Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/21/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor zwei Jahren hat sich die Europäische Union auf dem von Ihnen, Herr Bundeskanzler, zitierten Rat in Lissabon das strategische Ziel gesetzt, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen, zu einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu realisieren“. Der Gipfel vom vergangenen Wochenende hätte feststellen müssen, dass Sie von dem Ziel, dass Sie sich vor zwei Jahren in Lissabon gesetzt hatten, weiter denn je zuvor entfernt sind. ({0}) Ich bestreite nicht, dass die Zwischenbilanz, die Sie gezogen haben, in einigen wenigen Bereichen, etwa bei der Computer- und Internetnutzung sowie bei einer Reihe von Dienstleistungsrichtlinien insbesondere für die Finanzmärkte, durchaus positiv ausfällt. Ich begrüße auch ganz ausdrücklich die unmissverständliche und klare Botschaft, die die Staats- und Regierungschefs am vergangenen Wochenende zum Konflikt im Nahen Osten abgefasst haben. Wir teilen das Bekenntnis zu einem demokratischen und unabhängigen Staat Palästina ebenso wie das Recht der Israelis, in sicheren staatlichen Grenzen leben zu können. Wir alle sind über die Lage im Nahen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Mittleren Osten besorgt und wünschen, dass die Europäische Union in dieser Region eine aktive politische Rolle spielt, damit der Frieden dort auf Dauer gesichert werden kann. ({1}) Auch wenn in diesen Fragen durchaus einige wichtige Positionen bestimmt worden sind, so kann das Treffen in Barcelona doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Europäische Union bei einer Reihe von ganz wichtigen Punkten, die in Lissabon verabredet worden sind, kaum oder überhaupt nicht vorangekommen ist. Ich werde Ihnen dazu gleich ein Beispiel nennen. Das Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union, das zur Zeit des Lissaboner Gipfels vor zwei Jahren immerhin noch bei 2,6 Prozent lag, ist im letzten Jahr auf 1,6 Prozent zurückgegangen. Die Produktivität je Arbeitnehmer ist etwa im Verhältnis zu der in den USA von 74 auf 72 Prozent zurückgegangen. Fortschritte beim Beschäftigungsaufbau in der Europäischen Union sind praktisch nicht messbar. Öffentliche und private Ausgaben in der Forschung und in der Entwicklung sind nicht so signifikant erhöht worden, wie es vereinbart worden war. Auch im Bereich der allgemeinen und der beruflichen Bildung hat es, wie es die PISA-Studie gerade für Deutschland gezeigt hat, keine wirklichen Fortschritte gegeben. Herr Bundeskanzler, das, was ich Ihnen hier sage, ist keine Analyse oder Schwarzmalerei der Opposition im Deutschen Bundestag. Es entspricht vielmehr einem Bericht, den die EU-Kommission vorgelegt hat und in dem sie sich besonders kritisch mit der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik Deutschland auseinander setzt. In diesem Bericht der EU-Kommission vom 15. Januar 2002 wird - aus guten Gründen - darauf hingewiesen, dass gerade in Deutschland Handlungsbedarf bestehe, so etwa bei der Deregulierung der Arbeitsmärkte, der Reform des Steuer- und des Rentensystems, der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte sowie bei den Investitionen in Forschung und Bildung. Noch deutlicher als dieser Bericht, den die EU-Kommission den Staats- und Regierungschefs vorgelegt hat, ist der Bericht der EU-Kommission über die Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der EU-Staaten im Jahre 2001 vom Februar des laufenden Jahres, der im Ecofin-Rat, also im Rat der Finanzminister, beschlossen worden ist. Das Zwischenzeugnis, das Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihrer Regierung in diesem Bericht ausgestellt wird, ist nichts anderes als eine scharfe und in jeder Hinsicht berechtigte Kritik an Ihrer Regierungspolitik. ({2}) Es ist bezeichnend, Herr Bundeskanzler, dass Sie auf diese Berichte der EU-Kommission und des Ecofin-Rates heute Morgen in Ihrer Regierungserklärung mit keinem Wort Bezug genommen haben. ({3}) Europa stände in der Tat besser da, wenn Deutschland nicht einen solchen Wachstumseinbruch wie den im letzten Jahr gehabt hätte. Nicht die Europäische Union hat ein Wachstums- und Beschäftigungsproblem. Es liegt vor allem an Deutschland, das unter Ihrer Führung, Herr Bundeskanzler, Schlusslicht in Europa geworden ist. ({4}) Ich weiß, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, dass Sie das nicht gerne hören. Aber Deutschland ist Schlusslicht beim wirtschaftlichen Wachstum und bei der Entwicklung des Arbeitsmarktes. Deutschland ist allerdings Spitzenreiter in der Europäischen Union, wenn es um die Neuverschuldung geht. Die Europäische Union stände insgesamt wesentlich besser da, wenn nicht Deutschland ein solcher Problemfall in Europa geworden wäre. ({5}) Wir reden zu Recht viel über das Wachstum. Der Gipfel, der am vergangenen Wochenende in Barcelona stattgefunden hat, wollte sich ja mit den Wachstumsperspektiven beschäftigen. - Jetzt begibt sich Herr Fischer zu den Abgeordneten, damit er wieder dazwischenrufen kann. Wenn man das Wirtschaftswachstum Deutschlands herausrechnet, dann stellt man fest, dass es in der Europäischen Union ein Wachstum von 2 Prozent gegeben hätte. Mit Deutschland lag das Wirtschaftswachstum bei nur 1,6 Prozent. Das ist nicht verwunderlich; denn Deutschland ist mit einem Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent Schlusslicht. ({6}) Nicht nur wir, sondern gerade auch ausländische Wirtschaftszeitungen stellen fest, Herr Bundeskanzler: Deutschland ist während Ihrer Regierungszeit zum kranken Mann Europas geworden. ({7}) In Ihrer Regierungserklärung, die Sie, Herr Bundeskanzler, heute Morgen abgegeben haben, sowie in verschiedenen Reden, die Sie bei Ihren öffentlichen Auftritten in den letzten Tagen und Wochen gehalten haben, ist erstaunlich - ich sage: erschreckend - häufig das Wort von der deutschen Industriepolitik vorgekommen. Damit überhaupt kein Missverständnis entsteht: Wir brauchen in Deutschland eine produzierende Industrie. Wir brauchen große, weltweit tätige und wettbewerbsfähige Konzerne ({8}) - warum gibt es an dieser Stelle Zwischenrufe von Ihnen? -, die auch in Zukunft ihren Sitz in Deutschland haben. Die deutsche Industrie braucht in Zukunft gute Standortbedingungen, damit sie auch im Ausland Arbeitsplätze schaffen kann, die im Inland Arbeitsplätze sichern. ({9}) Aber - ich will das vorweg sagen, damit kein Missverständnis entsteht - wir brauchen doch keine Industriepolitik. Vor allem brauchen wir keine Industriepolitik, wie Sie, Herr Bundeskanzler, sie uns heute Morgen vermittelt haben. ({10}) Ich will dazu einige Anmerkungen machen: Wir brauchen eine langfristig angelegte und stetige Wirtschaftspolitik, ({11}) die sich auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit aller Unternehmen und nicht nur der Großen in Deutschland konzentriert. ({12}) Herr Bundeskanzler, es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Wirtschaftspolitik und auf die Industriepolitik, so wie Sie sie verstehen, dass heute Morgen in Ihrer Regierungserklärung bei diesem Thema - das Thema ist die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa und damit auch die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland - vom deutschen Mittelstand mit keinem einzigen Wort die Rede war. ({13}) Ihre Regierungserklärung vom heutigen Tag atmet genauso wie Ihre Wirtschaftspolitik, Herr Bundeskanzler, den Geist des Interventionismus und des Protektionismus. Sie atmet den Geist der staatlichen Unternehmensplaner am grünen Tisch, die von abgrundtiefem Misstrauen gegenüber eigenverantwortlichen Unternehmern geprägt sind ({14}) und die den großen industriellen Einheiten, die in kollektiven Gremien gesteuert und kontrolliert werden, das Wort reden. Das ist Ihre Vorstellung von Wirtschaftspolitik. ({15}) Da Sie darüber so fröhlich lachen, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen Folgendes sagen - ich weiß nicht, ob Sie schon Gelegenheit hatten, heute Morgen die Zeitungen zu lesen -: Vermutlich wird an diesem Tag, vielleicht gerade in dieser Stunde, das von Ihnen vor zweieinhalb Jahren so spektakulär - angeblich - gerettete Unternehmen Philipp Holzmann in Frankfurt Konkurs anmelden. ({16}) - Herr Bundeskanzler, der Zwischenruf, den Sie gerade gemacht haben, nämlich „Das freut Sie!?“, ist wirklich entlarvend. Ich will Ihnen einmal sagen, was Sie in den zweieinhalb Jahren offensichtlich übersehen haben: Die Rettungsaktion, die Sie damals so spektakulär vor den Fernsehkameras der Republik ({17}) unternommen haben, ist bis heute nicht gelungen. Sie ist ein Verstoß gegen geltendes Tarifrecht und gegen geltende europäische Beihilferegeln gewesen; darüber haben Sie sich locker hinweggesetzt. ({18}) In der Zwischenzeit, seit gut zwei Jahren, sind in Deutschland mehrere Hundert Unternehmen der Bauwirtschaft in Konkurs gegangen. Es sind fast 100 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Sie sind zum Teil verloren gegangen, weil das Unternehmen Philipp Holzmann mit Ihrer Hilfe, mit Ihrer Industriepolitik in Deutschland Löhne hat zahlen können, die kein anderes Unternehmen zahlen konnte. ({19}) Mit Ihrer Industriepolitik, Herr Bundeskanzler, haben Sie Philipp Holzmann eben nicht retten können. ({20}) Ich sage Ihnen jetzt einmal - das mag Ihnen nicht gefallen und vielleicht machen Sie auch parteipolitisch Gebrauch davon -: Es wäre für den Mittelstand und für die Bauindustrie in Deutschland besser gewesen, wenn man dieses Unternehmen dem Schicksal überlassen hätte, auf das es heute wieder zusteuert. ({21}) In der Zwischenzeit hätten andere Arbeitsplätze in Deutschland, gerade in der Bauindustrie, gerettet werden können. ({22}) - Meine Damen und Herren, die Sie dazwischenrufen, Sie wissen aus Ihren Wahlkreisen, wie wahr das ist. Bei den mittelständischen Unternehmen, die in der Zwischenzeit Pleite gegangen sind, ist kein Bundeskanzler da gewesen, ist kein Außenminister da gewesen, ist kein Industriepolitiker dieser Bundesregierung da gewesen. ({23}) Ihre Arbeitsteilung ist wie folgt: Wenn der Große Pleite geht, kommt der Bundeskanzler; wenn der Kleine Pleite geht, kommt der Konkursverwalter. Das ist Ihre Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren. ({24}) Herr Bundeskanzler, ein mittelständischer Unternehmer, der heute Morgen die Zeit gehabt hätte, Ihnen bei Ihrer Regierungserklärung zuzuhören, hätte sich in Ihrer Welt der großen Einheiten und der deutschen Industriepolitik nicht mehr wiedergefunden. ({25}) Ich will Sie an Folgendes erinnern: 60 Prozent des Umsatzes der deutschen Wirtschaft werden in kleinen und mittleren Unternehmen gemacht. 70 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze werden nicht von den großen Industrieunternehmen, sondern von den kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland bereitgehalten. 90 Prozent der Unternehmen in Deutschland sind mittlere und kleine Unternehmen. Auch die wollen im europäischen Binnenmarkt Bestand haben; auch die wollen in der Europäischen Union wettbewerbsfähig sein. Kein Wort von dieser Bundesregierung zu diesem Teil unserer Volkswirtschaft. ({26}) Jedes Kind in Deutschland weiß, Herr Bundeskanzler, dass die Überwindung der Wachstums- und Beschäftigungskrise in unserem Land nicht nur mithilfe der Großen - zwar auch mit denen - möglich ist; insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen müssen einbezogen werden. Diese Unternehmen fühlen sich jedoch von der Wirtschaftspolitik Ihrer Bundesregierung, auch von Ihrer Europapolitik sträflich vernachlässigt. ({27}) Meine Damen und Herren, ich will ein weiteres Beispiel Ihrer Industriepolitik geben. Ich komme dabei noch einmal auf den Begriff der Reziprozität zurück. Es geht um die Liberalisierung der Automärkte. Wollen Sie, Herr Bundeskanzler, uns wirklich allen Ernstes erklären, dass es richtig ist, gegen die Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes und insbesondere gegen die Liberalisierung der Automärkte zu polemisieren, weil dies die Marktmacht der deutschen Automobilkonzerne einschränke? Was Sie dazu hier und an anderer Stelle gesagt haben, ist blanker wirtschaftspolitischer Unfug. ({28}) Führende Personen von BMW haben Ihnen längst gesagt, dass die Öffnung gerade des Vertriebs richtig gewesen wäre. Mittelständische Handelsunternehmen brauchen nämlich die sich aus der Öffnung ergebende Freiheit in der Europäischen Union und gerade in Deutschland. Sie wird von Ihnen aus industriepolitischen Gründen systematisch hintertrieben. ({29}) Es beruhigt mich an diesem ganzen Vorgang aber wirklich außerordentlich, dass sich die EU-Kommission und vor allem die beiden für Binnenmarkt und Wettbewerb zuständigen Kommissare Bolkestein und Monti von Ihnen nicht beirren lassen, da ihr Tun eine Rechtsgrundlage im EU-Vertrag hat, der auch für Sie und Ihre Bundesregierung gilt. Sie können sich darüber nicht hinwegsetzen. Diese beiden Kommissare und die Kommission insgesamt werden nicht wegen, sondern trotz der Politik von Rot-Grün in Deutschland auch in Zukunft das Richtige für die Verbraucher in Deutschland tun. ({30}) Jetzt lassen Sie mich noch einmal ein Wort zum Thema Automobilindustrie und VW-Gesetz sagen! Herr Bundeskanzler, VW durfte in den letzten Jahren ziemlich nach Belieben in Europa auf Einkaufstour gehen. Skoda, Seat, ({31}) Bentley und sogar die britische Traditionsmarke RollsRoyce standen auf der Shoppingliste dieses Unternehmens und gehören heute zum Konzern. Ich kritisiere diese Entwicklung nicht. ({32}) Aber hätte in einem einzigen der betroffenen Länder, in Großbritannien, in Spanien oder in der Tschechischen Republik, das Gesetz gegolten, das Sie für Deutschland und für das Unternehmen VW in Anspruch nehmen, hätte keine einzige dieser Fusionen durchgeführt werden können. Sie aber reden da von Reziprozität. ({33}) Sie beanspruchen jetzt eine Sonderrolle Deutschlands in Europa. Nachdem Ihr Freund Piech seine Einkaufstour in Europa erledigt hat, sprechen Sie, Herr Bundeskanzler, davon, dass man die „gewachsenen Strukturen“ in Deutschland nicht zerstören dürfe, und fügen unverhohlen eine offene Drohung an die EU-Kommission hinzu, dass Sie das auch nicht zulassen würden, solange Sie und die rot-grüne Regierung noch im Amt seien. Ich will Ihnen einmal eine Stimme, die Ihre Industrie- und Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen Union beurteilt - aus einem Land, mit dessen Regierungschef Sie befreundet sind -, zu Gehör bringen. Die „Sunday Times“ in London schreibt am Wochenende nach dem Gipfel ({34}) - ich sage es Ihnen so, wie es dort geschrieben steht -: Jospin zieht es vor, über Steuerharmonisierung statt über Wirtschaftsreformen zu reden. Gerhard Schröder ist ein anderer Bremser, wenn es um ein wettbewerbsfähigeres, unternehmensfreundlicheres Europa geht. Er will verhindern, dass ausländische Investoren deutsche Firmen aufkaufen können, weil man Deutschlands industrielle Basis gegen ausländische Räuber schützen müsse. ({35}) Es wäre ein äußerst riskanter Schritt für Blair, - für Ihren Freund Großbritannien den Beitritt zum Euro zu empfehlen, ehe er nicht größere Fortschritte vorweisen kann, als sie von Deutschland und Frankreich in Barcelona zugelassen wurden. Dem ist nichts hinzuzufügen, Herr Bundeskanzler. ({36}) Nun mag es sein, dass Sie sich durch Ihre Industrieund Wirtschaftspolitik wenigstens einige Freunde in der Industrie erhalten bzw. verschaffen. Herr Bundeskanzler, langfristiger Schaden entsteht aber durch Ihren Ton und durch Ihren Umgang mit den Partnern in Europa. ({37}) Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten fast nur negative Schlagzeilen produziert. Der so genannte blaue Brief, der in Brüssel nicht abgeschickt werden durfte und der in Deutschland dann doch plötzlich irgendwie angekommen ist, politische Verdächtigungen, abstruse Verschwörungstheorien, die versuchten Täuschungen des Parlaments, des Verfassungsgerichts, der europäischen Partner im Hinblick auf das Vorhaben der Beschaffung eines militärischen Transportflugzeugs: Angesichts der Art und Weise, wie die deutsche Bundesregierung, was Ton, Stil und Umgangsformen angeht, in den vergangenen Wochen und Monaten mit den europäischen Partnern umgesprungen ist, muss einem unbehaglich werden. ({38}) Zum Schluss will ich Ihnen etwas aus der Zeit vortragen - wir alle haben viel Beifall geklatscht -, als wir von Bonn Abschied genommen haben. Herr Schröder, Ihr Amtsvorgänger, Helmut Kohl, hat am 1. Juli 1999 eine Rede gehalten, die unter dem Motto „Auf dem Wege von Bonn nach Berlin“ stand. Er hat der deutschen Politik als erste und wichtigste Handlungsmaxime mit auf den Weg nach Berlin gegeben: Bewahren wir uns den Geist der Bescheidenheit und der Hilfsbereitschaft. Vom Protokoll wurde übrigens nach dem Schluss der Rede vermerkt: Bundeskanzler Gerhard Schröder gratuliert seinem Amtsvorgänger. Zum Schluss seiner Rede sagte Helmut Kohl: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns allen, dass wir uns in Berlin beim Übergang in ein neues Jahrhundert den Geist eines freiheitlichen Patriotismus bewahren, der Vaterlandsliebe, europäische Gesinnung und Weltbürgertum miteinander verbindet. Tun wir ganz einfach unsere Pflicht! Stehen wir zu unseren Überzeugungen und behalten wir Augenmaß, auch in schwierigen, turbulenten und unruhigen Zeiten. Seien wir gute Nachbarn und verlässliche Partner. Bleiben wir deutsche Europäer und europäische Deutsche. Dann haben wir eine gute Aussicht auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit. ({39}) Wenn man dies heute, nach fast drei Jahren, liest und vor dem Hintergrund dieser Worte die Europapolitik Ihrer Bundesregierung in den letzten drei Jahren verfolgt, wenn man sich anhört, was Sie heute und an anderen Tagen zu sagen haben, dann hat man das Gefühl: Es hat sich etwas verändert - und wahrlich nicht zum Besseren, nicht für Europa und auch nicht für Deutschland. ({40})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der SPD-Fraktion.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Merz, wir müssen auch heute feststellen, dass Sie in Ihrer Rede wiederholt die Unwahrheit gesagt haben. ({0}) Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe mit keinem Wort den deutschen Mittelstand erwähnt. Der Bundeskanzler hat in seiner Rede, in der er auf deutsche Besonderheiten eingegangen ist, die besondere Finanzierungssituation des deutschen Mittelstandes ganz deutlich erwähnt, die für das Handwerk und für die übrigen mittelständischen Unternehmen von Bedeutung ist. ({1}) Hat das etwa nichts mit kleinen und mittleren Unternehmen zu tun? Ich stelle also fest, Herr Kollege Merz: Sie haben mit dieser Feststellung die Unwahrheit gesagt. ({2}) Ihr fahrlässiger Umgang mit der Wahrheit zog sich durch Ihre ganze Rede. Sie haben behauptet, dass in Sachen Holzmann geholfen wurde, obwohl die Beihilfe nicht genehmigt worden ist. Ich stelle fest: Die Beihilfe wurde genehmigt, Herr Kollege Merz. ({3}) Wer so wie Sie mit der Wahrheit umgeht, der muss sich hier entschuldigen oder - das wäre besser - die Fakten zur Kenntnis nehmen. ({4}) So schlampig, wie Sie an dieser Stelle argumentieren, so schlampig gehen Sie auch mit den Fakten in der Schlusslichtdebatte und mit der Bewertung unserer Mittelstandspolitik um. Wir sind doch dabei, die Schieflage zulasten des Mittelstandes, die in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden ist, schrittweise zu korrigieren. ({5}) Es war doch die Ära Kohl, Waigel und FDP, die zu dieser Schieflage geführt hat. ({6}) Das gilt im Übrigen auch in Sachen Holzmann. Wie viele Handwerker und mittelständische Unternehmen sind denn involviert, wie immer die Dinge heute ausgehen werden? Wie viele mittelständische Existenzen stehen auf dem Spiel? Das sollten wir in dem Zusammenhang doch nicht ausblenden. Wenn wir uns dann noch vor Augen führen, wie Herr Merz hier über Übernahmen gesprochen hat: Er hat feindliche Übernahmen mit gewollten Übernahmen, mit Fusionen, verwechselt. ({7}) Auch da ist offenkundig Nachhilfeunterricht notwendig. Ich verstehe nicht, wie Sie hier einen Vorsitzenden nach vorne schicken können, der nicht einmal das kleine Einmaleins der Wirtschaftspolitik beherrscht. ({8}) Damit die FDP nicht einfach so davonkommt: Sie haben doch Mitte der 90er-Jahre die Weichen in Sachen Liberalisierung falsch gestellt. Der Bundeskanzler hat vollkommen Recht, wenn er auf die Konsequenzen hinweist. ({9}) Es sind Tausende von Arbeitsplätzen in der Industrie in der Bundesrepublik Deutschland bedroht, weil Sie die Weichen in Sachen Liberalisierung falsch gestellt haben. ({10}) - Unterhalten Sie sich doch einmal mit den Geschäftsleitungen und den Betriebsräten dieser Unternehmen! Der Bundeskanzler hat die Bereiche genannt. So kann man diese Beispiele fortsetzen. Sie wissen genau wie wir, dass Ihr Klagen, Deutschland sei wirtschaftliches Schlusslicht in der Europäischen Union geworden, nichts anderes als Wahlkampfgetöse ist. ({11}) - Natürlich, ein Rückblick auf Ihre Regierungszeit zeigt es doch! Es waren CDU/CSU und FDP, die auf dem Konto ihrer Wirtschaftspolitik negative Wachstumsraten zu verbuchen hatten. 1993 waren es real minus 1,1 Prozent. ({12}) In den Folgejahren - schauen Sie sich einmal die Tabellen an, Herr Kollege - waren wir in der Europäischen Union immer 14. oder 15. Wer hier den Eindruck erweckt, wir hätten beim wirtschaftlichen Wachstum an der Spitze der Europäischen Union gelegen, der täuscht die Öffentlichkeit. ({13}) Dass das nicht der Fall war, hat seine Gründe. Der Bundeskanzler hat auf die industriepolitischen Besonderheiten in der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen. Aber wir haben darüber hinaus andere Besonderheiten, die auch Sie selbst sonst nicht verschweigen. Natürlich leiden wir ebenfalls darunter, dass Sie bei der deutschen Einheit die Weichen in Sachen Ökonomie und sozialer Vereinigung falsch gestellt haben. ({14}) Sie haben die deutsche Einheit zu einem großen Teil falsch finanziert. Wir haben diese Erbschaft abzutragen. Wenn Herr Merz heute Morgen feststellt, dass wir auch bei der Neuverschuldung Schlusslicht seien, ({15}) dann darf er doch nicht verschweigen, dass Herr Solbes und andere zu Recht gesagt haben, dass der Kurs der Bundesregierung, nämlich raus aus der Schuldenfalle, von der Europäischen Kommission für vollkommen richtig gehalten wird. ({16}) Sie können diese Tatsachen nicht außen vor lassen. So könnte ich, wenn ich denn die Zeit hätte, Punkt für Punkt, Satz für Satz dieser fulminanten Merz-Rede auseinander nehmen. Es stimmt nichts, was da gesagt wurde, ({17}) jedenfalls nicht, soweit er sich in den Bereich von Fakten begeben hat. Teilweise waren es nur sehr wolkige Aussagen. Im Bereich der Fakten hat diese Opposition bis heute nichts zu bieten. ({18}) Daher kommt wohl auch Ihre Zögerlichkeit, Ihre Wahlvorstellungen zu präzisieren. In wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht wollten Sie das schon Anfang März erledigt haben. Jetzt hört man, Ende April; vielleicht wird es auch Juni oder Juli, ehe Sie sich dazu in der Lage sehen. So sieht es doch aus, wenn es um konkrete Alternativen geht. Barcelona bedeutet weitere tragfähige gemeinsame Schritte hin zu dem Ziel, das wir wohl alle wollen, nämlich Europa bis zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum zu machen. Dazu zählt auch der erzielte Kompromiss zur weiteren Öffnung des Strom- und Gasmarktes. Der Bundeskanzler hat zu Recht darauf hingewiesen. Dieser Europäische Rat hat klar gezeigt, dass die Europäische Union insgesamt die Herausforderungen der Globalisierung angenommen hat. Die Ergebnisse hinsichtlich der Entwicklungshilfefinanzierung und die Beratungen zur Einbeziehung von Umweltbelangen in andere Politikbereiche machen deutlich, dass man allgemein anerkannt hat, dass Gestaltung von Globalisierung nicht auf die ökonomischen Aspekte allein beschränkt werden darf. Europa wächst auch aufgrund der Ergebnisse des Rates von Barcelona weiter zusammen. Jetzt geht es darum, die richtige Ausrichtung dieses Zusammenwachsens zu bestimmen. Wir wissen - auch das sollte einmal in den Reden der Opposition anklingen -, ({19}) dass nationale Regierungen mit ihren Handlungsspielräumen an Grenzen stoßen. Deshalb suchen wir nach europäischen Wegen, die wir gemeinsam mit den europäischen Partnern gehen, um die Chancen der internationalen Öffnung zu nutzen, ohne dass das europäische Zivilisations- und Gesellschaftsmodell in Gefahr gerät. Unser Anspruch an Europa geht über das wirtschaftliche Ziel eines funktionierenden Binnenmarktes weit hinaus. Für uns steht Europa auch für sozialen, kulturellen und ökologischen Ausgleich. Auch das unterscheidet uns von dem, was Sie, Herr Merz, heute Morgen hier vorgetragen haben. ({20}) Der Rat in Barcelona hat die Notwendigkeit einer wachstumsfördernden und stabilitätsorientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik festgehalten. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union vereint der Wunsch, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu bekämpfen. Gestrigen Meldungen konnte man entnehmen, dass sich die Wachstumsaussichten für dieses Jahr in ganz Europa - also auch in der Bundesrepublik Deutschland - Gott sei Dank günstiger entwickeln, als dies noch vor drei oder vier Wochen angenommen werden konnte. Darüber hätten Sie ebenfalls ein Wort verlieren und diese Entwicklung begrüßen können. Warum malen Sie hier alles schwarz? Wollen Sie denn aus rein parteitaktischen Gründen eine schlechte Entwicklung und zusätzliche Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt? Das darf doch wohl nicht wahr sein! ({21}) Wir können nicht akzeptieren, dass Sie Tatsachen aus parteitaktischen Gründen nicht erwähnen, und werden deshalb offensiv darstellen, dass die Auftriebskräfte die Oberhand gewinnen. Wo es sich noch nicht herumgesprochen hat, werden wir offensiv darstellen, was wir aus eigener Kraft dazu beigetragen haben, um die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren. Der Sachverständigenrat hat festgestellt - auch das muss angesprochen werden -, dass ohne unsere Steuerentlastung von 45 Milliarden DM im letzten Jahr und ohne die Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge der wirtschaftliche Abschwung noch stärker gewesen wäre. Wenn Sie die hohe Arbeitslosigkeit beklagen - wir reden sie doch nicht schön -, dann dürfen Sie nicht verschweigen, dass wir im Januar 1998 leider 500 000 Arbeitslose mehr hatten. ({22}) Auch darf man die Augen nicht davor verschließen, dass wir in die Phase des nächsten konjunkturellen Aufschwungs hineingehen. ({23}) Damit besteht die Chance, dass die Arbeitslosenzahl im nächsten Konjunkturzyklus deutlich sinken kann. Während der 16 Jahre Ihrer Regierung unter Kohl ist doch die strukturelle Arbeitslosigkeit stets gestiegen, unabhängig von der Konjunktur. Darin liegt der Unterschied: Wir finden uns mit steigender Arbeitslosigkeit nicht ab. Sie, meine Damen und Herren, hatten sich schon längst damit abgefunden. ({24}) Im Übrigen wäre es auch eine zu schlichte Betrachtung der Ökonomie, die ökonomisch-soziale Position eines Landes vor allem durch die reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes bewerten zu wollen. Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass unser hohes Maß an sozialem Frieden unsere Wettbewerbsfähigkeit in Europa nachhaltig stärkt. ({25}) Das haben wir auch mit unserer Steuerpolitik gefördert. ({26}) Durch diese Politik wurden nicht irgendwelche Großkonzerne begünstigt. ({27}) In erster Linie wurden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Familien mit Kindern sowie der Mittelstand entlastet. Bei Ihnen hat man nur über eine Entlastung gesprochen. ({28}) - Herr Hinsken, diese Steuerpolitik kann sich im internationalen Vergleich - auch wenn Sie einen Vergleich mit den USA und mit Frankreich ziehen - sehen lassen. ({29}) Aber das ändert nichts daran - ich hoffe, wir sind uns in dieser Überzeugung einig -, dass Europa ökonomisch wachsen muss, um sich in der Weltwirtschaft behaupten zu können. Wenn die Europäische Union bei steigender Mitgliederzahl handlungsfähig bleiben soll, muss sie sowohl die Kommission stärken als auch das Prinzip der Subsidiarität ausweiten - jedenfalls da, wo ein europäischer Regelungsbedarf nicht besteht. Ich möchte deshalb an dieser Stelle betonen: Eine verstärkte Koordinierung ist sinnvoll und notwendig, um nationale Maßnahmen nicht auf europäischer Ebene zu konterkarieren. Wir sollten jetzt weitere Fortschritte erzielen. Die weitere Integration der Finanzmärkte bleibt auf der europäischen Tagesordnung. Wir brauchen eine zunehmende Koordinierung in der Steuerpolitik, eine Harmonisierung der Energiebesteuerung sowie Deregulierung durch den Abbau von bürokratischen Hemmnissen. Dabei brauchen wir natürlich eine Verschlankung der verschiedenen Prozesse und Strategien zur wirtschaftspolitischen Koordinierung. Wir unterstützen die Schaffung eines europäischen Bildungs- und Forschungsraumes auch durch die Erhöhung von Mobilität. Wir wissen, dass Investitionen in die Bürger Europas unser stärkstes Kapital darstellen. Insoweit nehmen wir auch die Kritik der EU-Kommission an unserer Arbeitsmarktpolitik auf. Allerdings wissen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, genau wie wir, dass die Kommission uns auch in Sachen Arbeitsmarkt eine angemessene Reaktion auf die Problemlage attestiert. Sehr positiv erwähnt wurden seitens der Kommission unsere Bemühungen im Rahmen des JUMP-Programms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und unser Job-AQTIV-Gesetz. Deshalb brauchen wir uns hier überhaupt nicht zu verstecken; ({30}) denn eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik ist das Kernstück unserer Reformbemühungen. Aber auch hier gilt: Das System von „hire and fire“ wird es mit uns nicht geben, meine Damen und Herren. ({31}) Doch das ist Ihre Alternative. Auch das werden wir in der nächsten Zeit noch deutlich machen. Wir stehen in einer anderen Tradition. Wir stehen dafür, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf gleicher Augenhöhe begegnen können und dass das auch das Modell für die Europäische Union ist. Sie stehen für eine andere Philosophie. Dieser Unterschied muss herausgearbeitet werden, und wir werden ihn herausarbeiten. ({32}) Wir respektieren den Wunsch der Partner, Rücksicht auf nationale Traditionen zu nehmen. Der Bundeskanzler hat das am französischen Beispiel erläutert. Wir wissen um den besonderen Wert guter deutsch-französischer Beziehungen. Wir wissen um die Notwendigkeit des Fortschreitens der Integration und deshalb bleibt es dabei: Franzosen und Deutsche bleiben engste Partner im Prozess der Vertiefung der Europäischen Union und wollen nichts mehr, als dass diese Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit bei zunehmender Größe nicht verliert. Wir befürworten eine starke EU-Kommission, eine Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlamentes und den Übergang zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit. An unserem Willen und an unserer Fähigkeit zur Reform kann niemand ernsthaft zweifeln, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({33}) Die gemeinsame Initiative von Bundeskanzler Schröder und Premierminister Blair ist ein beredtes Beispiel dafür. Wir unterstützen nach Kräften den historisch einmaligen Verfassungskonvent, der für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein wird. Uns allen muss es aber in der nächsten Zeit gelingen, auch die Bürger für eine europäische Verfassung zu gewinnen. ({34}) Wenn es nicht überhöht wäre, könnte man sagen: Es muss uns gelingen, sie für einen europäischen Verfassungspatriotismus zu gewinnen. ({35}) Nur so werden wir in Zukunft die innenpolitische Zustimmung erhalten, weiteren Souveränitätsverzicht zugunsten der Europäischen Union zu üben und zu leisten, wo es nötig ist. Aber wir legen auch Wert darauf, dass unsere Partner die spezifischen Voraussetzungen unseres Landes respektieren. Der Herr Bundeskanzler hat die volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion dafür, ({36}) dies am Beispiel der besonderen Bedingungen der Industrieproduktion in diesem Lande getan zu haben. Es wurde wirklich Zeit, das noch einmal deutlich öffentlich zu debattieren, damit wir uns nicht in falschen Gegensätzen verlieren. Es gibt nicht den Gegensatz, dass die einen - angemessen in der Tonlage, wie Herr Merz hier betont hat - Fortschritte in der weiteren Integration wollen, während die anderen nur ihre eigenen Interessen betonen und damit möglicherweise Milch verschütten, was nicht nötig wäre. Nein, es sind zwei Seiten einer Medaille. Wir können weitere Fortschritte bei der Integration und bei der Vertiefung mit Zustimmung der deutschen Bevölkerung nur erreichen, wenn auch deutlich wird, dass deutsche Interessen - auch Industrieinteressen, aber nicht nur diese respektiert werden, meine Damen und Herren. ({37}) Es ist eine gute Gelegenheit, das hier heute deutlich machen zu können. Vielen Dank. ({38})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hatte nach der Entscheidung in Lissabon und mit Blick auf den Gipfel in Barcelona ein Papier vorbereitet, mit dem ich eigentlich voll übereinstimmen kann. Da ging es um die Öffnung der Märkte, insbesondere der Energiemärkte, da ging es um die Mobilität der Arbeit, um den Abbau bürokratischer Hemmnisse, um eine Stabilitätsorientierung der Politik. Aber nirgendwo ist Papier so geduldig wie bei den Initiativen der Bundesregierung. An diesem Anspruch von Lissabon gemessen, nämlich Europa nach vorn zu bringen, zu einem Global Player zu machen, Beschäftigungsdynamik auszulösen, in einem ernsthaften transatlantischen Wettbewerb bestehen zu wollen, sich auf Zukunftstechnologien hin zu orientieren, die Märkte zu öffnen, Verbraucher zu begünstigen, ist Barcelona - auch wenn jeder Gipfel Licht und Schatten hat - ein kompletter Fehlschlag gewesen. Das muss eindeutig festgestellt werden. ({0}) Herr Bundeskanzler, beschreiben Sie nicht legitime deutsche Interessen, wenn wir über die Frage reden, wie Industriepolitik für Deutschland, zum Beispiel für die Chemieindustrie, aussehen kann und welchen Standpunkt man hier auf europäischer Ebene vertreten sollte! Es ist nämlich nicht nur die Opposition, die Ihre Verhaltensweisen in diesem Frühjahr gegenüber der EU-Kommission als falsch und sogar schädlich für die deutschen Interessen empfindet. Vorhin fiel schon in einem Zwischenruf der Name Murdoch. Ich habe hier keine Murdoch-Zeitung mitgebracht, sondern zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“: Seit Jahresbeginn verrennt sich der Kanzler in einer Politik, die in den Augen seiner 14 Partner pubertäre Züge trägt. Erst wird mit starken Sprüchen ... der drohende „blaue Brief“ aus Brüssel zerrissen, dann greift Berlin nach eben jedem dieser Fetzen, sieht rot, sobald Brüssel irgendetwas artikuliert, was sich in Euro oder Cent übersetzen lässt. Diese neue Linie - so schreibt eine führende deutsche Tageszeitung durchkreuzt selbst marktwirtschaftliche Ideen, die auf lange Sicht der größten Ökonomie Europas just jene Wachstumskräfte und Jobs bescheren würden, die der kränkliche Riese so dringend zur Genesung braucht. Der Artikel schließt mit folgenden Worten: Die EU will nicht einfach am deutschen Wesen genesen. Das spürt der Kanzler nicht. ({1}) Die deutsche Politik begreift die Europäische Union zu wenig als Chance. Das ist der Kern. ({2}) Sie tragen hier vor, dass die Daten einen leichten Konjunkturaufschwung zeigen. Die größte europäische Volkswirtschaft aber wird nicht dadurch in Beschäftigungsdynamik kommen, dass Sie mit dem Fernglas auf leicht bessere Konjunkturdaten, die am Horizont auftauchen, schauen, sondern nur dann, wenn Sie diese mit einer Politik untermauern, die Beschäftigungsdynamik auslöst. Diese Politik aber werden Sie nicht gegen die EU führen können. Deutschlands Chance liegt in der Öffnung der Märkte, und zwar in einer Politik mit der Europäischen Union und mit der Kommission. ({3}) Deshalb, Herr Bundeskanzler, haben Sie lange Zeit darauf verwandt, in gemessenem und ruhigem Ton zu beschreiben, was die industriepolitischen Interessen Deutschlands sein könnten. Nach außen haben Sie diesen Stil und diese Sprache in den letzten Monaten nicht gepflegt. Sie sind in der Europäischen Union mit dem Hinweis auf gewachsene kulturelle Strukturen als ein Sachwalter erschienen, ({4}) der blockieren will, der gegen eine Öffnung ist, der die Entfaltung von Dynamik verhindert, der sich dem Wandel nicht stellt. Notwendig aber ist das glatte Gegenteil. ({5}) Es hat auch frühere Bundesregierungen gegeben, die auf einem Gipfel ihre Vorstellungen nicht abschließend durchsetzen konnten. Denen konnte aber nie der Vorwurf gemacht werden, leichtfertig Chancen zu vertun und alte, rückwärtsgewandte Interessen zu vertreten. Kern dessen, woran Deutschland krankt, ist die mangelnde Zukunftsorientierung, die mangelnde Öffnung. Das Problem unseres Landes, ({6}) das als äußeres Zeichen explosionsartig bei dem Thema der Bundesanstalt für Arbeit deutlich geworden ist, ({7}) sind die kartellartigen Strukturen, die sich gegen alles wenden, was aufbricht, was neu am Horizont erscheint, was Dynamik entfaltet. Das muss geändert werden. ({8}) Das ist ein Änderungsweg, den die Europäische Union vorangebracht hat, den die frühere deutsche Bundesregierung gepuscht hat, ({9}) weil sie immer wusste, dass deutsche nationale Interessen nur in europäischer Einbettung vorankommen und zum Erfolg geführt werden können. ({10}) Die Sprache, die Sie gewählt haben, lässt daran zweifeln, ob die gegenwärtige deutsche Bundesregierung das beherzigt. Die Zeitung schreibt: Welchem Schröder sollen die Partner denn glauben, jenem Kanzler, der neulich noch die Kommission in seinem Papier zu einer Art europäischer Regierung vollenden wollte, ({11}) oder dem „garstigen Gerhard“, der launig Kommissare abwatscht und Brüssel kujoniert, sobald ihm etwas nicht passt? Das ist der Kern! Das Ergebnis des Gipfels in Barcelona war, gemessen an der deutschen Erledigung innenpolitischer Hausaufgaben und an den hehren Zielen der Proklamation von Lissabon, kein Erfolg, sondern ein Fehlschlag. Dies muss man ganz klar festhalten. Der Punkt, an dem ich die Bundesregierung loben muss, ({12}) betrifft die Beschlussfassung zum Nahen Osten, die ich inhaltlich voll billige, die richtig ist und wo mit einer klaren europäischen Stimme gesprochen wird. Herr Bundeskanzler, wir stimmen Ihnen auch voll darin zu, dass wir nicht glauben sollten, wir könnten Größeres bewirken, als wir es wirklich können. Aber in Bezug auf die beiden Konfliktparteien zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit und Klarheit eine einvernehmliche europäische Stimme zu vernehmen ist richtig. Wir wollen Ihnen dafür, dass Sie das mit erreicht haben, ausdrücklich unseren Respekt zollen. ({13}) Wir sagen das ganz bewusst, denn wir haben besondere Verpflichtungen gegenüber Israel. Für keinen meiner Kolleginnen und Kollegen hier im Haus quer durch alle Parteien steht die Chance für Israel, in gesicherten Grenzen in die Zukunft zu gehen, infrage. Aber als Freund Israels dürfen wir auch sagen, dass kein Weg daran vorbeiführt - wie es die Europäische Union jetzt beschlossen hat -, dass Israel seine Siedlungspolitik ändern muss, dass es sein völkerrechtswidriges Verhalten ändern muss und dass es keine außergesetzlichen Arten von Hinrichtungen mehr geben kann. Genauso klar müssen wir den Palästinensern sagen, dass es keine Akzeptanz für terroristische Anschläge gibt. Natürlich können wir dies dort nicht allein bewerkstelligen, aber dass die Europäische Union das an der Seite der Vereinigten Staaten einmal klar ausgedrückt hat, ist von gewaltigem internationalem Wert, mit dem man weiter arbeiten kann. Wir als Fraktion möchten aber auch, dass dies mit der gleichen Klarheit und der gleichen Stilsicherheit in der Formulierung auch bei anderen Themen gilt. Wir wissen, was die transatlantischen Beziehungen und die Freundschaft zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika für Deutschland bedeuten. Wir wissen um die erhebliche ökonomische Bedeutung. Wir wissen, dass diese beiden Kontinente in Bezug auf die Weltwirtschaft ohne Beispiel sind, wenn sie transatlantische Beziehungen richtig verstehen und klar miteinander umgehen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch sagen: Natürlich gibt es Vorwürfe seitens der Vereinigten Staaten an die Europäische Union. Sie beziehen sich auf mangelnde wirklich ernsthafte sicherheitspolitische Anstrengungen auch mit vom Haushalt entsprechend gedeckter Finanzierung. Es gibt aber auch ein erhebliches Engagement der Europäischen Union außerhalb der Bereitstellung militärischer Mittel. Darunter fällt die Osterweiterung als ein Stück Sicherheitspolitik, die den Vereinigten Staaten von Nordamerika sicherheitspolitisch genauso nutzt wie unseren nationalen Interessen. Die deutschen Soldaten, die jetzt nahezu überall verteilt sind, genießen nicht nur hohen Respekt, sondern sind ein beträchtlicher deutscher Beitrag zur internationalen Konfliktprävention und -verhütung. Deshalb ist es richtig, dass die deutsche Stimme - besser noch wäre: die europäische Stimme, die in Barcelona so leider nicht erhoben worden ist ({14}) auch gegenüber den Vereinigten Staaten im Hinblick auf geopolitische Konsequenzen freundschaftlich, fair und im richtigen Stil erhoben werden sollte, wenn wir über das Thema Irak diskutieren. Es geht nicht um europäische Weicheierei, sondern darum, welche Haltung die Europäer annehmen dürfen. Dies heißt für die Europäer und die Deutschen: multilaterale Annäherung, Mandat der Vereinten Nationen, kein unilaterales Vorgehen. Das muss man unter Freunden offen sagen können. Wir müssen darauf hinwirken, dass dies die europäische Haltung wird, auch wenn sie es bis heute noch nicht geworden ist. ({15}) Deshalb, Herr Bundeskanzler, drängen wir darauf, dass die Bundesregierung in diesen Tagen im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit gegenüber den Vereinigten Staaten alles unternimmt, um auf diese Position hinzuweisen. Es gibt dazu eine legitime deutsche Haltung. Es gibt auch eine europäische Haltung dazu. Diese mag vielen anders erscheinen - sie ist es auch - als die der Vereinigten Staaten, soweit wir das hören. Unter Freunden müssen aber auch diese unterschiedlichen Haltungen akzeptiert werden. Nicht akzeptiert werden kann, wenn diese Haltung nur mit dem Megaphon über den Atlantik und nur über Zeitungsinterviews statt über persönliche Begegnungen mit der diesen innewohnenden Intensität der Kommunikation verkündet wird. ({16}) Da ist, Herr Bundeskanzler, aus meiner Sicht auf dem Gipfel in Barcelona eine Chance verpasst worden. Denn das Wochenende in Barcelona wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, neben dem Thema „Israel und Palästina“ genau diesen Sachverhalt mit den europäischen Partnern zu besprechen. Es geht um eine Region, in der es viele Konfliktherde gibt. Die Europäische Union muss die außenpolitische Fähigkeit und Kraft haben, eine gemeinsame Position zu entwickeln und dies den Vereinigten Staaten mitzuteilen. Natürlich ist das eine Aufgabe, bei deren Lösung wir Deutsche in aller Ruhe sagen können, wo unsere außenpolitischen Interessen liegen. Wir wollen uns nicht größer machen, als wir sind. Wir sollten uns aber auch nicht kleiner machen. Aufgrund unseres wirtschaftspolitischen Potenzials, unserer Bündnisverpflichtungen und unserer europäischen Orientierung ist es ganz legitim - und es schadet keinem befreundeten Staat -, wenn wir unseren amerikanischen Freunden vermitteln, dass wir, die Deutschen, bei Konfliktlösungen in europäischer Einbindung auf das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen achten wollen. Jede Nation hat ihre geschichtlichen Erfahrungen. Wir haben unsere, die uns zu diesem Ergebnis führen. Wir erwarten, dass das unter Freunden respektiert wird, ohne dass an der Freundschaft gezweifelt wird. ({17}) Mit einem solchen Vorgehen könnte die Europäische Union einen partnerschaftlichen, wirkungsvollen und präventiven Beitrag leisten. Diese Chance ist auf dem Gipfel in Barcelona verpasst worden. Es mag sein, dass manche europäische Beteiligte dies anders sehen oder dort nicht so bescheiden wollten. Nur, aufgeben sollten wir diese Position nicht. Dafür sollten wir an jedem Tag werben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat Bundesminister Joseph Fischer. Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europapolitik der Bundesregierung des Bundeskanzlers Schröder hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren ganz wesentliche Fortschritte in der europäischen Integration erzielt. ({1}) - Ja, aus der Erweiterung haben wir eine konkrete politische Entwicklung gemacht. Es gab Versprechungen, bereits im Jahre 2000 solle Polen Mitglied der Europäischen Union sein, aber erst unter dieser Bundesregierung, unter der deutschen Präsidentschaft von Bundeskanzler Schröder und dann unter der finnischen Präsidentschaft, wurden Nägel mit Köpfen gemacht. ({2}) Heute können wir sagen, dass wir 2004 vermutlich zehn neue Mitglieder haben werden und damit aus der Vision Wirklichkeit wird. Das ist ein wesentlicher Beitrag unserer Europapolitik. ({3}) Aber diese Erweiterung macht auch klar - dabei gibt es einen Zusammenhang mit dem, worüber hier diskutiert wurde; dies sollte nicht in Polemik entgleiten -, dass es sehr ernste Fragen gibt, die es wert sind, sie bereits heute intensiv in der Debatte hier im Parlament zu untersuchen: Wie soll eine solche Union der 25 tatsächlich funktionieren, und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Erweiterung? Bei weitergehenden Integrationsfortschritten spüren wir doch in einzelnen Fragen, dass sich immer mehr die Herausforderung der demokratischen Legitimation und der Legitimität der europäischen Institutionen stellt. Dies gilt in einer Union der 25 nicht nur für Kompromisse. Dabei haben wir, sowohl die Staats- und Regierungschefs als auch die Außenminister, ja erlebt, was es heißt, wenn eine Runde der 25 als Arbeitsgremium tätig ist. Der entscheidende Punkt ist vielmehr ein anderer: In der Integration in der Sache, also in einzelnen wirtschafts-, sozialund umweltpolitischen Punkten, stellt sich natürlich immer mehr die Frage nach der demokratischen Legitimität. Deswegen ist die Vertiefung bzw. das Schaffen einer europäischen Demokratie von Anfang an eines der Hauptprojekte der Europapolitik dieser Bundesregierung gewesen. ({4}) Wir haben jetzt in Europa den Konvent, die verfassunggebende Versammlung. So etwas hat uns, als wir angetreten sind, niemand zugetraut. Mit der Erweiterung und der Vertiefung, der Schaffung des Konvents und der konkreten Erweiterungsperspektive 2004, sind von dieser Bundesregierung zwei ganz zentrale historische Fragen angepackt, angeschoben und gemeinsam mit unseren Partnern erfolgreich auf den Weg gebracht worden. ({5}) Nun wissen wir so gut wie all unsere Partner - der Bundeskanzler hat es angesprochen -, dass die Reform der Agrarpolitik notwendig ist. Die Fragen der Kohäsion und der Strukturfonds in einer erweiterten Union sind ganz entscheidend. Die Fragen der Finanzierung und der finanziellen Vorausschau werden natürlich bereits im Prozess der Erweiterung aufgeworfen, zwar nicht als zusätzliche Erweiterungshemmnisse, aber im Hinterkopf aller Beteiligten, sowohl der Beitrittskandidaten als auch der Alt-Mitgliedsländer, spielt dies bereits eine Rolle. In dem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des größten und wirtschaftlich wichtigsten Mitgliedslandes. Bei genau diesem Punkt weist der Bundeskanzler völlig zu Recht darauf hin, dass wir für das große historische Projekt der Erweiterung, für das es keine Alternative gibt, eine leistungsfähige Bundesrepublik Deutschland und eine leistungsfähige Wirtschaft brauchen. Das ist die Herausforderung an uns, innenpolitische Reformen durchzuführen. Das setzt allerdings auch eine konsistente Politik der Kommission voraus, durch die keine zusätzlichen und unnötigen Hemmnisse für ökonomische und soziale Reformen in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen werden. Wenn Sie so wollen, ist das der Kern der Diskussion, die gegenwärtig mit der Kommission geführt wird und zu führen ist. ({6}) Herr Merz, bei Ihnen werde ich den Verdacht nicht los, dass Sie die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung - bei der es darum geht, ob Sie das Modell des sozialen Wandels als Konfliktmodell oder als Konsensmodell wollen -, die völlig legitim ist - das sage ich, damit Sie mich nicht missverstehen - und innenpolitisch geführt werden muss, letztendlich auf dem Umweg über die Kommission führen wollen. ({7}) Diese Koalition und diese Bundesregierung haben sich verpflichtet, die Interessen derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei dem zugegebenermaßen manchmal schmerzhaften, aber notwendigen Strukturwandel zu berücksichtigen und Politik nicht gegen sie, sondern mit ihnen zu machen. Das ist der entscheidende Unterschied. ({8}) Sie müssen sich schon überlegen, welche Zeitung Sie zitieren. Dazu, dass Sie sozusagen als Nachweis Ihrer Position ausgerechnet die „Sunday Times“ zitieren, kann ich nur sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob Sie für diese Position in der CDU - in der CSU erhalten Sie sie garantiert nicht - eine Zustimmung bekommen. Sie werfen dort der Bundesregierung vor, dass sich der Bundeskanzler eingesetzt hat. Es waren doch weder die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch die Bundesregierung - auch nicht Ihre -, die Holzmann gegen die Wand gefahren haben. Wir können uns noch daran erinnern, welches Managementversagen dahinter stand. ({9}) Wenn es um das konkrete Schicksal von Tausenden von Arbeitnehmern geht, wird diese Bundesregierung aber nicht einfach tatenlos dabeisitzen. Man konnte damals, als der Bundeskanzler in Frankfurt war, ja auch sehen, dass der hessische Ministerpräsident nichts Besseres zu tun hatte, als sich auf das Bild zu drängen. ({10}) Wir werden Ihnen die Rede, die Sie heute gehalten haben, hier vorlesen, wenn Kirch gegen die Wand fährt. Das Engagement der bayerischen Landesregierung werden wir uns dann sehr genau anschauen. ({11}) Wir werden dann auch die Frage beantwortet bekommen, warum die Bayerische Landesbank Kredite in Höhe von 1,5 Milliarden Euro für Geschäfte, die mehr als ein Fragezeichen aufwerfen, dort hineingepumpt hat. ({12}) Sie müssen dann auch die Frage beantworten, warum sich die Bayerische Staatsregierung zum Beispiel seit Jahren so intensiv um die Maxhütte kümmert und dieses Problem nicht gelöst bekommt. Dabei handelt es sich um einen einzigen Montanstandort. Was sollen denn der Kollege Clement in Nordrhein-Westfalen oder andere Kollegen in anderen Industriestandorten dann erst sagen? Herr Merz, Sie müssen also bei Ihrer Kritik schon konsistent bleiben und können nicht in Bayern akzeptieren, was Sie im Bund kritisieren. Das gilt insbesondere, wenn es um so wichtige Fragen geht. ({13}) Sie werfen uns vor, dass der Mittelstand in Barcelona keine Rolle gespielt habe: Schauen Sie sich doch zum Beispiel die Struktur der Chemieindustrie an. Es ist nicht wahr, dass es nur große Unternehmen sind. Im Wesentlichen ist die Chemieindustrie nämlich mittelständisch. Die Zulieferindustrie für die deutsche Automobilwirtschaft ist ebenfalls ganz entschieden mittelständisch geprägt. Daran hängen sehr viele Arbeitsplätze. ({14}) All diese Dinge zusammengenommen lassen sich auf einen Punkt bringen: Es geht nicht darum - das wäre eine völlig verfehlte Politik -, eine Politik gegen die Europäische Kommission zu machen. Es geht auch nicht darum, dass wir den notwendigen Strukturwandel nicht weiter voranbringen. Sie sagen, dass Deutschland zum kranken Mann geworden ist. An dem Punkt kann ich Sie nur fragen: Bei euch gab es vorher also nur blühende Landschaften? - Schaut euch doch einmal die Verschuldungszahlen an! ({15}) Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann war Deutschland sieben Jahre nach der Einheit das Schlusslicht. ({16}) Im Jahre 1996 lag die Verschuldungsquote meines Wissens bei 3,2 Prozent, also deutlich über 3 Prozent. Im Jahre 1997 lag diese Quote ganz knapp unter 3 Prozent. ({17}) Ich werde mir die Zahlen noch einmal genau anschauen. ({18}) Ich weiß, dass es für das, was wir vorgefunden haben, Gründe gab. Die deutsche Einheit ist eine anhaltende Herausforderung, der sich jede Bundesregierung stellen muss. Aber es ist billige Oppositionspolitik, die sich nur auf den Gedächtnisverlust gründet, wenn Sie das, was Sie uns hinterlassen haben, nicht ebenfalls nennen. ({19}) Ich sage Ihnen: Der Strukturwandel muss weiter fortgeführt werden. Aber es geht um die Einstiegsbedingungen. Diese Einstiegsbedingungen müssen berücksichtigt werden. Europa braucht eine leistungsfähige deutsche Volkswirtschaft für die Erweiterung. Genau dieser Leistungsfähigkeit weiß sich diese Bundesregierung verpflichtet. Sie haben uns vorgeworfen, in Barcelona sei diesbezüglich nichts gemacht worden. Schauen Sie sich doch die Entscheidung allein zum Projekt „Galileo“ an. Es ist ein strategisches Projekt; darüber brauchen wir nicht zu reden. Es ist ein Projekt, Herr Gerhardt, das nicht bereits morgen seine Früchte trägt. Aber allein die Reaktion aus Übersee auf dieses Projekt macht klar, welche Bedeutung es für die Zukunft und für die Aufstellung Europas im 21. Jahrhundert haben wird. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die Breitbandnetze. So viel zu Ihrer Behauptung, Barcelona habe nichts gebracht. ({20}) Ein anderes Thema: Wir haben uns gewünscht, die Deregulierung der Strom- und Gasmärkte zu 100 Prozent Bundesminister Joseph Fischer zu vereinbaren. Gemeinsam mit unseren französischen Partnern haben wir eine Liberalisierung von 60 Prozent erreicht. Der Bundeskanzler hat dargestellt, warum. Aber ich bitte Sie: 60 Prozent sind nicht mehr nur ein halb volles Glas, sondern schon deutlich mehr. Wir haben ganz konkrete Dinge erreicht. ({21}) Bei allem Respekt muss ich auch auf Kleinigkeiten hinweisen. In Kalifornien ist schon mehrfach eine Energiekrise ausgebrochen. Ich will keinem einen Vorwurf machen, aber wir müssen feststellen, dass es dort kein gesamtkontinentales Stromnetz gibt. Auch andere Dinge gibt es dort nicht. Wir haben uns angewöhnt, unsere eigenen Stärken wie Solidität und soziale Stabilität trotz aller Probleme, die wir haben - ich will dies überhaupt nicht abstreiten -, in den Hintergrund zu stellen. Wir sind sicherlich nicht so dynamisch wie unsere Partner auf der anderen Seite des Atlantiks. ({22}) Aber dafür gibt es Gründe. Wer den kulturellen historischen Hintergrund von Marktwirtschaft ausblendet, wird gegen die Wand fahren. ({23}) Für die USA sind Freiheit und gesellschaftliche Selbstorganisation - das ist von ganz entscheidender Bedeutung; deswegen hat auch die Übertragung dieser Modelle auf Russland nach der Wende niemals funktionieren können - zentrale Elemente der Kultur und damit auch der Wirtschaft dieses Landes. Wir Europäer haben einen ganz anderen historischen Kontext. Für unser Land ist - insbesondere aufgrund des Dramas des 20. Jahrhunderts, aber auch der Zeit davor die Frage der Sicherheit von ganz anderer Bedeutung gewesen. Nun werden wir ein Stück weit in Richtung mehr Freiheit gehen müssen. Das wird im demokratischen Prozess auszufechten sein. Aber wer ignoriert, dass es höchst unterschiedliche Bedingungen gibt und dass aus der größeren Stabilitätsorientierung der Europäer gleichzeitig so etwas wie sozialer Zusammenhalt entsteht und - so behaupte ich - entstehen muss, wenn man ein Interesse an demokratischer Integration in Europa hat, wird meines Erachtens den gesamten Prozess gefährden. Deswegen wissen wir uns dem Modell des sozialen Wandels im Konsens auf der Grundlage der europäischen Tradition verpflichtet. Wir wollen die Vollendung der europäischen Integration in einem überschaubaren Zeitraum, also noch in diesem Jahrzehnt. Aber wir werden die Menschen mitnehmen und nichts gegen die Menschen in unserem Lande machen. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die technokratische Rede von Herrn Merz gehört hat, kann sich nur noch wundern. Man hat bei Ihnen, Herr Merz, den Eindruck, dass Sie hier am liebsten verkündet hätten: Wirtschaftstheorie erfüllt, 20 000 Holzmann-Kumpel arbeitslos. Eine solche Politik, die pragmatisches Handeln in der Wirtschaftspolitik und das Einbringen von politischem Gewicht nicht als notwendig ansieht, ist zum Scheitern verurteilt, bringt soziale Kälte mit sich und grenzt die Menschen ein Stück weit aus. - Die PDS ist immer dafür eingetreten, dass sich Politiker auf lokaler Ebene als Bürgermeister oder Landräte darum kümmern müssen, wenn klein- und mittelständische Unternehmen in der Region in Schwierigkeiten kommen. - Sie haben das auch gemacht und das, Herr Merz, ist der Grund dafür, warum Ihre Landräte und Kommunalpolitiker reihenweise abgewählt und durch PDS-Landräte und PDS-Kommunalpolitiker ersetzt werden. ({0}) Der Barcelona-Gipfel muss daran gemessen werden, ob das Ziel, Europa zum dynamischsten, wettbewerbsfähigsten und nachhaltigsten Wirtschaftsraum der Welt weiterzuentwickeln, erreicht worden ist. Wir müssen feststellen, dass das nicht gelungen ist. Wir konnten sehen, dass es in Barcelona zwei Gipfel gegeben hat: auf der einen Seite einen Gipfel, auf dem über 500 000 Menschen auf die Straße gegangen sind, und zwar Menschen unterschiedlichster Prägung, aus Arbeitsloseninitiativen, Gewerkschaften, aus Sozialverbänden, Landwirte, die Angst haben, ihre Bauernhöfe dichtmachen zu müssen, Menschen, die spüren, dass in Europa das Kapital und die Großunternehmen immer weiter vorangebracht werden, während die Sorgen und die Nöte der kleinen Leute immer mehr vergessen werden. Diese Menschen haben in Europa deutlich gemacht: Wir wollen ein anderes Europa, wir wollen ein Europa der Menschen und setzen uns dafür ein, dass Europa auch für die Menschen arbeitet. ({1}) Herr Fischer, eines werfe ich Ihnen und der rot-grünen Bundesregierung vor: Sie haben das Gespür dafür verloren, dass Europa nicht zu einem Europa der Gipfel werden darf, bei denen sich Politikerinnen und Politiker, geschützt durch 9 000 Polizisten, Militärs und Flugabwehrraketen, in einer Burg einigeln, die kein Mensch mehr erreichen kann. Es muss gelingen, dass sich die politische Klasse der Bundesrepublik und Europas wieder den Menschen stellt, die Anforderungen an die Politik haben, zum Beispiel den Gewerkschaften, und mit ihnen gemeinsam über die Sorgen und Nöte Europas diskutiert. Es muss eine Politik geben, die wieder erkennt, dass die Armut und die Ausgrenzung in Europa zunehmen, eine Politik, die wahrnimmt, dass sich die Arbeitslosigkeit in Europa auf höchstem Stand festgefressen hat. Eine solche Politik muss den Dialog mit den Initiativen pflegen und aufnehmen, was ATTAC, die Euromarschbewegung und die Arbeitslosenbewegung Europas in die politische Debatte eingebracht haben. Eine solche Politik hat die rotgrüne Bundesregierung aber aus den Augen verloren. Wir glauben, dass die Aufgabe der Linken in Europa darin bestehen muss, das aufzugreifen, was auf den DeBundesminister Joseph Fischer monstrationen in Barcelona am Rande des Gipfels deutlich gemacht wurde, dass Europa weiterentwickelt werden muss und dass es gelingen muss, Europa wieder die Chance zu geben, politische Probleme zu lösen. Wir müssen deshalb weg von einem Europa der Regierungen, in dem sich Ministerpräsidenten und Staatschefs einschließen. Wir brauchen eine Parlamentarisierung Europas. Demokratisch gewählte Parlamente müssen darüber entscheiden, wie sich Europa entwickelt. Deshalb darf es nicht mehr angehen, dass eine Entscheidung, die in Europa getroffen wird, ohne Zustimmung des Europäischen Parlamentes gefasst wird. Es muss erreicht werden, dass in Europa die Grundrechte durch die einzelnen Bürgerinnen und Bürger in Europa über europäische Gerichte einklagbar sind. Deshalb dürfen die Grundrechte in Europa nicht mehr in soziale und bürgerliche Grundrechte getrennt werden. Wir glauben auch, dass eine Reform des Rates in Europa dazu führen muss, dass sich Regierungschefs nicht mehr in Geheimsitzungen einschließen und nicht öffentlich darüber reden, wie sich beispielsweise Gesetze oder legislative Funktionen in Europa entwickeln. Daher muss die grundsätzliche Öffentlichkeit von Räten durchgesetzt werden, bei denen es um den legislativen Charakter, um Gesetze geht. Die Lissaboner Strategie - das, was in Europa bewertet werden sollte - war vor einigen Jahren der Versuch, den sozialdemokratische Regierungen gestartet haben, um gemeinsam ein anderes Europa zu errichten. Es ging um ein Europa, das deutlich machen sollte, dass es kein Diktat der Geldpolitik durch eine abgehobene Europäische Zentralbank geben darf, sondern vielmehr das, was beispielsweise Oskar Lafontaine in seinem Credo der Repolitisierung der Geldpolitik ({2}) und des verstärkten makroökonomischen Dialogs oder beispielsweise die französische sozialistische Partei mit der Forderung nach der Schaffung einer europäischen Wirtschaftsregierung als Gegenmaßnahme gegen die rein monetaristisch orientierte Europäische Zentralbank gefordert hatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Weg ist leider gescheitert, und zwar nicht, weil sich die lafontainesche Politik durchsetzen konnte, sondern weil sie innerhalb der Sozialdemokratie bzw. der sozialdemokratischen Parteien Europas beendet wurde und stattdessen der so genannte Dritte Weg à la Schröder und Blair eingeschlagen wurde. Dieser Weg hat aber völlig andere Grundsätze - nämlich neoliberale Grundsätze im Rahmen einer europäischen Strategie - durchgesetzt. Die Kernbotschaft der heutigen sozialdemokratischen Parteien lautet nicht mehr, die Vollbeschäftigung dadurch voranzubringen, dass den Menschen geholfen wird, sondern dem einzelnen Arbeitslosen Schuld zuzuweisen und zu behaupten, der einzelne Arbeitslose müsse aktiviert werden und sich darum kümmern, dass die vielen Arbeitsplätze, die angeblich auf der Straße liegen, durch ihn wahrgenommen werden. Eine solche Politik ist aber zum Scheitern verurteilt. Der so genannte Dritte Weg, den Sie zur europäischen Politik gemacht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratie und den Grünen, ist nach unserer Überzeugung einer der Gründe, warum sich neoliberale Politik in immer mehr Nationalstaaten Europas wieder durchsetzt. Wir erleben zurzeit in Europa, dass eine sozialdemokratische Regierung nach der anderen abgewählt wird. Europa wird wieder rechts - angefangen in Österreich bis derzeit in Portugal -, weil Sie die Grundlage dafür gelegt haben, dass neoliberale Ansätze in der aktuellen nationalen Politik wieder eine Rolle spielen, rechtspopulistische Kräfte zugespitzter als Sie wieder neoliberale Politikansätze durchsetzen und dadurch Europa die Chance, die das so genannte sozialdemokratische Jahrhundert hätte bieten können, schlichtweg versäumt hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir von der PDS fordern Sie auf: Kommen Sie zu einer Politik des Dialogs zurück! Nehmen Sie wahr, dass Gewerkschaften und Sozialverbände bzw. eine halbe Million Menschen, die auf die Straße gehen, dies nicht tun, weil sie gegen Europa sind, sondern weil sie gemeinsam ein soziales und ökologisches Europa, ein Europa für die Menschen durchsetzen wollen, das deutlich macht: Europäische Politik begreift sich als Gegenpolitik zu der Fiskalpolitik und der monetaristischen Politik, die die Interessen der Menschen vergessen. Setzen Sie sich dafür ein, dass Gewerkschaften und Sozialverbände in Europa wieder ein Sprachrohr haben! Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dietmar Nietan von der SPD-Fraktion.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mit meinen Ausführungen zum Gipfel in Barcelona beginne, erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung zu den Äußerungen von Herrn Merz. Herr Merz, sagen Sie das, was Sie hier zum Thema Philipp Holzmann gesagt haben, auch einmal auf einer Betriebsversammlung den Kolleginnen und Kollegen bei Philipp Holzmann ins Gesicht, nämlich dass Sie keinerlei Ambitionen zeigen, ihnen zu helfen, ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Was die Kolleginnen und Kollegen von dieser Art von CDU-Wirtschaftspolitik halten, möchte ich erleben. Diesen Zynismus, den Sie hier an den Tag gelegt haben, müssen die Leute live erleben. ({0}) Auch wenn ich sehe, dass meine Worte die Opposition wohl richtig getroffen haben, möchte ich gerne auf die Bilanz des Gipfels in Barcelona zurückkommen. Meine Damen und Herren, natürlich war Barcelona nicht der Gipfel der weltweit bedeutenden Entscheidungen, aber es war ein Arbeitsgipfel, der die Europäische Union in vielen Punkten ein Stück vorangebracht hat, auch wenn Sie das in der Diskussion gerne unter den Tisch fallen lassen wollen. Bei diesem Gipfel ist deutlich geworden, dass die Europäer bereit sind und auch weiterhin dafür arbeiten wollen, das Ziel, zum „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ zu werden, nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei unterscheidet uns - ich betone dies, weil es bisher noch nicht erwähnt wurde - von anderen ökonomischen Modellen, dass wir Europäer diesen Prozess sozial und ökologisch flankieren wollen. Das unterscheidet das Modell Europa von einem kalten Neokapitalismus. ({1}) Die entscheidende Botschaft von Barcelona ist, dass die EU zuversichtlich sein kann, weil die Konjunktur wieder anspringt, und im Rahmen ihrer Zielsetzung alles tun wird, um die Konjunktur noch stärker zu beleben. Meine Damen und Herren von der Opposition, lassen Sie sich von diesem Optimismus und dieser Tatkraft in Europa anstecken, anstatt den Wirtschaftsstandort Deutschland weiter mies zu reden. ({2}) Es ist schon viel zur Liberalisierung der Energiemärkte gesagt worden. Ich halte es für einen Erfolg, dass nun auch in Frankreich 60 Prozent des Marktes geöffnet wurden. Sicherlich hätten wir uns noch mehr gewünscht; aber an dieser Stelle war eben nur ein Kompromiss möglich. Hätten wir Deutschen nämlich darauf beharrt, die Position Frankreichs zu schwächen, hätten diejenigen, die uns jetzt vorwerfen, wir seien in der Liberalisierung nicht weit genug gekommen, vorgeworfen, dass wir das deutsch-französische Verhältnis belastet hätten. Man kann mit diesem Thema nicht so beliebig umgehen, wie Sie es tun, meine Damen und Herren von der Opposition. ({3}) Lassen Sie mich noch etwas zu der Liberalisierung des Energiemarktes sagen: In meinem Wahlkreis finden sich Braunkohlentagebaue und -kraftwerke von RWE Rheinbraun. Sie sollten sich einmal anhören, was von den Managern in den obersten Etagen bis hinunter zu den Kolleginnen und Kollegen von den strukturpolitischen Entscheidungen gehalten wird, die noch unter der Ägide der alten Regierung getroffen worden sind und die eine Ungleichzeitigkeit bei der Öffnung der Energiemärkte auf europäischer Ebene erst möglich gemacht haben, die letztlich auf dem Rücken deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen worden ist. Für diese Politik, die wir jetzt zurechtrücken müssen, hat man Ihnen eine sehr schlechte Note verpasst. Das sollten Sie sich lieber anhören; aber offensichtlich haben Sie auch hier den Kontakt zur wirtschaftlichen Basis verloren. ({4}) Meine Damen und Herren, angesichts der gegebenen Möglichkeiten der konjunkturellen Erholung müssen wir beherzt zugreifen und diesen Prozess unterstützen. Hierzu hat der Rat von Barcelona die richtigen Signale ausgesandt. Der Europäische Rat hat gefordert, die Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Wegen des Rückgangs der Forschungspolitik in den letzten Jahren der Regierungszeit von Helmut Kohl sollten Sie eigentlich Tränen der Dankbarkeit in den Augen haben, dass in Europa jetzt das gemacht wird, was Sie jahrelang in der nationalen Politik versäumt haben. ({5}) - Ich glaube, dass Ihnen das wehtut. Die Wahrheit tut eben manchmal weh. Ich komme noch einmal auf das Projekt „Galileo“ zu sprechen: Auch dieses Projekt hat in eindrucksvoller Weise gezeigt, dass Europa nicht nur bereit, sondern auch in der Lage ist, sich im Hinblick auf die forschungspolitische Strategie neu zu positionieren. Es ist gelungen, Weltraumforschung mit anwendungsorientierter Forschung zu kombinieren und die Weichen für die Bildung eines eigenständigen europäischen Forschungs- und EntwicklungsKnow-Hows gerade in diesem wichtigen Zukunftsbereich zu stellen. An dieser Stelle lobe ich die Bundesregierung ausdrücklich, die im Hintergrund immer zu denen gehört hat, die eine solche Entwicklung möglich gemacht haben. ({6}) Im Telekommunikationsbereich wurden die Entscheidungen getroffen - ich denke hier an die Verfügbarkeit und den weiteren Ausbau von Breitbandnetzen -, die notwendig sind, um den technologischen Fortschritt in Europa in einen ökonomischen Fortschritt umzusetzen. Auch hier wurde Wichtiges auf den Weg gebracht, wenn auch nur in kleinen Schritten. Aber diese kleinen Schritte zeigen nach vorn und das sollten Sie würdigen. Der Prozess hin zu einer leistungsfähigen Ökonomie in Europa darf - ich sagte dies eingangs bereits - nicht auf dem Rücken von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder der Umwelt ausgetragen werden. ({7}) Deshalb möchte ich an dieser Stelle sagen, dass die Entscheidungen des Europäischen Rates, auch in der Sozialpolitik den Prozess von Luxemburg zu straffen, das Ziel der Vollbeschäftigung nicht aus den Augen zu verlieren und die Förderung des Dialogs der Sozialpartner in den Mittelpunkt der europäischen Sozialpolitik zu stellen, damit es präventive Maßnahmen gibt, die den Strukturwandel sozialverträglich gestalten, ein Signal dafür ist, dass man den Strukturwandel in Europa mit den Menschen und nicht auf ihrem Rücken gestalten will. Auch das sollte als positives Signal des Gipfels von Barcelona herausgestellt werden. ({8}) Lassen Sie mich noch etwas zu der ökologischen Flankierung sagen. Dass in Weiterentwicklung der Ergebnisse des Gipfels von Göteborg nun auch in Barcelona klar festgelegt wurde, dass die Integration von Umweltaspekten in alle Politikbereiche der EU weiter voranschreiten und stärker institutionalisiert werden müsse, zeigt, dass ökonomische Entwicklung auch mit ökologischer Entwicklung und mit nachhaltigen Strategien einhergehen muss. Das ist ein Novum in der europäischen Politik. Das ist in dieser Klarheit noch nie formuliert worden. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern - sie gehört zu den Antriebskräften dieses Prozesses -, in ihrem Bemühen um die ökologische Orientierung hin zu einer nachhaltigen EU-Politik nicht nachzulassen. ({9}) Ich sehe es als Erfolg gerade der deutschen EU-Politik an, dass wirtschaftliche, soziale und ökologische Erwägungen - das kann in den Schlussfolgerungen wörtlich nachgelesen werden - im Rahmen politischer Entscheidungen die gleiche Beachtung finden müssen. Ich denke, das ist eine klare Aussage. Dieser Gleichklang von ökonomischer, sozialer und ökologischer Entwicklung - er ist so erstmals in den Schlussfolgerungen schriftlich fixiert - ist auch ein Verdienst der sozial und ökologisch orientierten Politik der Bundesrepublik Deutschland. ({10}) Lassen Sie mich noch einmal auf die Ausführungen von Herrn Merz zurückkommen. Er hat behauptet, dass wir eine egoistische Industriepolitik machten. Ich sage Ihnen, Herr Merz: Wer wie Sie in Ihrer Regierungszeit als einzigen Beleg für seine industriepolitische Kompetenz nur die Zerstörung der industriepolitischen Kerne in den neuen Ländern nach der Wiedervereinigung vorzuweisen hat, der braucht uns keine Vorschriften zu machen, wie Industriepolitik zu gestalten ist. Sie müssten erst einmal in sich gehen und darüber nachdenken, was Sie in unserem Land industriepolitisch angerichtet haben. ({11}) Herr Merz, Sie haben zwar Recht, wenn Sie auf die in vielen strukturpolitischen Bereichen grassierende „deutsche Krankheit“ hinweisen, die auch - das leugnet ja niemand - von der EU-Kommission kritisiert wird. Aber Sie machen es sich wirklich sehr einfach, wenn Sie behaupten, dass derjenige, der seit fast vier Jahren versucht, diese Krankheit zu kurieren, auch der Verursacher dieser Krankheit sei. Diese Logik kauft Ihnen niemand ab. ({12}) Wenn Sie das, was wir gemacht haben, mit dem vergleichen, was in den letzten vier Jahren der Kohl-Regierung geschehen ist, dann werden Sie feststellen: Eine große Steuerreform, die diesen Namen tatsächlich verdient, eine große Rentenreform, die Senkung der Lohnnebenkosten sowie mehr Geld für Investitionen in Forschung und Bildung haben Sie nicht vorweisen können. Aber die jetzige Regierung kann das alles in die Bilanz ihrer letzten vier Jahre einstellen. Das ist auch im Sinne der Kriterien, die die Europäische Union aufgestellt hat. ({13}) Abschließend sage ich: Ihre Ausführungen, insbesondere - das war für mich bezeichnend - das lange Zitat von Helmut Kohl am Ende Ihrer Rede, zeigen, dass Sie noch immer in der Vergangenheit leben. Wir aber machen jetzt Politik für die Zukunft und für die Menschen. Das wird auch in den nächsten Monaten deutlich werden. Sie haben an keiner Stelle Ihrer Rede konstruktive Vorschläge oder Visionen vorgetragen. Solche scheinen Sie nicht zu haben. Mit kleinkariertem Herumgemäkel können Sie bei den Menschen kein Profil gewinnen, erst recht nicht in Europa. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Meldung des heutigen Tages ist ohne Frage die Aussage des Bundeskanzlers - er ist inzwischen nicht mehr anwesend -, dass er in der Europapolitik die innere Organisation der Bundesregierung - das bestätigt uns - für falsch halte. ({0}) Das war eine schallende Ohrfeige für unseren Bundesaußenminister. ({1}) Ich finde es erstaunlich, dass der Bundesaußenminister in seiner Rede mit keinem Wort Stellung dazu genommen hat. ({2}) Im Übrigen: Der Bundesaußenminister hat hier eben am Pult ohnehin schon wie ein Oppositionspolitiker gesprochen. ({3}) Er läuft sich bereits ein bisschen für die Rolle warm, die er nach dem 22. September in diesem Haus wahrnehmen will. ({4}) Polemik, ziemlich weit entfernt vom Sachverhalt, ist, wie wir wissen, seine Stärke. ({5}) Nun will ich zu dieser europapolitischen Frage doch ein Wort sagen. Eines, Herr Fischer, bescheinige ich Ihnen gern: Der Vorschlag des Bundeskanzlers löst in mir unterschiedliche Gefühle aus. ({6}) Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, dass die eigentliche Europapolitik bei Ihnen, Herr Fischer, sogar etwas besser aufgehoben ist als bei Herrn Schröder, ({7}) der jetzt wieder in seine alte Rolle als niedersächsischer Ministerpräsident zurückfällt, in der er schon gegen Europa polemisiert hat. Was das Anliegen und auch was die Beamten angeht, so habe ich das Gefühl: Im Auswärtigen Amt hat man ein Herz für die Europapolitik. ({8}) Auf der anderen Seite natürlich kommt der Bundeskanzler mit seinem Vorschlag einem Gedanken nach, den der Deutsche Bundestag, übrigens durch Änderung des Grundgesetzes, schon vor Jahren umgesetzt hat. Die Trennung zwischen der Außenpolitik und der Europapolitik hat der Bundestag auch in der Organisation der parlamentarischen Arbeit durch Einführung des Europaausschusses deutlich gemacht. Insofern hinkt die Regierung dem Bundestag hinterher, wenn sie erst jetzt erkennt: Europapolitik ist etwas anderes als Außenpolitik. ({9}) Natürlich geht es in der Europapolitik im Wesentlichen um die Fragen der Innenpolitik, der Wirtschaftspolitik und der Finanzpolitik, also um Fragen, die in der Bundesregierung logischerweise nicht das Auswärtige Amt koordiniert; ({10}) für diese Koordination ist der Kanzler höchstpersönlich verantwortlich. Uns macht allerdings Sorge, wie der Bundeskanzler diese Verantwortung im Moment wahrnimmt. Wodurch zeichnet er sich da aus? Er zeichnet sich dadurch aus, dass er in der Europapolitik in nationalstaatlichen Egoismus zurückfällt. Seine wesentlichen Initiativen in den letzten Wochen und Monaten waren Angriffe gegen die Kommission, und zwar gegen den Wettbewerbskommissar, gegen den Binnenmarktkommissar und gegen den Währungskommissar. Diese drei Kommissare - Monti, Bolkestein und Solbes - tragen für das Funktionieren des Binnenmarkts die Verantwortung. Deutschland müsste das allergrößte Interesse daran haben, dass diese Kommissare in Schutz genommen, in ihrer Aufgabe unterstützt und nicht daran gehindert werden, einen Binnenmarkt mit fairen Wettbewerbsbedingungen aufrechtzuerhalten. ({11}) Heute Morgen ist der Fall Philipp Holzmann angesprochen worden. Da muss man einmal eine klare und nüchterne Unterscheidung treffen. Natürlich verstehen wir jeden Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin, der oder die Sorge um den Arbeitsplatz hat und den Wunsch hat, dass der Arbeitsplatz erhalten bleibt, wie auch immer. Unser Vorwurf ist, dass die Politik dieser Regierung eher zur Zerstörung von Arbeitsplätzen als zu ihrem Erhalt führt. ({12}) Dabei ist nicht nur der Versuch gescheitert, Arbeitsplätze bei einem Großunternehmen zulasten von mittelständischen Unternehmen zu erhalten. ({13}) Die Kanzleraktion „Philipp Holzmann“ war sogar so ungelenk angelegt, dass Arbeitsplätze sowohl im Mittelstand als auch bei Holzmann selbst gefährdet wurden. Das ist eine total verfehlte Politik. ({14}) Wenn der Bundeskanzler sagt, es müsse jetzt Industriepolitik gemacht werden und man dürfe sich nicht an ordnungspolitischen Leitlinien orientieren, ({15}) dann muss ich fragen: Was für eine Politik sichert eigentlich eine industrielle Entwicklung in Europa? Was für eine Politik sichert Arbeitsplätze? Die Antwort lautet: nur eine Politik, die gegen die ordnungspolitischen Leitsätze der sozialen Marktwirtschaft nicht so krass verstößt, wie das bei der Politik der rot-grünen Regierung dauerhaft der Fall ist. Ich möchte gern einen weiteren Punkt ansprechen. Wir stehen vor der Osterweiterung der Europäischen Union. Das ist eine große Herausforderung, eine ökonomische, eine politische und auch eine moralische Herausforderung, der wir uns stellen werden. Nun hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán vor kurzem darauf hingewiesen, dass sich eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit einem Ja zu Vertreibungsdekreten nicht verträgt. ({16}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wünschen von ganzem Herzen den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union. Wir wissen um die Rolle der tschechischen Bevölkerung im Freiheitskampf gegen den Kommunismus. Deshalb empfinden wir den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union als einen großen Gewinn. ({17}) Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sagen: Unrecht muss Unrecht genannt werden dürfen. Die BenesDekrete verstoßen gegen allgemein gültige Menschenrechtsstandards. Wenn der frühere tschechische Premier Klaus und der jetzige Ministerpräsident Zeman diesen unseligen Dekreten noch irgendeine Wirkung zusprechen oder sie sogar in den europäischen Verträgen zu verankern suchen, dann müssen wir hier ein entschiedenes und klares Nein im Sinne der Menschenrechte sprechen. ({18}) Ich finde es sehr gut, dass der Vorsitzende des Europaausschusses, unser Kollege Pflüger, beim Deutschen Bundestag ein Gutachten in Auftrag gegeben hat, das prüfen soll, ob von den Benes-Dekreten heute und in Zukunft noch eine diskriminierende Wirkung ausgeht. Eines muss man klar sagen: Wenn dieses Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass dem so ist, dann müssen diese Dekrete aus der Welt geschafft werden; denn Europa ist eine Rechtsund Wertegemeinschaft. Wir fühlen uns den Menschenrechten verpflichtet. Das gilt auch für diese Frage. ({19}) Ein weiterer Punkt, der hier eben vom Außenminister und auch vom Kanzler angesprochen wurde, ist die Landwirtschaftspolitik in Europa. Diese möchte ich hier zum Schluss noch ansprechen. Es ist richtig, wenn die Regierung sagt, dass wir eine Reform der gemeinsamen Agrarpolitik benötigen. Wir brauchen sie auch schon für die EU der 15, aber erst recht brauchen wir sie in der EU der 25. Nur, es kann nicht angehen - das wäre unfair -, dass die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik allein auf dem Rücken der neu hinzukommenden Mitgliedsländer der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa ausgetragen wird. Das dürfen wir nicht zulassen. ({20}) - Ich bin dem Bundesaußenminister dankbar dafür, dass er „Richtig!“ sagt. Aber er soll bitte einmal hierüber auch mit seinem Finanzminister sprechen. Das eine Extrem vertritt ja der polnische Landwirtschaftsminister, indem er fordert, die osteuropäischen Bauern müssten sofort voll an den direkten Einkommensbeihilfen beteiligt werden. Demgegenüber steht das Wort des deutschen Finanzministers, dass in den nächsten Jahren überhaupt nichts passieren soll. Das ist das andere Extrem. Im Kommissionsvorschlag, der im Europaausschuss von Bundestag und Bundesrat von Frau Schreyer und Herrn Verheugen sehr plausibel begründet wurde, heißt es: Der faire Umgang miteinander gebietet eine gewisse Beteiligung auch an diesen Hilfen, weil sonst diejenigen, die neu hinzukommen, sich zu Recht fragen, was das für eine Europäische Union ist, die die Agrarreform allein auf ihrem Rücken austragen will. Der Vorschlag der Europäischen Union findet unsere Unterstützung. Die Hartleibigkeit unseres Finanzministers mag sich in populistischer Hinsicht gut auswirken, ruft aber unseren Widerspruch hervor.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hintze, jetzt muss ich Sie leider abbremsen. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen die Europäische Union gemeinsam bauen. Daran müssen auch die Staaten, deren Aufnahme wir als Gewinn empfinden, beteiligt werden. Wenn sie zu uns kommen, sollen sie auch spüren, dass sie dazugehören. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt hat der Kollege Christian Sterzing für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war jetzt nicht nur ein interessanter Einblick in den Gefühlshaushalt eines Pfarrers, sondern auch ein interessanter Einblick in den Argumentationshaushalt der Opposition. ({0}) Heute Morgen hatten wir eine Unterredung über die Erweiterung. Da wurde der Vorschlag der Kommission aus Ihren Reihen, Herr Hintze, als kapitaler strategischer Fehler bezeichnet. ({1}) Dem Ausmaß der Beliebigkeit der Argumente steht man manchmal hilflos gegenüber. Das überrascht wirklich. ({2}) - Ja, das ist die neue Unübersichtlichkeit bei der Opposition. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns alle, wie ich glaube, darüber einig - das klang ja doch in vielen Reden an -, dass Barcelona kein großes geschichtliches Ereignis ist. Es gab keine spektakulären Beschlüsse. Die Ehrlichkeit gebietet aber doch, differenziert mit dem umzugehen, über was in Barcelona verhandelt und was beschlossen worden ist. Wenn man sich das genauer anschaut, dann stellt man fest, dass dort sozusagen die integrationspolitische Kärrnerarbeit geleistet wurde. Diese Arbeit ist mühsam und kleinteilig. Es handelt sich dabei nicht nur um den schwierigen Ausgleich sich widersprechender nationaler Interessen, sondern auch um den Versuch, Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher rechtlicher, sozialer und ökonomischer Traditionen zu finden. Insofern kann sich das, was in Barcelona beschlossen worden ist, sehen lassen. Ich weiß nicht, woher der Vorwurf mangelnder Zukunftsorientierung, mangelnder Dynamik und mangelnder Offenheit kommt. Man muss die Frage stellen, wer sich in der Zeit vor und während der Verhandlungen in Barcelona für die Öffnung der Strom- und Gasmärkte in Europa eingesetzt hat. - Das war doch die Bundesregierung. Wer hat die Überlegungen hinsichtlich einer Ratsreform angestellt? - Auch das war die Bundesregierung, insbesondere der Bundeskanzler durch ein Schreiben, das er gemeinsam mit Herrn Blair verfasst hat. Mit den europapolitischen Halbwahrheiten, die Sie hier zum Teil geäußert haben, dient man weder der Sache noch wird man der Komplexität der Probleme gerecht. Die Lissabon-Strategie stand im Mittelpunkt der Beratungen. Ich glaube, es ist richtig, dass wir uns in Europa nicht nur zusammensetzen sollten, um hehre Ziele zu formulieren. Wir sollten vielmehr in regelmäßigen Abständen selbstkritisch überprüfen, ob wir auf dem richtigen Weg sind und ob wir auf nationaler Ebene das Richtige getan haben. Mit der kritischen Auseinandersetzung über den Lissabon-Prozess wurden in Barcelona insofern wichtige Signale gesetzt. Es geht wirklich um die zentrale Botschaft, dass die Europäische Union im Zeitalter der Globalisierung alles tun will und auch alles tut, um den Strukturwandel sozial und ökologisch zu gestalten. Ich will das Augenmerk auf einen Aspekt richten, der nur am Rande erwähnt wurde, nämlich auf die Tatsache, dass in Barcelona 28 Staats- und Regierungschefs, also die Vertreter der 15 Mitgliedstaaten mit den 13 Beitrittsländern, zusammensaßen. Es ging bei den Beratungen nicht um Beitrittsprobleme oder um die Formulierung von Kompromissen im Beitrittsprozess. Vielmehr hat das Europa der 28 über die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsprozesses gemeinsam diskutiert. Zum ersten Mal war es eine Selbstverständlichkeit, dass alle 28 beieinander saßen. Auch dies ist ein ganz wichtiges Signal, das in die Beitrittsländer ausgesandt wurde: Wir rechnen mit euch, wir rechnen mit eurem Beitritt und wir wollen mit euch gemeinsam auch schon vor dem Beitritt die anstehenden Zukunftsprobleme diskutieren. ({3}) Die Auseinandersetzung über die Öffnung der Gasund Strommärkte war ein Hauptthema, das besonders in den Medien seinen Niederschlag gefunden hat. Wir alle hätten uns - das können wir gemeinsam feststellen - mehr gewünscht. Die Öffnung der Märkte ist ein zähflüssiger Prozess, der leider nicht so schnell vorangeht, wie wir es uns erhofft haben. Wir müssen uns jetzt aber nicht nur mit unseren Partnern kritisch auseinander setzen und den Zeigefinger auf den einen oder anderen richten, sondern auch deutlich machen, dass wir selbst uns kritisch mit den Verhältnissen bei uns im Hinblick auf diese Marktöffnung auseinander setzen müssen. ({4}) Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Selbstkritik durchaus angebracht ist. In unseren Papieren ist immer von der hundertprozentigen Liberalisierung unserer Märkte die Rede. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass das mit dem Wettbewerb nicht in allen Bereichen so glasklar ist, dass wir Probleme der Marktbeherrschung haben und dass wir uns mit Problemen möglicher Fusionen auseinander setzen müssen. ({5}) Wir müssen sicherlich klar machen - auch das wurde erwähnt -: Marktöffnung ist keine Einbahnstraße. Es geht nicht, dass mit den Monopolgewinnen auf dem einen nationalen Markt Einkaufspolitik auf anderen liberalisierten nationalen Märkten betrieben wird. Das ist von der Bundesregierung heute sehr deutlich gemacht worden, sodass daran kein Zweifel bestehen kann. Barcelona hat gezeigt, dass der mühsame Weg der Integration in vielen Bereichen schrittweise gegangen werden muss. Der Europäische Rat hat aber auch gezeigt, dass Barcelona in einen sehr grundsätzlichen Reformprozess eingebettet ist, der mit dem Stichwort Konvent richtig umschrieben ist.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Sterzing, auch Sie muss ich leider an die Redezeit erinnern.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - In diesen Tagen wird deutlich, dass die mühsame integrationspolitische Alltagsarbeit gemacht wird, aber die darüber hinaus bestehende grundsätzliche Reformnotwendigkeit und -bereitschaft innerhalb der EU im Konvent, der heute tagt, ihren Ausdruck findet. Insofern können wir sagen, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, muss ich von hier oben leider etwas Unangenehmes erledigen. Aus dem stenografischen Protokoll geht hervor, dass der Kollege Rezzo Schlauch einen Zwischenruf gemacht hat, der nicht den Gepflogenheiten des Hohen Hauses entspricht. ({0}) - Ich möchte ihn nicht wiederholen. Sie können das im Protokoll nachlesen. Aber es ist nicht üblich - das wissen Sie alle -, Mitglieder des Bundestages oder andere Kolleginnen und Kollegen aus der Politik persönlich zu diffamieren. Deshalb weise ich diesen Zwischenruf hiermit zurück. ({1}) Jetzt fahren wir in der Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Dr. Gerd Müller für die Fraktion der CDU/CSU.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Matt - das ist das Problem - ist nicht nur der Kanzler, sondern sind auch seine Politik und insbesondere seine Wirtschaftspolitik. „Der müde Kanzler“, so titelte die „Süddeutsche Zeitung“. ({0}) Das kann man auch für die Vorstellung heute früh übernehmen. ({1}) Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum entwickeln und dem Vollbeschäftigungsziel näher kommen, das waren die großen Versprechungen. Herausgekommen ist nahezu nichts. ({2}) Der Aufschwung in Europa wird kommen, aber er geht an Deutschland vorbei und das liegt an dieser Bundesregierung. ({3}) Wir sind Wachstumsschlusslicht in Europa und das liegt an dieser Bundesregierung. ({4}) Deutschland steht am Scheideweg: weiterer Abstieg mit Schröder oder ein neuer Aufbruch. Wenn die Zuhörerinnen und Zuhörer, die wirklich an der Sache interessiert sind, heute die Rede des Bundeskanzlers verfolgt haben, dann müssen sie doch denken: Unsere Menschen, unsere Unternehmer, unsere Jugend, wollen nicht Schlusslicht sein; nein, wir wollen nach vorne kommen, wir wollen wieder Spitze sein in Europa! ({5}) Die Menschen fragen sich doch: Wo sind die Konzepte, wo sind die Reformvorschläge, wo sind die Visionen dieser müden Bundesregierung? Ich habe einen müden Kanzler gesehen, der bereits weg ist. ({6}) Ich habe einen grauen Außenminister gesehen und ich sehe eine kraftlose Regierungsbank. ({7}) Wo sind die Vorschläge? fragen die Menschen. Wenn es Vorschläge gibt, ({8}) zur Deregulierung des Arbeitsmarktes, zur Entlastung des Mittelstandes, zur Vereinfachung des Steuerrechts, ({9}) zum Abbau der Bürokratie, zum Umbau der Sozialsysteme, können wir uns sachlich darüber auseinander setzen. ({10}) Es klingt doch wie Hohn. Wenn Sie heute die „Welt“ lesen, ({11}) sehen Sie, dass Bundeskanzler Schröder mit dem Ausspruch zitiert wird: „Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland sind so gut wie lange nicht mehr.“ Das ist wie das Märchen vom Sandmann: Er verstreut Sand und setzt darauf, dass seine Sprüche das Volk einschläfern. Aber wir sind hellwach. ({12}) Friedrich Merz hat die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die der Kanzler „gut“ nennt, sehr präzise beschrieben. ({13}) Wie sind die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland? - Wir sind Schlusslicht beim Wachstum und Nummer zehn bei der Arbeitslosigkeit. Seit Ihrer Wahl gab es 330 776 neue Arbeitslose. Wie müsste der Satz des Kanzlers demnach lauten? - Wir haben es nicht verdient, wiedergewählt zu werden. ({14}) Deutschland ist bei den Pleiten nicht Schlusslicht, sondern Spitze. Ihre Politik hat 36 000 Mittelständler die Existenz gekostet. Chefsache Schröder: Jetzt ist nicht nur der Mittelstand, sondern auch Holzmann pleite. ({15}) Wir sind außerdem Spitze bei der Steuer- und Abgabenbelastung. Bei der Preisentwicklung und -stabilität ist Italien unser Vorbild. Das ist so, als wenn sich Borussia Dortmund als Vorbild die Spielvereinigung Unterhaching nehmen würde. ({16}) Sie können sich doch nicht mit Italien messen! Ich möchte noch eine Bemerkung zur Finanzpolitik machen. Kohl und Waigel haben mit einer Defizitquote von 2,2 Prozent die Regierung übergeben. ({17}) Jetzt liegt die Quote bei 2,7 Prozent. Die Bundesschuld von Finanzminister Eichel liegt im Jahr 2002 um 40 Milliarden höher als vor vier Jahren. Das sind die Fakten. ({18}) So sehen die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus, die der Kanzler Schröder heute als „so gut wie nie zuvor“ beschreibt, obwohl man die Lage als mittelmäßig beurteilen müsste. Er erinnert mich an einen Schüler, der aus einer Vier eine Eins machen will. Ich sage Ihnen voraus: Dieser Kanzler wird von einer Vier auf eine Sechs abrutschen. Der blaue Brief wird seine Entlassungsurkunde sein.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Müller, ich muss jetzt Lehrerin spielen und Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem Stichwort Entlassungsurkunde komme ich zum Schluss. ({0}) - Lassen Sie mich noch einen Satz sagen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das muss aber ein kurzer Satz sein.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der größte Innovationssprung für ein modernes Europa könnte die Abwahl dieser Regierung am 22. September sein. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich dem Kollegen Christoph Moosbauer für die SPD-Fraktion das Wort.

