im Rechtsausschuss selbst erklärt, Sie seien durchaus
der Meinung, dass man etwas tun müsse, seien aber durch
Ihre Koalition gehindert, etwas zu tun.
({5})
Das können Sie nicht Ihrem Koalitionspartner, den Grünen, vorwerfen; denn Sie sind der stärkere Teil und stellen den Bundeskanzler. Ich wäre an Ihrer Stelle in diesem
Punkt etwas zurückhaltender.
({6})
Ein entscheidender Ansatz, ein Kernstück unseres Gesetzentwurfs, ist die Einführung einer neuen Kronzeugenregelung. Die frühere Kronzeugenregelung ist von der rotgrünen Bundesregierung nicht verlängert worden offenkundig, ohne sich Gedanken darüber gemacht zu haben, wie es danach weitergehen soll. Mit unserem Entwurf
haben wir eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung vorgelegt. Sie greift ein, wenn Straftaten vorliegen,
die dem Kernbereich der organisierten Kriminalität und
des Terrorismus zuzurechnen sind. Natürlich können solche Normen nicht allein im Raum stehen. Sie sollen daher
durch strafprozessuale Bestimmungen flankiert werden,
die einem Missbrauch effektiv vorbeugen.
In diesem Punkt befinden wir uns auf einer Linie mit
dem Bundesrat. Der von den Ländern vorgelegte Entwurf
eines Gesetzes zur Ergänzung der Kronzeugenregelungen
im Strafrecht zielt genau in die richtige Richtung. Gerade
diese Kronzeugenregelung ist auch der Grund dafür, dass
SPD und Grüne unseren Gesetzentwurf länger auf der
Ausschussebene gehalten haben, als es der Sache dienlich
war. Hier hätte schnell Abhilfe geschaffen werden können.
({7})
Stattdessen hat die Regierungskoalition lange diskutiert,
um in dieser wichtigen Frage in dieser Legislaturperiode
am Ende wahrscheinlich zu keinem Ergebnis mehr zu
kommen.
Hatte die Koalition ursprünglich einen eigenen Entwurf für eine Kronzeugenregelung ins Auge gefasst, den
wir selbstverständlich geprüft und gegebenenfalls mitgetragen hätten,
({8})
so ist die Sache jetzt wohl letztlich gescheitert. Wir haben
viel wertvolle Zeit verloren und es ist einmal mehr deutlich geworden, dass SPD und Grüne ernsthafte Probleme
mit dieser Rechtsmaterie haben. Anscheinend meinen die
Grünen, dies sei ein ideales Vorhaben, um sich wieder einmal auf überholte Positionen einer Fundamentalopposition zurückziehen zu können.
({9})
Das Verhalten der Koalition ist umso unverständlicher,
als sich in der öffentlichen Anhörung zu diesem Thema
nahezu alle Sachverständigen aus der Praxis zu einer
neuen Kronzeugenregelung sehr positiv geäußert haben.
Die Schaffung einer solchen Regelung wurde aus Sicht
der Praxis vielfach ausdrücklich begrüßt. Von den Experten ist bestätigt worden, dass eine Vielzahl schwerster terroristischer Verbrechen ohne die frühere Kronzeugenregelung, die ja ausgelaufen ist, nicht hätte aufgeklärt
werden können. Die Staatsschutzsenate der Oberlandesgerichte in Düsseldorf, Celle, Frankfurt, Stuttgart und
München haben in den 90er-Jahren gerade mithilfe der
Kronzeugenregelung immer wieder Verfahren erfolgreich
abschließen können.
Eine Kronzeugenregelung zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität ist nicht nur kriminalpolitisch sinnvoll, sondern sie ist auch schlicht unverzichtbar.
({10})
Die für die Verfolgung und Bekämpfung krimineller
Gruppierungen notwendige Kenntnis der inneren Strukturen und Entscheidungsabläufe kann immer weniger durch
verdeckte Ermittlungsarbeit erworben werden. Konspirativ abgeschottete Strukturen können nur durch starke Offenbarungsanreize für Mittäter aufgebrochen werden.
Im Bereich der Rauschgiftkriminalität kann nach
geltendem Recht Aufklärungs- und Präventionshilfe von
Beschuldigten in einem Strafverfahren bei der Strafbemessung berücksichtigt werden.
({11})
Hier verfügen wir über langjährige gute Erfahrungen. Die
strafrechtliche Praxis wendet die Normen regelmäßig an.
Deshalb haben wir uns bei unserem Entwurf an der erfolgreichen so genannten kleinen Kronzeugenregelung des
§ 31 des Betäubungsmittelgesetzes orientiert. Die von uns
vorgeschlagenen Maßnahmen können also schnell in die
Praxis umgesetzt werden.
Ich wundere mich darüber, dass die SPD nach den vollmundigen Ankündigungen ihres Innenministers, man
werde alles tun, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, in diesem so wichtigen Punkt nicht vorankommt. Es
ist ein weiteres Zeichen dafür - viele andere könnten wir
anführen -, dass das rot-grüne Projekt ausgedient hat. Es
nützt dieser Gesellschaft nicht mehr.
({12})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauder, nachdem Sie Ihre
Wahlrede gehalten haben,
({0})
darf ich jetzt vielleicht noch einmal auf das Thema
zurückkommen, mit dem wir uns hier heute Nachmittag
beschäftigen. Wir haben auf Ihren Antrag hin nach § 62
Abs. 2 unserer Geschäftsordnung Bericht darüber zu erstatten, welchen Stand der Beratung wir im Rechtsausschuss erreicht haben, unter anderem bei der von Ihnen
angesprochenen Frage einer Nachfolgeregelung für die
Kronzeugenregelung.
Es ist richtig, Herr Kollege Kauder, dass wir als Koalitionsfraktionen nach den bisherigen intensiven Beratungen und Sachverständigenanhörungen im Rechtsausschuss bis heute eine Ergänzung der Kronzeugenregelung
im Strafrecht nicht vornehmen können. Ich akzeptiere,
dass Sie das kritisieren, aber nicht, wie Sie es kritisieren.
Die CDU/CSU hat diese Entwicklung nämlich in den letzten Tagen in einer Pressemitteilung als schweren Rückschlag für die Bekämpfung von Terror und schwerer Kriminalität bezeichnet.
({1})
Starke Worte, Herr Kollege Geis, aber Sie werden damit
wieder als Bettvorleger landen. Das garantiere ich Ihnen.
Worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden doch darüber, dass wir Straftätern, die schwerste Straftaten begangen haben - Mord, Totschlag, räuberische Erpressung
oder andere -, Straferlass bzw. Straffreiheit dafür geben
wollen, dass sie in ihrem Strafverfahren gegen andere Personen aussagen und dadurch Straftaten aufgeklärt werden
können oder möglicherweise die Begehung neuer Straftaten verhindert werden kann.
({2})
Darum geht es.
Interessanterweise hat zu dem Umstand, dass wir bis
heute noch keine neue Regelung vorgelegt haben, der
Deutsche Anwaltverein am 14. März eine Presseerklärung
herausgegeben, aus der ich einmal zitieren darf. Dort
steht:
Mit einer Kronzeugenregelung wären die Risiken für
die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Entscheidungen der Justiz, insbesondere die Gefahr von Falschbelastungen erheblich gewesen.
„Kronzeugenregelungen sind unnütz und riskant“
- so ein Vertreter des Deutschen Anwaltvereins.
Es entspräche einer allgemeinen Erfahrung, dass
Straftäter immer wieder ihre eigene Verantwortung
entweder ganz leugnen oder auf andere abwälzen,
um selbst einer Strafe ganz zu entgehen oder diese zu
mildern. Daraus werde deutlich, dass eine Kronzeugenregelung der Wahrheitsfindung nicht dienen
könne.
Soweit der DAV, der ja sicherlich nicht im Verdacht steht,
Sozialdemokraten sehr nahe zu stehen.
({3})
Meine Damen und Herren, es liegen Welten zwischen
diesen beiden Erklärungen. Sie haben eine populistische,
rein politische Erklärung abgegeben, in der anderen Erklärung sorgt man sich um die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Entscheidungen der Justiz in diesem Land. Angesichts dieses breiten Meinungsspektrums meine ich
schon, dass es sinnvoll und richtig ist, wenn wir uns bei
der Beratung einer Neuregelung Zeit lassen und sehr
gründlich unter Hinzuziehung des gesamten Sachverstandes nachdenken, wie denn diese Neuregelung aussehen
soll.
({4})
Sie beschwören Gefahren für die innere Sicherheit.
Kolleginnen und Kollegen, wir haben kurz vor Weihnachten hier in einem wirklich guten Akt des Parlamentarismus mit dem Schily-II-Paket Regelungen auf den Weg
gebracht, mit denen wir auch die Lücken, die vermeintlich
noch da sind, schließen, die innere Sicherheit in unserem
Land noch verbessern und den guten Schutz noch stärken.
({5})
- Kollege Geis, malen Sie nicht zu Wahlkampfzwecken
schwarz und machen Sie den Menschen in diesem Land
nicht laufend Angst.
({6})
Zudem, Herr Kollege Geis, ist die rechtstatsächliche
Bedeutung der so genannten Kronzeugen, die von Ihnen
und von Ihren konservativen Kolleginnen und Kollegen
immer so beschworen wird, für die Praxis wirklich marginal. Die Gerichte in Deutschland haben im Strafprozess
andere Probleme als die Probleme, die Sie mit einer Kronzeugenregelung lösen wollen.
({7})
- Ja, Herr Kollege Geis, ich kenne also die Praxis nicht.
({8})
- Herr Kollege Geis, Ihre Zwischenrufe können nicht verbergen, dass Sie in dem Thema nicht mehr drinstecken.
({9})
Herr Kollege Geis, ich bleibe dabei, dass sich die am
31. Dezember 1999 ausgelaufene alte Kronzeugenregelung nicht bewährt hat.
({10})
In keinem Fall ist es mithilfe dieser Regelung gelungen,
Täter aus terroristischen Vereinigungen herauszubrechen
oder terroristische Straftaten zu verhindern. Auch im
Kampf gegen das organisierte Verbrechen hat die alte
Kronzeugenregelung versagt. Diese Regelung schuf eher
Anreize zu falschen Verdächtigungen und Denunziationen. Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Kronzeugen
waren deshalb immer angebracht.
Diese Zweifel teilen im Grunde genommen die Antragsteller der jetzt vorliegenden Entwürfe, also die
CDU/CSU und der Bundesrat. In diesen Entwürfen wird
vorgeschlagen - das soll neu sein -, an 23 Stellen im Strafgesetzbuch bzw. in strafrechtlichen Nebengesetzen nunmehr spezielle Kronzeugenregelungen zu implementieren, die nur für die Verletzung der dort genannten
Straftatbestände gelten sollen.
Von den bisher genannten Kronzeugenregelungen unterscheiden sich die Entwürfe aber vor allen Dingen dadurch - der Kollege Kauder hat dazu eben gar nichts gesagt; das haben Sie hineingeschrieben, weil Sie Zweifel
haben; auch Wissenschaft und Praxis teilen diese Zweifel -,
dass § 362 der Strafprozessordnung um einen neuen Wiederaufnahmetatbestand, nämlich um die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten, ergänzt werden
soll. Das heißt, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren kann zuungunsten eines Angeklagten wieder aufgenommen werden. Das gilt speziell für Täter, die von einer
Kronzeugenregelung - sozusagen in Ihrem Sinne - bedacht worden sind. Das erkennende Gericht, das eine
Kronzeugenregelung strafmildernd angewandt hat, soll in
seinem Urteil neben der tatsächlich verhängten Strafe
auch die fiktive Strafe, die ohne Anwendung der Kronzeugenregelung verwirkt gewesen wäre, festsetzen.
Was heißt das eigentlich? Es gibt also einen neuen Wiederaufnahmegrund für den Fall, dass sich im Nachhinein
herausstellt, dass der Angeklagte in einem vorausgegangenen Verfahren als Kronzeuge die Unwahrheit gesagt
hat, um sich Strafmilderung oder das Absehen von Strafe
zu erkaufen. Die fiktive Strafe, die neben der eigentlichen
Strafe festgesetzt worden ist, soll im Nachhinein als reale
Strafe verhängt werden.
Herr Kollege Geis, das ist eine wahrlich komplizierte
Regelung. Da graust es den strafprozessrechtlichen Praktiker. So etwas können sich nur Schreibtischtäter ausgedacht haben.
({11})
Wer die Kompliziertheit des bereits jetzt geltenden Wiederaufnahmerechts kennt, weiß, vor welche fast unlösbaren Probleme der Tatrichter mit einer derartigen NeuregeJoachim Stünker
lung gestellt würde. Herr Kollege Geis, Sie können sicher
sein: Die Kolleginnen und Kollegen in diesem Lande werden dankbar dafür sein, dass die Mitglieder meiner Fraktion dafür Sorge tragen werden, dass die uns von Ihnen
hier vorgeschlagene Regelung nicht Gesetz werden wird.
({12})
Dennoch gibt es Fälle - da treffen sich unsere Beurteilungen -, in denen eine allgemeine Kronzeugenregelung
kriminalpolitisch sinnvoll und auch erforderlich ist. Ich
denke an den breiten Bereich der organisierten Kriminalität. Die SPD-Fraktion strebt daher eine Strafzumessungsvorschrift im allgemeinen Strafrecht mit einem
neuen § 46 b StGB an. Mit dieser Vorschrift können bestimmte kooperative Verhaltensweisen, die zur Aufklärung begangener oder zur Verhinderung zukünftiger
Straftaten führen, stärker als bisher strafmildernd berücksichtigt werden. Dies ist dann jedoch nicht deliktspezifisch, sondern gilt allgemein, also für jeden Straftäter; jeder Straftäter kann nach dieser Vorschrift strafmildernd
behandelt werden.
Die Untergrenze der vorgesehenen Strafmilderung soll
fünf Jahre betragen, wenn die Tat ausschließlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, also bei Mord, oder
wenn das Gesetz neben lebenslanger Freiheitsstrafe eine
zeitige Freiheitsstrafe vorsieht.
Im Übrigen soll die Strafe gemäß § 49 Abs. 2 StGB gemildert werden können. Mit einer solchen Regelung
schaffen wir keine Lex specialis für einige Schwerstkriminelle, sondern eine Lex generalis für alle Menschen in
diesem Land. Das allein, Herr Kollege Geis, ist verfassungsrechtlich in Ordnung, also verfassungskonform.
({13})
Das ist kriminalpolitisch die einzig sinnvolle Regelung.
Wie ich Ihnen schon vor ein paar Wochen gesagt habe,
werden wir eine entsprechende Regelung vorlegen.
({14})
Eine solche Regelung bleibt Gegenstand des Pakets, mit
dem wir auf dem Gebiet der inneren Sicherheit weitere
Verbesserungen bei der Bekämpfung der organisierten
Kriminalität in diesem Land auf den Weg bringen werden,
Herr Kollege Geis.
Der Kollege Beck schüttelt den Kopf. Dazu kann ich
nur sagen: Wir werden an diesem Thema weiterarbeiten
und wir werden Ihnen solch eine Regelung rechtzeitig
vorlegen. Wenn wir die neue Kronzeugenregelung bis
Mai oder Juni nicht mehr verabschieden sollten, Herr Kollege Geis, geht der Rechtsstaat daran nicht zugrunde.
Schönen Dank.
({15})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bisherige Debatte hat viele gute
Gründe dafür aufgezeigt, warum eine neue Kronzeugenregelung kommen soll und kommen muss. Ich kann dem
Kollegen Stünker ausdrücklich Recht geben, wenn er
sagt, dass der Einsatz der Kronzeugenregelung beispielsweise für den Bereich der organisierten Kriminalität zu
empfehlen ist. Wir wissen das durch die Forschungen, die
der frühere Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover und jetzige sozialdemokratische Justizminister Professor Pfeiffer in dieser Frage durchgeführt
hat. Er hat Experten befragt und deren Meinungen und Erfahrungen eingeholt. Das Ergebnis war klar und eindeutig, nämlich der Ruf nach einer neuen rechtsstaatlichen
Kronzeugenregelung.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion unterstützen das
nachdrücklich. Ich habe bislang auch kein einziges Argument dagegen gehört, das wirklich durchschlagend wäre.
Wir wissen alle, dass es gerade bei der organisierten
Kriminalität außerordentlich schwierig ist, in den Kernbereich einzudringen. Aus den Erfahrungen in vielen
anderen Ländern, die sehr viel mehr Probleme mit organisierter Kriminalität haben, ist uns bekannt, dass Kronzeugenregelungen sehr erfolgreich waren.
Dass eine Kronzeugenregelung durchaus rechtsstaatlich ist, zeigt das hier schon angeführte Beispiel des § 31
des Betäubungsmittelgesetzes. In diesem Bereich setzen
wir eine Kronzeugenregelung schon seit langem ein. All
die Probleme, die hier aufgezeigt worden sind, sind auch
dort vorhanden. Trotzdem haben wir damit gute Erfahrungen gemacht, von denen wir uns leiten lassen sollten.
Die Vorstellung der FDP ist nicht, eine Lösung zu finden, die darin besteht, dass die Kronzeugenregelung in
vielen Paragraphen vorgesehen wird, wie es die CDU/
CSU vorschlägt. Unsere Überlegungen gehen in die Richtung, wie Sie, Herr Stünker, sie vorgetragen haben. Ich
glaube, dass der Weg, der von Ihnen aufgezeigt worden
ist, Erfolg versprechen kann. Für uns ist allerdings wichtig, dabei die Rechtsprechung zu berücksichtigen. Die
Rechtsprechung hat deutlich gemacht, dass die Verurteilung aufgrund der Anwendung einer Kronzeugenregelung
nicht allein auf der Aussage des Kronzeugen beruhen darf.
Das sollten wir in der Lösung ausdrücklich herausstellen.
Wir sollten aufnehmen, was die Rechtsprechung uns aufgegeben hat. Aber eine generelle Lösung wäre auch die
Vorstellung der Liberalen in diesem Zusammenhang.
Es gibt also - das muss man feststellen - eine breite
Mehrheit der Vernunft in diesem Haus. Ich bin ganz
sicher, dass auch die CDU/CSU in Richtung der Lösung,
die Sie aufgezeigt haben, gesprächsbereit gewesen
wäre; denn wir wollen alle, dass Täter im Bereich von
schwerster Kriminalität gefasst und Menschen nicht weiterhin Opfer werden, und das soll mit einer vernünftigen
Lösung erreicht werden.
Trotzdem müssen wir heute feststellen, dass die Neuregelung abgelehnt wird. Es gibt - vielleicht außer der
PDS - nur eine einzige Fraktion, und zwar eine Regierungsfraktion - nämlich die Grünen -, die sie ablehnt. Wir
werden gleich wieder all die Dinge hören, die wir seit langem hören und die in der Expertenanhörung widerlegt
worden sind. Deshalb ärgert mich das ganz außerordentlich. Wir als Liberale sagen: Wir wollen Opferschutz und
nicht Täterschutz, insbesondere nicht den Schutz von
Tätern im Bereich von schwerster Kriminalität.
Einen zweiten Aspekt möchte ich ansprechen, weil
auch er Gegenstand der jetzigen Beratung ist. Der Bundesrat hat vorgeschlagen, einige Kompetenzen von der
Staatsanwaltschaft auf die Polizei zu verlagern. Ein gängiges Argument dagegen ist, dass die Staatsanwaltschaft
juristisch besser ausgebildet sei und sie deshalb besser in
ihren Händen lägen. Wenn man, wie ich, gelernter Oberstaatsanwalt ist, dann neigt man dazu, dem sehr schnell
zuzustimmen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen,
dass sich die Ausbildung der Polizei gerade im rechtlichen
Bereich enorm verbessert hat, beispielsweise durch die
Fachhochschulausbildung, die die Polizeikommissaranwärter erhalten. Das heißt, wir haben bei der Polizei
andere Verhältnisse, als wir sie vielleicht noch vor 30,
40 Jahren hatten.
Man kann über die eine oder andere Änderung nachdenken. Aber es macht mir Sorge, dass wir immer wieder
Anstrengungen beobachten können, die Zuständigkeiten
von der Staatsanwaltschaft weg und hin zur Polizei zu
verlagern. Ich werbe sehr dafür, dass wir das außerordentlich vorsichtig tun.
({0})
Es gibt Tausende von guten Gründen, dass die Staatsanwaltschaft Herrin des Ermittlungsverfahrens bleibt und
dass sie die rechtliche Verantwortung und Aufsicht hat.
Das ist die Begründung, warum wir die entsprechenden
Gesetzentwürfe des Bundesrates ablehnen.
Ich appelliere an die Vernunft. Herr Stünker, ich darf
Ihnen als dem Sprecher der Sozialdemokraten ausdrücklich versichern, dass wir zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit für einen besseren Opferschutz und für
eine rechtsstaatliche Kronzeugenregelung bereit sind. Wir
bringen uns gerne in dieses Verfahren ein.
Es vergeht nicht mehr viel Zeit bis zum 22. September.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt werden wir zu einer vernünftigen Kronzeugenregelung kommen, weil dann die
Grünen in diesem Lande Gott sei Dank kein Sagen mehr
haben.
Vielen Dank.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Herr van Essen, ich kann nur sagen: Dream on, boy. Da
war der Wunsch Vater des Gedankens. Wir werden Ihnen
in der Koalition nach dem 22. September Mores lehren
und werden in der Innen- und Rechtspolitik unseren erfolgreichen rechtsstaatlichen Kurs bei der Schaffung der
inneren Sicherheit fortsetzen.
Die Koalition hat in dieser Legislaturperiode bereits
eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie man gegen organisierte Kriminalität und gegen Strukturen des Terrorismus zielgenau und rechtsstaatskonform vorgeht. Ich
möchte daran erinnern, dass die FDP nicht zugestimmt
hat, als wir unser großes Gesetzespaket vorgelegt haben.
Der 11. September hat uns eine neuartige schreckliche
Dimension des internationalen Terrorismus vor Augen geführt. Wir haben darauf mit einem umfangreichen Sicherheitspaket - Herr Stünker hat es als Schily II bezeichnet reagiert. Wir haben dabei die Balance gehalten und nicht
einfach all das aufgegriffen, was sich Polizei und Geheimdienste in einer solchen Situation wünschen. Wir haben vielmehr darauf geachtet, dass dieses Paket zielgenau
bleibt und dass es rechtsstaatlich, kontrolliert und auch
datenschutzkonform implementiert wird. Es waren gerade die Grünen, die bei dem Sicherheitspaket auf diese
Aspekte geachtet haben. Weil wir die Balance gehalten
haben, konnten wir es mit großer Überzeugung durch die
parlamentarischen Gremien bringen.
Karlsruhe hat gestern deutlich gemacht, wie man mit
einer populistischen Rechtspolitik verfährt, die jedes Augenmaß vermissen lässt. Man kassiert die entsprechenden
Gesetze kurzerhand ein, weil sie verfassungswidrig sind.
Ich bin mir sicher, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der Union, dass vieles von dem, was in Ihrem Gesetzentwurf hinsichtlich der organisierten Kriminalität
enthalten ist, in Karlsruhe ebenfalls den Stempel „verfassungswidrig“ aufgedrückt bekäme.
({0})
- Beispielsweise verweisen Sie in Ihrem Gesetzentwurf
auf Normen, die gestern aufgehoben wurden. Da diese
Normen nicht mehr in Kraft sind, ist Ihr Gesetzentwurf
ein Nullum.
({1})
- Beim Arzneimittelgesetz haben Sie das Urteil von gestern nicht zur Kenntnis genommen und haben uns heute
einen unveränderten, als verfassungswidrig zu bezeichnenden Gesetzentwurf vorgelegt.
({2})
Würden Sie es mit Ihrem Vorhaben ernst meinen, dann
hätten Sie einen Änderungsantrag eingebracht. Sie hätten
dann im Übrigen auch bemerkt, dass die Probleme im Zusammenhang mit § 12 FAG schon längst von der Koalition gelöst wurden. Das ist alles kalter Kaffee aus der letzten Legislaturperiode. Man kann zwar darauf verweisen,
dass Sie den Gesetzentwurf schon im August eingebracht
haben. Aber Sie müssen trotzdem zur Kenntnis nehmen,
dass sich die Lage in vielen Bereichen im Februar und im
März anders darstellt.
({3})
Herr Geis, auch Ihr Vorschlag bezüglich einer verbesserten Gewinnabschöpfung, den Sie gestern aus schlechtem Gewissen gegenüber dem Karlsruher Urteil gemacht
haben - es war eine gemeinsame Niederlage von Union
und FDP -, kann nicht als rechtsstaatsfreundlich angesehen werden. Er würde die Gerichte vor riesige Probleme
stellen.
({4})
- Er würde sehr komplizierte Beweiserhebungen erfordern und zu verschleppten Verfahren führen. Genau das
wollen wir nicht. Wir wollen in einem Strafverfahren
schnell zu einem rechtsstaatlich einwandfreien Urteil
kommen.
Wir werden morgen bei einem weiteren Thema der inneren Sicherheit, nämlich beim Thema Sicherungsverwahrung, beweisen, dass sich die Koalition mit ihren Vorschlägen bemüht - anders als Sie es mit Ihren Vorschlägen
machen -, die notwendigen Sicherungsmaßnahmen in
rechtsstaatskonformer Weise zu ergreifen.
Nun zu dem Thema Kronzeugenregelung, das hier ein
bisschen in die Mitte der Debatte gerückt ist.
({5})
- Ich weiß nicht so sehr, Herr van Essen, ob aus guten
Gründen. Wenn man sich die Bilanz der Regelung, die wir
bis 1999 hatten, anschaut, dann ist festzustellen, dass
diese eher kläglich war. Sie verweisen hier immer mit
großer Überzeugung auf § 31 BtMG, die kleine Kronzeugenregelung im Betäubungsmittelrecht. Wir sollten uns
erinnern, warum man sie eingeführt hat. Damals hat man
sich erhofft, durch diese Kronzeugenregelung an die
Medellin-Kartelle und andere wichtige Teile der organisierten Kriminalität heranzukommen. Das spielt heute
überhaupt keine Rolle mehr. Die Kronzeugenregelung
wird zwar häufig eingesetzt, aber die Strukturen der organisierten Kriminalität trifft man auch damit nicht.
({6})
- Herr van Essen, wenn man sich zu einer Kronzeugenregelung entschließen würde, lohnte die Debatte über die
Frage: Was sind die rechtsstaatlichen Anforderungen?
Darüber haben wir in der Koalition über Wochen und Monate diskutiert.
({7})
- Herr van Essen, überwiegend habe ich jetzt das Wort.
({8})
Für einen Punkt, den Sie vorhin angesprochen haben
und den auch ich in dieser Debatte mit erörtert habe, habe
ich durchaus Sympathien. Man hat ja ein schlechtes Gewissen, wenn man eine Verurteilung allein auf die Aussage eines Kronzeugen stützen will, weil man weiß, dass
ein Kronzeuge immer auch aus sachfremden Motiven heraus eine Aussage treffen kann, unter Umständen eben,
um den Strafrabatt zu bekommen, und nicht, weil er der
Wahrheitsfindung dienen will. Als Straftäter hat er unter
Umständen auch ein Interesse daran, in den Aussagen in
seinem Prozess, aber auch später, seinen eigenen Tatbeitrag etwas zu schönen und die Schuld im Wesentlichen auf
andere Mittäter und Komplizen abzuschieben. Das ist
durchaus verständlich und entspricht auch den Erfahrungen bei Ermittlungsbehörden und Gerichten. Deshalb
muss man sehr vorsichtig sein, ob man allein aufgrund einer solchen Aussage eine Verurteilung vornehmen kann.
({9})
Aber Ihre Forderung, das strafprozessual ausdrücklich zu
verbieten, stößt bei vielen auf ganz erhebliche Bedenken,
({10})
weil sie natürlich in die freie Beweiswürdigung der
Richter eingreift. Dieses Argument muss man zumindest
abwägen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dem näher zu
treten; man muss das sehen.
Eine solche Regelung ist an diesem Punkt in gewisser
Weise ein Bruch mit dem System. Man muss auch sehen,
dass die Kronzeugenregelung als solche insgesamt natürlich einen Systembruch darstellt. Der Gesetzgeber hatte
ja auch immer ein schlechtes Gewissen bei der Kronzeugenregelung und hat sie deshalb immer wieder befristet.
Sie haben sie in Ihrer Koalition immer mit schlechtem Gewissen verlängert. Ich kann mich noch daran erinnern,
dass Herr Burkhard Hirsch und manchmal auch Frau
Leutheusser-Schnarrenberger dagegen votiert oder zumindest gegrummelt haben, weil sie meinten: Das, was
wir da machen, ist eigentlich mit Rechtsstaatlichkeit
schwer zu vereinbaren. - Recht haben sie!
Wenn wir diese Debatte fortsetzen, sollten wir wirklich
alle Probleme in diesem Zusammenhang sehen. Ein Problem ist zum Beispiel, dass sich die Frage stellt: Bekommen Täter für die gleiche Schuld am Ende die gleiche
Strafe? In der Bevölkerung stößt natürlich schon auf,
wenn nach der alten Kronzeugenregelung ein Mörder
womöglich sogar nur wegen einer Falschaussage in einem
anderen Prozess verurteilt und nach drei Jahren in die
Freiheit entlassen wird. Was sagen wir denn den Verbrechensopfern oder den Angehörigen der Verbrechensopfer
in einer solchen Situation? Das ist ein Problem.
({11})
Sie haben bei der Kronzeugenregelung im Übrigen
auch das Problem, dass bei einer Gruppe von Leuten einer erwischt wird, der auspackt und von der Kronzeugenregelung Gebrauch machen kann, während der Nächste,
der erwischt wird, nicht mehr auspacken und von der
Kronzeugenregelung Gebrauch machen kann. Da ist zum
Beispiel der Gleichheitsgrundsatz erheblich tangiert.
Bei Ihrem Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und
Kollegen von der Union, wundert mich allerdings, dass
Volker Beck ({12})
Sie die Kronzeugenregelung jetzt in jeden Paragraphen
schreiben wollen, dass Sie im Wesentlichen auf Paragraphen fokussieren, bei denen man im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung nach § 46 StGB schon heute entsprechend helfen kann. Natürlich wird auch schon heute
bei Präventions- und Aufklärungsgehilfen von solchen
Regelungen Gebrauch gemacht. Dafür braucht man die
von Ihnen vorgeschlagene Regelung eigentlich nicht.
Mir ist wohler dabei, dass wir noch keine Kronzeugenregelung haben. Ich glaube, es ist sehr mühevoll, eine
einigermaßen rechtsstaatlich kompatible Regelung zu formulieren. Deshalb liegt auch von keiner Fraktion dieses
Hauses ein Vorschlag auf dem Tisch. Ich denke, der Bundestag wäre gar nicht so schlecht beraten, wenn er einfach
die Finger davon ließe.
({13})
Das Wort
hat die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Eine wirksame und erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung kann nur durch eine effiziente soziale
Prävention erreicht werden. Das haben wir hier mehrfach
deutlich gemacht. Mit den Anträgen des Bundesrats und
der Union dagegen werden die Sorgen der Bürgerinnen
und Bürger in einem populistischen Spielchen übergangen. Ohne Bekämpfung und Korrektur der gesellschaftlichen und sozialen Ursachen sind alle Versuche, Kriminalität - wie das jetzt hier geschehen soll - durch immer
mehr Polizei, immer schärfere Gesetze, immer höhere
Strafmaße zurückzudrängen, zum Scheitern verurteilt.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe wollen die Ausweitung
der Befugnisse der Polizei, die Einführung von Verfahrensregeln, welche rechtsstaatlichen Grundprinzipien widersprechen, und eine Verschärfung der Sicherheitsverwahrung. Letztere wird ja morgen in diesem Hause
ausführlich diskutiert.
Ich möchte zwei Beispiele aufgreifen, zum Ersten das
Beispiel der Kronzeugenregelung. Die Gesetzentwürfe
formulieren eine Neuauflage der Kronzeugenregelung.
Diese Neuauflage - ganz gleich, ob in einer großen oder
in einer kleinen Variante - lehnen wir insgesamt entschieden ab. Zum einen ist die Kronzeugenregelung rechtsstaatlich höchst umstritten, zum anderen sind die Informationen von Kronzeugen meist nur sehr bedingt
ermittlungsrelevant und oft nicht gerichtsverwertbar. Ein
Handel mit der Strafe, in den der Täter sein Tatwissen gewissermaßen als Geschäftsgrundlage einbringt, ohne dass
an die Tatumstände und die Schuld angeknüpft wird, ist
unseres Erachtens nicht akzeptabel.
({0})
Es besteht eine erhöhte Gefahr, dass solche erkauften
Aussagen schlicht Falschaussagen sind. Diese gehen dann
zulasten der Beschuldigten. In der Praxis ist die mangelnde Glaubwürdigkeit des Kronzeugen ein Problem.
Denn Kronzeugen waren und sind - das wissen eigentlich
alle in diesem Haus - oft zweifelhafte Figuren.
Als erfahrene Prozessbeobachterin kann ich dies nur
bestätigen. In dem 129-a-Prozess, der zurzeit in Berlin gegen die Revolutionären Zellen läuft, kann in den jeweils
am Donnerstag und Freitag stattfindenden Gerichtsverhandlungen jeder erleben, dass sich ein Kronzeuge ständig widerspricht. Per Aussageerzwingungshaft werden
die Angeklagten zur Stellungnahme gezwungen. Sie kommen nur dann frei, wenn sie vor Gericht eine entsprechende Aussage machen. Das widerspricht eindeutig
rechtsstaatlichen Prinzipien, nämlich dem Recht der Beschuldigten zu schweigen; schließlich muss das Gericht
ihnen nachweisen, welche Schuld sie zu verantworten haben. Damit wird das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren und somit ein fundamentales Prinzip des
Rechtsstaates infrage gestellt. Deshalb haben wir in der
Vergangenheit die Kronzeugenregelung abgelehnt und
werden dies auch in Zukunft weiterhin tun.
Einige haben schon zitiert, dass der Deutsche Anwaltverein nach den Anschlägen vom 11. September erklärte,
die Einführung einer Kronzeugenregelung sei unnütz und
riskant. Die jetzt diskutierten Vorschläge seien nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Gerade auf dem
Gebiet der Aufklärung terroristischer Straftaten hat sich
die Kronzeugenregelung nicht bewährt. Die Anzahl der
Anwendungsfälle war in der Vergangenheit äußerst gering. Hier dagegen wird so getan, als habe das bisher
große Erfolge gebracht. Ich kann das nicht nachvollziehen.
({1})
- Auch in den PKK-Prozessen war das Auftreten der
Kronzeugen äußerst strittig.
({2})
Ich bin in der Tat der Meinung, dass man sich das genau
anschauen muss. Gehen Sie einmal zu diesem RZ-Prozess! Ich glaube, das kann für jeden Juristen eine ganz
wichtige Anschauung sein, was da zurzeit vorgetragen
wird.
Der Deutsche Anwaltverein hat im Zusammenhang mit
der Bekämpfung des Terrorismus eindeutig festgestellt:
Den neuen Dimensionen krimineller, terroristischer
Bedrohungen, die seit den Katastrophen des 11. September die Öffentlichkeit beunruhigen, ist nicht mit
Methoden zu begegnen, die sich bereits in der Vergangenheit als ineffektiv und riskant erwiesen haben.
Zu ihnen gehört die Kronzeugenregelung.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
In diesen Gesetzespaketen sind
noch viele weitere Punkte enthalten. Ich meine, dass die
Kronzeugenregelung ein Punkt ist, den man hier intensiver diskutieren muss. Ich bin froh darüber, dass die GrüVolker Beck ({0})
nen noch daran festhalten, die Kronzeugenregelung nicht
erneut aufzulegen.
({1})
Sie widerspricht jedem rechtsstaatlichen Prinzip und jedem demokratischen Staat.
Danke.
({2})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will am Anfang meiner Ausführungen keinen Zweifel daran lassen, dass die
Bundesregierung nach wie vor der Meinung ist, dass eine
rechtsstaatliche, transparente und auch zielgerichtete
Regelung der so genannten Kronzeugenregelung denkbar ist.
({0})
Es liegen auch entsprechende Vorschläge vor. Aber eines
muss man feststellen: Sie muss besser sein als die Regelung, die ausgelaufen ist. Sie muss vor allen Dingen auch
besser sein als die Vorschläge, die uns der Bundesrat und
- ihm in weiten Bereichen folgend - auch die Union heute
vorgelegt haben.
({1})
Ich darf insoweit auf die Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwurf des Bundesrates verweisen.
Ich möchte kurz auf die Punkte zu sprechen kommen,
die uns besonders aufgefallen sind. Wenn man die Entwürfe des Bundesrates und der Union betrachtet, kann
man, Herr Geis, nicht gerade sagen, dies sei eine sehr
übersichtliche Regelung. Sie haben einen Ansatz gewählt,
der nach meiner Erinnerung auch von den Experten in der
Anhörung am 7. November letzten Jahres sehr kritisch
unter die Lupe genommen worden ist. Dort wurde festgestellt, dass hierin zum Teil in einer kaum nachvollziehbaren Weise und ohne eingehende Begründung Einzelregelungen getroffen worden sind.
So haben Sie für bestimmte Delikte Kronzeugenregelungen vorgesehen, für andere nicht. Da muss man sich
fragen: Warum nicht?
