Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/15/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Es gibt einen erheblichen Modernisierungs- und Reformprozess in islamischen Ländern und Gesellschaften, auch in Bezug auf die Situation der Frauen, gerade auch im Iran. Wir wollen diesen Modernisierungs- und Reformprozess so umfassend wie möglich fördern, statt durch pauschale Verurteilungen islamistischen Kräften in die Hände zu spielen und auf diese Weise den Öffnungsprozess zu behindern. ({0}) In diesem interkulturellen Dialog gilt aber auch - da müssen wir absolut klar sein -: In der Frage der Menschenrechte und der Rechte der Frauen gibt es einen weltweiten Konsens, der sich in den Menschenrechtskonventionen und in der UN-Charta ausdrückt. Hier kann es keinerlei Relativierung mit Verweis auf angebliche kulturelle Traditionen geben. ({1}) Die Menschenrechtspakte sind ebenso wie die UN-Charta Teil einer sich mittlerweile formendenVerfassung derWelt. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass die gesellschaftsund wirtschaftspolitische Entwicklung der Welt nach dem Muster neoliberaler Globalisierung erfolgen müsse. ({2}) Wir haben in unserem Elften Bericht zur Entwicklungspolitik, der Ihnen vorliegt, deutlich gemacht, wie wir dieses neue Denken in stärkerer Krisenprävention, in der Kooperation mit möglichst vielen Akteuren und in der Nutzung der internationalen Finanzinstitutionen verankert haben. Wir arbeiten eng mit Kirchen und Nichtregierungsorganisationen sowie Unternehmen zusammen. Mittlerweile nutzen wir die unternehmerische Initiative von 500 Unternehmen in über 60 Ländern bei Vorhaben, die die Entwicklung gerade von ärmeren Ländern fördern. Dieses ist eine wichtige Orientierung und Weichenstellung. Wir stärken außerdem den Frauen in den Entwicklungsländern den Rücken, denn sie sind die wichtigsten Zukunftsträgerinnen der Entwicklung. ({3}) Die Entwicklungspolitik der rot-grünen Bundesregierung in den letzten dreieinhalb Jahren hat in vielen Bereichen wichtige Impulse gegeben und Erfolge erzielt unter den Leitthemen „Armut bekämpfen“, „Globalisierung gestalten“, „Frieden sichern“. Folgende Beispiele möchte ich nennen: Bei den ärmsten Entwicklungsländern konnte eine Entschuldung im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar durchgesetzt werden. Das Programm „Globale Armutsbekämpfung 2015“ sagt unter anderem dem EU-Agrarprotektionismus den Kampf an, fordert eine gerechtere Beteiligung der Entwicklungsländer an den Regeln des Welthandels und an der Globalisierung ein und fordert hierzu auch praktische Vorschläge. ({4}) Deutschland finanziert den Kampf gegen den Killer Nummer eins in den Entwicklungsländern, nämlich Aids, und trägt zur Finanzierung des globalen Gesundheitsfonds bei. Deutschland hat das neue Abkommen der EU mit 77 afrikanischen, karibischen und pazifischen Entwicklungsländern ausgehandelt und ratifiziert; dieses stellt finanzielle Unterstützung im Umfang von rund 13,8 Milliarden Euro für die Jahre 2000 bis 2005 bereit. Wir haben durch massiven Druck erreicht, dass die ärmsten Entwicklungsländer freien Zugang zum Markt der Europäischen Union haben. Würden sich alle Industrieländer an dieser Initiative der EU beteiligen, so könnten die ärmsten Entwicklungsländer zusätzliche Einnahmen von 3 Milliarden US-Dollar erzielen. Sie sollten also diesem Beispiel folgen. ({5}) Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul Im Rahmen der Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft sorgen wir dafür, dass die Unternehmen bei ihrer Tätigkeit soziale und ökologische Standards für ihre Tätigkeit freiwillig einhalten.Allein aus Deutschland haben übrigens zehn Unternehmen den „global compact“ des UNGeneralsekretärs Kofi Annan unterschrieben. Ich werbe dafür, dass sich mehr deutsche Unternehmen dieser beispielhaften Initiative anschließen. Damit können die Unternehmen zeigen, dass sie ihrer Verantwortung auch in Bezug auf die Entwicklungszusammenarbeit gerecht werden. ({6}) Wir unterstützen zusammen mit den G-7-Ländern aktiv die afrikanischen Länder, die sich, wie sie es nennen, in der neuen Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas zusammenschließen. Sie setzen sich dabei selbstkritisch zuallererst mit ihren eigenen Versäumnissen in den eigenen Ländern auseinander. Der Bundeskanzler hat durch die Bestellung der Parlamentarischen Staatssekretärin im BMZ, Frau Dr. Eid, zu seiner persönlichen Beauftragten für dieses G-7- bzw. G-8-Programm deutlich gemacht, dass wir diese Initiativen unterstützen. ({7}) Der Umgang mit der schweren innenpolitischen, wirtschaftlichen und humanitären Krise in Simbabwe ist auch ein Prüfstein für die Entschlossenheit dieser neuen afrikanischen Initiative. „Die Wahlen in Simbabwe waren weder frei noch fair, sondern geprägt von Gewalt und Einschüchterung“, wie es eine parlamentarische Beobachterdelegation der Staaten des Südlichen Afrikas ausdrückte. Die Bundesregierung wird ihre Position beibehalten: Wir unterstützen die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen in Simbabwe, werden aber mit der Regierung Mugabe im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit in keiner Form zusammenarbeiten ({8}) und werden die EU auffordern, weiteren Druck auszuüben und die Sanktionen aufrechtzuerhalten. In Afghanistan ist deutlich geworden, dass der deutsche Beitrag zu einer friedlichen Zukunft zu einem der tragenden Pfeiler des Wiederaufbaus geworden ist. Wir haben mit 320 Millionen Euro nicht nur den deutlichsten und größten Beitrag zur Unterstützung innerhalb der EUMitgliedstaaten langfristig angekündigt, sondern auch mit einem 100-Tage-Programm sehr rasch mit der Durchsetzung von kurzfristigen Maßnahmen begonnen. So helfen wir zum Beispiel bei der Wiederherstellung von Schulen und Krankenhäusern und bei der Energie- und Wasserversorgung. Im März haben alle Kinder in Afghanistan, auch die Mädchen, wieder die Chance, in die Schule zu gehen. Wir wünschen, dass diese Kinder niemals mehr Krieg, niemals mehr Bürgerkrieg erleben mögen, sondern eine gute Zukunft haben, dass sie den Stift nutzen und nicht die Kalaschnikow. ({9}) Diese Perspektive wünschen wir uns für diese Kinder. Über Afghanistan hinaus beziehen wir aber auch die gesamte Region ein. So gibt es eine gemeinsame Initiative mit den Vereinten Nationen in Bezug auf die Region Zentralasien. Außerdem haben wir die Entwicklungszusammenarbeit mit Pakistan bereits im ersten Halbjahr aufgenommen; der Schwerpunkt liegt dabei auf der Stärkung des öffentlichen Schulwesens. Denn - das ist wichtig mit Blick auf die Bekämpfung von Fundamentalismus - es ist doch meist wirtschaftliche Not und nicht unausweichlicher religiöser Fundamentalismus, der