Christoph Moosbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Abgeordneter aus München muss ich zunächst die Spielvereinigung Unterhaching in Schutz nehmen. ({0}) Die Spielvereinigung Unterhaching ist keine Provinzmannschaft und taugt daher nicht für diesen Vergleich. Dieser Verein ist vielmehr ein Beispiel dafür, wie man mit viel Engagement, Kampfgeist und Arbeit an die Spitze kommt. ({1}) Ich bin natürlich versucht, vieles zu kommentieren, was in der Debatte angesprochen worden ist. Aber ich bin von meiner Fraktion gebeten worden, vor allen Dingen auf die Außenpolitik Bezug zu nehmen, was ich natürlich gerne tue. Im Vordergrund der außenpolitischen Debatte beim europäischen Gipfeltreffen in Barcelona - der Kanzler hat dies schon erwähnt - stand die fortdauernde Krise im Nahen Osten. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bezogen in einer Erklärung mit erstaunlich deutlichen Worten Stellung zur Lage im Nahen Osten, vor allen Dingen, was das Vorgehen der israelischen Regierung angeht. Das Recht, den Terrorismus zu bekämpfen, ist unbestritten. Aber die Staats- und Regierungschefs fordern Israel auf, seine Streitkräfte unverzüglich aus den von der palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierten Gebieten zurückzuziehen, ({2}) die Praxis der außergerichtlichen und präventiven Hinrichtungen zu beenden sowie den Siedlungsbau zu stoppen. Gleichzeitig wird die palästinensische Autonomiebehörde in die Pflicht genommen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um terroristische Aktivitäten zu stoppen. ({3}) Beide Seiten werden zur Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte ermahnt. Man könnte meinen, dass es eine Selbstverständlichkeit sei, diese einzuhalten. Aber die Realität im Nahen Osten zeigt, dass es nach wie vor notwendig ist, dies mit Nachdruck einzufordern. Es ist nun eineinhalb Jahre her, dass der politische Prozess in dieser Nachbarregion Europas, der den Frieden bringen sollte, kollabierte. Die Europäische Union und ihre Mitglieder haben sich seitdem stärker und erfolgreicher als zuvor in der Nahostpolitik engagiert. Das ist vor allem natürlich auch ein Verdienst des deutschen Außenministers. ({4}) Meine Damen und Herren, viele kritisieren - das ist heute auch wiederholt angesprochen worden -, der europäische Einfluss auf den politischen Prozess im Nahen Osten sei im Vergleich zum Einfluss der USA gering. Diesen Leuten muss gesagt werden, dass Nahostpolitik kein Schönheitswettbewerb ist und dass es hier nicht um ein Wettrennen um Friedensnobelpreise geht. Nicht in der Konkurrenz zur amerikanischen Nahostdiplomatie, nein, gerade in Ergänzung zur amerikanischen Diplomatie macht eine europäische Stimme Sinn. Dass diese europäische Stimme in Barcelona noch einmal deutlich erhoben wurde, das hat die Mission des US-Sonderbeauftragten Zinni unterstützt. Denn im Ziel sind wir uns ja einig: Nur wenn die USA, die Europäer, Russland und die Vereinten Nationen geschlossen auftreten, wird ein bedeutender Beitrag zur Lösung des Konflikts auch möglich sein. Das Engagement Javier Solanas und des Nahostsonderbeauftragten Moratinos sollte daher nicht gering geschätzt werDr. Gerd Müller den, schon gar nicht vom Deutschen Bundestag, der sich hier im Plenum seit mehr als 16 Monaten nicht mehr mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigt hat. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um eine solche Debatte hier im Bundestag nachdrücklich einzufordern. ({5}) Europäische Außenpolitik kann gelingen. Nichts zeigt das deutlicher als die Verhinderung eines offenen Konflikts in Mazedonien oder die friedliche Einigung zwischen Serbien und Montenegro, die es in den letzten Tagen gab. Dass der neue Staatenbund, der dort entstanden ist, in Belgrad ironisch Solanien genannt wird, sollte uns nicht ärgern, sondern uns auch ein wenig stolz machen auf die Fortschritte, die die gemeinsame europäische Außenpolitik in den letzten Jahren erreicht hat. ({6}) So wichtig die Konzentration unserer Außenpolitik auf die unmittelbar an Europa angrenzende Region Südosteuropa sein mag, so entscheidend ist es, dass wir uns auch engagiert um den Nahen Osten kümmern. Durch das Schengener Abkommen ist Deutschland quasi ein Mittelmeeranrainerstaat geworden. Daher kann es uns politisch nicht unberührt lassen, was im Nahen Osten vor sich geht. Jede Eskalation militärischer Gewalt in dieser Region wird in Zukunft Auswirkungen auf Europa und damit auch auf Deutschland haben. Daher ist es wichtig, die europäische Stimme zu erheben. ({7}) Das gilt auch - das sage ich bewusst auch in diesem Zusammenhang mit Barcelona und der europäischen Außenpolitik - für die offenbar vor der Tür stehende neue IrakKrise. Obwohl gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass das Thema eines militärischen Vorgehens gegen den Irak nicht auf der Tagesordnung steht, wird erstaunlich viel darüber geredet. In Barcelona stand es auf der Tagesordnung, zwar nicht auf der offiziellen, aber, wie man hört, hinter den Kulissen. Auf die Gefahr hin, dass ich vonseiten der Opposition - das geschieht ebenso gebetsmühlenartig - den Vorwurf des Antiamerikanismus auf mich ziehe: ({8}) Europa muss in der Tradition der europäischen Außenpolitik hart daran arbeiten, dass es zu einer Lösung des IrakKonfliks mit diplomatischen Mitteln im Rahmen der Vereinten Nationen kommt. ({9}) Das ist natürlich leicht gesagt, aber schwer getan. Natürlich will auch ich nicht, dass ein Diktator wie Saddam Hussein, der seine zynische Brutalität und Menschenverachtung sowohl in der Region als auch seinem eigenen Volk gegenüber mehr als einmal gezeigt hat, in die Situation kommt zu entscheiden, wo, wann und gegen wen er Massenvernichtungswaffen einsetzt. Ich weiß aber auch, dass eine rein militärische Strategie, um dies zu verhindern, das Risiko einer regionalen Eskalation in sich trägt. Diese Eskalation kann nicht nur die Region in einen Krieg stürzen, sondern auch auf Europa ungeahnte Auswirkungen haben. Lasst uns, lasst Europa daher die politische und die diplomatische Offensive in den Vordergrund stellen! Die Stärke der europäischen Außenpolitik liegt im Dialog und in der Prävention. ({10}) Wir haben in der europäischen Außenpolitik viel erreicht, wenn wir berücksichtigen, dass es den erklärten Willen zu einer abgestimmten und zu einer wirklich gemeinsamen und mit einer Stimme sprechenden Außenpolitik in Europa ja erst seit wenigen Jahren gibt. Umso wichtiger ist es, dass bei den Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die Außenpolitik einen bedeutenden Stellenwert einnimmt. In Barcelona war das so. Ich danke dem Bundeskanzler und ich danke der deutschen Delegation für ihren Beitrag zum Erfolg des Gipfeltreffens, auch und gerade im Hinblick auf die gemeinsame europäische Außenpolitik. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8619. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 14/8182. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/7788 zu der Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Tagung des Europäischen Rates in Laeken am 14./15. Dezember 2001 anzunehmen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltung? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von FDP- und PDS-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7781 mit dem Titel „Europa richtig voranbringen - Weichenstellung durch den Europäischen Rat in Laeken/Brüssel.“ Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen. Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss, den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7789 zu der Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Tagung des Europäischen Rates in Laeken am 14./15. Dezember 2001 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-, FDP- und PDS-Fraktion angenommen. Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8182 empfiehlt der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7790 zur Regierungserklärung zur Tagung des Europäischen Rates in Laeken abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7791 zur Regierungserklärung zur Tagung des Europäischen Rates in Laeken abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Der Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung auf Drucksache 14/8323 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: „Mitteilung der Kommission: Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und Betrugsbekämpfung - Aktionsplan 2001 bis 2003“ und „Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und Betrugsbekämpfung - Jahresbericht 2000“ soll zur Kenntnis genommen werden. - Ich gehe davon aus, dass es dagegen im Hause keinen Widerspruch gibt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Lage und Zukunft der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 14/5834, 14/6923 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen, wobei die PDS elf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die PDSFraktion ist deren Fraktionsvorsitzender, Roland Claus.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Eine Große Anfrage ist ein wirksames Instrument der Opposition, wenn diese vieles genauer wissen will. Genau dies ist hier der Fall. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir sicher, Sie bedauern mit mir, dass nicht ein einziger Minister oder eine Ministerin dieser Debatte folgt. ({0}) Dies ist insofern bemerkenswert, als wir alle wissen, dass die Kabinettsmitglieder zwar viel zu tun haben, sie aber gleich - trotz ihrer vielen Termine - wieder hier erscheinen werden, wenn es um eine Wahl und eine Abstimmung geht. Insofern kann man dieses Argument hier nicht gelten lassen. ({1}) Die Grundfrage dieser Großen Anfrage heißt: Wie wirkt sich die Politik der Bundesregierung auf die Lage der Kommunen, das heißt auf den Lebensalltag der Bürgerinnen und Bürger in der Republik, aus? Erwartungsgemäß stellt sich die Bundesregierung ein gutes Zeugnis aus. Dies findet man komprimiert in dem Satz: Die Finanzsituation der Kommunen hat sich erfreulich entwickelt. - So weit die Antwort der Bundesregierung. Dazu können wir Ihnen nur sagen: Dies mag aus der Sicht des Bundesfinanzministers stimmen, wenn es ihm wieder einmal gelungen ist, Lasten des Bundes bei den Kommunen abzuladen. Dies mag auch noch für manche SPD-Spendenkasse stimmen. ({2}) Aus der Sicht der Stadträte und Gemeindevertreter trifft dies aber garantiert nicht zu - und schon gar nicht für die Lage der Einwohnerinnen und Einwohner der Kommunen. ({3}) Es geht uns hier ausdrücklich darum, die gesamte Bundesrepublik, also alle Kommunen, im Blick zu halten und nicht die zwar großen, hier aber nicht in erster Linie zu thematisierenden Unterschiede zwischen Ost und West geltend zu machen. Dazu will ich Ihnen folgende Fakten aufzählen: Die Kommunen hatten im Jahre 2001 im Vergleich zum Vorjahr infolge Ihrer Steuerreform ein Minus von über 4 Milliarden Euro zu verzeichnen. Grund ist der Rückgang bei den Gewerbesteuereinnahmen. Im Gegenzug erhöhen Sie Schritt für Schritt auch noch die Gewerbesteuerumlage von 20 auf 28 Prozent, nehmen damit den Kommunen noch einen weiteren Spielraum. Darüber hinaus haben wir in Ost und West leider einen weiteren Rückgang kommunaler Investitionen zu verzeichnen. Weil heute hier schon so viel über Holzmann geredet worden ist, will ich dazu nur eines sagen: Natürlich ist nicht die Rettung von Holzmann das Problem. Das geht in Ordnung. Das Problem von Holzmann und der Bauwirtschaft ist doch das Ausbleiben öffentlicher Aufträge infolge Ihrer verfehlten Politik. ({4}) Vizepräsidentin Petra Bläss Deshalb möchte ich einige Partnerstädte in Ost und West miteinander vergleichen, weil es, wie ich finde, um die Partnerstadtbeziehungen ein wenig zu ruhig geworden ist. Ich möchte vor allem die Gewerbesteuereinnahmen des Jahres 2001 im Vergleich zum Vorjahr ansprechen. In der Stadt Wuppertal ist ein Rückgang von 27 Prozent und in ihrer Partnerstadt Schwerin von ebenfalls 27 Prozent zu verzeichnen. Einen besonders dramatischen Einbruch bei den Gewerbesteuereinnahmen haben wir in Ludwigshafen, und zwar um 69 Prozent. In der Partnerstadt Dessau sind es immerhin 40 Prozent. In Karlsruhe sind die Gewerbesteuereinnahmen um 35 Prozent zurückgegangen, in der Partnerstadt von Karlsruhe, in Halle an der Saale, um 33 Prozent. Sie sehen, dass es in Ost und West dramatische Finanzprobleme gibt. Dies alles soll Ihrer Meinung nach aber keine Krise der Kommunalfinanzen sein. Dies nehmen wir Ihnen nicht ab. ({5}) Dazu kommen die bekannten Kürzungen der Zuweisungen an die Länder wegen der erheblichen Steuerausfälle. Auch dies ist eine Lastenverschiebung von oben nach unten. Leider trifft auch für Rot-Grün zu, was schon lange kritisiert wird: Reichtum wird in diesem Lande privatisiert, soziale Not wird kommunalisiert. Dies darf so nicht hingenommen werden. ({6}) Auch dazu will ich Ihnen einen Fakt nennen, den Sie kennen: Die Leistungen an Langzeitarbeitslose, die von den Kommunen gezahlt werden, machen inzwischen 37 Prozent des Volumens der Sozialhilfe aus. So war die Sozialhilfe in ihrer Funktion ursprünglich aber nicht angelegt. Deshalb ist auch hier leider festzustellen: Reiche Unternehmen und Banken können sich vor dem Hintergrund Ihrer Steuerreform arm rechnen, aber arme Kommunen können sich nicht reich rechnen. ({7}) Ich weiß, dass Sie selbst die Lage kennen. Die Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik schreibt in ihrem Rechenschaftsbericht: Verschiebungen von Lasten vom Bund auf die Kommunen sind nicht hinnehmbar. Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik, was helfen Ihnen denn solche rebellischen Berichte, wenn Sie hier im Bundestag so handzahm sind? Das hilft doch nicht weiter. ({8}) Die eigentliche Frage, die an das Gemeinwesen von Bund und Ländern zu stellen ist, heißt doch nicht: Wie viele Almosen tritt der Staat an Gemeinden ab? Vielmehr muss sie heißen: Wie viel Staat brauchen die Gemeinden und die Staatsbürger? Mit Blick auf die neuen Bundesländer möchte ich ausdrücklich sagen, dass wir selbstverständlich nicht verkennen, welche bemerkenswerten Leistungen es bei der Veränderung des Antlitzes der Städte und Gemeinden gegeben hat. Wir sind dankbar für diese Veränderungen. Inzwischen haben wir aber folgendes Problem: Auch das neu Geschaffene wird gefährdet, indem wirtschaftliche und finanzielle Entwicklungen nicht fortgesetzt werden können. Da manche - auch aus diesem Hohen Hause -, was die Lage in den neuen Ländern betrifft, der PDS gern etwas zuschreiben, was sie einen Alleinvertretungsanspruch nennen, muss ich sagen: Aus der Sicht mancher Betroffener geht das in Ordnung. Aber nicht die PDS hat diesen Alleinvertretungsanspruch postuliert. Das ist vielmehr durch das verursacht, was Sie aufgrund Ihrer Politik im Hinblick auf die neuen Länder zu verantworten haben. An der Spitze, so denke ich, steht hier mit der höchsten Versagerquote die grüne Fraktion. ({9}) Ich möchte mich deshalb abschließend an die Bundesregierung wenden und sagen: Tun Sie - zum Beispiel durch die Wiedereinführung einer kommunalen Investitionspauschale - zumindest etwas dafür, dass Leistungen in den Kommunen in Ost und West ermöglicht werden! Legen Sie ein Stadtumbauprogramm auf, das diesen Namen wirklich verdient! Wir denken, unsere Große Anfrage ist ein Anlass zum Umdenken und zum Umsteuern. Deutschland braucht endlich wieder eine moderne und zukunftsfähige Kommunalpolitik! ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Harald Friese.

Harald Friese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man der PDSFraktion zugestehen will, sie wolle den Städten und Gemeinden mit dieser Großen Anfrage etwas Gutes tun, ({0}) muss man leider feststellen: Untauglicher Versuch bzw. Ziel verfehlt! ({1}) Ich habe selten ein solches Sammelsurium von 85 Fragen gelesen: ({2}) vom „Reformnetzwerk bürgerorientierter Kommune“ über die Förderung „selbst verwalteter Jugendzentren“ bis hin zur „Zahl kommunaler Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragter“. ({3}) Sie fragen nach Dingen, für die die Bundesregierung und dieser Bundestag keine Verantwortung tragen. Wenn man Ihre Fragen liest, hat man den Eindruck, Sie wollten dies alles zentral regeln. ({4}) Nehmen Sie doch einmal bitte eines zur Kenntnis: Wir leben in einem föderalen Staat mit einem in der Welt einmaligen System der kommunalen Selbstverwaltung. Die Kommunen sollen, dürfen und wollen ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung regeln. ({5}) Aber Sie tun sich offensichtlich schwer, diese Dezentralisierung staatlicher Macht auch innerlich nachzuvollziehen. ({6}) Nehmen Sie noch etwas zur Kenntnis: Kommunale Demokratie lebt von der Vielfalt, von eigenständigen Entscheidungen und von Lösungen, die den örtlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen entsprechen. Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang eine theoretische Brücke bauen. Karl Marx schrieb in seiner Kritik des Gothaer Programms: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“. ({7}) Diese These kann man wirklich unmittelbar auf die kommunale Selbstverwaltung übertragen: Jede Gemeinde nach ihren Fähigkeiten und jede Gemeinde nach ihren Bedürfnissen. - Vielleicht hilft Ihnen der Hinweis auf Karl Marx, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Das würde Ihnen gut tun. ({8}) Kommunale Demokratie ist ein faszinierender Gesellschaftsentwurf, der sich an folgenden Grundsätzen orientiert: Subsidiarität, so die europäische Definition, dezentrale Machtverteilung und Entscheidungskompetenz, demokratische Entscheidungsstrukturen und demokratische Kontrolle öffentlicher Entscheidungen. Wenn dies funktionieren soll, sind zwei Bedingungen zu erfüllen: Erstens. Die Kommunen müssen - da haben Sie Recht ausreichend Geld haben, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. ({9}) Dazu wird mein Kollege Bernd Scheelen noch etwas sagen. Ich möchte nur eine Bemerkung vorweg machen: Diese Regierung hat eine Steuerreform mit der größten Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht, die in geradezu selbstloser Weise Rücksicht auf die kommunalen Finanzen nimmt. ({10}) Die Städte und Gemeinden sind nämlich mit 12,2 Prozent an den Steuereinnahmen, aber nur mit 8,9 Prozent an den Steuermindereinnahmen beteiligt. Die zweite Voraussetzung lautet: Kommunale Demokratie kann nur dann funktionieren, wenn die Kommunen Aufgaben haben, die sie eigenständig erledigen können. Zum Kernbestand der kommunalen Demokratie gehören die Aufgaben der Daseinsvorsorge. Darunter sind die Energie-, Strom-, Gas-, Wärme- und Wasserversorgung, die Abwasser- und Abfallentsorgung, der ÖPNV, das Gesundheitswesen und auch das öffentliche Sparkassensystem zu verstehen. Diese Aufgaben sind zurzeit einem Generalangriff derjenigen ausgesetzt, die sich als große Neoliberale, als Deregulierer, als Liberalisierer, als Anhänger eines schrankenlosen Wettbewerbssystems verstehen. ({11}) Die Anhänger dieser politischen Ziele unterliegen einem grundlegenden Irrtum und Missverständnis: Deregulierung und schrankenloser Markt und Wettbewerb dürfen nicht selbstständige Ziele der Politik sein, sondern allenfalls Mittel zur Erreichung bestimmter politischer Ziele. ({12}) Diesem Missverständnis scheint auch Brüssel anzuhängen. Ich will an die Mitteilung zur Leistungs- und Daseinsvorsorge aus dem Jahre 1996 erinnern, wonach die Wahrnehmung der Aufgaben der Daseinsvorsorge durch die Kommunen in ihrem Kernbestand gefährdet war, weil Brüssel die These vertreten hat, dass auch in diesem Bereich ein genereller Wettbewerb - Ausschreibungen seien generell vorzunehmen - gelten müsse. Maggy Thatcher aus Großbritannien lässt grüßen. Jetzt möchte ich Ihnen einige Beispiele nennen, die deutlich machen, dass sich diese Regierung und diese Regierungskoalition in ihrem kommunalfreundlichen Verhalten von niemandem übertreffen lassen: Beispiel eins. Wer hat ein Umdenken in Brüssel bewirkt? Das war diese Regierung. Der Bundeskanzler hat auf der Sondertagung des Europäischen Rates in Lissabon im Frühjahr 2000 dafür geworben, eine neue Mitteilung zur Daseinsvorsorge erarbeiten zu lassen, die dann auch Realität wurde. ({13}) Darin wird die grundlegend andere These vertreten, dass die historischen und funktionellen Besonderheiten eines Staates auch bei der Wahrnehmung der Aufgaben zur Daseinsvorsorge zu berücksichtigen sind. Dazu gehört auch Art. 28 des Grundgesetzes. ({14}) Das ist eine konkrete Politik zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Beispiel zwei. Das Europäische Parlament hat auf Initiative der sozialistischen Fraktion beschlossen, dass ÖPNV-Leistungen nicht mehr ausgeschrieben werden müssen. Die Kommunen sollen das in eigener Zuständigkeit erledigen können. Das ist eine konkrete Politik zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, damit die Kommunen die Aufgabe des ÖPNV vor Ort wahrnehmen können. Beispiel drei. Jeder Kommunalpolitiker fragt, was mit dem steuerlichen Querverbund sei. Wir sind der Bundesregierung dafür dankbar, dass sie am steuerlichen Querverbund festhält, sodass die Kommunen die Gewinne aus der Energiewirtschaft mit den Verlusten aus dem ÖPNV verrechnen können. Dies ist keine steuerliche Quersubventionierung. ({15}) Dies ist nichts anderes als ein steuerlicher Verbund, wie er in der Privatwirtschaft jeden Tag gang und gäbe ist. Im Rahmen einer Holding können Gewinne und Verluste nämlich verrechnet werden. Die Holding heißt hier: Aufgabenwahrnehmung zur kommunalen Daseinsvorsorge. ({16}) Beispiel vier. Ich erinnere an das Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1998. Dieses hat die Energiemärkte von heute auf morgen liberalisiert und die Kommunen einem gnadenlosen Wettbewerb ausgesetzt. Was haben wir getan? Wir haben das Energiewirtschaftsgesetz beschlossen. Damit wird den kommunalen Stadtwerken die Möglichkeit gegeben, sich als fairer Wettbewerber am Wettbewerb im Energiebereich zu beteiligen. Wir haben das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zur Förderung der KraftWärme-Kopplung beschlossen, weil diese eine ökologisch und energiewirtschaftlich richtige Methode der Stromerzeugung ist und weil die kommunalen Stadtwerke, die dadurch im Wettbewerb bestehen können, auf diesem Gebiet ihre Stärken haben. ({17}) Beispiel fünf. Die Koalitionsfraktionen haben einen Entschließungsantrag auf den Weg gebracht, der im Bundestag noch beraten werden muss. Darin sprechen sie sich gegen eine Liberalisierung der Wasserwirtschaft aus, weil das eine zentrale Aufgabe der Daseinsvorsorge ist. Wenn die Kommunen privatisieren wollen - das ist ihre eigene Entscheidung -, dann müssen sie gewisse Mindeststandards einhalten. Das ist wiederum ein Beispiel für eine konkrete Politik zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. ({18}) Beispiel sechs. Wir sind uns darin einig, dass die Kosten der Arbeitslosigkeit nicht allein von den Kommunen getragen werden dürfen. Das BSHG ist in der Vergangenheit missbraucht worden. Eine effektive Arbeitsmarktpolitik entlastet also die kommunale Seite von Sozialhilfeausgaben. Auch wenn es Ihnen nicht passt - ich weiß schon, was Sie jetzt sagen werden -: Von Januar 1998 bis zum Januar 2002 gab es 500 000 weniger Arbeitslose, was die Sozialhilfeetats der Kommunen maßgeblich entlastet hat. Dies gilt auch für das JUMP-Programm, mit dem 400 000 Jugendliche wieder Arbeit gefunden haben oder sich in Qualifizierungsmaßnahmen befinden. ({19}) Beispiel sieben. Diese Bundesregierung hat die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien geändert. Gesetzesvorlagen sind jetzt in einem frühen Stadium, noch bevor es einen Entwurf gibt, den kommunalen Spitzenverbänden zuzuleiten. ({20}) Das ist eine uralte Forderung der kommunalen Spitzenverbände und der kommunalen Seite. Auch wenn ein Entwurf vorliegt, sind die kommunalen Spitzenverbände zu beteiligen. Es ist eine zentrale Änderung der bisherigen Politik, dass die kommunale Seite die Möglichkeit hat, schon im Entwurfstadium eines Gesetzes an der Gesetzesformulierung mitzuwirken bzw. darauf aufmerksam zu machen, welche Auswirkungen auf die Kommunen ein Gesetz gegebenenfalls hat. Ich will eine abschließende Bemerkung machen. Kommunale Daseinsvorsorge als Kernbestand der kommunalen Demokratie und wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden haben ihren rechtlichen Grund nicht ausschließlich in Art. 28 des Grundgesetzes. Das Grundgesetz trifft keine Entscheidung für eine bestimmte Wirtschaftsordnung. Das Grundgesetz verbietet auch nicht die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, der Gemeinden und der Länder. Das muss man immer wieder in Erinnerung rufen, weil dies in öffentlichen Diskussionen sehr gerne anders dargestellt wird. Dies gilt insbesondere für die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden, wenn es um einen öffentlichen Zweck geht. Wenn sich die Gemeinden wirtschaftlich betätigen, dann handelt es sich hier um den öffentlichen Zweck der Daseinsvorsorge. Die Situation wird nämlich grotesk, weil manche den Wettbewerb so verstehen - das haben wir bei der Energiewirtschaft gesehen -, dass große Energiekonzerne den Gemeinden Konkurrenz machen dürfen und sich am Wettbewerb beteiligen, die Gemeinden aber dann, wenn sie kommunale Stadtwerke besitzen, nicht die Möglichkeit haben, sich außerhalb ihres Gemeindegebietes am Wettbewerb zu beteiligen. Das nennt man Rosinenpickerei und hat mit Wettbewerbsordnung nichts zu tun. Wenn es Wettbewerb gibt, dann muss er für alle gelten. Deshalb will ich an dieser Stelle den Appell an die Länder richten, die Gemeindeordnungen und das Gemeindewirtschaftsrecht dahin gehend zu ändern, dass Kommunen, wenn sie sich wirtschaftlich betätigen, in diesem Land die gleichen Wettbewerbschancen haben. ({21}) Wir wollen keine Nachtwächtergemeinden. Wir wollen keine Gemeinden, die nur Parkraum bewirtschaften, Geschwindigkeitskontrollen durchführen und vielleicht noch die Sozialhilfe auszahlen. Wir wollen starke Gemeinden, die für ihre Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Daseinsvorsorge, wenn sie diese Aufgaben selbst wahrnehmen, dafür sorgen, dass man in den Gemeinden eine hohe Lebensqualität erreicht. Das wollen wir sicherstellen. Das ist konkrete Politik für die kommunale Demokratie, aber, meine Damen und Herren von der PDS, nicht Ihre Große Anfrage. Vielen Dank. ({22})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag debattiert heute zum dritten Mal in diesem Jahr über die Lage der Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland. ({0}) Das macht deutlich, wie sehr es auf der kommunalen Ebene brennt. ({1}) Die guten Rahmenbedingungen aus der Regierungszeit von Helmut Kohl wurden innerhalb von dreieinhalb Jahren durch eine kommunalfeindliche Politik systematisch zerstört. ({2}) Innerhalb kürzester Zeit hat die Regierung Schröder viele Städte und Gemeinden in Deutschland an den Rand des finanziellen Ruins regiert. ({3}) Der Bundeskanzler hat mit den Kommunen nichts am Hut. Sie sind ihm sogar lästig. In Europa läuft er mit der roten Laterne herum und streitet sich mit Portugal um den letzten Platz. ({4}) Das hat auch Auswirkungen auf die Städte und Gemeinden in unserem Land. ({5}) Wir wollen, dass Deutschland bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wieder zur Spitze in Europa gehört. Dann geht es auch den Kommunen erneut besser. Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, nicht nur wir, sondern auch der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag haben immer wieder auf die dramatische Entwicklung aufmerksam gemacht. Aber Sie reagieren überhaupt nicht. ({6}) Noch im Mai letzten Jahres, Herr Kollege, hatte der Bundeskanzler bei der Hauptversammlung des Deutschen Städtetags die Arroganz zu sagen: Ich freue mich, bei reichen Verwandten zu Gast zu sein. Seine Genossen, die von der kommunalen Front dort vertreten waren, verdrehten die Augen, denn die Wirklichkeit sah bereits vor einem Jahr anders aus. In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung von 1998 steht unter anderem: Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prüfung unterziehen. ({7}) Das liest sich gut. Dieses Versprechen wurde aber auf der ganzen Linie gebrochen. Die Prüfung des Gemeindefinanzsystems wird auf die lange Bank geschoben und erst als die Finanzkrise der Gemeinden jeden Tag auf den ersten Seiten der Zeitungen stand und nachdem der blaue Brief aus Brüssel drohte, gaben Schröder und Eichel ihre Abwehrschlacht auf. Am 21. November wurde vollmundig eine Kommission zur Vorbereitung der Gemeindefinanzreform angekündigt. Das ist auf den Tag genau vier Monate her. Die Kommission gibt es noch immer nicht und noch nicht einmal der Vorsitzende ist benannt. Das ist erstaunlich, denn wir haben eine dramatische Finanzkrise bei den Kommunen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist. ({8}) Der Bundesfinanzminister kündigt eine Reformkommission an und dann geschieht vier Monate lang überhaupt nichts. Heute soll angeblich die Kommission vorgestellt werden. Welch ein Zufall! Lassen wir uns nichts vormachen: Diese Kommission wird bis zu den Wahlen im September keine Ergebnisse mehr vorlegen. Offensichtlich darf sie auch keine mehr vorlegen. ({9}) Danach werden wir regieren und werden dafür sorgen, dass die kommunalfeindliche rot-grüne Politik in Deutschland ein Ende hat. ({10}) Das Problem ist nur: Die Kommunen können nicht noch länger warten, bis sich irgendetwas bewegt. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Die Einbrüche in den kommunalen Haushalten sind katastrophal, auch wenn Sie das vielleicht nicht sehen. Viele Städte, Gemeinden und Kreise können ihre Haushalte nicht mehr ausgleichen, obwohl sie der Staat gesetzlich dazu verpflichtet. Sie müssen mit teuren Kassenkrediten laufende Ausgaben finanzieren, und zwar von den Gehältern bis zur Sozialhilfe. In Nordrhein-Westfalen haben bereits ein Drittel der Städte und Gemeinden nicht ausgeglichene Haushalte. Letzte Woche haben die Landkreise ihre Haushaltsprognosen vorgestellt. In diesem Jahr werden ein Viertel oder 80 von 323 deutschen Landkreisen keinen ausgeglichenen Haushalt mehr haben. Im vergangenen Jahr waren es 17 Prozent. ({11}) - Es waren über ein Viertel, 80 von 323, Herr Kollege Repnik. ({12}) Das hat Konsequenzen in vielfältiger Form: Schulen oder Straßen können nicht mehr renoviert werden, dringend notwendige kommunale Investitionen brechen total weg. Das hat auch Auswirkungen auf die Bauwirtschaft. Den mittelständischen Baubetrieben fehlen die Aufträge. Sie stehen vor dem Aus. Zu ihnen kommt kein Bundeskanzler um zu helfen, zu ihnen kommt bestenfalls der Gerichtsvollzieher. Schwimmbäder, Bibliotheken oder Theater werden geschlossen, weil das Geld fehlt. ({13}) Das ist eine schlimme Entwicklung, die Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen, Herr Schmidt. Ich erinnere daran, dass der Kanzler vor vier Jahren die Stärkung der kommunalen Finanzen versprochen hat. Auch in diesem Punkt hat er sein Versprechen gebrochen und genau das Gegenteil gemacht. ({14}) Er hat damit eine Entwicklung eingeleitet, die für die lokale Demokratie, die Sie, Herr Kollege Friese, gerade in den Himmel gehoben haben, dramatisch ist. ({15}) - Dann handeln Sie auch danach, wenn Sie der Meinung sind, sie gehöre dahin. Nachdem die Gewerbesteuereinnahmen total eingebrochen sind, beginnen auch immer mehr SPD-Mandatsträger, ihren Unmut über die Politik der Regierung Schröder öffentlich zu artikulieren. Wenn der SPD-Oberbürgermeister von Hannover, Schmalstieg - um nur einen zu zitieren; ich könnte die Reihe fortsetzen -, zu Recht vor dem Ende der kommunalen Selbstverwaltung warnt, müssten doch alle rot-grünen Alarmglocken klingeln, und dann können Sie keine solche Rede halten, wie Sie sie, Herr Kollege Friese, vorhin gehalten haben. ({16}) Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen: Ihre ganzen politischen Entscheidungen der letzten Jahre widersprechen auch dem Geist des Grundgesetzes. Sie sind deshalb auch verfassungsrechtlich problematisch. Ich will das an dem Beispiel der Auswirkungen der Versteigerung der UMTS-Lizenzen deutlich machen. ({17}) Der Bundesfinanzminister kassierte von den Telekommunikationsunternehmen nahezu 100 Milliarden DM. Das ist ein Fünftel seines gesamten Jahresetats. Die Telekommunikationsunternehmen setzen diese exorbitanten Kosten steuerlich ab und schreiben auf Jahre hinaus Verluste. Die Folge ist: Den Gemeinden fehlen allein 14 Milliarden DM in ihren Kassen. Sie finanzieren damit über Steuerausfälle indirekt die Einnahmen des Bundes. Der Bundesfinanzminister kassiert und die Stadtkämmerer zahlen letztlich die Zeche. Wir nennen das eine kommunalfeindliche Politik. ({18}) Warum klagt der SPD-Oberbürgermeister von Wuppertal gegen das Land Nordrhein-Westfalen wegen unzureichender kommunaler Finanzausstattung und erklärt öffentlich, dass er noch lieber den Bund verklagen würde? Zu Wuppertal will ich gar nicht mehr sagen. ({19}) Dafür gibt es Ursachen, die nicht schöngeredet werden können. Wir erleben einen ständigen Verschiebebahnhof von Aufgaben und Ausgaben zulasten der kommunalen Haushalte, von der Grundsicherung bei der Rente - bei der übrigens nach Ihrer Geschäftsordnung die kommunalen Spitzenverbände nicht beteiligt waren - über die Kindergeldmitfinanzierung bis zur Langzeitarbeitslosigkeit, die mit zunehmender Tendenz zur kommunalen Sozialhilfe verschoben wird. Um die Arbeitslosenstatistik zu verbessern, werden einfach die Kosten aus dem Bundeshaushalt nach unten weggeschoben. Die menschlichen Schicksale spielen dabei keine Rolle. „Kommunalisierung der Kosten der Langzeitarbeitslosen“ ist fast schon ein geflügeltes Wort für das rot-grüne Versagen auf dem Arbeitsmarkt geworden. ({20}) Aber die Probleme am Arbeitsmarkt lassen sich nicht durch statistische Tricks lösen. Die Regierung muss endlich handeln. Es ist zu wenig, Herr Kollege Friese, hier das Hohelied der kommunalen Selbstverwaltung zu singen und in Ihren konkreten politischen Entscheidungen genau das Gegenteil zu tun. ({21}) Es gibt einige klare Anstandsregeln im Leben. Eine davon lautet: Wer bestellt, zahlt. Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit einem gut gelaunten Bundeskanzler in eine Gaststätte. Herr Schröder bestellt und bestellt und bestellt. ({22}) Es wird Ihnen schon fast unheimlich wegen der hohen Rechnung, die auf Herrn Schröder zukommt. Aber am Ende kommt die Überraschung: Der Bundeskanzler steht auf, schiebt Ihnen still und leise die Rechnung über den Tisch und sagt, er müsse gerade seinen Haushalt konsolidieren. ({23}) Genauso läuft es zwischen dem Bundeskanzler und den deutschen Kommunen ab. Das ist in unseren Augen unanständig. ({24}) Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel. Wir streiten in diesen Tagen über dieses unsägliche Zuwanderungsgesetz. ({25}) Auch das verstößt neben vielen Mängeln auch bei der Finanzierungsregelung gegen die guten Sitten. ({26}) Über Kosten steht in diesem Gesetz überhaupt nichts. Die Integrations- und Sprachkurse kosten viel Geld. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit einer dreiviertel Milliarde pro Jahr. Es ist schon ein starkes Stück, die Kosten- und Finanzierungsfragen beim Zuwanderungsgesetz auszuklammern, um sie dann später per Rechtsverordnung oder wie auch immer den Gemeinden aufzubürden. ({27}) - Da steht nichts drin. Wir haben hineingeschaut. Genauso schlimm ist, was wir heute in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen - hören Sie gut zu! -: Der Bundeskanzler will sich mit finanziellen Zugeständnissen im Bundesrat eine Mehrheit sichern, das heißt finanzschwache Länder kaufen. ({28}) Der Bundeskanzler und SPD-Bundesvorsitzende ist gut beraten, den Eindruck, Deutschland sei eine Bananenrepublik, der durch die SPD-Schmiergeldaffären zunehmend entsteht, ({29}) nicht noch durch Kaufen von Länderstimmen im Bundesrat zu vergrößern. Der Schaden in Deutschland ist groß genug. ({30}) Politik darf nicht käuflich sein, und zwar von niemandem, auch nicht vom Bundeskanzler. Das gilt auch gegenüber dem Bundesrat, ob Ihnen das passt oder nicht. ({31}) - Frau Präsidentin, bekomme ich die Chance, weiterzureden?

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind nicht auf dem Fußballfeld, sondern im Plenarsaal des Deutschen Bundestags. Ich bitte um die entsprechende Aufmerksamkeit. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe Verständnis dafür, dass das schmerzt. Lassen Sie mich zusammenfassen. Diese Bundesregierung hat die Kommunen innerhalb von nur dreieinhalb Jahren an den Rand des finanziellen Ruins regiert. ({0}) Das ist schlimm ({1}) - das ist überhaupt nicht zum Lachen; reden Sie doch mal mit den Kämmerern in Ihrem Wahlkreis -, das ist schlimm für die Städte und Gemeinden, aber auch für unser Land. Damit muss jetzt Schluss sein. Zweitens brauchen wir dringend einen Politikwechsel. ({2}) In Deutschland brauchen wir wieder eine kommunalfreundliche anstatt einer kommunalfeindlichen Politik. Wir wollen, dass sich die Menschen in unseren Städten und Gemeinden wohl fühlen. Dazu gehört auch eine gute kommunale Struktur. Nur leistungsfähige und starke Kommunen können zum Erfolg beitragen. Die Politik muss dafür die Rahmenbedingungen setzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dazu bereit. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine beiden Vorredner von SPD und CDU/CSU waren Bürgermeister, der eine in Heilbronn, der andere - das habe ich inzwischen nachgelesen, Herr Götz - in Rastatt. Ich bin seit 22 Jahren Kommunalpolitiker. Bei dieser Debatte muss es einem kommunalen Praktiker wie mir ein bisschen übel werden. Die Kommunalpolitiker aller Fraktionen haben doch seit Jahrzehnten dasselbe Problem mit den übergeordneten Ebenen. ({0}) Die klebrigen Finger der Landesfinanzminister und des Bundesfinanzministers greifen, wenn es schicklich zu sein scheint, in die kommunalen Taschen. Das ist doch die Wirklichkeit; insofern brauchen wir uns hier gegenseitig nichts vorzuhalten. Die PDS hat heute zum ersten Mal seit langem eine Debatte in der Kernzeit. Das muss in diesem Parlament auch von einem Koalitionsredner einmal erwähnt werden. Ich halte es für verdienstvoll, dass die PDS dieses Thema in die Kernzeit hineingebracht hat. ({1}) Es ist richtig, dass sich die Situation der Kommunalfinanzen innerhalb der letzten zwei Jahre ins Gegenteil verkehrt hat, weil seit dem Herbst des vorletzten Jahres die Konjunktur abgestürzt war, wodurch alle Prognosen im Hinblick auf die Unternehmensteuerreform zum Scheitern verurteilt wurden. ({2}) - Kollege Götz, ich habe die Zahlen gut im Kopf: 1995 - in jener Zeit regierten Sie zusammen mit der FDP stürzten die Gewerbesteuereinnahmen auf netto 30,5 Milliarden DM, nachdem sie zwei Jahre zuvor noch fast 35 Milliarden DM betragen hatten. Im Jahre 2000 - da regierten bereits wir - lagen die Einnahmen bei der Gewerbeertragsteuer netto bei fast 38 Milliarden DM; hinzu kam als Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer ein Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer von über 5 Milliarden DM.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Absturz, der vor allem im letzten Jahr zu konstatieren war, ({0}) hat sich sektoral sehr unterschiedlich entwickelt. Sie sind auch Baden-Württemberger, Herr Götz. In meinem Landkreis hatte im letzten Jahr mehr als die Hälfte der Gemeinden und Städte ein Plus gemacht. In der großen nordrhein-westfälischen Stadt, aus der der Präsident des Städte- und Gemeindebundes kommt, in Bochum, hat es im letzten Jahr ein Gewerbeertragsteuerplus gegeben. Daher sollten Sie die abstürzenden Gewerbeertragsteuereinnahmen nicht vordergründig für eine große Leidenslitanei nutzen, zumal aufgrund des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen bis Anfang 2001 die Ausgaben für Sozialhilfe bei den Kommunen rückläufig waren. Auch das ist eine Tatsache. Man muss einfach die Fakten benennen, um damit Ruhe in die Diskussion zu bringen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Metzger, es ist sehr schwer, Sie in Ihrem Redefluss zu bremsen. Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz zu?