({2})
So gibt es nicht für jeden Täter einen Anreiz, eine Aussage
zu machen. Um es an einem Beispiel festzumachen: Nach
Ihrem System würde etwa der betrügerische Buchhalter,
der einer Mafiaorganisation angehört und über Schutzgelderpressungen seiner Organisation aussagt, gar nicht
in den Genuss Ihrer Kronzeugenregelung kommen. Dies
ist ein Fall, an den Sie in dieser Form sicher nicht gedacht
haben.
Außerdem haben Sie nicht ausdrücklich die Anstifter
und Gehilfen erwähnt. Die Frage ist doch, ob man nicht
gerade über die so genannten Randfiguren der organisierten Kriminalität,
({3})
also die Gehilfen im strafrechtlichen Sinne, Eingang in
die Strukturen der organisierten Kriminalität finden kann.
Ich denke, dass Ihnen dies auch die Sachverständigen in
der Anhörung des Ausschusses im November letzten Jahres gesagt haben.
Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen, weil ich finde,
dass Sie sich offensichtlich haben überreden oder überfahren lassen: In § 129 a StGB gibt es über den Verweis in
Abs. 5 bereits eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung. Dies haben Sie als Fraktion erkannt und in Ihrem
Entwurf dann auch weggelassen. Der Bundesrat hat seine
diesbezüglichen Vorschläge jedoch aufrechterhalten.
Uns ist noch etwas anderes besonders aufgefallen: In
§ 255 a StGB sind in Nr. 2 unter anderem Strafmilderung
oder Straffreiheit vorgesehen, wenn der Täter von einer
bevorstehenden Straftat nach § 255 StGB - also räuberische Erpressung - weiß und sie verhindern hilft. Das ist
sicher ein durchaus anerkennenswertes Anliegen.
Aber Sie haben dabei offensichtlich § 138 Abs. 1 Nr. 8
StGB übersehen. Danach wird immerhin mit bis zu fünf
Jahren Freiheitsstrafe bestraft, wer von bevorstehenden
Taten nach § 255 StGB weiß und es nicht mitteilt. Das
hätte folgende etwas merkwürdige Konsequenz: Wer sich
nicht nach § 138 strafbar macht, erhält dafür außerdem einen Rabatt auf die Strafe für eine andere Tat, wegen der er
gerade vor Gericht steht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass
Sie das gar nicht beabsichtigt haben. Das gilt auch für andere Vorschläge, zum Beispiel im Rahmen der neu vorgeschlagenen §§ 149 a und 181 c StGB.
Ich möchte noch etwas zu den prozessualen Begleitregelungen in Sachen Kronzeugen sagen. Insgesamt verweise ich dabei auf die Stellungnahme der Bundesregierung. Die Regelungen rund um die Wiederaufnahme, die
übrigens auch von den Sachverständigen unisono abgelehnt worden sind, bergen eine aus meiner Sicht nicht zu
unterschätzende Gefahr in sich. Sie zwingen den Kronzeugen, der einmal gelogen hat, bei dieser Lüge zu bleiben, weil er ansonsten einer erneuten Bestrafung ausgesetzt wäre. Ich denke, auch das kann nicht Sinn und
Zweck einer sinnvollen Regelung sein.
Zur Frage der Telefonüberwachung habe ich - auch
im Rechtsausschuss - schon mehrfach gesagt, dass wir
mit Sorge sehen, wie stetig und zum Teil dynamisch die
Überwachungszahlen anwachsen. Ich weiß, dass dies ein
besonderes Anliegen nicht nur der Koalition, sondern
auch der FDP ist, die ja regelmäßig, und zwar jährlich, auf
diese Problematik aufmerksam macht. Es ist richtig, das
entsprechende fundierte Gutachten des Max-Planck-Institutes abzuwarten,
({4})
das wir in Auftrag gegeben haben und das angekündigt
worden ist.
({5})
- Herr Geis, es ist klug, dass wir unsere Vorhaben - auch
wir haben solche - so lange zurückstellen, bis wir entsprechende solide Grundlagen haben.
({6})
Wir könnten uns zum Beispiel vorstellen, schwerwiegende Begehungsformen im Bereich der Korruptionsund Sexualdelikte in den Katalog des § 100 a StPO aufzunehmen. Aber dafür fehlen uns entsprechende Erkenntnisse. Wir sollten im Interesse einer zielgerichteten Lösung darauf warten, bis die entsprechenden Grundlagen
vorliegen. Dann sind wir bereit, entsprechende Vorschläge zu machen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort
hat nun der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man einmal von
den Maßnahmen absieht, die im Zusammenhang mit den
Anschlägen vom 11. September 2001 notwendig waren
und denen wir zugestimmt haben, ist festzustellen: Die
Koalition hat in den letzten drei Jahren zur Verbrechensbekämpfung, zur Bekämpfung der allgemeinen Kriminalität und der organisierten Kriminalität, und zum besseren
Schutz vor Sexualdelikten, nichts, aber auch gar nichts
vorgelegt. Eingangs muss also festgehalten werden: Hier
hat die Koalition ganz entscheidend versagt; daran kann
man nicht deuteln.
({0})
In diese Richtung passt natürlich Ihr Verhalten zur
Kronzeugenregelung. Die Vorgängerregierung hat es
sich hierbei nicht so einfach gemacht. Wir haben von 1989
bis 1998 eine ganze Reihe von Gesetzentwürfen vorgelegt
und durch das Parlament gebracht, die ganz entscheidend
mit dazu beigetragen haben, vom Gesetzgeber her den
Schutz der Allgemeinheit vor Verbrechen besser zu stellen, als dies vorher der Fall gewesen ist. Denken Sie nur
an die Kronzeugenregelung, die wir 1989 eingeführt haben. Denken Sie an das erste Gesetz gegen die organisierte Kriminalität von 1992, an das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994, an das Geldwäschegesetz,
das wir zum ersten Mal durch das Parlament gebracht haben, an den besseren Schutz vor Sexualdelikten und daran, dass wir gemeinsam mit Ihnen und der FDP das
Wohnraumüberwachungsgesetz durchgesetzt haben. All
das sind Maßnahmen, die dazu geeignet sind, unsere Bevölkerung, also die Menschen im Land, besser vor Verbrechen zu schützen.
({1})
Nach wie vor besteht Handlungsbedarf. Nach wie vor
gibt es insbesondere eine steigende Jugenddelinquenz,
und zwar vor allem bezogen auf Gewalttaten. Niemand
kann davon ausgehen, dass der Terrorismus besiegt
wurde. Des Weiteren gibt es eine sich weiter ausbreitende
organisierte Kriminalität.
Die Regierung tut nichts. Sie legt die Hände in den
Schoß und lässt alle Anträge, die wir in den letzten drei
Jahren auf den Tisch gelegt haben, einfach unbeachtet.
Unsere Fraktion hat allein in den letzten drei Jahren zehn
Gesetzgebungsvorschläge gemacht, die zur Verbesserung der inneren Sicherheit beitragen sollten.
Denken Sie zum Beispiel an unseren zweiten Anlauf
für ein Gesetz, das zu einem besseren Schutz vor Sexualdelikten beitragen soll. Natürlich haben wir auch ein Gesetz zur Verlängerung der Kronzeugenregelung vorgelegt.
Schließlich haben wir das jetzt zu beratende Gesetz vorgelegt, gegen das Sie nun juristische Einwände vorgebracht haben. Verehrter Herr Pick, diese kamen aber zu
spät. Warum haben Sie diese nicht im Ausschuss vorgetragen? Warum sind wir im Ausschuss nicht ins Gespräch
gekommen? Sie waren dazu nicht bereit. Sie haben von
vornherein alles vom Tisch gewischt, weil Ihnen die innere Sicherheit nicht am Herzen liegt. Das lag sie noch nie
und das wird wohl auch nie der Fall sein.
({2})
Es ist so. Zeigen Sie mir einen Gesetzentwurf Ihrer Koalition für die innere Sicherheit und den Schutz der Bevölkerung. Tabula rasa - es ist nichts vorhanden. Sie haben nichts zustande gebracht. Das muss man der
Öffentlichkeit deutlich sagen.
({3})
Es ist so. Sie können dazwischenbrüllen, so lange Sie wollen. Es ist und bleibt so. Sie können es ja ändern. Legen
Sie endlich eine Kronzeugenregelung vor. Sie haben das
aber bis heute nicht getan.
({4})
- Noch habe ich das Wort!
Unser Gesetzentwurf sieht eine Verbesserung der
Möglichkeiten vor, Gewinne aus Verbrechen abzuschöpfen. Man kann darüber streiten, ob dieses oder jenes vielParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick
leicht noch besser wäre. Im Moment liegt aber kein besserer Vorschlag auf dem Tisch. Gerade jetzt, da die Vermögensstrafe für verfassungswidrig erklärt worden ist,
müssen wir uns Gedanken über bessere Möglichkeiten,
die Gewinne der Verbrecher abzuschöpfen, machen. Der
organisierten Kriminalität geht es ja um den Gewinn.
Auch den Terroristen geht es ums Geld, weil sie es brauchen. Da müssen wir ansetzen.
Einen zweiten Schwerpunkt haben wir darauf gelegt,
dass bei einem Verdacht auf Korruption die Telefonüberwachung zulässig ist. Mir ist schleierhaft, weshalb wir
dafür ein Gutachten des Max-Planck-Instituts brauchen.
Man kann sich ja darüber unterhalten, ob die übrigen Katalogtatbestände des § 100 a StPO unbedingt so bestehen
bleiben müssen, wie sie im Augenblick lauten. Die Aufnahme der Korruption in diesen Katalog müsste aber
selbstverständlich sein. Zurzeit kann bei einem Korruptionsverdacht der Wohnraum überwacht werden. Gleichzeitig wird das weit geringere Mittel, nämlich die Telefonüberwachung, nicht zugelassen. Ihr Verhalten in dieser
Frage ist geradezu mehr als paradox.
Wir wollen die rechtliche Absicherung des verdeckten
Ermittlers verbessern. Das scheint uns dringend notwendig zu sein.
Vor allen Dingen wollen wir die Kronzeugenregelung.
Wir sind der Auffassung, dass wir ohne die Kronzeugenregelung nicht auskommen. Das sagen uns sämtliche Wissenschaftler. Alle Anhörpersonen, die Sie benannt
haben - das waren der Bundesrichter Nack, der Vorsitzende Richter am OLG Düsseldorf, Breidling, und der
Vorsitzende Richter am OLG Nußloch, Dr. von Bubnoff -,
haben uns das im Rahmen der Anhörung am 7. November
so gesagt. Diese haben uns erklärt, dass wir die
Kronzeugenregelung brauchen und dass sich die alte
Kronzeugenregelung bewährt hat. Herr Stünker ist nicht
mehr anwesend. Das ist das Gegenteil von dem, was er hier
gesagt hat. Die alte Kronzeugenregelung hat sich bewährt.
Sie wollen sie nicht, weil Sie vor Ihrem Koalitionspartner
eingeknickt sind. Das ist der ganze Grund; das wissen wir.
Aber wir müssen das deutlich sagen.
Der Bundeskanzler kümmert sich nicht darum. Er beschäftigt sich nur mit der großen Weltpolitik. Die innere
Sicherheit war ihm nie ein Anliegen. Das hat ihn schon als
Ministerpräsidenten von Niedersachsen nicht interessiert.
Daher dümpelt dieses Vorhaben vor sich hin.
Die Menschen im Land erwarten von diesem Parlament, dass gerade in dieser Frage eine vernünftige Regelung kommt, weil sie von allen Wissenschaftlern und
Fachleuten so vorgeschlagen wird. Sie aber verweigern
sich. Wir halten dies für verantwortungslos. Es wird allerhöchste Zeit, dass am 22. September eine neue Regierung
mit neuer Mehrheit in dieses Parlament kommt, damit die
notwendigen Gesetzgebungsvorhaben, die erforderlich
sind, um die Menschen in diesem Land sicherer leben zu
lassen, im Parlament endlich beschlossen werden.
Ich glaube, dass man mit einem Gesetzgebungsvorhaben, das nun seit August des letzten Jahres - das ist eine
lange Zeit - auf dem Tisch liegt, nicht so umgehen sollte,
wie Sie das tun. Sie haben sich im Ausschuss der Diskussion verweigert. Sie haben gar nicht ernst genommen, was
Ihre eigenen Sachverständigen gesagt haben. Nun weigern Sie sich auch noch hier im Parlament, anderen Rednern zuzuhören. Es kümmert Sie gar nicht, was von der
Opposition vorgelegt wird. Sie setzen sich mit uns nicht
auseinander.
Sie machen eine Politik ohne Opposition, weil Sie glauben, Sie allein hätten die Weisheit gepachtet. Das, was wir
hier vortragen, sehen Sie nicht als diskussionswürdig an.
Das ist nicht nur eine Vernachlässigung der Opposition
und unserer Argumente, sondern auch dieses Hauses. Sie
haben nicht das richtige Parlamentsverständnis.
Danke schön.
({5})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/6834 zur Verbesserung der Bekämpfung von Straftaten
der organisierten Kriminalität und des Terrorismus. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8627, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung bei Zustimmung der CDU/CSUFraktion und Gegenstimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung.
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates auf Drucksache 14/5938 zur Ergänzung der
Kronzeugenregelungen im Strafrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8627, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und
Gegenstimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung.
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes des
Bundesrates auf Drucksache 14/6079 zur Änderung der
Strafprozessordnung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8627, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU-Fraktion, die zugestimmt hat, abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung - Politik für den
Mittelstand
- Drucksache 14/8548 Norbert Geis
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Beratung eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zur Begründung hat die
Parlamentarische Staatssekretärin Margareta Wolf das
Wort.
Herr Präsident!
Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, heute
ist ein guter Zeitpunkt, um den ersten Mittelstandsbericht,
den es in dieser Republik gibt, dem Parlament vorzulegen
und im Parlament darüber zu diskutieren.
Sie wissen, dass im Februar der Ifo-Geschäftsklimaindex zum vierten Mal in Folge gestiegen ist. Die Erwartungen der Unternehmen erreichten in diesem Index den
besten Wert seit Dezember 2000. Wenn Sie sich heute
„Die Welt“ oder das „Handelsblatt“ ansehen, werden Sie
feststellen, dass „Die Welt“ heute titelt: „Ostdeutschland
hat das Konjunkturtal durchschritten“ und das „Handelsblatt“ schreibt: „Deutschland kommt steil aus dem Abschwung heraus“. Man geht davon aus, dass das Frühjahrsgutachten, das am 23. April erscheinen wird, von
Prognoseerwartungen in der Größenordnung zwischen
2,5 und 3 Prozent ausgehen wird. Das heißt, es geht nach
dem Tiefpunkt des vierten Quartals 2001 wieder aufwärts.
Das gilt natürlich selbstverständlich erst recht für den
Mittelstand.
Die von der KfW geförderten mittelständischen Unternehmen wollen erstmals seit September vergangenen Jahres den Beschäftigungsaufbau beschleunigen. So planten sie im Januar eine Ausweitung der Zahl ihrer
Arbeitsplätze um durchschnittlich 7,9 Prozent.
({0})
Der Mittelstandsbericht, den wir heute diskutieren, gibt
einen sehr guten Überblick über die Aktivitäten der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Themen des Berichts sind zum einen die Rahmenbedingungen über die
Steuerpolitik, aber auch die wichtige Frage der Unternehmensfinanzierung, die Gewerbeförderung, die Förderung
von Selbstständigkeit, aber auch die Förderung von Ausund Weiterbildung, sowie die Innovation insbesondere in
der IT-Technologie und die Wettbewerbsfähigkeit des
Mittelstandes im erweiterten europäischen Binnenmarkt
wie auch weltweit. Wir sprechen in dem Bericht aber auch
spezifische Themen an wie den Generationenwechsel, die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie und das sehr wichtige Thema Bürokratieabbau.
Ich möchte Sie für vier Themenfelder, die nach meiner
Meinung in Zukunft entscheidend für mittelständische
Unternehmen sein werden, besonders sensibilisieren: Das
ist zum Ersten der gesamte Komplex der Finanzierung
- Stichwort Basel II -, zum Zweiten der Arbeitskräftebedarf - Stichwort Green Card und Zuwanderungsgesetz und zum Dritten das Thema Unternehmensnachfolge und
last but not least der Bürokratieabbau.
Zum Thema Finanzierung: Dem Mittelstand müssen
auch in Zukunft seine finanziellen Handlungsmöglichkeiten erhalten bleiben. Ich freue mich, dass in dem letzten
OECD-Ranking Deutschland bei den Förderkonditionen
deutlich den ersten Platz eingenommen hat. Wir sollten
das zur Kenntnis nehmen und vielleicht etwas stärker
nach außen transportieren.
({1})
Gleichwohl: Durch die zunehmende Globalisierung
auf den Kapitalmärkten - wir erleben das tagtäglich - erhöht sich der Anpassungsdruck für die Banken und damit
auch für den Mittelstand. Es wird immer schwieriger, einen günstigen öffentlich geförderten Kredit durch die privaten Banken zu bekommen. Wir alle erleben es in unseren Wahlkreisen täglich, dass es durch die Baseler
Verhandlungen zur Neuregelung der Eigenkapitalvorschriften der Banken Unruhe gibt. Es gibt ziemlich viel
Bewegung, und zwar sowohl bei den Banken als auch bei
den Mittelständlern.
({2})
Um noch mit einem aufzuräumen: Man wird gemeinhin damit konfrontiert, Basel II sei eine grausame Idee der
Europäischen Kommission gewesen. Ich möchte die Gelegenheit heute nutzen, darzustellen, woher „Basel“ eigentlich kommt. „Basel“ ist vor dem Hintergrund der Risiken für die Stabilität aller Volkswirtschaften im Jahre
1974 entstanden. Es hat sich das Baseler Komitee gegründet. Es gibt also keine Regierungsabsprache, auch
Parlamente wurden nicht damit befaßt. Man gründete
quasi einen Club, in dem neben den Notenbanken auch die
in den Ländern für die Kreditsicherheit zuständigen Mitglieder tätig sind. Für Deutschland verhandelt in Basel im
Moment die Bundesbank und das Bundesaufsichtsamt für
das Kreditwesen.
Da mir im Kontext mit Basel wirklich an einer Versachlichung der Debatte gelegen ist, möchte ich Ihnen
Punkte, die wir schon durchgesetzt und oft erläutert haben - es gibt auch eine gemeinsame Resolution dieses
Hauses -, nennen: Es handelt sich vor allen Dingen um
das interne Rating, aber auch die Berücksichtigung der so
genannten Granularität sowie die Zulassung von Retailportfolios. Aber darüber hinaus - ich meine, meine sehr
verehrten Damen und Herren, wir sollten dabei an einem
Strang ziehen - halte ich den Nachbesserungs- und Verhandlungsbedarf in Basel in folgenden Punkten nach wie
vor für von großer Bedeutung.
Erstens geht es darum, dass die derzeitige Risikogewichtung aus unserer Sicht eher zu einer Erhöhung der Eigenkapitalunterlegung und damit tendenziell zu einer Verteuerung der Mittelstandskredite führt. Das müssen wir
verhindern.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Zweitens geht es uns darum, Sicherheiten zu berücksichtigen, die die notwendige Eigenkapitalunterlegung
vermindern können. Dies ist bisher unbefriedigend.
Drittens geht es darum, langfristige Kredite gleichzustellen. Wie Sie wissen, kennt man diese Finanzierungskultur, basierend auf langfristigen Krediten, in anderen
europäischen Ländern nicht. Bei uns hingegen sind sie ein
stabilisierendes Element für die Unternehmen.
Last but not least sind wir der Meinung, dass die Grenzen für die Retailportfolios so gesetzt werden müssen,
dass möglichst viele Unternehmenskredite einbezogen
werden.
Frau Kollegin Wolf, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich
Kolb?
Ist das etwas
später möglich, Herr Kolb? Ich würde diesen Punkt gerne
zu Ende ausführen.
({0})
- Ich gebe Ihnen dann ein Zeichen.
Wir haben positive Signale aus Basel erhalten. Es zeigt
sich, dass dort das spezifisch deutsche Problem erkannt
worden ist und gemeinsam mit uns nach Lösungen gesucht wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, staatlicherseits wird aber auch immer deutlicher, dass wir von den
klassischen Förderprogrammen, die auf Fremdkapitalfinanzierung setzen, wegkommen müssen. Wir müssen die
Beteiligungsfinanzierung weiter voranbringen. Ein Stichwort bei der staatlichen Mittelstandsfinanzierung ist die
Förderung neuer Instrumente bei der DtAund der KfW, die
dazu führen, dass es für die Hausbanken attraktiver wird,
Kleinst- und Kleinkredite zu vergeben. Uns allen ist das
Problem der so genannten Kleinstgründungen bekannt,
dass sie über keine Sicherheiten verfügen und von daher
keine interessante Klientel für die Banken darstellen.
Wir führen aber auch neue Instrumente ein. Sehr wichtige Instrumente sind meiner Meinung nach Haftungsfreistellungen, aber auch die Verbriefung von Förderkrediten und risikoabhängige Margen. - Herr Kollege
Kolb.
Herr
Kolb, bitte.
Frau Staatssekretärin, ich
bedanke mich ganz herzlich für die Zulassung einer
Zwischenfrage. Sie haben deutlich gemacht, dass Sie bei
Basel II Schlimmeres verhindern wollen und dass die
Existenzgründungsförderung in Deutschland durchaus
gut ausgebaut ist.
Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband hat vor
wenigen Wochen eine Untersuchung vorgelegt, wonach
50 Prozent der mittelständischen Unternehmen in
Deutschland nicht über ausreichendes Kapital verfügen
und 30 Prozent Verluste - das bezog sich wohl auf 2001;
die aktuelle Situation dürfte im Gegensatz zu dem, was
Sie eingangs ausgeführt haben, noch schlechter sein - erwirtschaften. Das ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass
2001 33 000 gewerbliche Insolvenzen zu verzeichnen waren, deren Zahl im Jahr 2002 nach aktuellen Schätzungen
zwischen 37 000 bis 39 000 liegen dürfte.
Was gedenkt die Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung zu tun, um zur Finanzierung bestehender mittelständischer Existenzen, die nicht mehr auf Existenzgründungsförderung hoffen dürfen, beizutragen und sie
durch die aktuelle schwierige Krise zu leiten? Denn Sie
führen immer wieder an, die Erwartungen seien gut. Tatsache ist aber, dass die aktuelle Lage in den Unternehmen
dramatisch ist und dies bis Mitte des Jahres bleiben wird.
({0})
Was sagen Sie dem Mittelstand in dieser Situation?
Herr Kollege
Kolb, diese Studie des Sparkassen- und Giroverbands
zitieren Sie immer wieder. Ich würde es begrüßen, wenn
Sie auch die anderen Studien zitieren würden. Aber egal,
wir haben das Problem durchaus schon seit längerem erkannt. Ich sitze sehr häufig mit dem Sparkassen- und
Giroverband, den Raiffeisenbanken und den privaten
Banken zusammen und diskutiere mit ihnen gerade über
die Beteiligungsfinanzierung bzw. darüber, dass sie sich
verpflichten, Beteiligungskapital zur Verfügung zu stellen, weil der deutsche Mittelstand traditionell über eine
sehr geringe Eigenkapitalausstattung verfügt. Ich diskutiere mit ihnen durchaus auch darüber - das habe ich auch
beim Mittelstandstag mit Herrn Pleister vom Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken
getan -, dass es beim Mittelstand so empfunden wird, dass
Kredite nach einer gewissen Willkür vergeben werden
und dass es durchgängig bei allen Banken - freundlich
formuliert - einen gewissen Attentismus gibt, Kleinstkredite oder kleinere Kredite zu gewähren.
Die Banken sagen mir auch, dass sie in den letzten
Monaten, quasi im Vorgriff auf Basel, so verfahren hätten
und dass man als Mittelständler diesen Verdacht durchaus
bekommen konnte, weil es keine definierten Kriterien gab
und interne Ratings, die durchgeführt wurden, nicht veröffentlicht wurden. Deswegen haben wir auf dem Mittelstandstag mit Herrn Pleister, Frau Achleitner und Herrn
Strenger - sie unterstützen diese Idee - eine Art Scorecard entwickelt, wodurch wir die Kriterien, warum ein
Unternehmen einen Kredit bekommt, für jeden nachvollziehbar machen wollen, wodurch die Unternehmen aber
gleichzeitig angehalten werden, etwas sorgsamer so etwas
wie Businesspläne und Marketingstrategien zu erarbeiten
und diese den Banken vorzustellen.
({0})
Ich komme nun zum Thema der Insolvenzen.
Frau Kollegin Wolf, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Kolb?
Ich wollte erst
einige Sätze zum Thema Insolvenzen sagen.
Erlauben
Sie die Zwischenfrage oder nicht?
Ja, stellen Sie
Ihre Zwischenfrage.
Bitte
schön, Herr Kolb.
Ich teile Ihre Analyse der
Situation, Frau Staatssekretärin; sie ist sicherlich richtig.
Wir erleben aber zurzeit, in diesen Wintermonaten, dass
im deutschen Mittelstand massiv Eigenkapital verbraucht
wird, weil die Unternehmen bei erheblich eingebrochenen
Umsätzen, oft in einer zweistelligen Größenordnung - das
ist erheblich -, wegen der Fixkosten, die sie haben, dramatische Verluste schreiben. Diese Unternehmen brauchen eine Antwort, wie sie die schwierige Situation überwinden und wie sie ihre Eigenkapitalsituation wieder
verbessern können. Eine Antwort auf diese Frage habe ich
bisher von Ihnen noch nicht bekommen. Vielleicht könnten Sie dazu noch etwas sagen?
Herr Kollege
Kolb, vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. Wir alle
wissen, dass der Anstieg der Zahl der Insolvenzen und die
Reduktion beim Eigenkapital besonders im Baugewerbe
zu beobachten sind. Es wäre sehr hilfreich, wenn wir in
Deutschland schon heute so etwas wie eine Finanzierungskultur hätten, die auf Beteiligung setzt, oder wenn
wir schon viel früher damit begonnen hätten, auf Haftungsfreistellungen zu setzen. Wir haben diese Instrumente im letzten Jahr eingesetzt, um genau auf diese Situation zu reagieren.
Ich bin in Sorge, was die Zahl der Insolvenzen angeht.
Wir hatten bei den Insolvenzen im Jahr 1999 einen Rückgang von 5 Prozent zu verzeichnen. Jetzt haben wir eine
Zunahme von 7 Prozent, was sicherlich etwas damit zu
tun hat, dass wir im vierten Quartal des letzten Jahres
- das sei konzediert - eine schlechte konjunkturelle Entwicklung hatten. Die Mitarbeiter, die sich in meinem
Hause mit dieser Thematik beschäftigen, gehen im Gegensatz zu Ihnen aber nicht davon aus, dass sich dieser
Negativtrend weiter fortsetzt; sie gehen im Gegenteil davon aus, dass es jetzt wieder bergauf geht.
({0})
Ich möchte aber noch einen Aspekt bezüglich der Insolvenzen ansprechen. Wir haben in Deutschland meiner
Meinung nach das Problem, dass jeder, der Pleite geht, in
der gesellschaftspolitischen Wahrnehmung als Versager
angesehen wird und jeder, dem es gut geht, als Kapitalist.
Dies muss sich ändern. In Amerika bekommen diejenigen, die sich zum zweiten Mal selbstständig machen, die
also schon eine Insolvenz hinter sich haben, viel leichter
Kredite bei den Banken. Das diskutiere ich auch mit den
Banken. Jeder Business Angel prüft erst einmal, wie es
beim ersten Mal gelaufen ist. Wir müssen in unserem
Land eine Kultur der zweiten Chance entwickeln.
({1})
Deshalb haben wir jetzt eine Homepage eingerichtet, die
den Namen hat „Aus Fehlern lernen“, auf der wir die entsprechenden Beratungen anbieten. - Ich bedanke mich
herzlich für Ihre Zwischenfrage, Herr Kollege.
({2})
Ich komme zum Thema Arbeitskräftebedarf. Wir haben - daran werden Sie sich erinnern -, um den Bedarf an
Spitzenkräften, aber auch den Bedarf im Bereich der
Dienstleistungen zu decken - die Dresdner Bank geht davon aus, das es gerade bei den gering Qualifizierten einen
Bedarf von 1,1 Millionen Beschäftigten gibt -, die Greencard geschaffen. Von ihr profitieren zu einem großen Teil
kleinere und mittlere Unternehmen. So entfallen bisher
60 Prozent der Greencards, also rund 11 000 Erlaubnisse,
auf Betriebe bis zu 100 Beschäftigte.
({3})
Jede Greencard führt einer Umfrage nach zu durchschnittlich 2,5 weiteren Arbeitsplätzen in Deutschland.
Ich möchte nicht verhehlen, dass das nur ein erster Schritt
sein kann. Aus der Debatte um die Greencard ist - für
meine Begriffe glücklicherweise - der gesellschaftspolitische Diskurs über eine geregelte Zuwanderung begonnen worden. Dies war vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung, aber auch des sich abzeichnenden
Rückgangs von Erwerbspotenzial dringend erforderlich.
Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, im Vorfeld der morgigen Sitzung des Bundesrates bitten: Stimmen Sie im Interesse des deutschen
Mittelstandes und angesichts des Fachkräftemangels im
deutschen Mittelstand dem vorliegenden Zuwanderungsgesetz morgen zu.
({4})
Es kommt natürlich auch darauf an, dass wir weitere
Reserven im eigenen Land erschließen. Das müssen wir
zunehmend zeitnäher tun. Deshalb freue ich mich, dass
wir seit 1998 62 Ausbildungsberufe modernisiert und
21 neu geschaffen haben. Es geht im Kontext des Erschließens von Reserven aber auch darum, dass wir erstens die Reform der Bundesanstalt für Arbeit schnell
vorantreiben und schnell abschließen, dass wir zweitens
dafür sorgen, dass das Know-how und die Erfahrung der
Älteren stärker genutzt werden - wir müssen von den kostenträchtigen Vorruhestandsregelungen weg -, und dass
wir drittens den Familien die Möglichkeit geben, ihre
Kinderwünsche und ihre Berufswünsche besser unter einen Hut zu bringen. Wir haben gerade bei der Hertie-Stiftung die Zertifizierung des Bundeswirtschaftsministeriums als familienfreundlichen Betrieb beantragt. Ich
gehe davon aus, dass dieses Verfahren noch im Sommer
erfolgreich abgeschlossen wird. Es soll einen Nachahmungseffekt für die deutsche Wirtschaft haben.
({5})
Das ist wünschenswert; denn die Betriebe in Deutschland
werden aufgrund der demographischen Entwicklung bald
zu wenig qualifiziertes Personal haben. Es ist aber bekannt, dass Frauen im Vergleich zu Männern überproportional qualifiziert sind.
Da der Präsident mir durch das Aufleuchten des roten
Lämpchens signalisiert, dass ich meine Redezeit überschritten habe, kann ich auf die weiteren Punkte, die ich
Ihnen noch gerne nahe gebracht hätte - ich nenne nur die
Stichwörter „Bürokratieabbau“ und „Unternehmensnachfolge“ -, nicht mehr eingehen. Ich gehe aber davon aus,
dass der umfassende Bericht der Bundesregierung ein Teil
Ihrer Osterlektüre sein wird. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen.
Danke schön.
({6})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Hansjürgen
Doss.
Herr Präsident!
Meine lieben Kollegen! Verehrte Frau Wolf, Sie sind eine
charmante Dame und ich schätze Sie persönlich sehr.
Trotzdem muss ich feststellen: Sie haben verdammt wenig zum Mittelstand gesagt. Sie sind eigentlich lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Situation in
Deutschland dramatisch ist. Wenn Sie im Zusammenhang
mit Basel II - hier haben wir sicherlich viele Gemeinsamkeiten - von der Greencard reden, dann muss ich
Ihnen sagen: Die Hälfte derjenigen, die eine bekommen
haben, sind längst arbeitslos.
({0})
Alles, was bisher vorgetragen wurde, geht im Grunde an
der dramatischen Situation, in der sich die mittelständischen Betriebe befinden, vorbei.
Jeder weiß - das wird auch in jeder Sonntagsrede erwähnt -, dass sich 98 Prozent aller Arbeitsplätze in
Deutschland in mittelständischen Betrieben befinden. Es
ist ja okay, dass die charmante Frau Wolf hier Stellung bezieht. Ich frage mich aber: Wo ist der Wirtschaftsminister? Es war für ihn sicherlich nicht angenehm, als wir
ihn in der Fragestunde mit Problemen des Mittelstandes
konfrontiert haben. Ich denke, er will sich einfach nicht
mehr unseren Fragen stellen. Stattdessen legt er uns einen
50 Seiten starken Mittelstandsbericht vor, der nichts anderes als eine SPD-Wahlkampfbroschüre mit regierungsamtlichem Outfit ist.
({1})
Die triste Realität der mittelständischen Betriebe wird in
diesem Bericht ignoriert. Wünschbares wird der Realität
gleichgesetzt. Handeln wird nur vorgetäuscht. Die Probleme bleiben ungelöst. Die gequälten mittelständischen
Betriebe in Deutschland brauchen weder eine solche
Hochglanzbroschüre noch die ruhige Hand des Kanzlers.
Wir brauchen vielmehr eine ehrliche, schonungslose Analyse des Zustandes der Betriebe in Deutschland und daraus abgeleitet energisches Handeln zur Lösung der Probleme.
({2})
Die Lage der mittelständischen Betriebe und der freien
Berufe ist außerordentlich ernst. Das sollte eigentlich
auch bei Ihnen angekommen sein. Ich zitiere - darauf hat
der Kollege Kolb schon eben Bezug genommen - aus der
„Diagnose Mittelstand“ des Deutschen Sparkassen- und
Giroverbandes: „Die Ertragslage des Mittelstandes ist
unzureichend.“ Danach ist im Jahr 2000 in über 31 Prozent der Unternehmen überhaupt kein Gewinn gemacht
worden. Des Weiteren heißt es: „Die Eigenkapitalausstattung des Mittelstandes ist besorgniserregend.“ Unternehmen mit weniger als 500 000 Euro Umsatz arbeiteten
praktisch ohne Eigenmittel. Sie wissen, wovon sie reden.
Die Auftrags- und Umsatzentwicklung im Mittelstand
lag im Jahr 2002 noch unter dem Vorjahresniveau. Das
Investitionsbudget des Mittelstands wurde deutlich gekürzt. Die Perspektiven des Mittelstands für das Jahr 2002
sind: weniger Unternehmen und weniger Arbeitsplätze.
Der Faktor Hoffnung allein reicht nicht aus. Natürlich
ist Hoffnung für die Wirtschaft wichtig, aber die Fakten
sind noch wichtiger.
Wie sehr der Mittelstand in Deutschland derzeit mit
dem Rücken an der Wand steht, macht der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag deutlich. Er beklagt
die absolute Verunsicherung der Menschen durch die
Konjunkturflaute, die wir zurzeit erleben. Deswegen fordert der DIHK die Aussetzung der nächsten Stufe der
Ökosteuer, also das, was auch wir fordern.
({3})
Der Einzelhandel fordert in einem dramatischen Appell, die Mehrwertsteuer für drei Monate um 3 Prozentpunkte zu senken.
({4})
Der Groß- und Außenhandel fordert die Abschaffung
des Solidaritätszuschlages, um so die Kaufkraft von Bürgern und Betrieben endlich wieder zu stärken.
Meine Damen, meine Herren, wenn Sie uns schon
nicht glauben, sollten Sie wenigstens diesen sachkunParl. Staatssekretärin Margareta Wolf
digen Verbänden glauben, die Ihnen das ins Stammbuch
schreiben. Darüber können Sie nicht einfach mit Ihrem
Trallala hinweggehen.
({5})
Sie scheinen überhaupt keine Sensibilität mehr für die Situation des Mittelstands in Deutschland zu haben.
({6})
Wir in Deutschland gehören in der Zwischenzeit zu
den „top of the flops“ der europäischen Pleitenliga. In anderen Ländern sinkt die Zahl der Unternehmenspleiten,
zum Beispiel in Frankreich, in Spanien, in Finnland, in
Österreich und in der Schweiz. In Deutschland haben wir
mit 32 400 Pleiten im Jahr 2001 einen neuen Rekord erzielt, also noch einmal 16 Prozent Plus. Herrgott, wann
merken Sie denn endlich, was in Deutschland los ist?
({7})
Das zeigt: Sie wissen zwar nicht, wie man Arbeitsplätze
schafft, aber es gelingt Ihnen, Arbeitsplätze zu vernichten.
({8})
Es ist schon bezeichnend, wie die Bundesregierung mit
der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit umgeht. Herr
Minister Müller meint sarkastisch - eine bedeutende Aussage; ich zitiere -: „Unsere Arbeitslosenquote wäre um
1,5 Prozentpunkte niedriger, wenn so viele Menschen bei
uns im Gefängnis säßen wie in den USA.“ - Nachzulesen
in der „Bild“-Zeitung vom 12. Februar dieses Jahres.
({9})
Riester will das Problem mit Statistiken lösen. Vereinfacht sagt er: Diejenigen, die arbeiten können, aber nicht
wollen, sollten einfach nicht mehr als Arbeitslose gezählt
werden.
Umweltminister Trittin, vom Kommunisten zum Wirtschaftsweisen mutiert
({10})
- das ist seine Vergangenheit; für jeden nachlesbar -, erklärt - ich zitiere -: „Die Ökosteuer wirkt beschäftigungsfördernd.“ - Nachzulesen in der „Financial Times
Deutschland“ vom 14. Februar 2002.