Eltern aus ärmeren Schichten ihre Kinder in die Koranschulen, die Madrassas, schicken lässt, in denen sie fanatisiert und indoktriniert werden. Das wollen wir verhindern helfen. Das ist Terrorismusprävention und -bekämpfung, für die wir stehen und für die wir uns engagieren. ({10}) Ich plädiere für einen neuen Pakt zwischen Industrieund Entwicklungsländern. In drei Tagen beginnt in Monterrey, Mexiko, die UN-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung. Erstmals seit dem 11. September werden dort alle Beteiligten dieser Welt die Finanzierung der großen gemeinsamen Aufgaben in ihrer ganzen Bandbreite beraten: Regierungen,Vereinte Nationen,Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Welthandelsorganisation, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft. Von Monterrey muss die Botschaft ausgehen: In einer weltweiten Koalition für Entwicklung übernimmt jeder Verantwortung dafür, dass die große Verpflichtung des Millenniumgipfels erfüllt wird, die Industrie- ebenso wie die Entwicklungsländer, der Staat ebenso wie die Zivilgesellschaft und die private Wirtschaft. Überholtes Kästchendenken muss endlich überwunden werden. Der Entwurf des Abschlussdokuments, der Monterrey-Konsensus, ist Ausdruck dieser neuen partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Ich weiß, dass es schon im Vorfeld Kritik an diesem Entwurf eines Abschlussdokuments gegeben hat. Einige hätten gern manches griffiger, deutlicher, präziser formuliert gesehen, ich auch. Doch ich sage Ihnen: Wenn all das, was in diesem Entwurf des Abschlussdokuments steht - Öffnung der Märkte, Handelsförderung für Entwicklungsländer, mehr öffentliche Entwicklungszusammenarbeit -, in den folgenden Monaten Punkt für Punkt umgesetzt wird, dann sind die Entwicklungsländer, dann ist die internationale Gemeinschaft auf dem Weg zu einer gerechteren, friedlicheren Welt einen Riesenschritt vorangekommen. ({11}) Es ist doch auch die Wahrheit - das habe ich genau so eingeschätzt -: Ohne die anstehende Konferenz hätte die EU sich selber und ihre Mitgliedstaaten nicht zur schrittweisen Aufstockung der Entwicklungsmittel verpflichtet. Wir teilen die Auffassung der Weltbank und der Vereinten Nationen, dass auch die Mittel für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit substanziell erhöht werden müssen, damit wir die international vereinbarten Entwicklungsziele erreichen können. ({12}) Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul Wir haben uns im Rahmen der EU verpflichtet, das 0,7-Prozent-Ziel so rasch wie möglich zu verwirklichen und dahin gehend noch vor dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung konkrete Fortschritte zu erzielen. Wir unterstützen nachdrücklich den Vorschlag der EU - und werden ihn umsetzen -, dass alle Mitgliedstaaten, die das 0,7-Prozent-Ziel noch nicht erreicht haben, bis zum Jahr 2006 als erstes Zwischenziel den EU-Durchschnitt des Jahres 2000 von 0,33 Prozent realisieren. Das bedeutet, dass auch Deutschland seine Entwicklungsaufwendungen erhöhen wird, und das ist gut so. ({13}) An die Adresse der Opposition sage ich: Als wir 1998 an die Regierung kamen, war die Quote der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit abgefallen. Am Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt, 1982, lagen wir bei 0,48 Prozent des Bruttosozialprodukts, ({14}) am Ende der Regierung Kohl bei 0,26 Prozent. In den letzten Jahren haben wir trotz der Notwendigkeit, den Schuldenberg kontinuierlich abzubauen, den Beginn einer Trendwende in der Entwicklungsfinanzierung geschafft. ({15}) - Wir sind jetzt bei 0,27 Prozent und werden bis zum Jahr 2006 0,33 Prozent erreichen. ({16}) Hätten sich der Kollege Hedrich und andere, die vorher in diesem Amt waren, für die Erhöhung der Mittel so engagiert, wären wir heute längst bei 0,7 Prozent. ({17}) Insofern hätten Sie das auch in Ihrer Regierungszeit umsetzen können. Jeder weiß aber auch, dass die Bundesrepublik Deutschland mit 5,8 Milliarden US-Dollar in absoluten Zahlen der weltweit drittgrößte Geber von Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit ist, ({18}) obwohl wir ganz andere Lasten als viele EU-Länder zu tragen haben. Dies ist auch wichtig und sollte sehr deutlich werden. ({19}) Für die großen Aufgaben brauchen wir neue, innovative Finanzierungsinstrumente. In diesem Zusammenhang müssen wir manche Scheuklappen beiseite legen und Denkverbote prüfen und überwinden. Dafür hat das BMZ bei Professor Spahn eine unabhängige wissenschaftliche Machbarkeitsstudie zu einer Devisentransaktionssteuer in Auftrag gegeben. Professor Spahn kommt zu der Schlussfolgerung, dass sie machbar ist, wenn sich alle Länder einer Zeitzone, zum Beispiel die EU-Länder und die Schweiz mit dem Finanzplatz Zürich, darauf einigen. Die Ergebnisse dieser Studie wollen wir mit unseren Partnern in Monterrey diskutieren, ebenso die wertvollen Vorschläge des Wissenschaftlichen Beirats für globale Umweltfragen zu Nutzungsentgelten für die globalen öffentlichen Güter. ({20}) All dies zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen, was in Zukunft erforderlich sein wird, wenn wir das erreichen wollen, wofür wir alle einstehen - ich gehe davon aus, dass das für alle in diesem Hause gilt -: Kooperation und nicht das Recht des Stärkeren ist der Schlüssel zur Lösung der drängenden Probleme. Ferner geht es um Verrechtlichung, um globale Rechtsstaatlichkeit. Deshalb begrüße ich es, dass nunmehr 55 Staaten das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes ratifiziert haben. Damit macht die internationale Gemeinschaft klar und deutlich: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird sie nicht mehr hinnehmen. Niemand, der solche Verbrechen zu verantworten hat, wird ungestraft davonkommen. ({21}) Wir wollen und müssen das Demokratiedefizit in der globalen Welt auch dadurch überwinden, dass wir über neue Institutionen nachdenken, die die Beteiligung der Entwicklungsländer auf höchster politischer Ebene ermöglichen. Auch muss der Westen allen Vorwürfen entgegenarbeiten, er handele auf der Grundlage doppelter Standards. Um Krisen, Terror und Gewalt nachhaltig einzudämmen, gibt es längerfristig nur eine Erfolg versprechende Strategie: den Kampf gegen Armut, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung in der Welt. Dass Entwicklungspolitik mit ihren Instrumenten dabei erfolgreich sein kann - das ist aber ein längerfristiger Prozess und nicht in einem halben Jahr zu bewirken -, hat sie bewiesen. Lesen Sie dazu bitte den Bericht der Weltbank, der vor wenigen Tagen publiziert worden ist. In diesem Bericht heißt es, dass zwei wichtige Dinge erreicht worden sind: Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Entwicklungsländern hat sich seit 1960 um 20 Jahre erhöht. Die Zahl der erwachsenen Menschen, die nicht lesen und schreiben können, ist seit 1970 von 47 Prozent auf heute 25 Prozent gesunken. Liebe Kolleginnen und Kollegen und auch liebe Bürgerinnen und Bürger, Entwicklungspolitik verdient also unser aller Engagement. Wir tun damit nicht nur etwas für andere, sondern auch etwas für uns selbst, weil unsere Kinder dadurch eine friedlichere Zukunft haben. ({22}) Denn, was Weltbank-Präsident James Wolfensohn kürzlich gesagt hat - damit will ich schließen -, ist wahr: Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder in den nächsten 25 Jahren in einer friedlichen Welt leben, dann Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul müssen Sie sich heute um internationale Entwicklung kümmern. Wir tun das. Lassen Sie es uns gemeinsam tun. Herzlichen Dank. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der „Tagesspiegel“ vom gestrigen Tage zitiert eine Kollegin der SPD-Fraktion: Wir sind dabei, Formulierungen zu finden, mit denen wir uns nicht blamieren. Frau Ministerin, diese Politik haben Sie auch heute fortgesetzt. ({0}) Der „Focus“ beschreibt dies mit den Ausdrücken „täuschen, verschleiern, verfälschen“. ({1}) Das ist das Prinzip Ihrer Politik: von Riester über Scharping bis zur Entwicklungsministerin. ({2}) Der Vorschlag der EU, die nationale Mindestquote aller EU-Staaten bis zum Jahre 2006 auf 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen, wurde durchaus mit der Entscheidung des EU-Ministerrats im November des letzten Jahres vorbereitet, wo Sie bekräftigt haben, diese Quote sei auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen. Die Ministerin ist stolz darauf, dass sie diese Entscheidung mit initiiert hat. Der Punkt ist aber: Konkretes erfolgt nicht. Glauben Sie allen Ernstes, die Bürger in diesem Lande oder die internationale Gemeinschaft seien bereit, Ihnen abzunehmen, dass der Bundeskanzler in der letzten Nacht seinen Finanzminister angewiesen hat, doch der EU-Entscheidung für eine einheitliche Linie in Monterrey nicht mehr entgegenzustehen? Schröder hatte auf dem G-7Gipfel in Köln Zusagen gemacht. Drei Tage später kürzte Eichel den Etat. Schröder hat auf dem Millenniumgipfel eine Zusage gemacht. Jetzt verpflichten Sie sich in dem Dokument für Monterrey ebenfalls auf das 0,7-ProzentZiel. Sie haben es hier auch angesprochen. Der Punkt ist nur, dass eine Implementierung nicht stattfindet. Auf unsere präzisen Fragen dazu, in welchen Schritten Sie sich die Erreichung dieses Ziel vorgenommen haben, bekommen wir im Ausschuss nie eine Antwort. Auch unsere Haushälter im Haushaltsausschuss erfahren nichts. Wer so vorgeht, gefährdet seine eigene Glaubwürdigkeit. ({3}) Es ist schon ein skandalöser Taschenspielertrick, wenn Sie nun mit den Zahlen für die letzten Haushaltsjahre in Höhe von 0,27 Prozent und 0,28 Prozent des Bruttosozialprodukts arbeiten. In diesem Haushaltsjahr haben Sie den Entwicklungsetat um 8,5 Prozent gekürzt. Das ist die höchste Kürzung, die ein Entwicklungsetat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je erfahren hat. Das ist Ihre Bilanz und nicht unsere. ({4}) Was haben Sie in dem Zusammenhang nicht alles versprochen! Sie hätten durchaus Gelegenheit gehabt, deutlich zu machen, wie Sie dies umsetzen wollen. Ich darf mich hier wiederholen. Es gibt aber auch andere Punkte, bei denen Sie mit großen Ankündigungen gearbeitet haben. Für diejenigen, die mit der Materie im Einzelnen nicht vertraut sind: Die Ministerin hat ein so genanntes Konzentrationskonzept vorgelegt. Danach sollte die Zahl der Länder, mit denen Deutschland zusammenarbeitet, ursprünglich auf 70 reduziert werden. Inzwischen haben Sie eine neue Liste, auf der 102 Länder stehen, vorgelegt. Auf dieser Liste wurden übrigens interessante Kaschierungen vorgenommen. Zum einen taucht dort die Neuschöpfung eines Entwicklungslandes namens Zentralasien auf, damit Sie nicht fünf Länder einzeln aufführen müssen. Damit wollen Sie verhindern, dass Sie gegen die Grundsätze Ihrer eigenen Liste verstoßen. Zum anderen erwähnen Sie Länder überhaupt nicht und machen dazu eine Fußnote. All das sind Tricks, mit denen Sie verschleiern wollen, dass Sie mit dem Konzept der Konzentrationspolitik gescheitert sind. Es ist auch in sich unstimmig und unschlüssig. So haben Sie sich zum Beispiel jahrelang geweigert, Tadschikistan in die Liste aufzunehmen. Der Außenminister fährt dann aber dorthin und erklärt, dass Tadschikistan in die Liste aufgenommen werde. Das geschah übrigens mit dem Hinweis, das sei notwendig, weil Tadschikistan ein wichtiger Partner im Kampf gegen den Terrorismus und zur Befriedung in Zentralasien ist. Das haben wir Ihnen bereits vor zwei Jahren gesagt. Damals wurden wir mit einer schnöden Handbewegung abgefertigt. All diese Beispiele zeigen, dass Ihr Konzept in sich nicht konsistent ist. Sie sind möglicherweise immer dort, wo „etwas los ist“ und wo man eventuell eine gewisse Show abziehen kann. Deutschland kündigt zum Beispiel eine große Zusammenarbeit mit Osttimor an - einem Land, welches von der internationalen Hilfe völlig überfüttert ist -, statt sich gegebenenfalls auf die Länder zu konzentrieren, die es notwendig haben. ({5}) Immer wieder spricht die Regierung davon, dass auch die EU eine größere Rolle übernehmen sollte. Der Europäischen Union sollten von ihren einzelnen MitgliedstaaBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul ten Zuständigkeiten bezüglich der europäischen Entwicklungspolitik übertragen werden und Osttimor, ein Staat mit 800 000 Einwohnern, sei ein klassisches Beispiel dafür. Es gibt aber auch noch andere Ungereimtheiten. Sie haben das Land Simbabwe selbst genannt. Mit großen und beredten Worten beziehen Sie sich auf die innenpolitische Diskussion in Simbabwe. Frau Ministerin, Sie haben nicht erwähnt, dass Simbabwe überhaupt nicht auf der Liste der Partner- und Schwerpunktländer des Ministeriums steht. Die Begründung ist verhältnismäßig einfach: Sie sagen, dass man mit diesem Land zum gegenwärtigen Zeitpunkt staatlich nicht zusammenarbeiten könne. Das ist übrigens richtig. Aus unserer Sicht müsste aber gerade dieses Land eine besondere Aufmerksamkeit bezogen auf die bilaterale Zusammenarbeit erhalten. Sie hätten nämlich die Möglichkeit, insbesondere die Kräfte in dem Land zu stärken, die für Demokratie einstehen, so zum Beispiel die Opposition, die Kirchen und die Nichtregierungsorganisationen. Mehrere Kollegen aus dem Ausschuss - ich weiß nicht, ob der Kollege Reinhold Hemker anwesend ist - fordern Sie seit Jahr und Tag auf, mehr zur Förderung der Zivilgesellschaft in Simbabwe zu tun. Monatelang haben Sie sich schwer getan; nichts ist