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne. - Bitte, Herr Bürgermeister a. D.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Metzger, ist Ihnen bekannt, dass die kassenwirksamen Auswirkungen der Gewerbesteuer in der Regel um zwei Jahre nachhinken und dass Sie insoweit gerade bestätigt haben, dass sich die erfolgreiche Politik der Regierung Kohl bis zum Jahr 1998 in den Jahren 1999/2000 bei den Gewerbesteuereinnahmen zeitverzögert ausgewirkt hat? Ist Ihnen auch bewusst, dass Ihre Politik jetzt erst richtig durchschlägt? Ich wage die Prognose, dass sich die negative Durchschlagskraft in den nächsten ein, zwei Jahren noch verstärken wird, weil es eben diesen Zeitverzug von zwei Jahren gibt.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Götz, der Einbruch von 1995 - das war ja mein Beispiel - und die zweijährigen Ausgleichsmechanismen des kommunalen Finanzausgleichs sind mir sicherlich bekannt. Diese hat man vor allem 1997 gemerkt, also zu einem Zeitpunkt, als Sie noch an der Regierung waren. Insofern ist Ihr Vergleich schlecht; denn der Ausgleichsmechanismus fiel, wie gesagt, in Ihre Regierungszeit. Ich möchte meine Rede auch nutzen, um nach vorne zu blicken. ({0}) - Ich habe mich doch gerade mit Ihren Vorhaltungen beschäftigt und versucht, das Tableau, um das es hier geht, deutlich zu machen. Kommunalpolitiker aller Couleur sind sich im Zweifelsfall natürlich in ihrer Kritik einig: Die Oberen schieben uns Lasten zu und sorgen nicht für einen entsprechenden Ausgleich. Da ist manches dran. Aber als Kommunalpolitiker muss man auch selbstkritisch sein. In den nächsten Jahren geht es um die Reform der Gemeindefinanzen. Deshalb wird voraussichtlich übernächsten Freitag die Gemeindefinanzreformkommission mit Finanzminister Eichel und Walter Riester als Vorsitzenden eingesetzt werden. Sie soll Vorschläge zur Reform der Gewerbeertragsteuer und zur Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe machen, die dazu führen sollen, dass künftig die Ebene, die zahlt und die die Kompetenz hat - Stichwort „Konnexitätsprinzip“ -, auch entsprechend finanziell ausgestattet wird. ({1}) - Herr Fromme, der Gemeindefinanzreformkommission gehören nicht nur die beiden Minister, sondern auch Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und wissenschaftliche Experten an. Diese Kommission wird Vorschläge machen, die genau dem Subsidiaritätsprinzip entsprechen werden. Das, was vor Ort - möglicherweise sogar effizienter - geleistet werden kann, soll auch vor Ort gemacht werden. Aber wenn man das tut - deshalb ist es so wichtig, sich in diesem Zusammenhang die GemeinOswald Metzger definanzverfassung genau anzuschauen -, dann darf der Bund die Arbeitslosenhilfe, für die im laufenden Etat immerhin 13 Milliarden Euro eingestellt sind, nicht den Landkreisen und Kommunen quasi vor die Tür kippen. Darüber sind wir uns völlig einig. Sie können sicher sein: Grüne und Sozialdemokraten werden darauf achten, dass es hier keinen Verschiebebahnhof geben wird. Diese Reformagenda ist entscheidend. ({2}) Zum Konnexitätsprinzip: Natürlich haben wir im Koalitionsvertrag festgelegt, dass diesem Prinzip im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs mehr Geltung verschafft werden soll. Aber es lag nicht an der SPD-Bundestagsfraktion, dass das nicht möglich war. ({3}) - Nein. - Erinnern Sie sich bitte daran, dass drei Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Finanzausgleich geklagt haben. Sie wissen ganz genau, dass in der Rechtspflege Stillstand herrschte, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, wie der Finanzausgleich auszusehen hat. Wenn Sie sich auch noch die Diskussion über das Maßstäbegesetz aus dem letzten Jahr in Erinnerung rufen, dann wissen Sie ganz genau, dass nicht nur die Finanzminister der SPD-regierten Bundesländer, sondern auch die der unionsgeführten Bundesländer im Zweifelsfall die Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf mehr Entflechtung der Ebenen und eines Finanzausgleichs, der mehr Verantwortung auf der jeweiligen Ebene ansiedelt, unmöglich gemacht haben. Es gibt in Deutschland einen Exekutivföderalismus, der es der Bundesregierung und den Länderregierungen möglich macht, im Zweifelsfall zulasten anderer staatlicher Ebenen zu agieren. Nur dann, wenn die Verantwortungsbereiche im Sinne eines aktivierenden Sozialstaates, der zum Beispiel verlangt, dass ein Gemeinderat nicht nur die Hoheit über die Einnahmen, sondern auch über die Ausgaben hat, wenn er Entscheidungen trifft, klar getrennt sind, wird wirtschaftlich effektiv und demokratisch entschieden und nur dann kann die untere staatliche Ebene nicht mehr die Verantwortung nach oben abschieben, nach dem Motto: Ihr übertragt uns Aufgaben und wir haben keine Finanzmittel. Kolleginnen und Kollegen von der Union, denken Sie an die Debatte über das Konnexitätsprinzip. Als damals der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in § 218 festgelegt wurde - das war ein Bundesgesetz -, haben sich die Kommunen quer durch die Republik beklagt: Ihr habt uns keine Finanzmittel dafür zur Verfügung gestellt. Der Vorwurf war damals richtig. Er wäre auch bei der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe richtig, wenn wir nicht eine faire Lösung im Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden und mit der interessierten Öffentlichkeit anstreben würden. Das sind die Fakten. Wir wollen uns sicherlich nicht kommunalfreundlicher gerieren, als die Bundespolitik tatsächlich ist. Aber die Bundespolitik ist besser als ihr Ruf. Wenn sich die Gewerbeertragsteuereinnahmen in den nächsten Monaten - das zeichnet sich ab - konsolidieren werden, dann werden auch Sie merken, dass die Mär, den Gemeinden sei durch unsere Unternehmensteuerreform Geld entzogen worden, schon vor dem Wahltag in sich zusammenbrechen wird. So sieht es aus. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Lage und Zukunft der Kommunen in der Bundesrepublik Deutschland“ lautet der Titel der Großen Anfrage. Das ist einfach zu beschreiben: Die Lage ist schlecht, schlechter als jemals in der Geschichte der Bundesrepublik. ({0}) Die Zukunft ist grau und wolkenverhangen. Das ist das Ergebnis der rot-grünen Regierungspolitik. ({1}) Der Deutsche Städtetag hat dies offensichtlich bereits Ende 1998 vorausgesehen, als der Präsident, dessen Amt zurzeit ruht - er ist übrigens SPD-Mitglied -, öffentlich die mangelnde Berücksichtigung der Städte im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung rügte. ({2}) Es fehle eine Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, so der Oberbürgermeister von Saarbrücken, der - das ist einer Bemerkung wert - noch immer im Amt ist, obwohl Anklage gegen ihn erhoben worden ist. Noch im vergangenen Jahr, am 27. August, schrieb der Kollege Poß an seine Genossen in der SPD-Fraktion: Liebe Genossinnen und Genossen, die Gewerbesteuer als Haupteinnahmequelle der Kommunen wird durch das Steuersenkungsgesetz in ihrer Substanz nicht berührt. Weiter schrieb er: Der Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Unternehmensteuerrechts führt zu kommunalen Steuermehreinnahmen von 850 Millionen DM. ({3}) Selbst in der Antwort auf die Große Anfrage der PDSFraktion brüstet sich Rot-Grün noch, den Kommunen gehe es doch gut. ({4}) Nichts davon ist wahr. ({5}) Die miserable Lage der Kommunen ist die logische Konsequenz des Vollzugs von Bundes- und Landesgesetzen, deren Finanzierung allein bei den Gemeinden abgeladen wurde. In den vergangenen drei Jahren ist die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben auf kommunaler Ebene immer weiter auseinander gegangen. ({6}) Mehr als 50 Prozent der Kommunen - das sind die neuesten Daten - haben derzeit keinen ausgeglichenen Haushalt mehr. ({7}) Wann hat es das schon einmal gegeben, meine Damen und Herren? Und da sagen Sie: Den Kommunen geht es doch gut. ({8}) Die Gesamtverschuldung der deutschen Kommunen ist im Jahr 2001 auf 100 Milliarden Euro angewachsen. Die Städte und Gemeinden stehen unter immer höherem Kostendruck. Sie können kaum noch ihren Pflichtaufgaben gerecht werden. Freiwillige Aufgaben und Investitionsaufgaben werden immer weiter zurückgeführt zulasten der Bürger, die aber schließlich in unseren Gemeinden leben. ({9}) Kultur- und Bildungseinrichtungen, Stadtbüchereien und Freizeiteinrichtungen - die Liste könnte man beliebig verlängern - werden geschlossen. Nur einige Beispiele: Braunschweig schließt sein Bildungs- und Freizeitzentrum. ({10}) In Cottbus sind bereits 62 Prozent der Straßen in einem Zustand, der eine wirtschaftliche Straßenunterhaltung nicht mehr erlaubt. Um auf diesem schlechten Niveau allein den Bestand zu sichern, müssten jährlich 2,5 Milliarden Euro aufgebracht werden. Die Stadt muss ihre Mittel für den Unterhalt von Straßen aber weiter kürzen. Die Stadt Krefeld - man höre und staune, Herr Scheelen - hat im Haushaltsplan für das Jahr 2002 überhaupt keine neuen Investitionen vorgesehen. Zurückgestellt wurden die Sanierung des Theaters, der Bau von Kinderspielplätzen und der notwendige Neubau einer Hauptfeuerwache. ({11}) Die Stadt Wuppertal schließt fünf Grundschulen. ({12}) Bund und Länder verlagern immer mehr Aufgaben, zum Beispiel die Kinderbetreuung, auf die Kommunen. Unbekannt ist noch die Höhe der Integrationskosten, mit denen die Kommunen durch das neue Zuwanderungsgesetz belastet werden sollen. Diese Bundesregierung tut wirklich alles, um den Kommunen den finanziellen Teppich unter den Füßen vollständig wegzuziehen. ({13}) Darum kann von der kommunalen Selbstverwaltung - das mögen Sie noch so sehr bestreiten; diejenigen, die in den Kommunen Verantwortung tragen, sagen Tag für Tag, dass das so ist - nun wirklich keine Rede mehr sein. ({14}) Die Gründe für die katastrophale Haushaltssituation der Kommunen liegen offen zutage. Die rot-grüne Steuerreform hat sich verheerend auf die kommunalen Haushalte ausgewirkt. Der Einbruch bei der Körperschaftsteuer führt zum Beispiel dazu, dass der nordrheinwestfälische Finanzminister an vier Unternehmen 1,7 Milliarden Euro Körperschaftsteuer zurückzuzahlen hat. ({15}) Das kommt davon, wenn man ein Gesetz beschließt, das es möglich macht, dass Verluste, die im Ausland anfallen, mit Gewinnen in Deutschland verrechnet werden können. ({16}) - Sie wissen ja, dass das wahr ist, darum regen Sie sich ja auch so auf. ({17}) Die Einbrüche bei der Gewerbesteuer sind katastrophal - der Kollege Claus hat schon Beispiele genannt -: Ludwigshafen minus 68 Prozent, Leverkusen minus 64 Prozent, Krefeld minus 50 Prozent, Frankfurt am Main minus 38 Prozent, Rostock minus 46 Prozent usw. ({18}) Aber Herr Poß sagt, den Gemeinden gehe es gut, sie hätten 850 Millionen DM Mehreinnahmen. Das ist doch ein Witz. ({19}) Die Konsequenz dieser Entwicklung: Die Bürger erhalten immer weniger Leistungen, werden aber immer mehr belastet. Immer mehr Ausgaben der Kommunen fließen in so genannte Pflichtaufgabenbereiche wie den Sozialbereich. Damit aber nicht genug: Unsere Städte und Gemeinden stecken nicht nur in einer Finanzmisere, sie werden auch für den Einzelnen immer unattraktiver, denn das tägliche Leben der Menschen wird von Jahr zu Jahr kostspieliger und beschwerlicher. So steigen die Energiekosten für private Haushalte in den Gemeinden ständig - das muss man den Gemeinden nicht vorhalten -: Anfang der 80er-Jahre genügten 4 200 DM, im Jahr 2001 zahlt ein Familienvater 7 200 DM an Nebenkosten. Die Kosten für Müllabfuhr stiegen in diesem Zeitraum um 400 Prozent, für Abwasser im gleichen Zeitraum um 300 Prozent und für Wasser um 200 Prozent. Die so genannte zweite Miete ist deshalb bereits zu einem festen Begriff in den Kommunen geworden. Ein anderes Dauerthema der Kommunalpolitik ist die miserable Verkehrssituation in deutschen Städten. Auch das ist Ergebnis rot-grüner Politik, einer Politik, die auf einer auf wirklichkeitsfremden Erwägungen beruhenden Ideologie fußt. Der Kampf gegen die motorisierte Gesellschaft wird nicht allein dadurch geführt, dass man es systematisch unterlässt, defekte Straßen zu reparieren, hinzu kommen Einrichtungen von Dauerbaustellen und generelle Einbahnstraßenbeschilderungen in Innenstädten zur Erzeugung regelmäßiger Verkehrsstaus, absurde Verkehrsleitsysteme, unsinnige Radwege. In meiner Heimatstadt Hagen ({20}) gibt es mittlerweile Fahrradwege an Straßen, die ein derartiges Gefälle haben, dass nur ausgewiesene Mountainbikefahrer sie überhaupt bezwingen können. Dies nur deshalb, weil die rot-grüne Landesregierung mit der Gießkanne für einen solchen Unsinn Fördergelder verteilt. ({21}) Was tut diese Bundesregierung? Jahrelang saß der Altoberbürgermeister Eichel auf dem Schoß der deutschen Großindustrie; da war es warm und gemütlich. ({22}) Langsam hat die Ungemütlichkeit auch den Bundesfinanzminister, den Herrn Altoberbürgermeister von Kassel - übrigens eine der Städte mit der höchsten Verschuldung erreicht. Was macht er? Er versucht, die Situation auszusitzen, indem er eine Kommission zur Gemeindefinanzreform einsetzt. Vor noch anderthalb Jahren hat der Bundesfinanzminister vehement bestritten, dass überhaupt eine Gemeindefinanzreform notwendig sei. Was fällt den Funktionären des Deutschen Städtetages ein? Nichts weiter als die alte Leier von der Revitalisierung der Gewerbesteuer. Doch: Etwas Neues gibt es noch, nämlich Überlegungen, den bisherigen Freibetrag bei der Gewerbeertragsteuer deutlich zu reduzieren. Das ist ein weiterer massiver Anschlag auf den Mittelstand, meine Damen und Herren. ({23}) Die Liberalen fordern die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie Sie wissen. Ein höherer Anteil an der Umsatzsteuer und ein Zuschlag auf die Einkommensteuer garantieren den Kommunen eine verlässliche, weitgehend konjunkturunabhängige Einnahmequelle. ({24}) Noch eins, meine Damen und Herren, gehört zur Zukunft der Kommunen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das muss aber kurz sein, weil die Redezeit vorbei ist.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Was die Öffentlichkeit zurzeit über Ämterpatronage, Vetternwirtschaft, Parteienfilz und Korruption zu hören und zu wissen bekommt, ist erschreckend. Hierdurch sind die Interessen der Steuern zahlenden Bürger tangiert; schließlich sind sie die Finanzierer des Staates. Sie haben Anspruch auf eine leistungsfähige, wirtschaftliche und sparsame öffentliche Verwaltung und ebensolche öffentlichen Gesellschaften. Das Parteibuch ist heute entscheidender als Qualität und Leistung, um eine Führungsposition einzunehmen. Ein qualifizierter Beamter ohne Parteibuch hat kaum eine Chance. Das ist ein Grundübel unserer Parteiendemokratie, das beseitigt werden muss. ({0}) Letztlich ist die Neugestaltung der bundesstaatlichen Finanzverfassung und der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, die untrennbar damit verbunden sind, die entscheidende Voraussetzung für eine gute Zukunft der Gemeinden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schüßler, jetzt muss ich Sie wirklich bremsen.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Letzter Satz: Einen anderen Weg für eine gute Zukunft der Gemeinden gibt es nicht. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Bemerkung vorab: Kommunale Selbstverwaltung funktioniert in Deutschland hervorragend, und zwar auch deswegen, weil es Tausende ehrenamtlicher Ratsmitglieder gibt, deren Engagement man in einer solchen Debatte erwähnen sollte. Man sollte diesen Menschen in unserem Lande Dank sagen. ({0}) Genauso wichtig ist es, deutlich zu machen, dass die kommunale Selbstverwaltung für den Erfolg des Modells Deutschland ein ganz entscheidender Punkt ist. Wir werden dieses Modell der kommunalen Selbstverwaltung auch in Europa verteidigen und dafür sorgen, dass sie dort zukünftig möglich bleibt. ({1}) Ich komme auf den Verlauf dieser Debatte zu sprechen. Ich finde es fast ein bisschen scheinheilig, ({2}) wenn über kommunale Finanzen in der Art und Weise diskutiert wird, ({3}) wie es die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und insbesondere der FDP getan haben. Anhand von Schaubildern kann man die Finanzierungssalden der Gemeinden und der Gemeindeverbände in den Flächenländern sehr gut deutlich machen. Man kann beispielsweise feststellen, dass diese Gemeinden und Gemeindeverbände von 1992 bis 1997 ein Minus verbuchten. Die Bandbreite lag im Jahr 1997 zwischen 2,8 Milliarden Euro und 8,3 Milliarden Euro. Wann ging es aufwärts? 1998; das ist politisch belegbar. ({4}) Ich bitte ganz herzlich darum, die Mär hinsichtlich der Frage der Finanzsituation nicht weiterzuverbreiten. Am Beispiel der Entwicklung des Nettogewerbesteueraufkommens von 1992 bis 2001 kann ich Ihnen das verdeutlichen. Sie können die entsprechenden Zahlen zur Kenntnis nehmen. Diese Bundesregierung kann darauf stolz sein und braucht sich aufgrund dieses Ergebnisses in keiner Weise zu verstecken. ({5}) Ich bitte Sie darum, dass Sie, wenn Sie sich mit dieser Frage schon auseinander setzen, dies auch realistisch tun. Lieber Herr Claus, das Bild, das Sie von der kommunalen Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland zeichnen, hat mit der Realität absolut nichts zu tun. Das sage ich ganz deutlich. ({6}) Insbesondere einem Bürgermeister wie Herrn Götz möchte ich Folgendes mit auf den Weg geben: ({7}) Lieber Herr Götz, ich hätte schon erwartet, dass Sie als ehemaliger Bürgermeister ein bisschen qualifizierter über die Situation der kommunalen Gebietskörperschaften in Deutschland reden. ({8}) Das sage ich hier in aller Deutlichkeit. Der Bundesinnenminister, der gleichzeitig Kommunalminister ist, hat vor wenigen Tagen ein Gespräch mit den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände geführt. Wir haben von den kommunalen Spitzenverbänden übrigens eine große Zustimmung zum Entwurf des Zuwanderungsgesetzes, der jetzt vorliegt, geerntet. ({9}) Lieber Herr Götz, diesen Gesetzentwurf mit dem Adjektiv „unsäglich“ zu verbinden, wie Sie es getan haben, zeigt, dass Sie in unverantwortlicher Art und Weise mit einem solchen Problem, das gelöst werden muss, umgehen. ({10}) Es ist doch völlig klar, dass diese Bundesregierung kein Problem zulasten der kommunalen Gebietskörperschaften lösen will. Schauen Sie sich einmal an, welchen Vorschlag wir bei dem Thema Integrationskosten gemacht haben. Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sind bereit, sich auch im Bereich der Integration finanziell zu engagieren. Das wäre schon längst fällig gewesen. Es ist wichtig, dass es nun getan wird. Davon profitieren auch die kommunalen Gebietskörperschaften. ({11}) Die Gewerbesteuer darf man nicht nur allgemein betrachten, sondern man muss in der Lage sein, sie differenziert zu betrachten. Es ist das Beispiel Ludwigshafen herangezogen worden. Davon verstehe ich etwas, weil ich nicht allzu weit von dort herkomme. Die Faktoren, die hier maßgebend sind, sind regional, speziell, individuell bedingt. Das muss man sehen. Man muss die Frage stellen, inwieweit sie systemimmanent sind und man sie beseitigen kann. Wie glaubwürdig Sie mit den kommunalen Finanzen umgehen, wird beispielsweise an der Tatsache deutlich, dass einige von Ihnen, wie der Kanzlerkandidat oder die Parteivorsitzende - leider hat sich auch die FDP daran beteiligt -, mir nichts, dir nichts das Vorziehen der Steuerreform für das Jahr 2002 propagiert haben. Das wäre der finanzielle Ruin der kommunalen Gebietskörperschaften gewesen, das müssen Sie wissen. ({12}) Da halte ich es ein bisschen mit der Seriosität. Ich bitte ganz herzlich darum, dass auch Sie anders mit diesem Thema umgehen. Eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Dass die öffentlichen Haushalte - nicht nur die Haushalte der Gemeinden, der Städte, der Gemeindeverbände, sondern auch die der Länder und der des Bundes - in einer solch schwierigen finanziellen Situation sind, haben wir letztendlich 16 Jahren CDU/CSU-FDP-Regierung zu verdanken. ({13}) Sie haben Ihre Schulden gemacht und wir haben jetzt die Aufgabe, aus dieser Schuldenfalle herauszukommen. Lieber Herr Metzger, wie schwierig das ist, wissen wir alle. Aber wir packen das in verantwortlicher Art und Weise an und lassen uns von Ihnen auf der rechten Seite des Hauses an dieser Stelle nicht irritieren. Das sage ich hier ganz deutlich. ({14}) Ich könnte Ihnen noch etwas vorhalten. Die alte Bundesregierung hat ja mit Privatisierungserlösen ihre Erfahrung. ({15}) Ich könnte Ihnen einmal die Frage stellen: Wie viel D-Mark und Pfennig - heute Euro und Cent - sind denn von diesen Privatisierungserlösen an die kommunalen Gebietskörperschaften gegangen? - Nichts, keinen Pfennig haben die kommunalen Gebietskörperschaften gesehen. Das war Ihre Finanzpolitik und daran müssen Sie sich noch heute messen lassen. Hier Krokodilstränen zu verdrücken ist nicht okay; das sage ich Ihnen an dieser Stelle ganz deutlich. ({16}) Die Bundesregierung hat bei ihren Entscheidungen die kommunalen Interessen berücksichtigt. Das belegt beispielsweise das am 20. Dezember 2001 verabschiedete Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmensteuerrechts, das zu Mehreinnahmen und zur Sicherung eines Gewerbesteueraufkommens von rund 1 Milliarde Euro führt. Das ist konkrete Politik, wie wir sie gemacht haben. Durch die Änderungen können zukünftig auch die Gewerbesteuermindereinnahmen, die aus der verschobenen Anpassung der branchenbezogenen Abschreibungstabellen resultieren, insgesamt mehr als aufgefangen werden. Eine Senkung der Gewerbesteuerumlage ist deshalb auch im Hinblick auf die konjunkturelle Entwicklung sachlich derzeit nicht zu begründen. Wir entscheiden die wichtige Frage der kommunalen Finanzen gemeinsam, auch mit den Bundesländern. Wie sieht die praktische Politik dieser Bundesregierung aus? ({17}) Wir haben beispielsweise das Kindergeld bei Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern erhöht, was bei den kommunalen Gebietskörperschaften zu einem Entlastungseffekt in einer Größenordnung von über 300 Millionen Euro führt. Das ist konkrete entlastende Politik vonseiten der Bundesregierung. ({18}) Ich sage Ihnen auch Folgendes, ob Sie das hören wollen oder nicht. Ich weiß, dass sich einige Fraktionen der Opposition im Haushaltsausschuss um eine Kürzung der Mittel für das so genannte JUMP-Programm bemüht haben, ({19}) für das diese Bundesregierung mit den sie tragenden Fraktionen über 2 Milliarden DM in die Hand genommen hat, um die Ausbildungs- und Fortbildungsprogramme zu finanzieren. Wir haben über 300 000 junge Menschen vor dem Abrutschen in die Sozialhilfe bewahrt und somit einen konkreten Beitrag zur Verbesserung der finanziellen Situation der kommunalen Gebietskörperschaften geleistet. Das ist die Situation. ({20}) Wir haben die so genannte bedarfsorientierte Grundsicherung für ältere Menschen, die ab dem Jahr 2003 gilt, eingeführt. Die Bundesregierung hat dabei eine Kompensation für die kommunalen Gebietskörperschaften ins Auge gefasst. Wir haben nämlich eine Kompensation in Höhe von über 400 Millionen Euro vorgesehen und stehen in der Diskussion mit den kommunalen Gebietskörperschaften. Wir werden uns den Aufgaben stellen, die mit der zukünftigen Entwicklung der Gemeindefinanzen und mit der Gemeindefinanzreform verbunden sind. Eine entsprechende Kommission wird in der nächsten Woche durch einen Kabinettsbeschluss eingesetzt. Wir gehen in einer sehr verantwortlichen Weise mit diesem Thema um. Ich bin sicher, dass wir gemeinsam mit den kommunalen Gebietskörperschaften und mit den Ländern diese Gemeindefinanzreform weiterentwickeln werden, sodass sie zukunftsfähig ist. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({21})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Margarete Späte für die Fraktion der CDU/CSU.

Margarete Späte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002802, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatssekretär Körper, Ihrem Dank an die zahlreichen in den Kommunen tätigen ehrenamtlichen Gemeinderäte will ich mich gerne anschließen. Trotzdem gilt, dass sich viele allein gelassen fühlen. Die Städte und Gemeinden in Deutschland erzielen zurzeit weniger Einnahmen und müssen bei steigenden Kosten mehr Aufgaben wahrnehmen. ({0}) Die Kommunen haben auf den Kostendruck reagiert. Verwaltungsmodernisierung war und ist ganz überwiegend eine kommunale Angelegenheit. So haben die Kommunen in den letzten zehn Jahren mehr Personal abgebaut als Bund und Länder zusammen. Trotz dieser Konsolidierungserfolge und der Veräußerung von kommunalem Vermögen reicht die Finanzausstattung der Kommunen nicht aus. Die kommunalen Investitionen lagen 2001 in den neuen Ländern um 45 Prozent und in den alten Ländern um 25 Prozent unter dem Niveau von 1992. ({1}) Die Investitionszuweisungen von Bund und Ländern sind seit 1992 in den alten Ländern um ein Viertel und in den neuen Ländern um über ein Drittel gekürzt worden. ({2}) Im Jahr 2001 wurden sie noch einmal um 6,3 bzw. um 1,7 Prozent gekürzt. Die rot-grüne Bundesregierung nimmt negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung dabei offenbar in Kauf. Morgen wird der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt. Fast 12 Jahre nach der Wiedervereinigung und nach fast vier Jahren rot-grüner Politik geht es den Städten und Gemeinden in Deutschland finanziell schlecht. ({3}) Viele Kommunen in den neuen Bundesländern stecken tief in der Misere. ({4}) Schauen wir doch einmal dorthin, wo die PDS Mitverantwortung trägt. ({5}) Die finanzielle Lage der Städte und Gemeinden in Sachsen-Anhalt hat sich in den Jahren der SPD-geführten und PDS-tolerierten Landesregierung stets verschlechtert. Sachsen-Anhalt ist Schlusslicht aller neuen Bundesländer mit der niedrigsten Erwerbstätigenquote, dem größten Rückgang der Industriebeschäftigung, mit der höchsten Arbeitslosenquote und Abwanderung sowie mit den geringsten Investitionen in die wirtschaftsnahe Infrastruktur. ({6}) Die PDS hat auf ihrem Parteitag in Berlin beschlossen, den öffentlich geförderten Arbeitsmarkt zu erweitern. Die Realität ist, dass den Kommunen das Geld zur Finanzierung der Eigenanteile fehlt. ({7}) Wie soll ein Arbeitsmarkt geschaffen werden, der über Steuern und Abgaben zur Finanzierung der Kommunen beiträgt, wenn die Kommunen zum öffentlich geförderten Unternehmen werden? Das ist Sozialismus. ({8}) Die PDS plant weiterhin eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Luxusgüter zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Das erinnert mich fatal an DDR-Zeiten, in denen ein Auto, ein Farbfernseher, ja sogar der Kaffee zu Luxusgütern erklärt wurden. Im Juli 2001 veröffentlichte die von der PDS tolerierte SPD-Landesregierung in Sachsen-Anhalt Eckwerte des Haushalts 2002 mit weiteren Kürzungen der Finanzzuweisungen für die Kommunen um 183 Millionen Euro. So erhielt Sachsen-Anhalt im Jahr 2001 2,08 Milliarden Euro an Finanzausgleichszahlungen; davon waren 1,48 Milliarden Euro Schlüsselzuweisungen. Laut Haushaltsplanentwurf wird für das Jahr 2002 durch den verminderten Anteil an Gemeinschafts- und Landessteuern sowie Einbrüche bei der Gewerbesteuer mit Einnahmen von 1,8 Milliarden Euro gerechnet. Nach der Steuerschätzung werden wahrscheinlich nur 1,75 Milliarden Euro herauskommen. Die Stadt Leuna mit 7 300 Einwohnern und einigen großen Industrieunternehmen muss einen enormen Rückgang der Gewerbesteuer verkraften, vom Jahr 2000 zu 2001 ein Minus von 581 000 Euro. ({9}) Leidtragende sind vor allem Handwerksbetriebe, die Arbeitsplätze in der Region sichern und welche schaffen könnten. Investitionen der Kommunen bedeuten nun einmal Aufträge für ortsansässige Firmen. Lassen Sie mich als ehrenamtliche Bürgermeisterin meiner Heimatgemeinde Kayna im Süden Sachsen-Anhalts und als Mitglied des Kreistages des Burgenlandkreises mit 143 000 Einwohnern auf einige konkrete Zahlen aus diesem Landkreis eingehen. ({10}) - Das ist die Realität. - Ein Vergleich der Haushaltspläne von 1995 und 2002 zeigt folgendes Bild: Betrug das Volumen des Vermögenshaushalts 1995 umgerechnet 28,3 Millionen Euro, so sind es im Jahr 2002 nur noch 9,97 Millionen Euro. ({11}) Konnten im Jahr 1995 noch 15,45 Millionen Euro für Baumaßnahmen ausgegeben werden, so können im Jahr 2002 lediglich 1,3 Millionen Euro für Baumaßnahmen an Schulen verwendet werden. Das ist dann auch gleich die Summe, die insgesamt für Baumaßnahmen zur Verfügung steht. Die Investitionszuweisungen des Landes betrugen 1995 noch 1,59 Millionen Euro. Im Haushaltsplan 2002 sucht man vergebens danach, da das Land diese Investitionszuweisungen gestrichen hat. Konnten 1995 noch 2,86 Millionen Euro aus dem Verwaltungshaushalt dem Vermögenshaushalt für Investitionen und zusätzlich 1,02 Millionen Euro der Rücklage zugeführt werden, so ist dies im Jahr 2002 umgekehrt. Da müssen 0,6 Millionen Euro Investitionshilfe dem Verwaltungshaushalt zugeführt werden. Die Kreisumlage stieg von 17,3 Millionen Euro im Jahr 1995 auf 22,7 Millionen Euro in diesem Jahr; ({12}) allerdings sanken im gleichen Zeitraum die allgemeinen Zuweisungen vom Land an den Landkreis von 35 Millionen Euro im Jahr 1995 auf nur noch 27 Millionen Euro im Jahr 2002. ({13}) Das Land hat sich, um seine überhöhten Personalkosten zu finanzieren, bei den Bundesergänzungszuweisungen und dem Länderfinanzausgleich bedient. Betrachten wir den Bereich der freiwilligen Aufgaben. Lag der Zuschuss des Kreises für AB-Maßnahmen 1995 noch bei 305 600 Euro, so sind für 2002 lediglich 12 700 Euro eingestellt. Die freie Kulturarbeit, Theater, Denkmalschutz, Sport- und Vereinsförderung standen 1995 mit 1,17 Millionen Euro zu Buche; in diesem Jahr sind es gerade noch 712 000 Euro. Die Auswirkungen sind deutlich. Betrug die Arbeitslosenquote 1995 19,8 Prozent, so lag sie Ende 2001 bei 21,8 Prozent. Die Ausgaben für Sozialhilfe sind von 1995 bis 2002 um 4,1 Millionen Euro gestiegen. Diese Zahlen belegen doch eindeutig, ({14}) wie ernst es auch die PDS mit vielen ihrer Forderungen nimmt, die sich in der Realität nahezu in Luft auflösen. Die CDU und die CSU wollen keinen Zentralismus, erst recht keinen wie auch immer daherkommenden Sozialismus. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Späte, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Margarete Späte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002802, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen auch in Zukunft in unserem Land und in Europa eine starke kommunale Selbstverwaltung mit viel Eigenverantwortung im Interesse der Menschen, für die wir Politik machen. ({0}) Dafür gilt es noch viel zu tun. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über ein tragendes Element unserer demokratischen Grundordnung. Über die Frage der finanziellen Not der Kommunen ist hier - von meinem Fraktionskollegen Oswald Metzger wie von Kollegen aus anderen Fraktionen - schon einiges gesagt worden. Ich möchte mich in meinem kurzen Redebeitrag primär der Frage der Stellung der Kommunen in einem sich vereinigenden Europa widmen und die Frage aufwerfen, welche Rolle die Kommunen in dem europäischen Einigungsprozess künftig spielen sollen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) - Es freut mich, dass es Ihnen gut geht. Ich hoffe, es geht Ihnen auch noch am Abend des 22. September gut. ({1}) Mir geht es so - dies wollte ich sagen -, dass ich immer tief beeindruckt bin, wenn ich die Bilder aus der Schweiz sehe, von Bürgerinnen und Bürgern, die sich auf den Plätzen ihrer Kommune versammeln und sich für ihre Kommune engagieren. Das ist wahre direkte Demokratie, das ist die direkteste Form der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an ihren Kommunen. ({2}) Auch wir in der Bundesrepublik Deutschland haben in vielen Kommunen schon positive Erfahrungen mit direkter Demokratie auf kommunaler Ebene gemacht. Ich will die Gelegenheit nutzen, um deutlich zu machen - das ist ein Anliegen nicht nur meiner Fraktion, sondern auch der Kollegen aus der SPD und, wie ich glaube, der PDS und der FDP -, dass wir die direkte Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland auf allen staatlichen Ebenen, auf kommunaler wie auf Landes- und Bundesebene, stärken sollten. ({3}) Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir starke Kommunen wollen, in denen die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass sie in ihrer Kommune gefragt werden, und zwar nicht nur dann, wenn es um Kommunalwahlen, um Stadtrats- oder Kreistagswahlen, geht. Ich bleibe beim Beispiel der Schweiz; ich habe mir das mit dem Innenausschuss angeschaut. Manches kommunale Denkmal eines Bürgermeisters wäre uns möglicherweise erspart geblieben, wenn über ihm - wie in der Schweiz; mich hat das wirklich beeindruckt - das Damoklesschwert einer direkten Abstimmung geschwebt hätte. Schauen Sie sich die Schweiz an und vergleichen Sie das mit uns! Dann wissen Sie, dass das Verfahren nicht dazu führt, dass unvernünftige Entscheidungen gefällt werden. Im Gegenteil, es führt dazu, dass die Kommunen sehr kritisch und sehr achtsam mit den Finanzen umgehen, weil sie wissen, dass sie ihr Verhalten im Zweifelsfall auch zwischen den Wahlen rechtfertigen müssen. Das schwächt die Kommunen nicht, im Gegenteil, es stärkt sie. ({4}) Ein Aspekt ist sicher auch die Frage, wie wir künftig die Eigenständigkeit unserer Kommunen innerhalb Europas stärken können. Die Eigenständigkeit der Kommunen ist eben, wie bereits in der Debatte betont, nicht nur von den Ländern und dem Bund bedroht, sondern wird zunehmend auch von Europa infrage gestellt. ({5}) Hier muss es eine Neuordnung der Kompetenzen geben, eine Neuordnung des Mehrebenensystems innerhalb Europas. Nur so kann - ich glaube, hier für alle sprechen zu können - die kommunale Selbstverwaltung innerhalb Europas gesichert werden. Dabei geht es - zu den Finanzen will ich, wie bereits betont, nichts sagen ({6}) um eine Mischfinanzierung genauso wie um eine Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips, das heißt: so zentral wie nötig und so dezentral wie möglich. Das muss unser Grundsatz sein im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses. Herr Staatssekretär Körper hat bereits ein Lob für die Stadträte ausgesprochen. ({7}) Ich will dieses Lob ergänzen um ein Lob für all diejenigen, die auf kommunaler Ebene Verantwortung übernehmen, beispielsweise im Prozess der Lokalen Agenda 21. Was dort an vorbildlicher Arbeit fraktionsübergreifend in vielen Kommunen geleistet wird - dies gilt im Übrigen auch für die Nichtregierungsorganisationen -, verdient ausdrücklich Anerkennung. Denn hier wird Verantwortung für die Kommune übernommen, aber darüber hinaus auch für eine sich vereinigende Welt. Das sollte durchaus einmal gewürdigt und anerkannt werden. ({8}) - Richtig, Herr Kollege. - Das bedeutet, dass auch in der Kommune Wirtschaft, Soziales und Umwelt zusammengehen müssen, so wie es 1992 auf dem Kongress in Rio von allen gefordert wurde. Ich will das Lob aber noch konkretisieren: Ich denke beispielsweise an unsere württembergische Gemeinde Konstanz, die Vorbildliches geleistet hat, übrigens mit einem grünen Oberbürgermeister. ({9}) - So ist es. - Der Prozess, der dort stattgefunden hat, führte dazu, dass sich die Bürgerinnen und Bürger engagieren und einbringen, sei es für Spielplätze, für eine fußgängerfreundliche Gestaltung von Umgehungsstraßen, sei es für den Ausbau von Radwegen. Dies hat der Kommune gut getan. Die Bürgerinnen und Bürger haben dementsprechend ein sehr viel stärkeres Gefühl, dass dies ihre Dinge sind, als wenn alles nur von oben par ordre du mufti verordnet wird. In einer sich globalisierenden Welt geht es natürlich auch um die Frage der Daseinsvorsorge. Auch hier sind die Kommunen zunehmend mit der Liberalisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge beschäftigt. Dies bedeutet beispielsweise im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs für mich auch - ich weiß, dass dies unterschiedlich gesehen wird -, dass der Verkauf von Anteilen der Versorgungs- und Verkehrsbetriebe nicht in jedem Fall der richtige Weg ist, im Gegenteil: Ich glaube, dass die Kommunen gut beraten sind, wenn sie hier ihre Zuständigkeiten behalten. Auch hierzu ein Beispiel aus dem Ländle, weil es dort oftmals ganz gut klappt: Die Stadt Freiburg hat einen vorbildlichen öffentlichen Personennahverkehr, der flächendeckend ausgebaut wurde, der getaktet ist und der - jetzt kommt es - wirtschaftlich arbeitet. Daran sieht man, dass sich ein gut ausgebauter öffentlicher Personennahverkehr, der von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen wird, durchaus rechnen kann und eben nicht zu den in diesem Zusammenhang oft befürchteten roten Zahlen führt. ({10}) - Richtig. Kommunen können wirtschaften. Ähnliches gilt für die Wasserwirtschaft. Wasser ist ein nicht ersetzbares Lebensmittel und unglaublich wertvoll. Daher eignet sich dieser Bereich auch nicht für Privatisierungen. Auch hier müssen wir mit den Kommunen gemeinsam an einem Strang ziehen. ({11}) Ich möchte zum Schluss noch einmal auf den jetzt eingerichteten Verfassungskonvent unter Führung von Giscard d’Estaing eingehen. Wahrscheinlich wissen nur wenige, dass Giscard d’Estaing wie kein anderer für dieses Amt geeignet ist. Er ist nämlich auch Präsident des Rates der Gemeinden und Regionen Europas, ({12}) des ältesten europäischen Städtenetzwerkes. Ich bin mir daher ziemlich sicher, dass die Interessen der Kommunen im europäischen Verfassungskonvent gut aufgehoben sind. ({13}) Dadurch werden die Rechte der Kommunen gestärkt werden. Die Koalition - Herr Kollege, machen Sie sich darüber keine Sorgen - hat bereits deutlich gemacht, dass sie den Konvent auf alle nur erdenkliche Weise unterstützen wird. Ich glaube, dies ist auch für den Einigungsprozess sehr wichtig. Dabei geht es auch um die Anhörungsrechte von Kommunen, die in Deutschland bereits bestehen. Ich halte die Regelung in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, die eine obligatorische Anhörung vorsieht, für sehr vernünftig. Dies ist ein gutes Beispiel, welches es in Europa nachzuahmen gilt. Ähnliches gilt für die Frage des Klagerechts vor dem Europäischen Gerichtshof. Auch dies ist ganz wichtig für die Stärkung der Kommunen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass der Nationalstaat zunehmend weniger Heimat bieten kann. Wir haben hier in Berlin - die meisten von uns kommen ja nicht aus Berlin - gelernt, wie es ist, sich eine neue Heimat zu schaffen. Für mich ist dies die schwäbische Butterbrezel, die ich hier kaufe. Für die anderen sind es der rheinische Karneval sowie die Ständige Vertretung, die sie hierher gebracht haben. Jeder von uns weiß: In den Kommunen wird Demokratie praktiziert. Ohne die starken und unabhängigen Kommunen gibt es keine Demokratie. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel für die PDS-Fraktion.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Özdemir, ich stimme natürlich mit Ihnen darin überein, dass die Kommunalpolitik die hohe Schule der Demokratie ist. Aber dann passt es doch nicht in die Landschaft, dass die überwiegende Mehrzahl der Städte, Gemeinden und Landkreise in der Bundesrepublik Deutschland unter einer akuten Finanznot leidet und sich diese Not sogar weiter zugespitzt hat. ({0}) Die Finanzmisere der Gemeinden schadet dem sozialen Klima in den Städten und Gemeinden. Sie ist wirtschaftsfeindlich, denn sie bremst die Unternehmen in ihrer Eigeninitiative. Sie ist aber auch demokratiefeindlich. Ein Bürgermeister, eine Bürgermeisterin, die über immer weniger Geld zur Lösung der Probleme verfügt, ({1}) ist diskreditiert. Damit hat auch die nachlassende Wahlbeteiligung in den Kommunen etwas zu tun. Hier müssen wir uns alle etwas einfallen lassen. ({2}) Für das Finanzdesaster der Kommunen gibt es viele Ursachen. Klar ist aber eines: Bund und Länder haben ein gerüttelt Maß Anteil daran. Dies hat auch die Debatte gezeigt. Eine Reform der Kommunalfinanzen ist dringend geboten und dürfte eines der aktuellen, nicht mehr aufschiebbaren finanz- und steuerpolitischen Projekte in der Gegenwart und der Zukunft sein. Die PDS-Fraktion ist im Übrigen die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die ein Konzept in das Parlament eingebracht hat und dies auch laufend weiter konkretisiert. ({3}) Wir setzen uns dafür ein, dass die Kommunen dauerhaft eigene, stabile Steuereinnahmen haben und dass sie darüber weitestgehend selbst verfügen können. Die Erhöhung der so genannten Gewerbesteuerumlage, die an Bund und Land fließt, muss sofort rückgängig gemacht werden. ({4}) Die frei werdenden Mittel könnten angemessen für Investitionen und zur Verbesserung der sozialen Lage in den Städten, Gemeinden und Landkreisen genutzt werden. Wir wollen die Modernisierung einer wirtschaftskraftbezogenen Steuer für die Städte und Gemeinden. Wir wollen, dass die Unternehmen diese Steuer nach ihrer Leistungsfähigkeit zahlen. ({5}) Wir alle müssen uns einhellig dagegen wehren, dass der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Breuer, einerseits einen Gewinn von 650 Millionen Euro verkündet und das Institut andererseits mitteilt, dass kein Pfennig Gewerbesteuer an die Stadt Frankfurt am Main gezahlt wird. Diese Zustände dürfen wir uns nicht mehr gefallen lassen. ({6}) Wir wollen auch, dass eine sachliche Debatte über die Zukunft von Arbeitslosen- und Sozialhilfe geführt wird. Wir lehnen die voreiligen Pläne einer Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe ab. Denn diese Zusammenlegung führt in erster Linie dazu, dass den Kommunen ganz offensichtlich weitere Lasten aufgebürdet werden und ihnen neue Aufgaben ohne entsprechende logistische und finanzielle Verantwortung zugewiesen werden. ({7}) Deshalb Schluss mit diesen Plänen! Diese lehnen im Übrigen auch die kommunalen Spitzenverbände ab, auf die wir uns in unserer Großen Anfrage stark gestützt haben. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle sehr bedanken. Wir brauchen Sofortmaßnahmen für die Stärkung der Finanzkraft der Kommunen, die noch in den nächsten Wochen und Monaten auf den Weg gebracht werden können. Wir fordern daher die Bundesregierung von dieser Stelle aus auf, die vor einem Jahr, nämlich im April 2001, zugesagte Entschädigungszahlung für Vermögensschäden der Kommunen endlich auf den Weg zu bringen. Die Treuhandanstalt und deren Nachfolgerin BvS haben zuordnungswidrige Privatisierungen dergestalt durchgeführt, dass sie beim Verkauf von Unternehmen in Ostdeutschland gleich noch - das war gegen Recht und Gesetz - Kindergärten und Ferienlager mitverkauft haben. ({8}) Die Zuständigkeit dafür liegt bei den Kommunen. Vor einem Jahr wurde in Berlin die Vereinbarung getroffen, den Kommunen einen dreistelligen Millionenbetrag auszuzahlen. Bisher ist kein Pfennig bzw. Cent geflossen. Das darf nicht hingenommen werden. ({9}) Die gesunkene Finanzkraft der Kommunen drückt sich in mangelnder Investitionskraft aus. Die öffentlichen Unternehmen verfügen über immer weniger entsprechende finanzielle Mittel. Ein Weg, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, wäre die Auflage einer kommunalen Investitionspauschale des Bundes. Sie soll direkt vom Finanzministerium in Berlin in die Städte und Gemeinden fließen. Nutznießer sollen ostdeutsche Städte und Gemeinden sein, aber auch solche im Altbundesgebiet, dort vor allem Regionen, die dauerhaft strukturschwach sind. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Die Debatte zeigt erneut, dass nicht nur die Finanzausstattung der Kommunen, sondern auch die öffentlichen Finanzen insgesamt in einer Dauerkrise sind. Deshalb ist es notwendig, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um die öffentlichen Haushalte endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen und die Mittel vor allem dort hinzubringen, wo die Musik, das heißt das Leben, spielt: in den Städten und Gemeinden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Rössel, hier oben spielt die Musik. Ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss. - Eine Kommunalfinanzreform muss sofort auf den Weg gebracht werden. Wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages müssen daran beteiligt werden. Das ist zurzeit nicht vorgesehen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Bernd Scheelen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hätte von dem Kollegen Rössel eigentlich erwartet, dass er sich zunächst einmal für die Aussage seines Fraktionsvorsitzenden entschuldigt, der kritisiert hatte, dass der Bundesinnenminister nicht anwesend ist. Ich freue mich, dass der Bundesinnenminister schon seit über einer Stunde hier ist. ({0}) Er hat sich die Reden anhören müssen, die manchmal wirklich wehgetan haben. Das war schon eine große Leistung. Herzlichen Dank. Wenn die PDS beantragt, über die kommunale Situation und die Kommunalfinanzen zu reden, muss man sich immer fragen, warum sie das tut. ({1}) Die Erfahrung zeigt, dass die PDS immer dann damit kommt, wenn in den neuen Bundesländern auf kommunaler Ebene Wahlen anstehen. Die Anfrage der PDS datiert vom 4. April vorigen Jahres; das ist also fast ein Jahr her. Die Antwort datiert vom 19. September vorigen Jahres. Sie haben ein halbes Jahr gebraucht, um zu beantragen, dass wir hier darüber reden. Am 14. April stehen in Rostock, Schwerin und Wismar Bürgermeister- bzw. Oberbürgermeisterwahlen an. Deswegen haben Sie Wert darauf gelegt, dass heute darüber gesprochen wird. Wir debattieren immer sehr gerne über die Situation in den Kommunen. ({2}) Ich sage Ihnen: Ihre Strategie wird nicht aufgehen; denn der Oberbürgermeister von Rostock, Arno Pöker, ist ein sehr guter Mann und wird am 14. April wieder gewählt. ({3}) Dasselbe gilt für Dr. Rosemarie Wilcken aus Wismar. Auch sie wird wiedergewählt werden; denn sie macht eine sehr gute Politik. Axel Höhn wird in Schwerin erstmalig ins Amt gewählt, um dem SPD-Bürgermeister nachzufolgen. Das wird das Ergebnis des 14. April sein. Wenn man in die Anfrage der PDS schaut und sie liest - es tut manchmal weh, sie zu lesen -, stellt man fest, dass in ihr sehr viel Polemik enthalten ist. Einige Punkte möchte ich unter dem Stichwort Polemik herausgreifen: Polemik I: Eine Ihrer Aussagen in der Anfrage lautet, dass es übliche Praxis sei, dass der Bund beschließe, die Kommunen aber bezahlen und ausführen müssten. Es mag sein, dass das bis 1998 so war, danach aber nicht mehr. Ich werde Ihnen gleich belegen, dass diese Aussage barer Unsinn ist. ({4}) Als erstes Beispiel nenne ich die Rentenreform inklusive der Grundsicherung. In der Debatte wird es immer so dargestellt, als habe der Bund beschlossen, dass es eine Grundsicherung geben müsse und dass die Kommunen das bezahlen müssten. ({5}) Das ist aber nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass es ein Problem zu lösen galt. Das Problem lautete: verschämte Altersarmut. Verschämte Altersarmut bedeutet, dass Menschen - das betrifft im Wesentlichen ältere Frauen -, die ein schweres Schicksal haben - sie haben den Krieg mitgemacht und mussten den Aufbau bewältigen - und Kinder erzogen haben - teilweise mussten sie dies ohne Partner tun -, jetzt in Verhältnissen unterhalb des Niveaus der Sozialhilfe leben. Sie trauen sich aber nicht oder können es mit ihrer Würde nicht vereinbaren, zum Sozialamt zu gehen, um eine ergänzende Sozialhilfe zu beantragen. Diese Fälle gibt es, weil die Betroffenen beispielsweise auch befürchten, dass Rückgriffe auf ihre Kinder genommen werden. Dieses Problem galt es zu lösen. Zu diesem Zweck haben wir die Grundsicherung eingeführt. Jeder hat jetzt Anspruch auf eine sozusagen ergänzende Sozialhilfe. Es wird jedoch als Grundsicherung bezeichnet. Das Geld dafür liefert der Bund; er übernimmt die Kosten dafür. Es steht eine Summe von 800 Millionen DM im Raum. ({6}) - Herr Fromme, Sie wissen ganz genau, dass es nach zwei Jahren eine so genannte Spitzabrechnung geben wird. Dann wird man sehen, ob man mit dem Geld auskommt oder nicht und ob vielleicht zu viel gezahlt worden ist. Das Konnexitätsprinzip wurde hier ganz klar eingehalten: Der Bund regelt es und liefert auch die Finanzmittel. Das ist eine sinnvolle und richtige Regelung. ({7}) Der zweite Punkt ist hier bereits mehrfach angesprochen worden, weswegen ich ihn nur kurz ins Gedächtnis rufen will. Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien regelt in § 47, dass die kommunalen Spitzenverbände und die Länder im Vorfeld von Gesetzesvorhaben zu hören sind. Diese Errungenschaft steht in nur zwei bis drei Sätzen dieser Geschäftsordnung, hat aber eine weitreichende Bedeutung. Es ist nämlich absolut neu, dass eine Bundesregierung kommunale Spitzenverbände und Länder im Vorfeld anhört, um Gesetzesvorhaben zu gestalten. Ich finde, auch das ist einen Applaus wert. ({8}) - Vielen Dank. Dritter Punkt. Auch das JUMP-Programm wurde schon erwähnt; man sollte es aber noch einmal unterstreichen: 400 000 Jugendliche wurden durch das JUMP-Programm mit jährlich 2 Milliarden DM gefördert. ({9}) Das bedeutet ganz konkret, dass die Sozialhilfe entlastet wurde. Die Zahlen der Sozialhilfe in den letzten Jahren zeigen, dass das ein durchaus erfolgreiches Programm dieser Bundesregierung für eine sinnvolle Arbeitsmarktförderung ist. ({10}) Polemik II aus dem Antrag der PDS-Fraktion. Da steht, die Reform der Kommunalfinanzierung sei auf die nächste Legislaturperiode verschoben. Auch das, Herr Kollege Rössel, ist barer Unsinn; denn Sie wissen, dass das Bundeskabinett am nächsten Mittwoch den Beschluss fassen wird, eine Kommission einzusetzen, damit diese unmittelbar nach Ostern mit der Arbeit beginnen kann. Das, was an dieser Kommission besonders wichtig ist, ist, dass dort zwischen den Vertretern der Kommunen, der Länder und des Bundes auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird. Auch das ist eine besonders kommunalfreundliche Regelung dieser Bundesregierung. ({11}) Polemik III aus dem Antrag der PDS-Fraktion. Da steht, die Kommunen müssten unter den Einnahmeausfällen der Steuerreform am stärksten leiden. Auch das ist barer Unsinn. Der Kollege Götz und andere haben diese Behauptung ständig wiederholt. Aber auch durch ständige Wiederholung wird sie nicht wahrer. Die kommunalen Spitzenverbände haben sich nach der Beschlussfassung über die Steuerreform ausdrücklich bei uns bedankt, dass ihre Belastungen deutlich unter dem Durchschnitt liegen. ({12}) Ich will die Zahlen gerne ins Gedächtnis rufen. Die Gemeinden waren im Schnitt des Jahres 2000 mit 12,1 Prozent an den Steuereinnahmen beteiligt. Die Steuerreform, so wie sie verabschiedet worden ist, belastet die Kommunen im Zeitraum bis 2005 im Durchschnitt mit nur 8,9 Prozent. Dafür waren uns die Kommunen außergeBernd Scheelen wöhnlich dankbar. Ich finde, das ist ein besonders kommunalfreundlicher Zug dieser Reform. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rössel?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rössel, bitte.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Scheelen, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sich bei der Aussage zu den Steuerausfällen der Kommunen infolge der Steuerreform bei den genannten 8,9 Prozent ausschließlich um die direkten Steuerausfälle der Kommunen handelt? Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die massiven Steuerausfälle der Länder über den kommunalen Finanzausgleich natürlich an die Kommunen weitergegeben werden und sich unter Berücksichtigung dieser Tatsache der Beitrag der Kommunen an den Einnahmeausfällen der öffentlichen Hand von 8,9 Prozent auf 17 Prozent erhöht? War es aus diesem Grunde nicht richtig, diese Frage zu stellen?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rössel, Sie wissen, dass der Bund keine direkten Beziehungen zu den Gemeinden unterhalten kann, da dies im Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Der Staatsaufbau ist zweigliedrig: Der Staat besteht aus Bund und Ländern. ({0}) Wir können deshalb nur das regeln, was der Bund beeinflussen kann. Ich sage Ihnen noch einmal: Die 8,9 Prozent waren nicht einfach durchzusetzen. Es war nicht so, als hätte es darüber keine Diskussionen gegeben. Klar ist, dass uns die kommunalen Spitzenverbände für diese Regelung sehr dankbar waren. Wie die Länder mit dem Problem im Einzelnen umgehen, ist sehr unterschiedlich. Es mag sein, dass Sie es in CDU-regierten Ländern erleben, dass die Kommunen dort einen Beitrag von 17 Prozent an den Einnahmen übernehmen müssen. Ich kann das in SPD-geführten Bundesländern nicht erkennen. ({1}) Polemik IV aus dem Antrag der PDS-Fraktion. Da steht: Die Kommunen werden an den Einnahmen aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen nicht beteiligt; es profitiert nur der Bund. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Die UMTS-Erlöse erbrachten 100 Milliarden DM. Diese hat der Bund zu 100 Prozent in die Schuldentilgung gesteckt. Es war absolut richtig und wichtig, das zu tun; denn Sie wissen, dass wir 1998 einen Schuldenberg von 1,5 Billionen DM übernommen haben, der uns jährlich mit 82 Milliarden DM Schuldzinsen belastet. ({2}) Schuldenabbau zu betreiben ist eine der vornehmsten Aufgaben einer neuen Regierung, die den Schutt wegräumen muss, den die alte Regierung hinterlassen hat. ({3}) Diese 100 Milliarden DM Schuldentilgung führen zu jährlichen Zinsersparnissen von 5 Milliarden DM, die wir nicht dazu genommen haben, weiteren Schuldenabbau zu betreiben; auch das wäre sinnvoll gewesen. Dieses Geld steht vielmehr für Investitionen in wichtige Bereiche bereit, zum Beispiel in Bildung und Infrastruktur. Auch hiervon profitieren die Gemeinden, beispielsweise beim Programm Ortsumgehung mit 900 Millionen DM oder beim Programm Gebäudesanierung mit 400 Millionen DM. ({4}) Das heißt, die Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen und die daraus entstehenden Zinsersparnisse kommen auch den Gemeinden unmittelbar zugute. Ich sage noch etwas zu den UMTS-Erlösen. Es wird immer so getan, als ob es etwas Schlimmes wäre, wenn Unternehmen investieren, um demnächst Gewinne zu machen. Ich gehe davon aus, dass die Telekommunikationsunternehmen die UMTS-Lizenzen nicht gekauft haben, um Verluste zu machen. ({5}) Vielmehr wollen sie damit Gewinne machen. Wenn sie Gewinne machen, dann zahlen sie auch Gewerbesteuer. Es wird sicherlich nicht die Forderung erhoben werden, dass der Bund an den zusätzlichen Gewinnen in irgendeiner Form beteiligt wird; denn auch Bund, Länder und Gemeinden veräußern öffentliches Eigentum. Wenn beispielsweise die Bayern ihre Anteile an Eon verkaufen und der Firmensitz von Eon in Düsseldorf ist, dann zahlen letztlich die nordrhein-westfälischen Bürger durch Mindereinnahmen bei der Steuer dafür, dass Bayern Mehreinnahmen hat. Auch da könnte man sagen, Bayern müsste NRW an den Einnahmen beteiligen. Das ist aber eine sinnlose Debatte, weil das System unserer Wirtschaftsordnung entspricht und dazu führt, dass Wachstum und Beschäftigung auf Dauer gefördert werden. ({6}) Ich möchte Ihnen ein Zitat aus einem Antrag, den wir im Januar dieses Jahres in das Hohe Haus eingebracht haben, in Erinnerung rufen. Sie wissen, dass wir uns schon damals mit der Lage der Gemeindefinanzen beschäftigt haben. Die Koalition hat ausdrücklich anerkannt, dass die Probleme der Kommunen, auch die finanziellen Probleme, sehr ernst zu nehmen sind. Natürlich sehen wir die Schwierigkeiten, die dadurch entstanden sind, dass die Gewerbesteuereinnahmen des vorigen Jahres zurückgegangen sind. Ich sage noch einmal: Das hat nichts mit der Steuerreform zu tun, denn wir haben an der Gewerbesteuer überhaupt nichts verändert. Das wissen Sie ganz genau. Wir haben die Sätze bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer gesenkt. Wir haben die Gewerbesteuer aber nicht angepackt, sondern sie in ihrem Bestand erhalten, aber auf der andere Seite für den Mittelstand sozusagen eliminiert. Es ist eine großartige Leistung, den Mittelstand von der Gewerbesteuer in der Weise zu entlasten, dass die gezahlte Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer zu verrechnen ist. Das geht im Wesentlichen zulasten von Bund und Ländern, und zwar zu 85 Prozent. Auch das ist ein besonders kommunalfreundlicher Zug dieser Regierung. Wir erkennen an, dass die Lage schwierig ist. Deswegen haben wir im vorigen Jahr bereits reagiert. Sie wissen, dass wir im Unternehmensteuerfortführungsgesetz Regelungen bezüglich der Organschaften getroffen haben, um Steuerverrechnungsmodelle auf Konzernebene zu erschweren, Mehrmütterorganschaften zu verbieten und Organschaften bei Versicherungen ebenfalls nicht zuzulassen. In Verbindung mit weiteren Maßnahmen ergibt das auf der Gewerbesteuerseite eine Mehreinnahme von knapp 1 Milliarde Euro für dieses Jahr. Das ist die kurzfristige Maßnahme. Die mittelfristige Maßnahme ist die Einsetzung einer Kommission. Das ist wichtig und richtig. Diese Kommission ist die erste seit 30 Jahren. Die letzte gab es 1969 und die Ergebnisse schlugen sich 1970 im Gesetzblatt nieder. Immer dann, wenn Sozialdemokraten regieren, gibt es Gemeindefinanzreformen. Wenn Sie von der Opposition regiert haben, haben Sie sich um die Gemeindefinanzen nie gekümmert. ({7}) Deswegen sage ich Ihnen: Die Vertreter der Kommunen wissen das zu schätzen. Das einzige, was sie fürchten, ist eine Neuauflage von Schwarz-Gelb. Dazu wird es aber nicht kommen, da die Signale bei der Konjunktur - Sie wissen das - auf Grün stehen und sich das Wachstum beschleunigt. Heute hat das „Handelsblatt“ getitelt, der Osten werde steil aus dem Konjunkturabschwung hervorgehen und das Wirtschaftswachstum werde sich bis Ende des Jahres vermutlich auf einen Wert von knapp 3 Prozent einpegeln. ({8}) Das sind die besten Voraussetzungen, um eine sinnvolle Gemeindefinanzreform auf den Weg zu bringen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht der Kollege JochenKonrad Fromme für die Fraktion der CDU/CSU.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich über das volle Haus und würde mich freuen, wenn Sie sich alle für Kommunalfinanzen interessieren würden. Herr Staatssekretär Körper - wenn Sie mir Ihr geneigtes Ohr leihen würden -, Sie haben gesagt, die Kommunalpolitiker müssten belobigt werden. Da bin ich Ihrer Meinung. Ich bin sogar der Meinung, sie müssten eine Tapferkeitsmedaille bekommen; denn sie wurden als Ratsmitglieder gewählt und betätigen sich als Konkursverwalter. ({0}) Die Bundesregierung sagt in ihrer Antwort auf die Große Anfrage, sie wolle einen effizienten und bürgerfreundlichen Staat und werde deswegen auch die kommunalen Handlungsspielräume und Entscheidungsbereiche respektieren und stärken. ({1}) Ich höre das wohl, allein mir fehlt der Glaube. Allein wenn ich den Kollegen Scheelen höre, der ständig von Mehreinnahmen spricht, obwohl die Einnahmen in Wahrheit immer niedriger werden, dann macht das deutlich, dass Sie ein völlig anderes Bild von der Realität haben. ({2}) In Ihrer Antwort sagen Sie, insgesamt habe sich die Finanzsituation der Kommunen in den letzten Jahren erfreulich entwickelt und die Finanzierungsdefizite seien geringer geworden. Das ist aber nur möglich geworden durch den Verkauf von Tafelsilber. Es geht doch um die Tatsache, dass die laufenden Einnahmen die laufenden Ausgaben nicht mehr decken. Darin liegt das Problem. Bei allem anderen handelt es sich um eine Statistik, die gar nichts aussagt. ({3}) Wie erfreulich die kommunale Finanzsituation ist, möchte ich anhand eines Zitats deutlich machen. Ich führe nicht Ihren Präsidenten des Deutschen Städtetags, Hajo Hoffmann, an, der sein Amt derzeit ruhen lassen muss, sondern die Äußerung des Oberbürgermeisters von Salzgitter, Knebel, SPD, die Städte und Gemeinden seien in der vertrackten Lage, dass Bund und Länder ihre Haushalte sanieren, und dies zu einem erheblichen Teil auf Kosten der Kommunen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Die Lage der kommunalen Finanzen ist dramatisch. ({4}) Es geht nicht nur um ein Thema für Kommunalpolitiker oder Bürgermeister und Ratsmitglieder, sondern um ein Thema für die Wirtschaft. Denn wenn die Kommunen als größter öffentlicher Nachfrager ausfallen, muss man sich nicht darüber wundern, dass die Bauwirtschaft riesengroße Probleme hat. Der Fall Holzmann spricht Bände. Es geht nicht darum, dass ich nicht mit den Mitarbeitern mitfühle, aber Sie haben der Bauwirtschaft die Grundlage entzogen, meine Damen und Herren. Deswegen sind die Arbeitsplätze gefährdet. Ein Blick auf die Finanzsituation zeigt, dass die Verwaltungshaushalte 1991 182 Milliarden DM, 1995 229 Milliarden DM und im Jahr 2000 189 Milliarden DM betrugen. Bei den Einnahmen liegen wir also auf dem Stand von 1990 und bei den Ausgaben - dank Ökosteuer und allem, was dazugehört - auf dem gestiegenen Kostenniveau. Das ist die wahre Lage. Die Kassenkredite maBernd Scheelen chen das deutlich. Wenn laufende Ausgaben, Zinsen, Sozialhilfe und Personalkosten mit Krediten bestritten werden, ist das der dramatische Ausdruck der Finanzsituation der Gemeinden. In den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, in denen die SPD schon lange an der Regierung ist, ist die Lage besonders dramatisch. Obwohl die Niedersachsen nur 10 Prozent des Haushaltsvolumens aufweisen, haben sie 20 Prozent aller Kassenkredite. Der Bundeskanzler hat schon einmal bewiesen, was er von den Kommunen hält. Was er in Niedersachsen siebeneinhalb Jahre lang angerichtet hat, setzt er im Bund durch Eingriffe in die kommunalen Haushalte nahtlos fort. ({5}) Das kommunale Investitionsvolumen liegt weit unter dem Niveau von 1991. Das macht deutlich, wo die Probleme liegen. Die Ursachen liegen unter anderem in der Konjunktur. In der Konjunktur hat diese Bundesregierung besondere Impulse gegeben. Sie hat dafür gesorgt, dass wir in Europa nicht mehr die Lokomotive sind, sondern zum Träger der roten Laterne geworden sind. Das ist doch das Problem. ({6}) - Mein lieber Bernd Brinkmann, sei ganz vorsichtig mit deinen Ausdrücken! - 4,3 Millionen Arbeitslose sprechen doch Bände. ({7}) Dazu kommt, dass immer mehr soziale Grundlasten auf die Kommunen konzentriert wurden, ohne dafür einen finanziellen Ausgleich zu schaffen. Dem Bund geht es bei allen finanzpolitischen Maßnahmen auch um die Belange der Kommunen. Das ist ein Zitat aus Ihrer Antwort auf die Große Anfrage. Die Praxis ist doch eine andere. Ich nenne nur die neuen Risiken in Verbindung mit den Integrationskosten im Zusammenhang mit der Zuwanderung, die Folgen von PISA, die Zusammenlegung der Sozialhilfe mit der Arbeitslosenhilfe usw. Ich zitiere Folgendes: Das Finanzsystem zwingt Kommunen, denen aufgrund bundespolitischer Entscheidungen Einnahmen fehlen oder Ausgaben aufgetragen werden, sich an die jeweilige Landesregierung zu wenden. Die Bundesregierung macht es sich allerdings zu leicht, wenn sie die Finanznöte der Städte und Gemeinden mit einem Hinweis auf die Finanzverantwortung der Länder abtut. Für einen Teil der Kommunalhaushalte, vor allem die Jugend- und Sozialhilfe, ist das Ausgabenvolumen bundesrechtlich vorgegeben. Zu Recht fordern für solche Fälle die kommunalen Spitzenverbände, dass der Bund nach dem Prinzip der Konnexität zwischen Aufgabenübertragung und Finanzverantwortung die kommunalen Zweckausgaben trägt, soweit die kommunalen Verwaltungen kein nennenswertes Ausführungsermessen haben.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine gewisse Unruhe ist angesichts der bevorstehenden Wahl verständlich, aber im Moment ist der Geräuschpegel so hoch, dass er für den Redner und diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die zuhören wollen, nicht mehr erträglich ist. Ich muss darum bitten, dass die Kolleginnen und Kollegen insbesondere in den hinteren Reihen die Plätze einnehmen.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich fahre fort. Mehr noch: Das durch die Finanzkrise angespannte Verhältnis zwischen den Kommunen und den Ländern kann nur durch eine Gemeindefinanzreform verbessert werden, die das Verhältnis von Aufgaben und Finanzausstattung wieder in Übereinstimmung bringt. Das ist ein Originalzitat von Gerhard Schröder aus dem Jahr 1995. Wo er Recht hat, hat er Recht. Das gilt auch für seine Äußerung: Bei 4,3 Millionen Arbeitslosen haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden. ({0}) Da Sie von den UMTS-Mitteln gesprochen haben, weise ich darauf hin, dass die Ministerpräsidentin Simonis, die bekanntlich nicht der CDU angehört, deutlich gemacht hat, dass Abschreibungen in Höhe von 18 Milliarden Euro in den kommunalen Kassen landen. Das ist Ihre Strategie: Sie verbuchen Einnahmen beim Bund und lassen sich für die Sanierung des Haushalts feiern. Bezahlen müssen das die Kommunen zum Beispiel an dieser Stelle und zum Beispiel beim Kindergeld; dort müssen die Kommunen und Länder gegen die Bestimmungen des Grundgesetzes jedes Jahr 1,6 Milliarden tragen. Genau dieses Geld fehlt den Kommunen für Investitionen. ({1}) Herr Kollege Scheelen, da Sie sagten, Sie hätten bei der Unternehmensteuerreform die Kommunen geschont, verweise ich Sie auf Ziffer 30 der Antwort der Bundesregierung. Sie haben zu Recht von einem kommunalen Anteil an den Steuererleichterungen von 12,1 Prozent gesprochen. Laut Antwort der Bundesregierung beträgt der Anteil der Kommunen in den Jahren 2001 bis 2006 aber 18,7 Prozent, 10,1 Prozent, 15,2 Prozent, 15,5 Prozent, 19,6 Prozent und 19,3 Prozent. So sieht die Wirklichkeit bei Ihnen aus. Sie machen vor einem Teil des deutschen Finanzsystems einfach die Augen zu und nehmen nur die Zahlen, die Ihnen passen. Sie machen es wie bei der Bundesanstalt für Arbeit: Sie fertigen eine Statistik aus Ihrer Sicht an und halten sie für die Realität. ({2}) Ihre eigenen Bürgermeister sagen Ihnen an jedem Tag das Gegenteil. Zu Ihrem Argument, Sie beteiligten die Kommunen laut der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien an den Anhörungen, stellt sich natürlich die Frage, warum Sie immer mehr Fraktionsentwürfe einbringen, für die dieses Anhörungsverfahren nicht gilt, sodass die kommunalen Spitzenverbände in den Tageszeitungen lesen müssen, was Ihre Politik ist. Meine Damen und Herren, angesichts dieses Bildes kann ich nur feststellen: Eine kommunalfeindlichere Politik als die der letzten drei Jahre hat es in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben. ({3}) Wenn Sie dann mit dem Wort Gemeindefinanzreform wie mit einer Wundertüte durchs Land ziehen, dann frage ich Sie erstens, warum Sie sich damit drei Jahre Zeit gelassen haben, ({4}) und zweitens, ob Sie tatsächlich glauben, dass sich das Geld aufgrund einer Gemeindefinanzreform vermehrt. Sie sagen doch in Ihrer Antwort selbst, dass es für Mehreinnahmen der Kommunen keinen Spielraum gibt. Deswegen sollten Sie nicht so tun, als könnte mit dieser Wundertüte der Wahlkampf bestritten werden. Für die Kommunen wird es keine Mark mehr geben und deswegen sind die Kommunen bei Ihnen schlecht aufgehoben. Jeder Bürger und jeder Ratsherr, der für sich selbst und für seine Gemeinde etwas Gutes tun will, wird am 22. September für die Ablösung dieser Regierung sorgen, damit endlich wieder geordnete Verhältnisse eintreten. Danke schön. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der PDS, Drucksache 14/8618. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN, der FDP und der PDS Einsetzung des Bundesschuldengremiums gemäß § 4 a des Bundeswertpapierverwal- tungsgesetzes - Drucksache 14/8588 - b) Wahl der Mitglieder des Bundesschuldengremiums gemäß § 4 a des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes - Drucksache 14/8587 Wir kommen sofort zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS auf Drucksache 14/8588 ({0}). Wer stimmt da- für? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der An- trag ist einstimmig angenommen. Damit ist das Gremium gemäß § 4 a des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes mit der Bezeichung „Gremium zu Fragen der Kreditfi- nanzierung des Bundes“ eingesetzt und die Mitglieder- zahl auf fünf festgelegt. Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des soeben einge- setzten Gremiums kommen, bitte ich Sie um Ihre Auf- merksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglie- der des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer min- destens 334 Stimmen erhält. Die blauen Stimmkarte wurden im Saal verteilt. Soll- ten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu er- halten. Sie können auf Ihrer Stimmkarte bis zu fünf Namens- vorschläge ankreuzen. Ungültig sind Stimmkarten, die andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung. Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimmkarten also an Ihrem Platz ausfüllen. An der Wahlurne benötigen Sie außerdem Ihren weißen Wahlausweis, den Sie den Schriftführerinnen und Schriftführern übergeben, bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen. Die Abgabe des Wahlauswei- ses dient als Nachweis zur Teilnahme an der Wahl. Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen Plätze eingenommen? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- mung wird Ihnen später bekannt gegeben. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 i sowie die Zusatzpunkte1 a und 1 b auf - es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte -: 30. a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Getto und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 14/8583 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingeJochen-Konrad Fromme brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes - Drucksache 14/8585 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Mutterschutzrechts - Drucksache 14/8525 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Gesundheit d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesundheitsstrukturgesetzes - Drucksache 14/7462 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Energiestatistiken ({5}) - Drucksache 14/8388 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft über gemeinschaftliche Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse ({7}) - Drucksache 14/8526 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft g) Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Maritta Böttcher, Dr. Ruth Fuchs, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes ({8}) - Drucksache 14/8078 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bewachungsgewerberechts - Drucksache 14/8386 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10}) Innenausschuss Rechtsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Albowitz, Dr. Günter Rexrodt, Hans-Joachim Otto ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen als Gedenkstätte erhalten und ausbauen - Drucksache 14/7110 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({12}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Haushaltsausschuss ZP1a) Erste Beratung des von der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Getto und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 14/8602 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Reinhard Weis ({14}), Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({15}), Helmut Wilhelm ({16}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für einen sanften Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen - Drucksache 14/8589 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b sowie 31 d bis 31 k und die Zusatzpunkte 2 a bis 2 f auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 31 a: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung von Rechtspflegeraufgaben auf den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle - Drucksache 14/6457 ({18}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19}) - Drucksache 14/8628 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Ronald Pofalla Volker Beck ({20}) Dr. Evelyn Kenzler Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Wir nehmen zu Protokoll, dass der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der PDS und Gegenstimmen der FDP angenommen ist. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Februar 1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen sowie zu der auf der zweiten Konferenz der Parteien in Sofia am 27. Februar 2001 beschlossenen Änderung des Übereinkommens ({21}) - Drucksache 14/8218 ({22}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23}) - Drucksache 14/8578 Berichterstattung: Abgeordnete Petra Bierwirth Marie-Luise Dött Winfried Hermann Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/8578, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({24}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, Sabine Jünger, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Änderung der Pfändungsfreigrenzen - Drucksachen 14/1627, 14/8302 Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Volker Beck ({25}) Dr. Evelyn Kenzler Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1627 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({26}) zu der Verordnung der Bundesregierung Einhundervierundvierzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 14/7981, 14/8086 Nr. 2.2, 14/8408 Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Hempelmann Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 14/7981 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({27}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Änderung abfallrechtlicher Nachweisbestimmungen - Drucksachen 14/8461, 14/8555 Nr. 2.1, 14/8622 Berichterstattung: Abgeordnete Rainer Brinkmann ({28}) Georg Girisch Michaele Hustedt Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8461 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({29}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Änderung abfallrechtlicher Bestimmungen zur Altölentsorgung - Drucksachen 14/8462, 14/8555 Nr. 2.2, 14/8626 Berichterstattung: Abgeordnete Rainer Brinkmann ({30}) Georg Girisch Michaele Hustedt Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8462 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 367 zu Petitionen - Drucksache 14/8532 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 367 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 368 zu Petitionen - Drucksache 14/8533 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 368 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 31 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 369 zu Petitionen - Drucksache 14/8534 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 369 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen von FDP und PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 31 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 370 zu Petitionen - Drucksache 14/8535 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Zusatzpunkt 2 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 372 zu Petitionen - Drucksache 14/8605 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 373 zu Petitionen - Drucksache 14/8606 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 374 zu Petitionen - Drucksache 14/8607 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Zusatzpunkt 2 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 375 zu Petitionen - Drucksache 14/8608 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Zusatzpunkt 2 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 376 zu Petitionen - Drucksache 14/8609 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Zusatzpunkt 2 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Sammelübersicht 377 zu Petitionen - Drucksache 14/8610 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Hermann Bachmaier, Wilhelm Schmidt ({41}), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Gerald Häfner, Cem Özdemir, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz - Drucksache 14/8503 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({42}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann kann ich die Aussprache eröffnen und gebe zunächst für die SPD-Fraktion dem Kollegen Hermann Bachmaier das Wort.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach mehr als 50 Jahren Grundgesetz können wir feststellen, dass sich unsere Verfassung bewährt hat und dass sie im Bewusstsein der Menschen fest verankert ist. Dies ist wichtig für die Legitimation einer Verfassung. Das gilt im Besonderen auch für die Ausgestaltung der parlamentarischen Demokratie und die weit reichenden Kompetenzen, die dem Parlament als Dreh- und Angelpunkt unseres Verfassungslebens zukommen. Es war richtig, dass sich die verantwortlichen Frauen und Männer des Parlamentarischen Rates im Jahre 1949 für diese konsequente Form der parlamentarischen Demokratie entschieden haben. Das Grundgesetz hat auch einen entscheidenden Anteil an der gewachsenen inneren Stabilität unseres Landes. Meine Damen und Herren, zwar spricht Art. 20 des Grundgesetzes davon, dass die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt werde. Jedoch gibt das Grundgesetz praktisch keinen Raum für eine unmittelbare Mitwirkung des Souveräns bei Sachentscheidungen. De facto beschränkt sich die Mitwirkung des Volkes auf Wahlen. In den Landesverfassungen und Gemeindeordnungen wurden jedoch mittlerweile in der gesamten Bundesrepublik vielfältige Möglichkeiten geschaffen, Bürgerinnen und Bürger unmittelbar an Sachentscheidungen zu beteiligen. Die Erfahrungen zeigen, dass von diesen Rechten sinnvoll Gebrauch gemacht wird. Die Erfahrungen zeigen auch, dass diese Rechte in erheblichem Umfang zur Belebung und Verankerung der Demokratie auf Landes- und Kommunalebene beigetragen haben. ({0}) In manchen Ländern, wie zum Beispiel in Bayern, sind die recht breit ausgestalteten unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeiten aus dem staatlichen Leben schon gar nicht mehr wegzudenken. Kein CSU-Ministerpräsident würde es wagen, Hand an die dortigen unmittelbaren Mitwirkungsmöglichkeiten zu legen. ({1}) Wir Sozialdemokraten sind deshalb schon lange der Überzeugung, dass die Instrumente der direkten Demokratie, die sich auf Landesebene hervorragend bewährt haben, endlich auch auf Bundesebene ihren angemessenen Platz bekommen müssen. Die Ängste, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes nach der Naziherrschaft bewogen haben, von Volksentscheiden eher abzusehen, haben heute ihre Berechtigung verloren. ({2}) Mehr als 50 Jahre gefestigte Demokratie in der Bundesrepublik haben deutlich gezeigt: Die Menschen in unserem Land sind in ihrer übergroßen Mehrheit davor gefeit, radikalen Verführern auf den Leim zu gehen. Heute droht eher eine andere Gefahr: Immer mehr Menschen sind politikmüde. Die Bereitschaft zur demokratischen Mitwirkung sinkt. Wir leisten dieser Entwicklung Vorschub, wenn wir die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk ausschließlich auf alle vier Jahre stattfindende Parlamentswahlen beschränken. ({3}) Die nachlassende Wahlbeteiligung sollte für uns ein Alarmsignal sein. Die Menschen möchten stärker und unmittelbarer, auch auf Bundesebene, in Entscheidungen einbezogen werden. Mündige Bürgerinnen und Bürger wollen eben nicht nur wählen, sondern hin und wieder auch direkt an Entscheidungen mitwirken. Die Sorge, dass die parlamentarischen Strukturen dadurch gefährdet oder gar ausgezehrt würden, ist nicht berechtigt. Wir gehen davon aus, dass die von uns ins Auge gefasste unmittelbare Bürgerbeteiligung durch Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide eine belebende Wirkung auch auf die parlamentarischen Entscheidungsprozesse haben wird, ({4}) und zwar nicht nur dann, wenn von den Instrumenten der Bürgerbeteiligung tatsächlich auch Gebrauch gemacht wird. Es war und ist unser erklärtes Ziel, das parlamentarische Entscheidungssystem sinnvoll zu ergänzen. Keinesfalls möchten wir das Parlament als den zentralen Ort demokratisch legitimierter Entscheidungen schwächen. Nicht umsonst haben wir alle drei in die Verfassung einVizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters zufügenden Instrumente unmittelbarer Bürgermitwirkung äußerst eng mit dem Parlament verzahnt. Wir wollen keinen Paradigmenwechsel herbeiführen. Auch im parlamentarischen System sind unmittelbare Mitwirkungsbefugnisse eine gute und sinnvolle Ergänzung. Wir wollen bei den direkten Beteiligungsrechten in der Sache zu einem Fortschritt kommen, und zwar mit Ihnen. Sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, wir wissen, dass es auch in Ihren Reihen nicht wenige Politikerinnen und Politiker gibt, die diesem Anliegen aufgeschlossen gegenüberstehen. Äußerungen des bayerischen Innenministers Günther Beckstein, des stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden und Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen CDU Jürgen Rüttgers und des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, um nur einige zu nennen, belegen dies. Wir wissen, dass es ohne eine breite Unterstützung des Parlaments keine Grundgesetzänderung geben kann. Zur Durchsetzung unseres Anliegens brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit. Auch deshalb laden wir Sie schon jetzt ausdrücklich zu Gesprächen ein. Wir suchen den für eine Verfassungsänderung notwendigen Konsens. Ich hoffe, dass dabei die im April durchzuführende Sachverständigenanhörung im Innenausschuss, die in dieser Woche bereits einvernehmlich beschlossen wurde, hilfreich sein wird. Das hin und wieder zu hörende Argument, für die Beratungen stünde nicht mehr genügend Zeit zur Verfügung, ist nicht zutreffend. Zum einen befassen wir uns mit den aufgeworfenen Fragen nicht zum ersten Mal, zum anderen haben wir bis zu den abschließenden Beratungen noch fast drei Monate Zeit. Diese Zeit reicht unseres Erachtens aus, wenn wir den notwendigen Willen zur Verständigung aufbringen. ({5}) - Wir haben keine drei Jahre gebraucht, sondern den richtigen, günstigen und für Sie zumutbaren Zeitpunkt gesucht, ({6}) damit wir einen Konsens finden. Herr Stadler, das war unser Anliegen, sonst nichts. Wie können Sie uns ein anderes Motiv unterstellen? Das finde ich geradezu abwegig. ({7}) Im Übrigen wäre es durchaus auch an Ihnen gewesen, einen Gesetzentwurf einzubringen. Sie sind doch sonst auch nicht zaghaft, wenn Sie Ihren Anliegen durch Gesetzesvorstöße mehr Nachdruck verleihen wollen. Sie wissen, dass wir dafür offen gewesen wären. Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen machen: Erster Schritt der unmittelbaren Bürgerbeteiligung soll die Volksinitiative sein. 400 000 Stimmberechtigte sollen das Recht haben, im Bundestag einen Gesetzentwurf einzubringen und mit ihrem Anliegen gehört zu werden. Hat das Parlament den eingebrachten Gesetzentwurf nicht innerhalb von acht Monaten verabschiedet, kann ein Volksbegehren eingeleitet werden. Dem Volksbegehren müssen dann innerhalb von weiteren sechs Monaten 5 Prozent der Stimmberechtigten, das heißt ungefähr 3 Millionen Wahlberechtigte, zustimmen. Ist das Volksbegehren erfolgreich, findet ein Volksentscheid statt, an dem sich nach unseren bisherigen Vorstellungen mindestens 20 Prozent der Stimmberechtigten bei einfachen Gesetzen und mindestens 40 Prozent der Stimmberechtigten bei Verfassungsänderungen beteiligen müssen. Während bei einfachen Gesetzen die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreichen soll, ist bei Verfassungsänderungen selbstverständlich eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Eine Mehrheit muss auch in so vielen Bundesländern erreicht werden, dass dies einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat entspricht. Wir haben Quoren vorgesehen, denn wir möchten nicht - dies betone ich ausdrücklich -, dass Volksbegehren und Volksentscheide zu einer Spielwiese von Minderheiten werden. Wir haben uns, wie Sie im Gesetzentwurf sehen, auch auf einen Ausnahmekatalog verständigt. Das Haushaltsgesetz selbst, die Abgabengesetze, die Dienst- und Versorgungsbezüge, das Besoldungsrecht, die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages und die Wiedereinführung der Todesstrafe sollen nach unseren Vorstellungen nicht Gegenstand einer Volksinitiative sein können. Selbstverständlich gilt auch für plebiszitäre Entscheidungen Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze nicht geändert werden dürfen. Vor der Durchführung eines Volksbegehrens ist nach unserem Gesetzentwurf eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht möglich, sodass gegebenenfalls verfassungswidrige Vorlagen schon frühzeitig vermieden werden können. Wenn eine Entscheidung unmittelbar durch das Volk getroffen werden soll, ist es sinnvoll, bei strittigen verfassungsrechtlichen Fragen eine Vorprüfung durchzuführen. Dies hatten wir auch in unserem letzten Entwurf aus dem Jahre 1993/94 schon so vorgesehen. Gegen Volksbegehren und Volksentscheide wird immer wieder vorgebracht, dass sie emotions- und ressentimentgeladenen Entscheidungen bei entsprechender populistischer Begleitmusik Vorschub leisten könnten. Das ist bei dem von uns vorgesehenen Instrumentarium und der vorgegebenen zeitlichen Abfolge kaum zu befürchten. Zwischen Volksinitiative und Volksentscheid vergehen gut und gerne zwei Jahre. Schon dadurch werden irgendwelche Stimmungs- oder Hauruckentscheidungen nicht möglich sein. Daneben wird die Einschaltung des Parlaments und des Bundesverfassungsgerichts zu einer zusätzlichen sachbezogenen Diskussion beitragen. Schon allein die Tatsache, dass Plebiszite lediglich über Gesetzentwürfe durchzuführen sind, trägt zu einer Rationalisierung der Diskussion bei. Auch die hin und wieder zu hörende Befürchtung, Volksentscheide könnten zulasten von Minderheiten gehen, halte ich nicht für berechtigt. Zum einen haben wir in unserer Verfassung und auch in unserem Gesetzentwurf hinreichende Sicherungen gegen eine derartige Fehlentwicklung vorgesehen. Zum anderen glaube ich, dass die grundrechtlichen Freiheiten und auch der Schutz von Minderheiten mittlerweile zu einem festen Bestandteil unserer politischen Kultur geworden sind. ({8}) Dagegen lassen sich im Rahmen der von uns vorgesehenen Instrumentarien sicherlich keine Mehrheiten finden. Lassen Sie mich zusammenfassen: Plebiszite und Entscheidungen durch das Parlament sind keine Gegensätze. Sie ergänzen und befruchten sich wechselseitig. Für die immer wieder geäußerten Befürchtungen, Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheide würden zu einer Emotionalisierung der Politik beitragen, gibt es nach 50 Jahren gelebtem Grundgesetz keine Anhaltspunkte. ({9}) - Sie misstrauen dem Volk; das ist kennzeichnend, Herr Geis. ({10}) Auf diesen Aufschrei habe ich fast die ganze Zeit gewartet. Jetzt gehen Sie doch einmal in sich und beraten Sie sich mit uns. ({11}) Ich bin mir sicher, dass wir einen vernünftigen Kompromiss für ein Anliegen finden werden, das im Übrigen in Ihrem Heimatland Bayern schon Verfassungstradition hat. Ich weiß also nicht, warum das, was für Bayern gut ist, dem Bund abträglich sein soll. Für diese Auffassung habe ich kein Verständnis. ({12}) Ich möchte wiederholen: Plebiszite und Entscheidungen durch das Parlament sind keine Gegensätze. Sie ergänzen und befruchten sich wechselseitig. Herr Geis, das musste ich Ihnen noch einmal sagen. ({13}) Für die immer wieder geäußerten Befürchtungen hinsichtlich der Emotionalisierung gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Wir meinen, dass eher das Gegenteil richtig ist. Menschen, die mit ihren Anliegen ernst genommen und beteiligt werden, gehen mit ihrer Verantwortung in aller Regel sehr behutsam um. In unserem Lande ist die Zeit reif, dem gewachsenen demokratischen Bewusstsein durch mehr Bürgerbeteiligung auch auf Bundesebene Rechnung zu tragen. Angst vor dem Volk ist der schlechteste Ratgeber für Demokraten bzw. in einer Demokratie. ({14}) Uns muss nicht bange sein, auch nicht vor ein bisschen frischer Luft durch mehr Bürgerbeteiligung. ({15}) Etwas mehr Demokratie kann unser Land wahrlich vertragen. Wir laden Sie ein, an dem Projekt einer behutsamen Öffnung hin zu mehr Bürgerbeteiligung in unserer Verfassung mitzuwirken und mit uns die entsprechenden konstruktiven Gespräche zu führen. Wir sind, wie gesagt, offen dafür und erwarten von Ihnen eine konstruktive Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens. Ich habe schon häufig aus Ihren Reihen gehört, dass dies eigentlich kein schlechter Weg in einer gewachsenen Demokratie sei. ({16}) Lassen Sie den Worten Taten folgen! Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0}) - Dem Präsidenten von Hertha BSC. ({1})