({11})
Warum steigt denn dann mit der Erhöhung der Ökosteuer
jeweils auch die Arbeitslosigkeit? Sind Sie so verblendet,
dass Sie das nicht mehr merken?
({12})
Liebe Frau Wolf, sagen Sie dem Herrn Müller: Sein
Mittelstandsbericht verwechselt Wunschvorstellungen
mit Wirklichkeit. Beispiel: Sie behaupten, die Abgaben
und damit die Lohnnebenkosten zu senken. Versprochen
hat Rot-Grün, die Sozialabgaben auf unter 40 Prozent zu
drücken. Die Wirklichkeit ist: Unter Berücksichtigung
von Ökosteuer und Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung liegt die Belastung von Bürgern und Betrieben heute bei 43,6 Prozent. Das ist ein neuer Rekord. Das
ist die Wahrheit und das ist die Realität.
({13})
- Natürlich ist es die Wahrheit. Lernen Sie mal zählen!
Sie behaupten, die Steuern für den Mittelstand gesenkt
zu haben. Die Wirklichkeit ist: Mittelständische Unternehmen müssen bis 2005 auf die Senkung der Einkommensteuersätze warten,
({14})
während große Kapitalgesellschaften längst kräftig entlastet sind; eine ganze Reihe dieser Betriebe zahlt überhaupt keine Steuern mehr.
({15})
Sie wollen ein besseres Klima für Selbstständigkeit in
Deutschland schaffen, was bitter nötig wäre. Deutschland
liegt im internationalen Existenzgründervergleich im
Jahr 2001 unter 29 Ländern nur auf Platz 21. Im Jahr 2000
war Deutschland unter 21 Ländern noch auf Rang 14.
Wir können hingreifen, wohin wir wollen: Die Ergebnisse
Ihrer verfehlten Politik sind mit Händen zu greifen. Ein
Land, das seine Gründer vernachlässigt, verliert seine
Wachstumsdynamik.
Sie behaupten in Ihrem Mittelstandsbericht, die Bundesregierung baue bürokratische Hemmnisse ab. Die
Wirklichkeit ist: Jahr für Jahr müssen kleine und mittlere
Betriebe Hand- und Spanndienste leisten, und zwar natürlich auf eigene Kosten. Jeder Handwerksbetrieb muss
jährlich 324 Stunden für Bürokratie aufwenden. Das sind
40,5 Arbeitstage oder rund 15 000 Euro pro Jahr. Sie
bauen bürokratische Hürden auf und nicht ab.
({16})
Rot-grüne Regulierungswut liegt wie Mehltau auf
Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Selbst Ihrem Kollegen
Metzger von den Grünen - jetzt ist er da; ich freue mich
sehr, ihn zu sehen -, immer ein interessanter Mann, ist das
aufgefallen. In der letzten Woche auf dem Mittelstandstag des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes hat
er sich folgendermaßen geäußert: Das 630-Mark- respektive 325-Euro-Gesetz ist zu einem bürokratischen Monster ersten Ranges geworden. - Recht hat er.
({17})
Herr Metzger merkt, was Sie mit Ihrer Politik anrichten;
Herr Müller ist beratungsresistent. Das ist vielleicht auch
eine Begründung dafür, dass viele Mittelstandsverbände
zu seinen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen wie
zum Mittelstandstag nicht mehr hingehen. Ein Dialog
würde sowieso nicht stattfinden.
Beispiel Scheinselbstständigkeitsgesetz: Hierdurch
wurden viele Existenzgründer und Selbstständige in die
Sozialversicherungspflicht getrieben. Das hatte verheerende Folgen für die Liquidität der Betriebe und nicht
zuletzt für den, der den Schritt in die Selbstständigkeit
wagte. Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeit wurde kleinen und mittleren Betrieben eine vernünftige Personalplanung nahezu unmöglich gemacht. Das Betriebsverfassungsgesetz führte zu Kosten, Bürokratie und
Fremdbestimmung. Angesichts des geplanten Tariftreuegesetzes fragt man sich, ob es, wenn den Betrieben das
Wasser bis zum Hals steht, wichtiger ist, nach Tarifen zu
entlohnen, als mit flexiblen Regelungen Arbeitsplätze zu
erhalten. Sie handeln nach dem Motto: Lieber mit Tarif in
die Pleite als ohne Tarif überleben.
({18})
Das ist ordnungspolitischer Schwachsinn erster Güte, sagt
Oswald Metzger. Man sieht also, dass bei ihm die Tatsachen ankommen und er auch das eine oder andere richtig
erkennt. Weiter so, kann man nur sagen.
Was tut der Bundeskanzler zur Lösung der Probleme?
Er hat ja bei der Wahl immerhin besonders die Neue Mitte
umworben. Er verfährt nach dem Motto: Zu den Großen
kommt der Kanzler, zu den Kleinen der Gerichtsvollzieher.
({19})
Das sieht man an dem Beispiel Holzmann. Heute wissen
wir: Das Engagement des Kanzlers hat die Probleme nicht
gelöst, sondern nur verschoben und eine eventuelle Lösung verteuert. Hauptsache war, dass der markige Kanzler vor den Medien und auf seinem Parteitag Applaus bekam.
({20})
Deswegen meine ich: Vier Jahre schröderscher Mittelstandspolitik für die Neue Mitte sind wirklich genug. Sie
hat viele mittelständische Betriebe die Existenz und viele
Arbeitnehmer den Job gekostet.
({21})
Weitere vier Jahre rot-grüne Mittelstandspolitik hält der
Mittelstand in Deutschland nicht aus. Deswegen brauchen
wir den Wechsel.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({22})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Rainer Wend.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen! Meine Herren! Herr Doss, Sie fordern
eine ehrliche und schonungslose Analyse und anschließend zielgerichtetes Handeln. Wollen wir einmal mit der
Analyse Ihrer Behauptungen, wir hätten die höchste
Arbeitslosigkeit sowie die höchsten Lohnnebenkosten
- zum Thema Staatsverschuldung haben Sie vorsichtigerweise nichts gesagt - und seien hinter den früheren
Wachstumsraten zurückgeblieben, beginnen:
Der ersten Behauptung stelle ich die Wirklichkeit wie
folgt gegenüber: Im Januar 1998 gab es 4,8 Millionen Arbeitslose, im Januar 2002 noch 4,3 Millionen. Das ist viel
zu viel, aber eine halbe Million weniger, als wir von Ihnen übernommen haben, Herr Doss.
({0})
Behauptung Nummer zwei betraf die Lohnnebenkosten: Sie sind während der Regierungszeit von CDU/
CSU und FDP von 1982 bis 1998 von 34 auf 42,3 Prozent
gestiegen. Wer angesichts solcher Zahlen eine Bilanz aufstellen will, sollte ein wenig bescheidener bei seinem Auftritt vor diesem Parlament sein, Herr Doss.
({1})
Aber vielleicht haben Sie es nicht so sehr mit der Analyse, sondern mit dem zielgerichteten Handeln, Herr
Doss. Ich will Ihnen etwas aus der „Welt am Sonntag“, deren Nähe zur Sozialdemokratie sich bekanntlich in Grenzen hält, vorlesen. Beschreibung der CDU:
Sonntag, 10.42 Uhr: CDU-Chefin Angela Merkel
will die letzte Stufe der Steuerreform vom Jahr 2005
auf das Jahr 2003 vorziehen. 22.15 Uhr: Kanzlerkandidat Edmund Stoiber unterstützt den Vorstoß.
Montag, 14.38 Uhr: CSU-Landesgruppenchef Glos
bremst ab. Merkel habe eine veraltete Beschlusslage
vorgetragen. 14.48 Uhr: Fraktionschef Merz erklärt,
die Union wolle nur Teile der Reform vorziehen.
Dienstag, 12.33 Uhr: Glos rechnet vor, ein Vorziehen
der Steuerreform sei zeitlich nicht zu schaffen.
({2})
13.12 Uhr: CDU-Vize Rüttgers fordert keine Steuererleichterungen, sondern einen nationalen Stabilitätspakt. 18.12 Uhr: Stoiber schweigt, auch auf
Nachfrage.
({3})
Das ist Ihr zielgerichtetes Handeln: minütliche Unklarheit
über Ihre Wirtschaftspolitik.
({4})
Ich will gerne auf die Themen Flexibilisierung der
Arbeitsmärkte, Kündigungsschutz und angebliche
Überregulierung zu sprechen kommen. Ich will Ihnen einmal eines sagen: Wir glauben, dass es, was Innovation,
Modernisierung und Flexibilisierung in verschiedenen
Bereichen der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts angeht,
durchaus Nachholbedarf gibt.
({5})
In aller Klarheit sage ich Ihnen aber auch: Wer diese
Dinge nutzen will, um Arbeitnehmerrechte, die sich
über Jahrzehnte in unserer Republik bewährt haben, abzuschaffen, um zu erreichen, dass sich Arbeitnehmer, Betriebsräte und ihre Interessenvertretungen ausschließlich
einem Diktat von Unternehmern beugen, wer die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft der letzten zehn
Jahre jetzt opfern will, der wird mit der Sozialdemokratie
niemals eine gemeinsame Politik machen können.
({6})
Sie dürfen Betriebsverfassung, Kündigungsschutz und
soziale Sicherheit für Arbeitnehmer nicht immer nur ausschließlich als Kostenfaktor sehen. Dass unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft so stabil sind, hängt auch
damit zusammen,
({7})
dass wir starke Betriebsräte und starke Gewerkschaften
haben. Wir haben nicht die Absicht, an dieser Situation etwas zu ändern.
({8})
Wenn wir zu Recht feststellen, dass wir den Mittelstand
in Deutschland in besonderer Weise fördern, dann sagt
das über den Mittelstand nur zum Teil etwas aus. Entscheidend ist die Frage der Rahmenbedingungen.
({9})
Verehrter Herr Doss, es ist einfach nicht richtig, wenn Sie
sagen, die Steuerpolitik benachteilige den Mittelstand.
Die Wahrheit ist doch: Wir haben durch die faktische Verrechnungsmöglichkeit der Gewerbesteuer- mit der Einkommensteuerschuld einen Wunsch des Mittelstandes,
der seit Jahren und Jahrzehnten an die Politik herangetragen wurde, erfüllt und damit das getan, was Sie, meine
Damen und Herren von der Union, über Jahrzehnte nicht
zustande gebracht haben.
({10})
Die Reinvestitionsrücklage, die wir als Mittelstandskomponente hinzugefügt haben, entlastet die kleinen und
mittleren Unternehmen.
({11})
- Ich freue mich ja über Rheinland-Pfalz. Insbesondere
freue ich mich, wenn Sie bei der Zuwanderungsregelung,
über die am Freitag im Bundesrat entschieden wird, in
derselben Weise wie bei der Steuerreform behilflich sind.
({12})
Finanzierungsmöglichkeiten für den Mittelstand sind
etwas ganz Entscheidendes. Basel II ist von der Staatssekretärin angesprochen worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber hinzufügen: Bei der Finanzierung des
Mittelstandes sind auch die privaten und öffentlichen Kreditinstitute gefragt. Gerade in jüngster Zeit haben die Klagen kleiner Unternehmen über zunehmende Schwierigkeiten bei der Kreditbeschaffung über die Hausbanken
zugenommen. Auf gut Deutsch gesagt: Die großen Privatbanken ziehen sich aus der Mittelstandsförderung zunehmend zurück. Das ist ein Skandal, den wir nicht tatenlos hinnehmen können.
({13})
Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, dass das Bundeswirtschaftsministerium mit den Vertretern der Kreditwirtschaft intensive Gespräche führt, um darauf hinzuwirken,
dass die Mittelstandsfinanzierung auch in Zukunft zu den
Kerngeschäften der Kreditwirtschaft gehört. Die Sparkassen und Volksbanken vor Ort, das sind die Institute, die
Existenzgründern und dem Mittelstand helfen. Wir wollen deshalb auf der europäischen Ebene alles dafür tun,
dass die Finanzierungsstrukturen über Sparkassen und
Volksbanken in Deutschland erhalten werden können.
Ein Schwerpunkt unserer Förderung liegt in der Unterstützung von Existenzgründern. Wir brauchen mehr Unternehmer; denn die Arbeitsplätze der Zukunft werden
zum großen Teil in Unternehmen entstehen, die es noch
gar nicht gibt. Um das Entstehen neuer Unternehmen zu
fördern und damit vor allem Arbeitsplätze zu schaffen,
stellt die Bundesregierung gezielte Finanzierungshilfen
und Beratungsmaßnahmen zur Verfügung.
Die Grundlagen für selbstständiges Handeln und unternehmerisches Denken müssen bereits im Bildungssystem gelegt werden. Bundesregierung und SPD-Bundestagsfraktion unterstützen deshalb mit großem Nachdruck,
dass das Wissen über die Selbstständigkeit bereits in der
Ausbildung vermittelt wird. In Zusammenarbeit mit der
Deutschen Ausgleichsbank und anderen Unternehmen
wurden deshalb an deutschen Universitäten 42 neue Lehrstühle für Existenzgründungen eingerichtet. Das ist weitaus wichtiger als jede verbalradikale Rhetorik, die in den
letzten Jahren und Jahrzehnten nicht zu praktischen Ergebnissen geführt hat.
Neben den allgemeinen Fördermaßnahmen für die
Gründung einer selbstständigen Existenz kommt dem
Meister-BAföG besondere Bedeutung zu. Diese Fördermaßnahme ist bekanntlich unter der alten BundesregieDr. Rainer Wend
rung zunächst vollständig eingestellt und dann nur unzureichend wieder in Kraft gesetzt worden. Wir haben das
Meister-BAföG von Grund auf reformiert und den Bedürfnissen der Auszubildenden angepasst. Die Reform
wird dazu führen, dass mehr Personen als vorher einen
Anspruch auf die Aufstiegsfortbildungsförderung haben.
Darüber hinaus wird die Antragstellung vereinfacht und
die Leistungen werden deutlich angehoben. Auch das ist
konkrete Mittelstandspolitik.
Die Zeit reicht nicht, um alle Initiativen und Maßnahmen, die im Bericht der Bundesregierung enthalten sind,
aufzuführen und zu kommentieren.
({14})
Mir liegt jedoch daran, noch einige Anmerkungen zu den
wichtigen Bereichen Forschung und Innovation zu machen. Ich möchte angesichts der Verfälschungen und Verdrehungen interessierter Kreise ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Bundesministerium für Bildung und
Forschung die Mittel für die Forschungsförderung deutlich erhöht hat. Allein mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm wurden aus den Erlösen für die UMTS-Lizenzen
rund 2 Milliarden DM jährlich zusätzlich für Forschung
und Entwicklung bereitgestellt.
Auch der Bundeswirtschaftsminister hat die Mittel für
Forschung, Entwicklung und Innovation im Mittelstand
in seinem Haushalt spürbar angehoben. Dieser Titel ist
2002 gegenüber dem Ansatz von 2001 immerhin um rund
14 Prozent oder 474 Millionen Euro erhöht worden. Gegenüber den Mitteln, die 1998 abgeflossen sind, ist dies
sogar ein Zuwachs von rund 26 Prozent. Damit konnten
wichtige neue Programme zur Förderung des Mittelstandes initiiert werden.
Der vorliegende Bericht unterstreicht eindrucksvoll,
dass die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung
konkret gehandelt
({15})
und kleine und mittlere Unternehmen gezielt entlastet haben. Ich finde, Kritik muss nicht nur sein, sondern Kritik
ist sicherlich auch deswegen angebracht, weil wir das eine
oder andere, was wir uns vorgenommen haben, vielleicht
nicht so erreicht haben, wie wir das gerne hätten.
({16})
Meine Bitte an Sie von der Opposition ist aber, dass Sie
die einseitige Schwarz-Weiß-Malerei, wie Sie sie in diesem Parlament betreiben, beenden,
({17})
dass Sie in die Analyse der Ergebnisse Ihrer Politik ein
wenig Ehrlichkeit hineinlegen und sehen, welche Entwicklung sich gegenwärtig abzeichnet.
Im „Handelsblatt“ von gestern heißt es wie folgt:
Die Weltwirtschaft steht vor einer neuen Wachstumsphase und hat ihr Tief überwunden. Nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds ({18}) gilt
dies auch für Deutschland. Ähnlich äußerten sich auch
die Bundesregierung, die Spitzenverbände der Wirtschaft und das Kieler Institut für Weltwirtschaft ({19}).
({20})
An Ihren Zwischenrufen kann ich erkennen: Aus politisch kurzsichtigen Motiven bedauern Sie es in Wirklichkeit, dass sich die Entwicklung in dieser Weise abzeichnet.
({21})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Kritik, wie wir es noch
besser machen können, ist angesagt. Sich gemeinsam für
den Wirtschaftsstandort Deutschland einzusetzen und
sich darüber zu freuen, dass es in diesem Jahr mit der
Wirtschaft aufwärts geht,
({22})
ist das Mindeste, was man von einer verantwortungsvollen Opposition verlangen kann. Sie müssen noch üben.
Sie werden dazu ab September noch mindestens weitere
vier Jahre Gelegenheit haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Ich erteile der
Kollegin Gudrun Kopp das Wort für die Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Lieber Herr Kollege Wend, ein neuer
Titel allein, zu dem ich Ihnen herzlich gratuliere, macht
aus Ihnen noch keinen neuen Experten.
({0})
Ich muss Ihnen sagen, dass Sie meilenweit von der Praxis
entfernt sind. Schauen wir uns einmal um und fragen, wer
von denen, die hier sitzen, schon einmal Firmen aus der
Nähe betrachtet hat und wer überhaupt weiß, was im Mittelstand los ist.
({1})
- Auch Brüllerei ist kein Zeichen von Qualifikation.
Sie haben von einer ehrlichen Analyse gesprochen.
Lieber Herr Wend, ich habe Ihre Rede als Märchenstunde
empfunden.
({2})
So wird es auch jeder Mittelständler empfinden, der im
Augenblick vor der Insolvenz steht. Deren Zahl ist sehr
hoch. Wir wissen, dass 40 000 Insolvenzen für dieses Jahr
erwartet werden. Das ist eine Schande. Davon sind sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber betroffen; denn
beide sitzen in einem Boot.
({3})
Sie haben behauptet, dass der früheren Regierung eine
Senkung der Lohnnebenkosten nicht in angemessener
Weise gelungen sei.
({4})
Sie haben verschwiegen, dass Sie bei der Rentenversicherung eine Quersubventionierung in Höhe von 37 Milliarden DM eingeführt haben.
({5})
Sie haben im Hinblick auf die Arbeitslosenzahlen die Demographie völlig außer Acht gelassen,
({6})
nämlich die Tatsache, dass jährlich 200 000 ältere Arbeitnehmer ausgeschieden sind. Trotzdem haben Sie heute
immer noch die miserable Bilanz von 4,3 Millionen Arbeitslosen vorzuweisen.
({7})
Wir schulden es dem Mittelstand, dass seine Wirtschaftskraft hier einmal dargestellt wird. Wir sprechen in
diesem Bereich von 3,3 Millionen Unternehmen und
20 Millionen Arbeitnehmern. Wer investiert im Augenblick am meisten? 49 Prozent der Umsätze, 70 Prozent
aller Arbeitnehmer und 88 Prozent aller Auszubildenden
sind im Mittelstand zu finden. Ich habe diese Zahlen genannt, damit wir uns die Wirtschaftskraft des Mittelstandes vergegenwärtigen.
({8})
Es brennt aber im Augenblick lichterloh. Die Regierung muss etwas tun, Herr Wend,
({9})
und zwar sofort. Ich sage Ihnen - auch wenn Sie es schon
zigmal gehört haben -: Bei einer Eigenkapitalquote von
im Augenblick gerade einmal noch 2 bis 5 Prozent in Risikobereichen - damit befinden sich die betreffenden Unternehmen am Rande des Abgrundes ({10})
müsste die Regierung endlich steuerliche Anreize zur
Schaffung von Eigenkapital geben. Wir brauchen eine
drastische Senkung der Lohnnebenkosten und eine Steuerreform - nicht erst ab 2005 -, die gerade den mittelständischen Unternehmen helfen wird.
({11}) -
Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sagen Sie mal, wie es gehen soll! Das
wäre sehr interessant!)
Aber nichts von alldem ist derzeit zu sehen.
Mein Vorredner von der CDU/CSU-Fraktion ist schon
darauf eingegangen: Sie haben in jüngster Zeit zehn Gesetze auf den Weg gebracht, die wahre Nackenschläge für
den Mittelstand waren.
({12})
Wenn man betrachtet, was diese Gesetze allein für die
Bauindustrie bedeuten, dann muss man sagen, dass es
furchtbare Gesetze sind. Außerdem sind 200 000 Arbeitnehmer im Bereich des Handwerks im vergangenen Jahr
arbeitslos geworden.
({13})
Denken Sie in diesem Zusammenhang an die Kündigungsschutzregelung und an die große Zahl von Arbeitsgerichtsverfahren, die im Augenblick bei 600 000 pro Jahr
liegt. Es besteht also eine völlig unklare Rechtssituation.
Wer leidet in erster Linie darunter? Es sind gerade die
kleinen Unternehmen.
({14})
60 Prozent aller KMU haben bis zu zehn Mitarbeiter.
Diese kleinen Unternehmen haben keine extra Justizabteilungen, die all diese Finessen der Gesetzgebung durchschauen. Das ist eine schwierige Lage.
({15})
Beim Thema Basel II habe ich nicht gehört, wie Sie
sich das vorstellen, Herr Wend. Wie soll denn eine unternehmerische Idee bewertet werden? Wie stellen Sie sich
die Finanzierung von Existenzgründern vor, die keine
Historie vorzuweisen haben, die man auch nicht „raten“
kann? Nichts dergleichen habe ich gehört. Sie stellen sich
heute, in der allerschlimmsten Lage des Mittelstandes, hin
und beten alles gesund.
({16})
Ich meine, dafür haben Sie die Note 6 verdient. Das ist
überhaupt keine Frage.
({17})
Wenn es eines weiteren Beweises bedarf: Die Selbstständigenquote liegt in Deutschland bei 10 Prozent. Im
internationalen Vergleich liegt diese Quote bei 18 bis
20 Prozent. Woran liegt das? Von Ihnen habe ich nicht
gehört, was Sie dagegen tun wollen.
Ich komme jetzt noch einmal auf den Mittelstandsbericht zu sprechen und muss Ihnen sagen:
({18})
Das ist eine Ansammlung von Klein-klein-Initiativen, die,
wenn das Gesamtkonzept stimmen würde, als Umrahmung ganz nett wären. Aber schauen Sie sich zum Beispiel das Kapitel „Besseres Klima schaffen für mehr
Selbstständigkeit“ an.
({19})
Sie finden in diesem Mittelstandsbericht Schulprojekte
und internetgestützte Schülerwettbewerbe. Das ist prima;
aber das hilft dem Mittelstand in seiner Substanz nicht.
({20})
Zum Stichwort Bürokratieabbau wird in diesem grandiosen Bericht lediglich eine Vereinfachung von Antragsformularen vorgeschlagen. Das ist prima; aber das hilft
dem in seiner Existenz gefährdeten Mittelstand nicht.
Das heißt also: völlige Praxisferne bei der Regierung,
was die augenblickliche Situation des Mittelstands betrifft.
({21})
Es sind überhaupt keine Perspektiven in Sicht, wie Sie
helfen wollen.
({22})
Wie wäre es denn einmal mit einem Gesetzes- oder
Bürokratie-TÜV?
({23})
- Nein, ohne neue Behörde, im Kopf. Das wäre wichtig,
bevor wir hier Unsinn beschließen, neue Gesetze wie zum
Beispiel zur Bauabzugsteuer und viele andere Dinge
mehr. Das sind Todsünden für den Mittelstand. Ich kann
Ihnen nur sagen: Die FDP wird dazu beitragen, dass es
hier im September einen radikalen Kurswechsel gibt.
({24})
Wir haben erlebt, dass die Einmischung der Politik das
Schlimmste ist, was der Wirtschaft und vor allen Dingen
dem Mittelstand passieren kann.
({25})
- Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen.
({26})
Es wird ja ab September besser, ohne Sie.
({27})
Sie mischen sich ein, versäumen es aber, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Sie drehen an verschiedenen Stellschräubchen und nehmen damit dem Mittelstand
die Luft zum Atmen. Sie haben es verdient, ab September
nicht mehr auf der Regierungsbank zu sitzen.
({28})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Unterschied zwischen einer Wiederholung und einer Fortsetzung ist beim Film, dass eine Fortsetzung etwas Neues in der Handlung bringt. Wir aber
wiederholen zum x-ten Mal den offensichtlichen Lieblingsfilm des Bundestages „Spiel mir das Lied vom Mittelstand“.
({0})
Nun gibt es das Buch zum Film. Ich meine, es ist gut,
dass solch ein Bericht vorgelegt wird. Damit wird - Wahlkampf hin, Wahlkampf her - Kleinunternehmern und
auch Politikern überhaupt erst einmal deutlich gezeigt, wo
und wie Mittelstandspolitik des Bundes betrieben wird.
({1})
Damit bin ich allerdings auch bei einem Kardinalproblem
dieses Berichts. Bei all den gepriesenen Förderlinien, Förderbausteinen und Internetportalen - der Dschungel für
Rat und Hilfe Suchende hat sich bis jetzt nicht gelichtet.
Mindestens ein Dutzend verschiedene Internetportale als
Einstieg in unterschiedliche Felder der Mittelstandspolitik sind dem 56-Seiten-Bericht zu entnehmen. Fünf Bundesministerien - neben dem Wirtschaftsministerium auch
das Forschungs-, das Umwelt-, das Familien- und das
Entwicklungshilfeministerium - und natürlich, nicht zu
vergessen, die geschätzte Kollegin Frau Wolf als Mittelstandsbeauftragte kümmern sich um den Mittelstand.
Nur: Existenzgründer und Kleinunternehmer haben
keine Zeit, pausenlos durch das Internet zu surfen. Als
Vorsitzender des Offenen Wirtschaftsverbandes weiß ich
das aus eigener Erfahrung und durch viele Berichte. Die
Zeit reicht nicht aus, um zu suchen; die Zeit muss verwendet werden, um etwas zu tun.
({2})
Angesichts der auch in diesem Bericht bekundeten ITEuphorie der Bundesregierung müsste es doch eigentlich
ein Leichtes sein, ein zentrales Internetportal einzurichten, von dem aus verständlich und übersichtlich der Weg
zu allen Spezialinformationen - von Fragen inländischer
Wirtschaftsförderung über Fragen zu Umwelt, Gleichstellung und Ausbildung bis hin zu Außenwirtschaftsfragen gewiesen wird. Das wäre zumindest ein Anfang, um irgendwann zu einem Angebot aus einer Hand zu kommen - zumal - das weiß ich aus eigener Erfahrung - mit
der Deutschen Ausgleichsbank doch eine Struktur vorhanden ist, die in dieser Richtung schon viele gute Ansätze aufweist. Um diese weiterzuentwickeln, ist es erforderlich, den Kabinettsbeschluss vom Sommer 2000
aufzuheben, mit dem die DtA an die Kreditanstalt für
Wiederaufbau verkauft werden sollte. Mögliche Synergien beider Förderbanken sind ja schon durch dessen Vorbereitung und die vielen Diskussionsrunden gehoben
worden. Natürlich muss sich der Finanzminister endgültig von der Hoffnung verabschieden, seine Haushaltsbilanz mit virtuellen Milliardeneinnahmen aus einem Bankverkauf zu verbessern.
Tatsächlich scheint die Existenzgründer- und Mittelstandsfinanzierung, anerkanntermaßen die Achillesverse
eines Aufschwungs kleiner Unternehmen, seit vergangenem Sommer endlich auf einem guten Weg. Dafür spricht
das im Bericht genannte Konzept „Bürgschaft ohne
Bank“, bei dem ein Finanzbedarf bis 127 000 Euro
zunächst ohne Einschaltung einer Hausbank durch Bürgschaftsbanken geprüft werden soll. Aber auch die neue
BTU-Frühphase oder die Möglichkeit stiller Beteiligung
der tbg an kleinen Technologieunternehmen mit „Futour 2000“ wäre zu nennen.
Gestern hat es eine Anhörung zu Basel II gegeben. Die
kürzeste Form, auf die ich das gestrige Ergebnis bringen
kann, ist: Nicht Basel II, sondern die Banken sind das
Problem.
({3})
Viel wichtiger als Basel II sind, will man Wachstum
schaffen, öffentliche Investitionsprogramme, die Binnennachfrage, die Zahlungsmoral und das Insolvenzrecht.
Denn, Frau Wolf, eine „zweite Chance“ hängt eben auch
von der Qualität des Insolvenzrechts ab. Ich würde Sie
sehr unterstützen, wenn wir da Veränderungen erreichen
könnten.
Das Nachdenken darüber, dass Mittelstandsförderung
im „Direktvertrieb“, also ohne Hausbank, erfolgen kann,
halte ich für richtig. Es kann doch nicht darum gehen, mit
Existenzgründer- und Mittelstandsförderung letztlich vor
allem Banken zu finanzieren. Ebensowenig kann es allerdings darum gehen, den Unternehmen mittels verlorener
Zuschüsse einfach etwas zu schenken.
Im Bericht wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass
beim leidigen Thema „Meisterzwang im Handwerk“ die
sorgfältige Beobachtung der Umsetzung gefasster Beschlüsse vorgenommen wird. Ein ebenso kritisches Herangehen wünschte ich mir bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder auch in Bezug auf die gerechte
Lastenverteilung bei Berufsausbildungskosten.
Um auf den Eingangssatz zurückzukommen: Wenn uns
der Mittelstand so wichtig ist, wie wir das in den Reden
immer betonen, dann sollten wir alles tun, dass es nicht
bei Wiederholungen, bei ständigen Bekundungen seiner
Wichtigkeit bleibt.
({4})
Vielmehr sollten wir gemeinsam - damit meine ich: unter
Prüfung wirklich aller Ideen, die vorgelegt werden - etwas tun, damit sich eine erfolgreiche Entwicklung des
Mittelstands fortsetzen lässt.
Vielen Dank.
({5})
Die Kollegin Jelena Hoffmann spricht für die SPD.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Parlamentarische
Staatssekretärin Frau Wolf hat gerade in eindrucksvoller
Weise
({0})
die Mittelstandspolitik unserer Bundesregierung vorgestellt. Der Bericht verdient unseren Dank und die Staatssekretärin unsere Genesungswünsche.
({1})
In 18 Kapiteln erhalten wir sehr detailliert Auskunft
über die große Palette von Unterstützungsmöglichkeiten,
die kleine und mittlere Unternehmen nutzen können. Herr
Doss, wenn Sie sagen, die Mittelständler bräuchten diese
Hochglanzbroschüre nicht, muss ich erwidern: Aber das,
was da drinsteht, brauchen die Mittelständler. Aber sie
brauchen jeden Euro, der hinter den Zeilen des Berichtes
steht.
({2})
Der Mittelstand braucht eine gesicherte Finanzierung,
Unterstützung in den Wachstumsbereichen und weniger
Reglementierung. Genau das ist unsere Politik.
({3})
Welche Finanzhilfen geben wir dem Mittelstand? Wir
wissen, dass die Kapitalausstattung die Achillesferse
des Mittelstandes in Deutschland ist. Die Eigenkapitaldecke ist im europäischen Vergleich sehr gering. Man
spricht von 15 bis 18 Prozent. Einige ganz kleine Unternehmen haben eine Eigenkapitaldecke von nur 4 Prozent.
Deshalb unterstützen wir die KMUs mit über 5 Milliarden Euro aus dem ERP-Sondervermögen und zusätzlich
mit 9 Milliarden Euro, die über die Förderbanken KfW
und DtA beantragt werden können.
Von der alten Regierung unterscheidet uns dabei die
Tatsache, dass wir auch qualitative Verbesserungen des
Förderinstrumentariums erreicht haben. Wir legen großen
Wert auf die Betreuung und Beratung der Unternehmen.
Die DtA bietet ihre Dienste bundesweit an 46 Standorten
an.
An dieser Stelle möchte ich auch an die mittelständischen Verbände appellieren, ihre Mitglieder gezielt auf
die Möglichkeiten, die diese Förderprogramme bieten,
aufmerksam zu machen. Ich weiß, dass in einigen Verbänden mehr davon gesprochen wird, was die Regierung
nicht macht, als darüber, was unsere Regierung für den
Mittelstand auf die Beine stellt. Das Recht zu kritisieren
darf gegenüber der Pflicht zu informieren nicht überwiegen.
In einer Debatte über den Mittelstand kann man das
Thema Basel II nicht außen vor lassen.
({4})
Auch ich möchte kurz darauf eingehen. Basel II darf nicht
die Fremdfinanzierung von kleinen Unternehmen gefährden. Dies lassen wir auch nicht zu, Herr Hinsken. Die nationalen Interessen des deutschen Mittelstandes werden
von der Bundesregierung nachdrücklich vertreten. Besonders wichtig ist uns, dass die deutsche Praxis der langfristigen Kreditvergabe nicht gefährdet wird und erhalten
bleibt.
Aber auch die Banken sind in die Pflicht zu nehmen,
sich weiter an der Mittelstandsfinanzierung zu beteiligen.
Die Befürchtungen der KMUs, die Banken würden sich
aus diesem Geschäft zurückziehen, dürfen nicht zur Tatsache werden. Banken sollen aktiver auf die Chancen des
Ratingverfahrens hinweisen und die Kreditvergabe viel
transparenter gestalten.
Im Bereich der Finanzierung und Förderung liegen uns
die mittelständischen Wachstumsbereiche besonders am
Herzen. Dazu gehört auch die Tourismusbranche, die
am meisten unter den Folgen des 11. September letzten
Jahres gelitten hat. Doch das mittelständische Gastgewerbe hat sich konsolidiert und weist erstmals seit 1995
wieder Wachstumsraten auf. Zudem sind in der Tourismuswirtschaft neue Arbeitsplätze geschaffen worden: ein
Zuwachs von 0,5 Prozent bei den Vollzeitstellen und von
1,5 Prozent im Teilzeitbereich. - Danke, Herr Hinsken,
dass Sie dies mit Ihrer Kopfbewegung bestätigen.
Von einem verstärkten Auslandsmarketing profitiert
das Hotel- und Gastgewerbe. Deshalb unterstützen wir die
Deutsche Zentrale für Tourismus in diesem Jahr mit etwa
22 Millionen Euro. Das ist mehr als je zuvor.
Auch das länderübergreifende Inlandsmarketing wird
weitere fünf Jahre bis 2006 fortgeführt und finanziell unterstützt. Dabei gehen wir auch hier neue Wege. Die Kompetenzzentren für Tourismus stehen für diesen Weg. Sie
sind die Schnittstelle zwischen Tourismus und E-Business. Hier können die Reiseveranstalter und Reisebüros
Internetkenntnisse erwerben, die speziell auf ihre Branche
zugeschnitten sind. E-Business bietet enorme ökonomische Potenziale. Die Umsätze mit Internet- und Onlinediensten sind im Jahr 2000 um 40,5 Prozent auf 5,4 Milliarden Euro gestiegen. Im Internet liegt der Markt der
Zukunft.
Mit einem virtuellen Stadtbummel hat mein Wahlkreis
Chemnitz gerade den ersten Preis im Wettbewerb „Attraktive Innenstadt“ gewonnen. Ich freue mich natürlich
darüber. Ausgeschrieben wurde das Projekt vom Bundeswirtschaftsministerium.
Und was hört man aus Ihren Reihen, meine Damen und
Herren von der Opposition? Nur Katastrophenmeldungen. Durch Ihr Bestreben, unsere Politik kaputtzureden,
schaden Sie der Wirtschaft in Deutschland. Was für eine
Art Signal senden Sie aus den Fenstern Ihrer Berliner Parteizentrale in die Welt und damit auch an die ausländischen Investoren? Die Rezession steckt mehr in Ihren
Köpfen als in der Wirtschaft. Sie betreiben mit Ihrer Kampagne Rufschädigung für Deutschland. Dabei setzen Sie
außerdem der Wirtschaftspolitik made by Kohl nur Hörner auf. Oder haben Sie schon vergessen, welche Regierung Deutschland auf die hinteren Plätze in Europa geführt hat?
({5})
Wo war damals Ihre rote Laterne, Herr Hinsken? War sie
im Keller vergraben?
Der Konsolidierungskurs unserer Regierung ist das
Beste, was dem Mittelstand geschehen kann.
({6})
Denn wir erreichen mit unserer Politik ein stabiles Wachstum und kein Wachstum, das nur von den Finanzmärkten
abhängig ist.
({7})
Frau Kollegin Hoffmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst Hinsken?
Nicht für den
Fall, dass es wieder nur um die rote Laterne geht. Herr
Hinsken, lassen Sie uns das im Ausschuss besprechen.
Herr Präsident, ich lasse die Zwischenfrage nicht zu.
({0})
Die meisten wirtschaftspolitischen Initiativen der Opposition lassen sich mit zwei Stichworten zusammenfassen: unfinanzierbar und konjunkturpolitisch kontraproduktiv. Allein die Abschaffung der Ökosteuer, von der aus
Ihren Reihen - einmal so und einmal so - immer wieder
die Rede ist, würde 15 Milliarden Euro kosten. Die Folge:
eine Erhöhung der Rentenbeiträge und eine deutliche
Mehrbelastung des Mittelstandes durch Erhöhung der
Lohnnebenkosten - darauf wurde bereits eingegangen -,
die Sie von 34 auf über 42 Prozent in die Höhe getrieben
haben.