passiert. Heute beklagen wir, dass ein paranoider Diktator die Chance bekommen hat, sich wieder an die Macht zu fälschen. ({6}) In der Tat hätten wir dort erheblich mehr tun müssen. Wir alle kennen diese Mechanismen: Es wird darauf verwiesen, dass man die Mittel, die für staatliche Zusammenarbeit zur Verfügung gestellt wurden, nicht zur Stärkung von Nichtregierungsorganisationen umschichten könne. ({7}) - Das war das offizielle Argument der Regierung. - Hier hätten Sie sich in einer intensiven Diskussion mit dem Finanzminister darum kümmern können, dass nicht Millionen und Abermillionen Deutsche Mark oder Euro auf der hohen Kante liegen bleiben, sondern dass diese Mittel für die Stärkung der demokratischen Kräfte in Simbabwe eingesetzt werden. Das gilt morgen vielleicht für ein anderes Land. Das ist die Inkonsequenz Ihrer Politik. ({8}) Diese Liste kann man beliebig fortsetzen. Sie haben mit großem Aufwand - ich gebe zu, dass ich Sie dafür manchmal bewundere - das „Aktionsprogramm 2015“ zur Reduzierung derArmut auf den Weg gebracht. Es ist richtig: Man kann wirklich etwas von Ihnen lernen, wie Sie so etwas öffentlich darstellen. ({9}) Der Punkt ist aber: Als Sie das vor einem Jahr vorstellten, haben Sie Ihr Aktionsprogramm erläutert, aber zur Umsetzung kaum ein Wort gesagt. Einen Satz haben Sie dazu gesagt: Sie würden jetzt einen Umsetzungsplan auf den Weg bringen. Ich habe eine höfliche Frage gestellt - Kollegen in meiner Fraktion werfen mir vor, ich würde Sie zu gut behandeln und nicht scharf genug formulieren -: Frau Ministerin, wann wird der Umsetzungsplan vorliegen? Ihre Antwort war: in drei Monaten. Jetzt ist ein Jahr vergangen und der Umsetzungsplan liegt immer noch nicht vor. Auch hier klaffen Ankündigung und Umsetzung Ihrer Politik wie immer auseinander. ({10}) Es gibt noch eine Reihe von anderen Ungereimtheiten. Bevor ich einige nenne, will ich durchaus darauf verweisen, dass wir in unseren Grundanstrengungen nicht auseinander liegen. Ich teile Ihre Einschätzung, dass es notwendig ist, alles zu unternehmen, um Entwicklungen zu begegnen und zu steuern, die neue Gewalt auf dieser Erde befördern könnten. Es ist in der Tat richtig, dass es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Terrorismus und Armut gibt. Aber junge Menschen, die keine Perspektive für ihre eigene Zukunft haben, sind für die Anwendung von Gewalt natürlich viel eher ansprechbar als junge Menschen, die eine Perspektive haben. Insofern liegen unsere Einschätzungen in diesem Punkt in diesem Hause nahe beieinander. Ich füge jedoch hinzu: Es bedarf dann aber auch der konkreten Umsetzung solcher Maßnahmen. Das treibt mich schon um; das will ich nicht verhehlen. Wir erleben die Gewalteskalation im Nahen Osten Tag für Tag, wenn zum Beispiel ein 14-jähriger Palästinenser in einem Selbstmordattentäter sein Idol sieht und glaubt, dass demokratische Strukturen nicht wirklich dazu geeignet sind, seine Lebensqualität zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, dass wir in all unseren Anstrengungen darauf achten, dass weltweit diejenigen Kräfte eine Chance bekommen, die darauf hinwirken, dass die Prinzipien der Beachtung von Menschenrechten, einer gewaltfreien Gesellschaft, einer rechtsstaatlichen Ordnung und der Marktwirtschaft Anwendung finden. In dem Dokument von Monterrey - das begrüße ich steht insofern etwas sehr Vernünftiges, als darin die besondere Eigenverantwortung unserer Partnerländer betont wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir könnten auch die doppelte Summe an Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen: Wenn die Voraussetzungen in unseren Partnerländern nicht gegeben sind, wenn sich die Verantwortlichen vor Ort keine Mühe geben, ihren Menschen die Mindestperspektiven von Entwicklung zu eröffnen, dann nützt alle Hilfe von außen nichts. ({11}) Wir können die Probleme unserer Partnerländer nicht lösen. Diese Probleme müssen von den Verantwortlichen dort selbst angepackt werden, und zwar nicht nur von der politischen, sondern auch von der wirtschaftlichen, der kulturellen und der wissenschaftlichen Elite. Was wir tun können, ist, unsere Hilfe anzubieten und unsere Partner dort zu unterstützen, wo wir gegebenenfalls mit unseren Mechanismen eingreifen können. Hier kommt den politischen Stiftungen aller politischen Gruppierungen in Deutschland in ganz besonderem Maße eine wichtige Aufgabe zu. ({12}) Es ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, dass wir uns nicht nur über die klassische EZ Gedanken machen. Ich teile die Auffassung, dass wir uns auch mit den Konzeptionen marktwirtschaftlicher Systeme beschäftigen müssen. Ich will deshalb betonen - das wird übrigens manchmal sogar in meiner eigenen Partei vergessen, von Sozialdemokraten sowieso -, dass die Christdemokraten keine Konservativen sind. Wir Christdemokraten sind eine Partei der Mitte. ({13}) Wir Christdemokraten in Deutschland stehen nicht für Marktwirtschaft als solche, sondern für das Konzept der sozialen Marktwirtschaft. ({14}) Es handelt sich um ein Konzept, das nicht allein ein Wirtschaftskonzept ist. Das ist es am wenigsten. Es ist ein Ordnungskonzept. Wir glauben, dass wir von den Erfahrungen Deutschlands durchaus das eine oder andere unseren Partnerländern in dieser Welt anbieten können, eben nicht in der Form von Belehrungen, sondern in einem Angebot. Wir sind der festen Überzeugung, dass der Maßstab der sozialen Gerechtigkeit die Voraussetzung für mehr Frieden auf der Welt ist. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erst das zweite Mal, dass sich der Deutsche Bundestag auf der Grundlage einer Regierungserklärung über Entwicklungspolitik unterhält. Das sollte eigentlich ein Höhepunkt der entwicklungspolitischen Debatte sein. Ich muss leider feststellen, Herr Kollege Hedrich, dass Sie diesem Anspruch nicht gerecht geworden sind. ({0}) Die Art und Weise, wie Sie hier kleinkariert, buchhalterisch, ja geradezu provinziell Ihre Rede gestaltet haben, ({1}) führt wirklich dazu, dass ich sagen muss: Ich kann nur hoffen, dass möglichst wenig Menschen, die Erwartungen an uns haben, das gehört haben, denn mit einer solchen personifizierten Lustlosigkeit und dem Missmut, den Sie hier ausstrahlen, werden Sie in der Politik niemanden und nichts erreichen. ({2}) Der Zeitpunkt für diese Debatte ist gut gewählt: drei Tage vor der UN-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung von Monterrey und sechs Monate nach dem 11. September. Diese sechs Monate kennzeichnen einen Lernprozess, den wir durchmachen mussten. Wir haben gelernt, dass der 11. September kein Einzelereignis ist, sondern eine neue Dimension globaler Herausforderung, die natürlich eine direkte militärische