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein verblüffender Tatbestand, dass Sie sechs Monate vor der Bundestagswahl mit einer solchen Initiative kommen, die unsere gewachsenen Demokratiestrukturen in fundamentaler Weise berührt und die sich durch eine Unschlüssigkeit auszeichnet, die angesichts der Wichtigkeit dieses TheHermann Bachmaier mas - es geht schließlich um unsere Demokratie - kaum nachzuvollziehen ist. Ich will das im Einzelnen erläutern. Es ist im Grunde ein populistisches Vorhaben, das Sie hier ankündigen. Herr Bachmaier, wenn man Ihnen zuhört - Sie sprechen von Misstrauen und Angst vor dem Volk -, dann hat man das Gefühl, dass Sie Angst und Misstrauen schon bei der Erstellung Ihres Gesetzentwurfes gehabt haben. Angesichts der Tatsache, dass von einem Volksentscheid zum Beispiel die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten, die Regelungen hinsichtlich der Beamten- und Versorgungsbezüge und die Abgabengesetze ausgeschlossen sein sollen, frage ich: Warum? Entweder Sie haben das Vertrauen oder Sie haben es nicht. ({0}) - Sie werden noch erfahren, was ich im Einzelnen meine. Wer für Plebiszite eintritt, der pflegt - das hat auch der Kollege Bachmaier getan - von mehr Bürgerbeteiligung, mehr Partizipation und mehr „wirklicher Demokratie“ zu sprechen. Demokratie basiert natürlich in entscheidender Weise auf der politischen Partizipation der Bürger, die sie zu realisieren hat. Aber politische Partizipation bedingt in einer Demokratie vor allen Dingen Gleichheit. Gleichheit ist die Grundidee der Demokratie und sie mündet in das Mehrheitsprinzip ein. Politische Partizipation basiert also auf der demokratischen Gleichheit aller Staatsbürger, was im Ergebnis aber auch die unbedingte Akzeptanz jener Institution erfordert, die diese Gleichheit gewährleistet, nämlich der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. ({1}) Sie beruht auf Wahlen. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Demokratie auf Gleichheit gegründet ist und gleichheitswahrend wirkt. Gerade dies - das belegt Ihr Gesetzentwurf in besonderer Weise - ist bei plebiszitären Verfahren in aller Regel nicht gewährleistet. Plebiszitäre Verfahren gewährleisten des Weiteren auch nicht die notwendige Kompromissfähigkeit, auf die jede pluralistische Gesellschaft angelegt und angewiesen ist. Das wissen wir aus unserer parlamentarischen Arbeit. Parlamentarische Arbeit bedeutet Bewältigung hoher Komplexität. Sie bedeutet darüber hinaus die einem pluralistischen Gemeinwesen immer zuvörderst aufgegebene Suche nach einem vernünftigen gemeinwohlorientierten Kompromiss. Plebiszitäre Verfahren sind dazu in aller Regel nicht in der Lage. Plebiszitäre Verfahren kennen in aller Regel wesensgemäß nur das vielfältig allzu vereinfachende Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß. Schon Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, hat einmal treffend darauf hingewiesen, dass ein Plebiszit im Grunde schon derjenige entscheidet, der die abzustimmende Fragestellung formuliert. ({2}) In vielen Fällen ist das in der Tat so, und es zeigt, wie vorsichtig mit einem solchen Instrument umgegangen werden muss. Das mir Wichtigste dabei ist aber, dass das Plebiszit wesensgemäß in aller Regel nicht imstande ist, Kompromisse zu schmieden und zu vermitteln. Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß - eine pluralistische Gesellschaft, die in polarisierende Verfahren dieser Art eintritt, schädigt sich letztendlich selbst. ({3}) Plebiszitäre Verfahren fordern naturgemäß für den Bürger überschaubare, also relativ wenig komplexe Entscheidungsgegenstände. Solche Entscheidungsgegenstände sind in aller Regel auf der regionalen Ebene, im kommunalen Bereich und auch im Länderbereich, durchaus gegeben. Hier ist es überschaubar, hier kann der Bürger erkennen, wozu er Ja oder Nein sagen soll. Auf der Bundesebene ist dies aber nicht der Fall. Deshalb gilt das Argument, das Herr Bachmaier eben wieder benutzt hat, was in Bayern gut sei, sei auch für den Bund gut, in fast allen Bereichen unseres Landes, aber nicht in diesen Verfassungsstrukturen. In der Wirtschaftspolitik gilt das mit Sicherheit. ({4}) - Wie schön, dass Bayern größer ist als mancher Nationalstaat. Das freut mich, aber das ändert nichts daran, dass die Zuständigkeiten, über die zu entscheiden ist, in der Bundesgesetzgebung angesiedelt sind - das wissen Sie ganz genau, Herr Wiefelspütz - und eben nicht in der Entscheidungshoheit eines Bundeslandes, so groß es auch immer sein mag, liegen. ({5}) - Herr Wiefelspütz, das tun Sie ja, wie ich vorhin schon belegt habe, mit diesen fabelhaften Ausnahmen, über die das Volk dann plötzlich nicht mehr abstimmen darf. ({6}) Da Sie das Land Bayern genannt haben, komme ich zum nächsten ganz entscheidenden Einwand gegen das, was Sie vorhaben: die föderative Struktur unseres Landes und die föderative Struktur auch der Gesetzgebung bei uns im Lande. Dass Bundesrat und Bundestag gemeinsam für die Bundesgesetzgebung zuständig sind, ist ein zentrales Element unseres Bundesstaates, das nicht zur Disposition steht und das sich außerordentlich bewährt hat. ({7}) Wer auf der Bundesebene das Plebiszit, den Volksentscheid, einführen will, gibt dieses Verfahren im Grunde auf; denn es entscheidet dann das Bundesvolk in seiner Gesamtheit. Wenn das Bundesvolk in seiner Gesamtheit entscheidet, gibt es keine Möglichkeiten mehr, ländermäßig, vielfaltmäßig, länderwettbewerblich abgestufte Positionen auch politisch Andersdenkender über das Bundesratsverfahren umzusetzen und zu wahren. Es entscheidet das Bundesvolk in seiner Gesamtheit. Ein entscheidender Pfeiler unseres gesamten bundesstaatlichen Prinzips würde durch den Volksentscheid auf der Bundesebene aufgegeben. Das von Ihnen, Herr Bachmaier, vorgeschlagene Verfahren, bei Verfassungsänderungen solle man es so handhaben, dass jedenfalls dann auch relativ noch die jeweilige Mehrheit in den beteiligten Ländern gewährleistet wird, ist doch eine Scheinlösung. Geben wir uns doch keinen Illusionen hin! Eine Scheinlösung wäre es auch zu sagen: Ein Plebiszit, ein Volksentscheid, findet statt, und anschließend geht die Entscheidung in den Bundesrat. Ich möchte den Bundesrat sehen, der unter dem zentralistischen und massiv zentralisierenden Druck einer Abstimmung, die das Bundesvolk in seiner Gesamtheit, ohne Rücksicht auf regionale, auf föderative Unterschiede getroffen hat, noch eine eigenständige, den Länderinteressen, denen er verpflichtet ist, gerecht werdende Entscheidung treffen soll. ({8}) Mit anderen Worten: Sie stürzen nicht nur einen Großteil unserer bewährten stabilen parlamentarischdemokratischen Struktur der repräsentativen Demokratie in ein ungewisses Fahrwasser, um es sehr vorsichtig zu formulieren, sondern Sie stürzen auch einen entscheidenden Pfeiler unseres gesamten föderativen Systems. Das werden Sie mit der CDU/CSU niemals erreichen. ({9}) Meine Damen und Herren, schauen wir uns im Einzelnen das an, was Sie uns wirklich vorschlagen. Ich habe großen Wert darauf gelegt, zu betonen, dass Demokratie auf der Gleichheit aller Staatsbürger basiert und dass Demokratie das Mehrheitsprinzip bedingt. Das Mehrheitsprinzip ist nicht nur ein formales Prinzip, sondern ein materiales Wertprinzip, das jede Form von Demokratie bestimmt und voraussetzt. Das, was Sie hier vorschlagen, ist der Abschied von der Mehrheitsdemokratie und der Einstieg in die Minderheitsdemokratie. ({10}) Das kann man an den von Ihnen vorgelegten Vorschlägen sehr leicht nachvollziehen. Für eine Volksinitiative sehen Sie ein Quorum von lediglich 400 000 vor. ({11}) Für das Volksbegehren wollen Sie mit einem Quorum von 3 Millionen operieren. Denken Sie einmal daran, welche Repräsentanz der Wähler für eine Gesetzgebungsinitiative in diesem Haus nötig ist! Schon da stimmt die Gleichung nicht. Entscheidend aber - selbst wenn man Letzteres einmal beiseite lässt - wird es beim Volksentscheid: Der Volksentscheid soll bei Ihnen die Teilnahme von mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten bedingen. Ein Gesetz kann demnach - wenn ich einmal von einer Abstimmungsbeteiligung von 20 Prozent ausgehe - mit einer Mehrheit von 10 Prozent plus einer Stimme unseres Volkes verabschiedet werden. Das heißt Minderheitendemokratie. In diesem Hause müssen Sie die Repräsentanz von 50 Prozent plus einer Stimme haben, in Ihrem Verfahren dagegen genügen 10 Prozent plus einer Stimme. Das kann doch nicht ernst gemeint sein, Herr Bachmaier! ({12}) Bei den Verfassungsänderungen wird es noch abstruser: Sie sagen, dafür müssen 40 Prozent der Wahlberechtigten an der Volksabstimmung teilnehmen. Innerhalb dieser 40 Prozent soll eine Zweidrittelmehrheit notwendig sein. Wenn ich richtig rechne, genügen demnach 26,6 Prozent der Wahlberechtigten für eine Verfassungsänderung. Hier dagegen brauchen Sie die Repräsentanten - das Gleiche gilt übrigens für den Bundesrat - von 66 Prozent unseres Volkes. Es ist doch undenkbar, dass ein Verfassungsänderungsverfahren einmal 66 Prozent und einmal 26 Prozent - ein Unterschied von 40 Prozent! - bedarf. Das ist nicht mehr Mehrheitsdemokratie. Das heißt Aufgabe des Mehrheitsprinzips. Das ist ein gefährliches Spiel mit den Grundstrukturen unserer Demokratie, vor dem man nur nachdrücklich warnen kann. ({13}) Man kann sicherlich über vieles reden. Ich persönlich kann mir in diesen Zusammenhängen zum Beispiel durchaus Massenpetitionen vorstellen. Ich kann mir auch ein Verfahren der Volksinitiative vorstellen, ({14}) das heißt eine Befassungspflicht des Bundestages. Aber auf der Basis dessen, was Sie hier vorschlagen, ist das undenkbar. Denn das bedeutet eben nicht, dass repräsentative Mehrheiten unseres Volkes zu Wort gebracht werden. Sie gehen den Weg: Abschied von der Mehrheit und Verabsolutierung der Minderheit. Das bedeutet letztlich: Ende der Demokratie. ({15}) Dieses Spiel sollten Sie niemandem zumuten. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Häfner vom Bündnis 90/Die Grünen.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist in meinen Augen eine große Stunde dieses Parlamentes, ({0}) auch wenn es vielleicht nicht dem Anlass gemäß gefüllt ist. Vielleicht haben diese Bedeutung auch noch nicht alle im Hause in ausreichendem Maße erkannt. Trotzdem will ich sagen: Es ist eine große Stunde für das Parlament, und es ist - das kann ich jetzt nur hoffen - meines Erachtens auch eine große Stunde für Deutschland. ({1}) - Ob es so ist, liegt in den Händen dieses Hauses, auch in Ihren Händen selbstverständlich, verehrte Kollegen von der Opposition. Viele Gesetze werden im Laufe einer Legislaturperiode vom Parlament gemacht, aber so gut wie nie machen wir Gesetze, in denen das Parlament selbst einen Teil seiner Rechte dorthin zurückgibt, wo sie herkommen und wo sie hingehören, nämlich an den Souverän, an die Bürgerinnen und Bürger. ({2}) Denn der Kern jeder Demokratie - dies erscheint mir angesichts dessen, dass wir allzu häufig in parteipolitischen Gräben verfangen diskutieren, wichtig - ist die Volkssouveränität. Wir sind hier nicht für uns tätig; wir sind vielmehr Volksvertreter. Und wenn wir entscheiden - etwa auch am Ende dieser Debatte über dieses Gesetz -, dann entscheiden wir für das Volk. Herr Scholz, es ist schade, dass Sie uns jetzt, nachdem Sie das Ihre gesagt haben, verlassen. Ich hätte Ihnen gerne geantwortet. Und es wäre erfreulich, wenn Sie auch noch zuhören könnten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Häfner, der Kollege Scholz hat sich gerade entschuldigt. Er muss in den Bundesrichterwahlausschuss.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist etwas anderes, Herr Scholz. Treffen Sie gute Entscheidungen! ({0}) Der Kern jeder Demokratie ist die Volkssouveränität. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, steht in Art. 20 des Grundgesetzes. Der Text geht dann nicht weiter: „und kehrt nie mehr zurück“, wie der Volksmund oft sagt. Vielmehr heißt es dort klar und deutlich: Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt. Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf erfüllen Bündnis 90/Die Grünen und die SPD gleich drei große Versprechen: erstens das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag von 1998, Volksentscheide auf Bundesebene einzuführen, zweitens das Versprechen dieses Grundgesetzes, wonach die Demokratie auf beiden Beinen zu stehen hat, dem der Wahlen und dem der Abstimmungen, und nicht nur auf dem einen der Wahlen, und drittens das Versprechen von Willy Brandt in den 70er-Jahren - „Mehr Demokratie wagen“ -, welches damals zunächst leider ganz andere Konsequenzen als die angekündigten und die von uns erhofften, einer Stärkung der Bürgerbeteiligung, hatte. Auch dieses Versprechen werden wir heute erfüllen. Warum ist die Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid so wichtig? Die Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten wird - das bekommen wir alle mit - immer stärker. Die Parteien haben sich ein Monopol auf die politische Willensbildung durchgesetzt, das - ich glaube, hier ist es berechtigt, sich auch einmal selbstkritisch auf die eigene Brust zu klopfen - so mitnichten im Grundgesetz vorgesehen ist, sondern sich in der Verfassungswirklichkeit dieser Republik über mehr als 50 Jahre immer mehr verfestigt hat. Im Grundgesetz heißt es stattdessen in Art. 21: Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Das in der Bevölkerung weit verbreitete Gefühl „Wir können ja eh nichts machen, die da oben machen sowieso, was sie wollen“ ist fatal für ein Gemeinwesen, fatal für eine Demokratie. Sehen wir das denn nicht? Nehmen nicht alle hier im Hause die Zeichen wahr: die zurückgehende Wahlbeteiligung beispielsweise oder die immer geringer werdende Anzahl von Jugendlichen, die sich zum Beispiel in politischen Parteien engagieren, obwohl sie keineswegs unpolitisch sind? Immer weniger junge Menschen betrachten das bestehende Angebot etwa der Mitarbeit in Parteien als angemessen für ihr eigenes Verständnis von effizientem Sicheinbringen in die Politik und das Gemeinwesen. Das alles bedeutet eine ernst zu nehmende Gefahr für die Demokratie. Die Identifikation geht zurück. Das Engagement und die Beteiligung gehen zurück. Wer hier nur zuschaut, der fährt einen fahrlässigen Kurs. Wir sollten diese Entwicklung ernst nehmen. Ich glaube, dass es dringend nötig ist, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mehr einbringen, vor allem, dass sie erleben, dass sie in der Demokratie gewünscht sind, dass ihre Beteiligung gewünscht ist. Wir müssen dann aber auch angemessene Möglichkeiten für diese Beteiligung schaffen. In der modernen Demokratie ist es wahrlich nicht genug, wenn die Bürgerinnen und Bürger nur alle vier Jahre ihre Stimme bei den Wahlen - durchaus im doppelten Wortsinn - abgeben. Die Demokratie des 21. Jahrhunderts muss vielmehr eine aktive Bürgergesellschaft sein. Eine aktive Bürgergesellschaft funktioniert aber nur mit aktiven Bürgern, die sich auch angemessen und verbindlich einschalten und einmischen können. Das ist insbesondere für die Jugend wichtig, die sich nur engagiert, wenn das auch etwas bewirkt. Eine aktive Bürgergesellschaft bedeutet, dass die Bürger selbst die Agenda der Politik bestimmen, dass sie Initiativen einbringen können, wie dies unser Gesetzentwurf vorsieht, und dass sie durch Volksbegehren und Volksentscheid, wenn die Quoren erfüllt sind, auch selbst über Sachfragen entscheiden können. ({1}) Alle ernsthaften Politiker in diesem Land müssen sich heute mehr und mehr die Frage stellen - viele, übrigens aus allen Fraktionen, haben dazu inzwischen auch nachdenkliche Beiträge publiziert -: Was hält heute unser Gemeinwesen zusammen? Wie schaffen wir es, dass die Bürger nicht immer mehr eine Haltung nach dem Motto einnehmen: Was kann ich dabei für mich herausholen?, sondern dass sie sich fragen: Was kann ich einbringen? Welches ist mein Beitrag zu dem Ganzen? Ich glaube, dass diese Demokratie ohne ein Mehr an Beteiligung und damit auch an Identifikation und Engagement Gefahr läuft, zu einer Zuschauerdemokratie zu werden, zu einer Demokratie, in der sich die Bürger zunehmend als Objekt und nicht als Subjekt sehen. Sie sind aber Subjekt im Gemeinwesen und müssen das in der Realität auch sein können. Ich staune immer über die Horrorvorstellungen, die offenbar auf einer bestimmten Seite des Hauses - Herr Scholz ist ja jetzt leider nicht mehr da - im Hinblick auf die Bürgerinnen und Bürger herrschen. Wenn Sie von der CDU/CSU wirklich eine solche Angst vor dem Volk haben, dann wundert es mich, dass Sie sich überhaupt zur Wahl stellen. Ich wundere mich über die von Ihnen vorgetragenen Argumente, die ich alle schon so oft gehört und genauso oft widerlegt habe: angefangen bei den vorgeblich historischen und verfassungsrechtlichen bis hin zu so platten Argumenten wie zum Beispiel dem, bei einem Volksentscheid könne man doch nur mit Ja oder Nein entscheiden. Wie entscheiden wir denn eigentlich hier im Bundestag? Entscheiden Sie anders? Man kann immer nur mit Ja oder Nein entscheiden - das haben Entscheidungen so an sich -, aber eben mit einem Ja oder Nein zu einem bestimmten Gesetzentwurf oder einer Vorlage. Gerade darum geht es. Durch Volksbegehren und Volksentscheide wächst die Zahl der Alternativen. Im vorliegenden Gesetzentwurf haben wir Regeln dafür vorgesehen, wie aus der Bevölkerung Gesetzentwürfe eingebracht werden können und wie beispielsweise in Fällen, in denen etwa das Parlament der Auffassung ist, ein bestimmter Gesetzentwurf gehe zu weit oder in eine falsche Richtung, auch noch eine Konkurrenzvorlage eingebracht werden kann, damit am Ende, wo nötig, auch zwischen unterschiedlichen Entwürfen abgewogen werden kann. Versuchen wir doch nicht, die Bürgerinnen und Bürger für dumm zu verkaufen. Vor allen Dingen sollten wir hier nicht wahrheitswidrig absurde Horrorvorstellungen aufbauen. Ich habe den dringenden Wunsch an die Union und auch an die anderen Fraktionen in diesem Hause, dass sie die Chance, die in diesem Entwurf liegt, erkennen und dass sie sich nicht - wir Grünen haben das seit mehr als zehn Jahren schon hinter uns; ich staune, dass Sie jetzt anfangen, diesen Fehler zu begehen - in Fundamentalopposition und Totalverweigerung üben, sondern dass sie mit uns gemeinsam darüber nachdenken, wie man in bestmöglicher Form die Bürgerinnen und Bürger mehr beteiligen kann. Heute Morgen, als ich mit der S-Bahn hierher gefahren bin, habe ich ein riesiges Plakat mit folgendem Schriftzug gesehen - viel Geld wurde dafür ausgegeben, diese Plakate zu kleben -: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“ Derjenige, der das gesagt hat, ist Mitglied der CDU. Es war Roman Herzog. Ich stimme ihm zu. Ich würde mir wünschen, dass Sie von der Union sich endlich einen Ruck geben für eine große, überfällige Reform hin zu mehr Bürgerbeteiligung. 74 Prozent Ihrer Anhängerinnen und Anhänger befürworten die Einführung der Möglichkeit eines bundesweiten Volksentscheids. Ich wäre froh, wenn auch Sie das täten und wir dann gemeinsam dieses Gesetz auf den Weg bringen könnten. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jeder hier im Hohen Haus weiß, dass ohne das Engagement des Kollegen Gerald Häfner, der gerade gesprochen hat, dieser Gesetzentwurf heute nicht zur Debatte stünde. ({0}) Das hat mich daran erinnert, dass ich Sie, Herr Häfner, bei einer Podiumsdiskussion vor ziemlich genau zehn Jahren kennen gelernt habe. Es war eine Veranstaltung der katholischen Kirche. Wie Sie sich denken können, lautete das Thema: Plebiszitäre Elemente im Grundgesetz. Auf dem Podium saßen Sie und Norbert Geis von der CSU. Ich habe die FDP vertreten. Sie vermuten richtig, dass Herr Häfner Argumente vortrug, die ein begeistertes Eintreten für Volksentscheide auf der Bundesebene zum Ausdruck brachten. Vonseiten des Kollegen Geis gab es eine entschiedene Ablehnung und von meiner Seite ein Eintreten für ein vorsichtiges Weiterentwickeln plebiszitärer Elemente - also mehr als eine wohlwollende Enthaltung. Ich erinnere deswegen daran, weil sich die Argumentationen von damals und heute, das Pro und Kontra, das nun wirklich auf der Hand liegt, kaum voneinander unterscheiden. Der Unterschied zu der damaligen Situation besteht allerdings darin, dass die Parteien selbst eine zunehmende Politikverdrossenheit verschuldet haben, und zwar durch Geschehnisse, die an anderer Stelle passiert sind. Gerade in diesem Moment werden solche in der Katholischen Akademie im Rahmen des Untersuchungsausschusses wieder einmal erörtert; der SPD-Spendenskandal ist dort das Thema. Es ist sehr wohl ein plausibles Argument, durch die Schaffung mehr direkter Entscheidungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger dieser zunehmenden Politik- und Parteienverdrossenheit entgegenzuwirken. Das möchte ich ausdrücklich anerkennen. ({1}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Professor Scholz hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es hier um einen fundamentalen Einschnitt in das Entscheidungsgefüge des Grundgesetzes geht. Da muss ich Ihnen wirklich sagen - das ist nicht die Schuld von Gerald Häfner; das wissen auch wir -: Ihr Gesetzentwurf kommt entschieden zu spät. Wenn Sie in den lediglich sieben Sitzungswochen, die in dieser Legislaturperiode verbleiben, hier noch eine so weitreichende und komplexe Materie abhandeln wollen, dann muss man kein Prophet sein, um zu sagen: Bei einer solchen Verfahrensweise wird ein wichtiges Thema eher verschenkt, als dass man damit eine Sternstunde des Parlaments initiiert. Wie komplex die Problematik ist, will ich Ihnen anhand einiger weniger Punkte aufzeigen. Es geht bei der Frage von mehr Mitbeteiligung der Bevölkerung nicht nur um Volksbegehren und Volksentscheid, sondern es geht um ein Bündel von Maßnahmen, an das zu denken ist. Die FDP hat in ihrem Nürnberger Parteitagsbeschluss vom Juni 2000 unter dem Leitsatz „Mehr Demokratie wagen - Vom Parteienstaat zur Bürgerdemokratie“ aufgezeigt, dass die aktuelle Glaubwürdigkeitskrise des demokratischen Parteienstaats - so wurde dort formuliert - eine Generalinventur erfordert. Die Parteienmacht muss zurückgedrängt und die Bürgermacht muss gestärkt werden. Dazu gehört aber vielerlei: Dazu gehört eine klare Gewaltenteilung. Diese beinhaltet unserer Meinung nach auch, dass sich die Parteien nicht an Medienunternehmen beteiligen, die ja die vierte Gewalt im Staat darstellen. Dazu gehört Subsidiarität statt Zentralismus. Dazu gehört weniger Staatswirtschaft und damit automatisch weniger Parteienwirtschaft. Dazu gehört eine Stärkung der Parlamente durch die Aufwertung des einzelnen Mandats gegenüber den Apparaten. ({2}) Dazu gehören die Direktwahl der kommunalen Mandatsträger und schließlich - das ist ein ganz wichtiges Thema auch die Diskussion um die Direktwahl des Bundespräsidenten. Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass es nicht nur um Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide geht. Aber auch dieser kleine Ausschnitt, den Sie heute zur Debatte stellen, wirft natürlich zahlreiche Fragen auf. Möglicherweise empfiehlt es sich, die repräsentative Demokratie schrittweise um Elemente der direkten Demokratie zu ergänzen. Es spricht sehr viel dafür, das Institut der Volksinitiative zunächst einmal praktisch zu erproben. Man wird sehen, ob aus der Bevölkerung Themen an den Bundestag herangetragen werden oder ob es, wie manche befürchten, eher zu einer Art Verbändedemokratie statt zur Bürgerdemokratie führt. Ich meine, dass sowohl von Herrn Häfner als auch von Herrn Scholz manche Punkte schief dargestellt worden sind. Herr Scholz meinte, dass Plebiszite kompromissunfähig seien. Die Praxis in Bayern beweist das Gegenteil. Oft hat schon allein die Androhung eines Volksbegehrens dazu geführt, dass im Parlament Kompromisse gefunden wurden. ({3}) Das Argument stimmt so also nicht. Herr Häfner wiederum meint, dass es ein falscher Kritikpunkt sei, dass die Entscheidung auf ein Ja oder Nein verengt wird. Der Kritikpunkt trifft aber zu. Die Initiatoren eines Volksbegehrens können nämlich auch nach Ihrem Gesetzentwurf ihren eigenen Entwurf im Laufe der Debatte nicht verändern und auch nicht die Elemente aus der Diskussion in den eigenen Entwurf einfügen. Das ist ein elementarer Fehler Ihres Entwurfs; ({4}) denn damit kommt man doch zu dem von Herrn Scholz kritisierten Merkmal der Kompromissunfähigkeit. Wegen der Kürze der Zeit muss ich mich auf diese wenigen Bemerkungen beschränken. Ich kündige an, dass wir Ihnen für die Anhörung im Innenausschuss als Sachverständigen einen Experten aus der Schweiz - er ist Staatsrechtslehrer - vorschlagen werden, damit wir die praktischen Erfahrungen in diesem Land in unsere weiteren Überlegungen einbeziehen können. Ich schlage Ihnen vor: Lassen Sie sich mit uns auf eine Einigung über das Institut der Volksinitiative ein und lassen Sie für alle anderen komplexen Fragen genügend Raum für die Diskussion! Diese wird mehr Zeit in Anspruch nehmen als einige wenige Wochen zum Schluss einer Legislaturperiode. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich zunächst das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 4 a des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes, Drucksache 14/8587 ({0}), bekannt geben: Abgegebene Stimmkarten 557. Davon gültig 555, Enthaltungen 2. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Hans Georg Wagner 489 Stimmen, auf den Abgeordneten Hans Jochen Henke 530 Stimmen, auf den Abgeordneten Oswald Metzger 495 Stimmen, auf den Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt 499 Stimmen und auf den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel 349 Stimmen.1) Damit sind alle Abgeordneten gewählt; denn sie haben die erforderliche Mehrheit von 334 Stimmen erreicht. Nun erteile ich dem Abgeordneten Gerald Häfner das Wort zu einer Kurzintervention.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Stadler, ich möchte kurz auf das eingehen, was Sie gesagt haben. Es ist wirklich wert, sich hierüber aus- zutauschen. Dabei muss ich mich auf einige Punkte be- schränken. Zunächst: Ich habe mich mit meiner Bemerkung zu „Ja“ oder „Nein“ auf das Ende des Verfahrens beim Volksentscheid bezogen. Am Ende kann, wie bei jeder Entscheidung, nur mit Ja oder Nein abgestimmt werden. Das gilt übrigens nicht nur für den Bundestag; auch im 1) Alphabetisches Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2 Leben muss man oft mit Ja oder Nein eine Entscheidung treffen. Selbst die Frage, ob man einen Menschen heiratet, muss am Ende mit Ja oder Nein beantwortet werden, auch wenn es hinsichtlich des Entscheidungsinhalts bzw. der Person denkbar viele Alternativen gäbe. In Kenntnis und Auswertung der internationalen Erfahrungen von Tausenden Volksentscheiden in anderen Ländern haben wir uns für die denkbar vernünftigste, Besonnenheit und Sachlichkeit sichernde Regelung entschieden. Diese ermöglicht es der Initiative, ihr Anliegen schon nach der Volksinitiative noch einmal neu zu überprüfen. Zuvor wird im Bundestag über ihren Vorschlag beraten, sodass die Initiative im Lichte der dort gehörten Argumente überdenken kann, ob sie ihr Anliegen unverändert weiterverfolgt, es verändern will, oder ob sie es ganz aufgibt. Es gibt keinen Automatismus, dass danach ein Volksbegehren stattfinden muss, wie es teilweise in anderen Entwürfen verlangt worden ist, sondern es ist so, dass danach neu entschieden wird. An dieser Stelle können auch Dinge im Entwurf verbessert respektive geändert bzw. kann das ganze Verfahren neu begonnen werden. Schließlich haben wir das Instrument der Konkurrenzvorlage eingeführt. Danach wird dann, wenn ein vielleicht berechtigtes Anliegen aufgegriffen wurde, der Entwurf selbst aber nicht in allen Punkten überzeugt, die Möglichkeit eröffnet, einen zweiten Entwurf als Alternative daneben zu stellen, sodass man dann die Wahl hat. Dieses Verfahren hat sich dort, wo es angewandt wird, etwa auch in Bayern, durchaus bewährt. Es gibt also keine Reduktion auf ein einziges „Ja oder Nein“. Ich möchte einen anderen Punkt in aller Kürze ansprechen. Wir haben jetzt März. Bis zur letzten Sitzungswoche im Juli ist denkbar viel Zeit. Ich habe Ihren Beitrag als Wunsch verstanden und möchte meine Worte umgekehrt als Einladung formulieren, zu dem von uns vorgelegten Entwurf eine unvoreingenommene und gründliche Debatte in den Details zu führen. Sie haben einige zusätzliche Punkte aufgelistet: Änderungen im Parteienrecht beispielsweise oder die Stärkung der Rechte der Abgeordneten und eine umfassende Parlamentsreform. Sie wissen mich da auf Ihrer Seite. Und ich würde mich freuen, wenn Sie noch weitere Punkte nennen würden. Sie würden bei uns sehr viel Unterstützung dafür finden. Nun aber liegt dieser gründlich ausgearbeitete Gesetzentwurf auf dem Tisch. Wir sollten darüber ernsthaft beraten. Ich denke, gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Diskussion über das Thema nun schon 20 Jahre andauert, dass die Monate bis Juli ausreichen, um eine gemeinsame und positive Entscheidung zu finden. Danke sehr. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung hat Herr Dr. Stadler das Wort.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Häfner, das Verfahrensargument ist natürlich nicht das einzige Argument, das in einer solchen Diskussion anzubringen ist. Aber ich muss schon daran erinnern, dass die rot-grüne Koalition im Koalitionsvertrag aus dem Jahre 1998 angekündigt hat, einen Gesetzentwurf über Volksentscheide auf Bundesebene vorzulegen. Sie waren über drei Jahre nicht imstande, diesem Hohen Haus einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen. Das lag auch daran, dass Sie persönlich dem Bundestag vorübergehend nicht angehört haben; denn jeder weiß, dass innerhalb der Koalition Sie der Motor dafür waren, dass es am Ende doch noch zu diesem Gesetzentwurf gekommen ist. Das habe ich auch betont. Aber sehen Sie sich doch die Relation an: Die Koalition braucht nahezu dreieinhalb Jahre für die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes, mutet dem Parlament aber zu, eine solch fundamentale Änderung unseres Rechtssystems in sieben Sitzungswochen abzuhandeln. Dies ist ein Ungleichgewicht. Es spricht viel dafür, dass es notwendig sein wird, dieses Thema auf die nächste Legislaturperiode zu verlagern. Ich will noch kurz etwas zu einem inhaltlichen Punkt, den Sie aufgegriffen haben, sagen. Ein solches Mitwirkungsverfahren muss so ausgestaltet sein, dass das, was im Gesetzgebungsverfahren an Erkenntnissen gewonnen wird - die Sachverständigenanhörungen dürfen nicht nur eine Feigenblattfunktion haben -, auch bei dieser Art von Gesetzgebung Eingang findet. Das ist sehr schwierig. Ich habe mich nicht umsonst auf Schweizer Erfahrungen bezogen. Dort gibt es nämlich ein Referendum mit dem dieses Problem vermieden wird, nämlich das so genannte kassatorische Referendum. Dabei hat die Bevölkerung die Möglichkeit, eine Fehlentscheidung des Gesetzgebers zu korrigieren. Es schadet dann auch nicht, dass nur mit Ja oder Nein entschieden wird. Das ist eine Form des Referendums, über die man sprechen sollte. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass das Grundanliegen Ihres Entwurfs, die Volksinitiative als Möglichkeit das Parlament zu zwingen, sich mit bestimmten Themen zu befassen, unstrittig ist. Es sind aber - bei allem Grundverständnis für Ihr Anliegen - so komplexe Diskussionen zu führen, dass ich nur sage: Wir werden uns dieser Diskussion stellen; jedoch spricht sehr viel dafür, hier „step by step“, wie Herr Wiefelspütz immer sagt, bzw. Schritt für Schritt vorzugehen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der PDS-Fraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über ein zentrales Reformprojekt, das Rot-Grün versprochen hat. Das war allerdings vor knapp vier Jahren. ({0}) Die große Überschrift hieß: „Mehr Demokratie wagen“. Das deckte sich durchaus mit den Ansprüchen der Opposition zur Linken, mit den Ansprüchen der PDS. Wenn ich hier sage: „war“, „hieß“ und „deckte“, so geschieht dies angesichts der Schere, die zwischen der Ankündigung und dem Vorliegenden klafft. Das, was jetzt vorliegt, ist eine Demokratie-light-Version. Außerdem kommt sie zu spät, um ernsthaft den Anspruch auf die notwendige Zweidrittelmehrheit zu erheben. Insofern - bei allem persönlichen Respekt, Kollege Häfner - ist dies weder der große Wurf noch eine große Stunde, was übrigens auch die Anwesenheit vonseiten der Koalitionsfraktionen zeigt. Dies verdeutlicht, wie sehr die Angelegenheit, mehr Demokratie zum Ende der Koalitionszeit zu wagen, Herzenssache von Rot-Grün ist. - Zudem enthält diese Initiative zu hohe Hürden, um tatsächlich mehr direkte Demokratie zu ermutigen. Umso bemerkenswerter ist allerdings die schroffe Abwehr aus den Reihen der Opposition zur Rechten, aus den Reihen von CDU/CSU. ({1}) Dass Sie mit mehr direkter Demokratie auf Kriegsfuß stehen, ist so neu nicht - bis auf eine Ausnahme, zu der ich gleich noch komme. Interessant finde ich die Begründungen, die Sie dazu immer wieder vortragen; denn diese laufen stets darauf hinaus, das letzte Wort müsse allein das Parlament haben und dabei müsse es bleiben. ({2}) Ich gebe zu: Als ich 1998 in den Bundestag einzog, habe ich nicht gedacht, dass ausgerechnet ich Ihnen einmal Nachhilfe in Sachen Grundgesetz geben muss. ({3}) Kollege Scholz hat es aber mit seiner Ablehnung zur Volksgesetzgebung geradezu herausgefordert. Deshalb zitiere auch ich das Grundgesetz, nämlich Art. 20 Abs. 2: ({4}) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt. Um aber abstimmen zu können, bedarf es entsprechender Regelungen. Genau diese fehlen bislang in der Bundesrepublik und um solche geht es in dem vorliegenden Gesetzentwurf. ({5}) Aus Sicht der PDS sind die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen ungenügend. Sie aber wollen keine derartigen Regelungen, um den Verfassungsgrundsatz im Alltag umzusetzen. Ich habe noch ein Wort zur CDU/CSU versprochen: Ihre Geringschätzung jeder Kritik - allemal wenn sie von der so genannten Straße kommt - ist sprichwörtlich, bis auf eine einzige Ausnahme: Immer dann, ({6}) wenn es gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger geht, suchen Sie die Straße, mobilisieren Stammtische und initiieren Unterschriftenlisten. Dann geht Ihnen das Wort des ungewählten Volkes plötzlich über alles. Das war beim Doppelpass so, das ist beim Einwanderungsgesetz so. Das ist einfach widersinnig und schäbig. ({7}) Nun noch einmal zu dem Entwurf: Ich habe schon gesagt, dass er zu spät kommt. Ich muss Sie daran erinnern, dass rechtzeitig ein Angebot der PDS vorlag. Nun mögen wir ja in den Lösungen nicht übereinstimmen. Spätestens unser Papier hätte jedoch Anlass dafür sein können, sachund fachkundig darüber zu reden, wie man Volksinitiativen, Volksbegehren, aber auch Fragen der Mindestbeteiligung und des In-Kraft-Tretens miteinander lösen kann, um dann rechtzeitig Mehrheiten innerhalb des Parlaments und außerhalb des Parlaments für einen solchen großen Schritt zu finden. Insofern habe ich nicht den Optimismus, dass wir in der Anhörung und in den Ausschussberatungen noch zu einem erfolgreichen Abschluss dieses Gesetzesvorhabens kommen werden. Aber vielleicht sollten wir die verbleibenden sieben Wochen nutzen, um für die nächste Legislaturperiode den Boden für die Akzeptanz von mehr direkter Demokratie zu bereiten. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dieter Wiefelspütz von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bedauerlich, dass sich der Kollege Scholz aus guten Gründen - er hat eine andere parlamentarische Verpflichtung - hat entschuldigen lassen. Es wäre schon schön gewesen, mit ihm von Angesicht zu Angesicht zu diskutieren. Man kann zwar über vieles sehr kritisch diskutieren, aber wenn Herr Scholz sagt, dieser Gesetzentwurf bedeute das Ende der Demokratie, dann bleibt Herr Scholz deutlich unter seinem eigenen Niveau. ({0}) Das ist unterirdisch - sagen Sie das bitte Herrn Scholz weiter, lieber Herr Geis - oder auch grottenschlecht und nicht die Argumentationshöhe, auf der wir über eine solch wichtige Frage reden sollten. Ich möchte mit der gebotenen Nüchternheit darauf hinweisen, Frau Pau, dass erstmals im Deutschen Bundestag eine parlamentarische Mehrheit für mehr direkte Demokratie besteht. Das ist noch keine verfassungsändernde Mehrheit, aber es gibt im Hause eine Mehrheit für die Einführung plebiszitärer Elemente. Das ist immerhin ein Sachverhalt, den es mit der gebotenen Nüchternheit, aber auch mit dem gebotenen Selbstbewusstsein zum Ausdruck zu bringen gilt. ({1}) Auch wenn so etwas drei Jahre dauert, Frau Pau, und möglicherweise mit dem besonderen Engagement von Herrn Häfner, Herrn Bachmaier und anderen zu tun hat, verdient das durchaus Anerkennung. Wir haben keinen Paradigmenwechsel vor. Die repräsentative parlamentarische Demokratie in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben auch keinen Grund, uns für unser Grundgesetz zu entschuldigen. Das ist ein großartiger politischer Text auch in den Institutionen, die sich immer wieder bewährt haben. Auch zählt im Parlament - in diesem Fall im Deutschen Bundestag - nicht unbedingt die Masse, sondern die Qualität derjenigen, die sich an der Diskussion beteiligen. Was wir heute vorlegen, lohnt es meiner Meinung nach, weiter erörtert zu werden. Herr Bachmaier hat bereits darauf hingewiesen: Vieles ist ein Angebot. Über manches kann und muss man noch reden. Wir führen dazu eine große Anhörung durch. Die 14. Wahlperiode des Deutschen Bundestags dauert bis Ende September bzw. Mitte Oktober. Wir wollen die gesamte Zeit, die uns zur Verfügung steht, nutzen. Ich verstehe nicht, dass von sechs oder sieben Wochen, die wir noch haben, die Rede ist. ({2}) Ich finde es auch sehr seltsam, wenn der Eindruck erweckt wird, plebiszitäre Demokratie sei nur etwas für regionale Bereiche. Bayern ist doch größer als mancher Mitgliedstaat der UNO und das Land Nordrhein-Westfalen ist größer und bevölkerungsreicher als die Niederlande. Wenn dort Entscheidungen über die direkte Demokratie gefällt werden, mag es sich zwar nicht unbedingt um Steuergesetzgebung handeln, aber es sind keine unwichtigen Entscheidungen. Auch in Bayern werden keineswegs unwichtige Entscheidungen getroffen. Ich sage Ihnen eines sehr deutlich - auch im Widerspruch zu Herrn Scholz -: Das erste Wort in unserem Land bzw. in der parlamentarischen Demokratie hat das Volk. Das Volk hat bei uns auch das letzte Wort. ({3}) Das steht in anderer Form auch in unserem Grundgesetz. Ich sage Ihnen aus tiefer Überzeugung, Herr Geis: Sie und ich sind als Parlamentarier nicht klüger als das Volk, das wir vertreten. Ich rate übrigens auch allen, nicht immer davon zu reden, dass wir Abgeordnete seien. Wir sind Volksvertreter. ({4}) Wenn wir über mehr direkte Demokratie, über Plebiszit, Volksentscheid usw. sprechen, dann geht es nicht darum, unsere Verfassungsordnung umzukrempeln, sondern darum, unsere bewährte parlamentarische Demokratie mit Augenmaß weiterzuentwickeln. Ich bin der festen Überzeugung, dass es gar nicht nur um Ja oder Nein geht; Herr Häfner hat darauf hingewiesen. Wieso soll das Volk nicht dazu in der Lage sein, komplexe Entscheidungen zu treffen? Auch die Wahlentscheidung am 22. September ist eine hoch komplexe Entscheidung. Jeder Bürger wird sie sich sehr sorgfältig überlegen. Die Vorstellung, es gehe um eine Schwarz-Weiß-Entscheidung, um ein einfaches Ja oder Nein, entspricht doch nicht der Wirklichkeit. Herr Geis, mich wundert Ihre Angst und Sorge vor mehr direkter Demokratie. Ich nenne Ihnen einmal ein eher ironisches Argument: Wenn Sie erst einmal begriffen haben werden, wie viel Musik in diesem Thema steckt, könnte es sogar für die Koalition schwierig werden; denn über manche Details kann man mit Fug und Recht reden. Das ist von Herrn Scholz mit durchaus erwägenswerten Argumenten hier vorgetragen worden. Wieso dann die Angst vor Entscheidungen des Volkes? In diesem Punkt sind wir aber gesprächs- und verhandlungsbereit. Man kann sogar darüber reden, ob das Volk nicht auch über Steuerrecht und Grundgesetzänderungen entscheiden kann, da man keine Sorge davor zu haben braucht, dass auch hoch bedeutsame Entscheidungen vom Volk getroffen werden. Hier sollten wir alle dem Volk, das wir vertreten, etwas zutrauen. Ich bin froh, dass wir heute eine parlamentarische Mehrheit für dieses Projekt haben. ({5}) Ich bin froh darüber, dass wir in Gestalt der öffentlichen Anhörung nach Ostern ein öffentliches Forum haben werden. Das Thema wird - das verspreche ich Ihnen - nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. Wir werden dieses Thema regeln müssen. Wir wären auch an Teillösungen wie der Stärkung des Petitionsrechts oder der Volksinitiative interessiert. Wir sollten jede Chance nutzen, unsere erfolgreiche Demokratie weiterzuentwickeln. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nun hat sich noch ein Kollege zu Wort gemeldet, nämlich der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion. ({0}) - Ja, er hat noch fünf Minuten Redezeit.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde die fünf Minuten nicht ausschöpfen. Ich war von meiner Fraktion nicht als Redner vorgesehen worden. Aber ich bin so oft angesprochen worden, dass ich noch schnell drei Punkte dazu klarstellen möchte. Erstens. Sie meinen es mit Ihrem Gesetzgebungsvorschlag selbst nicht ganz ernst. Anderenfalls sähen Sie keine Ausnahmen vom Volksentscheid vor. ({0}) Das ist ein Zeichen dafür, dass Sie dem Volk nicht alles zutrauen. Insofern ist Ihr Gesetzentwurf nicht ganz plausibel und vielleicht auch nicht ganz glaubwürdig. Zweitens. Sie sollten ein wenig vorsichtiger mit dem umgehen, was in diesem Haus an Gesetzgebungsarbeit geleistet wird. Oft kann eine sehr komplizierte Materie erst nach mehreren Anhörungen, nach mehreren Debatten und Abwägungsprozessen sowie nach mehreren Gesprächen der Berichterstatter im Ausschuss verabschiedet werden. Danach muss sie noch einmal im Plenum beraten und verabschiedet werden. So etwas ist - das werden Sie mir zugeben - in dem Meinungsbildungsprozess einer Volksinitiative natürlich nicht möglich. Sie können von der Bevölkerung auch nicht verlangen, dass sie sich in eine einzelne Sachfrage so einarbeitet, wie man es von einem Vertreter des Volkes verlangen kann und muss. Dafür sitzt er hier; er ist von der Bevölkerung in dieses Parlament abgeordnet worden, damit er sich um diese Angelegenheit besser, intensiver und vielleicht auch mit mehr Sachverstand kümmern kann, als es ein Geschäftsmann, ein Arbeiter an der Drehbank oder eine Erzieherin im Kindergarten tun könnte. Diese haben einen anderen Beruf und damit auch andere Sorgen und können sich nicht so in Details von Gesetzgebungsfragen vertiefen. Das ist eine Lebenserfahrung, die man bei dieser Debatte nicht wegwischen sollte. ({1}) Drittens. Man darf natürlich auch nicht das Prinzip der Verantwortlichkeit in einer Massendemokratie übersehen. Man kann eine Partei dafür verantwortlich machen, wenn sie eine falsche Entscheidung trifft. Man kann einen Politiker verantwortlich machen, wenn er eine falsche Entscheidung trifft oder wenn man mit seiner Entscheidung nicht einverstanden ist. Aber man kann nicht all diejenigen, die im Rahmen eines Volksentscheides eine Entscheidung getroffen haben, verantwortlich machen, wenn die Entscheidung - das kann ja auch sein - falsch und nicht im Sinne der Fortentwicklung des Volkes ist. Das Prinzip der Verantwortlichkeit sollten Sie bei dieser Debatte nicht außer Acht lassen. Ich wollte das nur noch einmal deswegen anmerken, weil ich darauf öfter angesprochen worden bin. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/8503 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Erwin Marschewski ({0}), Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Straftaten der organisierten Kriminalität und des Terrorismus - Drucksache 14/6834 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Kronzeugenregelungen im Strafrecht ({2}) - Drucksache 14/5938 ({3}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung ({4}) - Drucksache 14/6079 ({5}) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsauschusses ({6}) - Drucksache 14/8627 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Volker Kauder Volker Beck ({7}) Dr. Evelyn Kenzler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Volker Kauder von der CDU/CSUFraktion.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die organisierte Kriminalität und der Terrorismus sind eine ernsthafte Bedrohung für den inneren Frieden unserer Gesellschaft. Gewaltakte, Tote und ungeheure materielle Schäden sind die Auswirkungen auf die Öffentlichkeit. Es wäre ein gefährlicher Irrtum, gerade diese Kriminalitätsform zu unterschätzen. Es ist die vornehmste Aufgabe des Staates, den inneren Frieden unserer Gesellschaft zu schützen; denn nur so wird dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben, seine persönliche Freiheit zu leben, wie es das Ideal unserer Staatsverfassung ist. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist davon überzeugt, dass dieses hohe Ziel dauerhaft nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn das Ausmaß der inneren Sicherheit in Deutschland spürbar erhöht wird. ({0}) Auch in diesem Punkt, der inneren Sicherheit, muss ein Ruck durch Deutschland gehen. Genau dieses Ziel hatten wir vor Augen, als wir uns im Sommer 2001 - ich betone: im Sommer 2001 - entschlossen haben, den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der eben genannten Straftaten in den Bundestag einzubringen. Das Vorhaben, der zunehmenden Bedrohung unserer Gesellschaft durch bestimmte, besonders gefährliche Verbrechensformen Einhalt zu gebieten, wurde damals von der Bundesregierung mit Desinteresse quittiert. Erst nach dem 11. September, Herr Staatssekretär Pick, hat die Bundesjustizministerin auf einmal von ganz neuen Herausforderungen gesprochen. Ich werfe der Bundesregierung vor - dafür gibt es keine Entschuldigung -, dass sie den schon damals bekannten Gefahren durch die organisierte Kriminalität und den Terrorismus zu wenig Beachtung geschenkt hat. ({1}) Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung, welches auch durch den hinlänglich bekannten Aktionismus nach dem 11. September nicht mehr wettgemacht werden kann. Im Gegensatz zur Bundesregierung haben verantwortungsbewusste Politiker aus den Bundesländern dieses drängende Problem deutlich und viel früher erkannt. Ihre Wachsamkeit hat die beiden sehr vernünftigen Gesetzentwürfe des Bundesrates hervorgebracht, über die wir heute mitberaten. Die Bundesratsentwürfe und unser eigener Gesetzentwurf zielen in ein und dieselbe Richtung: Die Situation der Menschen in Deutschland soll dadurch verbessert werden, dass dem Staat ein besseres straf- und strafverfahrensrechtliches Instrumentarium an die Hand gegeben wird. Worum geht es im Einzelnen? Zuerst wollen wir den Verbrechern den Geldhahn zudrehen. Das ist bisher nicht leicht und nicht weitgehend genug möglich. Die rechtlichen Instrumentarien sollen jetzt auf den neuesten Stand gebracht werden, um kriminell erlangte Gewinne noch besser als bisher abschöpfen zu können. Insbesondere die so genannten mittelbaren Gewinne müssen durch die Abschöpfung erreicht werden. Durch den wirklich effektiven Entzug finanzieller Mittel kann man die bandenmäßige Schwerstkriminalität äußerst wirksam treffen. Dabei geht es nicht nur um den luxuriösen Lebenswandel der Kriminellen; es geht vor allem um die Verhinderung der Finanzierung neuer Straftaten. ({2}) Wir müssen verhindern, dass Mittel, die durch organisierte Kriminalität gewonnen wurden, wieder in neue Aktivitäten der organisierten Kriminalität investiert werden. ({3}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Telekommunikationsüberwachung. Der für diese Überwachung geschaffene Straftatenkatalog muss dringend aktualisiert werden. Es müssen endlich auch Delikte wie Bestechung, Menschenhandel und Computerbetrug in die Überwachung einbezogen werden; anderenfalls hinkt der Staat in seinen rechtlichen Möglichkeiten den Entwicklungen im täglichen Leben hinterher. Dies gilt ebenso für den Einsatz verdeckter Ermittler. Es ist wirklich an der Zeit, eine klare Rechtsgrundlage zu schaffen, die zeitgemäße Ermittlungen rechtlich absichert. ({4}) - Herr Kollege Stünker, an Ihrer Stelle würde ich mich in diesem Punkt außerordentlich zurückhalten; denn Sie haben im Rechtsausschuss selbst erklärt, Sie seien durchaus der Meinung, dass man etwas tun müsse, seien aber durch Ihre Koalition gehindert, etwas zu tun. ({5}) Das können Sie nicht Ihrem Koalitionspartner, den Grünen, vorwerfen; denn Sie sind der stärkere Teil und stellen den Bundeskanzler. Ich wäre an Ihrer Stelle in diesem Punkt etwas zurückhaltender. ({6}) Ein entscheidender Ansatz, ein Kernstück unseres Gesetzentwurfs, ist die Einführung einer neuen Kronzeugenregelung. Die frühere Kronzeugenregelung ist von der rotgrünen Bundesregierung nicht verlängert worden offenkundig, ohne sich Gedanken darüber gemacht zu haben, wie es danach weitergehen soll. Mit unserem Entwurf haben wir eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung vorgelegt. Sie greift ein, wenn Straftaten vorliegen, die dem Kernbereich der organisierten Kriminalität und des Terrorismus zuzurechnen sind. Natürlich können solche Normen nicht allein im Raum stehen. Sie sollen daher durch strafprozessuale Bestimmungen flankiert werden, die einem Missbrauch effektiv vorbeugen. In diesem Punkt befinden wir uns auf einer Linie mit dem Bundesrat. Der von den Ländern vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung der Kronzeugenregelungen im Strafrecht zielt genau in die richtige Richtung. Gerade diese Kronzeugenregelung ist auch der Grund dafür, dass SPD und Grüne unseren Gesetzentwurf länger auf der Ausschussebene gehalten haben, als es der Sache dienlich war. Hier hätte schnell Abhilfe geschaffen werden können. ({7}) Stattdessen hat die Regierungskoalition lange diskutiert, um in dieser wichtigen Frage in dieser Legislaturperiode am Ende wahrscheinlich zu keinem Ergebnis mehr zu kommen. Hatte die Koalition ursprünglich einen eigenen Entwurf für eine Kronzeugenregelung ins Auge gefasst, den wir selbstverständlich geprüft und gegebenenfalls mitgetragen hätten, ({8}) so ist die Sache jetzt wohl letztlich gescheitert. Wir haben viel wertvolle Zeit verloren und es ist einmal mehr deutlich geworden, dass SPD und Grüne ernsthafte Probleme mit dieser Rechtsmaterie haben. Anscheinend meinen die Grünen, dies sei ein ideales Vorhaben, um sich wieder einmal auf überholte Positionen einer Fundamentalopposition zurückziehen zu können. ({9}) Das Verhalten der Koalition ist umso unverständlicher, als sich in der öffentlichen Anhörung zu diesem Thema nahezu alle Sachverständigen aus der Praxis zu einer neuen Kronzeugenregelung sehr positiv geäußert haben. Die Schaffung einer solchen Regelung wurde aus Sicht der Praxis vielfach ausdrücklich begrüßt. Von den Experten ist bestätigt worden, dass eine Vielzahl schwerster terroristischer Verbrechen ohne die frühere Kronzeugenregelung, die ja ausgelaufen ist, nicht hätte aufgeklärt werden können. Die Staatsschutzsenate der Oberlandesgerichte in Düsseldorf, Celle, Frankfurt, Stuttgart und München haben in den 90er-Jahren gerade mithilfe der Kronzeugenregelung immer wieder Verfahren erfolgreich abschließen können. Eine Kronzeugenregelung zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität ist nicht nur kriminalpolitisch sinnvoll, sondern sie ist auch schlicht unverzichtbar. ({10}) Die für die Verfolgung und Bekämpfung krimineller Gruppierungen notwendige Kenntnis der inneren Strukturen und Entscheidungsabläufe kann immer weniger durch verdeckte Ermittlungsarbeit erworben werden. Konspirativ abgeschottete Strukturen können nur durch starke Offenbarungsanreize für Mittäter aufgebrochen werden. Im Bereich der Rauschgiftkriminalität kann nach geltendem Recht Aufklärungs- und Präventionshilfe von Beschuldigten in einem Strafverfahren bei der Strafbemessung berücksichtigt werden. ({11}) Hier verfügen wir über langjährige gute Erfahrungen. Die strafrechtliche Praxis wendet die Normen regelmäßig an. Deshalb haben wir uns bei unserem Entwurf an der erfolgreichen so genannten kleinen Kronzeugenregelung des § 31 des Betäubungsmittelgesetzes orientiert. Die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen können also schnell in die Praxis umgesetzt werden. Ich wundere mich darüber, dass die SPD nach den vollmundigen Ankündigungen ihres Innenministers, man werde alles tun, um die innere Sicherheit zu gewährleisten, in diesem so wichtigen Punkt nicht vorankommt. Es ist ein weiteres Zeichen dafür - viele andere könnten wir anführen -, dass das rot-grüne Projekt ausgedient hat. Es nützt dieser Gesellschaft nicht mehr. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauder, nachdem Sie Ihre Wahlrede gehalten haben, ({0}) darf ich jetzt vielleicht noch einmal auf das Thema zurückkommen, mit dem wir uns hier heute Nachmittag beschäftigen. Wir haben auf Ihren Antrag hin nach § 62 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung Bericht darüber zu erstatten, welchen Stand der Beratung wir im Rechtsausschuss erreicht haben, unter anderem bei der von Ihnen angesprochenen Frage einer Nachfolgeregelung für die Kronzeugenregelung. Es ist richtig, Herr Kollege Kauder, dass wir als Koalitionsfraktionen nach den bisherigen intensiven Beratungen und Sachverständigenanhörungen im Rechtsausschuss bis heute eine Ergänzung der Kronzeugenregelung im Strafrecht nicht vornehmen können. Ich akzeptiere, dass Sie das kritisieren, aber nicht, wie Sie es kritisieren. Die CDU/CSU hat diese Entwicklung nämlich in den letzten Tagen in einer Pressemitteilung als schweren Rückschlag für die Bekämpfung von Terror und schwerer Kriminalität bezeichnet. ({1}) Starke Worte, Herr Kollege Geis, aber Sie werden damit wieder als Bettvorleger landen. Das garantiere ich Ihnen. Worüber reden wir hier eigentlich? Wir reden doch darüber, dass wir Straftätern, die schwerste Straftaten begangen haben - Mord, Totschlag, räuberische Erpressung oder andere -, Straferlass bzw. Straffreiheit dafür geben wollen, dass sie in ihrem Strafverfahren gegen andere Personen aussagen und dadurch Straftaten aufgeklärt werden können oder möglicherweise die Begehung neuer Straftaten verhindert werden kann. ({2}) Darum geht es. Interessanterweise hat zu dem Umstand, dass wir bis heute noch keine neue Regelung vorgelegt haben, der Deutsche Anwaltverein am 14. März eine Presseerklärung herausgegeben, aus der ich einmal zitieren darf. Dort steht: Mit einer Kronzeugenregelung wären die Risiken für die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Entscheidungen der Justiz, insbesondere die Gefahr von Falschbelastungen erheblich gewesen. „Kronzeugenregelungen sind unnütz und riskant“ - so ein Vertreter des Deutschen Anwaltvereins. Es entspräche einer allgemeinen Erfahrung, dass Straftäter immer wieder ihre eigene Verantwortung entweder ganz leugnen oder auf andere abwälzen, um selbst einer Strafe ganz zu entgehen oder diese zu mildern. Daraus werde deutlich, dass eine Kronzeugenregelung der Wahrheitsfindung nicht dienen könne. Soweit der DAV, der ja sicherlich nicht im Verdacht steht, Sozialdemokraten sehr nahe zu stehen. ({3}) Meine Damen und Herren, es liegen Welten zwischen diesen beiden Erklärungen. Sie haben eine populistische, rein politische Erklärung abgegeben, in der anderen Erklärung sorgt man sich um die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Entscheidungen der Justiz in diesem Land. Angesichts dieses breiten Meinungsspektrums meine ich schon, dass es sinnvoll und richtig ist, wenn wir uns bei der Beratung einer Neuregelung Zeit lassen und sehr gründlich unter Hinzuziehung des gesamten Sachverstandes nachdenken, wie denn diese Neuregelung aussehen soll. ({4}) Sie beschwören Gefahren für die innere Sicherheit. Kolleginnen und Kollegen, wir haben kurz vor Weihnachten hier in einem wirklich guten Akt des Parlamentarismus mit dem Schily-II-Paket Regelungen auf den Weg gebracht, mit denen wir auch die Lücken, die vermeintlich noch da sind, schließen, die innere Sicherheit in unserem Land noch verbessern und den guten Schutz noch stärken. ({5}) - Kollege Geis, malen Sie nicht zu Wahlkampfzwecken schwarz und machen Sie den Menschen in diesem Land nicht laufend Angst. ({6}) Zudem, Herr Kollege Geis, ist die rechtstatsächliche Bedeutung der so genannten Kronzeugen, die von Ihnen und von Ihren konservativen Kolleginnen und Kollegen immer so beschworen wird, für die Praxis wirklich marginal. Die Gerichte in Deutschland haben im Strafprozess andere Probleme als die Probleme, die Sie mit einer Kronzeugenregelung lösen wollen. ({7}) - Ja, Herr Kollege Geis, ich kenne also die Praxis nicht. ({8}) - Herr Kollege Geis, Ihre Zwischenrufe können nicht verbergen, dass Sie in dem Thema nicht mehr drinstecken. ({9}) Herr Kollege Geis, ich bleibe dabei, dass sich die am 31. Dezember 1999 ausgelaufene alte Kronzeugenregelung nicht bewährt hat. ({10}) In keinem Fall ist es mithilfe dieser Regelung gelungen, Täter aus terroristischen Vereinigungen herauszubrechen oder terroristische Straftaten zu verhindern. Auch im Kampf gegen das organisierte Verbrechen hat die alte Kronzeugenregelung versagt. Diese Regelung schuf eher Anreize zu falschen Verdächtigungen und Denunziationen. Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Kronzeugen waren deshalb immer angebracht. Diese Zweifel teilen im Grunde genommen die Antragsteller der jetzt vorliegenden Entwürfe, also die CDU/CSU und der Bundesrat. In diesen Entwürfen wird vorgeschlagen - das soll neu sein -, an 23 Stellen im Strafgesetzbuch bzw. in strafrechtlichen Nebengesetzen nunmehr spezielle Kronzeugenregelungen zu implementieren, die nur für die Verletzung der dort genannten Straftatbestände gelten sollen. Von den bisher genannten Kronzeugenregelungen unterscheiden sich die Entwürfe aber vor allen Dingen dadurch - der Kollege Kauder hat dazu eben gar nichts gesagt; das haben Sie hineingeschrieben, weil Sie Zweifel haben; auch Wissenschaft und Praxis teilen diese Zweifel -, dass § 362 der Strafprozessordnung um einen neuen Wiederaufnahmetatbestand, nämlich um die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten, ergänzt werden soll. Das heißt, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren kann zuungunsten eines Angeklagten wieder aufgenommen werden. Das gilt speziell für Täter, die von einer Kronzeugenregelung - sozusagen in Ihrem Sinne - bedacht worden sind. Das erkennende Gericht, das eine Kronzeugenregelung strafmildernd angewandt hat, soll in seinem Urteil neben der tatsächlich verhängten Strafe auch die fiktive Strafe, die ohne Anwendung der Kronzeugenregelung verwirkt gewesen wäre, festsetzen. Was heißt das eigentlich? Es gibt also einen neuen Wiederaufnahmegrund für den Fall, dass sich im Nachhinein herausstellt, dass der Angeklagte in einem vorausgegangenen Verfahren als Kronzeuge die Unwahrheit gesagt hat, um sich Strafmilderung oder das Absehen von Strafe zu erkaufen. Die fiktive Strafe, die neben der eigentlichen Strafe festgesetzt worden ist, soll im Nachhinein als reale Strafe verhängt werden. Herr Kollege Geis, das ist eine wahrlich komplizierte Regelung. Da graust es den strafprozessrechtlichen Praktiker. So etwas können sich nur Schreibtischtäter ausgedacht haben. ({11}) Wer die Kompliziertheit des bereits jetzt geltenden Wiederaufnahmerechts kennt, weiß, vor welche fast unlösbaren Probleme der Tatrichter mit einer derartigen NeuregeJoachim Stünker lung gestellt würde. Herr Kollege Geis, Sie können sicher sein: Die Kolleginnen und Kollegen in diesem Lande werden dankbar dafür sein, dass die Mitglieder meiner Fraktion dafür Sorge tragen werden, dass die uns von Ihnen hier vorgeschlagene Regelung nicht Gesetz werden wird. ({12}) Dennoch gibt es Fälle - da treffen sich unsere Beurteilungen -, in denen eine allgemeine Kronzeugenregelung kriminalpolitisch sinnvoll und auch erforderlich ist. Ich denke an den breiten Bereich der organisierten Kriminalität. Die SPD-Fraktion strebt daher eine Strafzumessungsvorschrift im allgemeinen Strafrecht mit einem neuen § 46 b StGB an. Mit dieser Vorschrift können bestimmte kooperative Verhaltensweisen, die zur Aufklärung begangener oder zur Verhinderung zukünftiger Straftaten führen, stärker als bisher strafmildernd berücksichtigt werden. Dies ist dann jedoch nicht deliktspezifisch, sondern gilt allgemein, also für jeden Straftäter; jeder Straftäter kann nach dieser Vorschrift strafmildernd behandelt werden. Die Untergrenze der vorgesehenen Strafmilderung soll fünf Jahre betragen, wenn die Tat ausschließlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, also bei Mord, oder wenn das Gesetz neben lebenslanger Freiheitsstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe vorsieht. Im Übrigen soll die Strafe gemäß § 49 Abs. 2 StGB gemildert werden können. Mit einer solchen Regelung schaffen wir keine Lex specialis für einige Schwerstkriminelle, sondern eine Lex generalis für alle Menschen in diesem Land. Das allein, Herr Kollege Geis, ist verfassungsrechtlich in Ordnung, also verfassungskonform. ({13}) Das ist kriminalpolitisch die einzig sinnvolle Regelung. Wie ich Ihnen schon vor ein paar Wochen gesagt habe, werden wir eine entsprechende Regelung vorlegen. ({14}) Eine solche Regelung bleibt Gegenstand des Pakets, mit dem wir auf dem Gebiet der inneren Sicherheit weitere Verbesserungen bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität in diesem Land auf den Weg bringen werden, Herr Kollege Geis. Der Kollege Beck schüttelt den Kopf. Dazu kann ich nur sagen: Wir werden an diesem Thema weiterarbeiten und wir werden Ihnen solch eine Regelung rechtzeitig vorlegen. Wenn wir die neue Kronzeugenregelung bis Mai oder Juni nicht mehr verabschieden sollten, Herr Kollege Geis, geht der Rechtsstaat daran nicht zugrunde. Schönen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bisherige Debatte hat viele gute Gründe dafür aufgezeigt, warum eine neue Kronzeugenregelung kommen soll und kommen muss. Ich kann dem Kollegen Stünker ausdrücklich Recht geben, wenn er sagt, dass der Einsatz der Kronzeugenregelung beispielsweise für den Bereich der organisierten Kriminalität zu empfehlen ist. Wir wissen das durch die Forschungen, die der frühere Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover und jetzige sozialdemokratische Justizminister Professor Pfeiffer in dieser Frage durchgeführt hat. Er hat Experten befragt und deren Meinungen und Erfahrungen eingeholt. Das Ergebnis war klar und eindeutig, nämlich der Ruf nach einer neuen rechtsstaatlichen Kronzeugenregelung. Wir als FDP-Bundestagsfraktion unterstützen das nachdrücklich. Ich habe bislang auch kein einziges Argument dagegen gehört, das wirklich durchschlagend wäre. Wir wissen alle, dass es gerade bei der organisierten Kriminalität außerordentlich schwierig ist, in den Kernbereich einzudringen. Aus den Erfahrungen in vielen anderen Ländern, die sehr viel mehr Probleme mit organisierter Kriminalität haben, ist uns bekannt, dass Kronzeugenregelungen sehr erfolgreich waren. Dass eine Kronzeugenregelung durchaus rechtsstaatlich ist, zeigt das hier schon angeführte Beispiel des § 31 des Betäubungsmittelgesetzes. In diesem Bereich setzen wir eine Kronzeugenregelung schon seit langem ein. All die Probleme, die hier aufgezeigt worden sind, sind auch dort vorhanden. Trotzdem haben wir damit gute Erfahrungen gemacht, von denen wir uns leiten lassen sollten. Die Vorstellung der FDP ist nicht, eine Lösung zu finden, die darin besteht, dass die Kronzeugenregelung in vielen Paragraphen vorgesehen wird, wie es die CDU/ CSU vorschlägt. Unsere Überlegungen gehen in die Richtung, wie Sie, Herr Stünker, sie vorgetragen haben. Ich glaube, dass der Weg, der von Ihnen aufgezeigt worden ist, Erfolg versprechen kann. Für uns ist allerdings wichtig, dabei die Rechtsprechung zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung hat deutlich gemacht, dass die Verurteilung aufgrund der Anwendung einer Kronzeugenregelung nicht allein auf der Aussage des Kronzeugen beruhen darf. Das sollten wir in der Lösung ausdrücklich herausstellen. Wir sollten aufnehmen, was die Rechtsprechung uns aufgegeben hat. Aber eine generelle Lösung wäre auch die Vorstellung der Liberalen in diesem Zusammenhang. Es gibt also - das muss man feststellen - eine breite Mehrheit der Vernunft in diesem Haus. Ich bin ganz sicher, dass auch die CDU/CSU in Richtung der Lösung, die Sie aufgezeigt haben, gesprächsbereit gewesen wäre; denn wir wollen alle, dass Täter im Bereich von schwerster Kriminalität gefasst und Menschen nicht weiterhin Opfer werden, und das soll mit einer vernünftigen Lösung erreicht werden. Trotzdem müssen wir heute feststellen, dass die Neuregelung abgelehnt wird. Es gibt - vielleicht außer der PDS - nur eine einzige Fraktion, und zwar eine Regierungsfraktion - nämlich die Grünen -, die sie ablehnt. Wir werden gleich wieder all die Dinge hören, die wir seit langem hören und die in der Expertenanhörung widerlegt worden sind. Deshalb ärgert mich das ganz außerordentlich. Wir als Liberale sagen: Wir wollen Opferschutz und nicht Täterschutz, insbesondere nicht den Schutz von Tätern im Bereich von schwerster Kriminalität. Einen zweiten Aspekt möchte ich ansprechen, weil auch er Gegenstand der jetzigen Beratung ist. Der Bundesrat hat vorgeschlagen, einige Kompetenzen von der Staatsanwaltschaft auf die Polizei zu verlagern. Ein gängiges Argument dagegen ist, dass die Staatsanwaltschaft juristisch besser ausgebildet sei und sie deshalb besser in ihren Händen lägen. Wenn man, wie ich, gelernter Oberstaatsanwalt ist, dann neigt man dazu, dem sehr schnell zuzustimmen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sich die Ausbildung der Polizei gerade im rechtlichen Bereich enorm verbessert hat, beispielsweise durch die Fachhochschulausbildung, die die Polizeikommissaranwärter erhalten. Das heißt, wir haben bei der Polizei andere Verhältnisse, als wir sie vielleicht noch vor 30, 40 Jahren hatten. Man kann über die eine oder andere Änderung nachdenken. Aber es macht mir Sorge, dass wir immer wieder Anstrengungen beobachten können, die Zuständigkeiten von der Staatsanwaltschaft weg und hin zur Polizei zu verlagern. Ich werbe sehr dafür, dass wir das außerordentlich vorsichtig tun. ({0}) Es gibt Tausende von guten Gründen, dass die Staatsanwaltschaft Herrin des Ermittlungsverfahrens bleibt und dass sie die rechtliche Verantwortung und Aufsicht hat. Das ist die Begründung, warum wir die entsprechenden Gesetzentwürfe des Bundesrates ablehnen. Ich appelliere an die Vernunft. Herr Stünker, ich darf Ihnen als dem Sprecher der Sozialdemokraten ausdrücklich versichern, dass wir zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit für einen besseren Opferschutz und für eine rechtsstaatliche Kronzeugenregelung bereit sind. Wir bringen uns gerne in dieses Verfahren ein. Es vergeht nicht mehr viel Zeit bis zum 22. September. Spätestens ab diesem Zeitpunkt werden wir zu einer vernünftigen Kronzeugenregelung kommen, weil dann die Grünen in diesem Lande Gott sei Dank kein Sagen mehr haben. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr van Essen, ich kann nur sagen: Dream on, boy. Da war der Wunsch Vater des Gedankens. Wir werden Ihnen in der Koalition nach dem 22. September Mores lehren und werden in der Innen- und Rechtspolitik unseren erfolgreichen rechtsstaatlichen Kurs bei der Schaffung der inneren Sicherheit fortsetzen. Die Koalition hat in dieser Legislaturperiode bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie man gegen organisierte Kriminalität und gegen Strukturen des Terrorismus zielgenau und rechtsstaatskonform vorgeht. Ich möchte daran erinnern, dass die FDP nicht zugestimmt hat, als wir unser großes Gesetzespaket vorgelegt haben. Der 11. September hat uns eine neuartige schreckliche Dimension des internationalen Terrorismus vor Augen geführt. Wir haben darauf mit einem umfangreichen Sicherheitspaket - Herr Stünker hat es als Schily II bezeichnet reagiert. Wir haben dabei die Balance gehalten und nicht einfach all das aufgegriffen, was sich Polizei und Geheimdienste in einer solchen Situation wünschen. Wir haben vielmehr darauf geachtet, dass dieses Paket zielgenau bleibt und dass es rechtsstaatlich, kontrolliert und auch datenschutzkonform implementiert wird. Es waren gerade die Grünen, die bei dem Sicherheitspaket auf diese Aspekte geachtet haben. Weil wir die Balance gehalten haben, konnten wir es mit großer Überzeugung durch die parlamentarischen Gremien bringen. Karlsruhe hat gestern deutlich gemacht, wie man mit einer populistischen Rechtspolitik verfährt, die jedes Augenmaß vermissen lässt. Man kassiert die entsprechenden Gesetze kurzerhand ein, weil sie verfassungswidrig sind. Ich bin mir sicher, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass vieles von dem, was in Ihrem Gesetzentwurf hinsichtlich der organisierten Kriminalität enthalten ist, in Karlsruhe ebenfalls den Stempel „verfassungswidrig“ aufgedrückt bekäme. ({0}) - Beispielsweise verweisen Sie in Ihrem Gesetzentwurf auf Normen, die gestern aufgehoben wurden. Da diese Normen nicht mehr in Kraft sind, ist Ihr Gesetzentwurf ein Nullum. ({1}) - Beim Arzneimittelgesetz haben Sie das Urteil von gestern nicht zur Kenntnis genommen und haben uns heute einen unveränderten, als verfassungswidrig zu bezeichnenden Gesetzentwurf vorgelegt. ({2}) Würden Sie es mit Ihrem Vorhaben ernst meinen, dann hätten Sie einen Änderungsantrag eingebracht. Sie hätten dann im Übrigen auch bemerkt, dass die Probleme im Zusammenhang mit § 12 FAG schon längst von der Koalition gelöst wurden. Das ist alles kalter Kaffee aus der letzten Legislaturperiode. Man kann zwar darauf verweisen, dass Sie den Gesetzentwurf schon im August eingebracht haben. Aber Sie müssen trotzdem zur Kenntnis nehmen, dass sich die Lage in vielen Bereichen im Februar und im März anders darstellt. ({3}) Herr Geis, auch Ihr Vorschlag bezüglich einer verbesserten Gewinnabschöpfung, den Sie gestern aus schlechtem Gewissen gegenüber dem Karlsruher Urteil gemacht haben - es war eine gemeinsame Niederlage von Union und FDP -, kann nicht als rechtsstaatsfreundlich angesehen werden. Er würde die Gerichte vor riesige Probleme stellen. ({4}) - Er würde sehr komplizierte Beweiserhebungen erfordern und zu verschleppten Verfahren führen. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen in einem Strafverfahren schnell zu einem rechtsstaatlich einwandfreien Urteil kommen. Wir werden morgen bei einem weiteren Thema der inneren Sicherheit, nämlich beim Thema Sicherungsverwahrung, beweisen, dass sich die Koalition mit ihren Vorschlägen bemüht - anders als Sie es mit Ihren Vorschlägen machen -, die notwendigen Sicherungsmaßnahmen in rechtsstaatskonformer Weise zu ergreifen. Nun zu dem Thema Kronzeugenregelung, das hier ein bisschen in die Mitte der Debatte gerückt ist. ({5}) - Ich weiß nicht so sehr, Herr van Essen, ob aus guten Gründen. Wenn man sich die Bilanz der Regelung, die wir bis 1999 hatten, anschaut, dann ist festzustellen, dass diese eher kläglich war. Sie verweisen hier immer mit großer Überzeugung auf § 31 BtMG, die kleine Kronzeugenregelung im Betäubungsmittelrecht. Wir sollten uns erinnern, warum man sie eingeführt hat. Damals hat man sich erhofft, durch diese Kronzeugenregelung an die Medellin-Kartelle und andere wichtige Teile der organisierten Kriminalität heranzukommen. Das spielt heute überhaupt keine Rolle mehr. Die Kronzeugenregelung wird zwar häufig eingesetzt, aber die Strukturen der organisierten Kriminalität trifft man auch damit nicht. ({6}) - Herr van Essen, wenn man sich zu einer Kronzeugenregelung entschließen würde, lohnte die Debatte über die Frage: Was sind die rechtsstaatlichen Anforderungen? Darüber haben wir in der Koalition über Wochen und Monate diskutiert. ({7}) - Herr van Essen, überwiegend habe ich jetzt das Wort. ({8}) Für einen Punkt, den Sie vorhin angesprochen haben und den auch ich in dieser Debatte mit erörtert habe, habe ich durchaus Sympathien. Man hat ja ein schlechtes Gewissen, wenn man eine Verurteilung allein auf die Aussage eines Kronzeugen stützen will, weil man weiß, dass ein Kronzeuge immer auch aus sachfremden Motiven heraus eine Aussage treffen kann, unter Umständen eben, um den Strafrabatt zu bekommen, und nicht, weil er der Wahrheitsfindung dienen will. Als Straftäter hat er unter Umständen auch ein Interesse daran, in den Aussagen in seinem Prozess, aber auch später, seinen eigenen Tatbeitrag etwas zu schönen und die Schuld im Wesentlichen auf andere Mittäter und Komplizen abzuschieben. Das ist durchaus verständlich und entspricht auch den Erfahrungen bei Ermittlungsbehörden und Gerichten. Deshalb muss man sehr vorsichtig sein, ob man allein aufgrund einer solchen Aussage eine Verurteilung vornehmen kann. ({9}) Aber Ihre Forderung, das strafprozessual ausdrücklich zu verbieten, stößt bei vielen auf ganz erhebliche Bedenken, ({10}) weil sie natürlich in die freie Beweiswürdigung der Richter eingreift. Dieses Argument muss man zumindest abwägen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dem näher zu treten; man muss das sehen. Eine solche Regelung ist an diesem Punkt in gewisser Weise ein Bruch mit dem System. Man muss auch sehen, dass die Kronzeugenregelung als solche insgesamt natürlich einen Systembruch darstellt. Der Gesetzgeber hatte ja auch immer ein schlechtes Gewissen bei der Kronzeugenregelung und hat sie deshalb immer wieder befristet. Sie haben sie in Ihrer Koalition immer mit schlechtem Gewissen verlängert. Ich kann mich noch daran erinnern, dass Herr Burkhard Hirsch und manchmal auch Frau Leutheusser-Schnarrenberger dagegen votiert oder zumindest gegrummelt haben, weil sie meinten: Das, was wir da machen, ist eigentlich mit Rechtsstaatlichkeit schwer zu vereinbaren. - Recht haben sie! Wenn wir diese Debatte fortsetzen, sollten wir wirklich alle Probleme in diesem Zusammenhang sehen. Ein Problem ist zum Beispiel, dass sich die Frage stellt: Bekommen Täter für die gleiche Schuld am Ende die gleiche Strafe? In der Bevölkerung stößt natürlich schon auf, wenn nach der alten Kronzeugenregelung ein Mörder womöglich sogar nur wegen einer Falschaussage in einem anderen Prozess verurteilt und nach drei Jahren in die Freiheit entlassen wird. Was sagen wir denn den Verbrechensopfern oder den Angehörigen der Verbrechensopfer in einer solchen Situation? Das ist ein Problem. ({11}) Sie haben bei der Kronzeugenregelung im Übrigen auch das Problem, dass bei einer Gruppe von Leuten einer erwischt wird, der auspackt und von der Kronzeugenregelung Gebrauch machen kann, während der Nächste, der erwischt wird, nicht mehr auspacken und von der Kronzeugenregelung Gebrauch machen kann. Da ist zum Beispiel der Gleichheitsgrundsatz erheblich tangiert. Bei Ihrem Gesetzentwurf, meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, wundert mich allerdings, dass Volker Beck ({12}) Sie die Kronzeugenregelung jetzt in jeden Paragraphen schreiben wollen, dass Sie im Wesentlichen auf Paragraphen fokussieren, bei denen man im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung nach § 46 StGB schon heute entsprechend helfen kann. Natürlich wird auch schon heute bei Präventions- und Aufklärungsgehilfen von solchen Regelungen Gebrauch gemacht. Dafür braucht man die von Ihnen vorgeschlagene Regelung eigentlich nicht. Mir ist wohler dabei, dass wir noch keine Kronzeugenregelung haben. Ich glaube, es ist sehr mühevoll, eine einigermaßen rechtsstaatlich kompatible Regelung zu formulieren. Deshalb liegt auch von keiner Fraktion dieses Hauses ein Vorschlag auf dem Tisch. Ich denke, der Bundestag wäre gar nicht so schlecht beraten, wenn er einfach die Finger davon ließe. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine wirksame und erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung kann nur durch eine effiziente soziale Prävention erreicht werden. Das haben wir hier mehrfach deutlich gemacht. Mit den Anträgen des Bundesrats und der Union dagegen werden die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger in einem populistischen Spielchen übergangen. Ohne Bekämpfung und Korrektur der gesellschaftlichen und sozialen Ursachen sind alle Versuche, Kriminalität - wie das jetzt hier geschehen soll - durch immer mehr Polizei, immer schärfere Gesetze, immer höhere Strafmaße zurückzudrängen, zum Scheitern verurteilt. Die vorliegenden Gesetzentwürfe wollen die Ausweitung der Befugnisse der Polizei, die Einführung von Verfahrensregeln, welche rechtsstaatlichen Grundprinzipien widersprechen, und eine Verschärfung der Sicherheitsverwahrung. Letztere wird ja morgen in diesem Hause ausführlich diskutiert. Ich möchte zwei Beispiele aufgreifen, zum Ersten das Beispiel der Kronzeugenregelung. Die Gesetzentwürfe formulieren eine Neuauflage der Kronzeugenregelung. Diese Neuauflage - ganz gleich, ob in einer großen oder in einer kleinen Variante - lehnen wir insgesamt entschieden ab. Zum einen ist die Kronzeugenregelung rechtsstaatlich höchst umstritten, zum anderen sind die Informationen von Kronzeugen meist nur sehr bedingt ermittlungsrelevant und oft nicht gerichtsverwertbar. Ein Handel mit der Strafe, in den der Täter sein Tatwissen gewissermaßen als Geschäftsgrundlage einbringt, ohne dass an die Tatumstände und die Schuld angeknüpft wird, ist unseres Erachtens nicht akzeptabel. ({0}) Es besteht eine erhöhte Gefahr, dass solche erkauften Aussagen schlicht Falschaussagen sind. Diese gehen dann zulasten der Beschuldigten. In der Praxis ist die mangelnde Glaubwürdigkeit des Kronzeugen ein Problem. Denn Kronzeugen waren und sind - das wissen eigentlich alle in diesem Haus - oft zweifelhafte Figuren. Als erfahrene Prozessbeobachterin kann ich dies nur bestätigen. In dem 129-a-Prozess, der zurzeit in Berlin gegen die Revolutionären Zellen läuft, kann in den jeweils am Donnerstag und Freitag stattfindenden Gerichtsverhandlungen jeder erleben, dass sich ein Kronzeuge ständig widerspricht. Per Aussageerzwingungshaft werden die Angeklagten zur Stellungnahme gezwungen. Sie kommen nur dann frei, wenn sie vor Gericht eine entsprechende Aussage machen. Das widerspricht eindeutig rechtsstaatlichen Prinzipien, nämlich dem Recht der Beschuldigten zu schweigen; schließlich muss das Gericht ihnen nachweisen, welche Schuld sie zu verantworten haben. Damit wird das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren und somit ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaates infrage gestellt. Deshalb haben wir in der Vergangenheit die Kronzeugenregelung abgelehnt und werden dies auch in Zukunft weiterhin tun. Einige haben schon zitiert, dass der Deutsche Anwaltverein nach den Anschlägen vom 11. September erklärte, die Einführung einer Kronzeugenregelung sei unnütz und riskant. Die jetzt diskutierten Vorschläge seien nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Gerade auf dem Gebiet der Aufklärung terroristischer Straftaten hat sich die Kronzeugenregelung nicht bewährt. Die Anzahl der Anwendungsfälle war in der Vergangenheit äußerst gering. Hier dagegen wird so getan, als habe das bisher große Erfolge gebracht. Ich kann das nicht nachvollziehen. ({1}) - Auch in den PKK-Prozessen war das Auftreten der Kronzeugen äußerst strittig. ({2}) Ich bin in der Tat der Meinung, dass man sich das genau anschauen muss. Gehen Sie einmal zu diesem RZ-Prozess! Ich glaube, das kann für jeden Juristen eine ganz wichtige Anschauung sein, was da zurzeit vorgetragen wird. Der Deutsche Anwaltverein hat im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus eindeutig festgestellt: Den neuen Dimensionen krimineller, terroristischer Bedrohungen, die seit den Katastrophen des 11. September die Öffentlichkeit beunruhigen, ist nicht mit Methoden zu begegnen, die sich bereits in der Vergangenheit als ineffektiv und riskant erwiesen haben. Zu ihnen gehört die Kronzeugenregelung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