({1})
Meine Damen und Herren von der Opposition, weder
die Ökosteuer noch die Betriebsverfassung hat ein Unternehmen in den Konkurs getrieben. Herr Hinsken, zeigen
Sie mir einen Handwerker, der mehr Aufträge erhält, weil
der Kündigungsschutz nicht mehr gilt.
Ich muss zum Schluss kommen.
({2})
Die Chancen stehen gut, dass der Mittelstand nicht nur
Konjunkturstabilisator bleibt, sondern zum Kern des jetzt
beginnenden Aufschwungs in Deutschland wird. Wir
Jelena Hoffmann ({3})
bieten die beste Unterstützung mit unserem kombinierten
Programm „Mittelstand stärken - Haushalt konsolidieren“.
Danke.
({4})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Dagmar Wöhrl.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Schröder-Jahre sind magere
Jahre,
({0})
und zwar magere Jahre für den Mittelstand. Das heißt erdrückende Steuerabgabenlast, arbeitsrechtliche Überreglementierung, noch mehr Bürokratie und Kürzung öffentlicher Investitionen. Glauben Sie nicht, dass der
Mittelstand das nicht weiß! Er weiß, wer die Verantwortung dafür trägt.
({1})
Im vorliegenden Mittelstandsbericht preist Minister
Müller international wettbewerbsfähige Steuersätze an.
({2})
Aber wie sieht die Realität aus? Noch nie gab es eine so
einseitige steuerliche Benachteiligung des Mittelstandes
wie jetzt.
({3})
Minister Müller lobt in seinem Bericht bezahlbare Rentenbeiträge. Aber wie sieht die Realität aus? Die BfA prognostiziert bereits für das nächste Jahr trotz der Ökosteuer
steigende Beiträge.
Aber Minister Müller beweist in seinem Mittelstandsbericht auch Humor. Er spricht nämlich von einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Das ist ein guter Witz. Die
Mittelständler können darüber nicht lachen. Denn wie
sieht auch hier die Realität aus? Einschränkung der
325-Euro-Jobs, Rechtsanspruch auf Teilzeit, Verschärfung des Betriebsverfassungsgesetzes, Gesetz gegen
Scheinselbstständigkeit, neue Buchführungspflichten et
cetera, et cetera, also Belastungen über Belastungen. Das
heißt, der Arbeitsmarkt wurde unter Ihrer Regierung noch
starrer und noch bürokratischer.
Auch wenn Sie in Ihrem Bericht eine wohlklingende
Mittelstandsrhetorik anwenden, täuscht dies nicht darüber
hinweg, dass Ihre mittelstandspolitische Bilanz verheerend ausfällt. Das Insolvenzrecht von 1999 - ich erwähne
es absichtlich - hat in diesem Zusammenhang Auswirkungen. Nichtsdestoweniger ist es verheerend und erschreckend, dass es bei den Unternehmen im letzten Jahr
32 284 Insolvenzen gegeben hat. Davon waren über
200 000 Arbeitsplätze betroffen.
({4})
Wenn Sie dabei berücksichtigen, dass die Rezession bei
den Unternehmen erst zeitversetzt ankommt, wissen Sie,
dass wir in diesem Jahr eine Pleitewelle mit neuen Rekordzahlen zu erwarten haben.
({5})
Wie schaut es bei den wichtigen Existenzgründungen
aus? Eine Vergleichsstudie über das weltweite Gründungsgeschehen zeigt, dass Deutschland im letzten Jahr
beim Gründungs- und Investitionsklima nur den 22. Platz
von 29 Ländern belegte. Gerade sieben von 100 Personen
haben sich dazu entschlossen, sich selbstständig zu machen. Was lernen wir daraus? Der Pioniergeist scheint unter Rot-Grün nicht gerade sehr gut zu gedeihen. Man muss
sich schon fragen, was die Gründe dafür sind.
({6})
Sicherlich gibt es viele Gründe dafür, sich selbstständig
zu machen. Ein Selbstständiger muss aber auch Mut zum
Risiko haben. Mit Ihrer Politik haben Sie diesen jungen
Menschen jeglichen Mut zur Selbstständigkeit genommen.
({7})
Es klingt wirklich wie Hohn, dass Sie im Mittelstandsbericht schreiben, dass Sie die Kultur der Selbstständigkeit fördern. Wie fördern Sie sie denn? Tun Sie das, indem
Sie die Business Angels steuerlich entmutigen und die
Wesentlichkeitsgrenze für steuerfreie Beteiligungen von
20 Prozent auf 1 Prozent senken? Bestimmt nicht. Sie haben den gesamten Business-Angels-Markt, den wir mit
Mühe und Not aufgebaut haben, kaputtgemacht.
({8})
Sie wissen, wie wichtig gerade für junge Unternehmen
das Wagniskapital ist.
({9})
Jemand, der ein wenig Geld angespart und vielleicht gedacht hat, er könne sein angespartes Geld in ein junges
Unternehmen investieren, überlegt heute - er hat natürlich
ein Interesse daran, seinen Anteil wieder zu veräußern,
und weiß, dass er das Geld bei der Veräußerung zukünftig
Jelena Hoffmann ({10})
voll versteuern muss -, ob er es wirklich tun oder aber lieber Aktien kaufen bzw. in einen Fonds investieren sollte.
({11})
Ein anderes Beispiel sind die Stock Options. Diese sind
für junge Technologieunternehmen sehr wichtig. Bei uns
gibt es aber eine internationale Benachteiligung. Auch
hier gehen Sie dieses wichtige Thema nicht an. Des Weiteren überziehen Sie die kleinen Betriebe mit einem undurchschaubaren Geflecht von immer mehr Vorschriften,
Verordnungen und Gesetzen.
Meine Damen und Herren, wir müssen endlich von den
hohen Erhaltungssubventionen von gestern wegkommen.
Wir müssen Unterstützungsprogramme für die Gründer
von heute auflegen.
({12})
Ich sage es hier ganz offen und ehrlich: Wenn der Kanzler so überzeugend, wie er sich bei den Banken für Holzmann einsetzt,
({13})
für Erfolg versprechende kleinere und mittlere Betriebe
werben würde, wäre schon viel geschehen.
({14})
Die Bürokratiekosten steigen. Man muss sich einmal
vorstellen, dass allein der Kommentar zum Kündigungsschutzgesetz inzwischen 2,5 Kilogramm wiegt. Für die
Gründung einer GmbH braucht man in Großbritannien
sieben und in den USA zehn Tage. Jetzt raten Sie einmal,
wie lange man in Deutschland braucht, um eine GmbH zu
gründen. Dafür sind inzwischen vier Monate notwendig.
({15})
Unsere Aussagen werden auch durch die Studie des
Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes mit dem Titel
„Diagnose Mittelstand“ bestätigt. Wie schaut diese Diagnose aus? Es ist eine düstere Bilanz. Die Studie sagt aus,
dass wir viermal Grund zur Sorge haben. Erstens haben
die Unternehmen lediglich eine hauchdünne Eigenkapitalausstattung, zweitens ist die Ertragslage der Unternehmen unzureichend, drittens wird die unternehmerische
Tätigkeit immer weniger rentabel und viertens werden die
Personalkosten immer höher.
({16})
Mehr als die Hälfte unserer Betriebe arbeitet nahezu
ohne Eigenkapital. Unser Mittelstand lebt inzwischen
von der Substanz. Sie wissen ganz genau, dass auch durch
Basel II keine Verbesserung eintreten wird - im Gegenteil. Selbst in dem vergleichsweise guten Jahr 2000 haben
35 Prozent der kleineren Unternehmen mit einem Umsatz
von bis zu 250 000 Euro überhaupt keinen Gewinn gemacht. Daran erkennen Sie, wie drastisch sich die Ertragslage des Mittelstandes unter Ihrer Regierung verschlechtert hat.
({17})
Wir haben eine angespannte Lage. Eine angespannte
Lage erfordert eine schnelle und umfassende Therapie,
keine leeren Versprechungen und medienwirksamen
Äußerungen, die Sie immer wieder anbieten.
({18})
Was machen Sie? Sie bringen eine Steuerreform auf
den Weg, mit der Sie die Personengesellschaften und damit den gesamten Mittelstand gegenüber den Kapitalgesellschaften schlechter stellen.
({19})
Die Großen werden bevorzugt, die Kleinen müssen bluten. Große Unternehmen haben im Jahr 2000 noch
23 Milliarden Euro Körperschaftsteuer bezahlt. Was war
letztes Jahr? 400 Millionen Euro mussten ausbezahlt werden.
({20})
Natürlich müssen Kapitalgesellschaften entlastet werden; das ist überhaupt kein Thema. Aber zu Ihrer Steuerreform zitiere ich die Bundesbank: Eine Steuerreform, die
die Fetten noch fetter macht, kann nicht richtig sein. Sie
haben eine Schieflage geschaffen, die schnellstens beseitigt werden muss.
({21})
Wir sind mit unserer Meinung nicht allein. Das Ergebnis der Benchmarking-Studie ist: Der Mittelstand hat von
der rot-grünen Steuerreform nicht profitiert. Meine Damen und Herren von der Koalition, die Neue Mitte bei Ihnen ist nur Mittel zum Zweck. Sie ist für Sie ausschließlich als Wahlkampfzielgruppe interessant und sonst nicht.
Wenn es nicht stimmt, was ich sage, dann beweisen Sie
es. Fangen Sie mit einem radikalen Entrümpelungsprogramm an! Erleichtern und verschlanken Sie endlich die
Vorschriften für Neugründungen!
({22})
Fangen Sie mit Ihren ewigen Runderlassen und den zusätzlich geschaffenen Bürokratiebestimmungen an. Das
gilt auch für das 325-Euro-Gesetz. Schaffen Sie endlich
ein einfaches, unbürokratisches Gesetz.
Wir versprechen: Sobald wir an der Regierung sind,
werden wir jedem 400 Euro cash auf die Hand geben. Es
muss sich in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen
genauso wie bei Nebentätigkeiten endlich wieder lohnen,
tätig zu werden.
({23})
Es geht nicht nur darum, dass eine Zusatzbeschäftigung
wieder belohnt werden soll.
({24})
Das war Geld, das auch zur Binnenkonjunktur beigetragen hat. Sie wissen ganz genau, dass das momentan unser
größtes Problem ist.
({25})
Eine neue CDU/CSU-Regierung wird die Interessen
- das verspreche ich Ihnen - des Mittelstandes wieder
berücksichtigen.
({26})
Da können Sie sicher sein. Arbeitslosigkeit können Sie
nur mit einer mittelstandsfreundlichen Politik abbauen.
Auch werden wir dafür sorgen, dass sich die Schere zwischen brutto und netto zukünftig wieder schließt.
({27})
Mittelstand und Existenzgründer müssen wieder in das
Zentrum der Wirtschaftspolitik rücken, was aber mit
Ihnen bestimmt nicht passieren wird.
Vielen Dank.
({28})
Als letzte
Rednerin in dieser Debatte spricht für die SPD-Fraktion
die Kollegin Lydia Westrich.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Wöhrl, mit Ihren Kassandrarufen kann man wirklich keine guten Geschäfte machen.
Ich sage Ihnen: Der Mittelstand in Deutschland ist weit
besser,
({0})
als uns die Opposition weismachen will.
({1})
- Dann hören Sie mit Ihren Kassandrarufen auf und unterstützen uns.
({2})
Der ausgezeichnete Bericht der Bundesregierung
({3})
zeigt, dass wir mit unserer Politik für den Mittelstand auf
einem guten Weg sind. Auf wenigen Seiten umreißt er ein
großes Bündel von Maßnahmen für die Zukunftsfähigkeit
vieler kleinerer und mittlerer Unternehmen. Er unterstützt
sie und hilft bei der Weiterentwicklung.
Das sind Maßnahmen und Aktivitäten, die sich die
lautstarke Opposition vielleicht selbst gerne auf die Fahnen geschrieben hätte. Wie eine Standarte tragen Sie das
Wort Mittelstand bei fast all Ihren Reden vor sich her, wie
dies vorhin auch schon der Kollege bemerkt hat. Aber
diese Standarte wird nur von heißer Luft bewegt. Deswegen hängt Ihr Fähnchen ziemlich schwach und schlaff.
({4})
Im Ernst: Sie sollten den Bericht nehmen und bei Ihrer
nächsten Betriebsbesichtigung mit den Unternehmern
und den Kollegen besprechen. Machen Sie ihn zum
Thema ihrer Mittelstandsgespräche. Sie werden feststellen, dass Ihre Unternehmen mit dem „Aktionsprogramm
Mittelstand“ dieser rot-grünen Bundesregierung sehr vertraut sind. Sie nutzen es bereits in vielfältiger Weise, weil
viele Mittelständler ihre Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit auch im internationalen Rahmen stärken wollen.
Ihre Unternehmen haben durchaus registriert, dass es endlich statt fulminanter Reden ({5})
wie sie von Ihnen heute wieder vorgetragen worden sind tatkräftige Hilfen gibt. Tatkräftige Hilfen sind besser als
jede noch so gute Rede. Es gibt Programme, auf die sie
zugreifen können; sie sind teilweise maßgeschneidert,
weil sie mit den Fachleuten und Praktikern vor Ort zusammen erarbeitet worden sind.
Ich brauche als Beispiel nur meinen eigenen Wahlkreis
zu nehmen. Die vom Bund unterstützte Technologietransferstelle des Handwerks funktioniert ausgezeichnet.
Durch diese sind nicht nur neue Betriebe entstanden, sondern auch bestehende erweitert worden. Wir erhalten jetzt
eine vom Wirtschaftsministerium unterstützte überbetriebliche Weiterbildungseinrichtung, die Handwerker an
die Bereiche regenerativer Energie und neuer Technologien heranführt, um zum Beispiel die Wartung und Installation von Blockheizkraftwerken, Photovoltaikanlagen
oder solarthermischen Anlagen lernen zu können und so
die Betriebe zukunftsfähig zu machen.
({6})
Ich war letzte Woche auf der Schuhmesse in Düsseldorf. Dort hat mir ein mittelständischer Kinderschuhproduzent erzählt, dass er 60 Prozent seiner Kinderschuhe exportiert. Die USA, Kanada, Skandinavien und Japan sind
seine neuen Abnehmer. Diese neuen Märkte hat er sich mit
Unterstützung des Wirtschaftsministeriums erschließen
können. Er kann die Schuhe insgesamt bis zum letzten
Stich in Pirmasens herstellen, hat neue Mitarbeiter eingestellt und ist in Bezug auf die Zukunft sehr zuversichtlich.
({7})
Ohne die Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung hätte er den Schritt zu diesen Handelsbeziehungen
nach Übersee und Asien nicht gewagt. Bei meinem Messerundgang habe ich im sachlichen Gespräch mit den meist
mittelständischen Unternehmen oder Familienbetrieben
- nicht mit den Funktionären - viele positive Beispiele der
Inanspruchnahme verschiedenster Programme unserer umfassenden Mittelstandsförderung erläutert bekommen.
({8})
Ich habe es selbst erlebt, dass anwesende Unternehmerkollegen die Ideen aufgegriffen und sich gleich nach den
Modalitäten erkundigt haben. Einer hat gemeint, schon
die Information über „Pro Inno“ oder die KMU-Patentaktion zusammen mit dem Projekt Insti war den Messebesuch wert.
Das ist praktische Hilfe, von der Sie vielleicht nichts
halten. Wir tragen nicht nur markige Wort vor uns her,
sondern nehmen die Unternehmen bei der Hand und planen mit ihnen gemeinsam unterstützende Programme und
den Abbau von Hemmnissen. Wir führen diese Programme auch durch.
({9})
Frau Kollegin Westrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
({0})
Ja.
Frau Kollegin Westrich,
wir haben vorhin in mehreren Reden gehört, dass wir allein im letzten Jahr 36 000 Insolvenzen hatten.
({0})
Es ist zu befürchten, dass es in diesem Jahr 40 000 sein
werden. Haben Sie schon mit Unternehmern gesprochen,
die in Konkurs gehen mussten, weil die Bundesregierung
eine solch schlechte Mittelstandspolitik macht, dass sie
nicht mehr über die Runden kommen?
({1})
Was haben Sie getan, um zu helfen und das Los der Betroffenen - das sind Einzelschicksale - zu lindern?
Lieber Herr Kollege Hinsken,
ich habe selbst in meinem Wahlkreis einige Unternehmer,
die leider Insolvenz beantragen müssen. Ich kann mich
aber auch erinnern, dass ich vor sechs Jahren Reden gehalten habe, die auch den Tenor „So viele Insolvenzen und
so viele Arbeitslose“ gehabt haben.
({0})
Ich habe in meinem Wahlkreis durch die Krise in der
Schuhindustrie eine Insolvenz nach der anderen erleben
müssen. Ich habe vor dem Hintergrund des neuen Betriebsverfassungsgesetzes erlebt, dass sich Unternehmen
und Betriebsräte zusammensetzen. Auf diese Weise wurden in meinem Wahlkreis mindestens drei Betriebe gerettet. Das heißt, es war wichtig, dass wir die Betriebsräte gestärkt und den Unternehmen Partner an die Hand gegeben
haben, damit sie weiterexistieren können.
({1})
Wenn Arbeitnehmer und Unternehmer gleichberechtigte Partner sind, dann sind das auch Möglichkeiten, um
Insolvenzen zu vermeiden. Sie wollen dies nur nicht
wahrhaben. Das aber ist die Wahrheit. Wenn Sie sich ein
bisschen in Ihren Wahlkreisen umschauen, können Sie
verschiedenste Beispiele solcher Art erfahren. Wir werden in dieser Richtung weiterarbeiten, damit die Zusammenarbeit gestärkt wird.
({2})
- Das ist Ihre Ansicht. Aber wenn Sie einen Blick auf die
Praxis werfen, werden Sie sehen, dass es sich ganz anders
verhält. - Das ist praktische Hilfe, die die KMU überall
brauchen.
({3})
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit einem
Mittelständler über die Steuerbelastung reden - Sie haben
vorhin darüber geredet -, bekommt er sicherlich glänzende Augen. Ich weiß nicht, wie es in Ihrer Steuererklärung oder in der Ihres Unternehmens aussieht, Frau
Wöhrl, aber bei uns freuen sich die Betriebe darüber, dass
sie tatsächlich die Gewerbesteuer los sind, ohne ein
schlechtes Gewissen gegenüber der Stadt haben zu müssen. Die hat nämlich - bei uns zum Beispiel - steigende
Gewerbesteuereinnahmen zu verzeichnen.
Wir haben den Betrieben mit unserer Steuerpolitik
wirtschaftliche Freiräume zurückgegeben. Zum Beispiel
werden bei einem Gewinn von circa 100 000 Euro 2002
mehr als 4 000 Euro weniger Belastungen entstehen als
1998. Wenn Sie mit einem Scheck über 1 000 DM oder
400 Euro wedeln, dann möchte ich darauf hinweisen, dass
wir den Mittelstand bis heute weit stärker entlastet haben,
als Sie es mit Ihrem Scheck tun könnten.
({4})
Die Belastung sinkt bis 2005 kontinuierlich und planbar
für alle Unternehmen weiter. Mitunternehmererlass,
Reinvestitionsrücklage und Ansparabschreibungen stellen deutliche Erleichterungen dar, die für die kleinen Unternehmen bei Generationenfolge und geplanten Investitionen neue Finanzkraft bedeuten.
Schon 2001 lag die Gesamtsteuerbelastung mit Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag bei einem Personenunternehmen mit circa 50 000 Euro Gewinn - davon
gibt es sehr viele - nur noch bei 20,4 Prozent. Es war
der Wille der rot-grünen Bundesregierung und der sie
tragenden Fraktionen der SPD und der Grünen, den
mittelständischen Unternehmen die Bewegungsfreiheit
und Finanzkraft zurückzugeben, die Sie ihnen genommen
haben.
({5})
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Deshalb haben wir die Steuerpolitik darauf ausgerichtet - wie das „Handelsblatt“ vor
einem Jahr titelte - „Keine steuerliche Benachteiligung
des Mittelstands“. Das erzählt Ihnen inzwischen jeder Unternehmer und jeder Steuerberater. Auch Sie können die
Zahlen nicht leugnen.
Wir wollen diesen Weg weiterverfolgen. Der Mittelstand wird es uns am 22. September danken.
Danke schön.
({0})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8548 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Koschyk, Anton Pfeifer, Dr. Norbert Lammert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Zukunft der deutschen Auslandsschulen
- Drucksache 14/8106 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch
damit sind Sie einverstanden.
Ich kann Ihnen schon mitteilen, dass die Kollegin
Monika Griefahn von der SPD-Fraktion und der Kollege
Dr. Heinrich Fink von der PDS-Fraktion ihre Reden zu
Protokoll geben.
Als ersten Redner erteile ich dem Kollegen Hartmut
Koschyk für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben als
CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Antrag über die Zukunft der deutschen Auslandsschulen eingebracht. Ich
möchte kurz den Hintergrund dieses Antrags erläutern.
Seit langem besteht Einvernehmen darüber, dass die
auswärtige Kulturpolitik als dritte Säule der Außenpolitik
zu verstehen ist. In dieser Säule nehmen die Auslandsschulen als wichtiges Instrument der Bildungspolitik,
aber auch der auswärtigen Kulturpolitik eine entscheidende Funktion ein. Neben den Kulturbeziehungen dient
es eben auch der Förderung der deutschen Außenwirtschaft, dem Dialog der Kulturen und unseren bilateralen
politischen Beziehungen, wenn wir an vielen Orten dieser
Welt deutsche Auslandsschulen unterhalten.
Diese Schulen betreiben eine praktische, aber oftmals
auch unaufdringliche Sympathiewerbung für die deutsche
Sprache und Kultur, was sicherlich im wohlverstandenen
Interesse unseres Landes liegt, aber auch im Hinblick auf
die Globalisierung der Weltwirtschaft immer notwendiger
wird.
Ingo Plöger, der Präsident der Deutsch-Brasilianischen
Handelskammer in Sao Paulo, hat über die Bedeutung der
deutschen Auslandsschulen zu Recht festgestellt, dass sie
ein hervorragendes Instrument für die deutsche auswärtige Kulturpolitik darstellen, um nachhaltig kulturelle
und außenwirtschaftliche Beziehungen zu pflegen. Durch
die Tätigkeit der deutschen Auslandsschulen wird weltweit das Interesse für die Geschichte und die Kultur
Deutschlands geweckt wie auch der Stellenwert der deutschen Sprache in der Welt verbessert. Dadurch, dass
100 000 Schülerinnen und Schüler an 119 schulischen
Einrichtungen im Ausland unterrichtet werden sowie weitere 130 000 in Mittel- und Osteuropa und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten staatliche und private
Schulen mit Deutsch als Fremdsprache oder sogar mit
deutschem Unterricht besuchen, werden Bindungen zu
Deutschland geschaffen, die durch andere Instrumente
der auswärtigen Kulturpolitik kaum erreicht werden können.
({0})
Die deutschen Auslandsschulen erfüllen also wertvolle
Aufgaben bei der Verständigung zwischen Deutschland
und seinen Partnern in der Welt.
Einen Ort des kulturellen Austausches bilden diese
Schulen aber nur dann, wenn es auch sozial schwächeren
Familien in den Gastländern möglich ist, ihre Kinder auf
diese Schulen zu schicken, wenn sie also nicht als Eliteschulen verstanden werden. Dies muss auch bei den finanziellen Planungen für das deutsche Auslandsschulwesen gewährleistet werden.
Entschieden plädiert unsere Fraktion auch für den Erhalt von Deutsch als Unterrichtssprache an den deutschen
Auslandsschulen; denn die deutsche Sprache wird so zu
einem kulturellen, aber auch emotionalen Bindeglied zu
Deutschland. Mit dem Erlernen der deutschen Sprache
werden auch für Kinder aus den Gastländern, also für
nicht deutsche Kinder, positive Einstellungen gegenüber
unserem Land, seinen Menschen und seiner Kultur, aber
auch gegenüber unserem Wirtschaftsgefüge vermittelt.
Dies nutzt den deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen
vor allem mit den Ländern, die für die deutsche Wirtschaft
in den kommenden Jahrzehnten immer wichtiger werden.
({1})
Es geht hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch um
eine Kernaufgabe des deutschen Auslandsschulwesens,
nämlich um eine qualitativ hochwertige Schulversorgung
für Tausende von Kindern deutscher Staatsbürger, die
zeitweilig für deutsche Unternehmen, sonstige deutsche
Einrichtungen oder deutsche Vertretungen im Ausland
tätig sind. Wir haben eine Fürsorgepflicht für die schulische Wiedereingliederung der Kinder deutscher Staatsbürger, die sich zeitweise im Ausland aufhalten. Diese
können wir nur dann gewährleisten, wenn die Schulversorgung auf einem hohen Niveau sichergestellt bleibt.
Deutsche Auslandsschulen sind aber auch ein wichtiges Bindeglied zwischen Deutschland und den auf Dauer
im Ausland lebenden deutschsprachigen Gemeinschaften,
insbesondere den deutschen Minderheiten vor allem in
Mittel- und Osteuropa, die eine wichtige kulturelle
Brücke zwischen Deutschland und ihren Heimatländern
darstellen.
Die deutsche Wirtschaft lebt ganz entscheidend vom
Export. Dies setzt Präsenz auf allen Weltmärkten voraus.
Sehr viele deutsche Unternehmen entsenden ihre Mitarbeiter ins Ausland, damit sie dort Kunden werben und beraten, Maschinen aufstellen und warten, den Export ausbauen sowie Filialnetze errichten. Für diese Mitarbeiter
der deutschen Wirtschaft ist es entscheidend, dass ihre
Kinder im Ausland eine Schulausbildung nach deutschem
Modell vorfinden, damit sie später ihre Ausbildung in
Deutschland fortsetzen können. So hat eine Untersuchung
des Deutschen Industrie- und Handelstages ergeben, dass
für 95 Prozent der deutschen Unternehmen die Existenz
einer guten deutschen Schule in dem jeweiligen Land von
großer Bedeutung ist, um Entsandtkräfte für eine Tätigkeit in diesem Land zu gewinnen.
Zugleich - und das sollte uns alarmieren - beklagen
86 Prozent der vom Deutschen Industrie- und Handelstag
befragten Unternehmen eine für die Erfüllung ihrer Aufgaben nicht hinreichende finanzielle Ausstattung deutscher Schulen im Ausland. Deshalb hat die Wirtschaftsministerkonferenz auf Initiative Bayerns zu Recht einen
Appell an die Bundesregierung gerichtet, die Qualität und
Funktionsfähigkeit der deutschen Auslandsschulen nicht
durch Kürzungen im Haushalt des Auswärtigen Amtes
weiter zu gefährden, sondern das deutsche Auslandsschulwesen nachhaltig zu stärken und weiter auszubauen.
({2})
Betrachtet man die Entwicklung des Schultitels des
Auswärtigen Amtes seit Regierungsübernahme der rotgrünen Koalition im Jahr 1998, so stellt man fest, dass der
Schultitel im Auswärtigen Amt 1998 noch 193 Millionen Euro betrug. In diesem Jahr ist dieser Ansatz auf
172 Millionen Euro gesunken. Er soll in der mittelfristigen Finanzplanung bis zum Jahr 2004 auf 169 Millionen
Euro zurückgeführt werden. Diese Kürzungen beinhalten
noch nicht die Teuerungsraten in vielen Ländern der Welt
und die Wechselkursschwankungen. Berücksichtigt man
diese Aspekte, so kann man von einer Senkung des Schultitels im Auswärtigen Amt von 30 bis 40 Prozent ausgehen.
({3})
Zu Recht warnen deshalb die deutschen Außenhandelskammern, die Verantwortlichen deutscher Unternehmen
vor Ort, aber auch die Wirtschaft in Deutschland vor der
Gefahr eines Renommeeverlustes deutscher Auslandsschulen gegenüber internationalen Schulen vor Ort. Die
Folgen dieser Einsparungen sind schon heute sichtbar. Sie
äußern sich im Rückgang der Anzahl qualifizierter Entsendelehrer, in Statusverschlechterungen und in der zu
geringen Anzahl deutscher Lehrer. Das Schulgeld hingegen steigt, was zur Folge hat, dass die Zahl der Schüler
zurückgeht. Durch die massive Kürzungspolitik der Bundesrepublik sind die deutschen Auslandsschulen zu einem
Stiefkind der deutschen auswärtigen Kulturpolitik geworden. Dies ist nicht länger hinnehmbar.
({4})
Wir fordern deshalb in unserem Antrag, die weitere
Kürzung des Schultitels zu stoppen und den in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehenen Finanzierungsansatz endlich grundlegend zu korrigieren. Die Bundesregierung muss anerkennen, dass die deutschen
Auslandsschulen einen wesentlichen Beitrag zum Ansehen Deutschlands in der Welt leisten und dass sie einen
legitimen und gesicherten Anspruch auf eine verlässliche
Finanzierung durch Mittel aus dem Bundeshaushalt haben.
({5})
In der mittelfristigen Finanzplanung müssen auch die Folgen berücksichtigt werden, die sich aus Wechselkursschwankungen und der Geldentwertung in den Gastländern ergeben.
Auch im Rahmen der 38. Jahrestagung des Instituts für
deutsche Sprache, die unter dem Thema „Deutsch von
außen“ stand, wurde erst in diesen Tagen mehrfach die
Forderung formuliert, die auswärtige Kulturpolitik solle
ihren Sparkurs beenden und die Anstrengungen des
Goethe-Institutes, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der anderen Mittler, aber auch der deutschen Auslandsschulen zur Verbreitung der deutschen
Sprache und Kultur sowie zum Erhalt der sprachlichen
Vielfalt nach Kräften unterstützen.
Die rot-grüne Bundesregierung beraubt sich mit ihrer
derzeitigen Politik eindeutig eines der vornehmsten Instrumente auswärtiger Kulturpolitik.
({6})
Nicht nur die wiederholte, vollmundig angekündigte Stärkung der auswärtigen Kulturpolitik bleibt weiterhin aus.
Es kommt noch schlimmer: Es werden bestehende, funktionierende Strukturen der auswärtigen Kulturpolitik gerade auch im Bereich des Auslandsschulwesens durch
die vorgenommenen Kürzungen in einem nicht mehr zu
verantwortenden Maße in ihrem Bestand gefährdet. Die
im Bereich der Auslandsschulen stark engagierte deutsche Wirtschaft, die an den Auslandsschulen tätigen Lehrer, aber auch die in den Schulen engagierten Unternehmen und die Elternschaft sind - das liest man in vielen
Berichten und Briefen - über diese Vernachlässigung
durch die Bundesregierung tief enttäuscht.
Die vorgenommenen Kürzungen des Schultitels sind
ferner ein Beleg dafür, dass man die unermüdliche Arbeit
von den in den deutschen Schulvereinen im Ausland arbeitenden Hunderten von ausländischen Partnern und deren freiwilligen, ehrenamtlichen Einsatz für „ihre“ deutsche Schule vor Ort verkennt. Gerade der Einsatz
ausländischer Partner vor Ort ist nicht nur in ideeller, sondern auch in finanzieller Hinsicht ein großes Kapital, das
in keiner anderen im Ausland tätigen deutschen Kulturinstitution vorhanden ist und das nicht leichtfertig aufs Spiel
gesetzt werden darf. Deshalb ist es dringend erforderlich
- auch das fordern wir in unserem Antrag -, dass die Bundesregierung endlich ein Gesamtkonzept für die Entwicklung des deutschen Auslandsschulwesens vorlegt.
({7})
In diesem Konzept muss deutlich werden, welche Rolle
die Auslandsschulen in der auswärtigen Kulturpolitik in
Zukunft spielen sollen. Es muss eine sichere Finanzierungsgrundlage geschaffen werden. Es müssen auch andere Bundesressorts in die Entwicklung eines langfristig
gesicherten Finanzierungskonzeptes einbezogen werden;
denn die finanzielle Sicherung der deutschen Auslandsschulen ist nicht nur eine Aufgabe der auswärtigen Kulturpolitik. Sie ist auch eine Aufgabe der Außenwirtschaftspolitik und der Politik der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit.
({8})
Durch die verminderte personelle Förderung sind die
im Inland und im Ausland anerkannten Bildungsabschlüsse der deutschen Auslandsschulen derzeit stark gefährdet. Unsere Bundesländer setzen in der Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen Kulturhoheit für die
Anerkennung von Abschlüssen von Auslandsschulen zu
Recht eine personelle Mindestausstattung voraus. Aufgrund der fortschreitenden Personalkürzungen wird diese
Ausstattung immer häufiger unterschritten. Wenn in einer
Schule die Bildungsabschlüsse gefährdet sind, sind letztlich ganze Bildungsgänge und ist damit auch die Einrichtung als Ganzes infrage gestellt.
Für die Schulen wirken sich die fortgesetzten Mittelkürzungen verheerend aus. Wenn keine oder nur noch wenig Mittel vorhanden sind, kann man ein einzelnes Projekt
der auswärtigen Kulturpolitik verschieben oder auch gar
nicht realisieren; eine deutsche Auslandsschule aber lässt
sich nicht einfach in einer eingeschränkten Form weiterbetreiben, ohne dass dies auf das Bildungsschicksal von
jungen Menschen gravierend Einfluss nimmt.
({9})
Auch darf das für eine schulische Einrichtung so wichtige
Vertrauen nicht nachhaltig zerstört werden. Die Kürzungen stellen somit auch eine schwere Belastung für die
Vertrauenswürdigkeit deutscher Politik in der Welt dar.
Wenn Sie heute an Schulstandorte im Ausland fahren,
dann merken Sie, wie die deutsche Wirtschaft vor Ort
für diese Schulstandorte engagiert ist.
({10})
Es werden Grundstücke erworben und Investitionen
getätigt. Wenn die deutsche Wirtschaft Vorleistungen vor
Ort erbringt, dann hat sie allerdings auch einen Anspruch
darauf, dass wir durch entsprechende Haushaltszuwendungen die Schulen im Hinblick auf Lehrpersonal, Unterrichtsmaterial und andere Notwendigkeiten ausreichend
ausstatten.
Ich will in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Punkt hinweisen, der auch von den deutschen Universitäten und von der deutschen Hochschullandschaft zu
Recht immer wieder hervorgehoben wird. Wir werben für
Deutschland auch als Hochschulstandort. Viele, die
sich für ein Studium in Deutschland entscheiden, vor
allem ausländische Eliten, die wir für ein Studium in
Deutschland gewinnen wollen, haben ihre ersten Berührungspunkte mit der deutschen Sprache und der deutschen Kultur meist durch den Besuch einer deutschen
Auslandsschule.
({11}): So ist es!)
Wenn aber die Qualität der deutschen Auslandsschulen
durch die Mittelkürzungen sinkt, dann ist es für viele Kinder in den Gastländern nicht mehr interessant, eine deutsche Schule zu besuchen, und dann entscheiden sie sich
für andere internationale Schulen vor Ort. So entstehen
nicht die Bindungen an die deutsche Sprache und Kultur,
die wichtig sind, wenn es darum geht, sich für einen Studienort in Deutschland zu entscheiden.
Die Bundesregierung muss endlich ein Gesamtkonzept
vorlegen. Die Kürzungspolitik muss endlich beendet werden. Auch müssen Partnerschaften neu begründet werden.
Es lässt sich eine Reihe von Synergieeffekten schaffen
- da bin ich mir sicher -, indem wir mit Partnerländern in
der Europäischen Union gemeinsam Infrastruktur bei
deutschen Schulen in der Welt vorhalten. Eine Turnhalle,
eine Schwimmhalle, ein naturwissenschaftlicher Lehrsaal
können sicherlich mit Partnern in der EU vor Ort finanziert werden und auch für Schüler anderer Schulen vor Ort
zur Verfügung gestellt werden.
Wir sollten auch keine Angst davor haben, meine ich,
mit den anderen deutschsprachigen Ländern in Europa
- ich denke an Österreich und an die Schweiz - über Kooperationsmaßnahmen im Hinblick auf deutsche und
deutschsprachige Schulen im Ausland nachzudenken.
({12})
Das Gewurschtel, das „Weiter so!“, das Nichterkennen
dessen, wie durch die Kürzungen Substanzverlust eintritt,
müssen auf alle Fälle beendet werden. Deshalb ist es
wichtig, dass dieses Thema mit unserem Antrag auf die
Tagesordnung des Deutschen Bundestags gesetzt wurde.
Sie als Regierung sind gezwungen, jetzt endlich einmal
ein langfristiges und auch durchfinanziertes Konzept in
dieser Frage vorzulegen.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kollegin Rita Grießhaber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Auslandsschulen sind in der Tat ein wichtiger Teil der auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik. Sie ermöglichen nicht nur
deutschen Kindern im Ausland, einen deutschen Schulabschluss zu machen, sondern auch Kindern und Jugendlichen der Gastländer Zugang zu unserem Bildungssystem, zur deutschen Sprache und zu unserer Kultur. Als
Stätten der Begegnung wirken sie weit in die jeweiligen
Gesellschaften hinein. Mit der Konzeption 2000 hat die
Bundesregierung ein Konzept vorgelegt, von dem Sie,
Herr Kollege Koschyk, anscheinend noch nichts gehört
haben. Ich empfehle es Ihnen zur Lektüre.
({0})
Die Auslandsschulen sind eines unserer wichtigsten Instrumente, um den Dialog zwischen den Kulturen zu befördern. Fast ein Drittel des Gesamtbudgets für die auswärtige Kulturpolitik ist für die Auslandsschulen
bestimmt. Natürlich mussten auch die Schulen unter der
notwendigen Haushaltskonsolidierung leiden. Dass ausgerechnet Investitionen in die junge Generation und ihre
Bildung dem Sparzwang unterworfen sind, schmerzt.