Anwort erforderte, auch um eine Wiederholung unmöglich zu machen. In diesen sechs Monaten haben wir aber auch gelernt, dass diese Form der Antwort allein in der Zeitperspektive nicht ausreicht. ({3}) Wir brauchen eine zentrale Antwort in globaler Strukturpolitik. Das heißt nicht weniger, als dass die Erkenntnis nach diesen sechs Monaten ist: Entwicklungspolitik ist präventive Sicherheits- und Friedenspolitik und muss auch als solche angelegt werden. ({4}) In den letzten sechs Monaten hat es eine Umwertung dieses politischen Feldes gegeben. Bisher - das müssen wir doch zugeben - ist Entwicklungspolitik eine Art Nische gewesen, und zwar eine Nische, in der sich moralischethisch orientierte Politiker ohne große öffentliche Beachtung bewegt haben. Gelegentlich wurde das belächelt als Politik für Gutmenschen. Heute müssen wir feststellen: Entwicklungspolitik ist in den Kernbereich von Sicherheitspolitik gerückt und erfordert deswegen eine völlig andere Beachtung. ({5}) Zum Glück fangen wir hier in Deutschland nicht bei Null an. Das zeigt schon die Kurzformel, mit der die Ministerin heute den Elften entwicklungspolitischen Bericht vorgestellt hat. Sie lautet: Armut bekämpfen, Globalisierung gestalten, Frieden sichern. Das ist, auf die kürzeste Formel gebracht, der Anspruch, Entwicklungspolitik als präventive Friedenspolitik zu gestalten. Das ist in den letzten dreieinhalb Jahren der rot-grünen Regierungsarbeit nicht etwa nur Formel oder Anspruch geblieben. Die Brücke von der Entwicklungspolitik zur Friedenspolitik ist zum Glück schon beschritten worden, und zwar mit dem Aufbau eines zivilen Friedensdienstes, mit der Kölner Entschuldungsinitiative, die insgesamt 70 Milliarden Dollar bewegen wird, mit dem Programm der globalen Armutsbekämpfung, das Sie, Herr Kollege, völlig unzureichend angesprochen haben, ({6}) sowie mit der Beteiligung an globalen Gesundheitsfonds und dem Zentrum der Aidsbekämpfung, nachdem Aids geradezu eine Entvölkerungsseuche in Afrika geworden ist. Die besagte Brücke ist auch mit den regionalen Ansätzen beschritten worden, sei es für die AKP-Staaten mit dem Cotonou-Abkommen, in Afrika mit dem G-8-Programm NEPAD, auf dem Balkan mit dem Stabilitätspakt oder in Afghanistan, wo es nicht nur gelang, sehr kurzfristig humanitäre Hilfe anzubieten und tatsächlich zu leisten, sondern wo sich die Bundesregierung auch für die nächsten vier Jahre auf ein Programm in Höhe von 320 Millionen Euro verpflichtet und - das ist noch viel wichtiger - mit dem 100-Tage-Programm schon konkret Mittel zur Verfügung gestellt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass dies alles auf den Weg gebracht wurde, und zwar größtenteils vor dem 11. September. An dieser Stelle erscheint mir die Feststellung angebracht, dass dahinter ein enormer Arbeitsaufwand der vielen Beschäftigen im Bundesministerium und der Ministerin selber steht. Dafür möchte ich an dieser Stelle herzlichen Dank sagen. ({7}) Diese Debatte fällt auch mitten in eine Diskussion über die notwendige zweite Phase im Antiterrorkampf. Es gibt Lehren aus dem 11. September. Wir wissen jetzt, dass es Köpfe voller Hass, Verirrung, Verwirrung und auch voller zerstörerischer Fantasie gibt. Aber richtig gefährlich werden diese Köpfe erst, wenn die Beine dazukommen, nämlich durch den Zulauf von Menschen, die ebenfalls Aussichtslosigkeit, Demütigung und Hass zum Motor ihrer Bewegung machen. Wir können nicht alle Köpfe verlässlich erreichen. Deshalb besteht die wichtigste Aufgabe darin, den Zulauf zu verhindern. Das bedeutet nicht weniger als die Herausforderung einer neuen Dimension von Prävention. Die Europäer und mit ihnen die Deutschen haben in letzter Zeit einen Lernprozess durchgemacht. Wir haben es nicht vermocht, vier blutige Kriege auf dem Balkan zu verhindern. Wir haben das auch als ein Versagen der Prävention angesehen. Im vergangenen Jahr ist es - so scheint es - am Beispiel Mazedonien zum ersten Mal gelungen, durch ein gemeinsames, abgestimmtes Auftreten der Europäer eine weitere Katastrophe - in diesem Fall einen Bürgerkrieg in Mazedonien - zu verhindern. Das heißt, Europa und wir haben dazugelernt, was die regionale Prävention angeht. Das wird vielleicht als erster Fall einer erfolgreichen Anwendung regionaler Prävention in die Zeitgeschichte eingehen. ({8}) Aber dann kam der 11. September und wir haben gemerkt, dass das, was wir an Lektionen für regionale Prävention gelernt haben, dafür nicht anwendbar war. Dabei handelte es sich um eine neue Dimension der Herausforderung, die auch eine neue Dimension der Antwort erforderte. Wir stehen vor nichts anderem als einem neuen Lernprozess hinsichtlich dessen, was strukturelle und globale Prävention bedeutet. Das fängt jetzt erst an und es ist völlig klar, dass im Zentrum dieser strukturellen und globalen Prävention eine globale Steuerungspolitik - das heißt: Entwicklungspolitik - stehen muss. Manche Leute meinen, Afghanistan sei ein Modell. Das stimmt auch. Militärisch war es erfolgreich; insofern kann man das bejahen. Aber gleichzeitig ist klar: Die serienmäßige Anwendung dieses Modells ist unmöglich und nicht machbar. ({9}) Kofi Annan hat uns vor wenigen Tagen in diesem Hause die Botschaft mitgegeben, dass Afghanistan ein langfristiges Engagement braucht. Er hat uns den Begriff „sustainable peace“ - nachhaltige Friedenssicherung vorgestellt und wir können hier sicherlich alle feststellen, dass wir uns dazu bekennen. Wir wissen, wie lange wir uns dort engagieren müssen und wie viel wir in die Aufgabe der Friedenssicherung in dieser Region investieren müssen. Das bedeutet aber auch, dass Afghanistan ein neues Versorgungsprotektorat darstellt, das uns lange beschäftigen wird. Wir Deutsche sind jedoch bereits in einigen anderen Regionen langfristig engagiert, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in gewisser Weise auch in Mazedonien. Es ist völlig klar, dass diese Art von Schaffung immer neuer Versorgungsprotektorate in der Weltpolitik keine dauerhafte Stabilisierung bringen kann. Das kann nicht der Weg sein, mit dem wir eine globale Umverteilung organisieren können. Es handelt sich nämlich um eine Umverteilung. ({10}) Es ist aber eine erzwungene, eine postinterventionistische Umverteilung. Das geht nicht. Die Herausforderung ist, eine ganz andere Form der Umverteilung - das ist die Aufgabe der Entwicklungspolitik - zu finden, nämlich eine politisch gestaltete, präventive Umverteilung. Um das zu erreichen, müssen wir in der Tat die Instrumente anwenden, die im Elften Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung aufgezählt sind und die von der Entschuldung über die Entwicklungspartnerschaft mit der Industrie, die faire Gestaltung der Terms of Trade