In diesen Gesetzespaketen sind noch viele weitere Punkte enthalten. Ich meine, dass die Kronzeugenregelung ein Punkt ist, den man hier intensiver diskutieren muss. Ich bin froh darüber, dass die GrüVolker Beck ({0}) nen noch daran festhalten, die Kronzeugenregelung nicht erneut aufzulegen. ({1}) Sie widerspricht jedem rechtsstaatlichen Prinzip und jedem demokratischen Staat. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will am Anfang meiner Ausführungen keinen Zweifel daran lassen, dass die Bundesregierung nach wie vor der Meinung ist, dass eine rechtsstaatliche, transparente und auch zielgerichtete Regelung der so genannten Kronzeugenregelung denkbar ist. ({0}) Es liegen auch entsprechende Vorschläge vor. Aber eines muss man feststellen: Sie muss besser sein als die Regelung, die ausgelaufen ist. Sie muss vor allen Dingen auch besser sein als die Vorschläge, die uns der Bundesrat und - ihm in weiten Bereichen folgend - auch die Union heute vorgelegt haben. ({1}) Ich darf insoweit auf die Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwurf des Bundesrates verweisen. Ich möchte kurz auf die Punkte zu sprechen kommen, die uns besonders aufgefallen sind. Wenn man die Entwürfe des Bundesrates und der Union betrachtet, kann man, Herr Geis, nicht gerade sagen, dies sei eine sehr übersichtliche Regelung. Sie haben einen Ansatz gewählt, der nach meiner Erinnerung auch von den Experten in der Anhörung am 7. November letzten Jahres sehr kritisch unter die Lupe genommen worden ist. Dort wurde festgestellt, dass hierin zum Teil in einer kaum nachvollziehbaren Weise und ohne eingehende Begründung Einzelregelungen getroffen worden sind. So haben Sie für bestimmte Delikte Kronzeugenregelungen vorgesehen, für andere nicht. Da muss man sich fragen: Warum nicht? ({2}) So gibt es nicht für jeden Täter einen Anreiz, eine Aussage zu machen. Um es an einem Beispiel festzumachen: Nach Ihrem System würde etwa der betrügerische Buchhalter, der einer Mafiaorganisation angehört und über Schutzgelderpressungen seiner Organisation aussagt, gar nicht in den Genuss Ihrer Kronzeugenregelung kommen. Dies ist ein Fall, an den Sie in dieser Form sicher nicht gedacht haben. Außerdem haben Sie nicht ausdrücklich die Anstifter und Gehilfen erwähnt. Die Frage ist doch, ob man nicht gerade über die so genannten Randfiguren der organisierten Kriminalität, ({3}) also die Gehilfen im strafrechtlichen Sinne, Eingang in die Strukturen der organisierten Kriminalität finden kann. Ich denke, dass Ihnen dies auch die Sachverständigen in der Anhörung des Ausschusses im November letzten Jahres gesagt haben. Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen, weil ich finde, dass Sie sich offensichtlich haben überreden oder überfahren lassen: In § 129 a StGB gibt es über den Verweis in Abs. 5 bereits eine bereichsspezifische Kronzeugenregelung. Dies haben Sie als Fraktion erkannt und in Ihrem Entwurf dann auch weggelassen. Der Bundesrat hat seine diesbezüglichen Vorschläge jedoch aufrechterhalten. Uns ist noch etwas anderes besonders aufgefallen: In § 255 a StGB sind in Nr. 2 unter anderem Strafmilderung oder Straffreiheit vorgesehen, wenn der Täter von einer bevorstehenden Straftat nach § 255 StGB - also räuberische Erpressung - weiß und sie verhindern hilft. Das ist sicher ein durchaus anerkennenswertes Anliegen. Aber Sie haben dabei offensichtlich § 138 Abs. 1 Nr. 8 StGB übersehen. Danach wird immerhin mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft, wer von bevorstehenden Taten nach § 255 StGB weiß und es nicht mitteilt. Das hätte folgende etwas merkwürdige Konsequenz: Wer sich nicht nach § 138 strafbar macht, erhält dafür außerdem einen Rabatt auf die Strafe für eine andere Tat, wegen der er gerade vor Gericht steht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das gar nicht beabsichtigt haben. Das gilt auch für andere Vorschläge, zum Beispiel im Rahmen der neu vorgeschlagenen §§ 149 a und 181 c StGB. Ich möchte noch etwas zu den prozessualen Begleitregelungen in Sachen Kronzeugen sagen. Insgesamt verweise ich dabei auf die Stellungnahme der Bundesregierung. Die Regelungen rund um die Wiederaufnahme, die übrigens auch von den Sachverständigen unisono abgelehnt worden sind, bergen eine aus meiner Sicht nicht zu unterschätzende Gefahr in sich. Sie zwingen den Kronzeugen, der einmal gelogen hat, bei dieser Lüge zu bleiben, weil er ansonsten einer erneuten Bestrafung ausgesetzt wäre. Ich denke, auch das kann nicht Sinn und Zweck einer sinnvollen Regelung sein. Zur Frage der Telefonüberwachung habe ich - auch im Rechtsausschuss - schon mehrfach gesagt, dass wir mit Sorge sehen, wie stetig und zum Teil dynamisch die Überwachungszahlen anwachsen. Ich weiß, dass dies ein besonderes Anliegen nicht nur der Koalition, sondern auch der FDP ist, die ja regelmäßig, und zwar jährlich, auf diese Problematik aufmerksam macht. Es ist richtig, das entsprechende fundierte Gutachten des Max-Planck-Institutes abzuwarten, ({4}) das wir in Auftrag gegeben haben und das angekündigt worden ist. ({5}) - Herr Geis, es ist klug, dass wir unsere Vorhaben - auch wir haben solche - so lange zurückstellen, bis wir entsprechende solide Grundlagen haben. ({6}) Wir könnten uns zum Beispiel vorstellen, schwerwiegende Begehungsformen im Bereich der Korruptionsund Sexualdelikte in den Katalog des § 100 a StPO aufzunehmen. Aber dafür fehlen uns entsprechende Erkenntnisse. Wir sollten im Interesse einer zielgerichteten Lösung darauf warten, bis die entsprechenden Grundlagen vorliegen. Dann sind wir bereit, entsprechende Vorschläge zu machen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSUFraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man einmal von den Maßnahmen absieht, die im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 notwendig waren und denen wir zugestimmt haben, ist festzustellen: Die Koalition hat in den letzten drei Jahren zur Verbrechensbekämpfung, zur Bekämpfung der allgemeinen Kriminalität und der organisierten Kriminalität, und zum besseren Schutz vor Sexualdelikten, nichts, aber auch gar nichts vorgelegt. Eingangs muss also festgehalten werden: Hier hat die Koalition ganz entscheidend versagt; daran kann man nicht deuteln. ({0}) In diese Richtung passt natürlich Ihr Verhalten zur Kronzeugenregelung. Die Vorgängerregierung hat es sich hierbei nicht so einfach gemacht. Wir haben von 1989 bis 1998 eine ganze Reihe von Gesetzentwürfen vorgelegt und durch das Parlament gebracht, die ganz entscheidend mit dazu beigetragen haben, vom Gesetzgeber her den Schutz der Allgemeinheit vor Verbrechen besser zu stellen, als dies vorher der Fall gewesen ist. Denken Sie nur an die Kronzeugenregelung, die wir 1989 eingeführt haben. Denken Sie an das erste Gesetz gegen die organisierte Kriminalität von 1992, an das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994, an das Geldwäschegesetz, das wir zum ersten Mal durch das Parlament gebracht haben, an den besseren Schutz vor Sexualdelikten und daran, dass wir gemeinsam mit Ihnen und der FDP das Wohnraumüberwachungsgesetz durchgesetzt haben. All das sind Maßnahmen, die dazu geeignet sind, unsere Bevölkerung, also die Menschen im Land, besser vor Verbrechen zu schützen. ({1}) Nach wie vor besteht Handlungsbedarf. Nach wie vor gibt es insbesondere eine steigende Jugenddelinquenz, und zwar vor allem bezogen auf Gewalttaten. Niemand kann davon ausgehen, dass der Terrorismus besiegt wurde. Des Weiteren gibt es eine sich weiter ausbreitende organisierte Kriminalität. Die Regierung tut nichts. Sie legt die Hände in den Schoß und lässt alle Anträge, die wir in den letzten drei Jahren auf den Tisch gelegt haben, einfach unbeachtet. Unsere Fraktion hat allein in den letzten drei Jahren zehn Gesetzgebungsvorschläge gemacht, die zur Verbesserung der inneren Sicherheit beitragen sollten. Denken Sie zum Beispiel an unseren zweiten Anlauf für ein Gesetz, das zu einem besseren Schutz vor Sexualdelikten beitragen soll. Natürlich haben wir auch ein Gesetz zur Verlängerung der Kronzeugenregelung vorgelegt. Schließlich haben wir das jetzt zu beratende Gesetz vorgelegt, gegen das Sie nun juristische Einwände vorgebracht haben. Verehrter Herr Pick, diese kamen aber zu spät. Warum haben Sie diese nicht im Ausschuss vorgetragen? Warum sind wir im Ausschuss nicht ins Gespräch gekommen? Sie waren dazu nicht bereit. Sie haben von vornherein alles vom Tisch gewischt, weil Ihnen die innere Sicherheit nicht am Herzen liegt. Das lag sie noch nie und das wird wohl auch nie der Fall sein. ({2}) Es ist so. Zeigen Sie mir einen Gesetzentwurf Ihrer Koalition für die innere Sicherheit und den Schutz der Bevölkerung. Tabula rasa - es ist nichts vorhanden. Sie haben nichts zustande gebracht. Das muss man der Öffentlichkeit deutlich sagen. ({3}) Es ist so. Sie können dazwischenbrüllen, so lange Sie wollen. Es ist und bleibt so. Sie können es ja ändern. Legen Sie endlich eine Kronzeugenregelung vor. Sie haben das aber bis heute nicht getan. ({4}) - Noch habe ich das Wort! Unser Gesetzentwurf sieht eine Verbesserung der Möglichkeiten vor, Gewinne aus Verbrechen abzuschöpfen. Man kann darüber streiten, ob dieses oder jenes vielParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick leicht noch besser wäre. Im Moment liegt aber kein besserer Vorschlag auf dem Tisch. Gerade jetzt, da die Vermögensstrafe für verfassungswidrig erklärt worden ist, müssen wir uns Gedanken über bessere Möglichkeiten, die Gewinne der Verbrecher abzuschöpfen, machen. Der organisierten Kriminalität geht es ja um den Gewinn. Auch den Terroristen geht es ums Geld, weil sie es brauchen. Da müssen wir ansetzen. Einen zweiten Schwerpunkt haben wir darauf gelegt, dass bei einem Verdacht auf Korruption die Telefonüberwachung zulässig ist. Mir ist schleierhaft, weshalb wir dafür ein Gutachten des Max-Planck-Instituts brauchen. Man kann sich ja darüber unterhalten, ob die übrigen Katalogtatbestände des § 100 a StPO unbedingt so bestehen bleiben müssen, wie sie im Augenblick lauten. Die Aufnahme der Korruption in diesen Katalog müsste aber selbstverständlich sein. Zurzeit kann bei einem Korruptionsverdacht der Wohnraum überwacht werden. Gleichzeitig wird das weit geringere Mittel, nämlich die Telefonüberwachung, nicht zugelassen. Ihr Verhalten in dieser Frage ist geradezu mehr als paradox. Wir wollen die rechtliche Absicherung des verdeckten Ermittlers verbessern. Das scheint uns dringend notwendig zu sein. Vor allen Dingen wollen wir die Kronzeugenregelung. Wir sind der Auffassung, dass wir ohne die Kronzeugenregelung nicht auskommen. Das sagen uns sämtliche Wissenschaftler. Alle Anhörpersonen, die Sie benannt haben - das waren der Bundesrichter Nack, der Vorsitzende Richter am OLG Düsseldorf, Breidling, und der Vorsitzende Richter am OLG Nußloch, Dr. von Bubnoff -, haben uns das im Rahmen der Anhörung am 7. November so gesagt. Diese haben uns erklärt, dass wir die Kronzeugenregelung brauchen und dass sich die alte Kronzeugenregelung bewährt hat. Herr Stünker ist nicht mehr anwesend. Das ist das Gegenteil von dem, was er hier gesagt hat. Die alte Kronzeugenregelung hat sich bewährt. Sie wollen sie nicht, weil Sie vor Ihrem Koalitionspartner eingeknickt sind. Das ist der ganze Grund; das wissen wir. Aber wir müssen das deutlich sagen. Der Bundeskanzler kümmert sich nicht darum. Er beschäftigt sich nur mit der großen Weltpolitik. Die innere Sicherheit war ihm nie ein Anliegen. Das hat ihn schon als Ministerpräsidenten von Niedersachsen nicht interessiert. Daher dümpelt dieses Vorhaben vor sich hin. Die Menschen im Land erwarten von diesem Parlament, dass gerade in dieser Frage eine vernünftige Regelung kommt, weil sie von allen Wissenschaftlern und Fachleuten so vorgeschlagen wird. Sie aber verweigern sich. Wir halten dies für verantwortungslos. Es wird allerhöchste Zeit, dass am 22. September eine neue Regierung mit neuer Mehrheit in dieses Parlament kommt, damit die notwendigen Gesetzgebungsvorhaben, die erforderlich sind, um die Menschen in diesem Land sicherer leben zu lassen, im Parlament endlich beschlossen werden. Ich glaube, dass man mit einem Gesetzgebungsvorhaben, das nun seit August des letzten Jahres - das ist eine lange Zeit - auf dem Tisch liegt, nicht so umgehen sollte, wie Sie das tun. Sie haben sich im Ausschuss der Diskussion verweigert. Sie haben gar nicht ernst genommen, was Ihre eigenen Sachverständigen gesagt haben. Nun weigern Sie sich auch noch hier im Parlament, anderen Rednern zuzuhören. Es kümmert Sie gar nicht, was von der Opposition vorgelegt wird. Sie setzen sich mit uns nicht auseinander. Sie machen eine Politik ohne Opposition, weil Sie glauben, Sie allein hätten die Weisheit gepachtet. Das, was wir hier vortragen, sehen Sie nicht als diskussionswürdig an. Das ist nicht nur eine Vernachlässigung der Opposition und unserer Argumente, sondern auch dieses Hauses. Sie haben nicht das richtige Parlamentsverständnis. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6834 zur Verbesserung der Bekämpfung von Straftaten der organisierten Kriminalität und des Terrorismus. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8627, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung der CDU/CSUFraktion und Gegenstimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung. Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates auf Drucksache 14/5938 zur Ergänzung der Kronzeugenregelungen im Strafrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8627, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und Gegenstimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung. Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates auf Drucksache 14/6079 zur Änderung der Strafprozessordnung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8627, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU-Fraktion, die zugestimmt hat, abgelehnt worden. Damit entfällt die weitere Beratung. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung - Politik für den Mittelstand - Drucksache 14/8548 Norbert Geis Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Zur Begründung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Margareta Wolf das Wort.

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, heute ist ein guter Zeitpunkt, um den ersten Mittelstandsbericht, den es in dieser Republik gibt, dem Parlament vorzulegen und im Parlament darüber zu diskutieren. Sie wissen, dass im Februar der Ifo-Geschäftsklimaindex zum vierten Mal in Folge gestiegen ist. Die Erwartungen der Unternehmen erreichten in diesem Index den besten Wert seit Dezember 2000. Wenn Sie sich heute „Die Welt“ oder das „Handelsblatt“ ansehen, werden Sie feststellen, dass „Die Welt“ heute titelt: „Ostdeutschland hat das Konjunkturtal durchschritten“ und das „Handelsblatt“ schreibt: „Deutschland kommt steil aus dem Abschwung heraus“. Man geht davon aus, dass das Frühjahrsgutachten, das am 23. April erscheinen wird, von Prognoseerwartungen in der Größenordnung zwischen 2,5 und 3 Prozent ausgehen wird. Das heißt, es geht nach dem Tiefpunkt des vierten Quartals 2001 wieder aufwärts. Das gilt natürlich selbstverständlich erst recht für den Mittelstand. Die von der KfW geförderten mittelständischen Unternehmen wollen erstmals seit September vergangenen Jahres den Beschäftigungsaufbau beschleunigen. So planten sie im Januar eine Ausweitung der Zahl ihrer Arbeitsplätze um durchschnittlich 7,9 Prozent. ({0}) Der Mittelstandsbericht, den wir heute diskutieren, gibt einen sehr guten Überblick über die Aktivitäten der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Themen des Berichts sind zum einen die Rahmenbedingungen über die Steuerpolitik, aber auch die wichtige Frage der Unternehmensfinanzierung, die Gewerbeförderung, die Förderung von Selbstständigkeit, aber auch die Förderung von Ausund Weiterbildung, sowie die Innovation insbesondere in der IT-Technologie und die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes im erweiterten europäischen Binnenmarkt wie auch weltweit. Wir sprechen in dem Bericht aber auch spezifische Themen an wie den Generationenwechsel, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und das sehr wichtige Thema Bürokratieabbau. Ich möchte Sie für vier Themenfelder, die nach meiner Meinung in Zukunft entscheidend für mittelständische Unternehmen sein werden, besonders sensibilisieren: Das ist zum Ersten der gesamte Komplex der Finanzierung - Stichwort Basel II -, zum Zweiten der Arbeitskräftebedarf - Stichwort Green Card und Zuwanderungsgesetz und zum Dritten das Thema Unternehmensnachfolge und last but not least der Bürokratieabbau. Zum Thema Finanzierung: Dem Mittelstand müssen auch in Zukunft seine finanziellen Handlungsmöglichkeiten erhalten bleiben. Ich freue mich, dass in dem letzten OECD-Ranking Deutschland bei den Förderkonditionen deutlich den ersten Platz eingenommen hat. Wir sollten das zur Kenntnis nehmen und vielleicht etwas stärker nach außen transportieren. ({1}) Gleichwohl: Durch die zunehmende Globalisierung auf den Kapitalmärkten - wir erleben das tagtäglich - erhöht sich der Anpassungsdruck für die Banken und damit auch für den Mittelstand. Es wird immer schwieriger, einen günstigen öffentlich geförderten Kredit durch die privaten Banken zu bekommen. Wir alle erleben es in unseren Wahlkreisen täglich, dass es durch die Baseler Verhandlungen zur Neuregelung der Eigenkapitalvorschriften der Banken Unruhe gibt. Es gibt ziemlich viel Bewegung, und zwar sowohl bei den Banken als auch bei den Mittelständlern. ({2}) Um noch mit einem aufzuräumen: Man wird gemeinhin damit konfrontiert, Basel II sei eine grausame Idee der Europäischen Kommission gewesen. Ich möchte die Gelegenheit heute nutzen, darzustellen, woher „Basel“ eigentlich kommt. „Basel“ ist vor dem Hintergrund der Risiken für die Stabilität aller Volkswirtschaften im Jahre 1974 entstanden. Es hat sich das Baseler Komitee gegründet. Es gibt also keine Regierungsabsprache, auch Parlamente wurden nicht damit befaßt. Man gründete quasi einen Club, in dem neben den Notenbanken auch die in den Ländern für die Kreditsicherheit zuständigen Mitglieder tätig sind. Für Deutschland verhandelt in Basel im Moment die Bundesbank und das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen. Da mir im Kontext mit Basel wirklich an einer Versachlichung der Debatte gelegen ist, möchte ich Ihnen Punkte, die wir schon durchgesetzt und oft erläutert haben - es gibt auch eine gemeinsame Resolution dieses Hauses -, nennen: Es handelt sich vor allen Dingen um das interne Rating, aber auch die Berücksichtigung der so genannten Granularität sowie die Zulassung von Retailportfolios. Aber darüber hinaus - ich meine, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten dabei an einem Strang ziehen - halte ich den Nachbesserungs- und Verhandlungsbedarf in Basel in folgenden Punkten nach wie vor für von großer Bedeutung. Erstens geht es darum, dass die derzeitige Risikogewichtung aus unserer Sicht eher zu einer Erhöhung der Eigenkapitalunterlegung und damit tendenziell zu einer Verteuerung der Mittelstandskredite führt. Das müssen wir verhindern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Zweitens geht es uns darum, Sicherheiten zu berücksichtigen, die die notwendige Eigenkapitalunterlegung vermindern können. Dies ist bisher unbefriedigend. Drittens geht es darum, langfristige Kredite gleichzustellen. Wie Sie wissen, kennt man diese Finanzierungskultur, basierend auf langfristigen Krediten, in anderen europäischen Ländern nicht. Bei uns hingegen sind sie ein stabilisierendes Element für die Unternehmen. Last but not least sind wir der Meinung, dass die Grenzen für die Retailportfolios so gesetzt werden müssen, dass möglichst viele Unternehmenskredite einbezogen werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Wolf, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Ist das etwas später möglich, Herr Kolb? Ich würde diesen Punkt gerne zu Ende ausführen. ({0}) - Ich gebe Ihnen dann ein Zeichen. Wir haben positive Signale aus Basel erhalten. Es zeigt sich, dass dort das spezifisch deutsche Problem erkannt worden ist und gemeinsam mit uns nach Lösungen gesucht wird. Meine sehr geehrten Damen und Herren, staatlicherseits wird aber auch immer deutlicher, dass wir von den klassischen Förderprogrammen, die auf Fremdkapitalfinanzierung setzen, wegkommen müssen. Wir müssen die Beteiligungsfinanzierung weiter voranbringen. Ein Stichwort bei der staatlichen Mittelstandsfinanzierung ist die Förderung neuer Instrumente bei der DtAund der KfW, die dazu führen, dass es für die Hausbanken attraktiver wird, Kleinst- und Kleinkredite zu vergeben. Uns allen ist das Problem der so genannten Kleinstgründungen bekannt, dass sie über keine Sicherheiten verfügen und von daher keine interessante Klientel für die Banken darstellen. Wir führen aber auch neue Instrumente ein. Sehr wichtige Instrumente sind meiner Meinung nach Haftungsfreistellungen, aber auch die Verbriefung von Förderkrediten und risikoabhängige Margen. - Herr Kollege Kolb.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kolb, bitte.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, ich bedanke mich ganz herzlich für die Zulassung einer Zwischenfrage. Sie haben deutlich gemacht, dass Sie bei Basel II Schlimmeres verhindern wollen und dass die Existenzgründungsförderung in Deutschland durchaus gut ausgebaut ist. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband hat vor wenigen Wochen eine Untersuchung vorgelegt, wonach 50 Prozent der mittelständischen Unternehmen in Deutschland nicht über ausreichendes Kapital verfügen und 30 Prozent Verluste - das bezog sich wohl auf 2001; die aktuelle Situation dürfte im Gegensatz zu dem, was Sie eingangs ausgeführt haben, noch schlechter sein - erwirtschaften. Das ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass 2001 33 000 gewerbliche Insolvenzen zu verzeichnen waren, deren Zahl im Jahr 2002 nach aktuellen Schätzungen zwischen 37 000 bis 39 000 liegen dürfte. Was gedenkt die Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung zu tun, um zur Finanzierung bestehender mittelständischer Existenzen, die nicht mehr auf Existenzgründungsförderung hoffen dürfen, beizutragen und sie durch die aktuelle schwierige Krise zu leiten? Denn Sie führen immer wieder an, die Erwartungen seien gut. Tatsache ist aber, dass die aktuelle Lage in den Unternehmen dramatisch ist und dies bis Mitte des Jahres bleiben wird. ({0}) Was sagen Sie dem Mittelstand in dieser Situation?

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Herr Kollege Kolb, diese Studie des Sparkassen- und Giroverbands zitieren Sie immer wieder. Ich würde es begrüßen, wenn Sie auch die anderen Studien zitieren würden. Aber egal, wir haben das Problem durchaus schon seit längerem erkannt. Ich sitze sehr häufig mit dem Sparkassen- und Giroverband, den Raiffeisenbanken und den privaten Banken zusammen und diskutiere mit ihnen gerade über die Beteiligungsfinanzierung bzw. darüber, dass sie sich verpflichten, Beteiligungskapital zur Verfügung zu stellen, weil der deutsche Mittelstand traditionell über eine sehr geringe Eigenkapitalausstattung verfügt. Ich diskutiere mit ihnen durchaus auch darüber - das habe ich auch beim Mittelstandstag mit Herrn Pleister vom Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken getan -, dass es beim Mittelstand so empfunden wird, dass Kredite nach einer gewissen Willkür vergeben werden und dass es durchgängig bei allen Banken - freundlich formuliert - einen gewissen Attentismus gibt, Kleinstkredite oder kleinere Kredite zu gewähren. Die Banken sagen mir auch, dass sie in den letzten Monaten, quasi im Vorgriff auf Basel, so verfahren hätten und dass man als Mittelständler diesen Verdacht durchaus bekommen konnte, weil es keine definierten Kriterien gab und interne Ratings, die durchgeführt wurden, nicht veröffentlicht wurden. Deswegen haben wir auf dem Mittelstandstag mit Herrn Pleister, Frau Achleitner und Herrn Strenger - sie unterstützen diese Idee - eine Art Scorecard entwickelt, wodurch wir die Kriterien, warum ein Unternehmen einen Kredit bekommt, für jeden nachvollziehbar machen wollen, wodurch die Unternehmen aber gleichzeitig angehalten werden, etwas sorgsamer so etwas wie Businesspläne und Marketingstrategien zu erarbeiten und diese den Banken vorzustellen. ({0}) Ich komme nun zum Thema der Insolvenzen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Wolf, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb?

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Ich wollte erst einige Sätze zum Thema Insolvenzen sagen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie die Zwischenfrage oder nicht?

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Ja, stellen Sie Ihre Zwischenfrage.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich teile Ihre Analyse der Situation, Frau Staatssekretärin; sie ist sicherlich richtig. Wir erleben aber zurzeit, in diesen Wintermonaten, dass im deutschen Mittelstand massiv Eigenkapital verbraucht wird, weil die Unternehmen bei erheblich eingebrochenen Umsätzen, oft in einer zweistelligen Größenordnung - das ist erheblich -, wegen der Fixkosten, die sie haben, dramatische Verluste schreiben. Diese Unternehmen brauchen eine Antwort, wie sie die schwierige Situation überwinden und wie sie ihre Eigenkapitalsituation wieder verbessern können. Eine Antwort auf diese Frage habe ich bisher von Ihnen noch nicht bekommen. Vielleicht könnten Sie dazu noch etwas sagen?

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Herr Kollege Kolb, vielleicht haben Sie nicht richtig zugehört. Wir alle wissen, dass der Anstieg der Zahl der Insolvenzen und die Reduktion beim Eigenkapital besonders im Baugewerbe zu beobachten sind. Es wäre sehr hilfreich, wenn wir in Deutschland schon heute so etwas wie eine Finanzierungskultur hätten, die auf Beteiligung setzt, oder wenn wir schon viel früher damit begonnen hätten, auf Haftungsfreistellungen zu setzen. Wir haben diese Instrumente im letzten Jahr eingesetzt, um genau auf diese Situation zu reagieren. Ich bin in Sorge, was die Zahl der Insolvenzen angeht. Wir hatten bei den Insolvenzen im Jahr 1999 einen Rückgang von 5 Prozent zu verzeichnen. Jetzt haben wir eine Zunahme von 7 Prozent, was sicherlich etwas damit zu tun hat, dass wir im vierten Quartal des letzten Jahres - das sei konzediert - eine schlechte konjunkturelle Entwicklung hatten. Die Mitarbeiter, die sich in meinem Hause mit dieser Thematik beschäftigen, gehen im Gegensatz zu Ihnen aber nicht davon aus, dass sich dieser Negativtrend weiter fortsetzt; sie gehen im Gegenteil davon aus, dass es jetzt wieder bergauf geht. ({0}) Ich möchte aber noch einen Aspekt bezüglich der Insolvenzen ansprechen. Wir haben in Deutschland meiner Meinung nach das Problem, dass jeder, der Pleite geht, in der gesellschaftspolitischen Wahrnehmung als Versager angesehen wird und jeder, dem es gut geht, als Kapitalist. Dies muss sich ändern. In Amerika bekommen diejenigen, die sich zum zweiten Mal selbstständig machen, die also schon eine Insolvenz hinter sich haben, viel leichter Kredite bei den Banken. Das diskutiere ich auch mit den Banken. Jeder Business Angel prüft erst einmal, wie es beim ersten Mal gelaufen ist. Wir müssen in unserem Land eine Kultur der zweiten Chance entwickeln. ({1}) Deshalb haben wir jetzt eine Homepage eingerichtet, die den Namen hat „Aus Fehlern lernen“, auf der wir die entsprechenden Beratungen anbieten. - Ich bedanke mich herzlich für Ihre Zwischenfrage, Herr Kollege. ({2}) Ich komme zum Thema Arbeitskräftebedarf. Wir haben - daran werden Sie sich erinnern -, um den Bedarf an Spitzenkräften, aber auch den Bedarf im Bereich der Dienstleistungen zu decken - die Dresdner Bank geht davon aus, das es gerade bei den gering Qualifizierten einen Bedarf von 1,1 Millionen Beschäftigten gibt -, die Greencard geschaffen. Von ihr profitieren zu einem großen Teil kleinere und mittlere Unternehmen. So entfallen bisher 60 Prozent der Greencards, also rund 11 000 Erlaubnisse, auf Betriebe bis zu 100 Beschäftigte. ({3}) Jede Greencard führt einer Umfrage nach zu durchschnittlich 2,5 weiteren Arbeitsplätzen in Deutschland. Ich möchte nicht verhehlen, dass das nur ein erster Schritt sein kann. Aus der Debatte um die Greencard ist - für meine Begriffe glücklicherweise - der gesellschaftspolitische Diskurs über eine geregelte Zuwanderung begonnen worden. Dies war vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung, aber auch des sich abzeichnenden Rückgangs von Erwerbspotenzial dringend erforderlich. Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, im Vorfeld der morgigen Sitzung des Bundesrates bitten: Stimmen Sie im Interesse des deutschen Mittelstandes und angesichts des Fachkräftemangels im deutschen Mittelstand dem vorliegenden Zuwanderungsgesetz morgen zu. ({4}) Es kommt natürlich auch darauf an, dass wir weitere Reserven im eigenen Land erschließen. Das müssen wir zunehmend zeitnäher tun. Deshalb freue ich mich, dass wir seit 1998 62 Ausbildungsberufe modernisiert und 21 neu geschaffen haben. Es geht im Kontext des Erschließens von Reserven aber auch darum, dass wir erstens die Reform der Bundesanstalt für Arbeit schnell vorantreiben und schnell abschließen, dass wir zweitens dafür sorgen, dass das Know-how und die Erfahrung der Älteren stärker genutzt werden - wir müssen von den kostenträchtigen Vorruhestandsregelungen weg -, und dass wir drittens den Familien die Möglichkeit geben, ihre Kinderwünsche und ihre Berufswünsche besser unter einen Hut zu bringen. Wir haben gerade bei der Hertie-Stiftung die Zertifizierung des Bundeswirtschaftsministeriums als familienfreundlichen Betrieb beantragt. Ich gehe davon aus, dass dieses Verfahren noch im Sommer erfolgreich abgeschlossen wird. Es soll einen Nachahmungseffekt für die deutsche Wirtschaft haben. ({5}) Das ist wünschenswert; denn die Betriebe in Deutschland werden aufgrund der demographischen Entwicklung bald zu wenig qualifiziertes Personal haben. Es ist aber bekannt, dass Frauen im Vergleich zu Männern überproportional qualifiziert sind. Da der Präsident mir durch das Aufleuchten des roten Lämpchens signalisiert, dass ich meine Redezeit überschritten habe, kann ich auf die weiteren Punkte, die ich Ihnen noch gerne nahe gebracht hätte - ich nenne nur die Stichwörter „Bürokratieabbau“ und „Unternehmensnachfolge“ -, nicht mehr eingehen. Ich gehe aber davon aus, dass der umfassende Bericht der Bundesregierung ein Teil Ihrer Osterlektüre sein wird. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen. Danke schön. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Hansjürgen Doss.