Nicht zuletzt deswegen haben wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens im Haushalt den Titel für die
Auslandsschulen aufgestockt, und zwar um 5 Millionen
Euro. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis.
({1})
Auch für die deutsche Wirtschaft sind die Auslandsschulen wichtig: Sie werden zum einen von mehr als
10 000 Kindern deutscher Unternehmensvertreter besucht. Zum anderen sind ortsansässige Schülerinnen und
Schüler, die deutsche Auslandsschulen besucht haben, potenzielle zweisprachige Arbeitskräfte, auf die sehr gerne
zurückgegriffen wird. Dass sich auch die Wirtschaft zunehmend für die Schulen engagiert, ist sehr zu begrüßen;
daran ist nichts auszusetzen.
Es ist klar, dass die wirtschaftliche Situation der Schulen je nach Standort variiert: Die deutsche Schule in
Schanghai zum Beispiel finanziert sich zu 90 Prozent
selbst. Vergessen Sie nicht, Kollege Koschyk, Großbritannien und die USA subventionieren ihre Schulen im
Ausland überhaupt nicht.
({2})
Natürlich hat die Weltsprache Englisch sozusagen die
Poleposition. Das heißt aber doch nicht, dass bei uns alles
zu teuer wäre. Mein Sohn war auf der deutschen Schule in
Barcelona. Das Schulgeld lag dort niedriger als in einer
bayerischen Ganztagsschule. Dort zahlt man für diese
mehr, weil es dort keine öffentlichen Ganztagsschulen
gibt.
({3})
- Nein, das war in den letzten zwei Jahren.
Aber auch wir haben bei den Schulen Effizienzgewinne erzielt. Die so genannten Euro-Campus-Schulen,
zum Beispiel in Manila, Pretoria und Taipeh, sind richtungsweisend. Ich wünsche mir, dass dieses Beispiel auch
weiterhin Schule macht.
({4})
Sie sind nicht nur Ausdruck sparsamen Wirtschaftens, sondern auch höchstgelungener europäischer Kooperation.
Meine Damen und Herren, Bürokratie ist aufwendig
und kostet Geld.
({5})
Deswegen war es richtig, deutsche Schulliegenschaften
an örtliche Träger und Schulvereine zu verkaufen, um weniger bürokratisch und kostengünstiger zu wirtschaften.
Das Beispiel der deutschen Schule in Budapest zeigt, dass
das sehr gut funktioniert.
Ganz besonders freut mich, dass das Auswärtige Amt
in Afghanistan die Armani-Schule und das
Mädchengymnasium aktiv fördert, dass ein Schulneubau
bereits projektiert ist und Fachberater für Deutsch als
Fremdsprache entsandt sind. Für mich zeigt sich hier, wie
mithilfe der auswärtigen Kulturpolitik Wiederaufbau,
Bildung und Dialog befördert werden, gerade in einem
Land, das nicht nur unter materieller Not, sondern auch
unter Indoktrination extrem gelitten hat. Deswegen wünsche ich allen, aber ganz besonders diesen Schulen, dass
sie vielen Kindern eine gute Zukunftsperspektive eröffnen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort
hat der Kollege Hirche, FDP-Fraktion. Für den Beifall
braucht er allerdings gleich ein wenig Solidarität der anderen Fraktionen.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es kann ja wohl kein Zweifel sein, dass beim
Thema Auslandsschulen in diesem Hause eine breite
Übereinstimmung herrscht. Es ist von den Vorrednern
schon aufgezeigt worden: Diese Schulen sind unter kulturpolitischen Gesichtspunkten - es handelt sich hierbei
um die dritte Säule der deutschen Außenpolitik - und unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten nützlich, und
zwar sowohl für die Kinder von Deutschen, die in verschiedenen Teilen der Welt tätig sind, wie auch insbesondere für Kinder aus den Ländern, in denen sich diese
Schulen befinden.
Diese Schulen sind - da schließe ich mich meinen Vorrednern vollständig an - eine Brücke zwischen den Kulturen. Man kann in diesem Zusammenhang sogar sagen:
Die Sprache des jeweiligen Landes ist nicht nur Zweitsprache; vielmehr werden zwei Sprachen gelernt. Die Jugendlichen bewegen sich in zwei Welten. Da eine große
Zahl der Absolventen dieser Schulen auch nach Deutschland kommt, stellen diese Schulen eine besondere Brücke
auf dem Gebiet des seit einiger Zeit schwerer gewordenen
Dialogs der Kulturen dar.
Wir können deswegen nur gemeinsam dazu beitragen,
diese Auslandsschulen so intensiv wie möglich als ein
Element vertrauensbildender Maßnahmen durch auswärtige Kulturpolitik zu unterstützen. Diese Schulen sind
Elemente eines Netzes vertrauensbildender Maßnahmen.
Ich benutze diese Worte bewusst, weil gerade zu dieser
Stunde nebenan eine große Feier zu Ehren des langjährigen Außenministers der Bundesrepublik Deutschland
Hans-Dietrich Genscher stattfindet, für den die Kulturpolitik immer eine große Rolle gespielt hat.
In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Bemerkungen - die eine zum Inhaltlichen und die andere zum
Finanziellen - machen:
Ich begrüße es zunächst einmal, dass die Überlegungen
zum Inhaltlichen doch weiter gegangen sind, als es vor einem Jahr der Fall zu sein schien. Da schien es nämlich so
zu sein, dass aufgrund der knapper werdenden Mittel die
Entsendung der Auslandsschullehrer an die verschiedenen Schulen gefährdet ist, mit der Folge, dass dadurch
die Prüfungen dieser Schulen möglicherweise nicht mehr
anerkannt worden wären. Das galt zwar nicht für die Sekundarstufe II - diesbezüglich hat man das nicht diskutiert -, aber für die Sekundarstufe I, wo die Zahl der Auslandsdienstkräfte von fünf auf zwei herabgesetzt werden
sollte.
Wie ich mir habe sagen lassen, ist dieses Vorhaben inzwischen durch ein neues Konzept abgewendet worden,
das ich grundsätzlich für richtig halte; denn es geht jetzt
nicht darum, die Qualität eines Abschlusses daran zu messen, ob an einer Schule wirklich fünf Lehrer aus Deutschland tätig sind. Vielmehr geht es darum, festzustellen, ob
bestimmte Normen, bestimmte Qualitäten mit fünf, möglicherweise aber auch mit weniger Lehrern aus Deutschland erreicht werden können. Das ist insgesamt ein guter
Weg. Wichtig ist eben, dass die Qualität erhalten und die
Anerkennung der Abschlüsse trotz der schwierigen Finanzlage gesichert bleiben.
In diesem Zusammenhang scheint es mir manchmal so
zu sein - das möchte ich doch kritisch anmerken -, dass
die deutsche Bürokratie eine erschreckende Gründlichkeit, was die Behandlung der Auslandsschulen angeht, an
den Tag legt. Es gibt den Bund-Länder-Ausschuss für
schulische Arbeit im Ausland und die Zentralstelle für das
Auslandsschulwesen im Bundesverwaltungsamt. All die
Vorschriften, die von diesen Einrichtungen erlassen werden, zwicken die Schulen im Ausland sehr. Manchmal
sollten wir angesichts der schlechten Finanzlage schon
über eine bessere Politik mit weniger Genehmigungen
und mehr Zutrauen in die pädagogische Arbeit vor Ort
nachdenken.
Sie können ganz sicher sein - das sage ich auch der
Bundesregierung -, dass diese Schulen, insbesondere wegen der aktiven Mitwirkung der Eltern, ein Interesse daran haben, dass ihre Examina auch in Deutschland gelten.
Schon jetzt ist die Situation folgendermaßen: Bestimmte
Examina gelten in anderen Ländern der Welt ohne weiteres; nur wir in Deutschland meinen, diese Examina nicht
anerkennen zu müssen. Ich halte das wirklich für einen
falschen Weg. Da müssen wir uns allerdings alle an die eigene Nase fassen.
({0})
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum Thema Finanzen machen. Es ist schon so - das weiß ja auch die Regierung -, dass die heutige Finanzausstattung der Auslandsschulen real derjenigen von 1991 entspricht. Das
heißt, dass die Zuwachsraten, die zwischen 1991 und
1998 vorhanden waren, zurückgeführt worden sind. Man
muss auch sagen: Allgemeine Finanzknappheit hin und
her - das ist jetzt nicht das Thema -, die Bundesregierung
hat entschieden, dass das Auswärtige Amt insgesamt zusätzliches Geld zur Verfügung hat. Das heißt: Der Etat ist
um einen bestimmten Prozentsatz gewachsen. Doch trotz
aller Bedeutung der auswärtigen Kulturpolitik hat man
Mittel für die Auslandsschulen gestrichen. Das, verehrte
Kollegin Grießhaber, halte ich nicht für richtig. Denn
wenn das, was Sie gesagt haben, inhaltlich richtig ist,
dann müsste diese Bundesregierung im Rahmen der ihr
zusätzlich zur Verfügung stehenden Mittel im Auswärtigen Amt auch für die auswärtige Kulturpolitik mehr tun,
als es im Augenblick der Fall ist. Ich bedaure, dass die Akzente hier falsch gesetzt worden sind, und glaube, dass das
ein Sparen am falschen Platz ist. Das haben auch die deutschen Industrie- und Handelskammern gesagt.
Richtig ist, dass verschiedene Projekte in Angriff genommen werden. Die neue Schule, die jetzt in Budapest
gebaut wird, war ursprünglich mit 19 Millionen Euro veranschlagt. Die Kosten sind jetzt durch Eigenarbeit vor Ort
auf 11 Millionen Euro reduziert worden.
({1})
Das ist für verschiedene Schulen ein Beispiel dafür, wie
die Dinge durch Engagement von Eltern und Lehrern in
die Hand genommen werden können.
Aber das sollte für uns nicht eine Ausflucht vor der
nach wie vor notwendigen Unterstützung dieses Bereichs
der auswärtigen Kulturpolitik durch hoffentlich den
ganzen Deutschen Bundestag sein. Ich erbitte jedenfalls
namens meiner Fraktion Ihre Unterstützung dafür. Wir
werden dem Antrag, den die CDU/CSU hier eingebracht
hat, selbstverständlich zustimmen. Nach dem, was ich
von Frau Grießhaber gehört habe, hoffe ich, dass das zumindest auch die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
tut. Vielleicht wird auch Herr Mark seine Zustimmung
signalisieren.
Vielen Dank.
({2})
Das werden
wir jetzt von dem Kollegen Lothar Mark selber hören. Er
spricht für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Vorredner haben jeweils viel
Zutreffendes gesagt, vieles, was unterstützt werden kann.
Insbesondere möchte ich Herrn Hirche beipflichten, der
Aussagen über die Bürokratie getroffen hat, die vielen
Entwicklungsprozessen entgegensteht. Aber auch die
Kollegin Grießhaber und der Kollege Koschyk haben vieles gesagt, was ich unterstreichen kann.
Es gab jedoch auch einige Elemente, die ich nicht teile.
Zunächst einmal denke ich, dass Sparen im gesamten
Haushalt angebracht ist
({0})
und dass auch der Schulsektor nicht ausgenommen werden darf, es sei denn, man würde durch das Sparen Strukturen vor Ort zerstören. Dies ist nicht der Fall. Die Auslandsschulen, zumindest soweit ich sie kenne, sind in
einem sehr guten Zustand. Aber man muss dazu sagen,
dass wir uns allmählich doch überlegen müssen, ob noch
weitere Kürzungen vorgenommen werden dürfen.
Zu sagen, Herr Hirche, man würde die Probleme allein
mit mehr Geld lösen, ist mit Sicherheit unzutreffend;
({1})
denn es kommt immer darauf an, wie man diese Gelder
einsetzt.
({2})
Diejenigen, die im Haushaltsausschuss sind, wissen,
dass wir immer mehr dazu übergehen, mehr Eigenverantwortung zu verlangen. Das heißt, Fördern ja, aber von
dem Partner muss auch etwas gefordert werden. Eigenverantwortung heißt meiner Überzeugung nach zum Beispiel, dass wir immer mehr zur Budgetverantwortung
übergehen müssen. Das bedeutet, dass Schulen auch für
zusätzliche Akquisitionen von Finanzierungsquellen zuständig sein müssen. Es wurde bereits angesprochen, dass
sich die Wirtschaft engagiert. Dieses Engagement ist mit
Sicherheit zu vermehren. Es geht aber auch darum, dass
in dem jeweiligen Betrieb Mittel eingespart werden. Ich
könnte dazu sehr vieles sagen, weil ich viele Jahre an verantwortlicher Stelle in einem Schulbetrieb war. Es ist
unabdingbar, dass wir die Haushaltsprinzipien, die
ansonsten in fast allen fortschrittlichen Gemeinden der
Bundesrepublik praktiziert werden, auch in diesem Bereich anwenden, indem wir zum Beispiel die gegenseitige
Deckungsfähigkeit herbeiführen und veranlassen, dass
die Mittel in das nächste Jahr übertragen werden können,
damit nicht mehr das Oktober-, November- oder Dezemberfieber ausbricht und alle vorhandenen Mittel ausgegeben werden. Diese Diskussion muss auch mit den Verantwortlichen geführt werden.
Ich weise ferner darauf hin, dass der verstärkte Einsatz
von Ortslehrkräften weiter geprüft werden muss. In diesem Zusammenhang bin ich für Ihre Hinweise dankbar,
Herr Hirche. Es kann nämlich nicht sein, dass gesagt wird,
nur deutsche Lehrkräfte seien in der Lage, die Schulen mit
dem entsprechenden Flair und Wissen zu versorgen. Dies
können auch die Lehrkräfte vor Ort, wenn sie eine adäquate Ausbildung haben und sich pädagogisch so einbringen, wie wir uns das wünschen.
Wir müssen die Auslandsschulen stärker in die Netzwerke einbinden und diese Netzwerke ausbauen. Wir können dadurch wesentlich größere Spar- und Synergieeffekte
erzielen. Es ist auch schon mehrfach darauf hingewiesen
worden, dass wir im europäischen Kontext stärker zusammenarbeiten müssen. Ich erwähne die deutsch-französische Schule in Manila und die deutsch-britisch-französische Schule in Taipeh. Ich bin ferner der Auffassung, dass
wir im gesamten Auslandsschulwesen auch mit Österreich
und der Schweiz stärker kooperieren sollten.
({3})
Die Bundesregierung hat insgesamt erkannt, dass in
der auswärtigen Kulturpolitik neue Wege beschritten werden müssen. Dies rechtfertigt nach unserer Auffassung
auch maß- und sinnvolle Einsparungen. Die Zeiten der
Kulturförderung mit der Gießkanne, wie es sie zum Teil
gegeben hat, sind aufgrund der angespannten Haushaltslage längst vorbei. Wir müssen eine neue strategische
Ausrichtung vornehmen. Ich weise ausdrücklich darauf
hin, dass ich darin auch Chancen sehe. Wenn besondere
Umstände vorliegen, müssen wir Einzelfallprüfungen
vornehmen, um entscheiden zu können, wo etwas eingespart werden kann.
Es ist unbestritten - das ist eine Erkenntnis, die sich aus
den Ereignissen des 11. September ergeben hat -, dass wir
uns, langfristig gesehen, über den Mitteleinsatz in der auswärtigen Kulturpolitik verständigen und dass wir uns verstärkt dafür einsetzen müssen, die Mittel signifikant zu erhöhen.
Wir müssen bei der Betrachtung der Schulen eines feststellen - ich verweise in diesem Zusammenhang auf die
Kritiker, die pauschal behaupten, die Auslandsschulen
würden schlecht dastehen -: Genauso wie in der Bundesrepublik selbst gibt es auch im Ausland auf der einen Seite
Schulen, die gut und auf der anderen Seite welche, die weniger gut ausgestattet sind. Wenn man aber genau hinschaut, dann sieht man - das wissen unsere Kommunalpolitiker -, dass die Probleme oft bei der Schulleitung und
nicht beim Geldgeber liegen.
({4})
Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion unterstreicht die
eben skizzierte Bedeutung des Auslandsschulwesens. Im
Wesentlichen enthält der Antrag Vorschläge, die schon
vom Auswärtigen Amt angedacht, bereits umgesetzt sind
oder umgesetzt werden. Ich nenne beispielsweise die stärkere Kooperation mit den Gastländern, die Nutzung von
Synergieeffekten vor Ort, die Qualifizierung von Ortslehrkräften und Werbung für den Studienstandort
Deutschland.
({5})
Gleichwohl enthält er einige überlegenswerte Anregungen - zum Beispiel steuerliche Anreize für zusätzliches
privates Engagement, jährliche Grundfinanzierung und
stärkere Differenzierung der Besoldung nach Ländern -,
die meiner Ansicht nach weitergedacht werden sollten.
Trotzdem ist der Antrag der Union - ich bedauere dies
sehr - stellenweise einseitig ausgerichtet und widersprüchlich.
({6})
Ich will kurz einen Widerspruch aufzeigen: Es kann
doch nicht sein, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, in Ihrem Antrag einerseits von den
deutschen Auslandsschulen fordern, „den deutschen Unternehmen im Ausland qualifizierte, sprachkundige und
bikulturell ausgebildete Mitarbeiter zu vermitteln, die
auch die wirtschaftlichen Beziehungen durch emotionale
Bedingungen zu Deutschland zeitlebens fördern werden“,
und andererseits die Regelung im Zuwanderungsgesetz,
für ausländische Studierende in Deutschland die Arbeitsmöglichkeiten sowohl während des Studiums als auch
nach dem Studium zu erleichtern, ablehnen. Dies ist ein
Widerspruch.
Entgegen dem Grundton Ihres Antrags ist mein Fazit
bezüglich der Zukunft des deutschen Auslandsschulwesens optimistisch. Es wird darum gehen, flexiblere und
effizientere Strukturen zu schaffen und mehr Eigenverantwortung in allen Belangen zu fördern. Den Schulvereinen, die Erhebliches leisten, muss die notwendige Anerkennung zukommen. Mein Dank gilt allen, die im
Auslandsschulwesen unterrichten und die sich vor Ort engagieren.
({7})
Deutsche Schulen im Ausland sind ein demokratisch
und werteorientiertes Aushängeschild für Deutschland für unsere Kultur und unsere Geschichte, aber auch für
unsere Politik und Gesellschaft.
({8})
Sie erfüllen einerseits einen immer wichtiger werdenden
Bildungs- und Ausbildungsauftrag und sind andererseits
unverzichtbare Kulturvermittler und Begegnungsorte.
Unser politisches und haushälterisches Engagement
für die Auslandsschulen darf nicht nachlassen und bedarf
unserer besonderen Zuwendung. Investitionen in die Bildung und somit in unsere Köpfe sind Zukunftsinvestitionen mit rentierlicher, nachhaltiger Wirkung. Dies trifft
ganz besonders für die deutschen Auslandsschulen zu.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Als letzter
Redner in dieser Debatte erhält der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Ludger Volmer, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schulen kommt auf dem Weg in die globale Wissensgesellschaft naturgemäß eine entscheidende Rolle zu: Sie
vermitteln interkulturelle Kompetenz. Diese ist für junge
Menschen wichtiger denn je. Die deutschen Auslandsschulen sind heute in besonderer Weise dazu aufgerufen
wie geeignet, Schülerinnen und Schüler verschiedener
Kulturkreise auf eine gemeinsame friedliche Zukunft vorzubereiten.
Ein leistungs- und konkurrenzfähiges Auslandsschulwesen bleibt daher essenzielles Element der so genannten
Konzeption 2000, in der die Ziele und Perspektiven der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik als integraler
Bestandteil deutscher Außenpolitik definiert sind. Die auf
einer fraktionsübergreifenden Entschließung des Bundestages von 1990 beruhenden und vom Auswärtigen Amt in
der „Konzeption 2000“ neu formulierten Leitlinien des
Auslandsschulwesens haben sich bewährt. Diese sind die
Begegnung mit Gesellschaft und Kultur des Gastlandes,
die Sicherung und der Ausbau der Schulversorgung deutscher Kinder im Ausland und die Förderung des Deutschunterrichts im ausländischen Schulwesen.
Qualität und Substanz des deutschen Auslandsschulwesens sind weltweit anerkannt. Vielleicht hätte eine
PISA-Studie unter Einbeziehung der Auslandsschulen andere Ergebnisse gezeigt. Werte wie Interkulturalität, Erziehung zu Toleranz, Dialog, Weltoffenheit, Austausch
und Begegnung prägen diese Schulen. Dies verdanken
wir auch dem großen Engagement der Lehrerinnen und
Lehrer, die dort unter vielerorts schwierigen Bedingungen
ihren Dienst tun und die unseren Dank verdienen.
({0})
Heute lernen an 117 Auslandsschulen 70 000 Schülerinnen und Schüler, davon 53 000 nicht deutscher Nationalität. Über Lehrerentsendeprogramme, vornehmlich in
die Länder Mittel- und Osteuropas und der GUS, werden
weitere 180 000 Schülerinnen und Schüler an 370 staatlichen Schulen erreicht. Weltweit besuchen somit 250 000
Schülerinnen und Schüler unsere Auslandsschulen. Als
Träger und Vermittler deutscher Kultur und Sprache sind
sie für einheimische Schülerinnen und Schüler ebenso attraktiv wie für deutsche Kinder oder Kinder aus dritten
Ländern.
Nachhaltigkeit ist Trumpf des Auslandsschulwesens.
Viele Absolventinnen und Absolventen besuchen nach
dem Abschluss eine deutsche Universität und bleiben unserem Land auch im Berufsleben verbunden. So entstehen
Netzwerke, auf die sich Außenpolitik, Außenwirtschaft
und Kulturarbeit langfristig stützen können. Bei meinen
Reisen treffe ich immer wieder auf Regierungsmitglieder,
Wissenschaftler, Journalisten oder andere Intellektuelle,
die an deutschen Auslandsschulen ausgebildet wurden.
Gute Schulen kosten leider gutes Geld. Heute sind
Auslandsschulen nicht mehr staatlich, sondern werden
von privaten Trägervereinen in eigener Verantwortung geführt. Deren Eigenleistungen, personell wie materiell,
können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das hohe
Ansehen unserer Schulen verdanken wir insbesondere der
ehrenamtlichen Arbeit der Vorstandsmitglieder und der
aktiven Beteiligung der Eltern in den jeweiligen Schulen.
An dieser Stelle sollten wir auch diesen Personengruppen
herzlich für ihr Engagement danken.
({1})
Die Bundesregierung unterstützt die Schulträger ergänzend, materiell wie personell. Von den Maßnahmen
zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes bleiben die
Auslandsschulen aber leider nicht ausgenommen. Nach
sorgfältiger Einzelprüfung haben wir die Förderung den
Sparbeschlüssen angepasst. Die Schulträger wie auch die
Lehrer selbst haben in diesem Prozess durch ihre Kooperationsbereitschaft zur Zukunftsfähigkeit der deutschen
Auslandsschulen beigetragen. Die Absenkung des Budgets 2002 konnte geringer gehalten werden als zunächst
befürchtet. Mit 175 Millionen Euro unterstützt die Bundesregierung im Jahr 2002 unverändert 117 Schulen.
({2})
Interne Umstrukturierungen werden Qualität und Substanz des Unterrichts sichern. Schließungen konnten ganz
vermieden werden. Abschlüsse und Berechtigungen - ein
wichtiger Faktor - sind an allen Standorten gesichert.
({3})
Die Zahl vermittelter Lehrer lässt sich halten; Stipendien
und Ermäßigungen, die auch Kindern aus sozial
schwächeren Familien den Schulbesuch ermöglichen, bestehen weiter. Von einer Ausdünnung des Schulnetzes
kann keine Rede sein.
({4})
Auf ergänzende Finanzierungsmöglichkeiten wie
Sponsoring und Spenden der Wirtschaft sind die Schulen
gleichwohl in Zukunft verstärkt angewiesen. Die Bundesregierung begrüßt die Unterstützung der Schulen durch
die Industrie und sucht den Dialog mit der Wirtschaft.
Die deutschen Unternehmen können für ihre Mitarbeiter
in aller Welt weiterhin auf ein umfassendes Netz an Schulen zählen. Da die Entwicklung von Auslandsschulen naturgemäß eng verbunden ist mit der Präsenz deutscher
Unternehmen, haben der Wirtschaftsaufschwung im asiatisch-pazifischen Raum und die Öffnung der Staaten
Mittel- und Osteuropas sowie der GUS zur Neueröffnung
von 18 Schulen geführt, zum Beispiel in Peking, Schanghai, Taipeh, Prag und Budapest. Die Gemeinsamkeiten
der Interessen von Politik und Wirtschaft wurden auch in
der intensiven Beteiligung der Verbände an der vom Auswärtigen Amt durchgeführten „Woche des Auslandsschulwesens“ im letzten Jahr in Berlin deutlich. Bei der
im April in Mexiko stattfindenden Weltkonferenz der
Auslandsschulen soll es zur Gründung eines Weltverbandes der Auslandsschulen kommen.
Einen Dank sollten wir auch den Bundesländern aussprechen. Das Auslandsschulwesen ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern, die die Lehrkräfte entsenden und die Abschlüsse vergeben. Die gute
Kooperation mit den Ländern bleibt für die Bundesregierung ein wichtiges Anliegen.
Lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Trotz der
Zeit der Haushaltskonsolidierung werden wir alles daransetzen, das Auslandsschulwesen weiter innovativ und
global wettbewerbsfähig zu halten und Synergien im nationalen wie europäischen Raum zu nutzen. Der Begegnungscharakter der Schulen wird weiter verstärkt, die
Einführung internationaler Abschlüsse und berufsbildender Zweige vorangebracht. Austauschprogramme und das
Modell der Eurocampus-Schulen werden ausgebaut. Die
Einrichtung weiterer europäischer Schulen gehört ebenfalls zu den Aufgaben für die nahe Zukunft. Die Bundesregierung wird sich - natürlich im Rahmen der engen finanziellen Möglichkeiten - dafür einsetzen, dass die
personelle und finanzielle Ausstattung den großen Aufgaben angemessen ist.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 14/8106 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 23:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform der Juristenausbildung
- Drucksache 14/7176 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke,
Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung
({1})
- Drucksache 14/2666 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der
Bundesrechtsanwaltsordnung
- Drucksache 14/7463 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 14/8629 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Hans-Christian Ströbele
Sabine Jünger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin das Wort für die Bundesregierung der Bundesjustizministerin, Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Ich freue mich natürlich sehr, dass es heute möglich ist,
das Gesetz zur Reform der Juristenausbildung zu beschließen. Auch dies ist ein Markstein in der Justizpolitik,
in der Modernisierung von Recht und Gesetz der vergangenen dreieinhalb Jahre. Wenn Sie ehrlich sind, müssen
Sie dies zugeben. Denn nicht nur in der Öffentlichkeit
wurde daran gezweifelt, dass dies möglich sein würde;
viele Kolleginnen und Kollegen, sowohl hier im Bundestag als auch in den Länderparlamenten, waren derselben
Auffassung.
Dafür gibt es auch einen Grund: In den letzten 25 Jahren ist viel über die Reform der Juristenausbildung diskutiert worden. Unzählige Kongresse sind abgehalten worden. Ich weiß, dass mein verehrter Vorgänger auf einem
großen Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung für seine
Version geworben hat. Es gibt das „Ladenburger Manifest“. Es gibt die unterschiedlichsten Vorstellungen der
verschiedenen Gremien, der Hochschulen und Fakultäten.
Sie alle hatten nur einen Haken: Sie waren nicht miteinander kompatibel. Dies hat dafür gesorgt, dass die einzelnen Vorschläge zwar immer weiter diskutiert wurden,
eine Einigung aber nicht möglich war.
Ich erinnere daran, dass es zu Beginn dieser Legislaturperiode auch noch nicht besonders gut aussah. Wir haben damals im Kreis der Justizminister des Bundes und
der Länder darüber beraten, ob wir nicht doch eine Möglichkeit finden könnten, einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu erstellen, der nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner basiert, sondern wirklich den Anforderungen
an eine Modernisierung genügt, und diesen dann zu beschließen.
Der erste Versuch ist völlig schief gegangen; man kann
es nicht anders sagen. Es gab aber - lassen Sie mich jetzt
auch ein Lob aussprechen - einige Justizministerinnen
und Justizminister, die sich unter der Leitung des nordrhein-westfälischen Justizministers Dieckmann zusammengesetzt und gesagt haben: Wir wollen einmal versuchen, hier etwas auf den Weg zu bringen. Dies ist
geschehen, und zwar über die Parteigrenzen hinweg. Das
finde ich ausgesprochen gut.
Was mich aber noch mehr freut, ist, dass auch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in der Lage
waren, zu sagen, was sie wollen, aufeinander zugegangen
sind und einen Entwurf vorgelegt haben. Ich höre, dass
sich nach sehr gründlichen Überlegungen nun auch eine
große Partei der Opposition auf diesen Gesetzentwurf zubewegt hat. Das freut mich. Ich finde es gut, dass dieser
Entwurf mit einer breiten Mehrheit beschlossen werden
kann. Dass Sie, sehr geehrter Herr Funke, nicht dabei sein
können, bedaure ich zutiefst. Ich weiß, auch Sie tun das.
Was machen wir denn? Wir einigen uns nicht etwa auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner - das habe ich schon
gesagt -, sondern auf folgende Punkte:
Erstens. Es bleibt bei der zweistufigen Juristenausbildung, also schwerpunktmäßig bei der wissenschaftlichen
Ausbildung und bei dem praktischen Vorbereitungsdienst.
Es bleibt auch beim Einheitsjuristen; dies war uns wichtig.
Die jungen Juristinnen und Juristen sollen auch weiterhin
die Möglichkeit haben, mit dem zweiten juristischen
Staatsexamen in unterschiedlichsten Bereichen tätig sein
zu können. Wir haben aber dafür gesorgt, dass das, was
jetzt angesichts der Schaffung des gemeinsamen Raumes
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa auf
der Basis der gemeinsamen Europäischen GrundrechteCharta möglich werden soll, nämlich eine viel stärkere
Vernetzung unserer Werte und des Rechts, auch mithilfe
der jungen Juristinnen und Juristen erfolgen kann. Wir haben die Ausbildung sehr viel stärker auf die Internationalisierung zugeschnitten und unter anderem verankert, dass
die Fremdsprachenkompetenz ein absolutes Muss ist.
Zweitens haben wir die bisherige reine Ausrichtung
der Ausbildung auf eine spätere richterliche Tätigkeit etwas verändert, weil dies der praktischen Notwendigkeit
entspricht. Sehr viele junge Juristinnen und Juristen werden eben nicht nur als Richter, in der Wirtschaft oder in
anderen juristischen Berufen, sondern auch als Anwältinnen und Anwälte tätig sein. Dies erfordert aber auch, dass
sich die Anwaltschaft sehr viel stärker als bisher in die
Ausbildung, und zwar insbesondere im praktischen Teil,
einbringt. Wenn es nach mir ginge, würde sie auch einen
entsprechenden Vorschlag seitens der Universitäten annehmen.
Drittens. Wir sind der Meinung, dass gerade Juristinnen und Juristen, die in der Zukunft bestehen und ihre
Verantwortung und Verpflichtung wahrnehmen wollen,
interdisziplinäre Schlüsselqualifikationen benötigen.
Lassen Sie mich einige nennen: Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik und Streitschlichtung.
Mediations- und Kommunikationsfähigkeiten sollten
hinzukommen. Dies sollte auch im Rahmen der Universitätsausbildung gelehrt werden.
Die Universität wird - lassen Sie mich darauf hinweisen - ihren Verantwortungsbereich stärker wahrnehmen
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
müssen. Sie muss auf der einen Seite für eine Verschlankung des Stoffangebotes sorgen und hat auf der anderen
Seite dafür zu sorgen - das mag manchmal die Quadratur
des Kreises sein -, dass die jungen Juristinnen und Juristen das lernen, was sie tatsächlich brauchen. Das heißt,
Grundsatzfächer wie Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte können nicht gestrichen werden; das ist keine
Frage. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass moderne Schlüsselqualifikationen gelehrt werden. Wir stärken die Verantwortung der Universitäten dadurch, dass
wir 30 Prozent der Prüfungsverantwortung auf die Ebene
der Universitäten übertragen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deutlich
machen, was uns auch sehr wichtig war: die Verbesserung der sozialen Kompetenz, insbesondere bezogen
auf den Beruf der Richterin bzw. des Richters. Das schadet zwar auch Juristen in anderen Tätigkeiten nicht. Aber
Voraussetzung einer Justiz, die im Namen des Volkes
Recht spricht und dabei verständlich sein soll, muss natürlich sein, dass ihre Richterinnen und Richter wissen, wovon sie sprechen, dass sie Erfahrungen haben und diese
Erfahrungen auf den Bereich der sozialen Kompetenz
übertragen. Juristen werden einwenden, ob man das habe
oder nicht, könne man nicht sagen. Die einen hätten es,
die anderen nicht. Wir alle wissen: So etwas kann man
lernen. Man kann es entweder durch Tätigkeiten in anderen Bereichen oder durch Lebens- und Berufserfahrung in
anderen Zusammenhängen, die ich nicht näher ansprechen will, erfahren. All dies muss neben der fachlich unbestrittenen Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber zum Richteramt vorliegen.
Ich habe meine Rede damit begonnen, dass ich sagte,
dass wieder ein wirklicher Markstein der Modernisierung
gesetzt worden sei. Wir können den vorliegenden Gesetzentwurf hier im Bundestag mit breiter Mehrheit verabschieden. Es sieht so aus, als sei das auch im Bundesrat
möglich. Ich freue mich darüber und bedanke mich bei allen, die hierzu im Bundesrat und im Bundestag mitgeholfen haben, und nicht zuletzt bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern im Bundesministerium der Justiz.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf eines Gesetzes zur Juristenausbildung, den wir heute verabschieden werden, ist ein der Sache nach gemeinsamer
Entwurf der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU auf
Bundes- und Landesebene. Die Frau Ministerin hat gerade einige positive Elemente dieses Gesetzentwurfes
aufgelistet; ich werde gleich auf den konkreten Fortschritt
eingehen.
Vorab möchte ich diese Liste um ein Element ergänzen.
Ich stimme zu: Heute wird ein konkreter Fortschritt beschlossen. Damit ist die Erkenntnis verbunden, dass es ein
struktureller Beitrag zur Gesetzesoptimierung ist, wenn
man die CDU/CSU auf Bundes- und Länderebene offen
an der Gesetzgebung beteiligt.
({0})
Insofern bin ich in Bezug auf den Herbst dieses Jahres
sehr positiv eingestellt. Diese Erkenntnis ist sehr ermutigend. Wir können den Bürgern, mit Ihrem Lob und Ihrem
Testat versehen, zeigen, dass CDU und CSU für gute Gesetze stehen. Ich glaube, das Vorliegende ist dafür ein
gutes Beispiel.
Nun zu konkreten Punkten des vorliegenden Gesetzentwurfes. Alle diejenigen, die die bisherige End- und
Folgenlosigkeit der Debatte über die Misere der Juristenausbildung kennen und erlitten haben - das sind wir alle
in der kleinen Gemeinde, die sich mit diesem Thema hier
im Parlament beschäftigt hat; manche haben das sehr viel
länger getan als ich -, wissen den konkreten Fortschritt,
der heute erzielt worden ist, zu schätzen. Es geht nur in
pragmatischen Schritten voran. Heute - dies können wir
den Universitäten, den Studierenden und den Professoren,
mitteilen - werden pragmatische Schritte beschlossen.
Ich möchte drei zentrale Punkte hervorheben, die wir
als die Kernelemente dieses Gesetzentwurfes ansehen.
Der erste und wichtigste Punkt ist, dass mit diesem Gesetz das Studium in einem erheblichen Umfang und mit
einem substanziellen Gehalt zurück an die Universität gebracht wird. - Ich glaube, das ist die entscheidende Veränderung der letzten Jahrzehnte; man kann hier sogar von
noch größeren Dimensionen reden. - Denn es wird eine
Universitätsprüfung im Umfang von 30 Prozent geben;
70 Prozent wird die staatliche Prüfung ausmachen.
Wir sind davon überzeugt, dass das die akademische
Qualität des Studiums verbessern wird. Derjenige, der
prüft, hat auch gelehrt und derjenige, der lehrt, prüft. Dieser neue und ganz entscheidende Zusammenhang wird
hergestellt. Es gibt eine neue Verantwortung der Professoren sowohl für die Inhalte des Studiums als auch für die
Prüfung. Dies wird zu einer Belebung der Universitäten
führen in einem Umfang, den sie verkraften können. Ich
komme gleich noch einmal darauf zurück.
Dieses Verhältnis von 70 zu 30 Prozent ist eine vernünftige Mischung zwischen der allgemeinen Ausbildung
in den Kernfächern, nämlich im Schuld-, Sachen-, Straf-,
Verwaltungs- und Verfassungsrecht - diese Gebiete, auf
denen zu einem Einheitsjuristen ausgebildet wird, muss
jeder Jurist beherrschen -, und den Spezialfächern - dabei handelt es sich allerdings nicht um irgendwelche Girlanden oder Arabesken des Studiums -, die definiert werden und in einem Zusammenhang mit den Kernfächern
des Studiums stehen. Den Universitäten wird also ein substanzieller Gehalt zugewiesen; das gilt auch für die Prüfung.