und des Handels, das Bemühen, allen Produkten aus der Dritten Welt den Marktzugang zu ermöglichen, bis hin zur Erhöhung der offiziellen Entwicklungsfinanzierung reichen. Deswegen ist es wichtig - dazu liegt ja auch ein Antrag vor -, dass die in drei Tagen beginnende UN-Konferenz in Monterrey über die Entwicklungsfinanzierung ein Erfolg wird. Wir wünschen und fordern diesen Erfolg. ({11}) Erfolg kann doch nur heißen - hier muss man der Ministerin zustimmen -, dass sich die Industrieländer auf dieser Konferenz tatsächlich verbindlich darauf verpflichten, einen höheren Anteil ihrer Bruttoinlandsprodukte für Entwicklungsaufgaben zur Verfügung zu stellen. Dieser Anteil darf nicht auf dem bisherigen Niveau stagnieren. Es muss wenigstens das vereinbarte Zwischenziel beschlossen werden, nämlich dass jedes Industrieland bis 2006 mindestens 0,33 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für die Entwicklungshilfe zur Verfügung stellt. Das erwarten wir. Das ist sozusagen das Gepäck, mit dem unsere Delegation dorthin fährt. Wir brauchen deswegen auch den Erfolg des zweiten wichtigen entwicklungspolitischen Ereignisses in diesem Jahr, nämlich des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung, der Ende August/Anfang September in Johannesburg stattfinden wird. Wir als Abgeordnete verpflichten uns, diesen Gipfel sorgfältig und kreativ vorzubereiten. Wir gehen davon aus, dass auch die Bundesregierung dazu bereit ist. Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Ich habe vorhin gesagt, dass die europäischen Fähigkeiten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der letzten Zeit tatsächlich ein Stück vorangekommen seien, dass es Fortschritte gegeben habe und dass sich Chancen entwickelten. Aber ein Defizit muss man leider feststellen: Es gibt bisher keine europäische Dimension der Entwicklungszusammenarbeit. Diese ist noch nicht sichtbar. Sie ist aber notwendig. Gerade in der jetzigen Phase, in der wir über eine zweite Stufe des Antiterrorkampfes diskutieren und auch streiten, ist es notwendig zu erklären - ich kündige das für meine Fraktion an -: Wir werden mit jedem, der das will, zusammenarbeiten und große Anstrengungen unternehmen, dass die neuen Erkenntnisse im Hinblick auf die Bedeutung der Entwicklungspolitik, die wir auf nationaler Ebene gewonnen haben, zu einem europäischen Programm führen werden. Es reicht nicht, dass wir auf europäischer Ebene nur militärische und politische Fähigkeiten aufbauen. Es muss auch eine neue Dimension der europäischen Entwicklungspolitik geben. ({12}) Ein solches Signal sollte von dieser Debatte ausgehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Günther, FDP-Fraktion.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als für den heutigen Tag die Regierungserklärung zum Thema Entwicklungspolitik angesetzt wurde, habe ich genauso wie Sie, Herr Kollege Erler, für einen kurzen Augenblick die Hoffnung gehabt, dass die Debatte ein Höhepunkt werden wird und dass wir etwas Neues hören werden, nämlich dass es im Kabinett einen Umschwung gegeben hat und dass wir bei der Finanzierung der Entwicklungsarbeit entscheidend vorankommen. Nach der Regierungserklärung muss ich sagen: Daraus ist nichts geworden. ({0}) Wenn Sie - darauf wurde wiederholt hingewiesen - aus heutiger Sicht Ihre eigene Koalitionsvereinbarung betrachten, dann werden Sie feststellen, dass so gut wie nichts von dem, was Sie sich vor über drei Jahren zum Ziel gesetzt haben, Realität geworden ist. Diese Vereinbarung ist in weiten Teilen nicht mehr das Papier wert, auf dem sie steht. Ihre Kollegen geben in den Ausschüssen auch ehrlich zu, dass sie die selbst gesteckten Ziele leider nicht erreichen konnten. Beim letzten Außenministertreffen in Brüssel hat sich Minister Fischer zwar wieder grundsätzlich für die Entwicklungshilfe ausgesprochen. Gleichzeitig hat er gesagt, er müsse aber erst Hans Eichel fragen. ({1}) Leider ist zu diesem wichtigen Thema heute wieder niemand vom Finanzministerium auf der Regierungsbank. ({2}) Bei Entwicklungshilfe geht es um Geld. Wenn es um Geld geht, sollte das Finanzressort zumindest mit dabei sein. ({3}) Am Montag - darüber wurde bereits gesprochen - fährt ein Riesenaufgebot von uns nach Monterrey. ({4}) - Ich fahre nicht mit, nein. ({5}) Die Frage ist: Was haben wir im Gepäck? - Insgesamt einen Koffer voll heißer Luft und eine so genannte Machbarkeitsstudie zur Tobinsteuer. ({6}) Sie, Frau Ministerin, der Bundeskanzler und auch der Außenminister reisen mit Versprechungen durch die Welt, als ob wir in Deutschland die Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut hätten. Leider - ich sage bewusst: leider ist im Moment das Gegenteil der Fall. Wenn wir auf das Diagramm der Ausgaben für die Dritte Welt schauen - das war erst gestern wieder in der Presse -, dann stellen wir fest, dass wir am Ende stehen, und das ist nicht gut. Davon - den gemeinsamen Ansatz haben wir doch - müssen wir wegkommen. ({7}) Am 16. November wurde hier im Bundestag wieder einmal erklärt, schrittweise das 0,7-Prozent-Ziel und ein Bündnis für die globale Gerechtigkeit erreichen zu wollen. Heute wissen wir, dass das im damaligen Zusammenhang mit dem Bundeswehreinsatz eine Art Beruhigungspille für die Koalition gewesen ist. Außer dieser Ankündigung ist bis heute wieder nichts geschehen. Erstaunlich ist dagegen, mit welcher Kreativität Sie, Frau Ministerin, alternative Finanzquellen anzapfen und erschließen wollen. So kommt die seit Jahren eingemottete Tobinsteuer wieder auf den Tisch. Weil Steuern im Inland im Moment nicht populär sind, wollen Sie sie europaweit einführen. Eine Studie, die nicht ganz billig war, kommt zu dem tollen Ergebnis, die Tobinsteuer auf interGernot Erler nationale Devisengeschäfte sei technisch machbar, wenn man sie auf Europa beschränke. ({8}) Dabei wird in der Studie selbst darauf hingewiesen, dass sogar eine global verbindliche Tobinsteuer die Welt nicht vor Finanzkrisen schützen könnte. ({9}) Es geht also nicht um die Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte, sondern ganz einfach um die Erschließung von Finanzquellen. ({10}) Abgesehen davon hätte eine Beschränkung der Tobinsteuer auf Europa - das wissen Sie wahrscheinlich auch, Herr Kollege - lediglich ein Ausweichen auf andere Finanzplätze zur Folge ({11}) und das würde zur Schwächung des Euro beitragen. ({12}) So würden Sie ganz eindeutig nicht die Banker und Devisenhändler treffen, die Sie ja treffen wollen, sondern der weltweite Handel käme in Probleme. Das ist das Problem bei der Tobinsteuer! ({13}) Die Integration der Entwicklungsländer in den Welthandel und die Öffnung der Weltmärkte haben - darüber waren wir uns doch schon einmal einig - einen bedeutend