Dr. Hansjürgen Doss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000411, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Verehrte Frau Wolf, Sie sind eine charmante Dame und ich schätze Sie persönlich sehr. Trotzdem muss ich feststellen: Sie haben verdammt wenig zum Mittelstand gesagt. Sie sind eigentlich lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Situation in Deutschland dramatisch ist. Wenn Sie im Zusammenhang mit Basel II - hier haben wir sicherlich viele Gemeinsamkeiten - von der Greencard reden, dann muss ich Ihnen sagen: Die Hälfte derjenigen, die eine bekommen haben, sind längst arbeitslos. ({0}) Alles, was bisher vorgetragen wurde, geht im Grunde an der dramatischen Situation, in der sich die mittelständischen Betriebe befinden, vorbei. Jeder weiß - das wird auch in jeder Sonntagsrede erwähnt -, dass sich 98 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland in mittelständischen Betrieben befinden. Es ist ja okay, dass die charmante Frau Wolf hier Stellung bezieht. Ich frage mich aber: Wo ist der Wirtschaftsminister? Es war für ihn sicherlich nicht angenehm, als wir ihn in der Fragestunde mit Problemen des Mittelstandes konfrontiert haben. Ich denke, er will sich einfach nicht mehr unseren Fragen stellen. Stattdessen legt er uns einen 50 Seiten starken Mittelstandsbericht vor, der nichts anderes als eine SPD-Wahlkampfbroschüre mit regierungsamtlichem Outfit ist. ({1}) Die triste Realität der mittelständischen Betriebe wird in diesem Bericht ignoriert. Wünschbares wird der Realität gleichgesetzt. Handeln wird nur vorgetäuscht. Die Probleme bleiben ungelöst. Die gequälten mittelständischen Betriebe in Deutschland brauchen weder eine solche Hochglanzbroschüre noch die ruhige Hand des Kanzlers. Wir brauchen vielmehr eine ehrliche, schonungslose Analyse des Zustandes der Betriebe in Deutschland und daraus abgeleitet energisches Handeln zur Lösung der Probleme. ({2}) Die Lage der mittelständischen Betriebe und der freien Berufe ist außerordentlich ernst. Das sollte eigentlich auch bei Ihnen angekommen sein. Ich zitiere - darauf hat der Kollege Kolb schon eben Bezug genommen - aus der „Diagnose Mittelstand“ des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes: „Die Ertragslage des Mittelstandes ist unzureichend.“ Danach ist im Jahr 2000 in über 31 Prozent der Unternehmen überhaupt kein Gewinn gemacht worden. Des Weiteren heißt es: „Die Eigenkapitalausstattung des Mittelstandes ist besorgniserregend.“ Unternehmen mit weniger als 500 000 Euro Umsatz arbeiteten praktisch ohne Eigenmittel. Sie wissen, wovon sie reden. Die Auftrags- und Umsatzentwicklung im Mittelstand lag im Jahr 2002 noch unter dem Vorjahresniveau. Das Investitionsbudget des Mittelstands wurde deutlich gekürzt. Die Perspektiven des Mittelstands für das Jahr 2002 sind: weniger Unternehmen und weniger Arbeitsplätze. Der Faktor Hoffnung allein reicht nicht aus. Natürlich ist Hoffnung für die Wirtschaft wichtig, aber die Fakten sind noch wichtiger. Wie sehr der Mittelstand in Deutschland derzeit mit dem Rücken an der Wand steht, macht der Deutsche Industrie- und Handelskammertag deutlich. Er beklagt die absolute Verunsicherung der Menschen durch die Konjunkturflaute, die wir zurzeit erleben. Deswegen fordert der DIHK die Aussetzung der nächsten Stufe der Ökosteuer, also das, was auch wir fordern. ({3}) Der Einzelhandel fordert in einem dramatischen Appell, die Mehrwertsteuer für drei Monate um 3 Prozentpunkte zu senken. ({4}) Der Groß- und Außenhandel fordert die Abschaffung des Solidaritätszuschlages, um so die Kaufkraft von Bürgern und Betrieben endlich wieder zu stärken. Meine Damen, meine Herren, wenn Sie uns schon nicht glauben, sollten Sie wenigstens diesen sachkunParl. Staatssekretärin Margareta Wolf digen Verbänden glauben, die Ihnen das ins Stammbuch schreiben. Darüber können Sie nicht einfach mit Ihrem Trallala hinweggehen. ({5}) Sie scheinen überhaupt keine Sensibilität mehr für die Situation des Mittelstands in Deutschland zu haben. ({6}) Wir in Deutschland gehören in der Zwischenzeit zu den „top of the flops“ der europäischen Pleitenliga. In anderen Ländern sinkt die Zahl der Unternehmenspleiten, zum Beispiel in Frankreich, in Spanien, in Finnland, in Österreich und in der Schweiz. In Deutschland haben wir mit 32 400 Pleiten im Jahr 2001 einen neuen Rekord erzielt, also noch einmal 16 Prozent Plus. Herrgott, wann merken Sie denn endlich, was in Deutschland los ist? ({7}) Das zeigt: Sie wissen zwar nicht, wie man Arbeitsplätze schafft, aber es gelingt Ihnen, Arbeitsplätze zu vernichten. ({8}) Es ist schon bezeichnend, wie die Bundesregierung mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit umgeht. Herr Minister Müller meint sarkastisch - eine bedeutende Aussage; ich zitiere -: „Unsere Arbeitslosenquote wäre um 1,5 Prozentpunkte niedriger, wenn so viele Menschen bei uns im Gefängnis säßen wie in den USA.“ - Nachzulesen in der „Bild“-Zeitung vom 12. Februar dieses Jahres. ({9}) Riester will das Problem mit Statistiken lösen. Vereinfacht sagt er: Diejenigen, die arbeiten können, aber nicht wollen, sollten einfach nicht mehr als Arbeitslose gezählt werden. Umweltminister Trittin, vom Kommunisten zum Wirtschaftsweisen mutiert ({10}) - das ist seine Vergangenheit; für jeden nachlesbar -, erklärt - ich zitiere -: „Die Ökosteuer wirkt beschäftigungsfördernd.“ - Nachzulesen in der „Financial Times Deutschland“ vom 14. Februar 2002. ({11}) Warum steigt denn dann mit der Erhöhung der Ökosteuer jeweils auch die Arbeitslosigkeit? Sind Sie so verblendet, dass Sie das nicht mehr merken? ({12}) Liebe Frau Wolf, sagen Sie dem Herrn Müller: Sein Mittelstandsbericht verwechselt Wunschvorstellungen mit Wirklichkeit. Beispiel: Sie behaupten, die Abgaben und damit die Lohnnebenkosten zu senken. Versprochen hat Rot-Grün, die Sozialabgaben auf unter 40 Prozent zu drücken. Die Wirklichkeit ist: Unter Berücksichtigung von Ökosteuer und Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung liegt die Belastung von Bürgern und Betrieben heute bei 43,6 Prozent. Das ist ein neuer Rekord. Das ist die Wahrheit und das ist die Realität. ({13}) - Natürlich ist es die Wahrheit. Lernen Sie mal zählen! Sie behaupten, die Steuern für den Mittelstand gesenkt zu haben. Die Wirklichkeit ist: Mittelständische Unternehmen müssen bis 2005 auf die Senkung der Einkommensteuersätze warten, ({14}) während große Kapitalgesellschaften längst kräftig entlastet sind; eine ganze Reihe dieser Betriebe zahlt überhaupt keine Steuern mehr. ({15}) Sie wollen ein besseres Klima für Selbstständigkeit in Deutschland schaffen, was bitter nötig wäre. Deutschland liegt im internationalen Existenzgründervergleich im Jahr 2001 unter 29 Ländern nur auf Platz 21. Im Jahr 2000 war Deutschland unter 21 Ländern noch auf Rang 14. Wir können hingreifen, wohin wir wollen: Die Ergebnisse Ihrer verfehlten Politik sind mit Händen zu greifen. Ein Land, das seine Gründer vernachlässigt, verliert seine Wachstumsdynamik. Sie behaupten in Ihrem Mittelstandsbericht, die Bundesregierung baue bürokratische Hemmnisse ab. Die Wirklichkeit ist: Jahr für Jahr müssen kleine und mittlere Betriebe Hand- und Spanndienste leisten, und zwar natürlich auf eigene Kosten. Jeder Handwerksbetrieb muss jährlich 324 Stunden für Bürokratie aufwenden. Das sind 40,5 Arbeitstage oder rund 15 000 Euro pro Jahr. Sie bauen bürokratische Hürden auf und nicht ab. ({16}) Rot-grüne Regulierungswut liegt wie Mehltau auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Selbst Ihrem Kollegen Metzger von den Grünen - jetzt ist er da; ich freue mich sehr, ihn zu sehen -, immer ein interessanter Mann, ist das aufgefallen. In der letzten Woche auf dem Mittelstandstag des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes hat er sich folgendermaßen geäußert: Das 630-Mark- respektive 325-Euro-Gesetz ist zu einem bürokratischen Monster ersten Ranges geworden. - Recht hat er. ({17}) Herr Metzger merkt, was Sie mit Ihrer Politik anrichten; Herr Müller ist beratungsresistent. Das ist vielleicht auch eine Begründung dafür, dass viele Mittelstandsverbände zu seinen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen wie zum Mittelstandstag nicht mehr hingehen. Ein Dialog würde sowieso nicht stattfinden. Beispiel Scheinselbstständigkeitsgesetz: Hierdurch wurden viele Existenzgründer und Selbstständige in die Sozialversicherungspflicht getrieben. Das hatte verheerende Folgen für die Liquidität der Betriebe und nicht zuletzt für den, der den Schritt in die Selbstständigkeit wagte. Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeit wurde kleinen und mittleren Betrieben eine vernünftige Personalplanung nahezu unmöglich gemacht. Das Betriebsverfassungsgesetz führte zu Kosten, Bürokratie und Fremdbestimmung. Angesichts des geplanten Tariftreuegesetzes fragt man sich, ob es, wenn den Betrieben das Wasser bis zum Hals steht, wichtiger ist, nach Tarifen zu entlohnen, als mit flexiblen Regelungen Arbeitsplätze zu erhalten. Sie handeln nach dem Motto: Lieber mit Tarif in die Pleite als ohne Tarif überleben. ({18}) Das ist ordnungspolitischer Schwachsinn erster Güte, sagt Oswald Metzger. Man sieht also, dass bei ihm die Tatsachen ankommen und er auch das eine oder andere richtig erkennt. Weiter so, kann man nur sagen. Was tut der Bundeskanzler zur Lösung der Probleme? Er hat ja bei der Wahl immerhin besonders die Neue Mitte umworben. Er verfährt nach dem Motto: Zu den Großen kommt der Kanzler, zu den Kleinen der Gerichtsvollzieher. ({19}) Das sieht man an dem Beispiel Holzmann. Heute wissen wir: Das Engagement des Kanzlers hat die Probleme nicht gelöst, sondern nur verschoben und eine eventuelle Lösung verteuert. Hauptsache war, dass der markige Kanzler vor den Medien und auf seinem Parteitag Applaus bekam. ({20}) Deswegen meine ich: Vier Jahre schröderscher Mittelstandspolitik für die Neue Mitte sind wirklich genug. Sie hat viele mittelständische Betriebe die Existenz und viele Arbeitnehmer den Job gekostet. ({21}) Weitere vier Jahre rot-grüne Mittelstandspolitik hält der Mittelstand in Deutschland nicht aus. Deswegen brauchen wir den Wechsel. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({22})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Rainer Wend.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Herr Doss, Sie fordern eine ehrliche und schonungslose Analyse und anschließend zielgerichtetes Handeln. Wollen wir einmal mit der Analyse Ihrer Behauptungen, wir hätten die höchste Arbeitslosigkeit sowie die höchsten Lohnnebenkosten - zum Thema Staatsverschuldung haben Sie vorsichtigerweise nichts gesagt - und seien hinter den früheren Wachstumsraten zurückgeblieben, beginnen: Der ersten Behauptung stelle ich die Wirklichkeit wie folgt gegenüber: Im Januar 1998 gab es 4,8 Millionen Arbeitslose, im Januar 2002 noch 4,3 Millionen. Das ist viel zu viel, aber eine halbe Million weniger, als wir von Ihnen übernommen haben, Herr Doss. ({0}) Behauptung Nummer zwei betraf die Lohnnebenkosten: Sie sind während der Regierungszeit von CDU/ CSU und FDP von 1982 bis 1998 von 34 auf 42,3 Prozent gestiegen. Wer angesichts solcher Zahlen eine Bilanz aufstellen will, sollte ein wenig bescheidener bei seinem Auftritt vor diesem Parlament sein, Herr Doss. ({1}) Aber vielleicht haben Sie es nicht so sehr mit der Analyse, sondern mit dem zielgerichteten Handeln, Herr Doss. Ich will Ihnen etwas aus der „Welt am Sonntag“, deren Nähe zur Sozialdemokratie sich bekanntlich in Grenzen hält, vorlesen. Beschreibung der CDU: Sonntag, 10.42 Uhr: CDU-Chefin Angela Merkel will die letzte Stufe der Steuerreform vom Jahr 2005 auf das Jahr 2003 vorziehen. 22.15 Uhr: Kanzlerkandidat Edmund Stoiber unterstützt den Vorstoß. Montag, 14.38 Uhr: CSU-Landesgruppenchef Glos bremst ab. Merkel habe eine veraltete Beschlusslage vorgetragen. 14.48 Uhr: Fraktionschef Merz erklärt, die Union wolle nur Teile der Reform vorziehen. Dienstag, 12.33 Uhr: Glos rechnet vor, ein Vorziehen der Steuerreform sei zeitlich nicht zu schaffen. ({2}) 13.12 Uhr: CDU-Vize Rüttgers fordert keine Steuererleichterungen, sondern einen nationalen Stabilitätspakt. 18.12 Uhr: Stoiber schweigt, auch auf Nachfrage. ({3}) Das ist Ihr zielgerichtetes Handeln: minütliche Unklarheit über Ihre Wirtschaftspolitik. ({4}) Ich will gerne auf die Themen Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, Kündigungsschutz und angebliche Überregulierung zu sprechen kommen. Ich will Ihnen einmal eines sagen: Wir glauben, dass es, was Innovation, Modernisierung und Flexibilisierung in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts angeht, durchaus Nachholbedarf gibt. ({5}) In aller Klarheit sage ich Ihnen aber auch: Wer diese Dinge nutzen will, um Arbeitnehmerrechte, die sich über Jahrzehnte in unserer Republik bewährt haben, abzuschaffen, um zu erreichen, dass sich Arbeitnehmer, Betriebsräte und ihre Interessenvertretungen ausschließlich einem Diktat von Unternehmern beugen, wer die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft der letzten zehn Jahre jetzt opfern will, der wird mit der Sozialdemokratie niemals eine gemeinsame Politik machen können. ({6}) Sie dürfen Betriebsverfassung, Kündigungsschutz und soziale Sicherheit für Arbeitnehmer nicht immer nur ausschließlich als Kostenfaktor sehen. Dass unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft so stabil sind, hängt auch damit zusammen, ({7}) dass wir starke Betriebsräte und starke Gewerkschaften haben. Wir haben nicht die Absicht, an dieser Situation etwas zu ändern. ({8}) Wenn wir zu Recht feststellen, dass wir den Mittelstand in Deutschland in besonderer Weise fördern, dann sagt das über den Mittelstand nur zum Teil etwas aus. Entscheidend ist die Frage der Rahmenbedingungen. ({9}) Verehrter Herr Doss, es ist einfach nicht richtig, wenn Sie sagen, die Steuerpolitik benachteilige den Mittelstand. Die Wahrheit ist doch: Wir haben durch die faktische Verrechnungsmöglichkeit der Gewerbesteuer- mit der Einkommensteuerschuld einen Wunsch des Mittelstandes, der seit Jahren und Jahrzehnten an die Politik herangetragen wurde, erfüllt und damit das getan, was Sie, meine Damen und Herren von der Union, über Jahrzehnte nicht zustande gebracht haben. ({10}) Die Reinvestitionsrücklage, die wir als Mittelstandskomponente hinzugefügt haben, entlastet die kleinen und mittleren Unternehmen. ({11}) - Ich freue mich ja über Rheinland-Pfalz. Insbesondere freue ich mich, wenn Sie bei der Zuwanderungsregelung, über die am Freitag im Bundesrat entschieden wird, in derselben Weise wie bei der Steuerreform behilflich sind. ({12}) Finanzierungsmöglichkeiten für den Mittelstand sind etwas ganz Entscheidendes. Basel II ist von der Staatssekretärin angesprochen worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber hinzufügen: Bei der Finanzierung des Mittelstandes sind auch die privaten und öffentlichen Kreditinstitute gefragt. Gerade in jüngster Zeit haben die Klagen kleiner Unternehmen über zunehmende Schwierigkeiten bei der Kreditbeschaffung über die Hausbanken zugenommen. Auf gut Deutsch gesagt: Die großen Privatbanken ziehen sich aus der Mittelstandsförderung zunehmend zurück. Das ist ein Skandal, den wir nicht tatenlos hinnehmen können. ({13}) Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, dass das Bundeswirtschaftsministerium mit den Vertretern der Kreditwirtschaft intensive Gespräche führt, um darauf hinzuwirken, dass die Mittelstandsfinanzierung auch in Zukunft zu den Kerngeschäften der Kreditwirtschaft gehört. Die Sparkassen und Volksbanken vor Ort, das sind die Institute, die Existenzgründern und dem Mittelstand helfen. Wir wollen deshalb auf der europäischen Ebene alles dafür tun, dass die Finanzierungsstrukturen über Sparkassen und Volksbanken in Deutschland erhalten werden können. Ein Schwerpunkt unserer Förderung liegt in der Unterstützung von Existenzgründern. Wir brauchen mehr Unternehmer; denn die Arbeitsplätze der Zukunft werden zum großen Teil in Unternehmen entstehen, die es noch gar nicht gibt. Um das Entstehen neuer Unternehmen zu fördern und damit vor allem Arbeitsplätze zu schaffen, stellt die Bundesregierung gezielte Finanzierungshilfen und Beratungsmaßnahmen zur Verfügung. Die Grundlagen für selbstständiges Handeln und unternehmerisches Denken müssen bereits im Bildungssystem gelegt werden. Bundesregierung und SPD-Bundestagsfraktion unterstützen deshalb mit großem Nachdruck, dass das Wissen über die Selbstständigkeit bereits in der Ausbildung vermittelt wird. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Ausgleichsbank und anderen Unternehmen wurden deshalb an deutschen Universitäten 42 neue Lehrstühle für Existenzgründungen eingerichtet. Das ist weitaus wichtiger als jede verbalradikale Rhetorik, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht zu praktischen Ergebnissen geführt hat. Neben den allgemeinen Fördermaßnahmen für die Gründung einer selbstständigen Existenz kommt dem Meister-BAföG besondere Bedeutung zu. Diese Fördermaßnahme ist bekanntlich unter der alten BundesregieDr. Rainer Wend rung zunächst vollständig eingestellt und dann nur unzureichend wieder in Kraft gesetzt worden. Wir haben das Meister-BAföG von Grund auf reformiert und den Bedürfnissen der Auszubildenden angepasst. Die Reform wird dazu führen, dass mehr Personen als vorher einen Anspruch auf die Aufstiegsfortbildungsförderung haben. Darüber hinaus wird die Antragstellung vereinfacht und die Leistungen werden deutlich angehoben. Auch das ist konkrete Mittelstandspolitik. Die Zeit reicht nicht, um alle Initiativen und Maßnahmen, die im Bericht der Bundesregierung enthalten sind, aufzuführen und zu kommentieren. ({14}) Mir liegt jedoch daran, noch einige Anmerkungen zu den wichtigen Bereichen Forschung und Innovation zu machen. Ich möchte angesichts der Verfälschungen und Verdrehungen interessierter Kreise ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Mittel für die Forschungsförderung deutlich erhöht hat. Allein mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm wurden aus den Erlösen für die UMTS-Lizenzen rund 2 Milliarden DM jährlich zusätzlich für Forschung und Entwicklung bereitgestellt. Auch der Bundeswirtschaftsminister hat die Mittel für Forschung, Entwicklung und Innovation im Mittelstand in seinem Haushalt spürbar angehoben. Dieser Titel ist 2002 gegenüber dem Ansatz von 2001 immerhin um rund 14 Prozent oder 474 Millionen Euro erhöht worden. Gegenüber den Mitteln, die 1998 abgeflossen sind, ist dies sogar ein Zuwachs von rund 26 Prozent. Damit konnten wichtige neue Programme zur Förderung des Mittelstandes initiiert werden. Der vorliegende Bericht unterstreicht eindrucksvoll, dass die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung konkret gehandelt ({15}) und kleine und mittlere Unternehmen gezielt entlastet haben. Ich finde, Kritik muss nicht nur sein, sondern Kritik ist sicherlich auch deswegen angebracht, weil wir das eine oder andere, was wir uns vorgenommen haben, vielleicht nicht so erreicht haben, wie wir das gerne hätten. ({16}) Meine Bitte an Sie von der Opposition ist aber, dass Sie die einseitige Schwarz-Weiß-Malerei, wie Sie sie in diesem Parlament betreiben, beenden, ({17}) dass Sie in die Analyse der Ergebnisse Ihrer Politik ein wenig Ehrlichkeit hineinlegen und sehen, welche Entwicklung sich gegenwärtig abzeichnet. Im „Handelsblatt“ von gestern heißt es wie folgt: Die Weltwirtschaft steht vor einer neuen Wachstumsphase und hat ihr Tief überwunden. Nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds ({18}) gilt dies auch für Deutschland. Ähnlich äußerten sich auch die Bundesregierung, die Spitzenverbände der Wirtschaft und das Kieler Institut für Weltwirtschaft ({19}). ({20}) An Ihren Zwischenrufen kann ich erkennen: Aus politisch kurzsichtigen Motiven bedauern Sie es in Wirklichkeit, dass sich die Entwicklung in dieser Weise abzeichnet. ({21}) Ich kann Ihnen nur eines sagen: Kritik, wie wir es noch besser machen können, ist angesagt. Sich gemeinsam für den Wirtschaftsstandort Deutschland einzusetzen und sich darüber zu freuen, dass es in diesem Jahr mit der Wirtschaft aufwärts geht, ({22}) ist das Mindeste, was man von einer verantwortungsvollen Opposition verlangen kann. Sie müssen noch üben. Sie werden dazu ab September noch mindestens weitere vier Jahre Gelegenheit haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile der Kollegin Gudrun Kopp das Wort für die Fraktion der FDP.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Lieber Herr Kollege Wend, ein neuer Titel allein, zu dem ich Ihnen herzlich gratuliere, macht aus Ihnen noch keinen neuen Experten. ({0}) Ich muss Ihnen sagen, dass Sie meilenweit von der Praxis entfernt sind. Schauen wir uns einmal um und fragen, wer von denen, die hier sitzen, schon einmal Firmen aus der Nähe betrachtet hat und wer überhaupt weiß, was im Mittelstand los ist. ({1}) - Auch Brüllerei ist kein Zeichen von Qualifikation. Sie haben von einer ehrlichen Analyse gesprochen. Lieber Herr Wend, ich habe Ihre Rede als Märchenstunde empfunden. ({2}) So wird es auch jeder Mittelständler empfinden, der im Augenblick vor der Insolvenz steht. Deren Zahl ist sehr hoch. Wir wissen, dass 40 000 Insolvenzen für dieses Jahr erwartet werden. Das ist eine Schande. Davon sind sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber betroffen; denn beide sitzen in einem Boot. ({3}) Sie haben behauptet, dass der früheren Regierung eine Senkung der Lohnnebenkosten nicht in angemessener Weise gelungen sei. ({4}) Sie haben verschwiegen, dass Sie bei der Rentenversicherung eine Quersubventionierung in Höhe von 37 Milliarden DM eingeführt haben. ({5}) Sie haben im Hinblick auf die Arbeitslosenzahlen die Demographie völlig außer Acht gelassen, ({6}) nämlich die Tatsache, dass jährlich 200 000 ältere Arbeitnehmer ausgeschieden sind. Trotzdem haben Sie heute immer noch die miserable Bilanz von 4,3 Millionen Arbeitslosen vorzuweisen. ({7}) Wir schulden es dem Mittelstand, dass seine Wirtschaftskraft hier einmal dargestellt wird. Wir sprechen in diesem Bereich von 3,3 Millionen Unternehmen und 20 Millionen Arbeitnehmern. Wer investiert im Augenblick am meisten? 49 Prozent der Umsätze, 70 Prozent aller Arbeitnehmer und 88 Prozent aller Auszubildenden sind im Mittelstand zu finden. Ich habe diese Zahlen genannt, damit wir uns die Wirtschaftskraft des Mittelstandes vergegenwärtigen. ({8}) Es brennt aber im Augenblick lichterloh. Die Regierung muss etwas tun, Herr Wend, ({9}) und zwar sofort. Ich sage Ihnen - auch wenn Sie es schon zigmal gehört haben -: Bei einer Eigenkapitalquote von im Augenblick gerade einmal noch 2 bis 5 Prozent in Risikobereichen - damit befinden sich die betreffenden Unternehmen am Rande des Abgrundes ({10}) müsste die Regierung endlich steuerliche Anreize zur Schaffung von Eigenkapital geben. Wir brauchen eine drastische Senkung der Lohnnebenkosten und eine Steuerreform - nicht erst ab 2005 -, die gerade den mittelständischen Unternehmen helfen wird. ({11}) - Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sagen Sie mal, wie es gehen soll! Das wäre sehr interessant!) Aber nichts von alldem ist derzeit zu sehen. Mein Vorredner von der CDU/CSU-Fraktion ist schon darauf eingegangen: Sie haben in jüngster Zeit zehn Gesetze auf den Weg gebracht, die wahre Nackenschläge für den Mittelstand waren. ({12}) Wenn man betrachtet, was diese Gesetze allein für die Bauindustrie bedeuten, dann muss man sagen, dass es furchtbare Gesetze sind. Außerdem sind 200 000 Arbeitnehmer im Bereich des Handwerks im vergangenen Jahr arbeitslos geworden. ({13}) Denken Sie in diesem Zusammenhang an die Kündigungsschutzregelung und an die große Zahl von Arbeitsgerichtsverfahren, die im Augenblick bei 600 000 pro Jahr liegt. Es besteht also eine völlig unklare Rechtssituation. Wer leidet in erster Linie darunter? Es sind gerade die kleinen Unternehmen. ({14}) 60 Prozent aller KMU haben bis zu zehn Mitarbeiter. Diese kleinen Unternehmen haben keine extra Justizabteilungen, die all diese Finessen der Gesetzgebung durchschauen. Das ist eine schwierige Lage. ({15}) Beim Thema Basel II habe ich nicht gehört, wie Sie sich das vorstellen, Herr Wend. Wie soll denn eine unternehmerische Idee bewertet werden? Wie stellen Sie sich die Finanzierung von Existenzgründern vor, die keine Historie vorzuweisen haben, die man auch nicht „raten“ kann? Nichts dergleichen habe ich gehört. Sie stellen sich heute, in der allerschlimmsten Lage des Mittelstandes, hin und beten alles gesund. ({16}) Ich meine, dafür haben Sie die Note 6 verdient. Das ist überhaupt keine Frage. ({17}) Wenn es eines weiteren Beweises bedarf: Die Selbstständigenquote liegt in Deutschland bei 10 Prozent. Im internationalen Vergleich liegt diese Quote bei 18 bis 20 Prozent. Woran liegt das? Von Ihnen habe ich nicht gehört, was Sie dagegen tun wollen. Ich komme jetzt noch einmal auf den Mittelstandsbericht zu sprechen und muss Ihnen sagen: ({18}) Das ist eine Ansammlung von Klein-klein-Initiativen, die, wenn das Gesamtkonzept stimmen würde, als Umrahmung ganz nett wären. Aber schauen Sie sich zum Beispiel das Kapitel „Besseres Klima schaffen für mehr Selbstständigkeit“ an. ({19}) Sie finden in diesem Mittelstandsbericht Schulprojekte und internetgestützte Schülerwettbewerbe. Das ist prima; aber das hilft dem Mittelstand in seiner Substanz nicht. ({20}) Zum Stichwort Bürokratieabbau wird in diesem grandiosen Bericht lediglich eine Vereinfachung von Antragsformularen vorgeschlagen. Das ist prima; aber das hilft dem in seiner Existenz gefährdeten Mittelstand nicht. Das heißt also: völlige Praxisferne bei der Regierung, was die augenblickliche Situation des Mittelstands betrifft. ({21}) Es sind überhaupt keine Perspektiven in Sicht, wie Sie helfen wollen. ({22}) Wie wäre es denn einmal mit einem Gesetzes- oder Bürokratie-TÜV? ({23}) - Nein, ohne neue Behörde, im Kopf. Das wäre wichtig, bevor wir hier Unsinn beschließen, neue Gesetze wie zum Beispiel zur Bauabzugsteuer und viele andere Dinge mehr. Das sind Todsünden für den Mittelstand. Ich kann Ihnen nur sagen: Die FDP wird dazu beitragen, dass es hier im September einen radikalen Kurswechsel gibt. ({24}) Wir haben erlebt, dass die Einmischung der Politik das Schlimmste ist, was der Wirtschaft und vor allen Dingen dem Mittelstand passieren kann. ({25}) - Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen. ({26}) Es wird ja ab September besser, ohne Sie. ({27}) Sie mischen sich ein, versäumen es aber, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Sie drehen an verschiedenen Stellschräubchen und nehmen damit dem Mittelstand die Luft zum Atmen. Sie haben es verdient, ab September nicht mehr auf der Regierungsbank zu sitzen. ({28})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Unterschied zwischen einer Wiederholung und einer Fortsetzung ist beim Film, dass eine Fortsetzung etwas Neues in der Handlung bringt. Wir aber wiederholen zum x-ten Mal den offensichtlichen Lieblingsfilm des Bundestages „Spiel mir das Lied vom Mittelstand“. ({0}) Nun gibt es das Buch zum Film. Ich meine, es ist gut, dass solch ein Bericht vorgelegt wird. Damit wird - Wahlkampf hin, Wahlkampf her - Kleinunternehmern und auch Politikern überhaupt erst einmal deutlich gezeigt, wo und wie Mittelstandspolitik des Bundes betrieben wird. ({1}) Damit bin ich allerdings auch bei einem Kardinalproblem dieses Berichts. Bei all den gepriesenen Förderlinien, Förderbausteinen und Internetportalen - der Dschungel für Rat und Hilfe Suchende hat sich bis jetzt nicht gelichtet. Mindestens ein Dutzend verschiedene Internetportale als Einstieg in unterschiedliche Felder der Mittelstandspolitik sind dem 56-Seiten-Bericht zu entnehmen. Fünf Bundesministerien - neben dem Wirtschaftsministerium auch das Forschungs-, das Umwelt-, das Familien- und das Entwicklungshilfeministerium - und natürlich, nicht zu vergessen, die geschätzte Kollegin Frau Wolf als Mittelstandsbeauftragte kümmern sich um den Mittelstand. Nur: Existenzgründer und Kleinunternehmer haben keine Zeit, pausenlos durch das Internet zu surfen. Als Vorsitzender des Offenen Wirtschaftsverbandes weiß ich das aus eigener Erfahrung und durch viele Berichte. Die Zeit reicht nicht aus, um zu suchen; die Zeit muss verwendet werden, um etwas zu tun. ({2}) Angesichts der auch in diesem Bericht bekundeten ITEuphorie der Bundesregierung müsste es doch eigentlich ein Leichtes sein, ein zentrales Internetportal einzurichten, von dem aus verständlich und übersichtlich der Weg zu allen Spezialinformationen - von Fragen inländischer Wirtschaftsförderung über Fragen zu Umwelt, Gleichstellung und Ausbildung bis hin zu Außenwirtschaftsfragen gewiesen wird. Das wäre zumindest ein Anfang, um irgendwann zu einem Angebot aus einer Hand zu kommen - zumal - das weiß ich aus eigener Erfahrung - mit der Deutschen Ausgleichsbank doch eine Struktur vorhanden ist, die in dieser Richtung schon viele gute Ansätze aufweist. Um diese weiterzuentwickeln, ist es erforderlich, den Kabinettsbeschluss vom Sommer 2000 aufzuheben, mit dem die DtA an die Kreditanstalt für Wiederaufbau verkauft werden sollte. Mögliche Synergien beider Förderbanken sind ja schon durch dessen Vorbereitung und die vielen Diskussionsrunden gehoben worden. Natürlich muss sich der Finanzminister endgültig von der Hoffnung verabschieden, seine Haushaltsbilanz mit virtuellen Milliardeneinnahmen aus einem Bankverkauf zu verbessern. Tatsächlich scheint die Existenzgründer- und Mittelstandsfinanzierung, anerkanntermaßen die Achillesverse eines Aufschwungs kleiner Unternehmen, seit vergangenem Sommer endlich auf einem guten Weg. Dafür spricht das im Bericht genannte Konzept „Bürgschaft ohne Bank“, bei dem ein Finanzbedarf bis 127 000 Euro zunächst ohne Einschaltung einer Hausbank durch Bürgschaftsbanken geprüft werden soll. Aber auch die neue BTU-Frühphase oder die Möglichkeit stiller Beteiligung der tbg an kleinen Technologieunternehmen mit „Futour 2000“ wäre zu nennen. Gestern hat es eine Anhörung zu Basel II gegeben. Die kürzeste Form, auf die ich das gestrige Ergebnis bringen kann, ist: Nicht Basel II, sondern die Banken sind das Problem. ({3}) Viel wichtiger als Basel II sind, will man Wachstum schaffen, öffentliche Investitionsprogramme, die Binnennachfrage, die Zahlungsmoral und das Insolvenzrecht. Denn, Frau Wolf, eine „zweite Chance“ hängt eben auch von der Qualität des Insolvenzrechts ab. Ich würde Sie sehr unterstützen, wenn wir da Veränderungen erreichen könnten. Das Nachdenken darüber, dass Mittelstandsförderung im „Direktvertrieb“, also ohne Hausbank, erfolgen kann, halte ich für richtig. Es kann doch nicht darum gehen, mit Existenzgründer- und Mittelstandsförderung letztlich vor allem Banken zu finanzieren. Ebensowenig kann es allerdings darum gehen, den Unternehmen mittels verlorener Zuschüsse einfach etwas zu schenken. Im Bericht wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass beim leidigen Thema „Meisterzwang im Handwerk“ die sorgfältige Beobachtung der Umsetzung gefasster Beschlüsse vorgenommen wird. Ein ebenso kritisches Herangehen wünschte ich mir bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder auch in Bezug auf die gerechte Lastenverteilung bei Berufsausbildungskosten. Um auf den Eingangssatz zurückzukommen: Wenn uns der Mittelstand so wichtig ist, wie wir das in den Reden immer betonen, dann sollten wir alles tun, dass es nicht bei Wiederholungen, bei ständigen Bekundungen seiner Wichtigkeit bleibt. ({4}) Vielmehr sollten wir gemeinsam - damit meine ich: unter Prüfung wirklich aller Ideen, die vorgelegt werden - etwas tun, damit sich eine erfolgreiche Entwicklung des Mittelstands fortsetzen lässt. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die Kollegin Jelena Hoffmann spricht für die SPD.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Wolf hat gerade in eindrucksvoller Weise ({0}) die Mittelstandspolitik unserer Bundesregierung vorgestellt. Der Bericht verdient unseren Dank und die Staatssekretärin unsere Genesungswünsche. ({1}) In 18 Kapiteln erhalten wir sehr detailliert Auskunft über die große Palette von Unterstützungsmöglichkeiten, die kleine und mittlere Unternehmen nutzen können. Herr Doss, wenn Sie sagen, die Mittelständler bräuchten diese Hochglanzbroschüre nicht, muss ich erwidern: Aber das, was da drinsteht, brauchen die Mittelständler. Aber sie brauchen jeden Euro, der hinter den Zeilen des Berichtes steht. ({2}) Der Mittelstand braucht eine gesicherte Finanzierung, Unterstützung in den Wachstumsbereichen und weniger Reglementierung. Genau das ist unsere Politik. ({3}) Welche Finanzhilfen geben wir dem Mittelstand? Wir wissen, dass die Kapitalausstattung die Achillesferse des Mittelstandes in Deutschland ist. Die Eigenkapitaldecke ist im europäischen Vergleich sehr gering. Man spricht von 15 bis 18 Prozent. Einige ganz kleine Unternehmen haben eine Eigenkapitaldecke von nur 4 Prozent. Deshalb unterstützen wir die KMUs mit über 5 Milliarden Euro aus dem ERP-Sondervermögen und zusätzlich mit 9 Milliarden Euro, die über die Förderbanken KfW und DtA beantragt werden können. Von der alten Regierung unterscheidet uns dabei die Tatsache, dass wir auch qualitative Verbesserungen des Förderinstrumentariums erreicht haben. Wir legen großen Wert auf die Betreuung und Beratung der Unternehmen. Die DtA bietet ihre Dienste bundesweit an 46 Standorten an. An dieser Stelle möchte ich auch an die mittelständischen Verbände appellieren, ihre Mitglieder gezielt auf die Möglichkeiten, die diese Förderprogramme bieten, aufmerksam zu machen. Ich weiß, dass in einigen Verbänden mehr davon gesprochen wird, was die Regierung nicht macht, als darüber, was unsere Regierung für den Mittelstand auf die Beine stellt. Das Recht zu kritisieren darf gegenüber der Pflicht zu informieren nicht überwiegen. In einer Debatte über den Mittelstand kann man das Thema Basel II nicht außen vor lassen. ({4}) Auch ich möchte kurz darauf eingehen. Basel II darf nicht die Fremdfinanzierung von kleinen Unternehmen gefährden. Dies lassen wir auch nicht zu, Herr Hinsken. Die nationalen Interessen des deutschen Mittelstandes werden von der Bundesregierung nachdrücklich vertreten. Besonders wichtig ist uns, dass die deutsche Praxis der langfristigen Kreditvergabe nicht gefährdet wird und erhalten bleibt. Aber auch die Banken sind in die Pflicht zu nehmen, sich weiter an der Mittelstandsfinanzierung zu beteiligen. Die Befürchtungen der KMUs, die Banken würden sich aus diesem Geschäft zurückziehen, dürfen nicht zur Tatsache werden. Banken sollen aktiver auf die Chancen des Ratingverfahrens hinweisen und die Kreditvergabe viel transparenter gestalten. Im Bereich der Finanzierung und Förderung liegen uns die mittelständischen Wachstumsbereiche besonders am Herzen. Dazu gehört auch die Tourismusbranche, die am meisten unter den Folgen des 11. September letzten Jahres gelitten hat. Doch das mittelständische Gastgewerbe hat sich konsolidiert und weist erstmals seit 1995 wieder Wachstumsraten auf. Zudem sind in der Tourismuswirtschaft neue Arbeitsplätze geschaffen worden: ein Zuwachs von 0,5 Prozent bei den Vollzeitstellen und von 1,5 Prozent im Teilzeitbereich. - Danke, Herr Hinsken, dass Sie dies mit Ihrer Kopfbewegung bestätigen. Von einem verstärkten Auslandsmarketing profitiert das Hotel- und Gastgewerbe. Deshalb unterstützen wir die Deutsche Zentrale für Tourismus in diesem Jahr mit etwa 22 Millionen Euro. Das ist mehr als je zuvor. Auch das länderübergreifende Inlandsmarketing wird weitere fünf Jahre bis 2006 fortgeführt und finanziell unterstützt. Dabei gehen wir auch hier neue Wege. Die Kompetenzzentren für Tourismus stehen für diesen Weg. Sie sind die Schnittstelle zwischen Tourismus und E-Business. Hier können die Reiseveranstalter und Reisebüros Internetkenntnisse erwerben, die speziell auf ihre Branche zugeschnitten sind. E-Business bietet enorme ökonomische Potenziale. Die Umsätze mit Internet- und Onlinediensten sind im Jahr 2000 um 40,5 Prozent auf 5,4 Milliarden Euro gestiegen. Im Internet liegt der Markt der Zukunft. Mit einem virtuellen Stadtbummel hat mein Wahlkreis Chemnitz gerade den ersten Preis im Wettbewerb „Attraktive Innenstadt“ gewonnen. Ich freue mich natürlich darüber. Ausgeschrieben wurde das Projekt vom Bundeswirtschaftsministerium. Und was hört man aus Ihren Reihen, meine Damen und Herren von der Opposition? Nur Katastrophenmeldungen. Durch Ihr Bestreben, unsere Politik kaputtzureden, schaden Sie der Wirtschaft in Deutschland. Was für eine Art Signal senden Sie aus den Fenstern Ihrer Berliner Parteizentrale in die Welt und damit auch an die ausländischen Investoren? Die Rezession steckt mehr in Ihren Köpfen als in der Wirtschaft. Sie betreiben mit Ihrer Kampagne Rufschädigung für Deutschland. Dabei setzen Sie außerdem der Wirtschaftspolitik made by Kohl nur Hörner auf. Oder haben Sie schon vergessen, welche Regierung Deutschland auf die hinteren Plätze in Europa geführt hat? ({5}) Wo war damals Ihre rote Laterne, Herr Hinsken? War sie im Keller vergraben? Der Konsolidierungskurs unserer Regierung ist das Beste, was dem Mittelstand geschehen kann. ({6}) Denn wir erreichen mit unserer Politik ein stabiles Wachstum und kein Wachstum, das nur von den Finanzmärkten abhängig ist. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Hoffmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst Hinsken?

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nicht für den Fall, dass es wieder nur um die rote Laterne geht. Herr Hinsken, lassen Sie uns das im Ausschuss besprechen. Herr Präsident, ich lasse die Zwischenfrage nicht zu. ({0}) Die meisten wirtschaftspolitischen Initiativen der Opposition lassen sich mit zwei Stichworten zusammenfassen: unfinanzierbar und konjunkturpolitisch kontraproduktiv. Allein die Abschaffung der Ökosteuer, von der aus Ihren Reihen - einmal so und einmal so - immer wieder die Rede ist, würde 15 Milliarden Euro kosten. Die Folge: eine Erhöhung der Rentenbeiträge und eine deutliche Mehrbelastung des Mittelstandes durch Erhöhung der Lohnnebenkosten - darauf wurde bereits eingegangen -, die Sie von 34 auf über 42 Prozent in die Höhe getrieben haben. ({1}) Meine Damen und Herren von der Opposition, weder die Ökosteuer noch die Betriebsverfassung hat ein Unternehmen in den Konkurs getrieben. Herr Hinsken, zeigen Sie mir einen Handwerker, der mehr Aufträge erhält, weil der Kündigungsschutz nicht mehr gilt. Ich muss zum Schluss kommen. ({2}) Die Chancen stehen gut, dass der Mittelstand nicht nur Konjunkturstabilisator bleibt, sondern zum Kern des jetzt beginnenden Aufschwungs in Deutschland wird. Wir Jelena Hoffmann ({3}) bieten die beste Unterstützung mit unserem kombinierten Programm „Mittelstand stärken - Haushalt konsolidieren“. Danke. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Dagmar Wöhrl.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schröder-Jahre sind magere Jahre, ({0}) und zwar magere Jahre für den Mittelstand. Das heißt erdrückende Steuerabgabenlast, arbeitsrechtliche Überreglementierung, noch mehr Bürokratie und Kürzung öffentlicher Investitionen. Glauben Sie nicht, dass der Mittelstand das nicht weiß! Er weiß, wer die Verantwortung dafür trägt. ({1}) Im vorliegenden Mittelstandsbericht preist Minister Müller international wettbewerbsfähige Steuersätze an. ({2}) Aber wie sieht die Realität aus? Noch nie gab es eine so einseitige steuerliche Benachteiligung des Mittelstandes wie jetzt. ({3}) Minister Müller lobt in seinem Bericht bezahlbare Rentenbeiträge. Aber wie sieht die Realität aus? Die BfA prognostiziert bereits für das nächste Jahr trotz der Ökosteuer steigende Beiträge. Aber Minister Müller beweist in seinem Mittelstandsbericht auch Humor. Er spricht nämlich von einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Das ist ein guter Witz. Die Mittelständler können darüber nicht lachen. Denn wie sieht auch hier die Realität aus? Einschränkung der 325-Euro-Jobs, Rechtsanspruch auf Teilzeit, Verschärfung des Betriebsverfassungsgesetzes, Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit, neue Buchführungspflichten et cetera, et cetera, also Belastungen über Belastungen. Das heißt, der Arbeitsmarkt wurde unter Ihrer Regierung noch starrer und noch bürokratischer. Auch wenn Sie in Ihrem Bericht eine wohlklingende Mittelstandsrhetorik anwenden, täuscht dies nicht darüber hinweg, dass Ihre mittelstandspolitische Bilanz verheerend ausfällt. Das Insolvenzrecht von 1999 - ich erwähne es absichtlich - hat in diesem Zusammenhang Auswirkungen. Nichtsdestoweniger ist es verheerend und erschreckend, dass es bei den Unternehmen im letzten Jahr 32 284 Insolvenzen gegeben hat. Davon waren über 200 000 Arbeitsplätze betroffen. ({4}) Wenn Sie dabei berücksichtigen, dass die Rezession bei den Unternehmen erst zeitversetzt ankommt, wissen Sie, dass wir in diesem Jahr eine Pleitewelle mit neuen Rekordzahlen zu erwarten haben. ({5}) Wie schaut es bei den wichtigen Existenzgründungen aus? Eine Vergleichsstudie über das weltweite Gründungsgeschehen zeigt, dass Deutschland im letzten Jahr beim Gründungs- und Investitionsklima nur den 22. Platz von 29 Ländern belegte. Gerade sieben von 100 Personen haben sich dazu entschlossen, sich selbstständig zu machen. Was lernen wir daraus? Der Pioniergeist scheint unter Rot-Grün nicht gerade sehr gut zu gedeihen. Man muss sich schon fragen, was die Gründe dafür sind. ({6}) Sicherlich gibt es viele Gründe dafür, sich selbstständig zu machen. Ein Selbstständiger muss aber auch Mut zum Risiko haben. Mit Ihrer Politik haben Sie diesen jungen Menschen jeglichen Mut zur Selbstständigkeit genommen. ({7}) Es klingt wirklich wie Hohn, dass Sie im Mittelstandsbericht schreiben, dass Sie die Kultur der Selbstständigkeit fördern. Wie fördern Sie sie denn? Tun Sie das, indem Sie die Business Angels steuerlich entmutigen und die Wesentlichkeitsgrenze für steuerfreie Beteiligungen von 20 Prozent auf 1 Prozent senken? Bestimmt nicht. Sie haben den gesamten Business-Angels-Markt, den wir mit Mühe und Not aufgebaut haben, kaputtgemacht. ({8}) Sie wissen, wie wichtig gerade für junge Unternehmen das Wagniskapital ist. ({9}) Jemand, der ein wenig Geld angespart und vielleicht gedacht hat, er könne sein angespartes Geld in ein junges Unternehmen investieren, überlegt heute - er hat natürlich ein Interesse daran, seinen Anteil wieder zu veräußern, und weiß, dass er das Geld bei der Veräußerung zukünftig Jelena Hoffmann ({10}) voll versteuern muss -, ob er es wirklich tun oder aber lieber Aktien kaufen bzw. in einen Fonds investieren sollte. ({11}) Ein anderes Beispiel sind die Stock Options. Diese sind für junge Technologieunternehmen sehr wichtig. Bei uns gibt es aber eine internationale Benachteiligung. Auch hier gehen Sie dieses wichtige Thema nicht an. Des Weiteren überziehen Sie die kleinen Betriebe mit einem undurchschaubaren Geflecht von immer mehr Vorschriften, Verordnungen und Gesetzen. Meine Damen und Herren, wir müssen endlich von den hohen Erhaltungssubventionen von gestern wegkommen. Wir müssen Unterstützungsprogramme für die Gründer von heute auflegen. ({12}) Ich sage es hier ganz offen und ehrlich: Wenn der Kanzler so überzeugend, wie er sich bei den Banken für Holzmann einsetzt, ({13}) für Erfolg versprechende kleinere und mittlere Betriebe werben würde, wäre schon viel geschehen. ({14}) Die Bürokratiekosten steigen. Man muss sich einmal vorstellen, dass allein der Kommentar zum Kündigungsschutzgesetz inzwischen 2,5 Kilogramm wiegt. Für die Gründung einer GmbH braucht man in Großbritannien sieben und in den USA zehn Tage. Jetzt raten Sie einmal, wie lange man in Deutschland braucht, um eine GmbH zu gründen. Dafür sind inzwischen vier Monate notwendig. ({15}) Unsere Aussagen werden auch durch die Studie des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes mit dem Titel „Diagnose Mittelstand“ bestätigt. Wie schaut diese Diagnose aus? Es ist eine düstere Bilanz. Die Studie sagt aus, dass wir viermal Grund zur Sorge haben. Erstens haben die Unternehmen lediglich eine hauchdünne Eigenkapitalausstattung, zweitens ist die Ertragslage der Unternehmen unzureichend, drittens wird die unternehmerische Tätigkeit immer weniger rentabel und viertens werden die Personalkosten immer höher. ({16}) Mehr als die Hälfte unserer Betriebe arbeitet nahezu ohne Eigenkapital. Unser Mittelstand lebt inzwischen von der Substanz. Sie wissen ganz genau, dass auch durch Basel II keine Verbesserung eintreten wird - im Gegenteil. Selbst in dem vergleichsweise guten Jahr 2000 haben 35 Prozent der kleineren Unternehmen mit einem Umsatz von bis zu 250 000 Euro überhaupt keinen Gewinn gemacht. Daran erkennen Sie, wie drastisch sich die Ertragslage des Mittelstandes unter Ihrer Regierung verschlechtert hat. ({17}) Wir haben eine angespannte Lage. Eine angespannte Lage erfordert eine schnelle und umfassende Therapie, keine leeren Versprechungen und medienwirksamen Äußerungen, die Sie immer wieder anbieten. ({18}) Was machen Sie? Sie bringen eine Steuerreform auf den Weg, mit der Sie die Personengesellschaften und damit den gesamten Mittelstand gegenüber den Kapitalgesellschaften schlechter stellen. ({19}) Die Großen werden bevorzugt, die Kleinen müssen bluten. Große Unternehmen haben im Jahr 2000 noch 23 Milliarden Euro Körperschaftsteuer bezahlt. Was war letztes Jahr? 400 Millionen Euro mussten ausbezahlt werden. ({20}) Natürlich müssen Kapitalgesellschaften entlastet werden; das ist überhaupt kein Thema. Aber zu Ihrer Steuerreform zitiere ich die Bundesbank: Eine Steuerreform, die die Fetten noch fetter macht, kann nicht richtig sein. Sie haben eine Schieflage geschaffen, die schnellstens beseitigt werden muss. ({21}) Wir sind mit unserer Meinung nicht allein. Das Ergebnis der Benchmarking-Studie ist: Der Mittelstand hat von der rot-grünen Steuerreform nicht profitiert. Meine Damen und Herren von der Koalition, die Neue Mitte bei Ihnen ist nur Mittel zum Zweck. Sie ist für Sie ausschließlich als Wahlkampfzielgruppe interessant und sonst nicht. Wenn es nicht stimmt, was ich sage, dann beweisen Sie es. Fangen Sie mit einem radikalen Entrümpelungsprogramm an! Erleichtern und verschlanken Sie endlich die Vorschriften für Neugründungen! ({22}) Fangen Sie mit Ihren ewigen Runderlassen und den zusätzlich geschaffenen Bürokratiebestimmungen an. Das gilt auch für das 325-Euro-Gesetz. Schaffen Sie endlich ein einfaches, unbürokratisches Gesetz. Wir versprechen: Sobald wir an der Regierung sind, werden wir jedem 400 Euro cash auf die Hand geben. Es muss sich in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen genauso wie bei Nebentätigkeiten endlich wieder lohnen, tätig zu werden. ({23}) Es geht nicht nur darum, dass eine Zusatzbeschäftigung wieder belohnt werden soll. ({24}) Das war Geld, das auch zur Binnenkonjunktur beigetragen hat. Sie wissen ganz genau, dass das momentan unser größtes Problem ist. ({25}) Eine neue CDU/CSU-Regierung wird die Interessen - das verspreche ich Ihnen - des Mittelstandes wieder berücksichtigen. ({26}) Da können Sie sicher sein. Arbeitslosigkeit können Sie nur mit einer mittelstandsfreundlichen Politik abbauen. Auch werden wir dafür sorgen, dass sich die Schere zwischen brutto und netto zukünftig wieder schließt. ({27}) Mittelstand und Existenzgründer müssen wieder in das Zentrum der Wirtschaftspolitik rücken, was aber mit Ihnen bestimmt nicht passieren wird. Vielen Dank. ({28})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzte Rednerin in dieser Debatte spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Lydia Westrich.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Wöhrl, mit Ihren Kassandrarufen kann man wirklich keine guten Geschäfte machen. Ich sage Ihnen: Der Mittelstand in Deutschland ist weit besser, ({0}) als uns die Opposition weismachen will. ({1}) - Dann hören Sie mit Ihren Kassandrarufen auf und unterstützen uns. ({2}) Der ausgezeichnete Bericht der Bundesregierung ({3}) zeigt, dass wir mit unserer Politik für den Mittelstand auf einem guten Weg sind. Auf wenigen Seiten umreißt er ein großes Bündel von Maßnahmen für die Zukunftsfähigkeit vieler kleinerer und mittlerer Unternehmen. Er unterstützt sie und hilft bei der Weiterentwicklung. Das sind Maßnahmen und Aktivitäten, die sich die lautstarke Opposition vielleicht selbst gerne auf die Fahnen geschrieben hätte. Wie eine Standarte tragen Sie das Wort Mittelstand bei fast all Ihren Reden vor sich her, wie dies vorhin auch schon der Kollege bemerkt hat. Aber diese Standarte wird nur von heißer Luft bewegt. Deswegen hängt Ihr Fähnchen ziemlich schwach und schlaff. ({4}) Im Ernst: Sie sollten den Bericht nehmen und bei Ihrer nächsten Betriebsbesichtigung mit den Unternehmern und den Kollegen besprechen. Machen Sie ihn zum Thema ihrer Mittelstandsgespräche. Sie werden feststellen, dass Ihre Unternehmen mit dem „Aktionsprogramm Mittelstand“ dieser rot-grünen Bundesregierung sehr vertraut sind. Sie nutzen es bereits in vielfältiger Weise, weil viele Mittelständler ihre Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit auch im internationalen Rahmen stärken wollen. Ihre Unternehmen haben durchaus registriert, dass es endlich statt fulminanter Reden ({5}) wie sie von Ihnen heute wieder vorgetragen worden sind tatkräftige Hilfen gibt. Tatkräftige Hilfen sind besser als jede noch so gute Rede. Es gibt Programme, auf die sie zugreifen können; sie sind teilweise maßgeschneidert, weil sie mit den Fachleuten und Praktikern vor Ort zusammen erarbeitet worden sind. Ich brauche als Beispiel nur meinen eigenen Wahlkreis zu nehmen. Die vom Bund unterstützte Technologietransferstelle des Handwerks funktioniert ausgezeichnet. Durch diese sind nicht nur neue Betriebe entstanden, sondern auch bestehende erweitert worden. Wir erhalten jetzt eine vom Wirtschaftsministerium unterstützte überbetriebliche Weiterbildungseinrichtung, die Handwerker an die Bereiche regenerativer Energie und neuer Technologien heranführt, um zum Beispiel die Wartung und Installation von Blockheizkraftwerken, Photovoltaikanlagen oder solarthermischen Anlagen lernen zu können und so die Betriebe zukunftsfähig zu machen. ({6}) Ich war letzte Woche auf der Schuhmesse in Düsseldorf. Dort hat mir ein mittelständischer Kinderschuhproduzent erzählt, dass er 60 Prozent seiner Kinderschuhe exportiert. Die USA, Kanada, Skandinavien und Japan sind seine neuen Abnehmer. Diese neuen Märkte hat er sich mit Unterstützung des Wirtschaftsministeriums erschließen können. Er kann die Schuhe insgesamt bis zum letzten Stich in Pirmasens herstellen, hat neue Mitarbeiter eingestellt und ist in Bezug auf die Zukunft sehr zuversichtlich. ({7}) Ohne die Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung hätte er den Schritt zu diesen Handelsbeziehungen nach Übersee und Asien nicht gewagt. Bei meinem Messerundgang habe ich im sachlichen Gespräch mit den meist mittelständischen Unternehmen oder Familienbetrieben - nicht mit den Funktionären - viele positive Beispiele der Inanspruchnahme verschiedenster Programme unserer umfassenden Mittelstandsförderung erläutert bekommen. ({8}) Ich habe es selbst erlebt, dass anwesende Unternehmerkollegen die Ideen aufgegriffen und sich gleich nach den Modalitäten erkundigt haben. Einer hat gemeint, schon die Information über „Pro Inno“ oder die KMU-Patentaktion zusammen mit dem Projekt Insti war den Messebesuch wert. Das ist praktische Hilfe, von der Sie vielleicht nichts halten. Wir tragen nicht nur markige Wort vor uns her, sondern nehmen die Unternehmen bei der Hand und planen mit ihnen gemeinsam unterstützende Programme und den Abbau von Hemmnissen. Wir führen diese Programme auch durch. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Westrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken? ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Westrich, wir haben vorhin in mehreren Reden gehört, dass wir allein im letzten Jahr 36 000 Insolvenzen hatten. ({0}) Es ist zu befürchten, dass es in diesem Jahr 40 000 sein werden. Haben Sie schon mit Unternehmern gesprochen, die in Konkurs gehen mussten, weil die Bundesregierung eine solch schlechte Mittelstandspolitik macht, dass sie nicht mehr über die Runden kommen? ({1}) Was haben Sie getan, um zu helfen und das Los der Betroffenen - das sind Einzelschicksale - zu lindern?

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Hinsken, ich habe selbst in meinem Wahlkreis einige Unternehmer, die leider Insolvenz beantragen müssen. Ich kann mich aber auch erinnern, dass ich vor sechs Jahren Reden gehalten habe, die auch den Tenor „So viele Insolvenzen und so viele Arbeitslose“ gehabt haben. ({0}) Ich habe in meinem Wahlkreis durch die Krise in der Schuhindustrie eine Insolvenz nach der anderen erleben müssen. Ich habe vor dem Hintergrund des neuen Betriebsverfassungsgesetzes erlebt, dass sich Unternehmen und Betriebsräte zusammensetzen. Auf diese Weise wurden in meinem Wahlkreis mindestens drei Betriebe gerettet. Das heißt, es war wichtig, dass wir die Betriebsräte gestärkt und den Unternehmen Partner an die Hand gegeben haben, damit sie weiterexistieren können. ({1}) Wenn Arbeitnehmer und Unternehmer gleichberechtigte Partner sind, dann sind das auch Möglichkeiten, um Insolvenzen zu vermeiden. Sie wollen dies nur nicht wahrhaben. Das aber ist die Wahrheit. Wenn Sie sich ein bisschen in Ihren Wahlkreisen umschauen, können Sie verschiedenste Beispiele solcher Art erfahren. Wir werden in dieser Richtung weiterarbeiten, damit die Zusammenarbeit gestärkt wird. ({2}) - Das ist Ihre Ansicht. Aber wenn Sie einen Blick auf die Praxis werfen, werden Sie sehen, dass es sich ganz anders verhält. - Das ist praktische Hilfe, die die KMU überall brauchen. ({3}) Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit einem Mittelständler über die Steuerbelastung reden - Sie haben vorhin darüber geredet -, bekommt er sicherlich glänzende Augen. Ich weiß nicht, wie es in Ihrer Steuererklärung oder in der Ihres Unternehmens aussieht, Frau Wöhrl, aber bei uns freuen sich die Betriebe darüber, dass sie tatsächlich die Gewerbesteuer los sind, ohne ein schlechtes Gewissen gegenüber der Stadt haben zu müssen. Die hat nämlich - bei uns zum Beispiel - steigende Gewerbesteuereinnahmen zu verzeichnen. Wir haben den Betrieben mit unserer Steuerpolitik wirtschaftliche Freiräume zurückgegeben. Zum Beispiel werden bei einem Gewinn von circa 100 000 Euro 2002 mehr als 4 000 Euro weniger Belastungen entstehen als 1998. Wenn Sie mit einem Scheck über 1 000 DM oder 400 Euro wedeln, dann möchte ich darauf hinweisen, dass wir den Mittelstand bis heute weit stärker entlastet haben, als Sie es mit Ihrem Scheck tun könnten. ({4}) Die Belastung sinkt bis 2005 kontinuierlich und planbar für alle Unternehmen weiter. Mitunternehmererlass, Reinvestitionsrücklage und Ansparabschreibungen stellen deutliche Erleichterungen dar, die für die kleinen Unternehmen bei Generationenfolge und geplanten Investitionen neue Finanzkraft bedeuten. Schon 2001 lag die Gesamtsteuerbelastung mit Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag bei einem Personenunternehmen mit circa 50 000 Euro Gewinn - davon gibt es sehr viele - nur noch bei 20,4 Prozent. Es war der Wille der rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen der SPD und der Grünen, den mittelständischen Unternehmen die Bewegungsfreiheit und Finanzkraft zurückzugeben, die Sie ihnen genommen haben. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb haben wir die Steuerpolitik darauf ausgerichtet - wie das „Handelsblatt“ vor einem Jahr titelte - „Keine steuerliche Benachteiligung des Mittelstands“. Das erzählt Ihnen inzwischen jeder Unternehmer und jeder Steuerberater. Auch Sie können die Zahlen nicht leugnen. Wir wollen diesen Weg weiterverfolgen. Der Mittelstand wird es uns am 22. September danken. Danke schön. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8548 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Anton Pfeifer, Dr. Norbert Lammert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft der deutschen Auslandsschulen - Drucksache 14/8106 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch damit sind Sie einverstanden. Ich kann Ihnen schon mitteilen, dass die Kollegin Monika Griefahn von der SPD-Fraktion und der Kollege Dr. Heinrich Fink von der PDS-Fraktion ihre Reden zu Protokoll geben. Als ersten Redner erteile ich dem Kollegen Hartmut Koschyk für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben als CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Antrag über die Zukunft der deutschen Auslandsschulen eingebracht. Ich möchte kurz den Hintergrund dieses Antrags erläutern. Seit langem besteht Einvernehmen darüber, dass die auswärtige Kulturpolitik als dritte Säule der Außenpolitik zu verstehen ist. In dieser Säule nehmen die Auslandsschulen als wichtiges Instrument der Bildungspolitik, aber auch der auswärtigen Kulturpolitik eine entscheidende Funktion ein. Neben den Kulturbeziehungen dient es eben auch der Förderung der deutschen Außenwirtschaft, dem Dialog der Kulturen und unseren bilateralen politischen Beziehungen, wenn wir an vielen Orten dieser Welt deutsche Auslandsschulen unterhalten. Diese Schulen betreiben eine praktische, aber oftmals auch unaufdringliche Sympathiewerbung für die deutsche Sprache und Kultur, was sicherlich im wohlverstandenen Interesse unseres Landes liegt, aber auch im Hinblick auf die Globalisierung der Weltwirtschaft immer notwendiger wird. Ingo Plöger, der Präsident der Deutsch-Brasilianischen Handelskammer in Sao Paulo, hat über die Bedeutung der deutschen Auslandsschulen zu Recht festgestellt, dass sie ein hervorragendes Instrument für die deutsche auswärtige Kulturpolitik darstellen, um nachhaltig kulturelle und außenwirtschaftliche Beziehungen zu pflegen. Durch die Tätigkeit der deutschen Auslandsschulen wird weltweit das Interesse für die Geschichte und die Kultur Deutschlands geweckt wie auch der Stellenwert der deutschen Sprache in der Welt verbessert. Dadurch, dass 100 000 Schülerinnen und Schüler an 119 schulischen Einrichtungen im Ausland unterrichtet werden sowie weitere 130 000 in Mittel- und Osteuropa und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten staatliche und private Schulen mit Deutsch als Fremdsprache oder sogar mit deutschem Unterricht besuchen, werden Bindungen zu Deutschland geschaffen, die durch andere Instrumente der auswärtigen Kulturpolitik kaum erreicht werden können. ({0}) Die deutschen Auslandsschulen erfüllen also wertvolle Aufgaben bei der Verständigung zwischen Deutschland und seinen Partnern in der Welt. Einen Ort des kulturellen Austausches bilden diese Schulen aber nur dann, wenn es auch sozial schwächeren Familien in den Gastländern möglich ist, ihre Kinder auf diese Schulen zu schicken, wenn sie also nicht als Eliteschulen verstanden werden. Dies muss auch bei den finanziellen Planungen für das deutsche Auslandsschulwesen gewährleistet werden. Entschieden plädiert unsere Fraktion auch für den Erhalt von Deutsch als Unterrichtssprache an den deutschen Auslandsschulen; denn die deutsche Sprache wird so zu einem kulturellen, aber auch emotionalen Bindeglied zu Deutschland. Mit dem Erlernen der deutschen Sprache werden auch für Kinder aus den Gastländern, also für nicht deutsche Kinder, positive Einstellungen gegenüber unserem Land, seinen Menschen und seiner Kultur, aber auch gegenüber unserem Wirtschaftsgefüge vermittelt. Dies nutzt den deutschen Außenwirtschaftsbeziehungen vor allem mit den Ländern, die für die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten immer wichtiger werden. ({1}) Es geht hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch um eine Kernaufgabe des deutschen Auslandsschulwesens, nämlich um eine qualitativ hochwertige Schulversorgung für Tausende von Kindern deutscher Staatsbürger, die zeitweilig für deutsche Unternehmen, sonstige deutsche Einrichtungen oder deutsche Vertretungen im Ausland tätig sind. Wir haben eine Fürsorgepflicht für die schulische Wiedereingliederung der Kinder deutscher Staatsbürger, die sich zeitweise im Ausland aufhalten. Diese können wir nur dann gewährleisten, wenn die Schulversorgung auf einem hohen Niveau sichergestellt bleibt. Deutsche Auslandsschulen sind aber auch ein wichtiges Bindeglied zwischen Deutschland und den auf Dauer im Ausland lebenden deutschsprachigen Gemeinschaften, insbesondere den deutschen Minderheiten vor allem in Mittel- und Osteuropa, die eine wichtige kulturelle Brücke zwischen Deutschland und ihren Heimatländern darstellen. Die deutsche Wirtschaft lebt ganz entscheidend vom Export. Dies setzt Präsenz auf allen Weltmärkten voraus. Sehr viele deutsche Unternehmen entsenden ihre Mitarbeiter ins Ausland, damit sie dort Kunden werben und beraten, Maschinen aufstellen und warten, den Export ausbauen sowie Filialnetze errichten. Für diese Mitarbeiter der deutschen Wirtschaft ist es entscheidend, dass ihre Kinder im Ausland eine Schulausbildung nach deutschem Modell vorfinden, damit sie später ihre Ausbildung in Deutschland fortsetzen können. So hat eine Untersuchung des Deutschen Industrie- und Handelstages ergeben, dass für 95 Prozent der deutschen Unternehmen die Existenz einer guten deutschen Schule in dem jeweiligen Land von großer Bedeutung ist, um Entsandtkräfte für eine Tätigkeit in diesem Land zu gewinnen. Zugleich - und das sollte uns alarmieren - beklagen 86 Prozent der vom Deutschen Industrie- und Handelstag befragten Unternehmen eine für die Erfüllung ihrer Aufgaben nicht hinreichende finanzielle Ausstattung deutscher Schulen im Ausland. Deshalb hat die Wirtschaftsministerkonferenz auf Initiative Bayerns zu Recht einen Appell an die Bundesregierung gerichtet, die Qualität und Funktionsfähigkeit der deutschen Auslandsschulen nicht durch Kürzungen im Haushalt des Auswärtigen Amtes weiter zu gefährden, sondern das deutsche Auslandsschulwesen nachhaltig zu stärken und weiter auszubauen. ({2}) Betrachtet man die Entwicklung des Schultitels des Auswärtigen Amtes seit Regierungsübernahme der rotgrünen Koalition im Jahr 1998, so stellt man fest, dass der Schultitel im Auswärtigen Amt 1998 noch 193 Millionen Euro betrug. In diesem Jahr ist dieser Ansatz auf 172 Millionen Euro gesunken. Er soll in der mittelfristigen Finanzplanung bis zum Jahr 2004 auf 169 Millionen Euro zurückgeführt werden. Diese Kürzungen beinhalten noch nicht die Teuerungsraten in vielen Ländern der Welt und die Wechselkursschwankungen. Berücksichtigt man diese Aspekte, so kann man von einer Senkung des Schultitels im Auswärtigen Amt von 30 bis 40 Prozent ausgehen. ({3}) Zu Recht warnen deshalb die deutschen Außenhandelskammern, die Verantwortlichen deutscher Unternehmen vor Ort, aber auch die Wirtschaft in Deutschland vor der Gefahr eines Renommeeverlustes deutscher Auslandsschulen gegenüber internationalen Schulen vor Ort. Die Folgen dieser Einsparungen sind schon heute sichtbar. Sie äußern sich im Rückgang der Anzahl qualifizierter Entsendelehrer, in Statusverschlechterungen und in der zu geringen Anzahl deutscher Lehrer. Das Schulgeld hingegen steigt, was zur Folge hat, dass die Zahl der Schüler zurückgeht. Durch die massive Kürzungspolitik der Bundesrepublik sind die deutschen Auslandsschulen zu einem Stiefkind der deutschen auswärtigen Kulturpolitik geworden. Dies ist nicht länger hinnehmbar. ({4}) Wir fordern deshalb in unserem Antrag, die weitere Kürzung des Schultitels zu stoppen und den in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehenen Finanzierungsansatz endlich grundlegend zu korrigieren. Die Bundesregierung muss anerkennen, dass die deutschen Auslandsschulen einen wesentlichen Beitrag zum Ansehen Deutschlands in der Welt leisten und dass sie einen legitimen und gesicherten Anspruch auf eine verlässliche Finanzierung durch Mittel aus dem Bundeshaushalt haben. ({5}) In der mittelfristigen Finanzplanung müssen auch die Folgen berücksichtigt werden, die sich aus Wechselkursschwankungen und der Geldentwertung in den Gastländern ergeben. Auch im Rahmen der 38. Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache, die unter dem Thema „Deutsch von außen“ stand, wurde erst in diesen Tagen mehrfach die Forderung formuliert, die auswärtige Kulturpolitik solle ihren Sparkurs beenden und die Anstrengungen des Goethe-Institutes, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, der anderen Mittler, aber auch der deutschen Auslandsschulen zur Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur sowie zum Erhalt der sprachlichen Vielfalt nach Kräften unterstützen. Die rot-grüne Bundesregierung beraubt sich mit ihrer derzeitigen Politik eindeutig eines der vornehmsten Instrumente auswärtiger Kulturpolitik. ({6}) Nicht nur die wiederholte, vollmundig angekündigte Stärkung der auswärtigen Kulturpolitik bleibt weiterhin aus. Es kommt noch schlimmer: Es werden bestehende, funktionierende Strukturen der auswärtigen Kulturpolitik gerade auch im Bereich des Auslandsschulwesens durch die vorgenommenen Kürzungen in einem nicht mehr zu verantwortenden Maße in ihrem Bestand gefährdet. Die im Bereich der Auslandsschulen stark engagierte deutsche Wirtschaft, die an den Auslandsschulen tätigen Lehrer, aber auch die in den Schulen engagierten Unternehmen und die Elternschaft sind - das liest man in vielen Berichten und Briefen - über diese Vernachlässigung durch die Bundesregierung tief enttäuscht. Die vorgenommenen Kürzungen des Schultitels sind ferner ein Beleg dafür, dass man die unermüdliche Arbeit von den in den deutschen Schulvereinen im Ausland arbeitenden Hunderten von ausländischen Partnern und deren freiwilligen, ehrenamtlichen Einsatz für „ihre“ deutsche Schule vor Ort verkennt. Gerade der Einsatz ausländischer Partner vor Ort ist nicht nur in ideeller, sondern auch in finanzieller Hinsicht ein großes Kapital, das in keiner anderen im Ausland tätigen deutschen Kulturinstitution vorhanden ist und das nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf. Deshalb ist es dringend erforderlich - auch das fordern wir in unserem Antrag -, dass die Bundesregierung endlich ein Gesamtkonzept für die Entwicklung des deutschen Auslandsschulwesens vorlegt. ({7}) In diesem Konzept muss deutlich werden, welche Rolle die Auslandsschulen in der auswärtigen Kulturpolitik in Zukunft spielen sollen. Es muss eine sichere Finanzierungsgrundlage geschaffen werden. Es müssen auch andere Bundesressorts in die Entwicklung eines langfristig gesicherten Finanzierungskonzeptes einbezogen werden; denn die finanzielle Sicherung der deutschen Auslandsschulen ist nicht nur eine Aufgabe der auswärtigen Kulturpolitik. Sie ist auch eine Aufgabe der Außenwirtschaftspolitik und der Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. ({8}) Durch die verminderte personelle Förderung sind die im Inland und im Ausland anerkannten Bildungsabschlüsse der deutschen Auslandsschulen derzeit stark gefährdet. Unsere Bundesländer setzen in der Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen Kulturhoheit für die Anerkennung von Abschlüssen von Auslandsschulen zu Recht eine personelle Mindestausstattung voraus. Aufgrund der fortschreitenden Personalkürzungen wird diese Ausstattung immer häufiger unterschritten. Wenn in einer Schule die Bildungsabschlüsse gefährdet sind, sind letztlich ganze Bildungsgänge und ist damit auch die Einrichtung als Ganzes infrage gestellt. Für die Schulen wirken sich die fortgesetzten Mittelkürzungen verheerend aus. Wenn keine oder nur noch wenig Mittel vorhanden sind, kann man ein einzelnes Projekt der auswärtigen Kulturpolitik verschieben oder auch gar nicht realisieren; eine deutsche Auslandsschule aber lässt sich nicht einfach in einer eingeschränkten Form weiterbetreiben, ohne dass dies auf das Bildungsschicksal von jungen Menschen gravierend Einfluss nimmt. ({9}) Auch darf das für eine schulische Einrichtung so wichtige Vertrauen nicht nachhaltig zerstört werden. Die Kürzungen stellen somit auch eine schwere Belastung für die Vertrauenswürdigkeit deutscher Politik in der Welt dar. Wenn Sie heute an Schulstandorte im Ausland fahren, dann merken Sie, wie die deutsche Wirtschaft vor Ort für diese Schulstandorte engagiert ist. ({10}) Es werden Grundstücke erworben und Investitionen getätigt. Wenn die deutsche Wirtschaft Vorleistungen vor Ort erbringt, dann hat sie allerdings auch einen Anspruch darauf, dass wir durch entsprechende Haushaltszuwendungen die Schulen im Hinblick auf Lehrpersonal, Unterrichtsmaterial und andere Notwendigkeiten ausreichend ausstatten. Ich will in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Punkt hinweisen, der auch von den deutschen Universitäten und von der deutschen Hochschullandschaft zu Recht immer wieder hervorgehoben wird. Wir werben für Deutschland auch als Hochschulstandort. Viele, die sich für ein Studium in Deutschland entscheiden, vor allem ausländische Eliten, die wir für ein Studium in Deutschland gewinnen wollen, haben ihre ersten Berührungspunkte mit der deutschen Sprache und der deutschen Kultur meist durch den Besuch einer deutschen Auslandsschule. ({11}): So ist es!) Wenn aber die Qualität der deutschen Auslandsschulen durch die Mittelkürzungen sinkt, dann ist es für viele Kinder in den Gastländern nicht mehr interessant, eine deutsche Schule zu besuchen, und dann entscheiden sie sich für andere internationale Schulen vor Ort. So entstehen nicht die Bindungen an die deutsche Sprache und Kultur, die wichtig sind, wenn es darum geht, sich für einen Studienort in Deutschland zu entscheiden. Die Bundesregierung muss endlich ein Gesamtkonzept vorlegen. Die Kürzungspolitik muss endlich beendet werden. Auch müssen Partnerschaften neu begründet werden. Es lässt sich eine Reihe von Synergieeffekten schaffen - da bin ich mir sicher -, indem wir mit Partnerländern in der Europäischen Union gemeinsam Infrastruktur bei deutschen Schulen in der Welt vorhalten. Eine Turnhalle, eine Schwimmhalle, ein naturwissenschaftlicher Lehrsaal können sicherlich mit Partnern in der EU vor Ort finanziert werden und auch für Schüler anderer Schulen vor Ort zur Verfügung gestellt werden. Wir sollten auch keine Angst davor haben, meine ich, mit den anderen deutschsprachigen Ländern in Europa - ich denke an Österreich und an die Schweiz - über Kooperationsmaßnahmen im Hinblick auf deutsche und deutschsprachige Schulen im Ausland nachzudenken. ({12}) Das Gewurschtel, das „Weiter so!“, das Nichterkennen dessen, wie durch die Kürzungen Substanzverlust eintritt, müssen auf alle Fälle beendet werden. Deshalb ist es wichtig, dass dieses Thema mit unserem Antrag auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestags gesetzt wurde. Sie als Regierung sind gezwungen, jetzt endlich einmal ein langfristiges und auch durchfinanziertes Konzept in dieser Frage vorzulegen. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kollegin Rita Grießhaber.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Auslandsschulen sind in der Tat ein wichtiger Teil der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Sie ermöglichen nicht nur deutschen Kindern im Ausland, einen deutschen Schulabschluss zu machen, sondern auch Kindern und Jugendlichen der Gastländer Zugang zu unserem Bildungssystem, zur deutschen Sprache und zu unserer Kultur. Als Stätten der Begegnung wirken sie weit in die jeweiligen Gesellschaften hinein. Mit der Konzeption 2000 hat die Bundesregierung ein Konzept vorgelegt, von dem Sie, Herr Kollege Koschyk, anscheinend noch nichts gehört haben. Ich empfehle es Ihnen zur Lektüre. ({0}) Die Auslandsschulen sind eines unserer wichtigsten Instrumente, um den Dialog zwischen den Kulturen zu befördern. Fast ein Drittel des Gesamtbudgets für die auswärtige Kulturpolitik ist für die Auslandsschulen bestimmt. Natürlich mussten auch die Schulen unter der notwendigen Haushaltskonsolidierung leiden. Dass ausgerechnet Investitionen in die junge Generation und ihre Bildung dem Sparzwang unterworfen sind, schmerzt. Nicht zuletzt deswegen haben wir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens im Haushalt den Titel für die Auslandsschulen aufgestockt, und zwar um 5 Millionen Euro. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis. ({1}) Auch für die deutsche Wirtschaft sind die Auslandsschulen wichtig: Sie werden zum einen von mehr als 10 000 Kindern deutscher Unternehmensvertreter besucht. Zum anderen sind ortsansässige Schülerinnen und Schüler, die deutsche Auslandsschulen besucht haben, potenzielle zweisprachige Arbeitskräfte, auf die sehr gerne zurückgegriffen wird. Dass sich auch die Wirtschaft zunehmend für die Schulen engagiert, ist sehr zu begrüßen; daran ist nichts auszusetzen. Es ist klar, dass die wirtschaftliche Situation der Schulen je nach Standort variiert: Die deutsche Schule in Schanghai zum Beispiel finanziert sich zu 90 Prozent selbst. Vergessen Sie nicht, Kollege Koschyk, Großbritannien und die USA subventionieren ihre Schulen im Ausland überhaupt nicht. ({2}) Natürlich hat die Weltsprache Englisch sozusagen die Poleposition. Das heißt aber doch nicht, dass bei uns alles zu teuer wäre. Mein Sohn war auf der deutschen Schule in Barcelona. Das Schulgeld lag dort niedriger als in einer bayerischen Ganztagsschule. Dort zahlt man für diese mehr, weil es dort keine öffentlichen Ganztagsschulen gibt. ({3}) - Nein, das war in den letzten zwei Jahren. Aber auch wir haben bei den Schulen Effizienzgewinne erzielt. Die so genannten Euro-Campus-Schulen, zum Beispiel in Manila, Pretoria und Taipeh, sind richtungsweisend. Ich wünsche mir, dass dieses Beispiel auch weiterhin Schule macht. ({4}) Sie sind nicht nur Ausdruck sparsamen Wirtschaftens, sondern auch höchstgelungener europäischer Kooperation. Meine Damen und Herren, Bürokratie ist aufwendig und kostet Geld. ({5}) Deswegen war es richtig, deutsche Schulliegenschaften an örtliche Träger und Schulvereine zu verkaufen, um weniger bürokratisch und kostengünstiger zu wirtschaften. Das Beispiel der deutschen Schule in Budapest zeigt, dass das sehr gut funktioniert. Ganz besonders freut mich, dass das Auswärtige Amt in Afghanistan die Armani-Schule und das Mädchengymnasium aktiv fördert, dass ein Schulneubau bereits projektiert ist und Fachberater für Deutsch als Fremdsprache entsandt sind. Für mich zeigt sich hier, wie mithilfe der auswärtigen Kulturpolitik Wiederaufbau, Bildung und Dialog befördert werden, gerade in einem Land, das nicht nur unter materieller Not, sondern auch unter Indoktrination extrem gelitten hat. Deswegen wünsche ich allen, aber ganz besonders diesen Schulen, dass sie vielen Kindern eine gute Zukunftsperspektive eröffnen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Hirche, FDP-Fraktion. Für den Beifall braucht er allerdings gleich ein wenig Solidarität der anderen Fraktionen.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kann ja wohl kein Zweifel sein, dass beim Thema Auslandsschulen in diesem Hause eine breite Übereinstimmung herrscht. Es ist von den Vorrednern schon aufgezeigt worden: Diese Schulen sind unter kulturpolitischen Gesichtspunkten - es handelt sich hierbei um die dritte Säule der deutschen Außenpolitik - und unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten nützlich, und zwar sowohl für die Kinder von Deutschen, die in verschiedenen Teilen der Welt tätig sind, wie auch insbesondere für Kinder aus den Ländern, in denen sich diese Schulen befinden. Diese Schulen sind - da schließe ich mich meinen Vorrednern vollständig an - eine Brücke zwischen den Kulturen. Man kann in diesem Zusammenhang sogar sagen: Die Sprache des jeweiligen Landes ist nicht nur Zweitsprache; vielmehr werden zwei Sprachen gelernt. Die Jugendlichen bewegen sich in zwei Welten. Da eine große Zahl der Absolventen dieser Schulen auch nach Deutschland kommt, stellen diese Schulen eine besondere Brücke auf dem Gebiet des seit einiger Zeit schwerer gewordenen Dialogs der Kulturen dar. Wir können deswegen nur gemeinsam dazu beitragen, diese Auslandsschulen so intensiv wie möglich als ein Element vertrauensbildender Maßnahmen durch auswärtige Kulturpolitik zu unterstützen. Diese Schulen sind Elemente eines Netzes vertrauensbildender Maßnahmen. Ich benutze diese Worte bewusst, weil gerade zu dieser Stunde nebenan eine große Feier zu Ehren des langjährigen Außenministers der Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher stattfindet, für den die Kulturpolitik immer eine große Rolle gespielt hat. In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Bemerkungen - die eine zum Inhaltlichen und die andere zum Finanziellen - machen: Ich begrüße es zunächst einmal, dass die Überlegungen zum Inhaltlichen doch weiter gegangen sind, als es vor einem Jahr der Fall zu sein schien. Da schien es nämlich so zu sein, dass aufgrund der knapper werdenden Mittel die Entsendung der Auslandsschullehrer an die verschiedenen Schulen gefährdet ist, mit der Folge, dass dadurch die Prüfungen dieser Schulen möglicherweise nicht mehr anerkannt worden wären. Das galt zwar nicht für die Sekundarstufe II - diesbezüglich hat man das nicht diskutiert -, aber für die Sekundarstufe I, wo die Zahl der Auslandsdienstkräfte von fünf auf zwei herabgesetzt werden sollte. Wie ich mir habe sagen lassen, ist dieses Vorhaben inzwischen durch ein neues Konzept abgewendet worden, das ich grundsätzlich für richtig halte; denn es geht jetzt nicht darum, die Qualität eines Abschlusses daran zu messen, ob an einer Schule wirklich fünf Lehrer aus Deutschland tätig sind. Vielmehr geht es darum, festzustellen, ob bestimmte Normen, bestimmte Qualitäten mit fünf, möglicherweise aber auch mit weniger Lehrern aus Deutschland erreicht werden können. Das ist insgesamt ein guter Weg. Wichtig ist eben, dass die Qualität erhalten und die Anerkennung der Abschlüsse trotz der schwierigen Finanzlage gesichert bleiben. In diesem Zusammenhang scheint es mir manchmal so zu sein - das möchte ich doch kritisch anmerken -, dass die deutsche Bürokratie eine erschreckende Gründlichkeit, was die Behandlung der Auslandsschulen angeht, an den Tag legt. Es gibt den Bund-Länder-Ausschuss für schulische Arbeit im Ausland und die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen im Bundesverwaltungsamt. All die Vorschriften, die von diesen Einrichtungen erlassen werden, zwicken die Schulen im Ausland sehr. Manchmal sollten wir angesichts der schlechten Finanzlage schon über eine bessere Politik mit weniger Genehmigungen und mehr Zutrauen in die pädagogische Arbeit vor Ort nachdenken. Sie können ganz sicher sein - das sage ich auch der Bundesregierung -, dass diese Schulen, insbesondere wegen der aktiven Mitwirkung der Eltern, ein Interesse daran haben, dass ihre Examina auch in Deutschland gelten. Schon jetzt ist die Situation folgendermaßen: Bestimmte Examina gelten in anderen Ländern der Welt ohne weiteres; nur wir in Deutschland meinen, diese Examina nicht anerkennen zu müssen. Ich halte das wirklich für einen falschen Weg. Da müssen wir uns allerdings alle an die eigene Nase fassen. ({0}) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum Thema Finanzen machen. Es ist schon so - das weiß ja auch die Regierung -, dass die heutige Finanzausstattung der Auslandsschulen real derjenigen von 1991 entspricht. Das heißt, dass die Zuwachsraten, die zwischen 1991 und 1998 vorhanden waren, zurückgeführt worden sind. Man muss auch sagen: Allgemeine Finanzknappheit hin und her - das ist jetzt nicht das Thema -, die Bundesregierung hat entschieden, dass das Auswärtige Amt insgesamt zusätzliches Geld zur Verfügung hat. Das heißt: Der Etat ist um einen bestimmten Prozentsatz gewachsen. Doch trotz aller Bedeutung der auswärtigen Kulturpolitik hat man Mittel für die Auslandsschulen gestrichen. Das, verehrte Kollegin Grießhaber, halte ich nicht für richtig. Denn wenn das, was Sie gesagt haben, inhaltlich richtig ist, dann müsste diese Bundesregierung im Rahmen der ihr zusätzlich zur Verfügung stehenden Mittel im Auswärtigen Amt auch für die auswärtige Kulturpolitik mehr tun, als es im Augenblick der Fall ist. Ich bedaure, dass die Akzente hier falsch gesetzt worden sind, und glaube, dass das ein Sparen am falschen Platz ist. Das haben auch die deutschen Industrie- und Handelskammern gesagt. Richtig ist, dass verschiedene Projekte in Angriff genommen werden. Die neue Schule, die jetzt in Budapest gebaut wird, war ursprünglich mit 19 Millionen Euro veranschlagt. Die Kosten sind jetzt durch Eigenarbeit vor Ort auf 11 Millionen Euro reduziert worden. ({1}) Das ist für verschiedene Schulen ein Beispiel dafür, wie die Dinge durch Engagement von Eltern und Lehrern in die Hand genommen werden können. Aber das sollte für uns nicht eine Ausflucht vor der nach wie vor notwendigen Unterstützung dieses Bereichs der auswärtigen Kulturpolitik durch hoffentlich den ganzen Deutschen Bundestag sein. Ich erbitte jedenfalls namens meiner Fraktion Ihre Unterstützung dafür. Wir werden dem Antrag, den die CDU/CSU hier eingebracht hat, selbstverständlich zustimmen. Nach dem, was ich von Frau Grießhaber gehört habe, hoffe ich, dass das zumindest auch die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen tut. Vielleicht wird auch Herr Mark seine Zustimmung signalisieren. Vielen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das werden wir jetzt von dem Kollegen Lothar Mark selber hören. Er spricht für die SPD-Fraktion.