Das beinhaltet die Chance für die Universitäten, in einen Wettbewerb zu treten und ein Profil zu entwickeln.
Die eine Universität wird insbesondere für die Internationalität in der Ausbildung stehen, die andere für
die Qualität in der wirtschaftsrechtlichen Ausbildung.
Wiederum eine andere Universität wird dafür bekannt
sein, dass es besonders gute Noten gibt. Zwischen den
Universitäten wird es also zu einem Wettbewerb kommen
und sie werden die Chance haben, ein Profil auszubilden.
Das wird ein Anreiz für die Universitäten sein und die
Ausbildung attraktiver machen.
Allerdings liegt uns sehr daran, zu betonen, dass diese
Möglichkeit zur Qualitätssteigerung der juristischen Ausbildung, also des juristischen wissenschaftlichen Studiums, nur realisiert werden kann, wenn die Länder etwas
mehr Geld dafür zur Verfügung stellen. Das, was wir
heute verabschieden, werden gesetzlich fixierte Träume
bleiben, wenn die Relation zwischen Professoren und Studierenden nicht verbessert wird. Der curriculare Normwert muss erhöht werden. Das ist keine Mahnung an die
Justizminister; diese wollen das ebenso wie alle Fraktionen in diesem Hause. Es ist vielmehr eine Mahnung an die
Finanzminister der Länder. Dieses Gesetz muss dadurch
mit Leben erfüllt werden, dass etwas mehr Geld der Länder in die juristische Ausbildung fließt. Ansonsten wird
das, was wir mit diesem Gesetz ermöglichen, nicht realisiert werden können. Ich glaube, es gibt den Appell des
gesamten Hauses an die Finanzminister der Länder, dies
zu tun.
({1})
Ich komme zum zweiten Schritt, der unternommen
wird. In dem neuen Gesetz über die Juristenausbildung
wird eine Antwort auf die internationale Verflechtung des
Rechts, seiner Institutionen und der Organisationen gegeben. Die Frau Justizministerin hat es zu Recht hervorgehoben: Es gibt eine besondere deutsche Schwäche, nämlich eine mangelnde Präsenz von deutschen Juristen in
internationalen - auch europäischen - Organisationen.
Dies hat etwas mit der mangelnden Sprachkompetenz der
deutschen Juristen zu tun. In weiten Kreisen ist noch immer eine gewisse Fremdsprachenresistenz vorhanden.
Das führt dazu, dass wir unsere Interessen, unsere Vorstellungen, unsere Systeme und unser Recht weniger
durchsetzen können, als andere dazu in der Lage sind.
In erster Linie muss man hierbei natürlich auf die Einsicht der Studierenden setzen. Viele sehen das auch ein
und haben die Zeichen der Zeit erkannt. Es ist aber auch
richtig, dass durch den Gesetzgeber das Zeichen gesetzt
wird, dass der Jurist heute auch über eine gewisse Fremdsprachenkompetenz verfügen muss. Wir leben nicht
mehr mit geschlossenen Grenzen, sondern wir leben innerhalb eines internationalen Rechtsverkehrs. Das ist ein
Teil der Modernisierung des Rechts, der hier sehr früh in
der Ausbildung konkret stattfindet.
Der dritte Punkt, den wir für wesentlich halten, betrifft
das Referendariat. Die Regelungen, die wir für das Referendariat vorschlagen, tragen die Züge eines guten
Kompromisses. Es gibt faule, aber es gibt auch gute Kompromisse. Die Schwächen beider Vorlagen, des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen wie des Gesetzentwurfs des Bundesrates, hätten das Referendariat faktisch
seiner Flexibilität beraubt, indem für mindestens 90 Prozent der Referendare 21 von 24 Monaten der Ausbildung
und damit ein Übermaß der Ausbildung bei den Anwälten
festgelegt worden wären.
Das wäre kein guter Schritt gewesen. Wir hätten damit
Flexibilität beseitigt und keinen Beitrag zur Steigerung
der Qualität der Ausbildung geleistet. Der DAV als Interessenvertretung der Anwälte hat klipp und klar erklärt:
Das überfordert die Anwälte. Sie können die Qualitätsstandards, die gefordert werden, nicht leisten. Wir können nicht per Gesetz eine Ausbildung fordern, die praktisch durch die Anwaltschaft nicht erbracht werden kann.
Der jetzige Vorschlag von neun Monaten, die eine dreimonatige Wahlzeit beinhalten, ist deshalb ein guter Kompromiss, weil damit die Referendare, die erwachsene
Menschen sind, die Chance haben, ihre Berufsorientierung schon im Referendariat zu bestimmen und
Schwerpunkte zu setzen. Ihnen wird nicht wie kleinen
Schuljungen ein fester Stundenplan vorgegeben. Der Umfang der Anwaltsausbildung ist vernünftig. Wir haben sie
in ihrer Bedeutung gestärkt. Das ist richtig, weil der große
Teil der Referendare den Anwaltsberuf ergreifen wird.
Aber wir haben einen Umfang vorgesehen, der in Bezug
auf eine qualifizierte Ausbildung von den Anwälten beherrscht werden kann.
Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass dies zugleich eine Chance und ein Test für die Anwälte ist. Es ist
eine alte Forderung der Anwälte, in der Referendarausbildung die Ausbildung bei der Anwaltschaft zu verstärken.
Wir werden sehr sorgfältig darauf achten, dass hier eine
qualifizierte Ausbildung erfolgt. Diese Zeit darf nicht zu
einer Abtauchstation und einer reinen Examensvorbereitung werden. Dafür tragen auch die etablierten
Anwälte, die nun in viel stärkerem Maße die Aufgabe der
Ausbildung ihres eigenen Nachwuches haben, eine besondere Verantwortung. Wir appellieren an die Anwälte,
dieser Verantwortung nachzukommen. Wenn sie es tun,
ist das ein gutes Zusammenspiel zwischen gesetzgeberischer Ermöglichung und praktischer Wahrnehmung einer
qualifizierten Vorbereitung auf den späteren Beruf der
meisten Referendare, nämlich den Anwaltsberuf.
Uns liegt sehr daran zu betonen: Das war ein sachliches
Zusammenwirken über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg sowie zwischen Bund und Ländern. Das ist eine gute
Basis, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Wir tragen
diesen Entwurf - es ist der Sache nach ein gemeinsamer
Entwurf, wie schon zu Beginn gesagt wurde - inhaltlich
voll mit.
Manche bedauern, dass hier der revolutionäre Schub
ausgeblieben ist. Aber ich glaube, statt auf den revolutionären Schub zu warten, ist es besser, vernünftige und
pragmatische Schritte zu machen. Heute werden bedeutende Schritte beschlossen. Alles Gute der Juristenausbildung in Deutschland! Ich glaube, sie hat jetzt bessere Rahmenbedingungen als in der Vergangenheit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nun erteile ich dem
Kollegen Rainer Funke für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Beteiligten, der Deutsche Bundestag, die Bundesländer, die Universitäten, die Anwaltschaft, die Wirtschaft und auch die Studenten und
Referendare selber, sind sich einig: Die deutsche Juristenausbildung muss grundlegend reformiert werden.
Das ist kein Wunder. Schließlich ist das Grundkonzept
der deutschen Juristenausbildung etwa 200 Jahre alt. Sie
ist entsprechend den damaligen Erfordernissen und Vorstellungen auf eine Tätigkeit vor Gericht zugeschnitten
worden. Heute stellt der Staat gerade noch rund 11 bis
12 Prozent der Juristen ein, davon etwas mehr als die
Hälfte als Richter. Über 80 Prozent der Volljuristen gehen
in die Anwaltschaft oder zum geringeren Teil in die Wirtschaft. Heute muss sich der Jurist dem Wettbewerb stellen. Wir müssen feststellen, dass unsere Juristenausbildung im internationalen Vergleich viel zu lange dauert
und nicht effizient genug ist. Die meisten von uns, die einmal in Brüssel zu tun gehabt haben, werden das unterstreichen können.
({0})
In dieser Situation bedarf es einer grundlegenden Reform. Das haben sowohl die FDP, die einen entsprechenden
Gesetzentwurf vorgelegt hat, als auch die Koalitionsfraktionen erkannt und in ihren Gesetzentwürfen wesentliche
Reformansätze vorgelegt. Das muss man einmal konstatieren.
({1})
Von dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vom
Herbst 2001, lieber Herr Hartenbach, ist ja fast nichts
übrig geblieben,
({2})
und zwar wegen des Widerstands der Länder. Der FDPEntwurf ist trotz großen Lobes von Verbänden und Sachverständigen niedergestimmt worden. Herausgekommen
ist nur eine ganz kleine Änderung. Sie ist von der Frau
Justizministerin und von Herrn Röttgen erwähnt worden.
In Zukunft sind Gegenstand des Studiums Pflichtfächer und Schwerpunktbereiche mit Wahlmöglichkeiten. Die Prüfung in den Schwerpunktbereichen wird
von der Universität abgenommen und zu 30 Prozent bei
dem abschließenden Examen angerechnet. In der Tat ist
dies eine Änderung. Das dient der Abschichtung des Prüfungsverfahrens und kann dazu führen, dass einzelne Universitäten in einen Wettbewerb um die besten Studenten
eintreten. Manche sagen, das sei eine Revolution. Es kann
aber auch nach hinten losgehen,
({3})
denn es kann auch sein, dass sich der eine oder andere darüber Gedanken macht, wo man am leichtesten seine Examina besteht und wo es am einfachsten ist, mit guten Noten in dem 30-Prozent-Bereich brillieren zu können. Man
wird sehen müssen, ob das wirklich eine Revolution ist
oder ein Schuss, der nach hinten losgeht.
({4})
Das wird der Wettbewerb zeigen. Wenn wir feststellen,
dass es nicht so gut gelaufen ist, wird man die Vorschrift
wieder ändern müssen. Ich gebe Ihnen aber Recht - insofern finde ich Ihren Vorschlag gut -, dass wir auf diesem
Weg voranschreiten sollten.
Das ist aber auch die einzige Änderung, die erwähnenswert ist, denn alle weiteren Veränderungen sind bereits heute nach den geltenden Vorschriften der Juristenund Referendarausbildung möglich. Auch der Englischunterricht bzw. die Pflicht, die englische Sprache zu beherrschen, könnten heute schon durch Ländergesetze
ohne weiteres vorgeschrieben werden. Insoweit ergibt
sich keine Neuerung.
Insbesondere den besonderen Erfordernissen der späteren beruflichen Tätigkeiten der Volljuristen wird nicht
Rechnung getragen. Dies gilt speziell für die spätere
Tätigkeit als Rechtsanwalt. Schon heute besteht die Gefahr - Sie haben das erwähnt, Herr Dr. Röttgen -, dass
häufig die Anwaltstation als Tauchstation missbraucht
wird. Sie wird an das Ende der Referendarausbildung gelegt, damit man möglichst wenig beim Anwalt sein muss
und sich auf das zweite juristische Staatsexamen vorbereiten kann. Diese auch heute schon weit verbreitete
Übung kann nach dem vorliegenden Entwurf fortgesetzt
werden. Auch die angebliche Neuerung, dass Sprachkenntnisse nachgewiesen werden müssen, ist kein echter
Fortschritt.
Alles in allem verdient der vorliegende Gesetzentwurf
nicht den hochtrabenden Titel „Reform der Justizausbildung“. Der Text des Gesetzentwurfes - das wird auch offen von einigen Landesjustizministern eingeräumt - dient
eher dazu, das Thema endlich in der Schublade versenken
zu können. Offensichtlich soll die politische Diskussion
um die Juristenausbildung beendet werden. Dabei haben
manche Länder nicht einmal ihre eigenen Hausaufgaben
zur Verkürzung der Juristenausbildung erledigt.
({5})
- Sie brauchen gar nicht mit dem Kopf schütteln. Es gibt
eine Reihe von Ländern, in denen zum Beispiel die Korrektur der Klausurarbeiten zum ersten juristischen Staatsexamen fast ein halbes Jahr dauert und die - wie Hamburg; ich erwähne meine eigene Heimat ausdrücklich als
negatives Beispiel - 24 Monate benötigen, um einen Referendar einzustellen. Das ist ein Skandal und eine Verschleuderung von volkswirtschaftlichen Ressourcen.
Denn diese jungen Juristen sind teuer ausgebildet worden
und sie können ihre berufliche Entwicklung nicht nehmen, nur weil die Länderfinanzminister und vielleicht
auch die Justizminister nicht zügig arbeiten. Das halte ich
in der Tat für einen Skandal.
({6})
Aus diesem Grunde glaube ich, dass uns das Thema Juristenausbildung in den nächsten Monaten oder Jahren
noch erhalten bleibt. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode eine echte Reform in Angriff nehmen müssen,
weil in dieser Legislaturperiode die Hausaufgaben im Zusammenhang mit der Juristenausbildung nicht ordentlich
erledigt worden ist. Deswegen werden wir gegen den Gesetzentwurf stimmen.
({7})
Jetzt hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin extra aus dem Untersuchungsausschuss
hierher geeilt, um diese Revolution nicht zu verpassen,
aber es wird wohl doch nicht dazu kommen. Der Deutsche
Bundestag wird eine solche Revolution weder einleiten
noch durchführen können.
Wir haben vorgelegt, worauf die Juristen seit Jahrzehnten und möglicherweise seit einem Jahrhundert warten, nämlich darauf, dass die Ausbildung der Juristen an
die Realität angepasst und nicht allein daran ausgerichtet
wird, dass alle Juristen so tun, als würden sie später
Richter und Richterinnen. Das ist - Sie haben bereits darauf hingewiesen - bei weniger als 10 Prozent der Fall.
Die gesamte Ausbildung ist aber nach wie vor - auch
wenn sich das in den vergangenen Jahrzehnten etwas
geändert hat - überwiegend auf die Richterlaufbahn ausgerichtet. Bekanntlich ergreifen Juristinnen und Juristen
vorwiegend rechtsberatende Berufe, insbesondere den
des Rechtsanwalts und der Rechtsanwältin.
Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf war ein schweres Stück Arbeit. Ich habe einmal durchgezählt: Wir haben 24 Verhandlungsrunden in den verschiedensten Besetzungen hinter uns gebracht, weil wir das schwierige
Meisterstück bewältigen mussten, 16 Bundesländer und
möglichst fünf Fraktionen in einem Wahljahr bei einem
Gesetzesvorhaben unter ein Dach zu bekommen. Da es
sich hierbei um ein Gesetz handelt, das ganz erheblich
- wenn nicht sogar überwiegend - die Länder, die Ausbildungsordnung und auch die Tätigkeit der Juristen in
den Ländern betrifft, waren der Kontakt und der Schulterschluss mit den Ländern unabdingbar. Sonst wäre das
ein Gesetzentwurf geblieben, der möglicherweise von der
Koalition bzw. der Koalition und der FDP oder anderen
Parteien verabschiedet worden wäre.
Was wir jetzt vorlegen, ist trotzdem nicht so schlecht,
wie Sie es gemacht haben, Herr Funke. Auch ich hätte mir
einige andere Regelungen gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass der universitäre Teil der Ausbildung noch
sehr viel stärker hervorgehoben und ihm 50 Prozent oder
mehr der Ausbildungszeit - vielleicht sogar 70 Prozent eingeräumt würden und dass die Examen von den Universitäten abgenommen würden. Das wäre ein wichtiger
und richtiger Schritt gewesen. Wir müssen aber zur
Kenntnis nehmen, dass andere das anders sehen. Das hat
auch mit der finanziellen Situation zu tun und damit, dass
für die Länder ein solcher Schritt eine erhebliche Umstrukturierung an den Universitäten bedeutet. Aber die
30 Prozent, die wir erreicht haben, sind ein sehr wichtiger
Schritt und geben den Studentinnen und Studenten, die
derzeit Jura studieren oder studieren wollen, das Signal:
Ihr könnt euch darauf verlassen; diese Prüfung wird von
den Universitäten abgenommen. Das heißt, das, was ihr
bei den Professoren lernt, wird später auch von ihnen
- meistens von denselben - abgefragt. Das ist ein ganz
großer Fortschritt.
Heute haben wir bei der Juristenausbildung die Situation - das wissen von denjenigen, die nicht Jura studiert
haben, nur die wenigsten -, dass bei 80 bis 90 Prozent der
Juristinnen und Juristen die universitäre Ausbildung nicht
dazu ausreicht, dass sie das Examen bestehen. Sie müssen
eine privat finanzierte Zusatzausbildung in Repetitorien
mit einer Dauer von einem Jahr oder noch länger über sich
ergehen lassen und diese selber finanzieren. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Aus sozialen Gründen und angesichts der Forderung nach Chancengleichheit ist das ein
sehr großer Missstand. Dem muss abgeholfen werden.
Abhilfe schafft das Gesetz auch in diesem Bereich nicht
zur Gänze und nicht in einem revolutionären Akt; es weist
vielmehr die Richtung, in die umgesteuert werden soll.
Die Studenten und die Universitäten können sich darauf
einstellen, dass in Zukunft ein sehr viel größerer Teil der
Ausbildung nicht in Repetitorien geleistet werden soll,
sondern von den Professoren und deren Assistenten, also
von den Universitäten selber geleistet werden muss. Die
Universitäten sind aufgefordert, diese Leistung, die sie eigentlich schon heute erbringen müssten, bald so zu erbringen, dass immer weniger Studenten diese Zusatzausbildung in Anspruch nehmen müssen.
Das Setzen von Schwerpunkten ist ein weiterer, sehr
wichtiger Punkt. Wir machen - es wurde schon darauf
hingewiesen - den Studentinnen und Studenten deutlich,
dass man auch in einem juristischen Beruf, ganz egal, in
welchem, besonders natürlich in den beratenden juristischen Berufen, aber auch in der Verwaltung oder im Richterberuf, über die Grenzen unseres Staates hinaussehen
muss und dass man andere Sprachen können muss. Dies
ist nicht nur deswegen wichtig, weil in unserem Land
Menschen wohnen, die andere Sprachen sprechen; es ist
auch deswegen wichtig, damit man sich über die Rechtssysteme und die Konfliktbereinigungssysteme in anderen
Ländern kundig machen, davon lernen, aber auch dafür
sorgen kann, dass ein Vertrag, der zum Beispiel in Deutschland abgeschlossen wird, in Frankreich, England oder in
Dänemark gültig ist.
Das sind Anforderungen, die immer mehr an die Studenten wie auch an die Universitäten herangetragen werden. Deshalb sollen sich die Studentinnen und Studenten
möglichst mit rechtswissenschaftlichem Bezug in anderen Sprachen betätigen, sei es, dass sie einen Sprachkurs
besuchen, sei es, dass sie ins Ausland gehen, oder sei es,
dass sie in Deutschland in anderer Sprache ein Rechtsfach
studieren. Das ist ein wichtiges Signal an die Universitäten. Theoretisch - da haben Sie Recht - ist eine solche
Weiterbildung auch heute schon möglich; in Zukunft ist
sie aber vorgeschrieben. Diese Änderungen stellen eine
ganz erhebliche zusätzliche Herausforderung für die Universitäten dar. Wir hoffen, dass sie diese annehmen werden.
Ich komme nun zu dem Bereich der Referendarausbildung. Hier sind wir der Meinung, dass man berücksichtigen muss, dass die meisten Studentinnen und Studenten
später Anwälte werden wollen und werden müssen. Sie
müssen deswegen ganz überwiegend von Anwälten im
Anwaltsberuf ausgebildet werden. Wir hätten hierfür gern
einen Anteil an der Referendarausbildung von zwölf Monaten gehabt; nun sind es neun Monate. Aber das ist ein
Kompromiss. Ohne Kompromisse bekommt man ein solches Gesetz mit 16 Bundesländern nicht hin.
Darüber hinaus ist in Zukunft vorgeschrieben - das ist
der letzte sehr wichtige Punkt, auf den ich eingehe -, dass
die wenigen Studentinnen oder Studenten, die Richterinnen oder Richter werden, teamfähig sein müssen und dass
sie soziale Kompetenz haben müssen. Sie sollten deshalb
- diese Regelung hätten wir gerne im Gesetz gehabt; jetzt
wird dieser Punkt in der Begründung behandelt - zwei
Jahre oder länger in einem anderen Beruf gelernt haben,
sich durchzusetzen und zu kommunizieren. Sie sollten das
Leben und die Geschäftswelt kennen gelernt haben und
das bei ihrer Rechtsprechung berücksichtigen, damit die
Rechtsprechung in Deutschland noch wirklichkeitsnäher
und noch besser wird.
Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ist
also ein wichtiger Schritt auf dem richtigen Weg. Wir
müssen noch weiter gehen. Aber es ist ein Anfang gemacht. Viele Studentinnen und Studenten werden es uns
danken. Ich habe im Ausschuss davon berichtet, dass ich
in der letzten Zeit von Universitätsvertretern wie auch von
Studentinnen und Studenten angesprochen worden bin,
und sie gefragt haben, wann denn endlich das Gesetz in
Kraft tritt, damit sie ihr Studium und ihr Examen vielleicht schon danach ausrichten könnten. Zurzeit bestehen
noch lange Übergangsfristen. Aber danach wird die Ausbildung besser. Das ist auch gut so.
({0})
Für die PDS-Fraktion
erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Jünger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit einem Vierteljahrhundert, also fast
so lange, wie ich lebe, wird über die Defizite in der Ausbildung von Juristinnen und Juristen in Deutschland diskutiert. Auslöser oder zumindest einer der Hauptgründe
dafür war nicht zuletzt die Harmonisierung der bis jetzt
völlig unterschiedlichen Ausbildungen und Abschlüsse in
den verschiedenen Staaten Europas. Wechselnde Justizministerinnen und Justizminister, Hochschulrektorinnen
und Hochschulrektoren, Studierende, Referendare und
andere Interessengruppen haben über Jahre hinweg unzählige Reformvorschläge ausgearbeitet. Heute soll die
Juristenausbildung nun endlich auf eine neue gesetzliche
Grundlage gestellt werden.
Ein Kennzeichen rot-grüner Politik ist, dass zwar
grundlegende Reformen angekündigt werden, dass aber
am Ende nur ein Reförmchen mit zwei, drei Änderungen
herauskommt.
({0})
So ähnlich ist es leider auch bei der Juristinnen- und Juristenausbildung.
({1})
- Das werden Sie ja sehen; denn ich werde nicht mehr für
den Deutschen Bundestag kandidieren und stattdessen
nach der neuen Ausbildungsordnung studieren.
({2})
- Das können Sie gerne tun.
Ich bin erstaunt, wie oft das Wort „Revolution“ in diesem Zusammenhang in den Mund genommen wird, ganz
besonders von konservativer Seite; denn es ist wahrlich
keine. Darauf hat Herr Ströbele ja schon hingewiesen.
Es gibt aber durchaus Punkte in dieser Reform - das
will ich ganz ehrlich sagen -, die wir begrüßen, zum Beispiel dass die einseitige Orientierung der Ausbildung am
Richterberuf endlich aufgegeben wird. Die Ausbildung
orientiert sich jetzt stärker am Anwaltsberuf. Gut finden
wir auch, dass 30 Prozent der Prüfungskompetenzen auf
die Universitäten verlagert werden. Ob damit wirklich die
Repetitoren überflüssig werden, wagen wir, ehrlich gesagt, zu bezweifeln. Unsere Zustimmung gilt auch der gesetzlichen Festschreibung, dass die Vermittlung interdisziplinärer und internationaler Bezüge des Rechts
zukünftig Bestandteil der Juristenausbildung sein wird,
obwohl wir uns diesen Part etwas ausführlicher gewünscht hätten.
Was ist aber nun mit der angestrebten Harmonisierung
oder gar der Angleichung der Juristenausbildungen innerhalb Europas? Warum wird an der Spaltung von Theorie
an der Uni und Praxis im Referendariat festgehalten? Wo
bleibt die notwendige Straffung des Studiums? Warum
werden die verstaubten deutschen Prüfungsregularien
nicht weitergehend verändert? Warum wird die Chance
vertan, Bachelor- oder auch Diplomabschlüsse in den
Rechtswissenschaften zu etablieren?
({3})
- Stimmt, das hat die FDP in ihrem Antrag vorgeschlagen.
Das muss man anerkennen.
({4})
Was spricht eigentlich gegen eine frühzeitige Spezialisierung im Jurastudium, wie sie in anderen Disziplinen und
auch in anderen Ländern längst üblich ist?
Ich weiß, dass die meisten von Ihnen mit den Problemen der Juristenausbildung weit länger vertraut sind, als
ich es bin. Deshalb frage ich mich wirklich, weshalb hier
mehrheitlich die vorgeschlagenen Neuerungen für des Pudels Kern gehalten werden. Ich sehe nicht, dass mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf die Grundlage für eine gute
und effiziente Juristenausbildung geschaffen wird, die
den Anforderungen des 21. Jahrhunderts und einer zusammenwachsenden Welt gerecht wird. Dafür wäre weniger nationale Begrenztheit und deutlich mehr Mumm notwendig gewesen. Schade drum!
({5})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Jochen Dieckmann.
Jochen Dieckmann, Minister ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
fast auf den Tag genau zwei Monate her, dass wir in erster Lesung über die Gesetzentwürfe beraten haben, die in
den fraktionsübergreifenden Entwurf eingeflossen sind,
der Ihnen zur abschließenden Beratung vorliegt. Ich
denke, dieser fraktionsübergreifende Entwurf ist der erfolgreiche Versuch - wenn ich einmal von dem der FDP
absehe -, die Vorteile des Gesetzentwurfs des Bundesrates und des Entwurfs der Koalitionsfraktionen miteinander zu verbinden. Dies ist das Ergebnis eines sehr intensiven Diskussionsprozesses, in dem die Länder einbezogen
wurden. Wir haben gern mitgearbeitet und sind dankbar
dafür. Ich denke, der Gegenstand unseres Bemühens ist es
auch wert. Schließlich geht es um die mittelfristige Zukunft Tausender junger Menschen. Es geht aber auch um
die Qualität der Rechtsprechung und der Rechtsanwendung in unserem Land.
Ich möchte aus der Sicht der Länder dankbar vermerken, dass sich Ihr heutiger Entwurf nachhaltig an den Bedürfnissen der Praxis, insbesondere denen des anwaltschaftlichen Berufsstandes, orientiert. Deshalb ist dies,
ganz gleich, ob es sich um eine Reform oder um weniger
handelt, ein Schritt in die richtige Richtung.
Der Entwurf ist ausgewogen. Der Entwurf stellt sicher,
dass die jungen Juristinnen und Juristen eine solide
Grundausbildung und auch einen vielfältigen Einblick in
die ganz unterschiedlichen Tätigkeiten, die es in der Welt
der Juristinnen und Juristen gibt, erhalten. Der Entwurf ist
aber auch insofern ausgewogen, als er es ermöglicht, auf
das individuelle Ausbildungsziel und auf den gewünschten Beruf hinzuarbeiten sowie gleichzeitig das Ziel einer
breit angelegten juristischen Allgemeinbildung zu verwirklichen.
Der Fortschritt beginnt bereits in der Universitätsphase der Juristenausbildung; denn dort wird auf die
berufsorientierten Inhalte stärker als je zuvor Wert gelegt.
Dies ist eine Chance für die Hochschulen in unserem
Lande - das ist zu Recht schon gesagt worden. Ich füge
hinzu: Damit ist aber auch eine Verantwortung für die
Hochschulen in unserem Lande verbunden. Mit der Neuregelung der Schwerpunktausbildung und vor allem mit
der Verlagerung eines wesentlichen Teils der Abschlussprüfung haben die Rechtsfakultäten die Möglichkeit, das
eigene Profil zu schärfen und so, mehr noch als bisher, zu
einer vielseitigeren Juristenausbildung beizutragen.
Ich will dem Appell von Herrn Röttgen an die Länder,
mehr Geld zur Verfügung zu stellen, nicht entgegentreten,
aber ich bitte Sie, diesen Appell auch an die Finanzpolitiker aller Fraktionen in diesem Hohen Hause zu richten,
damit die Länder die nötige Finanzkraft bekommen, ihre
Universitätshaushalte in dem von uns allen fachlich gewünschten Sinne zu verstärken.
({1})
Der Entwurf bedeutet auch eine ganz erhebliche
Annäherung der Juristenausbildung an die Erfordernisse
des Anwalts- und auch des Notarberufs. Das ist bislang
ohne Beispiel gewesen. Wir betonen in dem Entwurf die
Rechtsberatung, das Mandanteninteresse und die Streitschlichtung. Nach der jetzt vorliegenden Fassung des Gesetzentwurfs geben wir der anwaltlichen Ausbildung im
Vorbereitungsdienst ein ganz besonderes Gewicht. Durch
den Entwurf, auch in der Form, die Sie ihn jetzt vorbereitet haben, wird gewährleistet, dass den individuellen Interessen der Referendarinnen und Referendare Rechnung
getragen wird und denjenigen ein Freiraum eingeräumt
wird, die nach Alternativen zum anwaltlichen Beruf suchen. Diese Bemühungen müssen angesichts der hohen
Zahl von Anwältinnen und Anwälten - da bin ich mir sicher - mit Nachdruck unterstützt werden.
Dies ist eine Reform in zweierlei Hinsicht - eine Revolution sollte es gar nicht sein -: Noch nie in den letzten
50 Jahren hat sich der Staat so deutlich aus einem wichtigen Teil der Prüfung zurückgezogen und den Universitäten so viel Entscheidungsspielraum zugestanden; noch
nie in den letzten 50 Jahren hat sich die Justiz so deutlich
aus wichtigen Phasen der Ausbildung zurückgezogen zugunsten der unverkennbar notwendigen Orientierung
an den Erfordernissen des Anwaltsberufes. Wenn das abschließende Verfahren im Bundesrat beendet sein und das
Gesetz in Kraft getreten sein wird, werden wir seitens der
Länder das Unsere dazu tun.
Wir tun es aber auch heute schon. Herr Funke, Sie haben zwei Punkte angesprochen, die im Alltag von großer
Bedeutung sind und die von dem System der hier in Rede
stehenden Ausbildungsordnungen unabhängig sind. Es ist
misslich, wenn Klausuren so lange liegen bleiben, bis sie
korrigiert werden. Aber wir müssen auch auf die Qualität
derjenigen achten - das sage ich für alle Kolleginnen und
Kollegen -, die solche Klausuren korrigieren.
({2})
Das ist ein Problem, das auch wir schon lange sehen. Wir
bemühen uns, Korrektorinnen und Korrektoren zu finden.
Das hat aus Gründen der Qualität bestimmte Grenzen. Die
Wartezeit ist auch meines Erachtens zu lange, aber in dem
einen oder anderen Land haben wir haushaltspolitische
Restriktionen. Diese würden wir gern ändern, wenn wir
die Mittel dazu hätten.
Zum Abschluss will ich nicht verschweigen, dass wir
uns im Kreis der Länder durchaus mehr gewünscht hätten,
was insbesondere die Verbesserung der Anwaltsausbildung angeht. Man kann das im Entwurf des Bundesrats
nachlesen. Ich meine insbesondere die Anforderungen an
die Zulassung zur anwaltlichen Tätigkeit. Deshalb
möchte ich dem abschließenden Votum des Bundesrats
nicht vorgreifen. Ich persönlich meine - ich habe das mit
einigen Kolleginnen und Kollegen besprechen können -,
dass das Ergebnis Ihrer Beratung, über das Sie jetzt abstimmen werden, ein Kompromiss ist, der von sehr vielen
der Beteiligten getragen werden kann und der auch praktisch durchführbar ist. Ich glaube, es ist ein Beitrag dazu,
dass die Juristenausbildung auch in Zukunft bestmöglichst ausgerichtet sowie anwalts- und berufsorientiert ist,
zugleich aber den notwendigen Freiraum für Eigeninitiative und Eigenverantwortung lässt.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Rupert Scholz.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie
mir noch einige ergänzende Bemerkungen zu dem, was
mein Kollege Röttgen gesagt hat und was im Übrigen in
allen Beiträgen hier deutlich zum Ausdruck gekommen
ist. Natürlich geht es nicht um Revolution. Revolution ist
nie gut.
({0})
- Revolution ist nie gut. - Im Zusammenhang mit dieser
Diskussion ist aber das Wort „Revolution“ nicht ohne Zufall immer wieder angeklungen, denn die Reform der Juristenausbildung war wirklich längst überfällig.
({1})
Das bisherige System der Ausbildung und damit auch das
System der Prüfungen schleppen wir seit Ewigkeiten mit
uns herum, obwohl die Anforderungen und auch das Berufsbild des Juristen inzwischen elementare Veränderungen erfahren haben.
Es geht und ging also darum - das betone und unterstreiche ich auch aus meiner Sicht -, am Einheitsjuristen
festzuhalten, aber diesen Einheitsjuristen mit der Fähigkeit auszustatten, mit der Vielfalt der unendlichen Ausdifferenzierungen und dem unendlichen Wachstum des juristischen Stoffes fertig zu werden. Das heißt, es geht vor
allem darum, Juristen methodisch zu schulen.
({2})
Ein methodisch geschulter Jurist ist aber nicht zu bekommen, wenn man ihn nur mit Stoff - ich sage das ganz bewusst aus meiner eigenen universitären Erfahrung und einer ständigen Prüfungserfahrung heraus - und mit immer
mehr Spezialwissen buchstäblich zuschaufelt. Hier ist
viel gesündigt worden. Diesen Fehlentwicklungen muss
- das sage ich mit allem Nachdruck - Einhalt geboten
werden.
Die Qualität eines Studenten im Referendarexamen
kann nicht danach beurteilt werden, ob er sozusagen sämtliche BGH-Entscheidungen kennt, ja, am besten gleich
wie ein wandelnder Palandt ins Examen marschiert. Das
ist es nicht. Nein, wichtig ist, dass er die Fähigkeit hat, mit
einer juristischen Problemstellung fertig zu werden, sich
einzuarbeiten und mit den nötigen logischen und methodischen Mitteln das zu leisten, was von ihm gefordert
wird. Das ist die Lebensherausforderung eines Juristen.
Die Vorstellung des Einheitsjuristen geht von der
Grundvorstellung der Einheit der Rechtsordnung, an der
natürlich auch unter Ausbildungsaspekten festzuhalten
ist, aus. Der Einheitsjurist muss im Übrigen aber auch von
einer methodisch geschlossenen Basis ausgehen können.
Deshalb ist es richtig, die Spezialisierung während der
Ausbildung zurückzufahren und den Stoff um ein System
von Schwerpunktgruppen zu konzentrieren. Was haben
wir denn bisher gemacht? Die Wahlfachgruppen wurden
immer weiter ausgefächert, wurden immer spezieller und
mit immer mehr Perfektionsansprüchen belastet. Das war
der falsche Weg. Ich bin gerade den Kollegen, die das Ladenburger Manifest verfasst haben, dankbar, dass sie
hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Ihre
Ansicht hat mein Kollege Böckenförde ja auch in den von
uns durchgeführten Anhörungen vertreten. Wir haben
diese übernommen. Die Wahlfachgruppen müssen zu
sachadäquaten, systematisch passenden Schwerpunktgruppen zusammengefasst werden. Auf dieser Ebene haben dann die Universitäten die 30 Prozent abzuprüfen, die
ihnen als Mandat im Prüfungssystem zugewiesen wurden.
Gestatten Sie mir auch ein Wort zu diesen 30 Prozent:
Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass man von der
Länderseite nicht über 25 Prozent gehen wollte; denn es
ist für die Universitäten schwierig, selbst einen Anteil von
25 Prozent zu übernehmen. Auch das weiß ich wiederum
aus der eigenen Erfahrung, da ich, wie ja gesagt, lehre und
prüfe. Aber es muss geleistet werden. Das bedeutet allerdings - hier greife ich den eben schon von Kollegen
Röttgen an die Landesfinanzminister gerichteten Appell
auf und schließe auch die Landeskultusminister, Herr
Dieckmann, ein -, man wird auch Änderungen im Bereich
des CW-Wertes vornehmen müssen, denn die juristischen
Fakultäten der Universitäten werden das, was jetzt von ihnen erwartet wird - das muss von ihnen auch eingelöst
werden -, nicht leisten können, wenn man ihnen hier nicht
entgegenkommt.
Die ganze Reform steht und fällt damit, dass an einem
Strang gezogen wird. Das bedeutet natürlich auch, dass
hinsichtlich der Ausfüllung und der Konkretisierung
durch die Landesgesetzgebung, durch die Justizausbildungsverordnung und durch die Justizausbildungsgesetze
der Leitfaden und die Grundphilosophie dieses Bundesgesetzes aufgenommen und möglichst effektiv umgesetzt
werden müssen.
Minister Jochen Dieckmann ({3})
In diesem Zusammenhang fordere ich zum Wettbewerb - dieses Wort ist heute schon mehrfach zu Recht gefallen - auf. Nach meiner Auffassung muss es nicht so
sein, dass jede Universität in sämtlichen Schwerpunktgruppen entsprechende Ausbildungen und Prüfungen anbietet. Das muss wirklich nicht sein. Im Gegenteil: Geben
Sie den Universitäten die Freiheit, sich auf bestimmte
Angebote zu konzentrieren und zu spezialisieren! Wichtig ist, dass für die Studenten ein Gesamtangebot zur
Verfügung steht. Gerade für die Bundesländer, die viele
Universitäten und dementsprechend viele juristische Fakultäten haben, gilt: Das muss nicht alles so konformistisch, so uniform sein, wie es bisher war.