höheren entwicklungspolitischen Nutzen als die gesamte Entwicklungshilfe. Deshalb ist die Öffnung der Märkte eine der Prioritäten, die Sie setzen müssen. Auch bei der Umsetzung der von Deutschland beim Millenniumgipfel übernommenen Verpflichtungen ist die Bundesregierung um einiges hinter den Ankündigungen von damals zurückgeblieben. Wir alle wissen: Absolute Armut und extremes Bevölkerungswachstum bedrohen bis 2015 Frieden und Sicherheit. Sie verursachen sehr große Flüchtlingsströme auf dieser Welt und sie haben Umweltzerstörung zur Folge. Deshalb müssen wir konsequent handeln, und deshalb haben die 146 Staats- und Regierungschefs im September 2000 in New York erklärt, dass die Halbierung des Anteils der extrem Armen bis 2015 erfolgen soll. In der Folge dieses Gipfels wurde das von Ihnen zitierte Aktionsprogramm 2015 beschlossen. In diesem Programm verpflichtet sich die Bundesregierung - da sind wir wieder bei diesem Stichwort -, mehr Mittel für die Armutsbekämpfung zur Verfügung zu stellen, die Finanzsysteme in den Entwicklungsländern zu unterstützen und verstärkt Mittel in solchen Ländern einzusetzen - das ist unseres Erachtens sehr sinnvoll -, die, wie im Moment unter anderem Mosambik, Jemen und Vietnam, besondere Anstrengungen zur Armutsminderung unternehmen. Das sind konkrete Ansätze, aber sie müssen mit Zahlen unterlegt werden. Das Aktionsprogramm allein ist eben noch kein Umsetzungsplan. Der Umsetzungsplan - das hat Kollege Hedrich vorhin dargelegt - ist bis jetzt nicht in Aktion. Eine zukunftsweisende entwicklungspolitische Strategie muss unserer Meinung nach multinationale Netzwerke, vor allem im Rahmen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, in den Vordergrund stellen. Entwicklungspolitik darf nicht zu einer Art Weltsozialhilfe verkommen. ({14}) Nur die Mobilisierung eigener Kräfte in den Entwicklungsländern bringt den angestrebten gesellschaftlichen Fortschritt in den Regionen mit sich. Das haben auch Sie angesprochen. Präventive Entwicklungshilfe muss wieder die notwendige Priorität erhalten. Entwicklungspolitik muss sich strategisch erneuern. Das betrifft neben dem finanziellen Rahmen, über den wir hier oft sprechen, auch eine Zusammenführung der politischen Verantwortung. Meiner Meinung nach kann es nicht sein, dass jeder, der gerade einmal Lust hat, sich zu entwicklungspolitischen Themen in der Welt äußert und irgendwelche Ankündigungen macht, die im Endeffekt, gesamtwirtschaftlich gesehen, nicht realisierbar sind. Deshalb muss man über die Bündelung der politischen Verantwortung im Rahmen der Entwicklungspolitik neu nachdenken. Wir als FDP haben dazu bereits Vorschläge unterbreitet. Gerade nach dem 11. September 2001 ist die Bewältigung der globalen Herausforderungen wie Terrorismus, Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Flüchtlingselend die zentrale Aufgabe der Entwicklungspolitik. Für diesen Bereich wollen wir vorbeugende regionale und multilaterale Konzepte auf den Weg bringen. Sie liegen im Interesse Europas und damit nicht zuletzt im Interesse Deutschlands. Aus diesem Grund haben wir für die heutige Debatte auch einen Antrag zur politischen Stabilisierung der zentralasiatischen Krisenregion vorgelegt. Die Mitverantwortung Deutschlands im Kampf gegen den Terrorismus und für die Gestaltung des friedlichen Umfeldes um Afghanistan herum darf sich eben nicht auf Entsendebeschlüsse, auf deren Verlängerung oder Erweiterungen beschränken. Vielmehr muss sie eine Gesamtstrategie umfassen. Sie muss die gesamte zentralasiatische Krisenregion, die um Afghanistan herum liegt, einschließen. In diesem Zusammenhang müssen wir klar erkennen: Die Herausforderung, welche die Krisenregion Afghanistan darstellt, erfordert multilaterale Anstrengungen. Hier brauchen wir ein euroatlantisches Bündnis, in dessen Rahmen eine ausgewogene Arbeitsteilung stattfindet. Deutschland allein wird so etwas nicht schultern können. ({15}) Joachim Günther ({16}) Überdies sollten die Voraussetzungen in der Europäischen Gemeinschaft verstärkt werden. Die politische Instabilität der zentralasiatischen Transformationsstaaten stellt ein Konfliktpotenzial dar. Sie erfordert unweigerlich ein verstärktes europäisches Engagement. Europa ist bereits jetzt mit den südlichen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion über die OSZE, über EU-Partnerschaftsabkommen und über vieles andere verbunden. Man muss aber sagen: Die anderen Staaten in dieser Region sind nicht integriert. Nur ein Gesamtbündnis kann aber Stabilität in dieser Region bringen. Deshalb ist die Verabschiedung eines Partnerschaftsabkommens mit Pakistan ein erster, richtiger Schritt in diese Richtung. ({17}) Die zentralasiatischen Staaten müssen dringend zum regionalen Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit werden. Es wurde bereits angeführt, dass wir den Katalog von Staaten jetzt mit der allgemeinen Formulierung „Region“ erweitert haben. Ich finde es wichtig, dass wir in der Kategorisierung dieser Länder in Zentralasien keine Unterschiede mehr machen, sondern zusammen mit den europäischen Staaten eine Strategie für alle auf den Weg bringen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits Anfang Oktober vergangenen Jahres einen Zwölfpunkteplan zur politischen Stabilisierung Afghanistans vorgelegt, in dessen Mittelpunkt die Forderung nach einem europäischen Stabilitätspakt für die gesamte Krisenregion steht. Ich finde es erfreulich, dass die Bundesregierung inzwischen die Ausarbeitung von Plänen für einen Stabilitätspakt angekündigt hat. Jetzt müssen wir von der Formulierungsphase zur Umsetzungsphase kommen, und das so schnell wie möglich. Das ist ein wichtiges Anliegen. Wir sollten dieses Anliegen in diesem Hohen Haus gemeinsam angehen. Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn Sie unseren Antrag, der dieses Thema konkret betrifft, unterstützen würden. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.