Lothar Mark (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003190, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Vorredner haben jeweils viel Zutreffendes gesagt, vieles, was unterstützt werden kann. Insbesondere möchte ich Herrn Hirche beipflichten, der Aussagen über die Bürokratie getroffen hat, die vielen Entwicklungsprozessen entgegensteht. Aber auch die Kollegin Grießhaber und der Kollege Koschyk haben vieles gesagt, was ich unterstreichen kann. Es gab jedoch auch einige Elemente, die ich nicht teile. Zunächst einmal denke ich, dass Sparen im gesamten Haushalt angebracht ist ({0}) und dass auch der Schulsektor nicht ausgenommen werden darf, es sei denn, man würde durch das Sparen Strukturen vor Ort zerstören. Dies ist nicht der Fall. Die Auslandsschulen, zumindest soweit ich sie kenne, sind in einem sehr guten Zustand. Aber man muss dazu sagen, dass wir uns allmählich doch überlegen müssen, ob noch weitere Kürzungen vorgenommen werden dürfen. Zu sagen, Herr Hirche, man würde die Probleme allein mit mehr Geld lösen, ist mit Sicherheit unzutreffend; ({1}) denn es kommt immer darauf an, wie man diese Gelder einsetzt. ({2}) Diejenigen, die im Haushaltsausschuss sind, wissen, dass wir immer mehr dazu übergehen, mehr Eigenverantwortung zu verlangen. Das heißt, Fördern ja, aber von dem Partner muss auch etwas gefordert werden. Eigenverantwortung heißt meiner Überzeugung nach zum Beispiel, dass wir immer mehr zur Budgetverantwortung übergehen müssen. Das bedeutet, dass Schulen auch für zusätzliche Akquisitionen von Finanzierungsquellen zuständig sein müssen. Es wurde bereits angesprochen, dass sich die Wirtschaft engagiert. Dieses Engagement ist mit Sicherheit zu vermehren. Es geht aber auch darum, dass in dem jeweiligen Betrieb Mittel eingespart werden. Ich könnte dazu sehr vieles sagen, weil ich viele Jahre an verantwortlicher Stelle in einem Schulbetrieb war. Es ist unabdingbar, dass wir die Haushaltsprinzipien, die ansonsten in fast allen fortschrittlichen Gemeinden der Bundesrepublik praktiziert werden, auch in diesem Bereich anwenden, indem wir zum Beispiel die gegenseitige Deckungsfähigkeit herbeiführen und veranlassen, dass die Mittel in das nächste Jahr übertragen werden können, damit nicht mehr das Oktober-, November- oder Dezemberfieber ausbricht und alle vorhandenen Mittel ausgegeben werden. Diese Diskussion muss auch mit den Verantwortlichen geführt werden. Ich weise ferner darauf hin, dass der verstärkte Einsatz von Ortslehrkräften weiter geprüft werden muss. In diesem Zusammenhang bin ich für Ihre Hinweise dankbar, Herr Hirche. Es kann nämlich nicht sein, dass gesagt wird, nur deutsche Lehrkräfte seien in der Lage, die Schulen mit dem entsprechenden Flair und Wissen zu versorgen. Dies können auch die Lehrkräfte vor Ort, wenn sie eine adäquate Ausbildung haben und sich pädagogisch so einbringen, wie wir uns das wünschen. Wir müssen die Auslandsschulen stärker in die Netzwerke einbinden und diese Netzwerke ausbauen. Wir können dadurch wesentlich größere Spar- und Synergieeffekte erzielen. Es ist auch schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass wir im europäischen Kontext stärker zusammenarbeiten müssen. Ich erwähne die deutsch-französische Schule in Manila und die deutsch-britisch-französische Schule in Taipeh. Ich bin ferner der Auffassung, dass wir im gesamten Auslandsschulwesen auch mit Österreich und der Schweiz stärker kooperieren sollten. ({3}) Die Bundesregierung hat insgesamt erkannt, dass in der auswärtigen Kulturpolitik neue Wege beschritten werden müssen. Dies rechtfertigt nach unserer Auffassung auch maß- und sinnvolle Einsparungen. Die Zeiten der Kulturförderung mit der Gießkanne, wie es sie zum Teil gegeben hat, sind aufgrund der angespannten Haushaltslage längst vorbei. Wir müssen eine neue strategische Ausrichtung vornehmen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass ich darin auch Chancen sehe. Wenn besondere Umstände vorliegen, müssen wir Einzelfallprüfungen vornehmen, um entscheiden zu können, wo etwas eingespart werden kann. Es ist unbestritten - das ist eine Erkenntnis, die sich aus den Ereignissen des 11. September ergeben hat -, dass wir uns, langfristig gesehen, über den Mitteleinsatz in der auswärtigen Kulturpolitik verständigen und dass wir uns verstärkt dafür einsetzen müssen, die Mittel signifikant zu erhöhen. Wir müssen bei der Betrachtung der Schulen eines feststellen - ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Kritiker, die pauschal behaupten, die Auslandsschulen würden schlecht dastehen -: Genauso wie in der Bundesrepublik selbst gibt es auch im Ausland auf der einen Seite Schulen, die gut und auf der anderen Seite welche, die weniger gut ausgestattet sind. Wenn man aber genau hinschaut, dann sieht man - das wissen unsere Kommunalpolitiker -, dass die Probleme oft bei der Schulleitung und nicht beim Geldgeber liegen. ({4}) Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion unterstreicht die eben skizzierte Bedeutung des Auslandsschulwesens. Im Wesentlichen enthält der Antrag Vorschläge, die schon vom Auswärtigen Amt angedacht, bereits umgesetzt sind oder umgesetzt werden. Ich nenne beispielsweise die stärkere Kooperation mit den Gastländern, die Nutzung von Synergieeffekten vor Ort, die Qualifizierung von Ortslehrkräften und Werbung für den Studienstandort Deutschland. ({5}) Gleichwohl enthält er einige überlegenswerte Anregungen - zum Beispiel steuerliche Anreize für zusätzliches privates Engagement, jährliche Grundfinanzierung und stärkere Differenzierung der Besoldung nach Ländern -, die meiner Ansicht nach weitergedacht werden sollten. Trotzdem ist der Antrag der Union - ich bedauere dies sehr - stellenweise einseitig ausgerichtet und widersprüchlich. ({6}) Ich will kurz einen Widerspruch aufzeigen: Es kann doch nicht sein, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, in Ihrem Antrag einerseits von den deutschen Auslandsschulen fordern, „den deutschen Unternehmen im Ausland qualifizierte, sprachkundige und bikulturell ausgebildete Mitarbeiter zu vermitteln, die auch die wirtschaftlichen Beziehungen durch emotionale Bedingungen zu Deutschland zeitlebens fördern werden“, und andererseits die Regelung im Zuwanderungsgesetz, für ausländische Studierende in Deutschland die Arbeitsmöglichkeiten sowohl während des Studiums als auch nach dem Studium zu erleichtern, ablehnen. Dies ist ein Widerspruch. Entgegen dem Grundton Ihres Antrags ist mein Fazit bezüglich der Zukunft des deutschen Auslandsschulwesens optimistisch. Es wird darum gehen, flexiblere und effizientere Strukturen zu schaffen und mehr Eigenverantwortung in allen Belangen zu fördern. Den Schulvereinen, die Erhebliches leisten, muss die notwendige Anerkennung zukommen. Mein Dank gilt allen, die im Auslandsschulwesen unterrichten und die sich vor Ort engagieren. ({7}) Deutsche Schulen im Ausland sind ein demokratisch und werteorientiertes Aushängeschild für Deutschland für unsere Kultur und unsere Geschichte, aber auch für unsere Politik und Gesellschaft. ({8}) Sie erfüllen einerseits einen immer wichtiger werdenden Bildungs- und Ausbildungsauftrag und sind andererseits unverzichtbare Kulturvermittler und Begegnungsorte. Unser politisches und haushälterisches Engagement für die Auslandsschulen darf nicht nachlassen und bedarf unserer besonderen Zuwendung. Investitionen in die Bildung und somit in unsere Köpfe sind Zukunftsinvestitionen mit rentierlicher, nachhaltiger Wirkung. Dies trifft ganz besonders für die deutschen Auslandsschulen zu. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte erhält der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Ludger Volmer, das Wort.

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schulen kommt auf dem Weg in die globale Wissensgesellschaft naturgemäß eine entscheidende Rolle zu: Sie vermitteln interkulturelle Kompetenz. Diese ist für junge Menschen wichtiger denn je. Die deutschen Auslandsschulen sind heute in besonderer Weise dazu aufgerufen wie geeignet, Schülerinnen und Schüler verschiedener Kulturkreise auf eine gemeinsame friedliche Zukunft vorzubereiten. Ein leistungs- und konkurrenzfähiges Auslandsschulwesen bleibt daher essenzielles Element der so genannten Konzeption 2000, in der die Ziele und Perspektiven der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik als integraler Bestandteil deutscher Außenpolitik definiert sind. Die auf einer fraktionsübergreifenden Entschließung des Bundestages von 1990 beruhenden und vom Auswärtigen Amt in der „Konzeption 2000“ neu formulierten Leitlinien des Auslandsschulwesens haben sich bewährt. Diese sind die Begegnung mit Gesellschaft und Kultur des Gastlandes, die Sicherung und der Ausbau der Schulversorgung deutscher Kinder im Ausland und die Förderung des Deutschunterrichts im ausländischen Schulwesen. Qualität und Substanz des deutschen Auslandsschulwesens sind weltweit anerkannt. Vielleicht hätte eine PISA-Studie unter Einbeziehung der Auslandsschulen andere Ergebnisse gezeigt. Werte wie Interkulturalität, Erziehung zu Toleranz, Dialog, Weltoffenheit, Austausch und Begegnung prägen diese Schulen. Dies verdanken wir auch dem großen Engagement der Lehrerinnen und Lehrer, die dort unter vielerorts schwierigen Bedingungen ihren Dienst tun und die unseren Dank verdienen. ({0}) Heute lernen an 117 Auslandsschulen 70 000 Schülerinnen und Schüler, davon 53 000 nicht deutscher Nationalität. Über Lehrerentsendeprogramme, vornehmlich in die Länder Mittel- und Osteuropas und der GUS, werden weitere 180 000 Schülerinnen und Schüler an 370 staatlichen Schulen erreicht. Weltweit besuchen somit 250 000 Schülerinnen und Schüler unsere Auslandsschulen. Als Träger und Vermittler deutscher Kultur und Sprache sind sie für einheimische Schülerinnen und Schüler ebenso attraktiv wie für deutsche Kinder oder Kinder aus dritten Ländern. Nachhaltigkeit ist Trumpf des Auslandsschulwesens. Viele Absolventinnen und Absolventen besuchen nach dem Abschluss eine deutsche Universität und bleiben unserem Land auch im Berufsleben verbunden. So entstehen Netzwerke, auf die sich Außenpolitik, Außenwirtschaft und Kulturarbeit langfristig stützen können. Bei meinen Reisen treffe ich immer wieder auf Regierungsmitglieder, Wissenschaftler, Journalisten oder andere Intellektuelle, die an deutschen Auslandsschulen ausgebildet wurden. Gute Schulen kosten leider gutes Geld. Heute sind Auslandsschulen nicht mehr staatlich, sondern werden von privaten Trägervereinen in eigener Verantwortung geführt. Deren Eigenleistungen, personell wie materiell, können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das hohe Ansehen unserer Schulen verdanken wir insbesondere der ehrenamtlichen Arbeit der Vorstandsmitglieder und der aktiven Beteiligung der Eltern in den jeweiligen Schulen. An dieser Stelle sollten wir auch diesen Personengruppen herzlich für ihr Engagement danken. ({1}) Die Bundesregierung unterstützt die Schulträger ergänzend, materiell wie personell. Von den Maßnahmen zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes bleiben die Auslandsschulen aber leider nicht ausgenommen. Nach sorgfältiger Einzelprüfung haben wir die Förderung den Sparbeschlüssen angepasst. Die Schulträger wie auch die Lehrer selbst haben in diesem Prozess durch ihre Kooperationsbereitschaft zur Zukunftsfähigkeit der deutschen Auslandsschulen beigetragen. Die Absenkung des Budgets 2002 konnte geringer gehalten werden als zunächst befürchtet. Mit 175 Millionen Euro unterstützt die Bundesregierung im Jahr 2002 unverändert 117 Schulen. ({2}) Interne Umstrukturierungen werden Qualität und Substanz des Unterrichts sichern. Schließungen konnten ganz vermieden werden. Abschlüsse und Berechtigungen - ein wichtiger Faktor - sind an allen Standorten gesichert. ({3}) Die Zahl vermittelter Lehrer lässt sich halten; Stipendien und Ermäßigungen, die auch Kindern aus sozial schwächeren Familien den Schulbesuch ermöglichen, bestehen weiter. Von einer Ausdünnung des Schulnetzes kann keine Rede sein. ({4}) Auf ergänzende Finanzierungsmöglichkeiten wie Sponsoring und Spenden der Wirtschaft sind die Schulen gleichwohl in Zukunft verstärkt angewiesen. Die Bundesregierung begrüßt die Unterstützung der Schulen durch die Industrie und sucht den Dialog mit der Wirtschaft. Die deutschen Unternehmen können für ihre Mitarbeiter in aller Welt weiterhin auf ein umfassendes Netz an Schulen zählen. Da die Entwicklung von Auslandsschulen naturgemäß eng verbunden ist mit der Präsenz deutscher Unternehmen, haben der Wirtschaftsaufschwung im asiatisch-pazifischen Raum und die Öffnung der Staaten Mittel- und Osteuropas sowie der GUS zur Neueröffnung von 18 Schulen geführt, zum Beispiel in Peking, Schanghai, Taipeh, Prag und Budapest. Die Gemeinsamkeiten der Interessen von Politik und Wirtschaft wurden auch in der intensiven Beteiligung der Verbände an der vom Auswärtigen Amt durchgeführten „Woche des Auslandsschulwesens“ im letzten Jahr in Berlin deutlich. Bei der im April in Mexiko stattfindenden Weltkonferenz der Auslandsschulen soll es zur Gründung eines Weltverbandes der Auslandsschulen kommen. Einen Dank sollten wir auch den Bundesländern aussprechen. Das Auslandsschulwesen ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern, die die Lehrkräfte entsenden und die Abschlüsse vergeben. Die gute Kooperation mit den Ländern bleibt für die Bundesregierung ein wichtiges Anliegen. Lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Trotz der Zeit der Haushaltskonsolidierung werden wir alles daransetzen, das Auslandsschulwesen weiter innovativ und global wettbewerbsfähig zu halten und Synergien im nationalen wie europäischen Raum zu nutzen. Der Begegnungscharakter der Schulen wird weiter verstärkt, die Einführung internationaler Abschlüsse und berufsbildender Zweige vorangebracht. Austauschprogramme und das Modell der Eurocampus-Schulen werden ausgebaut. Die Einrichtung weiterer europäischer Schulen gehört ebenfalls zu den Aufgaben für die nahe Zukunft. Die Bundesregierung wird sich - natürlich im Rahmen der engen finanziellen Möglichkeiten - dafür einsetzen, dass die personelle und finanzielle Ausstattung den großen Aufgaben angemessen ist. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 14/8106 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 23: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung - Drucksache 14/7176 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung ({1}) - Drucksache 14/2666 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung - Drucksache 14/7463 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 14/8629 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Hans-Christian Ströbele Sabine Jünger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin das Wort für die Bundesregierung der Bundesjustizministerin, Dr. Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich natürlich sehr, dass es heute möglich ist, das Gesetz zur Reform der Juristenausbildung zu beschließen. Auch dies ist ein Markstein in der Justizpolitik, in der Modernisierung von Recht und Gesetz der vergangenen dreieinhalb Jahre. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie dies zugeben. Denn nicht nur in der Öffentlichkeit wurde daran gezweifelt, dass dies möglich sein würde; viele Kolleginnen und Kollegen, sowohl hier im Bundestag als auch in den Länderparlamenten, waren derselben Auffassung. Dafür gibt es auch einen Grund: In den letzten 25 Jahren ist viel über die Reform der Juristenausbildung diskutiert worden. Unzählige Kongresse sind abgehalten worden. Ich weiß, dass mein verehrter Vorgänger auf einem großen Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung für seine Version geworben hat. Es gibt das „Ladenburger Manifest“. Es gibt die unterschiedlichsten Vorstellungen der verschiedenen Gremien, der Hochschulen und Fakultäten. Sie alle hatten nur einen Haken: Sie waren nicht miteinander kompatibel. Dies hat dafür gesorgt, dass die einzelnen Vorschläge zwar immer weiter diskutiert wurden, eine Einigung aber nicht möglich war. Ich erinnere daran, dass es zu Beginn dieser Legislaturperiode auch noch nicht besonders gut aussah. Wir haben damals im Kreis der Justizminister des Bundes und der Länder darüber beraten, ob wir nicht doch eine Möglichkeit finden könnten, einen gemeinsamen Gesetzentwurf zu erstellen, der nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner basiert, sondern wirklich den Anforderungen an eine Modernisierung genügt, und diesen dann zu beschließen. Der erste Versuch ist völlig schief gegangen; man kann es nicht anders sagen. Es gab aber - lassen Sie mich jetzt auch ein Lob aussprechen - einige Justizministerinnen und Justizminister, die sich unter der Leitung des nordrhein-westfälischen Justizministers Dieckmann zusammengesetzt und gesagt haben: Wir wollen einmal versuchen, hier etwas auf den Weg zu bringen. Dies ist geschehen, und zwar über die Parteigrenzen hinweg. Das finde ich ausgesprochen gut. Was mich aber noch mehr freut, ist, dass auch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in der Lage waren, zu sagen, was sie wollen, aufeinander zugegangen sind und einen Entwurf vorgelegt haben. Ich höre, dass sich nach sehr gründlichen Überlegungen nun auch eine große Partei der Opposition auf diesen Gesetzentwurf zubewegt hat. Das freut mich. Ich finde es gut, dass dieser Entwurf mit einer breiten Mehrheit beschlossen werden kann. Dass Sie, sehr geehrter Herr Funke, nicht dabei sein können, bedaure ich zutiefst. Ich weiß, auch Sie tun das. Was machen wir denn? Wir einigen uns nicht etwa auf den kleinsten gemeinsamen Nenner - das habe ich schon gesagt -, sondern auf folgende Punkte: Erstens. Es bleibt bei der zweistufigen Juristenausbildung, also schwerpunktmäßig bei der wissenschaftlichen Ausbildung und bei dem praktischen Vorbereitungsdienst. Es bleibt auch beim Einheitsjuristen; dies war uns wichtig. Die jungen Juristinnen und Juristen sollen auch weiterhin die Möglichkeit haben, mit dem zweiten juristischen Staatsexamen in unterschiedlichsten Bereichen tätig sein zu können. Wir haben aber dafür gesorgt, dass das, was jetzt angesichts der Schaffung des gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa auf der Basis der gemeinsamen Europäischen GrundrechteCharta möglich werden soll, nämlich eine viel stärkere Vernetzung unserer Werte und des Rechts, auch mithilfe der jungen Juristinnen und Juristen erfolgen kann. Wir haben die Ausbildung sehr viel stärker auf die Internationalisierung zugeschnitten und unter anderem verankert, dass die Fremdsprachenkompetenz ein absolutes Muss ist. Zweitens haben wir die bisherige reine Ausrichtung der Ausbildung auf eine spätere richterliche Tätigkeit etwas verändert, weil dies der praktischen Notwendigkeit entspricht. Sehr viele junge Juristinnen und Juristen werden eben nicht nur als Richter, in der Wirtschaft oder in anderen juristischen Berufen, sondern auch als Anwältinnen und Anwälte tätig sein. Dies erfordert aber auch, dass sich die Anwaltschaft sehr viel stärker als bisher in die Ausbildung, und zwar insbesondere im praktischen Teil, einbringt. Wenn es nach mir ginge, würde sie auch einen entsprechenden Vorschlag seitens der Universitäten annehmen. Drittens. Wir sind der Meinung, dass gerade Juristinnen und Juristen, die in der Zukunft bestehen und ihre Verantwortung und Verpflichtung wahrnehmen wollen, interdisziplinäre Schlüsselqualifikationen benötigen. Lassen Sie mich einige nennen: Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik und Streitschlichtung. Mediations- und Kommunikationsfähigkeiten sollten hinzukommen. Dies sollte auch im Rahmen der Universitätsausbildung gelehrt werden. Die Universität wird - lassen Sie mich darauf hinweisen - ihren Verantwortungsbereich stärker wahrnehmen Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters müssen. Sie muss auf der einen Seite für eine Verschlankung des Stoffangebotes sorgen und hat auf der anderen Seite dafür zu sorgen - das mag manchmal die Quadratur des Kreises sein -, dass die jungen Juristinnen und Juristen das lernen, was sie tatsächlich brauchen. Das heißt, Grundsatzfächer wie Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte können nicht gestrichen werden; das ist keine Frage. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass moderne Schlüsselqualifikationen gelehrt werden. Wir stärken die Verantwortung der Universitäten dadurch, dass wir 30 Prozent der Prüfungsverantwortung auf die Ebene der Universitäten übertragen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deutlich machen, was uns auch sehr wichtig war: die Verbesserung der sozialen Kompetenz, insbesondere bezogen auf den Beruf der Richterin bzw. des Richters. Das schadet zwar auch Juristen in anderen Tätigkeiten nicht. Aber Voraussetzung einer Justiz, die im Namen des Volkes Recht spricht und dabei verständlich sein soll, muss natürlich sein, dass ihre Richterinnen und Richter wissen, wovon sie sprechen, dass sie Erfahrungen haben und diese Erfahrungen auf den Bereich der sozialen Kompetenz übertragen. Juristen werden einwenden, ob man das habe oder nicht, könne man nicht sagen. Die einen hätten es, die anderen nicht. Wir alle wissen: So etwas kann man lernen. Man kann es entweder durch Tätigkeiten in anderen Bereichen oder durch Lebens- und Berufserfahrung in anderen Zusammenhängen, die ich nicht näher ansprechen will, erfahren. All dies muss neben der fachlich unbestrittenen Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber zum Richteramt vorliegen. Ich habe meine Rede damit begonnen, dass ich sagte, dass wieder ein wirklicher Markstein der Modernisierung gesetzt worden sei. Wir können den vorliegenden Gesetzentwurf hier im Bundestag mit breiter Mehrheit verabschieden. Es sieht so aus, als sei das auch im Bundesrat möglich. Ich freue mich darüber und bedanke mich bei allen, die hierzu im Bundesrat und im Bundestag mitgeholfen haben, und nicht zuletzt bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesministerium der Justiz. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf eines Gesetzes zur Juristenausbildung, den wir heute verabschieden werden, ist ein der Sache nach gemeinsamer Entwurf der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU auf Bundes- und Landesebene. Die Frau Ministerin hat gerade einige positive Elemente dieses Gesetzentwurfes aufgelistet; ich werde gleich auf den konkreten Fortschritt eingehen. Vorab möchte ich diese Liste um ein Element ergänzen. Ich stimme zu: Heute wird ein konkreter Fortschritt beschlossen. Damit ist die Erkenntnis verbunden, dass es ein struktureller Beitrag zur Gesetzesoptimierung ist, wenn man die CDU/CSU auf Bundes- und Länderebene offen an der Gesetzgebung beteiligt. ({0}) Insofern bin ich in Bezug auf den Herbst dieses Jahres sehr positiv eingestellt. Diese Erkenntnis ist sehr ermutigend. Wir können den Bürgern, mit Ihrem Lob und Ihrem Testat versehen, zeigen, dass CDU und CSU für gute Gesetze stehen. Ich glaube, das Vorliegende ist dafür ein gutes Beispiel. Nun zu konkreten Punkten des vorliegenden Gesetzentwurfes. Alle diejenigen, die die bisherige End- und Folgenlosigkeit der Debatte über die Misere der Juristenausbildung kennen und erlitten haben - das sind wir alle in der kleinen Gemeinde, die sich mit diesem Thema hier im Parlament beschäftigt hat; manche haben das sehr viel länger getan als ich -, wissen den konkreten Fortschritt, der heute erzielt worden ist, zu schätzen. Es geht nur in pragmatischen Schritten voran. Heute - dies können wir den Universitäten, den Studierenden und den Professoren, mitteilen - werden pragmatische Schritte beschlossen. Ich möchte drei zentrale Punkte hervorheben, die wir als die Kernelemente dieses Gesetzentwurfes ansehen. Der erste und wichtigste Punkt ist, dass mit diesem Gesetz das Studium in einem erheblichen Umfang und mit einem substanziellen Gehalt zurück an die Universität gebracht wird. - Ich glaube, das ist die entscheidende Veränderung der letzten Jahrzehnte; man kann hier sogar von noch größeren Dimensionen reden. - Denn es wird eine Universitätsprüfung im Umfang von 30 Prozent geben; 70 Prozent wird die staatliche Prüfung ausmachen. Wir sind davon überzeugt, dass das die akademische Qualität des Studiums verbessern wird. Derjenige, der prüft, hat auch gelehrt und derjenige, der lehrt, prüft. Dieser neue und ganz entscheidende Zusammenhang wird hergestellt. Es gibt eine neue Verantwortung der Professoren sowohl für die Inhalte des Studiums als auch für die Prüfung. Dies wird zu einer Belebung der Universitäten führen in einem Umfang, den sie verkraften können. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Dieses Verhältnis von 70 zu 30 Prozent ist eine vernünftige Mischung zwischen der allgemeinen Ausbildung in den Kernfächern, nämlich im Schuld-, Sachen-, Straf-, Verwaltungs- und Verfassungsrecht - diese Gebiete, auf denen zu einem Einheitsjuristen ausgebildet wird, muss jeder Jurist beherrschen -, und den Spezialfächern - dabei handelt es sich allerdings nicht um irgendwelche Girlanden oder Arabesken des Studiums -, die definiert werden und in einem Zusammenhang mit den Kernfächern des Studiums stehen. Den Universitäten wird also ein substanzieller Gehalt zugewiesen; das gilt auch für die Prüfung. Das beinhaltet die Chance für die Universitäten, in einen Wettbewerb zu treten und ein Profil zu entwickeln. Die eine Universität wird insbesondere für die Internationalität in der Ausbildung stehen, die andere für die Qualität in der wirtschaftsrechtlichen Ausbildung. Wiederum eine andere Universität wird dafür bekannt sein, dass es besonders gute Noten gibt. Zwischen den Universitäten wird es also zu einem Wettbewerb kommen und sie werden die Chance haben, ein Profil auszubilden. Das wird ein Anreiz für die Universitäten sein und die Ausbildung attraktiver machen. Allerdings liegt uns sehr daran, zu betonen, dass diese Möglichkeit zur Qualitätssteigerung der juristischen Ausbildung, also des juristischen wissenschaftlichen Studiums, nur realisiert werden kann, wenn die Länder etwas mehr Geld dafür zur Verfügung stellen. Das, was wir heute verabschieden, werden gesetzlich fixierte Träume bleiben, wenn die Relation zwischen Professoren und Studierenden nicht verbessert wird. Der curriculare Normwert muss erhöht werden. Das ist keine Mahnung an die Justizminister; diese wollen das ebenso wie alle Fraktionen in diesem Hause. Es ist vielmehr eine Mahnung an die Finanzminister der Länder. Dieses Gesetz muss dadurch mit Leben erfüllt werden, dass etwas mehr Geld der Länder in die juristische Ausbildung fließt. Ansonsten wird das, was wir mit diesem Gesetz ermöglichen, nicht realisiert werden können. Ich glaube, es gibt den Appell des gesamten Hauses an die Finanzminister der Länder, dies zu tun. ({1}) Ich komme zum zweiten Schritt, der unternommen wird. In dem neuen Gesetz über die Juristenausbildung wird eine Antwort auf die internationale Verflechtung des Rechts, seiner Institutionen und der Organisationen gegeben. Die Frau Justizministerin hat es zu Recht hervorgehoben: Es gibt eine besondere deutsche Schwäche, nämlich eine mangelnde Präsenz von deutschen Juristen in internationalen - auch europäischen - Organisationen. Dies hat etwas mit der mangelnden Sprachkompetenz der deutschen Juristen zu tun. In weiten Kreisen ist noch immer eine gewisse Fremdsprachenresistenz vorhanden. Das führt dazu, dass wir unsere Interessen, unsere Vorstellungen, unsere Systeme und unser Recht weniger durchsetzen können, als andere dazu in der Lage sind. In erster Linie muss man hierbei natürlich auf die Einsicht der Studierenden setzen. Viele sehen das auch ein und haben die Zeichen der Zeit erkannt. Es ist aber auch richtig, dass durch den Gesetzgeber das Zeichen gesetzt wird, dass der Jurist heute auch über eine gewisse Fremdsprachenkompetenz verfügen muss. Wir leben nicht mehr mit geschlossenen Grenzen, sondern wir leben innerhalb eines internationalen Rechtsverkehrs. Das ist ein Teil der Modernisierung des Rechts, der hier sehr früh in der Ausbildung konkret stattfindet. Der dritte Punkt, den wir für wesentlich halten, betrifft das Referendariat. Die Regelungen, die wir für das Referendariat vorschlagen, tragen die Züge eines guten Kompromisses. Es gibt faule, aber es gibt auch gute Kompromisse. Die Schwächen beider Vorlagen, des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen wie des Gesetzentwurfs des Bundesrates, hätten das Referendariat faktisch seiner Flexibilität beraubt, indem für mindestens 90 Prozent der Referendare 21 von 24 Monaten der Ausbildung und damit ein Übermaß der Ausbildung bei den Anwälten festgelegt worden wären. Das wäre kein guter Schritt gewesen. Wir hätten damit Flexibilität beseitigt und keinen Beitrag zur Steigerung der Qualität der Ausbildung geleistet. Der DAV als Interessenvertretung der Anwälte hat klipp und klar erklärt: Das überfordert die Anwälte. Sie können die Qualitätsstandards, die gefordert werden, nicht leisten. Wir können nicht per Gesetz eine Ausbildung fordern, die praktisch durch die Anwaltschaft nicht erbracht werden kann. Der jetzige Vorschlag von neun Monaten, die eine dreimonatige Wahlzeit beinhalten, ist deshalb ein guter Kompromiss, weil damit die Referendare, die erwachsene Menschen sind, die Chance haben, ihre Berufsorientierung schon im Referendariat zu bestimmen und Schwerpunkte zu setzen. Ihnen wird nicht wie kleinen Schuljungen ein fester Stundenplan vorgegeben. Der Umfang der Anwaltsausbildung ist vernünftig. Wir haben sie in ihrer Bedeutung gestärkt. Das ist richtig, weil der große Teil der Referendare den Anwaltsberuf ergreifen wird. Aber wir haben einen Umfang vorgesehen, der in Bezug auf eine qualifizierte Ausbildung von den Anwälten beherrscht werden kann. Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass dies zugleich eine Chance und ein Test für die Anwälte ist. Es ist eine alte Forderung der Anwälte, in der Referendarausbildung die Ausbildung bei der Anwaltschaft zu verstärken. Wir werden sehr sorgfältig darauf achten, dass hier eine qualifizierte Ausbildung erfolgt. Diese Zeit darf nicht zu einer Abtauchstation und einer reinen Examensvorbereitung werden. Dafür tragen auch die etablierten Anwälte, die nun in viel stärkerem Maße die Aufgabe der Ausbildung ihres eigenen Nachwuches haben, eine besondere Verantwortung. Wir appellieren an die Anwälte, dieser Verantwortung nachzukommen. Wenn sie es tun, ist das ein gutes Zusammenspiel zwischen gesetzgeberischer Ermöglichung und praktischer Wahrnehmung einer qualifizierten Vorbereitung auf den späteren Beruf der meisten Referendare, nämlich den Anwaltsberuf. Uns liegt sehr daran zu betonen: Das war ein sachliches Zusammenwirken über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg sowie zwischen Bund und Ländern. Das ist eine gute Basis, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Wir tragen diesen Entwurf - es ist der Sache nach ein gemeinsamer Entwurf, wie schon zu Beginn gesagt wurde - inhaltlich voll mit. Manche bedauern, dass hier der revolutionäre Schub ausgeblieben ist. Aber ich glaube, statt auf den revolutionären Schub zu warten, ist es besser, vernünftige und pragmatische Schritte zu machen. Heute werden bedeutende Schritte beschlossen. Alles Gute der Juristenausbildung in Deutschland! Ich glaube, sie hat jetzt bessere Rahmenbedingungen als in der Vergangenheit. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Rainer Funke für die FDP-Fraktion das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Beteiligten, der Deutsche Bundestag, die Bundesländer, die Universitäten, die Anwaltschaft, die Wirtschaft und auch die Studenten und Referendare selber, sind sich einig: Die deutsche Juristenausbildung muss grundlegend reformiert werden. Das ist kein Wunder. Schließlich ist das Grundkonzept der deutschen Juristenausbildung etwa 200 Jahre alt. Sie ist entsprechend den damaligen Erfordernissen und Vorstellungen auf eine Tätigkeit vor Gericht zugeschnitten worden. Heute stellt der Staat gerade noch rund 11 bis 12 Prozent der Juristen ein, davon etwas mehr als die Hälfte als Richter. Über 80 Prozent der Volljuristen gehen in die Anwaltschaft oder zum geringeren Teil in die Wirtschaft. Heute muss sich der Jurist dem Wettbewerb stellen. Wir müssen feststellen, dass unsere Juristenausbildung im internationalen Vergleich viel zu lange dauert und nicht effizient genug ist. Die meisten von uns, die einmal in Brüssel zu tun gehabt haben, werden das unterstreichen können. ({0}) In dieser Situation bedarf es einer grundlegenden Reform. Das haben sowohl die FDP, die einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt hat, als auch die Koalitionsfraktionen erkannt und in ihren Gesetzentwürfen wesentliche Reformansätze vorgelegt. Das muss man einmal konstatieren. ({1}) Von dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vom Herbst 2001, lieber Herr Hartenbach, ist ja fast nichts übrig geblieben, ({2}) und zwar wegen des Widerstands der Länder. Der FDPEntwurf ist trotz großen Lobes von Verbänden und Sachverständigen niedergestimmt worden. Herausgekommen ist nur eine ganz kleine Änderung. Sie ist von der Frau Justizministerin und von Herrn Röttgen erwähnt worden. In Zukunft sind Gegenstand des Studiums Pflichtfächer und Schwerpunktbereiche mit Wahlmöglichkeiten. Die Prüfung in den Schwerpunktbereichen wird von der Universität abgenommen und zu 30 Prozent bei dem abschließenden Examen angerechnet. In der Tat ist dies eine Änderung. Das dient der Abschichtung des Prüfungsverfahrens und kann dazu führen, dass einzelne Universitäten in einen Wettbewerb um die besten Studenten eintreten. Manche sagen, das sei eine Revolution. Es kann aber auch nach hinten losgehen, ({3}) denn es kann auch sein, dass sich der eine oder andere darüber Gedanken macht, wo man am leichtesten seine Examina besteht und wo es am einfachsten ist, mit guten Noten in dem 30-Prozent-Bereich brillieren zu können. Man wird sehen müssen, ob das wirklich eine Revolution ist oder ein Schuss, der nach hinten losgeht. ({4}) Das wird der Wettbewerb zeigen. Wenn wir feststellen, dass es nicht so gut gelaufen ist, wird man die Vorschrift wieder ändern müssen. Ich gebe Ihnen aber Recht - insofern finde ich Ihren Vorschlag gut -, dass wir auf diesem Weg voranschreiten sollten. Das ist aber auch die einzige Änderung, die erwähnenswert ist, denn alle weiteren Veränderungen sind bereits heute nach den geltenden Vorschriften der Juristenund Referendarausbildung möglich. Auch der Englischunterricht bzw. die Pflicht, die englische Sprache zu beherrschen, könnten heute schon durch Ländergesetze ohne weiteres vorgeschrieben werden. Insoweit ergibt sich keine Neuerung. Insbesondere den besonderen Erfordernissen der späteren beruflichen Tätigkeiten der Volljuristen wird nicht Rechnung getragen. Dies gilt speziell für die spätere Tätigkeit als Rechtsanwalt. Schon heute besteht die Gefahr - Sie haben das erwähnt, Herr Dr. Röttgen -, dass häufig die Anwaltstation als Tauchstation missbraucht wird. Sie wird an das Ende der Referendarausbildung gelegt, damit man möglichst wenig beim Anwalt sein muss und sich auf das zweite juristische Staatsexamen vorbereiten kann. Diese auch heute schon weit verbreitete Übung kann nach dem vorliegenden Entwurf fortgesetzt werden. Auch die angebliche Neuerung, dass Sprachkenntnisse nachgewiesen werden müssen, ist kein echter Fortschritt. Alles in allem verdient der vorliegende Gesetzentwurf nicht den hochtrabenden Titel „Reform der Justizausbildung“. Der Text des Gesetzentwurfes - das wird auch offen von einigen Landesjustizministern eingeräumt - dient eher dazu, das Thema endlich in der Schublade versenken zu können. Offensichtlich soll die politische Diskussion um die Juristenausbildung beendet werden. Dabei haben manche Länder nicht einmal ihre eigenen Hausaufgaben zur Verkürzung der Juristenausbildung erledigt. ({5}) - Sie brauchen gar nicht mit dem Kopf schütteln. Es gibt eine Reihe von Ländern, in denen zum Beispiel die Korrektur der Klausurarbeiten zum ersten juristischen Staatsexamen fast ein halbes Jahr dauert und die - wie Hamburg; ich erwähne meine eigene Heimat ausdrücklich als negatives Beispiel - 24 Monate benötigen, um einen Referendar einzustellen. Das ist ein Skandal und eine Verschleuderung von volkswirtschaftlichen Ressourcen. Denn diese jungen Juristen sind teuer ausgebildet worden und sie können ihre berufliche Entwicklung nicht nehmen, nur weil die Länderfinanzminister und vielleicht auch die Justizminister nicht zügig arbeiten. Das halte ich in der Tat für einen Skandal. ({6}) Aus diesem Grunde glaube ich, dass uns das Thema Juristenausbildung in den nächsten Monaten oder Jahren noch erhalten bleibt. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode eine echte Reform in Angriff nehmen müssen, weil in dieser Legislaturperiode die Hausaufgaben im Zusammenhang mit der Juristenausbildung nicht ordentlich erledigt worden ist. Deswegen werden wir gegen den Gesetzentwurf stimmen. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin extra aus dem Untersuchungsausschuss hierher geeilt, um diese Revolution nicht zu verpassen, aber es wird wohl doch nicht dazu kommen. Der Deutsche Bundestag wird eine solche Revolution weder einleiten noch durchführen können. Wir haben vorgelegt, worauf die Juristen seit Jahrzehnten und möglicherweise seit einem Jahrhundert warten, nämlich darauf, dass die Ausbildung der Juristen an die Realität angepasst und nicht allein daran ausgerichtet wird, dass alle Juristen so tun, als würden sie später Richter und Richterinnen. Das ist - Sie haben bereits darauf hingewiesen - bei weniger als 10 Prozent der Fall. Die gesamte Ausbildung ist aber nach wie vor - auch wenn sich das in den vergangenen Jahrzehnten etwas geändert hat - überwiegend auf die Richterlaufbahn ausgerichtet. Bekanntlich ergreifen Juristinnen und Juristen vorwiegend rechtsberatende Berufe, insbesondere den des Rechtsanwalts und der Rechtsanwältin. Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf war ein schweres Stück Arbeit. Ich habe einmal durchgezählt: Wir haben 24 Verhandlungsrunden in den verschiedensten Besetzungen hinter uns gebracht, weil wir das schwierige Meisterstück bewältigen mussten, 16 Bundesländer und möglichst fünf Fraktionen in einem Wahljahr bei einem Gesetzesvorhaben unter ein Dach zu bekommen. Da es sich hierbei um ein Gesetz handelt, das ganz erheblich - wenn nicht sogar überwiegend - die Länder, die Ausbildungsordnung und auch die Tätigkeit der Juristen in den Ländern betrifft, waren der Kontakt und der Schulterschluss mit den Ländern unabdingbar. Sonst wäre das ein Gesetzentwurf geblieben, der möglicherweise von der Koalition bzw. der Koalition und der FDP oder anderen Parteien verabschiedet worden wäre. Was wir jetzt vorlegen, ist trotzdem nicht so schlecht, wie Sie es gemacht haben, Herr Funke. Auch ich hätte mir einige andere Regelungen gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass der universitäre Teil der Ausbildung noch sehr viel stärker hervorgehoben und ihm 50 Prozent oder mehr der Ausbildungszeit - vielleicht sogar 70 Prozent eingeräumt würden und dass die Examen von den Universitäten abgenommen würden. Das wäre ein wichtiger und richtiger Schritt gewesen. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass andere das anders sehen. Das hat auch mit der finanziellen Situation zu tun und damit, dass für die Länder ein solcher Schritt eine erhebliche Umstrukturierung an den Universitäten bedeutet. Aber die 30 Prozent, die wir erreicht haben, sind ein sehr wichtiger Schritt und geben den Studentinnen und Studenten, die derzeit Jura studieren oder studieren wollen, das Signal: Ihr könnt euch darauf verlassen; diese Prüfung wird von den Universitäten abgenommen. Das heißt, das, was ihr bei den Professoren lernt, wird später auch von ihnen - meistens von denselben - abgefragt. Das ist ein ganz großer Fortschritt. Heute haben wir bei der Juristenausbildung die Situation - das wissen von denjenigen, die nicht Jura studiert haben, nur die wenigsten -, dass bei 80 bis 90 Prozent der Juristinnen und Juristen die universitäre Ausbildung nicht dazu ausreicht, dass sie das Examen bestehen. Sie müssen eine privat finanzierte Zusatzausbildung in Repetitorien mit einer Dauer von einem Jahr oder noch länger über sich ergehen lassen und diese selber finanzieren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Aus sozialen Gründen und angesichts der Forderung nach Chancengleichheit ist das ein sehr großer Missstand. Dem muss abgeholfen werden. Abhilfe schafft das Gesetz auch in diesem Bereich nicht zur Gänze und nicht in einem revolutionären Akt; es weist vielmehr die Richtung, in die umgesteuert werden soll. Die Studenten und die Universitäten können sich darauf einstellen, dass in Zukunft ein sehr viel größerer Teil der Ausbildung nicht in Repetitorien geleistet werden soll, sondern von den Professoren und deren Assistenten, also von den Universitäten selber geleistet werden muss. Die Universitäten sind aufgefordert, diese Leistung, die sie eigentlich schon heute erbringen müssten, bald so zu erbringen, dass immer weniger Studenten diese Zusatzausbildung in Anspruch nehmen müssen. Das Setzen von Schwerpunkten ist ein weiterer, sehr wichtiger Punkt. Wir machen - es wurde schon darauf hingewiesen - den Studentinnen und Studenten deutlich, dass man auch in einem juristischen Beruf, ganz egal, in welchem, besonders natürlich in den beratenden juristischen Berufen, aber auch in der Verwaltung oder im Richterberuf, über die Grenzen unseres Staates hinaussehen muss und dass man andere Sprachen können muss. Dies ist nicht nur deswegen wichtig, weil in unserem Land Menschen wohnen, die andere Sprachen sprechen; es ist auch deswegen wichtig, damit man sich über die Rechtssysteme und die Konfliktbereinigungssysteme in anderen Ländern kundig machen, davon lernen, aber auch dafür sorgen kann, dass ein Vertrag, der zum Beispiel in Deutschland abgeschlossen wird, in Frankreich, England oder in Dänemark gültig ist. Das sind Anforderungen, die immer mehr an die Studenten wie auch an die Universitäten herangetragen werden. Deshalb sollen sich die Studentinnen und Studenten möglichst mit rechtswissenschaftlichem Bezug in anderen Sprachen betätigen, sei es, dass sie einen Sprachkurs besuchen, sei es, dass sie ins Ausland gehen, oder sei es, dass sie in Deutschland in anderer Sprache ein Rechtsfach studieren. Das ist ein wichtiges Signal an die Universitäten. Theoretisch - da haben Sie Recht - ist eine solche Weiterbildung auch heute schon möglich; in Zukunft ist sie aber vorgeschrieben. Diese Änderungen stellen eine ganz erhebliche zusätzliche Herausforderung für die Universitäten dar. Wir hoffen, dass sie diese annehmen werden. Ich komme nun zu dem Bereich der Referendarausbildung. Hier sind wir der Meinung, dass man berücksichtigen muss, dass die meisten Studentinnen und Studenten später Anwälte werden wollen und werden müssen. Sie müssen deswegen ganz überwiegend von Anwälten im Anwaltsberuf ausgebildet werden. Wir hätten hierfür gern einen Anteil an der Referendarausbildung von zwölf Monaten gehabt; nun sind es neun Monate. Aber das ist ein Kompromiss. Ohne Kompromisse bekommt man ein solches Gesetz mit 16 Bundesländern nicht hin. Darüber hinaus ist in Zukunft vorgeschrieben - das ist der letzte sehr wichtige Punkt, auf den ich eingehe -, dass die wenigen Studentinnen oder Studenten, die Richterinnen oder Richter werden, teamfähig sein müssen und dass sie soziale Kompetenz haben müssen. Sie sollten deshalb - diese Regelung hätten wir gerne im Gesetz gehabt; jetzt wird dieser Punkt in der Begründung behandelt - zwei Jahre oder länger in einem anderen Beruf gelernt haben, sich durchzusetzen und zu kommunizieren. Sie sollten das Leben und die Geschäftswelt kennen gelernt haben und das bei ihrer Rechtsprechung berücksichtigen, damit die Rechtsprechung in Deutschland noch wirklichkeitsnäher und noch besser wird. Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ist also ein wichtiger Schritt auf dem richtigen Weg. Wir müssen noch weiter gehen. Aber es ist ein Anfang gemacht. Viele Studentinnen und Studenten werden es uns danken. Ich habe im Ausschuss davon berichtet, dass ich in der letzten Zeit von Universitätsvertretern wie auch von Studentinnen und Studenten angesprochen worden bin, und sie gefragt haben, wann denn endlich das Gesetz in Kraft tritt, damit sie ihr Studium und ihr Examen vielleicht schon danach ausrichten könnten. Zurzeit bestehen noch lange Übergangsfristen. Aber danach wird die Ausbildung besser. Das ist auch gut so. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die PDS-Fraktion erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Jünger.