({4})
Über diese Reform kann auch ein fantastischer Impuls
zu einer ungleich höheren Effizienz - ich bin fast geneigt,
zu sagen: zu einer Revitalisierung - der juristischen Ausbildung an unseren Fakultäten erwachsen. Auch darin sehe
ich eine große, wunderbare Chance.
Ich appelliere an alle, das, was wir hier glücklicherweise gemeinsam geplant haben, mit umzusetzen und
dann so weiterzuführen. Auch ich darf mich für die sehr
sachbezogenen, sehr engagierten gemeinsamen Beratungen, die zu diesem Gesetz geführt haben, bedanken. Ich
glaube, wir sind auf einem wirklich guten Weg.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion
hat nun der Kollege Alfred Hartenbach das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin!
Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Fangemeinde! Ich habe kürzlich folgende
Schreckensvision einer jungen Juristin gelesen:
Wir schreiben das Jahr 2030. ... In Berlin, der Hauptstadt der Europäischen Republik Deutschland, tagt
die Kommission zur Reform der Juristenausbildung.
Sie tagt also noch immer und es wird noch immer ausgebildet wie vor 200 Jahren.
Das ist in der Tat bis heute eine Schreckensvision. Ich
muss sagen, dass ich unheimlich aufgeregt bin,
({0})
weil ich erleben darf, dass das, was ich vor 40 Jahren, als
ich mit meinem Studium begonnen habe, erhofft habe,
endlich Wahrheit werden kann, nämlich eine Reform der
Juristenausbildung, die diesen Namen in der Tat verdient. Natürlich rede ich nicht von Revolution, denn wir
wissen, dass Juristen, wenn sie eine Revolution gemacht
haben, meistens einen Kopf kürzer gemacht wurden;
siehe Büchner oder Danton. Das wollen wir uns heute hier
ersparen.
Allerdings hat niemand geglaubt, dass wir das schaffen. Verehrte Frau Ministerin, wir verdanken den Erfolg
Ihrer Hartnäckigkeit, Ihrem Selbstbewusstsein sowie der
Tatsache, dass Sie uns immer wieder angetrieben haben,
diesen Weg zu gehen. An dieser Stelle möchte ich mich
bei Ihnen und Ihrem Haus, insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen, aber auch bei Ihnen, meine Damen
und Herren aus dem Bundesrat, dafür bedanken, dass wir
das gemeinsam geschafft haben.
Was haben wir gemacht? Wir stärken das Selbstbewusstsein der Universitäten, indem wir sie nicht nur
lehren lassen, sondern indem wir sie nach dem Motto
„Wer lehrt, soll auch prüfen“ künftig mit einem guten Anteil an der ersten Prüfung teilhaben lassen. Das, was sie
machen, soll nicht irgendwo im Sande verlaufen und sich
möglicherweise nur in Klausuren und Hausarbeiten wiederfinden, sondern sich ganz real in der Befähigung der
jungen Juristinnen und Juristen, in den Vorbereitungsdienst zu gehen, widerspiegeln.
Was tun wir weiter? Wir machen unsere jungen Juristinnen und Juristen fit für den Wettbewerb in der Welt
und vor allen Dingen in der Europäischen Union, in der
sie immer häufiger tätig sind, indem wir von ihnen
Sprachkompetenz verlangen. Wir machen sie fit, indem
wir ihnen das Handwerkszeug geben, das sie brauchen:
Verhandlungsmanagement, Rhetorik, Teamfähigkeit. Wir
bieten ihnen damit die Chance, sich zu einem sehr frühen
Zeitpunkt die Fähigkeiten anzueignen, die wir in Richterund Anwaltsakademien oder sonst irgendwo als Autodidakten später noch erlernen mussten. Ich denke, dies ist
schon ein erster großer wichtiger Schritt und verdient in
der Tat die Bezeichnung Reform.
Aber wir haben nicht nur das universitäre Studium ins
Auge gefasst, sondern auch - weil wir wissen, dass das
notwendig ist - bei der Ausbildung im Vorbereitungsdienst eine ganze Menge getan. Bisher wurden 100 Prozent der Referendarinnen und Referendare wie Richter
ausgebildet und die Tatsache, dass sie in einen rechtsberatenden oder rechtsgestaltenden Beruf gingen, wurde
hintangestellt. Wir hingegen tragen der Realität Rechnung, nämlich dass 80 bis 90 Prozent dieser jungen Menschen später einmal in einen rechtsgestaltenden Beruf gehen.
({1})
Wir haben gerade der Ausbildung der Anwälte ein viel
größeres Gewicht beigemessen. Das Gute hieran ist, dass
wir uns dabei alle einig sind: Die Länder, die Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU und selbst Herr Funke
und die FDP sind der Meinung, dieser Weg sei richtig.
Ich möchte eines hervorheben: Gerade der Kollege
Funke hat uns bei den sehr guten Berichterstattergesprächen darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit geschaffen werden soll, dass während der Anwaltstation
auch in einem anderen rechtsgestaltenden Beruf ausgebildet werden kann. Vielen Dank, Herr Funke!
({2})
Umso mehr bedaure ich, dass Sie heute nicht mit uns stimmen.
Wir wollen natürlich auch, dass sich die Anwaltschaft
sehr viel stärker beteiligt. Denn auch hier gilt: Wer letztDr. Rupert Scholz
lich prüft, der soll auch lehren. Die Anwälte sollen also
mehr machen, als sie bisher getan haben, sich stärker engagieren. Deswegen werden wir sie da in die Pflicht nehmen. Ich sage auch sehr deutlich: Wir werden beobachten,
ob sich die Anwälte in die Pflicht nehmen lassen und wie
weit die Anwaltschaft diesen Weg, den wir vorgezeichnet
haben und den sie eigentlich auch selbst will, mitgeht.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, verehrtes
Publikum, das Sie uns die Ehre geben, heute Abend bei einer zukunftsweisenden Gesetzgebung zuzuhören, wir
wollen letztlich auch, dass Richterinnen und Richter künftig nicht mehr nur - meistens wird dies ja nicht getan - daran gemessen werden, ob sie einen Sachverhalt vernünftig subsumieren können. Wir wollen, dass sie mehr
können, dass Richterinnen und Richter ihrer sozialen Aufgabe gegenüber den Menschen, die vor ihnen, vor dem so
genannten Richterstuhl stehen und auf ihr Urteil warten,
gerecht werden.
({3})
Wir wollen, dass sie nicht nur lernen, ein Urteil zu sprechen, sondern dass sie lernen und wissen, wie man einen
solchen Prozess gestaltet und führt, damit letztlich ein
Rechtsfrieden, eine Befriedung der beteiligten Parteien
eintreten kann. Die Richterinnen und Richter müssen neben den anderen Befähigungen zum Richteramt soziale
Kompetenz - so nennen wir es schlicht und einfach - haben.
({4})
Deswegen haben wir dies in den Gesetzentwurf geschrieben, Herr Funke, damit es für jeden deutlich wird.
Ich weiß, dass die Bundesländer dieses unser Anliegen
sehr ernst nehmen und darauf achten werden. Wir sind
überzeugt, dass wir dann auch genau das erreichen, worüber wir uns bei der Reform der Zivilprozessordnung
schon gestritten haben, dass nämlich Prozesse sachgerechter, schneller und bürgerfreundlicher erledigt werden.
Ich möchte noch eines sagen: Ich bin sehr sicher, dass
wir nicht noch einmal 200 Jahre warten können - wir ja
sowieso nicht -,
({5})
bis wir die nächste Juristenausbildungsreform angehen.
Wir werden beobachten, wie sich diese Welt und die Zeit
entwickeln. Wir sind bereit. Sollten weitere Reformen erforderlich sein, werden wir sie angehen.
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich hoffe, ich habe Sie zu dieser Stunde noch einmal etwas wachgerüttelt.
({6})
Ich denke, es war eine hervorragende Debatte. Gestatten
Sie mir bitte noch ein letztes Wort: Ich finde es enorm und
außergewöhnlich, wie gut wir hier zusammengearbeitet
haben. Das zeigt, dass der Bundestag - als das wichtigste
Verfassungsorgan - und ein weiteres Verfassungsorgan
mit diesem wichtigen Gesetz etwas wirklich Zukunftsweisendes und Gutes geschaffen haben. Dafür allen meinen herzlichen Dank.
Nun könnt ihr zu Genscher gehen und feiern.
({7})
Wir kommen nun zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Juristenausbildung auf Drucksache
14/7176. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8629,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Stimmenthaltung der PDS und gegen die Stimmen der FDP in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist bei gleichem Stimmenverhältnis wie vorhin in dritter
Beratung angenommen.
Ich danke für Ihre Zustimmung und darf sagen, dass
ich mich freue, bei dieser Abstimmung präsidieren zu
können. Ich habe in meinem juristischen Leben sehr viele
Stunden mit vielen Reformen zugebracht. Ich freue mich
daher, dass diese Reform jetzt auf den Weg gebracht
wurde. Ich bedanke mich herzlich dafür.
({0})
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem von der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Juristenausbildung auf Drucksache 14/2666. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/8629, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung auf Drucksache 14/7463. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/8629, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun
({2}), Jörg van Essen und weiterer Abgeordneter der Fraktion der FDP
Bundeskartellamt personell stärken
- Drucksachen 14/5575, 14/8134 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Uwe Jens das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Ich möchte
zunächst den Zusammenbruch des Holzmann-Konzerns
sehr bedauern. Wenn Elefanten fallen, geschieht dies mit
großer Lautstärke. Kleine Unternehmen sterben bekanntlich lautlos. Die Bauwirtschaft hat heute Abend ein großes
Opfer zu beklagen. Diese Besorgnis erregende Entwicklung können wir nur mit Bedauern zur Kenntnis nehmen.
Es ist deutlich geworden: In unserer offenen Gesellschaft
sterben auch große und nicht nur kleine und mittlere Unternehmen.
Der Antrag der FDP, in dem mehr Personal für das
Kartellamt gefordert wird, beachtet aus meiner Sicht die
Tatsache nicht, dass es nicht auf die Zahl der Beschäftigten im Kartellamt ankommt, sondern auf die Qualität
ihrer Arbeit, die in diesem Amt bekanntlich recht gut ist.
({0})
Die Masse alleine macht es nicht.
({1})
Wir werden also die Beschlussempfehlung des Ausschusses annehmen und den Antrag damit ablehnen.
({2})
Das Amt braucht in der Tat über eine längere Frist gesehen etwas mehr Personal, insbesondere wenn es endgültig die Kompetenzen hat, sich verstärkt um den Stromund Gasmarkt zu kümmern, und insbesondere auch dann,
wenn möglicherweise langfristig die Regulierung für Post
und Telekommunikation beim Kartellamt und nicht mehr
bei der Regulierungsbehörde angesiedelt sein wird. Das
wäre aus meiner Sicht langfristig eine gute Perspektive.
({3})
Vor allem für den Strom- und Gasmarkt ist es notwendig,
die sofortige Vollziehbarkeit von Beschlüssen des Kartellamtes einzuführen und möglicherweise auch die Beweislast umzukehren. All dies wird zu mehr Personal führen,
wenn die Kompetenzen dort sind. Zurzeit ist die Personalaufstockung nach meiner Meinung wirklich keine so
gute Idee.
Wir haben auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass
sich nicht nur das Kartellamt um Wettbewerb kümmert,
sondern vor allem auch die Generaldirektion IV in Brüssel.
Herr Monti hat aus meiner Sicht bisher sehr gute Arbeit
geleistet.
({4})
Die Öffnung des Telekommunikationsmarktes und
auch die anfängliche Öffnung des Strommarktes haben zu
Preissenkungen geführt. Man muss darauf achten, dass
der entstandene Wettbewerb nun nicht etwa durch neue
Monopolbildung auf diesem Markt kaputtgemacht wird.
({5})
Ich hoffe sehr, dass es auch in Zukunft bei „Call-by-Call“Ortsgesprächen zu einem Wettbewerb kommen wird, wie
wir ihn für Ferngespräche bereits kennen. Der Widerstand
gegen die weitere Öffnung ist nun wirklich zuerst - das
muss man zugeben, wenn man fair ist - in Frankreich zu
suchen, nicht etwa in der Bundesrepublik Deutschland.
Das kann man nicht behaupten.
({6})
Meine Damen und Herren, die Unternehmen wollen
alle immer gerne weniger Wettbewerb, aber das muss
man als Politiker immer wieder deutlich brandmarken.
Das kann nicht sein. Wer ein Monopol hat, möchte es
natürlich am liebsten behalten. Das ist menschlich allzu
verständlich, aber wir müssen dafür sorgen, dass der Wettbewerb nicht einschläft, sondern immer wieder neu belebt
wird.
Erlauben Sie mir, noch einmal drei relativ banale Erkenntnisse vorzutragen:
Erstens. Der Wettbewerb, den wir hier in Deutschland
kennen und der, wie man gesehen hat, in der Bauwirtschaft ruinös ist, wird nicht etwa nur durch Wettbewerbspolitik gesichert, auch nicht allein durch das Kartellamt
oder allein durch Herrn Monti. Wenn wir den Wettbewerb
erhalten wollen, was für die Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaftsordnung elementar wichtig
ist,
({7})
müssen wir uns mehr und verstärkt um kleine und mittlere
Unternehmen kümmern.
({8})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Das werden wir in Zukunft tun. Wir müssen die Wirtschafts- und Steuerpolitik so gestalten, dass sie Kleine
und Mittlere begünstigt und Große gegenüber Kleinen
und Mittleren eher benachteiligt.
Zweitens. Der Zeitgeist schwankt bekanntlich stets
sehr stark, aber die Lösungen, die in Japan zur Sicherung
der wirtschaftlichen Entwicklung zurzeit getätigt werden
oder früher getätigt wurden, sind keine rationalen, vernünftigen Lösungen. Wir brauchen in Deutschland mehr
Dynamik und wir brauchen mehr Investitionen und Innovationen durch Wettbewerb.
Die Tatsache, dass der Wettbewerb leider immer weniger Interessenvertreter hat, auch hier im Deutschen Bundestag, erfüllt mich besonders mit Sorge. Der Wettbewerb
hat in keiner Partei mehr eine echte Lobby - das ist bedauerlich-,
({9})
die sich intensiv für Wettbewerb einsetzt, mit allen Konsequenzen, ohne Wenn und Aber.
({10})
Es gibt nämlich einige unumstößliche ökonomische Tatsachen. Zum Beispiel haben offene Märkte bisher dazu
beigetragen, dass der Wohlstand in unserer Gesellschaft
enorm gestiegen ist.
({11})
Wir haben für das letzte Jahrhundert, von 1920 bis 1939,
eine Phase des Protektionismus festzustellen. Am Ende
dieser protektionistischen Phase standen der Krieg und
die Ausdehnung der Armut in der gesamten Welt. Seit
1950 gab es eine Phase der Marktöffnung, des Wettbewerbs und des internationalen Handels. Am Ende dieser
Phase stand ein Wohlstand, wie wir ihn in diesem Lande
bisher noch nie erlebt haben.
Meine Damen und Herren, wenn wir den Wettbewerb
fördern, dann fördern wir gewissermaßen auch die Senkung der Preise. Dann tun wir etwas für kleine und mittlere Unternehmen. Dann sorgen wir für mehr Investitionen und Neuerungen in der Wirtschaft. Dann begrenzen
wir sozusagen die Macht der großen Konzerne und tun
auch etwas gegen Korruption in der Wirtschaft. Dort, wo
der Wettbewerb funktioniert, hat Korruption aus unserer
Sicht keine Chance.
Meine Damen und Herren, es kommt nun aber nicht
darauf an, die Bürokratie groß aufzublähen. Es kommt darauf an, eine offene Gesellschaft mit möglichst viel Wettbewerb zu erhalten. Lassen Sie uns in Ruhe darüber nachdenken, was getan werden muss und was nicht getan
werden darf.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Hartmut Schauerte.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wenn es wirklich so ist, wie
die Nachrichten jetzt lauten, dann ist der Zusammenbruch
des Holzmann-Konzerns für die vielen Tausend Mitarbeiter und ihre Familien, für die vielen Tausend Zulieferbetriebe und für die vielen anderen, die mitgewirkt haben,
eine sehr bedrückende Nachricht.
({0})
Die betreffenden Personen haben unser ganzes Mitgefühl
verdient.
Aber bei dieser traurigen Gelegenheit darf man ja
schon einmal daran erinnern, dass mit der damaligen Rettungsaktion durch den Bundeskanzler
({1})
so etwas wie ein Ruck durch das Land ging und dem Bundeskanzler eine ganz neue Wirtschaftskompetenz zuwuchs. Auch das Versprechen, das er damals gemacht hat,
und die Hoffnungen und Erwartungen, die er damals geweckt hat, hat er nicht halten können.
({2})
Es ist auch eine wichtige Mahnung an die Politik, den
Mund in solchen Fragen nicht zu voll zu nehmen und sich
mit solch schwierigen Prozessen sehr zurückhaltend und
vernünftig zu befassen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?
Gerne.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Herr Kollege
Schauerte, die damalige Situation war davon geprägt,
dass, wenn nichts getan worden wäre, der ganze Konzern
zusammengebrochen wäre. Der Bundeskanzler ist gebeten worden einzugreifen. Flugs haben sich die Oberbürgermeisterin von Frankfurt und der Ministerpräsident
von Hessen schnell neben ihn gestellt und gesagt, dass
sein Vorgehen richtig sei. Dem Unternehmen ist damals
eine Chance eingeräumt worden, durch eigene Sanierung
und entsprechende Maßnahmen die Grundlagen dafür zu
schaffen, im Wettbewerb zu bleiben. Mehr konnte der
Kanzler nicht tun.
Jetzt sind es die Banken, die sich - bis auf eine ganz
große - zurückziehen und sagen: Wir wollen mit diesem
Laden nichts mehr zu tun haben.
({0})
Sie tun dies, ohne gründlich zu prüfen, ob nicht doch
noch ein Konsens möglich ist, um dieses Unternehmen
weiterführen zu können. Ansonsten denke ich wie Sie,
dass ein ordnungsgemäßes Konkursverfahren nicht bedeuten muss, dass alle Arbeitsplätze verloren gehen. Kann
ich davon ausgehen, dass Sie diese Einschätzung teilen?
({1})
Also, das können
Sie natürlich nicht. Denn Sie wissen, dass diese Entscheidung schon damals in großem Umfang und mit guten
Gründen heftig kritisiert wurde. Aber losgelöst von der
materiellen Entscheidung sage ich Ihnen: Was ich angegriffen habe und kritisiere, ist, dass sich der Bundeskanzler als Retter eines Unternehmens aufgespielt hat und sich
feiern ließ, dass man sich aber nun zurückzieht und sagt:
Es sind die Banken. Wer sich damals für diese vermeintliche Rettung mit der falschen Methode so hat loben lassen, der muss nun auch erklären, dass seine damalige
Konzeption, mit der Rettung auch seine Kompetenz zu
begründen, gescheitert ist. Er muss seine Versprechen
zurücknehmen und sich bei denen, denen er falsche Hoffnungen gemacht hat, entschuldigen.
({0})
Das war nicht korrekt, das war eitel und ein Profitschlagen auf politischer Ebene aus einer schwierigen Situation
eines Unternehmens. Deshalb habe ich diese nachdenklichen Bemerkungen mit Fug und Recht gemacht.
Und nun kommen wir
zum Thema: Bundeskartellamt personell stärken.
Man kann natürlich das Thema Wettbewerb in der Bauwirtschaft an diesem Thema festmachen, ob dies nun fair und korrekt war,
warum das Unternehmen so groß werden musste und ob
nicht durch solche großzügigen Finanzierungshilfen auch
ruinöser Wettbewerb zulasten vieler kleiner Unternehmer
losgetreten wurde. Man könnte diese beiden Themen gut
miteinander verbinden, ich möchte jedoch beim Antrag
bleiben.
Wir beschäftigen uns beim Thema Bundeskartellamt
nicht mit irgendeiner Behörde, sondern mit einer Behörde
unseres Staatswesens, die so dringend gebraucht wird wie
nur was und der man gar nicht genug Kompetenz und Verantwortung übertragen kann.
({0})
Gerade in einer Zeit, in der sich die Wirtschaftsabläufe
beschleunigen, in der Konzentrationen zunehmen, in der
es technologische Sprünge gibt, woraus sich ganz neue
Strukturen ergeben, sind die Gefahren dafür, dass aus
Marktwirtschaft Machtwirtschaft wird, unglaublich vielfältig.
({1})
Dies gilt nicht nur im Energiebereich, nicht nur bei
Strom, Gas oder Wasser, worüber wir im Moment so viel
reden, sondern auch in so vielen anderen Bereichen wie
etwa dem Lebensmitteleinzelhandel oder der Luftfahrt.
Schauen Sie sich einmal an, welche Monopolstrukturen
und welches Preisdiktat wir immer noch im innerdeutschen Luftverkehr haben.
Wir können in die vielfältigsten Bereiche hineingehen:
Wir brauchen überall intelligente Kartellwächter, die
dafür sorgen, dass Kartellabsprachen unterbleiben, dass
Wettbewerb funktioniert und wir ein vernünftiges Spielfeld haben, auf dem die Regeln eingehalten werden.
Die Aufgabenvermehrung ist enorm. Diese ist auch
nicht von Interessenvertretern herbeigeredet, die sich eine
große Behörde zimmern wollen, sondern wirklich vorhanden. Wir in der Politik haben viel dazu beigetragen.
({2})
Zu den Aufgaben gehört zum Beispiel die stärkere Durchsetzung des Wettbewerbs in den monopolisierten Märkten
für Energie sowie bei den gesetzlichen Mitwirkungspflichten bei Post, Telekommunikation und Bundesbahn. Wir stecken doch überall zurück. Wir kommen nirgendwo richtig weiter. Dies ist lähmend.
Ich behaupte hier, dass ein Stück des Misserfolgs der
rot-grünen Wirtschaftspolitik gerade auch auf dieser mangelnden Bereitschaft, wirklich für Wettbewerb einzutreten, auch harte Entscheidungen zu treffen und zuzulassen,
beruht. Weil der Wettbewerb nicht richtig geregelt worden
ist, sind Wachstumskräfte nicht ausreichend entwickelt
und losgetreten worden.
In der Binnenwirtschaft haben wir im Grunde genommen ein Schrumpfen des wirtschaftlichen Wachstums. Wenn der Export um 6 Prozent wächst und wir gesamtwirtschaftlich nur einen Zuwachs von 0,6 Prozent
haben, muss im binnenwirtschaftlichen Bereich ein Minus von 2 oder 3 Prozent stehen, sonst kämen wir nicht auf
einen solchen Durchschnittswert. Dies alles sind Ergebnisse von Verstößen gegen glaubwürdig gelebten Wettbewerb. Um hier etwas zu ändern, bedarf es aber einer richtig ausgestatteten Behörde.
Ich könnte noch viele andere Bereiche nennen. Wir haben auch im GWB neue Ansätze wie die Untereinstandspreisvorgänge. Wir wollen all diese Dinge ernst nehmen
und verfolgen. Diese können aber nicht richtig umgesetzt
werden, weil dieses Amt keine ausreichende Personaldecke bekommt.
({3})
Wenn ich dies noch einmal auf die wesentlichen
Punkte zurückführen darf: Wir müssen alle miteinander
- Uwe Jens, bei der Einschätzung der Bedeutung dieser
Frage sind wir gar nicht so weit auseinander - alles tun,
damit die Unabhängigkeit diese Behörde so groß wird wie
nur möglich.
({4})
Leider sind hier schwere Fehler begangen worden,
zum Beispiel in Bezug auf Eon. Die Art und Weise, wie
um das Kartellamt herum, quasi in der Vorwegnahme einer Ministererlaubnis, die Glaubwürdigkeit des Kartellamts beschädigt worden ist, tut weh, besonders den Leuten, die dem Kartellamt eine wichtige Aufgabe geben
wollen.
({5})
Ich weiß, dass alle Rechtschaffenen, die auf diesem Gebiet arbeiten, genauso denken. Darin schließe ich auch
viele in der SPD ein. Dies tut wirklich weh. So etwas darf
nicht Schule machen und sich nicht wiederholen.
Beim Kartellamt bedarf es des Mutes zu klaren Entscheidungen. Aber Mut nur einzufordern ist die eine Sache. Ein Klima zu schaffen, in dem Mut wachsen kann, ist
die andere Sache. Da bedarf es dann der Zurückhaltung
der Politik.
Ich kann aber auch nur mutig sein, wenn ich mich einigermaßen stark aufstellen kann. Damit kommen wir zu
den Sach- und insbesondere den Personalmitteln. Wenn
wir in solchen Verfahren einmal gearbeitet haben, wissen
wir doch, mit welcher Kompetenz die jeweiligen Interessenvertreter - professoral unterstützt, von Hunderten
von Anwälten vorgearbeitet und vorgedacht - antreten,
um ihre Forderungen häufig gegen die Rechte des Wettbewerbs, gegen die Situation in der sozialen Marktwirtschaft, gegen wirkliche Marktwirtschaft durchsetzen zu
können. Denen sitzen dann wenige Beamte aus dem Kartellamt gegenüber, die überhaupt keine Chance haben,
wirklich Widerstand zu leisten, intelligent zu reagieren
und die, die unanständige Anträge stellen, eindeutig und
klar zurückzuweisen und sie argumentativ zu zwingen,
ihre Positionen zu räumen. Das alles kann nicht ausreichend stattfinden, wenn nicht ausreichend Personal da ist.
({6})
Deswegen, meine ich, müssen wir uns an dieser Stelle bewegen.
Ich verstehe die Scheu der Regierung auch nicht. Ich
weiß, Uwe, dass du in dieser Frage eigentlich so denkst
wie ich.
({7})
Du hast hier die Linie deiner Partei oder der Regierung
vorgetragen. Du selber weißt, dass wir mehr Personal im
Kartellamt brauchen.
({8})
Wir haben ja darüber gesprochen. Wir haben das in die
Haushaltsberatungen eingebracht. Die CDU/CSU hatte
einen Antrag mit 40 neuen Stellen, die wir schaffen wollten, weil wir meinen, dass das nötig wäre. Die FDP verlangt nun 50 bis 55 Stellen. Ich schaue jetzt nicht im Einzelnen in die Personalplanung hinein; das muss auch nicht
unsere Aufgabe sein. Was sein muss: Das Kartellamt muss
von den Personaleinsparungen ausgenommen werden.
Es braucht wegen der neuen Aufgabe, wegen der vielen
liegen gebliebenen Fragestellungen von großer Bedeutung, jetzt zusätzliches Personal.
({9})
Wir könnten es uns leicht machen und könnten sagen:
Wir klagen einfach nur an, dass ihr das nicht macht, und
lassen das einmal liegen; wenn wir dann nach dem
22. September die Regierung stellen, machen wir das.
({10})
Das wäre aber wieder verlorene Zeit. Die Fragen, die
nicht gelöst werden können, brennen. Deswegen meine
Bitte an Sie von der Regierung und von der SPD: Stellen
Sie sich doch diesem Thema.
Wir wissen, dass die Kosten für diese Personalstellen
vom Kartellamt selbst verdient werden - sogar mehr als
selbst verdient werden. Das Kartellamt hat fast 60 Millionen DM Einnahmen erwirtschaftet und hat etwa 30 bis
35 Millionen DM Kosten verursacht. Das ist also keine
Forderung, die die Kostenlage des Bundeshaushalts verschlechtern würde. Ich bin sogar der Meinung, ein mit zusätzlichem Personal ausgestattetes Kartellamt würde,
weil es konsequenter vorgehen und Verstöße klarer aufdecken kann, das, was es mehr kosten würde, an zusätzlichen Gebühren einnehmen.
({11})
Umso weniger kann ich verstehen, dass man sich hier so
sträubt. Es ist ein mehr als sich selbst finanzierendes System. Warum geben wir ihm nicht die Mittel, die es
braucht, um im Interesse von Markt, von Arbeitsplätzen,
von Wachstum und von geordneten Verhältnissen das
Nötige zu tun?
({12})
Ich habe ein Feld noch gar nicht angesprochen. Wir haben eine enorm große Aufgabenstellung im Bereich der
Europäischen Union; denn wir müssen jetzt zu wirklich
europaeinheitlichen Regeln kommen, die passen. Da
muss sich Deutschland einbringen. Wir waren die Mutter
des Wettbewerbsrecht in Europa. Es ist eine Erfindung der
sozialen Marktwirtschaft in den 50er-Jahren. Wir haben
es unseren europäischen Partnern in den Prozessen nahe
bringen können. Wir haben nach wie vor die allergrößte
Kompetenz in diesen Fragen. Wenn wir das, was da gut
ist, europaweit verankern wollen, dann müssen wir unsere
Mannschaft so aufstellen, dass sie diese Ideen nach vorne
transportieren kann, dass wir hier wirklich etwas erreichen und dass wir wirklich das europaweite „level playing field“ bekommen, das wir in nahezu allen Fragen
brauchen. Wir stolpern und hoppeln doch von einem
Thema zum anderen, bekommen nichts geregelt. Es geht
wichtige Zeit verloren. Ich meine, das ist nicht angebracht. Wir sollten diesem Antrag zustimmen.
({13})
Ich sage das gar nicht mit dem Gedanken „Wer hat hier
Recht und wer hat hier nicht Recht“. Wir tun der sozialen
Marktwirtschaft in Deutschland, der Entwicklung eines
europäischen Binnenmarktes, den man dann wirklich
nach einheitlichen Regeln beobachten und bearbeiten
kann, einen unschätzbaren Dienst, wenn wir schnell das
nötige Personal beim Kartellamt schaffen. Ich hoffe, das
wird kein vergeblicher Appell sein. Wenn Sie heute nicht
zustimmen, bringen Sie morgen einen Antrag ein. Wir
sind auch bereit, noch einmal neu darüber zu beraten.
Wenn es der Sache dient, gehen wir jeden Weg mit, weil
wir auf die Lösung dieses Fragenkomplexes brennen.
Herzlichen Dank.
({14})
Für Bündnis 90/Die
Grünen erteile ich dem Kollegen Werner Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Schauerte, Ihr Mitleid mit dem zusammengebrochenen Baukonzern Holzmann hatte einen schalen
Beigeschmack. Da Sie das Bedauern darüber mit einem
Angriff auf den Bundeskanzler verbunden haben, kann ich
Ihnen nicht abnehmen, dass es sehr herzlich gemeint war.
({0})
Kollege Urbaniak, es war nicht nur so, dass sich die
Oberbürgermeisterin von Frankfurt und der Held von
Wiesbaden auf das Abschlussbild, das auf dem Balkon gemacht wurde, gedrängt haben, sondern es war tatsächlich
so, dass der Bundeskanzler erst dann eingegriffen hat,
nachdem diese beiden es nicht geschafft hatten, den Konzern Holzmann zu retten.
({1})
Es ist die Wahrheit, dass sich alle darum bemüht haben.
Kollege Hirche, das war kein Staatsinterventionismus;
denn an Holzmann hingen auch sehr viele kleine Subauftragnehmer.
({2})
Wir haben also viele kleine und mittelständische Betriebe
gerettet, die Gefahr liefen, von einem taumelnden Riesen
erschlagen zu werden. Diese haben Zeit gewonnen, aus
dieser Krise herauszukommen. Der Konzern Holzmann
hat die Zeit, die ihm der Bundeskanzler verschafft hat,
nicht genutzt. Das ist auch eine Lehre, die wir heute ziehen müssen.
({3})
- Richtig, so sehe ich das auch.
Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, tritt dafür
ein, dass das Bundeskartellamt in seiner unabhängigen
Stellung gestärkt wird. Deshalb ist es auch gut, dass kürzlich eine neue Beschlussabteilung mit zusätzlichem
Personal eingerichtet wurde, die sich mit der Durchleitung im Strombereich befasst. Gleichzeitig bleibt die
bisher für die Energiewirtschaft zuständige 8. Beschlussabteilung bestehen. Sie kann sich nun auf andere Fragen
der Energiewirtschaft, insbesondere auf die Fusionskontrolle, konzentrieren.
Diese Beschlussabteilung hat erst kürzlich mit der Untersagung der beantragten Fusion von Eon und Ruhrgas
ein Dokument ihrer Sachkunde und Kompetenz vorgelegt. Darin hat das Kartellamt klar darauf hingewiesen,
dass eine solche Fusion den Wettbewerb auf dem Stromund Gasmarkt zulasten der Innovationsfähigkeit der Unternehmen am Standort Deutschland, zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher und auch zulasten der
Umwelt weiter einschränken würde. Ich weiß deswegen
nicht, welche gesamtwirtschaftlichen Interessen eine Fusion trotz dieser negativen Effekte rechtfertigen sollten.
({4})
Kollege Hirche, Bündnis 90/Die Grünen treten für den
regulierten Wettbewerb ein; bei der Telekommunikation, beim Gas, bei der Stromversorgung, beim Schienenverkehr und beim öffentlichen Personennahverkehr. Wettbewerb soll jeweils so zum Tragen kommen, dass er die
Bereitstellung von hochwertigen Dienstleistungen für die
Bürgerinnen und Bürger in ökologisch sinnvoller Weise
unterstützen kann.
Die Europäische Kommission steht mit ihrer Politik für
eine faire Wettbewerbsordnung in der Europäischen
Union. Wir unterstützen sie bei ihrer Arbeit und setzen uns
dafür ein, dass bei dem Rechtsgrundlagen für die Vergabe
öffentlicher Aufgaben der Europäischen Union ökologische und soziale Normen zum Kriterium gemacht werden. Es würde nämlich niemandem etwas nützen, wenn
wir versuchten, globale Spieler mit Monopolrenten auf
dem deutschen Markt aufzubauen. Die Ergebnisse wären
weniger Kreativität und weniger Innovation.
({5})
So werden moderne Technologien dezentral entwickelt.
Kleine und mittlere Unternehmen entwickeln moderne
Lösungen und vernetzen sich, um sie global zu vermarkten. Zentrale Kriterien sind dabei die Serviceorientierung
und die Nähe zum Kunden.
({6})
Wir brauchen eine klare Wettbewerbsorientierung, um
unser Land für die Zukunft fit zu machen und die Innovationen voranzubringen. Dafür brauchen wir - auch gegenüber der Europäischen Union - keine staatliche Stärkung und Unterstützung der Industriepolitik.
({7})
- Kollege Schauerte, wenn Sie sich mit der Geschichte der
Fusionskontrolle und des Kartellrechts beschäftigt hätten,
dann hätten Sie festgestellt, dass die SPD die Fusionskontrolle ins Kartellrecht eingefügt hat. Das sage ich auch
an die Adresse der FDP. Sie müssen sich wirklich nicht als
die große Hüterin des Wettbewerbs aufspielen.
({8})
Es ist uns wichtig, entschieden gegen die Vermarktung
der Märkte vorzugehen. Das gilt in vielerlei Hinsicht. Ich erwähne hier nur die Gruppenfreistellungsverordnung und
erinnere an andere Punkte, die in der letzten Zeit umgesetzt
wurden. Deswegen unterstützen wir die Politik der Kommission in der Frage der Wettbewerbsordnung in Europa.
({9})
Für die FDP-Fraktion
erteile ich der Kollegin Gudrun Kopp das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Herren und Damen! Das Wettbewerbsrecht ist das Grundgesetz unserer modernen Marktwirtschaft und verdient es
wirklich, geschützt, gehegt und gepflegt zu werden. Aber
Sie alle wissen, dass das Bundeskartellamt inzwischen
kaum noch handlungsfähig ist. Ihm fehlt es an Personal,
an gezielter und laufender Mitarbeiterqualifikation und
auch an technischer Ausstattung.
Wie kommen wir darauf? Ich möchte Ihnen steigende
Fallzahlen - ich glaube, das wird keiner bestreiten -, festgebundene Kernaufgaben, den Aufbau der neuen Beschlussabteilung für den Gasbereich und die Notwendigkeit der Einrichtung einer neuen Vergabekammer - auch
das ist wichtig - nennen. All diese Aufgaben erfordern im
Interesse der Qualität der Arbeit im Bundeskartellamt
eine deutliche Personalaufstockung.
({0})
Sie alle wissen: Es gibt diverse Streitfälle zwischen Politik, Wirtschaft und Bundeskartellamt. Ich nenne hier nur
ein paar Stichworte: die Übernahme von Ruhrgas durch
Eon, die Untersagung des Verkaufs des Kabelnetzes durch
die Telekom an Liberty, der Streit um die Flugstrecke Berlin-Frankfurt zwischen Lufthansa und Germania oder das
Vorgehen des Kartellamtes gegen das Entsorgungssystem
Grüner Punkt - Duales System Deutschland.
Wir wissen ebenfalls, dass das Bundeskartellamt in absehbarer Zeit mit weiteren Aufgaben im Bereich des Gesundheitswesens, der Entsorgungswirtschaft und der
Wasserwirtschaft betraut sein wird. Bei all den Kartellordnungswidrigkeiten kommt es infolge von Personalnot schon heute zu deutlichen Verzögerungen bei den Bearbeitungszeiten. Längere Bearbeitungszeiten erzeugen
Rechtsunsicherheit.
({1})
Dies verstärkt den Anreiz zu wettbewerbswidrigem
Verhalten der Marktteilnehmer.
Herr Schauerte, Sie haben eben angeführt, dass das
Bundeskartellamt durch eine Personalaufstockung profitieren könnte, ohne dass Kosten entstünden. Ich habe
noch eine weitere Möglichkeit der Finanzierung anzubieten. Wir wissen, dass das Bundeswirtschaftsministerium seit 1998 erhebliche Kompetenzen abgegeben hat,
ohne dass dort im selben Atemzug Personal abgebaut
wurde. Immerhin 130 Mitarbeiter des höheren Dienstes
und 150 Mitarbeiter des gehobenen Dienstes werden nach
wie vor am Bonner Standort beschäftigt. In dieser Situation machen wir den Vorschlag, zunächst einmal 25 Mitarbeiter des höheren Dienstes und 30 Mitarbeiter des gehobenen Dienstes vom BMWi zum Bundeskartellamt
abzuordnen.
({2})
Dies wäre eine Maßnahme, die sofort und kostenneutral
stattfinden könnte, sodass wir unterm Strich finanziell
profitieren könnten.
({3})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn dieses ganze Haus
- auch Herr Professor Jens hat es gesagt - dafür ist, dass
unsere Wettbewerbsstrukturen nicht nur erhalten, sondern
für die Zukunft auch gestärkt werden sollen, dann bleibt
gar keine andere Möglichkeit, Herr Professor Jens, als
diesem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf personelle Stärkung des Bundeskartellamtes zuzustimmen.
({4})
Dafür werbe ich in diesem Haus und bedanke mich
schon jetzt für Ihre Einsichten.
({5})
- Das wäre schade.
Das Wort hat jetzt der
Kollege Rolf Kutzmutz für die PDS-Fraktion.
Herr Hirche, Sie müssen nicht
klatschen, wenn ich komme. - Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS unterstützt
den vorliegenden Antrag der FDP, das Bundeskartellamt
personell zu stärken.
({0})
Ich halte es für ein Unding, einerseits das Hohelied der Liberalisierung von Märkten zugunsten von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu singen, aber andererseits das aus
meiner Sicht einzig effektive Instrument, das für fairen
Wettbewerb sorgt, immer mehr abzustumpfen.
({1})
Unfairer Wettbewerb führt zu privaten Monopolen.
Diese sind letztlich für alle - Konsumenten, Beschäftigte
und Steuerzahler - langfristig gefährlicher - Herr Kollege
Jens wird mir sofort widersprechen - als abgeschottete,
aber zumindest öffentlich kontrollierte Märkte, wie es sie
früher, beispielsweise bei Infrastrukturdienstleistungen
von Post bis Strom, gab.
Jetzt etwas zum Stellenplan: Die Koalition hat im vergangenen Jahr mit sehr viel Getöse vier Planstellen entsperren und neu besetzen lassen. Zur gleichen Zeit büßte
das Amt per allgemeinem Sparerlass dieselbe Stellenzahl
wieder ein. Es war also ein Nullsummenspiel. Jetzt im
laufenden Jahr sollen noch einmal 1,5 Prozent der Stellen
wegfallen. Ich muss sagen: Wenn man acht Stellen feiert,
die man für die Durchleitung geschaffen hat, muss man
das gegenrechnen. Es bleibt dabei: Das Kartellamt wird
personell geschwächt,
({2})
und das in einer Zeit, in der Wettbewerbskontrolle wichtiger denn je erscheint. Ich glaube aber, das passt der Bundesregierung offenbar auch in den Kram, sobald man Supermultis basteln möchte. Es wird dann sogar die
öffentliche Demontage einer der wenigen bisher tatsächlich unabhängig agierenden Behörden in Kauf genommen.
Mir zumindest hat noch niemand ein übergeordnetes
volkswirtschaftliches Interesse erklären können, das eine
Staatssekretärserlaubnis für Eon im Fall Ruhrgas rechtfertigen könnte. Aber ich bin lernfähig. Vielleicht bequemt sich ja das Bundeswirtschaftsministerium noch,
den Wirtschaftsausschuss des Bundestages aufzuklären,
bevor es zu einer Entscheidung kommt.
Die offenbar geplante Brüskierung des Kartellamts
würde allerdings zu seiner fortdauernden personellen
Auszehrung passen. Ich will auch deutlich sagen: Es hat
auch nichts mit Geld zu tun. Das Bundeskartellamt erwirtschaftet nicht nur seine Personalkosten, sondern
bringt auch etwas für den Haushalt ein. Auch das sollten
wir beachten. Mit der Fortdauer der Wildwestmethoden
beim Umbau der Energiemärkte scheint man sich abgefunden zu haben. Anders ist die gestern im Ausschuss
wieder bekundete Hoffnung der Bundesregierung nicht zu
verstehen, nach Barcelona durch die EU einen größtmöglichen Spielraum bei der Gestaltung des Regulierungsrahmens zu bekommen.
Einen eigenständigen Regulierer will man nicht, obwohl diese vernünftige Lösung in allen anderen EU-Staaten praktiziert wird. Das Kartellamt darf nicht regulieren,
weil dies ein erheblicher Bruch gegenüber seinen eigentlichen Aufgaben wäre. Das Wirtschaftsministerium sollte
nicht regulieren, weil es nach allen Erfahrungen ein
höchst parteiischer Schiedsrichter wäre. Bleibt also
tatsächlich nur, Bonner Personal aus dem Wirtschaftsministerium ins Kartellamt zu versetzen
({3})
und unter dessen Dach eine von der Wettbewerbsüberwachung getrennte unabhängige Regulierungsstruktur aufzubauen. Das ist eine Idee, mit der inzwischen auch
Minister Müller schwanger geht. Dafür bietet der FDPAntrag einen plausiblen Ansatz.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8134 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Bundeskartellamt personell stärken“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5575 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Ursula Burchardt, Petra Bierwirth, Hubertus
Heil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann,
Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltige Wasserwirtschaft in Deutschland
- Drucksachen 14/7177, 14/8564 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubertus Heil
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden, mit Ausnahme
der Vertreterin der PDS, sind zu Protokoll gegeben.1) Ich
erteile der Kollegin Dr. Bärbel Grygier das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Wasser hier vorne am Redepult und
das Wasser überhaupt verdienen heute Abend vielleicht
noch drei Minuten Aufmerksamkeit, denn morgen ist
Weltwassertag.
({0})
Ich denke, mit dem vorliegenden Antrag der Koalition
sowie mit der Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes, über
die morgen beraten werden soll, ist dieser Weltwassertag
ein guter für dieses Land oder könnte es zumindest sein.
({1})
Dass dieser Antrag eine sehr schwere Geburt hatte,
wissen die Kollegen der SPD sicher besser als ich, denn
hinter der Kulissen haben sehr viele gespielt, gezerrt, gezogen und geschoben. An dieser Diskussion war auch das
Netzwerk „Unser Wasser“ - eine sehr rührige NGO, bestehend aus Umweltverbänden, Gewerkschaften und Kirchen - beteiligt. Uns gegenüber stand wieder einmal die
Wirtschaft mit ihrem Minister, der das Motto vertritt: Liberalisierung um jeden Preis. Wir müssen feststellen: Niemand kann derzeit daran vorbei, dass sich die Bundesrepublik mit ihren überwiegend dezentralen und auch
kommunalen Strukturen flächendeckend durch eine sehr
hohe Versorgungssicherheit und eine außerordentliche
gute Trinkwasserqualität auszeichnet. Diese hält im
Übrigen allen internationalen Vergleichen stand, auch im
Hinblick auf das Preis-Leistungs-Verhältnis.
({2})
Ich bin auch froh darüber, dass in der Diskussion der
§ 103 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen erhalten geblieben ist und somit die Ausnahmen zugunsten geschlossener Versorgungsgebiete weiter bestehen bleiben.
Der Koalitionsantrag erkennt nunmehr an, dass der
Wettbewerb am Markt keine günstigeren Preise erzielen
und auch die Verbraucher- und Verbraucherinnensicherheit nicht weiter verstärken kann. Der Antrag stellt sich
auch endlich hinter das Gutachten des Umweltbundesamtes, das die Risiken einer Liberalisierung des Wassermarktes für Verbraucher und Umwelt nachgewiesen hat.
({3})
1) Anlage 3
- Manchmal glaube ich schon einem Amt. Ich habe damit
einige Jahre Erfahrung.
({4})
Skeptisch betrachten wir allerdings das Bemühen der
umsatzsteuerlichen Gleichstellung der Wasser- mit der
Abwasserversorgung in diesem Antrag. Aus unserer Sicht
wäre dies ein Türöffner zu einer leichteren Privatisierung.
Die Forderung zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich lehnen wir ab. Denn
profitieren würden ausschließlich die ganz Großen wie
Eon - das wurde eben bereits erwähnt -, RWE und Co.,
aber leider nicht der kleine niedersächsische Wasserverband.
({5})
Ich meine schon, dass die Großen ihre Expansionen
selber bezahlen sollten. Denn sie streichen auch enorme
Gewinne ein.
({6})
Schon jetzt verdienen sie im Wasserbereich unverschämt. Ich bezeichne das deswegen als unverschämt,
weil das Wassergeschäft selbst nach RWE-Schätzungen in
den Jahren 2001/2002 nur einen Umsatzanteil von 3 Prozent ausmachen, aber mit 20 Prozent zum Betriebsergebnis beitragen wird. Ich meine, dass es sich lohnt, noch einmal darüber zu reden. Diese Zahlen sprechen für sich.
Wir empfehlen allen Kommunen - ich sage dies auch
aus der Sicht der Kommunalpolitikerin, die ich bis vor
vier Wochen war -, sich dreimal zu überlegen, ob sie ihre
Wassersparte wirklich in private Hände legen sollen.
({7})
Wir halten ansonsten das klare Bekenntnis zu einer
kommunalen und modernen Wasserversorgung sowie gegen eine Liberalisierung und Privatisierung für zentrale
Punkte in diesem Antrag. Wir unterstützen ihn nicht nur,
sondern werden dem Antrag genauso wie der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes zustimmen.
Danke.
({8})
Frau Kollegin
Grygier, das war Ihre erste Rede im Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8564 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Nachhaltige
Wasserwirtschaft in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7177 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der
CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 98/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 über das Inverkehrbringen von BiozidProdukten ({1})
- Drucksachen 14/7007, 14/7922 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
- Drucksachen 14/8508, 14/8577 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Franz Obermeier
Winfried Hermann
Marita Sehn
Eva Bulling-Schröter
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto-
koll gegeben. Deswegen schließe ich die Aussprache.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Biozidgesetzes, Drucksachen 14/7007, 14/7922, 14/8577 und
14/8508. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Ziffer I seiner
Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8508 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({4})
1) Anlage 4
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN
Fortführung der Beratungen zum Endbericht
der Enquete-Kommission „So genannte Sekten
und Psychogruppen“
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Klaus Holetschek, Wolfgang Dehnel,
weiterer Abgeodneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Endbericht der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“
- Drucksachen 14/2568, 14/2361, 14/5262 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Peter Bartels
Christian Simmert
Klaus Holetschek
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Hans-Peter Bartels für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Auch politische Themen haben Konjunkturen. Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit
dem Phänomen der Sekten und Psychogruppen sowie den
Gefahren, die von diesen Gruppierungen ausgehen können, umgehen, steht derzeit nicht im Rampenlicht. Andere
Fragen beherrschen die Tagesordnung, auch hier und
heute. Dabei ist das Thema der Sekten manchmal doch
ganz aktuell. Dies zeigte sich in der Antiterrorgesetzgebung. Als Reaktion auf die Bedrohung durch Extremisten
haben wir mit Bundestagsbeschluss vom 9. November
2001 das Religionsprivileg im Vereinsgesetz gestrichen nur eine winzige Änderung im Text, aber ein Kernpunkt
der Sicherheitsgesetzgebung.
Die Rechtslage ließ bisher kein Verbot extremistischer
Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften zu,
während gegen sonstige Vereine mit Verbotsverfügungen
vorgegangen werden konnte. Im bundesdeutschen
Rechtsstaat schützte dieser der Religionsausübung freigeräumte, quasi rechtsfreie Raum vor allem hoch konfliktträchtige Gruppen vor der Intervention des Staates.
Selbst wenn elementare Grundrechte der eigenen Anhänger - Gesundheit und Leben, Willensfreiheit, Familie
oder Eigentum - durch eine sektiererische Organisation
unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit verletzt wurden, blieb die Organisation unantastbar. Das haben wir
nun geändert.
Das Bundesinnenministerium nennt in der Begründung des Gesetzes drei Fallgruppen von Vereinigungen,
die bislang gegen ein Verbot geschützt waren: fundamentalistisch-islamistische Vereinigungen, die zur Durchsetzung ihrer Glaubensüberzeugung Gewalt gegen Andersdenkende nicht ablehnen, Vereinigungen mit Gewinnerzielungsabsicht oder politischen Zielen, die für
sich den Status einer religiösen bzw. weltanschaulichen
Vereinigung reklamieren und im Rahmen von Vereinsverbotsverfahren Prozessrisiken hinsichtlich der Beurteilung
ihres Vereinigungscharakters aufwerfen - das betrifft
etwa die „Scientology“-Organisation - sowie bislang nur
im Ausland mit Tötungsdelikten und Massenselbstmorden aufgetretene Weltuntergangssekten wie „Aum“ oder
die „Sonnentempler“.
Sofort mit In-Kraft-Treten der Gesetzesänderung hat
der Bundesinnenminister von seinen neuen rechtlichen
Möglichkeiten Gebrauch gemacht und die „Kalifatstaat“Sekte verboten. Sie ist ein Beispiel dafür, wie sich politischer Extremismus und religiöse Intoleranz vermengen
können. Mit der Abschaffung des Religionsprivilegs ist
eine wichtige Empfehlung der Enquete-Kommission umgesetzt worden. Das ist gut so.
({0})
Anderes ist auf dem Weg. So führt das Familienministerium ein Modellprojekt durch, dessen Ziel es ist, das in
bestehenden Beratungsinstitutionen vorhandene Personal für die Beratungstätigkeit auf dem Gebiet der Sekten
und Psychogruppen zu qualifizieren und weiterzubilden.
Das betrifft Lebensberatung, Eheberatung, Jugendberatung, Erziehungsberatung oder Sektenberatung. Darüber
hinaus soll die Vernetzung dieser Institutionen gefördert
werden. Die Laufzeit des Projektes beträgt Zweidreivierteljahre. 1,8 Millionen DM stehen dafür insgesamt im
Bundeshaushalt zur Verfügung. Dies dient auch der
Prävention und der Aufklärung, zu der im Übrigen auch
die Länder verpflichtet sind.
Eine weitere rechtliche Klarstellung ist ebenfalls nicht
ohne Bedeutung für unser Thema. Auf Initiative der Koalitionsfraktionen wurde im Juli 2000 im Bürgerlichen
Gesetzbuch unmissverständlich klargestellt, dass Kinder
ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben:
Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen
und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
So steht es im Gesetz. Das Wohl des Kindes hat Priorität.
Damit haben wir eine Zielsetzung auch der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“erfüllt.
Abschaffung des Religionsprivilegs, Verbesserung der
Beratung, gewaltfreie Erziehung - das sind einige positive Schritte, die wir mit unserer Koalition unternommen
haben und die ich genannt habe. Das kann aber noch nicht
alles sein. Die Liste der Vorschläge der Enquete-Kommission, die noch in der Diskussion sind, ist lang - zu
lang! Manche Vorhaben sind schwierig und lassen sich
nicht mit einer kleinen Gesetzesänderung umsetzen. Die
CDU/CSU-Fraktion macht es sich deshalb mit dem Katalog ihres Antrages ein bisschen einfach. Hinter mancher
schnellen Forderung verbirgt sich eine komplizierte und
bisweilen recht grundsätzliche juristische Frage.
Ich nenne nur die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortung für juristische Personen.
Es gibt aber auch Bereiche, in denen ohne Zweifel
mehr hätte geschehen können. Ich wundere mich ein bisschen, dass selbst eine unumstrittene Empfehlung wie die,
Vizepräsidentin Anke Fuchs
das Sektenreferat im Bundesverwaltungsamt zu stärken,
schon so lange auf ihre Realisierung wartet.
Als die Sektenfrage Konjunktur hatte - das war insbesondere 1996, als Tageszeitungen auf ihren Titelseiten
über das Thema berichteten -, schien vieles einfacher
durchzusetzen. Die öffentliche Wahrnehmung hat seither
abgenommen. Deshalb fällt es manchmal schwer, den
notwendigen Druck zu machen. Wir werden aber weiter
daran arbeiten und darauf drängen, dass mehr Empfehlungen der Enquete-Kommission tatsächlich umgesetzt
werden.
Schönen Dank.
({1})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Antje Blumenthal für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!
Die Enquete-Kommission empfiehlt dem 14. Deutschen Bundestag, die Bundesregierung zu verpflichten, jeweils zwei Jahre und vier Jahre nach der Verabschiedung dieses Endberichts einen Bericht über
die Umsetzung der dort ausgesprochenen Handlungsempfehlungen vorzulegen.
Dies ist der letzte Satz aus dem Endbericht der EnqueteKommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“.
Auf diesen Bericht haben Sie, Herr Bartels, sich heute offenbar bezogen. Ich kann aber nicht feststellen, dass uns
darüber hinaus etwas schriftlich vorgelegt worden wäre.
Dieser Bericht lag dem Bundestag in der letzten Wahlperiode am 9. Juli 1998 vor. Obwohl nun fast vier Jahre
ins Land gegangen sind, hat sich die Koalition vor knapp
einem Jahr nur auf eines einigen können, nämlich dass sie
weiter beraten will, wie sie die Handlungsempfehlungen
der Enquete-Kommission umsetzen könnte.
({0})
Wenn wir nun fragen, wer wann diese Empfehlungen wird
umsetzen können, dann brauchen wir uns sicher nicht an
Bundeskanzler Schröder zu wenden; denn nicht er, sondern Edmund Stoiber wird es sein, der die Bundesbürger
über die verschiedenen Sekten und den undurchdringlichen Psychomarkt aufklären wird.
({1})
Aufklärung tut Not, wie die Handlungsempfehlungen
der Enquete-Kommission unterstreichen. Es wäre ratsam,
den Psychomarkt und die verschiedenen Gruppierungen
wissenschaftlich zu erforschen, um ihre Ziele und Praktiken zu unterscheiden; denn nur eine solide wissenschaftliche Forschung bietet ein Fundament für das, was die
Bundesbürger wünschen, nämlich Information und Aufklärung über die verschiedenen Anbieter. Es ist das Anrecht der Bundesbürger, sich in punkto Lebensfragen zu
informieren und bei jeder Form von Lebensberatung ihrer
körperlichen Unversehrtheit sicher zu sein. Hier böte sich
zum Beispiel eine rechtliche Regelung der gewerblichen
Lebensbewältigungshilfe an, wie sie die Enquete-Kommission vorgeschlagen und die CDU/CSU-Fraktion beantragt hatte.
({2})
- Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist, wie Sie, Herr
Bartels, wissen, der Diskontinuität zum Opfer gefallen.
Vielleicht haben Sie das inzwischen vergessen.
({3})
- Darf ich erst einmal meine Rede beenden? Sie können
darauf ja noch während Ihrer Rede eingehen, Frau
Rennebach.
({4})
- Ich bleibe bei der Wahrheit.
Die Bundesregierung scheint hier, wie in so vielen anderen Fällen, Reformen zu verschlafen. Dabei hatte die
Kommission einen klaren Katalog an Empfehlungen aufgestellt. Zwar hatte das Gremium festgestellt, dass die wenigsten Psychogruppen „massiv konfliktträchtig“ seien.
Jedoch ist der Gesetzgeber damit nicht seiner Verpflichtung entbunden, im Sinne des Verbraucherschutzes, quasi
als Orientierungshilfe und Präventivmaßnahme, bestehendes Recht zu erweitern und neue Gesetze zu erlassen,
die verhindern, dass einige dieser Gemeinschaften den
Staat und seine Bürger gefährden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle sieben Empfehlungen der Enquete-Kommission hervorheben. Erstens. Der
Gesetzgeber sollte eine Stiftung des öffentlichen Rechts
einrichten, die sich den so genannten Sekten und Psychogruppen widmet. Zweitens. Er sollte ein Gesetz erlassen,
das die gewerbliche Lebensbewältigungshilfe regelt.
Drittens. Er sollte die strafrechtliche Verantwortlichkeit
juristischer Personen und Personenvereinigungen einführen. Viertens. Er sollte das Bundesverwaltungsamt im
Bereich der Psychogruppen tätig werden lassen. Die
Kommission hat genau vorgegeben, wie hier Prävention
und Aufklärung möglich sind. Fünftens. Die internationale und vor allem die EU-weite Zusammenarbeit sollte
so vernetzt werden, dass Maßnahmen besser koordiniert
werden können. Sechstens. Ein interdisziplinärer Forschungsverbund könnte den Bereich der Glaubensgemeinschaften und Psychogruppen erforschen, auf Gefahren hinweisen und so Bund und Ländern zuarbeiten.
Siebtens. Staat und Gesellschaft sollten sich nicht in die
Konflikte zwischen den neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften hineinziehen lassen, sondern die
Stiftung des öffentlichen Rechts als Mittlerin einschalten.
Diese von mir genannten Forderungen hatte meine
Fraktion mit einem Antrag im Dezember 1999 in den
Bundestag eingebracht. Die Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen behielten sich am 25. Januar
2000 vor, die aufgeworfenen Fragen intensiv zu erörtern,
woraufhin ein Jahr später, am 7. Februar 2001, der federführende Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend mit den Stimmen der Koalition mehrheitlich empfahl, weiter zu debattieren, anstatt zu handeln.
Nehmen wir stattdessen einmal den günstigsten Fall an,
dass sich die Bundesregierung, scheinbar wider besseres
Wissen, entschlossen hätte, die Handlungsempfehlungen
der Enquete-Kommission umzusetzen: Scientology würde
nicht mehr als Psychogruppe, sondern als ideologische Gemeinschaft mit deutlich staatsfeindlichen Absichten bezeichnet. Sie fiele damit in die Klasse der massiv konfliktträchtigen Gemeinschaften. Das Bundesverwaltungsamt
würde die Bundesbürger über die verschiedenen religiösen
Gruppierungen informieren und vor bestimmten Vereinen
warnen, und zwar auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, die der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft
initiierte Forschungsverbund lieferte. Schüler würden bundesweit bereits im Religions- oder Ethikunterricht die verschiedenen Gruppierungen und deren Ziele kennen lernen.
Grundlage aller Maßnahmen gegen gefährliche Gruppen
wäre eine einheitliche Gesetzgebung. Bürger könnten Personen haftbar machen, die mit subtilen psychologischen
Techniken Menschen an Seele und Leib oder finanziell geschädigt hätten. Opfer der verheerenden Techniken einiger
Psychogruppen, zum Beispiel des Pyramidenspiels, könnten die Hilfe erfahrener und geschulter Psychotherapeuten
in Anspruch nehmen.
Meine Fraktion hatte am 14. Dezember 1999 die Bundesregierung mit einem Antrag aufgefordert, umgehend
entsprechende Gesetzentwürfe vorzulegen. Bis dato behandelt die Bundesregierung jedoch nur die Empfehlungen der Enquete-Kommission und pflegt sich offensichtlich immer noch intensiv zu beraten. Wir fordern die
Bundesregierung daher erneut auf, ihre Warteposition zu
verlassen und endlich zu handeln. Es reicht nicht, die im
Abschlussbericht aufgeworfenen Fragen zu erörtern und
in der 14. Wahlperiode weiter zu beraten. Ich bezweifle
stark, dass Sie handeln werden, bevor diese Wahlperiode
zu Ende geht. Sie hatten nun fast vier Jahre Zeit, um gesetzgeberische Empfehlungen sowie andere Maßnahmen
zu prüfen.
Ich möchte dem entgegenstellen, wie beispielhaft das
Bundesverwaltungsamt nach den Vorstellungen der Enquete-Kommission längst arbeiten könnte: Es sammelt
alle bedeutsamen Materialien und wertet sie aus. Es informiert alle Dienststellen des Bundes und der Länder sowie die Auskunftsstellen öffentlich-rechtlicher und privater Natur. Es klärt die Bundesbürger und Wissenschaftler
über den Erkenntnisstand und insbesondere über die Gefahren neuer religiöser und ideologischer Gruppen auf.
Zusammen mit einer entsprechenden Gesetzgebung
könnte so eine Gefährdung unserer Gesellschaft durch
ideologische Gemeinschaften oder Psychogruppen verhindert werden. Dies alles hätte bereits in die Tat umgesetzt werden können.
({5})
„Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht“, sagt Jesus
in Matthäus 9 Vers 12. Geben Sie deshalb dem Antrag der
CDU/CSU statt, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition!
({6})
Frau Kollegin
Blumenthal, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen
Hauses.
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Renate Rennebach für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich bitte um Entschuldigung dafür,
dass wir in diesem Haus um diese Zeit dieses Thema noch
beraten. Es ist mir ein persönliches Anliegen, heute dazu
zu sprechen, weil ich aus dem Bundestag ausscheiden
werde. Ich war Sprecherin der SPD in der Enquete-Kommission.
Die Enquete-Kommission „So genannte Sekten und
Psychogruppen“ hat einen Abschlussbericht zustande gebracht, der international große, im Deutschen Bundestag
allerdings nur relativ wenig Aufmerksamkeit erregt hat.
({0})
- Frau Fischbach, ich werde keine Fragen zulassen, weil
ich dieses Thema nicht ins Lächerliche ziehen lassen
möchte.
({1})
Täglich höre ich Berichte, dass Menschen in so genannten Sekten und Psychogruppen misshandelt werden,
ihre Menschenrechte nicht geachtet werden und sie finanziell in den Ruin getrieben werden. Zugleich sind sehr
viele Sektenberatungsstellen in den Ländern, die jeden
Tag hervorragende Arbeit leisten, mit viel zu wenig Geldmitteln ausgestattet.
({2})
Ich appelliere hier an die Bundesregierung und an die
Länder, dieser Arbeit mehr Aufmerksamkeit zu widmen
und mehr Geld dort hineinzustecken. Die Menschen in
den Sektenberatungsstellen der Länder leisten nämlich
großartige Arbeit, indem sie Menschen helfen, die sonst
nirgendwo Hilfe finden.
({3})
- Das Ministerium achtet sehr aufmerksam darauf, was
wir hier sagen. Da bin ich mir ganz sicher.
({4})
Wenn Sie im Übrigen diese Regierung beschimpfen,
möchte ich auf das verweisen, was die Kollegin vor mir
gesagt hat. Die Enquete-Kommission hatte, während sie
tagte, sehr viele Probleme aufgedeckt, die sofort hätten
gelöst werden können. Gesetzesinitiativen, die wir auf
den Weg gebracht haben, hätten sofort umgesetzt werden
können, unter anderem das vom Bundesrat beschlossene
Gesetz zur Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe. Das damals von der FDP geleitete Justizministerium hat dieses Gesetz abgelehnt. Die damalige Bundesregierung hat uns Steine in den Weg gelegt; darunter
leiden wir noch heute. Die Kommentare, die damals abgegeben wurden, hören wir heute wieder, wenn wir über
dieses Gesetz reden.
Wir werden noch in dieser Legislaturperiode versuchen, einen Antrag in den Bundestag einzubringen,
({5})
durch den der Verbraucherschutz am Psychomarkt geregelt werden soll. Das ist dringend notwendig; dazu stehe
ich heute noch. Da muss ich mich von Ihnen nicht anpinkeln lassen.
({6})
Wenn heute der Verbraucherschutz im Lebensmittel- und
im Landwirtschaftsbereich hervorragend und perfekt geregelt ist, dann bleibt der Verbraucherschutz am Psychomarkt - da appelliere ich auch an meine Kolleginnen und
Kollegen - eines der wichtigsten Themen, das wir noch in
dieser Legislaturperiode anfassen müssen.
({7})
Ich freue mich, dass sich Kolleginnen und Kollegen in
meiner Fraktion zusammengefunden haben, die bereit
sind, dieses auf den Weg zu bringen.
Ich bin es leid, mich in der Öffentlichkeit dafür zu verteidigen, dass in der 14. Legislaturperiode des Deutschen
Bundestages relativ wenig auf diesem Gebiet gemacht
wurde. Was getan worden ist, hat mein Kollege HansPeter Bartels aufgeführt. Ich hoffe nur und appelliere an
die Kollegen, die dem nächsten Deutschen Bundestag angehören werden, dass sie dieses Thema weiterverfolgen,
den Opfern und den Betroffenen von so genannten Psychogruppen und, als Steigerung davon, jetzt immer mehr
verbreitet, denen Opfern von Satanistengruppen, in denen
ritueller Missbrauch und andere Geschichten stattfinden,
endlich auch im Deutschen Bundestag Gehör schenken
und Möglichkeiten finden, ihnen mit Bundesgesetzen,
aber auch mit Initiativen auf Landesebene zu helfen.
An meine grünen Kolleginnen und Kollegen - leider
sitzen jetzt nicht die Richtigen hier, sondern ganz harmlose Leute ({8})
appelliere ich, dem nicht mehr im Weg zu stehen.
({9})
Es geht nicht darum, dass Esoterikgruppen geschützt werden, sondern es geht darum, dass den Menschen, die in Not
sind, geholfen wird, sie wirksame Hilfe finden, nicht mehr
von Weltanschauungsgruppen ausgebeutet werden und
nicht mehr um Leib und Leben fürchten müssen.
In diesem Sinne bedanke ich mich für die späte Aufmerksamkeit.
({10})
Der Kollege Volker
Beck hat seine Rede zu Protokoll gegeben, ebenso die
Kollegin Ulla Jelpke von der PDS.1)
So hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die Enquete-Kommission hat in der letzten
Legislaturperiode ihre Arbeit vor dem Hintergrund eines
gewaltigen gesellschaftlichen Wandels durchgeführt. Im
Kern kommt der Schlussbericht ja zu dem Ergebnis, dass
von den neuen religiösen Gemeinschaften in Deutschland
generell keine Gefahren für Staat und Gesellschaft ausgehen. Unsere Gesellschaft muss also lernen, mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt tolerant und von
gegenseitigem Respekt getragen umzugehen, natürlich
nicht mit Verfehlungen von Sekten, die Menschen, die
sich in deren Hände begeben haben, schmerzhaft spüren
mussten. Diesem Missbrauch müssen wir begegnen.
Ich denke, dazu hat der Deutsche Bundestag wenig beigetragen.
({0})
- Frau Rennebach, ich bin seit 1998 im Bundestag. Ich
habe mit dieser Sache erst jetzt zu tun. Sie können wirklich darauf zählen, dass ich mich diesem Thema von nun
an widmen werde. Ich werde auch im nächsten Deutschen
Bundestag vertreten sein. Also werde ich das mit meiner
Fraktion machen.
({1})
Die Kommission empfahl dem Deutschen Bundestag,
in der jetzigen Legislaturperiode ein Gesetz zur Regelung
der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe zu beschließen.
({2})
Ich halte ein solches Gesetz für notwendig. Natürlich hat
die Bundesregierung selbst nichts vorgelegt, was den Ver-
braucher vor den in diesem Bereich geschlossenen -
schlechten - Verträgen schützt.
Die FDP unterstützt ausdrücklich die Einrichtung einer
staatsfernen und unabhängigen Stiftung. Diese öffentlich-
rechtliche Stiftung soll informieren und beraten, um so zu
weiterer Transparenz und Aufklärung beizutragen. Die
Enquete-Kommission setzt sich - das haben wir von mei-
ner Kollegin eben schon gehört - für einen interdiszi-
plinären Forschungsverbund ein, der sich mit den Themen
1) Anlage 5
„neue religiöse Bewegungen“, „Psychogruppen“ usw. befasst.
Es ist richtig, dass wir diese Bundesregierung hier, im
Bundestag, noch einmal auffordern, im europäischen
Kontext auf eine einheitliche Vorgehensweise im Hinblick auf neue religiöse Gemeinschaften hinzuwirken.
Diese Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ist
noch nicht zu Ende; deshalb kann die Bundesregierung
auf diesem Gebiet auch jetzt noch aktiv werden.
({3})
Ich habe mich gefragt, wie es zu den beiden Anträgen von
der CDU/CSU und von der SPD und dem Bündnis 90/Die
Grünen gekommen ist. - Der Grund ist, dass die Bundesregierung überhaupt nicht tätig geworden ist.
({4})
Frau Rennebach, dafür sind Sie persönlich vielleicht gar
nicht verantwortlich. Komischerweise wurden diese Anträge gerade zu dem Zeitpunkt eingebracht, zu dem die
Regierung einen Bericht darüber, was sie gemacht hat,
vorlegen sollte. Das ist Fakt. Es tut mir schrecklich Leid,
das sagen zu müssen.
({5})
Sie persönlich sind nicht schuld. Frau Rennebach, ich
habe mir sagen lassen, dass Sie sich in Ihrer Fraktion für
diese Dinge sehr eingesetzt haben. Dafür bin ich Ihnen
sehr dankbar.
({6})
Die Bundesregierung sollte wirklich noch in dieser Legislaturperiode einen Bericht über ihre Aktivitäten auf
diesem Gebiet abgeben. Das kann sie doch machen. Nach
Ostern gibt es genügend Sitzungswochen, in denen wir
uns damit beschäftigen können. Die Bundesregierung soll
einmal „Butter bei die Fische“ tun und sagen, was sie gemacht hat.
Das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Freiheitsrechten und sozialem Zusammenhalt einer Gesellschaft muss angesichts weltweiter Entwicklungen neu
austariert werden. Toleranz auch gegenüber neuen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften ist hierbei
aus liberaler Sicht ein elementarer Baustein. Die Kommission hat hierüber - meines Erachtens in beeindruckender Art - eine breite Diskussion geführt und gute
gesetzgeberische Empfehlungen gegeben. Was wir brauchen - das sage ich in Richtung beider großen Fraktionen -, sind keine zusätzlichen Diskussionen, sondern
Umsetzungsstrategien.
({7})
Deshalb werde ich mich ab sofort, auch in der nächsten
Legislaturperiode, um diese Dinge kümmern und meine
Fraktion für diese Dinge sensibilisieren.
Es bleibt festzustellen, dass sich die Bundesregierung
dazu weder heute im Plenum geäußert hat noch dass sie in
den letzten dreieinhalb Jahren in diesem Bereich irgendetwas zustande gebracht hat; sonst hätten Sie uns hier garantiert bessere Ergebnisse vorlegen können.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
An dieser Stelle möchte ich der Kollegin Renate
Rennebach für ihre engagierte Arbeit auf diesem Feld, die
sie leider nicht mehr ganz zu Ende führen kann, sehr herzlich danken.
({0})
Nun kommen wir zu der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auf der Drucksache 14/5262. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/2568 mit dem Titel „Fortführung der Be-
ratungen zum Endbericht der Enquete-Kommission ‚So
genannte Sekten und Psychogruppen‘“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP und bei Enthaltung der PDS ist die Beschluss-
empfehlung angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2361 mit dem
Titel „Endbericht der Enquete-Kommission ‚So genannte
Sekten und Psychogruppen‘“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussemp-
fehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b
auf:
16. a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Vorsorgepolitik für gesundheitsverträglichen
Mobilfunk
- Drucksache 14/8584 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ilse Aigner, Dr. Christian Ruck, Dr. Martin Mayer
({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Auswirkungen elektromagnetischer Felder, ins-
besondere des Mobilfunks
- Drucksachen 14/5848, 14/7958 -
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto-
koll gegeben. Ich schließe die Aussprache.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8584 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 31 c auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung der Besoldungsstruktur ({3})
- Drucksache 14/6390 ({4})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortsetzung der Dienstrechtsreform
- Drucksache 14/3458 ({5})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({6})
- Drucksache 14/8623 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Meinrad Belle
Helmut Wilhelm ({7})
Petra Pau
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 14/8633,14/8635 -
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto-
koll gegeben.2) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moderni-
sierung der Besoldungsstruktur auf Drucksache 14/6390.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8623, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU,
FDP und PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates
auf Drucksache 14/3458 zur Fortsetzung der Dienst-
rechtsreform. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8623,
den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Keiner will das. Wer stimmt dagegen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Somit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Be-
ratung. - Der Gesetzentwurf war ja vom Bundesrat; des-
halb dieses Ergebnis.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
17.a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({10}), Dirk Fischer ({11}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Frontpartien von Fahrzeugen europaweit
fußgängersicher gestalten
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat und
das Europäische Parlament
Fußgängerschutz:
Selbstverpflichtung der europäischen Automobilindustrie
KOM ({12}) 389 endg.; Ratsdok. 09616/01
- Drucksachen 14/6316, 14/7409 Nr. 2.1, 14/8571 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({14}),
Dirk Fischer ({15}), Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Sicherheit durch Kreisverkehre
- Drucksachen 14/7452, 14/8570 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Streb-Hesse
Ich eröffne die Aussprache. Gott sei Dank sind alle Re-
den zu Protokoll gegeben.3) Ich schließe die Aussprache.
({16})
- Keine Kritik ans Parlament, völlig klar.
Tagesordnungspunkt 17 a: Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8571. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,
den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/6316 mit dem Titel „Frontpartien von Fahrzeugen
europaweit fußgängersicher gestalten“ für erledigt zu
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 6
2) Anlage 8 3) Anlage 7
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, in Kenntnis der Unterrichtung durch die
Bundesregierung mit dem Titel „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament Fußgängerschutz: Selbstverpflichtung der europäischen
Automobilindustrie“ eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Auch
diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/8570 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Mehr Sicherheit durch Kreisverkehre“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/7452 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Wir sind am Schluss der Beratungen des heutigen Tages.
Ich berufe die nächste Sitzung für morgen, Freitag, den
22. März, 9 Uhr, ein. Schönen Abend!
Die Sitzung ist geschlossen.