Sabine Jünger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003156, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit einem Vierteljahrhundert, also fast so lange, wie ich lebe, wird über die Defizite in der Ausbildung von Juristinnen und Juristen in Deutschland diskutiert. Auslöser oder zumindest einer der Hauptgründe dafür war nicht zuletzt die Harmonisierung der bis jetzt völlig unterschiedlichen Ausbildungen und Abschlüsse in den verschiedenen Staaten Europas. Wechselnde Justizministerinnen und Justizminister, Hochschulrektorinnen und Hochschulrektoren, Studierende, Referendare und andere Interessengruppen haben über Jahre hinweg unzählige Reformvorschläge ausgearbeitet. Heute soll die Juristenausbildung nun endlich auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt werden. Ein Kennzeichen rot-grüner Politik ist, dass zwar grundlegende Reformen angekündigt werden, dass aber am Ende nur ein Reförmchen mit zwei, drei Änderungen herauskommt. ({0}) So ähnlich ist es leider auch bei der Juristinnen- und Juristenausbildung. ({1}) - Das werden Sie ja sehen; denn ich werde nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren und stattdessen nach der neuen Ausbildungsordnung studieren. ({2}) - Das können Sie gerne tun. Ich bin erstaunt, wie oft das Wort „Revolution“ in diesem Zusammenhang in den Mund genommen wird, ganz besonders von konservativer Seite; denn es ist wahrlich keine. Darauf hat Herr Ströbele ja schon hingewiesen. Es gibt aber durchaus Punkte in dieser Reform - das will ich ganz ehrlich sagen -, die wir begrüßen, zum Beispiel dass die einseitige Orientierung der Ausbildung am Richterberuf endlich aufgegeben wird. Die Ausbildung orientiert sich jetzt stärker am Anwaltsberuf. Gut finden wir auch, dass 30 Prozent der Prüfungskompetenzen auf die Universitäten verlagert werden. Ob damit wirklich die Repetitoren überflüssig werden, wagen wir, ehrlich gesagt, zu bezweifeln. Unsere Zustimmung gilt auch der gesetzlichen Festschreibung, dass die Vermittlung interdisziplinärer und internationaler Bezüge des Rechts zukünftig Bestandteil der Juristenausbildung sein wird, obwohl wir uns diesen Part etwas ausführlicher gewünscht hätten. Was ist aber nun mit der angestrebten Harmonisierung oder gar der Angleichung der Juristenausbildungen innerhalb Europas? Warum wird an der Spaltung von Theorie an der Uni und Praxis im Referendariat festgehalten? Wo bleibt die notwendige Straffung des Studiums? Warum werden die verstaubten deutschen Prüfungsregularien nicht weitergehend verändert? Warum wird die Chance vertan, Bachelor- oder auch Diplomabschlüsse in den Rechtswissenschaften zu etablieren? ({3}) - Stimmt, das hat die FDP in ihrem Antrag vorgeschlagen. Das muss man anerkennen. ({4}) Was spricht eigentlich gegen eine frühzeitige Spezialisierung im Jurastudium, wie sie in anderen Disziplinen und auch in anderen Ländern längst üblich ist? Ich weiß, dass die meisten von Ihnen mit den Problemen der Juristenausbildung weit länger vertraut sind, als ich es bin. Deshalb frage ich mich wirklich, weshalb hier mehrheitlich die vorgeschlagenen Neuerungen für des Pudels Kern gehalten werden. Ich sehe nicht, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Grundlage für eine gute und effiziente Juristenausbildung geschaffen wird, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts und einer zusammenwachsenden Welt gerecht wird. Dafür wäre weniger nationale Begrenztheit und deutlich mehr Mumm notwendig gewesen. Schade drum! ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort dem Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Jochen Dieckmann. Jochen Dieckmann, Minister ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist fast auf den Tag genau zwei Monate her, dass wir in erster Lesung über die Gesetzentwürfe beraten haben, die in den fraktionsübergreifenden Entwurf eingeflossen sind, der Ihnen zur abschließenden Beratung vorliegt. Ich denke, dieser fraktionsübergreifende Entwurf ist der erfolgreiche Versuch - wenn ich einmal von dem der FDP absehe -, die Vorteile des Gesetzentwurfs des Bundesrates und des Entwurfs der Koalitionsfraktionen miteinander zu verbinden. Dies ist das Ergebnis eines sehr intensiven Diskussionsprozesses, in dem die Länder einbezogen wurden. Wir haben gern mitgearbeitet und sind dankbar dafür. Ich denke, der Gegenstand unseres Bemühens ist es auch wert. Schließlich geht es um die mittelfristige Zukunft Tausender junger Menschen. Es geht aber auch um die Qualität der Rechtsprechung und der Rechtsanwendung in unserem Land. Ich möchte aus der Sicht der Länder dankbar vermerken, dass sich Ihr heutiger Entwurf nachhaltig an den Bedürfnissen der Praxis, insbesondere denen des anwaltschaftlichen Berufsstandes, orientiert. Deshalb ist dies, ganz gleich, ob es sich um eine Reform oder um weniger handelt, ein Schritt in die richtige Richtung. Der Entwurf ist ausgewogen. Der Entwurf stellt sicher, dass die jungen Juristinnen und Juristen eine solide Grundausbildung und auch einen vielfältigen Einblick in die ganz unterschiedlichen Tätigkeiten, die es in der Welt der Juristinnen und Juristen gibt, erhalten. Der Entwurf ist aber auch insofern ausgewogen, als er es ermöglicht, auf das individuelle Ausbildungsziel und auf den gewünschten Beruf hinzuarbeiten sowie gleichzeitig das Ziel einer breit angelegten juristischen Allgemeinbildung zu verwirklichen. Der Fortschritt beginnt bereits in der Universitätsphase der Juristenausbildung; denn dort wird auf die berufsorientierten Inhalte stärker als je zuvor Wert gelegt. Dies ist eine Chance für die Hochschulen in unserem Lande - das ist zu Recht schon gesagt worden. Ich füge hinzu: Damit ist aber auch eine Verantwortung für die Hochschulen in unserem Lande verbunden. Mit der Neuregelung der Schwerpunktausbildung und vor allem mit der Verlagerung eines wesentlichen Teils der Abschlussprüfung haben die Rechtsfakultäten die Möglichkeit, das eigene Profil zu schärfen und so, mehr noch als bisher, zu einer vielseitigeren Juristenausbildung beizutragen. Ich will dem Appell von Herrn Röttgen an die Länder, mehr Geld zur Verfügung zu stellen, nicht entgegentreten, aber ich bitte Sie, diesen Appell auch an die Finanzpolitiker aller Fraktionen in diesem Hohen Hause zu richten, damit die Länder die nötige Finanzkraft bekommen, ihre Universitätshaushalte in dem von uns allen fachlich gewünschten Sinne zu verstärken. ({1}) Der Entwurf bedeutet auch eine ganz erhebliche Annäherung der Juristenausbildung an die Erfordernisse des Anwalts- und auch des Notarberufs. Das ist bislang ohne Beispiel gewesen. Wir betonen in dem Entwurf die Rechtsberatung, das Mandanteninteresse und die Streitschlichtung. Nach der jetzt vorliegenden Fassung des Gesetzentwurfs geben wir der anwaltlichen Ausbildung im Vorbereitungsdienst ein ganz besonderes Gewicht. Durch den Entwurf, auch in der Form, die Sie ihn jetzt vorbereitet haben, wird gewährleistet, dass den individuellen Interessen der Referendarinnen und Referendare Rechnung getragen wird und denjenigen ein Freiraum eingeräumt wird, die nach Alternativen zum anwaltlichen Beruf suchen. Diese Bemühungen müssen angesichts der hohen Zahl von Anwältinnen und Anwälten - da bin ich mir sicher - mit Nachdruck unterstützt werden. Dies ist eine Reform in zweierlei Hinsicht - eine Revolution sollte es gar nicht sein -: Noch nie in den letzten 50 Jahren hat sich der Staat so deutlich aus einem wichtigen Teil der Prüfung zurückgezogen und den Universitäten so viel Entscheidungsspielraum zugestanden; noch nie in den letzten 50 Jahren hat sich die Justiz so deutlich aus wichtigen Phasen der Ausbildung zurückgezogen zugunsten der unverkennbar notwendigen Orientierung an den Erfordernissen des Anwaltsberufes. Wenn das abschließende Verfahren im Bundesrat beendet sein und das Gesetz in Kraft getreten sein wird, werden wir seitens der Länder das Unsere dazu tun. Wir tun es aber auch heute schon. Herr Funke, Sie haben zwei Punkte angesprochen, die im Alltag von großer Bedeutung sind und die von dem System der hier in Rede stehenden Ausbildungsordnungen unabhängig sind. Es ist misslich, wenn Klausuren so lange liegen bleiben, bis sie korrigiert werden. Aber wir müssen auch auf die Qualität derjenigen achten - das sage ich für alle Kolleginnen und Kollegen -, die solche Klausuren korrigieren. ({2}) Das ist ein Problem, das auch wir schon lange sehen. Wir bemühen uns, Korrektorinnen und Korrektoren zu finden. Das hat aus Gründen der Qualität bestimmte Grenzen. Die Wartezeit ist auch meines Erachtens zu lange, aber in dem einen oder anderen Land haben wir haushaltspolitische Restriktionen. Diese würden wir gern ändern, wenn wir die Mittel dazu hätten. Zum Abschluss will ich nicht verschweigen, dass wir uns im Kreis der Länder durchaus mehr gewünscht hätten, was insbesondere die Verbesserung der Anwaltsausbildung angeht. Man kann das im Entwurf des Bundesrats nachlesen. Ich meine insbesondere die Anforderungen an die Zulassung zur anwaltlichen Tätigkeit. Deshalb möchte ich dem abschließenden Votum des Bundesrats nicht vorgreifen. Ich persönlich meine - ich habe das mit einigen Kolleginnen und Kollegen besprechen können -, dass das Ergebnis Ihrer Beratung, über das Sie jetzt abstimmen werden, ein Kompromiss ist, der von sehr vielen der Beteiligten getragen werden kann und der auch praktisch durchführbar ist. Ich glaube, es ist ein Beitrag dazu, dass die Juristenausbildung auch in Zukunft bestmöglichst ausgerichtet sowie anwalts- und berufsorientiert ist, zugleich aber den notwendigen Freiraum für Eigeninitiative und Eigenverantwortung lässt. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Rupert Scholz.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir noch einige ergänzende Bemerkungen zu dem, was mein Kollege Röttgen gesagt hat und was im Übrigen in allen Beiträgen hier deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Natürlich geht es nicht um Revolution. Revolution ist nie gut. ({0}) - Revolution ist nie gut. - Im Zusammenhang mit dieser Diskussion ist aber das Wort „Revolution“ nicht ohne Zufall immer wieder angeklungen, denn die Reform der Juristenausbildung war wirklich längst überfällig. ({1}) Das bisherige System der Ausbildung und damit auch das System der Prüfungen schleppen wir seit Ewigkeiten mit uns herum, obwohl die Anforderungen und auch das Berufsbild des Juristen inzwischen elementare Veränderungen erfahren haben. Es geht und ging also darum - das betone und unterstreiche ich auch aus meiner Sicht -, am Einheitsjuristen festzuhalten, aber diesen Einheitsjuristen mit der Fähigkeit auszustatten, mit der Vielfalt der unendlichen Ausdifferenzierungen und dem unendlichen Wachstum des juristischen Stoffes fertig zu werden. Das heißt, es geht vor allem darum, Juristen methodisch zu schulen. ({2}) Ein methodisch geschulter Jurist ist aber nicht zu bekommen, wenn man ihn nur mit Stoff - ich sage das ganz bewusst aus meiner eigenen universitären Erfahrung und einer ständigen Prüfungserfahrung heraus - und mit immer mehr Spezialwissen buchstäblich zuschaufelt. Hier ist viel gesündigt worden. Diesen Fehlentwicklungen muss - das sage ich mit allem Nachdruck - Einhalt geboten werden. Die Qualität eines Studenten im Referendarexamen kann nicht danach beurteilt werden, ob er sozusagen sämtliche BGH-Entscheidungen kennt, ja, am besten gleich wie ein wandelnder Palandt ins Examen marschiert. Das ist es nicht. Nein, wichtig ist, dass er die Fähigkeit hat, mit einer juristischen Problemstellung fertig zu werden, sich einzuarbeiten und mit den nötigen logischen und methodischen Mitteln das zu leisten, was von ihm gefordert wird. Das ist die Lebensherausforderung eines Juristen. Die Vorstellung des Einheitsjuristen geht von der Grundvorstellung der Einheit der Rechtsordnung, an der natürlich auch unter Ausbildungsaspekten festzuhalten ist, aus. Der Einheitsjurist muss im Übrigen aber auch von einer methodisch geschlossenen Basis ausgehen können. Deshalb ist es richtig, die Spezialisierung während der Ausbildung zurückzufahren und den Stoff um ein System von Schwerpunktgruppen zu konzentrieren. Was haben wir denn bisher gemacht? Die Wahlfachgruppen wurden immer weiter ausgefächert, wurden immer spezieller und mit immer mehr Perfektionsansprüchen belastet. Das war der falsche Weg. Ich bin gerade den Kollegen, die das Ladenburger Manifest verfasst haben, dankbar, dass sie hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Ihre Ansicht hat mein Kollege Böckenförde ja auch in den von uns durchgeführten Anhörungen vertreten. Wir haben diese übernommen. Die Wahlfachgruppen müssen zu sachadäquaten, systematisch passenden Schwerpunktgruppen zusammengefasst werden. Auf dieser Ebene haben dann die Universitäten die 30 Prozent abzuprüfen, die ihnen als Mandat im Prüfungssystem zugewiesen wurden. Gestatten Sie mir auch ein Wort zu diesen 30 Prozent: Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass man von der Länderseite nicht über 25 Prozent gehen wollte; denn es ist für die Universitäten schwierig, selbst einen Anteil von 25 Prozent zu übernehmen. Auch das weiß ich wiederum aus der eigenen Erfahrung, da ich, wie ja gesagt, lehre und prüfe. Aber es muss geleistet werden. Das bedeutet allerdings - hier greife ich den eben schon von Kollegen Röttgen an die Landesfinanzminister gerichteten Appell auf und schließe auch die Landeskultusminister, Herr Dieckmann, ein -, man wird auch Änderungen im Bereich des CW-Wertes vornehmen müssen, denn die juristischen Fakultäten der Universitäten werden das, was jetzt von ihnen erwartet wird - das muss von ihnen auch eingelöst werden -, nicht leisten können, wenn man ihnen hier nicht entgegenkommt. Die ganze Reform steht und fällt damit, dass an einem Strang gezogen wird. Das bedeutet natürlich auch, dass hinsichtlich der Ausfüllung und der Konkretisierung durch die Landesgesetzgebung, durch die Justizausbildungsverordnung und durch die Justizausbildungsgesetze der Leitfaden und die Grundphilosophie dieses Bundesgesetzes aufgenommen und möglichst effektiv umgesetzt werden müssen. Minister Jochen Dieckmann ({3}) In diesem Zusammenhang fordere ich zum Wettbewerb - dieses Wort ist heute schon mehrfach zu Recht gefallen - auf. Nach meiner Auffassung muss es nicht so sein, dass jede Universität in sämtlichen Schwerpunktgruppen entsprechende Ausbildungen und Prüfungen anbietet. Das muss wirklich nicht sein. Im Gegenteil: Geben Sie den Universitäten die Freiheit, sich auf bestimmte Angebote zu konzentrieren und zu spezialisieren! Wichtig ist, dass für die Studenten ein Gesamtangebot zur Verfügung steht. Gerade für die Bundesländer, die viele Universitäten und dementsprechend viele juristische Fakultäten haben, gilt: Das muss nicht alles so konformistisch, so uniform sein, wie es bisher war. ({4}) Über diese Reform kann auch ein fantastischer Impuls zu einer ungleich höheren Effizienz - ich bin fast geneigt, zu sagen: zu einer Revitalisierung - der juristischen Ausbildung an unseren Fakultäten erwachsen. Auch darin sehe ich eine große, wunderbare Chance. Ich appelliere an alle, das, was wir hier glücklicherweise gemeinsam geplant haben, mit umzusetzen und dann so weiterzuführen. Auch ich darf mich für die sehr sachbezogenen, sehr engagierten gemeinsamen Beratungen, die zu diesem Gesetz geführt haben, bedanken. Ich glaube, wir sind auf einem wirklich guten Weg. Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Fangemeinde! Ich habe kürzlich folgende Schreckensvision einer jungen Juristin gelesen: Wir schreiben das Jahr 2030. ... In Berlin, der Hauptstadt der Europäischen Republik Deutschland, tagt die Kommission zur Reform der Juristenausbildung. Sie tagt also noch immer und es wird noch immer ausgebildet wie vor 200 Jahren. Das ist in der Tat bis heute eine Schreckensvision. Ich muss sagen, dass ich unheimlich aufgeregt bin, ({0}) weil ich erleben darf, dass das, was ich vor 40 Jahren, als ich mit meinem Studium begonnen habe, erhofft habe, endlich Wahrheit werden kann, nämlich eine Reform der Juristenausbildung, die diesen Namen in der Tat verdient. Natürlich rede ich nicht von Revolution, denn wir wissen, dass Juristen, wenn sie eine Revolution gemacht haben, meistens einen Kopf kürzer gemacht wurden; siehe Büchner oder Danton. Das wollen wir uns heute hier ersparen. Allerdings hat niemand geglaubt, dass wir das schaffen. Verehrte Frau Ministerin, wir verdanken den Erfolg Ihrer Hartnäckigkeit, Ihrem Selbstbewusstsein sowie der Tatsache, dass Sie uns immer wieder angetrieben haben, diesen Weg zu gehen. An dieser Stelle möchte ich mich bei Ihnen und Ihrem Haus, insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen, aber auch bei Ihnen, meine Damen und Herren aus dem Bundesrat, dafür bedanken, dass wir das gemeinsam geschafft haben. Was haben wir gemacht? Wir stärken das Selbstbewusstsein der Universitäten, indem wir sie nicht nur lehren lassen, sondern indem wir sie nach dem Motto „Wer lehrt, soll auch prüfen“ künftig mit einem guten Anteil an der ersten Prüfung teilhaben lassen. Das, was sie machen, soll nicht irgendwo im Sande verlaufen und sich möglicherweise nur in Klausuren und Hausarbeiten wiederfinden, sondern sich ganz real in der Befähigung der jungen Juristinnen und Juristen, in den Vorbereitungsdienst zu gehen, widerspiegeln. Was tun wir weiter? Wir machen unsere jungen Juristinnen und Juristen fit für den Wettbewerb in der Welt und vor allen Dingen in der Europäischen Union, in der sie immer häufiger tätig sind, indem wir von ihnen Sprachkompetenz verlangen. Wir machen sie fit, indem wir ihnen das Handwerkszeug geben, das sie brauchen: Verhandlungsmanagement, Rhetorik, Teamfähigkeit. Wir bieten ihnen damit die Chance, sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Fähigkeiten anzueignen, die wir in Richterund Anwaltsakademien oder sonst irgendwo als Autodidakten später noch erlernen mussten. Ich denke, dies ist schon ein erster großer wichtiger Schritt und verdient in der Tat die Bezeichnung Reform. Aber wir haben nicht nur das universitäre Studium ins Auge gefasst, sondern auch - weil wir wissen, dass das notwendig ist - bei der Ausbildung im Vorbereitungsdienst eine ganze Menge getan. Bisher wurden 100 Prozent der Referendarinnen und Referendare wie Richter ausgebildet und die Tatsache, dass sie in einen rechtsberatenden oder rechtsgestaltenden Beruf gingen, wurde hintangestellt. Wir hingegen tragen der Realität Rechnung, nämlich dass 80 bis 90 Prozent dieser jungen Menschen später einmal in einen rechtsgestaltenden Beruf gehen. ({1}) Wir haben gerade der Ausbildung der Anwälte ein viel größeres Gewicht beigemessen. Das Gute hieran ist, dass wir uns dabei alle einig sind: Die Länder, die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und selbst Herr Funke und die FDP sind der Meinung, dieser Weg sei richtig. Ich möchte eines hervorheben: Gerade der Kollege Funke hat uns bei den sehr guten Berichterstattergesprächen darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit geschaffen werden soll, dass während der Anwaltstation auch in einem anderen rechtsgestaltenden Beruf ausgebildet werden kann. Vielen Dank, Herr Funke! ({2}) Umso mehr bedaure ich, dass Sie heute nicht mit uns stimmen. Wir wollen natürlich auch, dass sich die Anwaltschaft sehr viel stärker beteiligt. Denn auch hier gilt: Wer letztDr. Rupert Scholz lich prüft, der soll auch lehren. Die Anwälte sollen also mehr machen, als sie bisher getan haben, sich stärker engagieren. Deswegen werden wir sie da in die Pflicht nehmen. Ich sage auch sehr deutlich: Wir werden beobachten, ob sich die Anwälte in die Pflicht nehmen lassen und wie weit die Anwaltschaft diesen Weg, den wir vorgezeichnet haben und den sie eigentlich auch selbst will, mitgeht. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, verehrtes Publikum, das Sie uns die Ehre geben, heute Abend bei einer zukunftsweisenden Gesetzgebung zuzuhören, wir wollen letztlich auch, dass Richterinnen und Richter künftig nicht mehr nur - meistens wird dies ja nicht getan - daran gemessen werden, ob sie einen Sachverhalt vernünftig subsumieren können. Wir wollen, dass sie mehr können, dass Richterinnen und Richter ihrer sozialen Aufgabe gegenüber den Menschen, die vor ihnen, vor dem so genannten Richterstuhl stehen und auf ihr Urteil warten, gerecht werden. ({3}) Wir wollen, dass sie nicht nur lernen, ein Urteil zu sprechen, sondern dass sie lernen und wissen, wie man einen solchen Prozess gestaltet und führt, damit letztlich ein Rechtsfrieden, eine Befriedung der beteiligten Parteien eintreten kann. Die Richterinnen und Richter müssen neben den anderen Befähigungen zum Richteramt soziale Kompetenz - so nennen wir es schlicht und einfach - haben. ({4}) Deswegen haben wir dies in den Gesetzentwurf geschrieben, Herr Funke, damit es für jeden deutlich wird. Ich weiß, dass die Bundesländer dieses unser Anliegen sehr ernst nehmen und darauf achten werden. Wir sind überzeugt, dass wir dann auch genau das erreichen, worüber wir uns bei der Reform der Zivilprozessordnung schon gestritten haben, dass nämlich Prozesse sachgerechter, schneller und bürgerfreundlicher erledigt werden. Ich möchte noch eines sagen: Ich bin sehr sicher, dass wir nicht noch einmal 200 Jahre warten können - wir ja sowieso nicht -, ({5}) bis wir die nächste Juristenausbildungsreform angehen. Wir werden beobachten, wie sich diese Welt und die Zeit entwickeln. Wir sind bereit. Sollten weitere Reformen erforderlich sein, werden wir sie angehen. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, ich habe Sie zu dieser Stunde noch einmal etwas wachgerüttelt. ({6}) Ich denke, es war eine hervorragende Debatte. Gestatten Sie mir bitte noch ein letztes Wort: Ich finde es enorm und außergewöhnlich, wie gut wir hier zusammengearbeitet haben. Das zeigt, dass der Bundestag - als das wichtigste Verfassungsorgan - und ein weiteres Verfassungsorgan mit diesem wichtigen Gesetz etwas wirklich Zukunftsweisendes und Gutes geschaffen haben. Dafür allen meinen herzlichen Dank. Nun könnt ihr zu Genscher gehen und feiern. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Juristenausbildung auf Drucksache 14/7176. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8629, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Stimmenthaltung der PDS und gegen die Stimmen der FDP in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist bei gleichem Stimmenverhältnis wie vorhin in dritter Beratung angenommen. Ich danke für Ihre Zustimmung und darf sagen, dass ich mich freue, bei dieser Abstimmung präsidieren zu können. Ich habe in meinem juristischen Leben sehr viele Stunden mit vielen Reformen zugebracht. Ich freue mich daher, dass diese Reform jetzt auf den Weg gebracht wurde. Ich bedanke mich herzlich dafür. ({0}) Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem von der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Juristenausbildung auf Drucksache 14/2666. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8629, den Gesetzentwurf abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP angenommen. Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung auf Drucksache 14/7463. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8629, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun ({2}), Jörg van Essen und weiterer Abgeordneter der Fraktion der FDP Bundeskartellamt personell stärken - Drucksachen 14/5575, 14/8134 Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Kutzmutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Uwe Jens das Wort für die SPD-Fraktion.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Ich möchte zunächst den Zusammenbruch des Holzmann-Konzerns sehr bedauern. Wenn Elefanten fallen, geschieht dies mit großer Lautstärke. Kleine Unternehmen sterben bekanntlich lautlos. Die Bauwirtschaft hat heute Abend ein großes Opfer zu beklagen. Diese Besorgnis erregende Entwicklung können wir nur mit Bedauern zur Kenntnis nehmen. Es ist deutlich geworden: In unserer offenen Gesellschaft sterben auch große und nicht nur kleine und mittlere Unternehmen. Der Antrag der FDP, in dem mehr Personal für das Kartellamt gefordert wird, beachtet aus meiner Sicht die Tatsache nicht, dass es nicht auf die Zahl der Beschäftigten im Kartellamt ankommt, sondern auf die Qualität ihrer Arbeit, die in diesem Amt bekanntlich recht gut ist. ({0}) Die Masse alleine macht es nicht. ({1}) Wir werden also die Beschlussempfehlung des Ausschusses annehmen und den Antrag damit ablehnen. ({2}) Das Amt braucht in der Tat über eine längere Frist gesehen etwas mehr Personal, insbesondere wenn es endgültig die Kompetenzen hat, sich verstärkt um den Stromund Gasmarkt zu kümmern, und insbesondere auch dann, wenn möglicherweise langfristig die Regulierung für Post und Telekommunikation beim Kartellamt und nicht mehr bei der Regulierungsbehörde angesiedelt sein wird. Das wäre aus meiner Sicht langfristig eine gute Perspektive. ({3}) Vor allem für den Strom- und Gasmarkt ist es notwendig, die sofortige Vollziehbarkeit von Beschlüssen des Kartellamtes einzuführen und möglicherweise auch die Beweislast umzukehren. All dies wird zu mehr Personal führen, wenn die Kompetenzen dort sind. Zurzeit ist die Personalaufstockung nach meiner Meinung wirklich keine so gute Idee. Wir haben auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass sich nicht nur das Kartellamt um Wettbewerb kümmert, sondern vor allem auch die Generaldirektion IV in Brüssel. Herr Monti hat aus meiner Sicht bisher sehr gute Arbeit geleistet. ({4}) Die Öffnung des Telekommunikationsmarktes und auch die anfängliche Öffnung des Strommarktes haben zu Preissenkungen geführt. Man muss darauf achten, dass der entstandene Wettbewerb nun nicht etwa durch neue Monopolbildung auf diesem Markt kaputtgemacht wird. ({5}) Ich hoffe sehr, dass es auch in Zukunft bei „Call-by-Call“Ortsgesprächen zu einem Wettbewerb kommen wird, wie wir ihn für Ferngespräche bereits kennen. Der Widerstand gegen die weitere Öffnung ist nun wirklich zuerst - das muss man zugeben, wenn man fair ist - in Frankreich zu suchen, nicht etwa in der Bundesrepublik Deutschland. Das kann man nicht behaupten. ({6}) Meine Damen und Herren, die Unternehmen wollen alle immer gerne weniger Wettbewerb, aber das muss man als Politiker immer wieder deutlich brandmarken. Das kann nicht sein. Wer ein Monopol hat, möchte es natürlich am liebsten behalten. Das ist menschlich allzu verständlich, aber wir müssen dafür sorgen, dass der Wettbewerb nicht einschläft, sondern immer wieder neu belebt wird. Erlauben Sie mir, noch einmal drei relativ banale Erkenntnisse vorzutragen: Erstens. Der Wettbewerb, den wir hier in Deutschland kennen und der, wie man gesehen hat, in der Bauwirtschaft ruinös ist, wird nicht etwa nur durch Wettbewerbspolitik gesichert, auch nicht allein durch das Kartellamt oder allein durch Herrn Monti. Wenn wir den Wettbewerb erhalten wollen, was für die Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaftsordnung elementar wichtig ist, ({7}) müssen wir uns mehr und verstärkt um kleine und mittlere Unternehmen kümmern. ({8}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Das werden wir in Zukunft tun. Wir müssen die Wirtschafts- und Steuerpolitik so gestalten, dass sie Kleine und Mittlere begünstigt und Große gegenüber Kleinen und Mittleren eher benachteiligt. Zweitens. Der Zeitgeist schwankt bekanntlich stets sehr stark, aber die Lösungen, die in Japan zur Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung zurzeit getätigt werden oder früher getätigt wurden, sind keine rationalen, vernünftigen Lösungen. Wir brauchen in Deutschland mehr Dynamik und wir brauchen mehr Investitionen und Innovationen durch Wettbewerb. Die Tatsache, dass der Wettbewerb leider immer weniger Interessenvertreter hat, auch hier im Deutschen Bundestag, erfüllt mich besonders mit Sorge. Der Wettbewerb hat in keiner Partei mehr eine echte Lobby - das ist bedauerlich-, ({9}) die sich intensiv für Wettbewerb einsetzt, mit allen Konsequenzen, ohne Wenn und Aber. ({10}) Es gibt nämlich einige unumstößliche ökonomische Tatsachen. Zum Beispiel haben offene Märkte bisher dazu beigetragen, dass der Wohlstand in unserer Gesellschaft enorm gestiegen ist. ({11}) Wir haben für das letzte Jahrhundert, von 1920 bis 1939, eine Phase des Protektionismus festzustellen. Am Ende dieser protektionistischen Phase standen der Krieg und die Ausdehnung der Armut in der gesamten Welt. Seit 1950 gab es eine Phase der Marktöffnung, des Wettbewerbs und des internationalen Handels. Am Ende dieser Phase stand ein Wohlstand, wie wir ihn in diesem Lande bisher noch nie erlebt haben. Meine Damen und Herren, wenn wir den Wettbewerb fördern, dann fördern wir gewissermaßen auch die Senkung der Preise. Dann tun wir etwas für kleine und mittlere Unternehmen. Dann sorgen wir für mehr Investitionen und Neuerungen in der Wirtschaft. Dann begrenzen wir sozusagen die Macht der großen Konzerne und tun auch etwas gegen Korruption in der Wirtschaft. Dort, wo der Wettbewerb funktioniert, hat Korruption aus unserer Sicht keine Chance. Meine Damen und Herren, es kommt nun aber nicht darauf an, die Bürokratie groß aufzublähen. Es kommt darauf an, eine offene Gesellschaft mit möglichst viel Wettbewerb zu erhalten. Lassen Sie uns in Ruhe darüber nachdenken, was getan werden muss und was nicht getan werden darf. Herzlichen Dank. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Hartmut Schauerte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es wirklich so ist, wie die Nachrichten jetzt lauten, dann ist der Zusammenbruch des Holzmann-Konzerns für die vielen Tausend Mitarbeiter und ihre Familien, für die vielen Tausend Zulieferbetriebe und für die vielen anderen, die mitgewirkt haben, eine sehr bedrückende Nachricht. ({0}) Die betreffenden Personen haben unser ganzes Mitgefühl verdient. Aber bei dieser traurigen Gelegenheit darf man ja schon einmal daran erinnern, dass mit der damaligen Rettungsaktion durch den Bundeskanzler ({1}) so etwas wie ein Ruck durch das Land ging und dem Bundeskanzler eine ganz neue Wirtschaftskompetenz zuwuchs. Auch das Versprechen, das er damals gemacht hat, und die Hoffnungen und Erwartungen, die er damals geweckt hat, hat er nicht halten können. ({2}) Es ist auch eine wichtige Mahnung an die Politik, den Mund in solchen Fragen nicht zu voll zu nehmen und sich mit solch schwierigen Prozessen sehr zurückhaltend und vernünftig zu befassen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schauerte, die damalige Situation war davon geprägt, dass, wenn nichts getan worden wäre, der ganze Konzern zusammengebrochen wäre. Der Bundeskanzler ist gebeten worden einzugreifen. Flugs haben sich die Oberbürgermeisterin von Frankfurt und der Ministerpräsident von Hessen schnell neben ihn gestellt und gesagt, dass sein Vorgehen richtig sei. Dem Unternehmen ist damals eine Chance eingeräumt worden, durch eigene Sanierung und entsprechende Maßnahmen die Grundlagen dafür zu schaffen, im Wettbewerb zu bleiben. Mehr konnte der Kanzler nicht tun. Jetzt sind es die Banken, die sich - bis auf eine ganz große - zurückziehen und sagen: Wir wollen mit diesem Laden nichts mehr zu tun haben. ({0}) Sie tun dies, ohne gründlich zu prüfen, ob nicht doch noch ein Konsens möglich ist, um dieses Unternehmen weiterführen zu können. Ansonsten denke ich wie Sie, dass ein ordnungsgemäßes Konkursverfahren nicht bedeuten muss, dass alle Arbeitsplätze verloren gehen. Kann ich davon ausgehen, dass Sie diese Einschätzung teilen? ({1})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, das können Sie natürlich nicht. Denn Sie wissen, dass diese Entscheidung schon damals in großem Umfang und mit guten Gründen heftig kritisiert wurde. Aber losgelöst von der materiellen Entscheidung sage ich Ihnen: Was ich angegriffen habe und kritisiere, ist, dass sich der Bundeskanzler als Retter eines Unternehmens aufgespielt hat und sich feiern ließ, dass man sich aber nun zurückzieht und sagt: Es sind die Banken. Wer sich damals für diese vermeintliche Rettung mit der falschen Methode so hat loben lassen, der muss nun auch erklären, dass seine damalige Konzeption, mit der Rettung auch seine Kompetenz zu begründen, gescheitert ist. Er muss seine Versprechen zurücknehmen und sich bei denen, denen er falsche Hoffnungen gemacht hat, entschuldigen. ({0}) Das war nicht korrekt, das war eitel und ein Profitschlagen auf politischer Ebene aus einer schwierigen Situation eines Unternehmens. Deshalb habe ich diese nachdenklichen Bemerkungen mit Fug und Recht gemacht.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Und nun kommen wir zum Thema: Bundeskartellamt personell stärken.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man kann natürlich das Thema Wettbewerb in der Bauwirtschaft an diesem Thema festmachen, ob dies nun fair und korrekt war, warum das Unternehmen so groß werden musste und ob nicht durch solche großzügigen Finanzierungshilfen auch ruinöser Wettbewerb zulasten vieler kleiner Unternehmer losgetreten wurde. Man könnte diese beiden Themen gut miteinander verbinden, ich möchte jedoch beim Antrag bleiben. Wir beschäftigen uns beim Thema Bundeskartellamt nicht mit irgendeiner Behörde, sondern mit einer Behörde unseres Staatswesens, die so dringend gebraucht wird wie nur was und der man gar nicht genug Kompetenz und Verantwortung übertragen kann. ({0}) Gerade in einer Zeit, in der sich die Wirtschaftsabläufe beschleunigen, in der Konzentrationen zunehmen, in der es technologische Sprünge gibt, woraus sich ganz neue Strukturen ergeben, sind die Gefahren dafür, dass aus Marktwirtschaft Machtwirtschaft wird, unglaublich vielfältig. ({1}) Dies gilt nicht nur im Energiebereich, nicht nur bei Strom, Gas oder Wasser, worüber wir im Moment so viel reden, sondern auch in so vielen anderen Bereichen wie etwa dem Lebensmitteleinzelhandel oder der Luftfahrt. Schauen Sie sich einmal an, welche Monopolstrukturen und welches Preisdiktat wir immer noch im innerdeutschen Luftverkehr haben. Wir können in die vielfältigsten Bereiche hineingehen: Wir brauchen überall intelligente Kartellwächter, die dafür sorgen, dass Kartellabsprachen unterbleiben, dass Wettbewerb funktioniert und wir ein vernünftiges Spielfeld haben, auf dem die Regeln eingehalten werden. Die Aufgabenvermehrung ist enorm. Diese ist auch nicht von Interessenvertretern herbeigeredet, die sich eine große Behörde zimmern wollen, sondern wirklich vorhanden. Wir in der Politik haben viel dazu beigetragen. ({2}) Zu den Aufgaben gehört zum Beispiel die stärkere Durchsetzung des Wettbewerbs in den monopolisierten Märkten für Energie sowie bei den gesetzlichen Mitwirkungspflichten bei Post, Telekommunikation und Bundesbahn. Wir stecken doch überall zurück. Wir kommen nirgendwo richtig weiter. Dies ist lähmend. Ich behaupte hier, dass ein Stück des Misserfolgs der rot-grünen Wirtschaftspolitik gerade auch auf dieser mangelnden Bereitschaft, wirklich für Wettbewerb einzutreten, auch harte Entscheidungen zu treffen und zuzulassen, beruht. Weil der Wettbewerb nicht richtig geregelt worden ist, sind Wachstumskräfte nicht ausreichend entwickelt und losgetreten worden. In der Binnenwirtschaft haben wir im Grunde genommen ein Schrumpfen des wirtschaftlichen Wachstums. Wenn der Export um 6 Prozent wächst und wir gesamtwirtschaftlich nur einen Zuwachs von 0,6 Prozent haben, muss im binnenwirtschaftlichen Bereich ein Minus von 2 oder 3 Prozent stehen, sonst kämen wir nicht auf einen solchen Durchschnittswert. Dies alles sind Ergebnisse von Verstößen gegen glaubwürdig gelebten Wettbewerb. Um hier etwas zu ändern, bedarf es aber einer richtig ausgestatteten Behörde. Ich könnte noch viele andere Bereiche nennen. Wir haben auch im GWB neue Ansätze wie die Untereinstandspreisvorgänge. Wir wollen all diese Dinge ernst nehmen und verfolgen. Diese können aber nicht richtig umgesetzt werden, weil dieses Amt keine ausreichende Personaldecke bekommt. ({3}) Wenn ich dies noch einmal auf die wesentlichen Punkte zurückführen darf: Wir müssen alle miteinander - Uwe Jens, bei der Einschätzung der Bedeutung dieser Frage sind wir gar nicht so weit auseinander - alles tun, damit die Unabhängigkeit diese Behörde so groß wird wie nur möglich. ({4}) Leider sind hier schwere Fehler begangen worden, zum Beispiel in Bezug auf Eon. Die Art und Weise, wie um das Kartellamt herum, quasi in der Vorwegnahme einer Ministererlaubnis, die Glaubwürdigkeit des Kartellamts beschädigt worden ist, tut weh, besonders den Leuten, die dem Kartellamt eine wichtige Aufgabe geben wollen. ({5}) Ich weiß, dass alle Rechtschaffenen, die auf diesem Gebiet arbeiten, genauso denken. Darin schließe ich auch viele in der SPD ein. Dies tut wirklich weh. So etwas darf nicht Schule machen und sich nicht wiederholen. Beim Kartellamt bedarf es des Mutes zu klaren Entscheidungen. Aber Mut nur einzufordern ist die eine Sache. Ein Klima zu schaffen, in dem Mut wachsen kann, ist die andere Sache. Da bedarf es dann der Zurückhaltung der Politik. Ich kann aber auch nur mutig sein, wenn ich mich einigermaßen stark aufstellen kann. Damit kommen wir zu den Sach- und insbesondere den Personalmitteln. Wenn wir in solchen Verfahren einmal gearbeitet haben, wissen wir doch, mit welcher Kompetenz die jeweiligen Interessenvertreter - professoral unterstützt, von Hunderten von Anwälten vorgearbeitet und vorgedacht - antreten, um ihre Forderungen häufig gegen die Rechte des Wettbewerbs, gegen die Situation in der sozialen Marktwirtschaft, gegen wirkliche Marktwirtschaft durchsetzen zu können. Denen sitzen dann wenige Beamte aus dem Kartellamt gegenüber, die überhaupt keine Chance haben, wirklich Widerstand zu leisten, intelligent zu reagieren und die, die unanständige Anträge stellen, eindeutig und klar zurückzuweisen und sie argumentativ zu zwingen, ihre Positionen zu räumen. Das alles kann nicht ausreichend stattfinden, wenn nicht ausreichend Personal da ist. ({6}) Deswegen, meine ich, müssen wir uns an dieser Stelle bewegen. Ich verstehe die Scheu der Regierung auch nicht. Ich weiß, Uwe, dass du in dieser Frage eigentlich so denkst wie ich. ({7}) Du hast hier die Linie deiner Partei oder der Regierung vorgetragen. Du selber weißt, dass wir mehr Personal im Kartellamt brauchen. ({8}) Wir haben ja darüber gesprochen. Wir haben das in die Haushaltsberatungen eingebracht. Die CDU/CSU hatte einen Antrag mit 40 neuen Stellen, die wir schaffen wollten, weil wir meinen, dass das nötig wäre. Die FDP verlangt nun 50 bis 55 Stellen. Ich schaue jetzt nicht im Einzelnen in die Personalplanung hinein; das muss auch nicht unsere Aufgabe sein. Was sein muss: Das Kartellamt muss von den Personaleinsparungen ausgenommen werden. Es braucht wegen der neuen Aufgabe, wegen der vielen liegen gebliebenen Fragestellungen von großer Bedeutung, jetzt zusätzliches Personal. ({9}) Wir könnten es uns leicht machen und könnten sagen: Wir klagen einfach nur an, dass ihr das nicht macht, und lassen das einmal liegen; wenn wir dann nach dem 22. September die Regierung stellen, machen wir das. ({10}) Das wäre aber wieder verlorene Zeit. Die Fragen, die nicht gelöst werden können, brennen. Deswegen meine Bitte an Sie von der Regierung und von der SPD: Stellen Sie sich doch diesem Thema. Wir wissen, dass die Kosten für diese Personalstellen vom Kartellamt selbst verdient werden - sogar mehr als selbst verdient werden. Das Kartellamt hat fast 60 Millionen DM Einnahmen erwirtschaftet und hat etwa 30 bis 35 Millionen DM Kosten verursacht. Das ist also keine Forderung, die die Kostenlage des Bundeshaushalts verschlechtern würde. Ich bin sogar der Meinung, ein mit zusätzlichem Personal ausgestattetes Kartellamt würde, weil es konsequenter vorgehen und Verstöße klarer aufdecken kann, das, was es mehr kosten würde, an zusätzlichen Gebühren einnehmen. ({11}) Umso weniger kann ich verstehen, dass man sich hier so sträubt. Es ist ein mehr als sich selbst finanzierendes System. Warum geben wir ihm nicht die Mittel, die es braucht, um im Interesse von Markt, von Arbeitsplätzen, von Wachstum und von geordneten Verhältnissen das Nötige zu tun? ({12}) Ich habe ein Feld noch gar nicht angesprochen. Wir haben eine enorm große Aufgabenstellung im Bereich der Europäischen Union; denn wir müssen jetzt zu wirklich europaeinheitlichen Regeln kommen, die passen. Da muss sich Deutschland einbringen. Wir waren die Mutter des Wettbewerbsrecht in Europa. Es ist eine Erfindung der sozialen Marktwirtschaft in den 50er-Jahren. Wir haben es unseren europäischen Partnern in den Prozessen nahe bringen können. Wir haben nach wie vor die allergrößte Kompetenz in diesen Fragen. Wenn wir das, was da gut ist, europaweit verankern wollen, dann müssen wir unsere Mannschaft so aufstellen, dass sie diese Ideen nach vorne transportieren kann, dass wir hier wirklich etwas erreichen und dass wir wirklich das europaweite „level playing field“ bekommen, das wir in nahezu allen Fragen brauchen. Wir stolpern und hoppeln doch von einem Thema zum anderen, bekommen nichts geregelt. Es geht wichtige Zeit verloren. Ich meine, das ist nicht angebracht. Wir sollten diesem Antrag zustimmen. ({13}) Ich sage das gar nicht mit dem Gedanken „Wer hat hier Recht und wer hat hier nicht Recht“. Wir tun der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, der Entwicklung eines europäischen Binnenmarktes, den man dann wirklich nach einheitlichen Regeln beobachten und bearbeiten kann, einen unschätzbaren Dienst, wenn wir schnell das nötige Personal beim Kartellamt schaffen. Ich hoffe, das wird kein vergeblicher Appell sein. Wenn Sie heute nicht zustimmen, bringen Sie morgen einen Antrag ein. Wir sind auch bereit, noch einmal neu darüber zu beraten. Wenn es der Sache dient, gehen wir jeden Weg mit, weil wir auf die Lösung dieses Fragenkomplexes brennen. Herzlichen Dank. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich dem Kollegen Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Schauerte, Ihr Mitleid mit dem zusammengebrochenen Baukonzern Holzmann hatte einen schalen Beigeschmack. Da Sie das Bedauern darüber mit einem Angriff auf den Bundeskanzler verbunden haben, kann ich Ihnen nicht abnehmen, dass es sehr herzlich gemeint war. ({0}) Kollege Urbaniak, es war nicht nur so, dass sich die Oberbürgermeisterin von Frankfurt und der Held von Wiesbaden auf das Abschlussbild, das auf dem Balkon gemacht wurde, gedrängt haben, sondern es war tatsächlich so, dass der Bundeskanzler erst dann eingegriffen hat, nachdem diese beiden es nicht geschafft hatten, den Konzern Holzmann zu retten. ({1}) Es ist die Wahrheit, dass sich alle darum bemüht haben. Kollege Hirche, das war kein Staatsinterventionismus; denn an Holzmann hingen auch sehr viele kleine Subauftragnehmer. ({2}) Wir haben also viele kleine und mittelständische Betriebe gerettet, die Gefahr liefen, von einem taumelnden Riesen erschlagen zu werden. Diese haben Zeit gewonnen, aus dieser Krise herauszukommen. Der Konzern Holzmann hat die Zeit, die ihm der Bundeskanzler verschafft hat, nicht genutzt. Das ist auch eine Lehre, die wir heute ziehen müssen. ({3}) - Richtig, so sehe ich das auch. Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, tritt dafür ein, dass das Bundeskartellamt in seiner unabhängigen Stellung gestärkt wird. Deshalb ist es auch gut, dass kürzlich eine neue Beschlussabteilung mit zusätzlichem Personal eingerichtet wurde, die sich mit der Durchleitung im Strombereich befasst. Gleichzeitig bleibt die bisher für die Energiewirtschaft zuständige 8. Beschlussabteilung bestehen. Sie kann sich nun auf andere Fragen der Energiewirtschaft, insbesondere auf die Fusionskontrolle, konzentrieren. Diese Beschlussabteilung hat erst kürzlich mit der Untersagung der beantragten Fusion von Eon und Ruhrgas ein Dokument ihrer Sachkunde und Kompetenz vorgelegt. Darin hat das Kartellamt klar darauf hingewiesen, dass eine solche Fusion den Wettbewerb auf dem Stromund Gasmarkt zulasten der Innovationsfähigkeit der Unternehmen am Standort Deutschland, zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher und auch zulasten der Umwelt weiter einschränken würde. Ich weiß deswegen nicht, welche gesamtwirtschaftlichen Interessen eine Fusion trotz dieser negativen Effekte rechtfertigen sollten. ({4}) Kollege Hirche, Bündnis 90/Die Grünen treten für den regulierten Wettbewerb ein; bei der Telekommunikation, beim Gas, bei der Stromversorgung, beim Schienenverkehr und beim öffentlichen Personennahverkehr. Wettbewerb soll jeweils so zum Tragen kommen, dass er die Bereitstellung von hochwertigen Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger in ökologisch sinnvoller Weise unterstützen kann. Die Europäische Kommission steht mit ihrer Politik für eine faire Wettbewerbsordnung in der Europäischen Union. Wir unterstützen sie bei ihrer Arbeit und setzen uns dafür ein, dass bei dem Rechtsgrundlagen für die Vergabe öffentlicher Aufgaben der Europäischen Union ökologische und soziale Normen zum Kriterium gemacht werden. Es würde nämlich niemandem etwas nützen, wenn wir versuchten, globale Spieler mit Monopolrenten auf dem deutschen Markt aufzubauen. Die Ergebnisse wären weniger Kreativität und weniger Innovation. ({5}) So werden moderne Technologien dezentral entwickelt. Kleine und mittlere Unternehmen entwickeln moderne Lösungen und vernetzen sich, um sie global zu vermarkten. Zentrale Kriterien sind dabei die Serviceorientierung und die Nähe zum Kunden. ({6}) Wir brauchen eine klare Wettbewerbsorientierung, um unser Land für die Zukunft fit zu machen und die Innovationen voranzubringen. Dafür brauchen wir - auch gegenüber der Europäischen Union - keine staatliche Stärkung und Unterstützung der Industriepolitik. ({7}) - Kollege Schauerte, wenn Sie sich mit der Geschichte der Fusionskontrolle und des Kartellrechts beschäftigt hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass die SPD die Fusionskontrolle ins Kartellrecht eingefügt hat. Das sage ich auch an die Adresse der FDP. Sie müssen sich wirklich nicht als die große Hüterin des Wettbewerbs aufspielen. ({8}) Es ist uns wichtig, entschieden gegen die Vermarktung der Märkte vorzugehen. Das gilt in vielerlei Hinsicht. Ich erwähne hier nur die Gruppenfreistellungsverordnung und erinnere an andere Punkte, die in der letzten Zeit umgesetzt wurden. Deswegen unterstützen wir die Politik der Kommission in der Frage der Wettbewerbsordnung in Europa. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die FDP-Fraktion erteile ich der Kollegin Gudrun Kopp das Wort.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Das Wettbewerbsrecht ist das Grundgesetz unserer modernen Marktwirtschaft und verdient es wirklich, geschützt, gehegt und gepflegt zu werden. Aber Sie alle wissen, dass das Bundeskartellamt inzwischen kaum noch handlungsfähig ist. Ihm fehlt es an Personal, an gezielter und laufender Mitarbeiterqualifikation und auch an technischer Ausstattung. Wie kommen wir darauf? Ich möchte Ihnen steigende Fallzahlen - ich glaube, das wird keiner bestreiten -, festgebundene Kernaufgaben, den Aufbau der neuen Beschlussabteilung für den Gasbereich und die Notwendigkeit der Einrichtung einer neuen Vergabekammer - auch das ist wichtig - nennen. All diese Aufgaben erfordern im Interesse der Qualität der Arbeit im Bundeskartellamt eine deutliche Personalaufstockung. ({0}) Sie alle wissen: Es gibt diverse Streitfälle zwischen Politik, Wirtschaft und Bundeskartellamt. Ich nenne hier nur ein paar Stichworte: die Übernahme von Ruhrgas durch Eon, die Untersagung des Verkaufs des Kabelnetzes durch die Telekom an Liberty, der Streit um die Flugstrecke Berlin-Frankfurt zwischen Lufthansa und Germania oder das Vorgehen des Kartellamtes gegen das Entsorgungssystem Grüner Punkt - Duales System Deutschland. Wir wissen ebenfalls, dass das Bundeskartellamt in absehbarer Zeit mit weiteren Aufgaben im Bereich des Gesundheitswesens, der Entsorgungswirtschaft und der Wasserwirtschaft betraut sein wird. Bei all den Kartellordnungswidrigkeiten kommt es infolge von Personalnot schon heute zu deutlichen Verzögerungen bei den Bearbeitungszeiten. Längere Bearbeitungszeiten erzeugen Rechtsunsicherheit. ({1}) Dies verstärkt den Anreiz zu wettbewerbswidrigem Verhalten der Marktteilnehmer. Herr Schauerte, Sie haben eben angeführt, dass das Bundeskartellamt durch eine Personalaufstockung profitieren könnte, ohne dass Kosten entstünden. Ich habe noch eine weitere Möglichkeit der Finanzierung anzubieten. Wir wissen, dass das Bundeswirtschaftsministerium seit 1998 erhebliche Kompetenzen abgegeben hat, ohne dass dort im selben Atemzug Personal abgebaut wurde. Immerhin 130 Mitarbeiter des höheren Dienstes und 150 Mitarbeiter des gehobenen Dienstes werden nach wie vor am Bonner Standort beschäftigt. In dieser Situation machen wir den Vorschlag, zunächst einmal 25 Mitarbeiter des höheren Dienstes und 30 Mitarbeiter des gehobenen Dienstes vom BMWi zum Bundeskartellamt abzuordnen. ({2}) Dies wäre eine Maßnahme, die sofort und kostenneutral stattfinden könnte, sodass wir unterm Strich finanziell profitieren könnten. ({3}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn dieses ganze Haus - auch Herr Professor Jens hat es gesagt - dafür ist, dass unsere Wettbewerbsstrukturen nicht nur erhalten, sondern für die Zukunft auch gestärkt werden sollen, dann bleibt gar keine andere Möglichkeit, Herr Professor Jens, als diesem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf personelle Stärkung des Bundeskartellamtes zuzustimmen. ({4}) Dafür werbe ich in diesem Haus und bedanke mich schon jetzt für Ihre Einsichten. ({5}) - Das wäre schade.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Kutzmutz für die PDS-Fraktion.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Hirche, Sie müssen nicht klatschen, wenn ich komme. - Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS unterstützt den vorliegenden Antrag der FDP, das Bundeskartellamt personell zu stärken. ({0}) Ich halte es für ein Unding, einerseits das Hohelied der Liberalisierung von Märkten zugunsten von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu singen, aber andererseits das aus meiner Sicht einzig effektive Instrument, das für fairen Wettbewerb sorgt, immer mehr abzustumpfen. ({1}) Unfairer Wettbewerb führt zu privaten Monopolen. Diese sind letztlich für alle - Konsumenten, Beschäftigte und Steuerzahler - langfristig gefährlicher - Herr Kollege Jens wird mir sofort widersprechen - als abgeschottete, aber zumindest öffentlich kontrollierte Märkte, wie es sie früher, beispielsweise bei Infrastrukturdienstleistungen von Post bis Strom, gab. Jetzt etwas zum Stellenplan: Die Koalition hat im vergangenen Jahr mit sehr viel Getöse vier Planstellen entsperren und neu besetzen lassen. Zur gleichen Zeit büßte das Amt per allgemeinem Sparerlass dieselbe Stellenzahl wieder ein. Es war also ein Nullsummenspiel. Jetzt im laufenden Jahr sollen noch einmal 1,5 Prozent der Stellen wegfallen. Ich muss sagen: Wenn man acht Stellen feiert, die man für die Durchleitung geschaffen hat, muss man das gegenrechnen. Es bleibt dabei: Das Kartellamt wird personell geschwächt, ({2}) und das in einer Zeit, in der Wettbewerbskontrolle wichtiger denn je erscheint. Ich glaube aber, das passt der Bundesregierung offenbar auch in den Kram, sobald man Supermultis basteln möchte. Es wird dann sogar die öffentliche Demontage einer der wenigen bisher tatsächlich unabhängig agierenden Behörden in Kauf genommen. Mir zumindest hat noch niemand ein übergeordnetes volkswirtschaftliches Interesse erklären können, das eine Staatssekretärserlaubnis für Eon im Fall Ruhrgas rechtfertigen könnte. Aber ich bin lernfähig. Vielleicht bequemt sich ja das Bundeswirtschaftsministerium noch, den Wirtschaftsausschuss des Bundestages aufzuklären, bevor es zu einer Entscheidung kommt. Die offenbar geplante Brüskierung des Kartellamts würde allerdings zu seiner fortdauernden personellen Auszehrung passen. Ich will auch deutlich sagen: Es hat auch nichts mit Geld zu tun. Das Bundeskartellamt erwirtschaftet nicht nur seine Personalkosten, sondern bringt auch etwas für den Haushalt ein. Auch das sollten wir beachten. Mit der Fortdauer der Wildwestmethoden beim Umbau der Energiemärkte scheint man sich abgefunden zu haben. Anders ist die gestern im Ausschuss wieder bekundete Hoffnung der Bundesregierung nicht zu verstehen, nach Barcelona durch die EU einen größtmöglichen Spielraum bei der Gestaltung des Regulierungsrahmens zu bekommen. Einen eigenständigen Regulierer will man nicht, obwohl diese vernünftige Lösung in allen anderen EU-Staaten praktiziert wird. Das Kartellamt darf nicht regulieren, weil dies ein erheblicher Bruch gegenüber seinen eigentlichen Aufgaben wäre. Das Wirtschaftsministerium sollte nicht regulieren, weil es nach allen Erfahrungen ein höchst parteiischer Schiedsrichter wäre. Bleibt also tatsächlich nur, Bonner Personal aus dem Wirtschaftsministerium ins Kartellamt zu versetzen ({3}) und unter dessen Dach eine von der Wettbewerbsüberwachung getrennte unabhängige Regulierungsstruktur aufzubauen. Das ist eine Idee, mit der inzwischen auch Minister Müller schwanger geht. Dafür bietet der FDPAntrag einen plausiblen Ansatz. Danke schön. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8134 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Bundeskartellamt personell stärken“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5575 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeord- neten Ursula Burchardt, Petra Bierwirth, Hubertus Heil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nachhaltige Wasserwirtschaft in Deutschland - Drucksachen 14/7177, 14/8564 - Berichterstattung: Abgeordneter Hubertus Heil Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden, mit Ausnahme der Vertreterin der PDS, sind zu Protokoll gegeben.1) Ich erteile der Kollegin Dr. Bärbel Grygier das Wort.

Dr. Bärbel Grygier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003489, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Wasser hier vorne am Redepult und das Wasser überhaupt verdienen heute Abend vielleicht noch drei Minuten Aufmerksamkeit, denn morgen ist Weltwassertag. ({0}) Ich denke, mit dem vorliegenden Antrag der Koalition sowie mit der Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes, über die morgen beraten werden soll, ist dieser Weltwassertag ein guter für dieses Land oder könnte es zumindest sein. ({1}) Dass dieser Antrag eine sehr schwere Geburt hatte, wissen die Kollegen der SPD sicher besser als ich, denn hinter der Kulissen haben sehr viele gespielt, gezerrt, gezogen und geschoben. An dieser Diskussion war auch das Netzwerk „Unser Wasser“ - eine sehr rührige NGO, bestehend aus Umweltverbänden, Gewerkschaften und Kirchen - beteiligt. Uns gegenüber stand wieder einmal die Wirtschaft mit ihrem Minister, der das Motto vertritt: Liberalisierung um jeden Preis. Wir müssen feststellen: Niemand kann derzeit daran vorbei, dass sich die Bundesrepublik mit ihren überwiegend dezentralen und auch kommunalen Strukturen flächendeckend durch eine sehr hohe Versorgungssicherheit und eine außerordentliche gute Trinkwasserqualität auszeichnet. Diese hält im Übrigen allen internationalen Vergleichen stand, auch im Hinblick auf das Preis-Leistungs-Verhältnis. ({2}) Ich bin auch froh darüber, dass in der Diskussion der § 103 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen erhalten geblieben ist und somit die Ausnahmen zugunsten geschlossener Versorgungsgebiete weiter bestehen bleiben. Der Koalitionsantrag erkennt nunmehr an, dass der Wettbewerb am Markt keine günstigeren Preise erzielen und auch die Verbraucher- und Verbraucherinnensicherheit nicht weiter verstärken kann. Der Antrag stellt sich auch endlich hinter das Gutachten des Umweltbundesamtes, das die Risiken einer Liberalisierung des Wassermarktes für Verbraucher und Umwelt nachgewiesen hat. ({3}) 1) Anlage 3 - Manchmal glaube ich schon einem Amt. Ich habe damit einige Jahre Erfahrung. ({4}) Skeptisch betrachten wir allerdings das Bemühen der umsatzsteuerlichen Gleichstellung der Wasser- mit der Abwasserversorgung in diesem Antrag. Aus unserer Sicht wäre dies ein Türöffner zu einer leichteren Privatisierung. Die Forderung zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich lehnen wir ab. Denn profitieren würden ausschließlich die ganz Großen wie Eon - das wurde eben bereits erwähnt -, RWE und Co., aber leider nicht der kleine niedersächsische Wasserverband. ({5}) Ich meine schon, dass die Großen ihre Expansionen selber bezahlen sollten. Denn sie streichen auch enorme Gewinne ein. ({6}) Schon jetzt verdienen sie im Wasserbereich unverschämt. Ich bezeichne das deswegen als unverschämt, weil das Wassergeschäft selbst nach RWE-Schätzungen in den Jahren 2001/2002 nur einen Umsatzanteil von 3 Prozent ausmachen, aber mit 20 Prozent zum Betriebsergebnis beitragen wird. Ich meine, dass es sich lohnt, noch einmal darüber zu reden. Diese Zahlen sprechen für sich. Wir empfehlen allen Kommunen - ich sage dies auch aus der Sicht der Kommunalpolitikerin, die ich bis vor vier Wochen war -, sich dreimal zu überlegen, ob sie ihre Wassersparte wirklich in private Hände legen sollen. ({7}) Wir halten ansonsten das klare Bekenntnis zu einer kommunalen und modernen Wasserversorgung sowie gegen eine Liberalisierung und Privatisierung für zentrale Punkte in diesem Antrag. Wir unterstützen ihn nicht nur, sondern werden dem Antrag genauso wie der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes zustimmen. Danke. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Grygier, das war Ihre erste Rede im Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8564 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Nachhaltige Wasserwirtschaft in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7177 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 98/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 über das Inverkehrbringen von BiozidProdukten ({1}) - Drucksachen 14/7007, 14/7922 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) - Drucksachen 14/8508, 14/8577 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Carola Reimann Franz Obermeier Winfried Hermann Marita Sehn Eva Bulling-Schröter Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto- koll gegeben. Deswegen schließe ich die Aussprache.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Biozidgesetzes, Drucksachen 14/7007, 14/7922, 14/8577 und 14/8508. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Ziffer I seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8508 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) 1) Anlage 4 - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Fortführung der Beratungen zum Endbericht der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“ - zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Klaus Holetschek, Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeodneter und der Fraktion der CDU/CSU Endbericht der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“ - Drucksachen 14/2568, 14/2361, 14/5262 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Peter Bartels Christian Simmert Klaus Holetschek Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels für die SPD-Fraktion.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch politische Themen haben Konjunkturen. Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit dem Phänomen der Sekten und Psychogruppen sowie den Gefahren, die von diesen Gruppierungen ausgehen können, umgehen, steht derzeit nicht im Rampenlicht. Andere Fragen beherrschen die Tagesordnung, auch hier und heute. Dabei ist das Thema der Sekten manchmal doch ganz aktuell. Dies zeigte sich in der Antiterrorgesetzgebung. Als Reaktion auf die Bedrohung durch Extremisten haben wir mit Bundestagsbeschluss vom 9. November 2001 das Religionsprivileg im Vereinsgesetz gestrichen nur eine winzige Änderung im Text, aber ein Kernpunkt der Sicherheitsgesetzgebung. Die Rechtslage ließ bisher kein Verbot extremistischer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften zu, während gegen sonstige Vereine mit Verbotsverfügungen vorgegangen werden konnte. Im bundesdeutschen Rechtsstaat schützte dieser der Religionsausübung freigeräumte, quasi rechtsfreie Raum vor allem hoch konfliktträchtige Gruppen vor der Intervention des Staates. Selbst wenn elementare Grundrechte der eigenen Anhänger - Gesundheit und Leben, Willensfreiheit, Familie oder Eigentum - durch eine sektiererische Organisation unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit verletzt wurden, blieb die Organisation unantastbar. Das haben wir nun geändert. Das Bundesinnenministerium nennt in der Begründung des Gesetzes drei Fallgruppen von Vereinigungen, die bislang gegen ein Verbot geschützt waren: fundamentalistisch-islamistische Vereinigungen, die zur Durchsetzung ihrer Glaubensüberzeugung Gewalt gegen Andersdenkende nicht ablehnen, Vereinigungen mit Gewinnerzielungsabsicht oder politischen Zielen, die für sich den Status einer religiösen bzw. weltanschaulichen Vereinigung reklamieren und im Rahmen von Vereinsverbotsverfahren Prozessrisiken hinsichtlich der Beurteilung ihres Vereinigungscharakters aufwerfen - das betrifft etwa die „Scientology“-Organisation - sowie bislang nur im Ausland mit Tötungsdelikten und Massenselbstmorden aufgetretene Weltuntergangssekten wie „Aum“ oder die „Sonnentempler“. Sofort mit In-Kraft-Treten der Gesetzesänderung hat der Bundesinnenminister von seinen neuen rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch gemacht und die „Kalifatstaat“Sekte verboten. Sie ist ein Beispiel dafür, wie sich politischer Extremismus und religiöse Intoleranz vermengen können. Mit der Abschaffung des Religionsprivilegs ist eine wichtige Empfehlung der Enquete-Kommission umgesetzt worden. Das ist gut so. ({0}) Anderes ist auf dem Weg. So führt das Familienministerium ein Modellprojekt durch, dessen Ziel es ist, das in bestehenden Beratungsinstitutionen vorhandene Personal für die Beratungstätigkeit auf dem Gebiet der Sekten und Psychogruppen zu qualifizieren und weiterzubilden. Das betrifft Lebensberatung, Eheberatung, Jugendberatung, Erziehungsberatung oder Sektenberatung. Darüber hinaus soll die Vernetzung dieser Institutionen gefördert werden. Die Laufzeit des Projektes beträgt Zweidreivierteljahre. 1,8 Millionen DM stehen dafür insgesamt im Bundeshaushalt zur Verfügung. Dies dient auch der Prävention und der Aufklärung, zu der im Übrigen auch die Länder verpflichtet sind. Eine weitere rechtliche Klarstellung ist ebenfalls nicht ohne Bedeutung für unser Thema. Auf Initiative der Koalitionsfraktionen wurde im Juli 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch unmissverständlich klargestellt, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben: Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. So steht es im Gesetz. Das Wohl des Kindes hat Priorität. Damit haben wir eine Zielsetzung auch der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“erfüllt. Abschaffung des Religionsprivilegs, Verbesserung der Beratung, gewaltfreie Erziehung - das sind einige positive Schritte, die wir mit unserer Koalition unternommen haben und die ich genannt habe. Das kann aber noch nicht alles sein. Die Liste der Vorschläge der Enquete-Kommission, die noch in der Diskussion sind, ist lang - zu lang! Manche Vorhaben sind schwierig und lassen sich nicht mit einer kleinen Gesetzesänderung umsetzen. Die CDU/CSU-Fraktion macht es sich deshalb mit dem Katalog ihres Antrages ein bisschen einfach. Hinter mancher schnellen Forderung verbirgt sich eine komplizierte und bisweilen recht grundsätzliche juristische Frage. Ich nenne nur die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortung für juristische Personen. Es gibt aber auch Bereiche, in denen ohne Zweifel mehr hätte geschehen können. Ich wundere mich ein bisschen, dass selbst eine unumstrittene Empfehlung wie die, Vizepräsidentin Anke Fuchs das Sektenreferat im Bundesverwaltungsamt zu stärken, schon so lange auf ihre Realisierung wartet. Als die Sektenfrage Konjunktur hatte - das war insbesondere 1996, als Tageszeitungen auf ihren Titelseiten über das Thema berichteten -, schien vieles einfacher durchzusetzen. Die öffentliche Wahrnehmung hat seither abgenommen. Deshalb fällt es manchmal schwer, den notwendigen Druck zu machen. Wir werden aber weiter daran arbeiten und darauf drängen, dass mehr Empfehlungen der Enquete-Kommission tatsächlich umgesetzt werden. Schönen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Antje Blumenthal für die CDU/CSUFraktion.

Antje Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003480, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission empfiehlt dem 14. Deutschen Bundestag, die Bundesregierung zu verpflichten, jeweils zwei Jahre und vier Jahre nach der Verabschiedung dieses Endberichts einen Bericht über die Umsetzung der dort ausgesprochenen Handlungsempfehlungen vorzulegen. Dies ist der letzte Satz aus dem Endbericht der EnqueteKommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“. Auf diesen Bericht haben Sie, Herr Bartels, sich heute offenbar bezogen. Ich kann aber nicht feststellen, dass uns darüber hinaus etwas schriftlich vorgelegt worden wäre. Dieser Bericht lag dem Bundestag in der letzten Wahlperiode am 9. Juli 1998 vor. Obwohl nun fast vier Jahre ins Land gegangen sind, hat sich die Koalition vor knapp einem Jahr nur auf eines einigen können, nämlich dass sie weiter beraten will, wie sie die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission umsetzen könnte. ({0}) Wenn wir nun fragen, wer wann diese Empfehlungen wird umsetzen können, dann brauchen wir uns sicher nicht an Bundeskanzler Schröder zu wenden; denn nicht er, sondern Edmund Stoiber wird es sein, der die Bundesbürger über die verschiedenen Sekten und den undurchdringlichen Psychomarkt aufklären wird. ({1}) Aufklärung tut Not, wie die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission unterstreichen. Es wäre ratsam, den Psychomarkt und die verschiedenen Gruppierungen wissenschaftlich zu erforschen, um ihre Ziele und Praktiken zu unterscheiden; denn nur eine solide wissenschaftliche Forschung bietet ein Fundament für das, was die Bundesbürger wünschen, nämlich Information und Aufklärung über die verschiedenen Anbieter. Es ist das Anrecht der Bundesbürger, sich in punkto Lebensfragen zu informieren und bei jeder Form von Lebensberatung ihrer körperlichen Unversehrtheit sicher zu sein. Hier böte sich zum Beispiel eine rechtliche Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe an, wie sie die Enquete-Kommission vorgeschlagen und die CDU/CSU-Fraktion beantragt hatte. ({2}) - Der Gesetzentwurf des Bundesrates ist, wie Sie, Herr Bartels, wissen, der Diskontinuität zum Opfer gefallen. Vielleicht haben Sie das inzwischen vergessen. ({3}) - Darf ich erst einmal meine Rede beenden? Sie können darauf ja noch während Ihrer Rede eingehen, Frau Rennebach. ({4}) - Ich bleibe bei der Wahrheit. Die Bundesregierung scheint hier, wie in so vielen anderen Fällen, Reformen zu verschlafen. Dabei hatte die Kommission einen klaren Katalog an Empfehlungen aufgestellt. Zwar hatte das Gremium festgestellt, dass die wenigsten Psychogruppen „massiv konfliktträchtig“ seien. Jedoch ist der Gesetzgeber damit nicht seiner Verpflichtung entbunden, im Sinne des Verbraucherschutzes, quasi als Orientierungshilfe und Präventivmaßnahme, bestehendes Recht zu erweitern und neue Gesetze zu erlassen, die verhindern, dass einige dieser Gemeinschaften den Staat und seine Bürger gefährden. Lassen Sie mich an dieser Stelle sieben Empfehlungen der Enquete-Kommission hervorheben. Erstens. Der Gesetzgeber sollte eine Stiftung des öffentlichen Rechts einrichten, die sich den so genannten Sekten und Psychogruppen widmet. Zweitens. Er sollte ein Gesetz erlassen, das die gewerbliche Lebensbewältigungshilfe regelt. Drittens. Er sollte die strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen und Personenvereinigungen einführen. Viertens. Er sollte das Bundesverwaltungsamt im Bereich der Psychogruppen tätig werden lassen. Die Kommission hat genau vorgegeben, wie hier Prävention und Aufklärung möglich sind. Fünftens. Die internationale und vor allem die EU-weite Zusammenarbeit sollte so vernetzt werden, dass Maßnahmen besser koordiniert werden können. Sechstens. Ein interdisziplinärer Forschungsverbund könnte den Bereich der Glaubensgemeinschaften und Psychogruppen erforschen, auf Gefahren hinweisen und so Bund und Ländern zuarbeiten. Siebtens. Staat und Gesellschaft sollten sich nicht in die Konflikte zwischen den neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften hineinziehen lassen, sondern die Stiftung des öffentlichen Rechts als Mittlerin einschalten. Diese von mir genannten Forderungen hatte meine Fraktion mit einem Antrag im Dezember 1999 in den Bundestag eingebracht. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen behielten sich am 25. Januar 2000 vor, die aufgeworfenen Fragen intensiv zu erörtern, woraufhin ein Jahr später, am 7. Februar 2001, der federführende Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit den Stimmen der Koalition mehrheitlich empfahl, weiter zu debattieren, anstatt zu handeln. Nehmen wir stattdessen einmal den günstigsten Fall an, dass sich die Bundesregierung, scheinbar wider besseres Wissen, entschlossen hätte, die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission umzusetzen: Scientology würde nicht mehr als Psychogruppe, sondern als ideologische Gemeinschaft mit deutlich staatsfeindlichen Absichten bezeichnet. Sie fiele damit in die Klasse der massiv konfliktträchtigen Gemeinschaften. Das Bundesverwaltungsamt würde die Bundesbürger über die verschiedenen religiösen Gruppierungen informieren und vor bestimmten Vereinen warnen, und zwar auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, die der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft initiierte Forschungsverbund lieferte. Schüler würden bundesweit bereits im Religions- oder Ethikunterricht die verschiedenen Gruppierungen und deren Ziele kennen lernen. Grundlage aller Maßnahmen gegen gefährliche Gruppen wäre eine einheitliche Gesetzgebung. Bürger könnten Personen haftbar machen, die mit subtilen psychologischen Techniken Menschen an Seele und Leib oder finanziell geschädigt hätten. Opfer der verheerenden Techniken einiger Psychogruppen, zum Beispiel des Pyramidenspiels, könnten die Hilfe erfahrener und geschulter Psychotherapeuten in Anspruch nehmen. Meine Fraktion hatte am 14. Dezember 1999 die Bundesregierung mit einem Antrag aufgefordert, umgehend entsprechende Gesetzentwürfe vorzulegen. Bis dato behandelt die Bundesregierung jedoch nur die Empfehlungen der Enquete-Kommission und pflegt sich offensichtlich immer noch intensiv zu beraten. Wir fordern die Bundesregierung daher erneut auf, ihre Warteposition zu verlassen und endlich zu handeln. Es reicht nicht, die im Abschlussbericht aufgeworfenen Fragen zu erörtern und in der 14. Wahlperiode weiter zu beraten. Ich bezweifle stark, dass Sie handeln werden, bevor diese Wahlperiode zu Ende geht. Sie hatten nun fast vier Jahre Zeit, um gesetzgeberische Empfehlungen sowie andere Maßnahmen zu prüfen. Ich möchte dem entgegenstellen, wie beispielhaft das Bundesverwaltungsamt nach den Vorstellungen der Enquete-Kommission längst arbeiten könnte: Es sammelt alle bedeutsamen Materialien und wertet sie aus. Es informiert alle Dienststellen des Bundes und der Länder sowie die Auskunftsstellen öffentlich-rechtlicher und privater Natur. Es klärt die Bundesbürger und Wissenschaftler über den Erkenntnisstand und insbesondere über die Gefahren neuer religiöser und ideologischer Gruppen auf. Zusammen mit einer entsprechenden Gesetzgebung könnte so eine Gefährdung unserer Gesellschaft durch ideologische Gemeinschaften oder Psychogruppen verhindert werden. Dies alles hätte bereits in die Tat umgesetzt werden können. ({5}) „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht“, sagt Jesus in Matthäus 9 Vers 12. Geben Sie deshalb dem Antrag der CDU/CSU statt, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition! ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Blumenthal, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Nun erteile ich der Kollegin Renate Rennebach für die SPD-Fraktion das Wort.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass wir in diesem Haus um diese Zeit dieses Thema noch beraten. Es ist mir ein persönliches Anliegen, heute dazu zu sprechen, weil ich aus dem Bundestag ausscheiden werde. Ich war Sprecherin der SPD in der Enquete-Kommission. Die Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“ hat einen Abschlussbericht zustande gebracht, der international große, im Deutschen Bundestag allerdings nur relativ wenig Aufmerksamkeit erregt hat. ({0}) - Frau Fischbach, ich werde keine Fragen zulassen, weil ich dieses Thema nicht ins Lächerliche ziehen lassen möchte. ({1}) Täglich höre ich Berichte, dass Menschen in so genannten Sekten und Psychogruppen misshandelt werden, ihre Menschenrechte nicht geachtet werden und sie finanziell in den Ruin getrieben werden. Zugleich sind sehr viele Sektenberatungsstellen in den Ländern, die jeden Tag hervorragende Arbeit leisten, mit viel zu wenig Geldmitteln ausgestattet. ({2}) Ich appelliere hier an die Bundesregierung und an die Länder, dieser Arbeit mehr Aufmerksamkeit zu widmen und mehr Geld dort hineinzustecken. Die Menschen in den Sektenberatungsstellen der Länder leisten nämlich großartige Arbeit, indem sie Menschen helfen, die sonst nirgendwo Hilfe finden. ({3}) - Das Ministerium achtet sehr aufmerksam darauf, was wir hier sagen. Da bin ich mir ganz sicher. ({4}) Wenn Sie im Übrigen diese Regierung beschimpfen, möchte ich auf das verweisen, was die Kollegin vor mir gesagt hat. Die Enquete-Kommission hatte, während sie tagte, sehr viele Probleme aufgedeckt, die sofort hätten gelöst werden können. Gesetzesinitiativen, die wir auf den Weg gebracht haben, hätten sofort umgesetzt werden können, unter anderem das vom Bundesrat beschlossene Gesetz zur Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe. Das damals von der FDP geleitete Justizministerium hat dieses Gesetz abgelehnt. Die damalige Bundesregierung hat uns Steine in den Weg gelegt; darunter leiden wir noch heute. Die Kommentare, die damals abgegeben wurden, hören wir heute wieder, wenn wir über dieses Gesetz reden. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode versuchen, einen Antrag in den Bundestag einzubringen, ({5}) durch den der Verbraucherschutz am Psychomarkt geregelt werden soll. Das ist dringend notwendig; dazu stehe ich heute noch. Da muss ich mich von Ihnen nicht anpinkeln lassen. ({6}) Wenn heute der Verbraucherschutz im Lebensmittel- und im Landwirtschaftsbereich hervorragend und perfekt geregelt ist, dann bleibt der Verbraucherschutz am Psychomarkt - da appelliere ich auch an meine Kolleginnen und Kollegen - eines der wichtigsten Themen, das wir noch in dieser Legislaturperiode anfassen müssen. ({7}) Ich freue mich, dass sich Kolleginnen und Kollegen in meiner Fraktion zusammengefunden haben, die bereit sind, dieses auf den Weg zu bringen. Ich bin es leid, mich in der Öffentlichkeit dafür zu verteidigen, dass in der 14. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages relativ wenig auf diesem Gebiet gemacht wurde. Was getan worden ist, hat mein Kollege HansPeter Bartels aufgeführt. Ich hoffe nur und appelliere an die Kollegen, die dem nächsten Deutschen Bundestag angehören werden, dass sie dieses Thema weiterverfolgen, den Opfern und den Betroffenen von so genannten Psychogruppen und, als Steigerung davon, jetzt immer mehr verbreitet, denen Opfern von Satanistengruppen, in denen ritueller Missbrauch und andere Geschichten stattfinden, endlich auch im Deutschen Bundestag Gehör schenken und Möglichkeiten finden, ihnen mit Bundesgesetzen, aber auch mit Initiativen auf Landesebene zu helfen. An meine grünen Kolleginnen und Kollegen - leider sitzen jetzt nicht die Richtigen hier, sondern ganz harmlose Leute ({8}) appelliere ich, dem nicht mehr im Weg zu stehen. ({9}) Es geht nicht darum, dass Esoterikgruppen geschützt werden, sondern es geht darum, dass den Menschen, die in Not sind, geholfen wird, sie wirksame Hilfe finden, nicht mehr von Weltanschauungsgruppen ausgebeutet werden und nicht mehr um Leib und Leben fürchten müssen. In diesem Sinne bedanke ich mich für die späte Aufmerksamkeit. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Kollege Volker Beck hat seine Rede zu Protokoll gegeben, ebenso die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS.1) So hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission hat in der letzten Legislaturperiode ihre Arbeit vor dem Hintergrund eines gewaltigen gesellschaftlichen Wandels durchgeführt. Im Kern kommt der Schlussbericht ja zu dem Ergebnis, dass von den neuen religiösen Gemeinschaften in Deutschland generell keine Gefahren für Staat und Gesellschaft ausgehen. Unsere Gesellschaft muss also lernen, mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt tolerant und von gegenseitigem Respekt getragen umzugehen, natürlich nicht mit Verfehlungen von Sekten, die Menschen, die sich in deren Hände begeben haben, schmerzhaft spüren mussten. Diesem Missbrauch müssen wir begegnen. Ich denke, dazu hat der Deutsche Bundestag wenig beigetragen. ({0}) - Frau Rennebach, ich bin seit 1998 im Bundestag. Ich habe mit dieser Sache erst jetzt zu tun. Sie können wirklich darauf zählen, dass ich mich diesem Thema von nun an widmen werde. Ich werde auch im nächsten Deutschen Bundestag vertreten sein. Also werde ich das mit meiner Fraktion machen. ({1}) Die Kommission empfahl dem Deutschen Bundestag, in der jetzigen Legislaturperiode ein Gesetz zur Regelung der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe zu beschließen. ({2}) Ich halte ein solches Gesetz für notwendig. Natürlich hat die Bundesregierung selbst nichts vorgelegt, was den Ver- braucher vor den in diesem Bereich geschlossenen - schlechten - Verträgen schützt. Die FDP unterstützt ausdrücklich die Einrichtung einer staatsfernen und unabhängigen Stiftung. Diese öffentlich- rechtliche Stiftung soll informieren und beraten, um so zu weiterer Transparenz und Aufklärung beizutragen. Die Enquete-Kommission setzt sich - das haben wir von mei- ner Kollegin eben schon gehört - für einen interdiszi- plinären Forschungsverbund ein, der sich mit den Themen 1) Anlage 5 „neue religiöse Bewegungen“, „Psychogruppen“ usw. befasst. Es ist richtig, dass wir diese Bundesregierung hier, im Bundestag, noch einmal auffordern, im europäischen Kontext auf eine einheitliche Vorgehensweise im Hinblick auf neue religiöse Gemeinschaften hinzuwirken. Diese Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ist noch nicht zu Ende; deshalb kann die Bundesregierung auf diesem Gebiet auch jetzt noch aktiv werden. ({3}) Ich habe mich gefragt, wie es zu den beiden Anträgen von der CDU/CSU und von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen gekommen ist. - Der Grund ist, dass die Bundesregierung überhaupt nicht tätig geworden ist. ({4}) Frau Rennebach, dafür sind Sie persönlich vielleicht gar nicht verantwortlich. Komischerweise wurden diese Anträge gerade zu dem Zeitpunkt eingebracht, zu dem die Regierung einen Bericht darüber, was sie gemacht hat, vorlegen sollte. Das ist Fakt. Es tut mir schrecklich Leid, das sagen zu müssen. ({5}) Sie persönlich sind nicht schuld. Frau Rennebach, ich habe mir sagen lassen, dass Sie sich in Ihrer Fraktion für diese Dinge sehr eingesetzt haben. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. ({6}) Die Bundesregierung sollte wirklich noch in dieser Legislaturperiode einen Bericht über ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet abgeben. Das kann sie doch machen. Nach Ostern gibt es genügend Sitzungswochen, in denen wir uns damit beschäftigen können. Die Bundesregierung soll einmal „Butter bei die Fische“ tun und sagen, was sie gemacht hat. Das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Freiheitsrechten und sozialem Zusammenhalt einer Gesellschaft muss angesichts weltweiter Entwicklungen neu austariert werden. Toleranz auch gegenüber neuen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften ist hierbei aus liberaler Sicht ein elementarer Baustein. Die Kommission hat hierüber - meines Erachtens in beeindruckender Art - eine breite Diskussion geführt und gute gesetzgeberische Empfehlungen gegeben. Was wir brauchen - das sage ich in Richtung beider großen Fraktionen -, sind keine zusätzlichen Diskussionen, sondern Umsetzungsstrategien. ({7}) Deshalb werde ich mich ab sofort, auch in der nächsten Legislaturperiode, um diese Dinge kümmern und meine Fraktion für diese Dinge sensibilisieren. Es bleibt festzustellen, dass sich die Bundesregierung dazu weder heute im Plenum geäußert hat noch dass sie in den letzten dreieinhalb Jahren in diesem Bereich irgendetwas zustande gebracht hat; sonst hätten Sie uns hier garantiert bessere Ergebnisse vorlegen können. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. An dieser Stelle möchte ich der Kollegin Renate Rennebach für ihre engagierte Arbeit auf diesem Feld, die sie leider nicht mehr ganz zu Ende führen kann, sehr herzlich danken. ({0}) Nun kommen wir zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf der Drucksache 14/5262. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a die Annahme des Antrags der Fraktio- nen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2568 mit dem Titel „Fortführung der Be- ratungen zum Endbericht der Enquete-Kommission ‚So genannte Sekten und Psychogruppen‘“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP und bei Enthaltung der PDS ist die Beschluss- empfehlung angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2361 mit dem Titel „Endbericht der Enquete-Kommission ‚So genannte Sekten und Psychogruppen‘“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussemp- fehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: 16. a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vorsorgepolitik für gesundheitsverträglichen Mobilfunk - Drucksache 14/8584 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- schaft Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ilse Aigner, Dr. Christian Ruck, Dr. Martin Mayer ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Auswirkungen elektromagnetischer Felder, ins- besondere des Mobilfunks - Drucksachen 14/5848, 14/7958 - Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto- koll gegeben. Ich schließe die Aussprache.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8584 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 31 c auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Besoldungsstruktur ({3}) - Drucksache 14/6390 ({4}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortsetzung der Dienstrechtsreform - Drucksache 14/3458 ({5}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({6}) - Drucksache 14/8623 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Meinrad Belle Helmut Wilhelm ({7}) Petra Pau b) Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksachen 14/8633,14/8635 - Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden sind zu Proto- koll gegeben.2) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moderni- sierung der Besoldungsstruktur auf Drucksache 14/6390. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8623, den Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 14/3458 zur Fortsetzung der Dienst- rechtsreform. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8623, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Keiner will das. Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Somit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Be- ratung. - Der Gesetzentwurf war ja vom Bundesrat; des- halb dieses Ergebnis. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: 17.a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({10}), Dirk Fischer ({11}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Frontpartien von Fahrzeugen europaweit fußgängersicher gestalten - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament Fußgängerschutz: Selbstverpflichtung der europäischen Automobilindustrie KOM ({12}) 389 endg.; Ratsdok. 09616/01 - Drucksachen 14/6316, 14/7409 Nr. 2.1, 14/8571 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({14}), Dirk Fischer ({15}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Mehr Sicherheit durch Kreisverkehre - Drucksachen 14/7452, 14/8570 - Berichterstattung: Abgeordnete Rita Streb-Hesse Ich eröffne die Aussprache. Gott sei Dank sind alle Re- den zu Protokoll gegeben.3) Ich schließe die Aussprache. ({16}) - Keine Kritik ans Parlament, völlig klar. Tagesordnungspunkt 17 a: Wir kommen zur Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8571. Der Aus- schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6316 mit dem Titel „Frontpartien von Fahrzeugen europaweit fußgängersicher gestalten“ für erledigt zu Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Anlage 6 2) Anlage 8 3) Anlage 7 erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung mit dem Titel „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament Fußgängerschutz: Selbstverpflichtung der europäischen Automobilindustrie“ eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 17 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8570 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Mehr Sicherheit durch Kreisverkehre“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7452 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Wir sind am Schluss der Beratungen des heutigen Tages. Ich berufe die nächste Sitzung für morgen, Freitag, den 22. März, 9 Uhr, ein. Schönen Abend! Die Sitzung ist geschlossen.