Rezzo Schlauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002777, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich und wir haben auch gute Gründe, heute über Entwicklungspolitik zu diskutieren. Erfreulich ist, dass sich die Bundesregierung darüber verständigt hat, den Entwicklungshilfeetat im Rahmen der EU in den nächsten Jahren aufzustocken. Das wird ja heute und am Wochenende in Barcelona besprochen und entschieden. Ich glaube, wir alle sollten uns darüber freuen, dass wir uns über dieses wichtige Ziel verständigt haben. Wir werden es in den kommenden Jahren auch realisieren. ({0}) Ein guter Grund ist die oft angesprochene Konferenz in Monterrey, weil es bei dieser Konferenz um die Fragen geht, die für die ganze Welt von Bedeutung sind, und zwar für die Menschen im Süden und im Norden. Ich glaube, gerade bei den Menschen im Norden, bei den Industrienationen, müssen das Bewusstsein und die Erkenntnis, dass ohne eine aktive Entwicklungspolitik eine friedliche Welt nicht zu schaffen ist, immer noch sehr viel stärker wachsen, als uns dies, auch nach dem 11. September, bewusst ist. ({1}) Über allem steht das zentrale Thema dieses 21. Jahrhunderts: Wie finden wir eine Antwort auf die globalen, sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit? Welche Perspektive können wir 1,2 Milliarden Menschen aufzeigen, die heute immer noch von weniger als von 1 Dollar pro Tag leben müssen? Schaffen wir es, die globalen Umweltfragen in den Griff zu bekommen? Schaffen wir es, das Klima zu stabilisieren, den Tropenwald zu schützen und - ganz wichtig - den Zugang zu sauberem Wasser zu sichern? Auf der Konferenz wird vor allem über den Finanzbedarf zur Lösung globaler Umwelt- und Entwicklungsprobleme zu reden und auch zu entscheiden sein. Dabei geht es um die wirksame Mobilisierung öffentlicher, aber in Zukunft auch viel mehr privater Finanzmittel für die Erreichung der international vereinbarten Entwicklungsziele. Die internationale Staatengemeinschaft hat sich auf dem Millenniumgipfel im September 2000 ein anspruchsvolles Programm bis zum Jahre 2015 gegeben. Es sieht vor: die Halbierung des Hungers in der Welt, die Reduzierung des Anteils der absolut Armen um die Hälfte, die Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit, die Erhöhung der Einschulungsquote von Kindern in Entwicklungsländern und dabei besonders die Verbesserung der Bildungschancen von Mädchen. Der Generalsekretär der UN hat immer wieder deutlich gemacht, dass es ohne die Verwirklichung dieser Entwicklungsziele keine Realisierung der Menschenrechte in der Welt gibt. ({2}) Erst die Menschenrechte ermöglichen ein Leben in Würde, frei von Hunger, frei von existenzieller Not und mit Zukunftsperspektiven - ein Leben in Würde, das heute noch Millionen von Menschen in vielen Teilen der Welt vorenthalten wird. ({3}) Um nicht missverstanden zu werden: Ein Leben in Würde ist nicht allein eine Frage des Geldes. Ohne eine verantwortungsvolle Regierungsführung - oder neudeutsch: „good governance“ - im Norden und im Süden wird es keine ausreichenden Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers, der Armut und der Krankheiten in der Welt geben. Joachim Günther ({4}) Herr Kollege Hedrich und Herr Kollege Günther, Sie haben so getan, als ob es hier tief greifende Unterschiede zwischen Regierung und Opposition gäbe. Das ist alles - es sei natürlich gestattet - Wahlkampfgetöse. Wahr ist, dass es in der Zielsetzung überhaupt keine Unterschiede gibt. Wahr ist auch, dass der Weg dahin ein steiniger Weg ist. Aber, meine Herren Kollegen, jemand, der dafür verantwortlich ist, dass die Aufwendungen im Bereich der Entwicklungshilfe in Relation zum Bruttosozialprodukt in seiner Regierungszeit um 2,2 Prozent gesenkt worden sind, ist nicht geeignet, der Regierung, die die Trendwende eingeleitet hat, glaubwürdig Vorhaltungen machen zu können. ({5}) Der Bedarf zur Finanzierung der Entwicklungsziele ist doppelt so hoch wie die derzeitigen internationalen Entwicklungshilfeleistungen. Das heißt, dass weitere rund 53 Milliarden US-Dollar zu mobilisieren sind. Die internationale Gemeinschaft und auch wir in Deutschland müssen alle Anstrengungen unternehmen - damit haben wir bereits begonnen -, um diese notwendigen Mittel bereitzustellen. Ich bin davon überzeugt, dass es in unserer Gesellschaft eine breite politische Übereinstimmung darüber gibt, dass die Entwicklungszusammenarbeit einen wichtigen Part der Arbeit für den Frieden in der Welt darstellt. ({6}) Die Zahl der Menschen, die sich, sei es in Verbänden oder Organisationen, in Deutschland seit Jahren ehrenamtlich, also in ihrer Freizeit, für die Menschen in den Entwicklungsländern einsetzen - vom Eine-Welt-Laden bis hin zur Schuldenerlasskampagne -, ist beeindruckend groß. Wir danken ihnen. Sie sollten uns Ansporn sein, dieses Politikfeld stärker in den Vordergrund zu rücken. ({7}) Aber es geht nicht allein um finanzielle Transfers. Es muss zunehmend auch über Strukturreformen diskutiert werden. Es wurde bereits gesagt - wir unterstreichen dies -, dass die Einkommenssituation der Entwicklungsländer auch durch eine gerechtere Handelspolitik unterstützt werden kann. Wir müssen die Handelsbarrieren beseitigen. So müssen wir die Zölle auf verarbeitete Produkte aufheben, damit die Entwicklungsländer nicht nur von ihren Rohstofflieferungen abhängig sind. ({8}) Eine Marktöffnung allein reicht aber nicht aus. Wir müssen auch die internationalen Institutionen reformieren, damit die Entwicklungsländer in den internationalen Organisationen, im IWF und in der Weltbank, auf gleicher Augenhöhe mit den Industrieländern diskutieren, verhandeln und auch entscheiden können, und zwar zum Wohle der Entwicklungsländer. Ich glaube, dass wir noch viele Anstrengungen unternehmen müssen, um die Reformprozesse auf der internationalen Ebene in Gang zu setzen. Aber dieser Tag ist ein guter Tag für die Entwicklungspolitik: Die Regierung hat sich auf die Aufstockung des Entwicklungshilfeetats geeinigt und die Reformen werden wir in den nächsten Jahren in Angriff nehmen. Danke. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Carsten Hübner, PDS-Fraktion.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es gleich vorweg: Ich habe bei den Debatten zu diesem Thema immer ein Problem. Ich achte sehr wohl die Anstrengungen der Ministerin, weiß aber, dass in weiten Teilen der Regierung die Verweigerungshaltung, nämlich die Weigerung, der Ministerin den Weg für ihre Forderungen zu bereiten, genauso intensiv ist. Daher ist es für mich nicht immer leicht, den richtigen Adressaten meiner Kritik zu finden. ({0}) Ich komme nun zum Thema dieser Debatte und möchte hier einen doch etwas anderen Tenor einschlagen. Nachdem die NGOs für ihr Engagement so gelobt worden sind, möchte ich sie gleich zu Anfang einmal zu Wort kommen lassen, Kollege Schlauch. Der EED, der Evangelische Entwicklungsdienst, hat bereits vor Wochen einen Bericht von Peter Lanzet in das Internet gestellt. Lanzet hatte im Januar als Fachreferent des EED an der Monterrey-Vorbereitungskonferenz in New York teilgenommen. Bekanntlich wurde dort bereits das Abschlussdokument der kommenden Konferenz, der so genannte Monterrey-Konsens, verhandelt und verabschiedet. Was Lanzet zu berichten weiß, unterscheidet sich von den positiven Beurteilungen, die wir hier vonseiten der Regierung und auch von Ihnen zu hören bekamen, doch erheblich. Bereits die Überschrift seines Berichts verweist in eine völlig andere Richtung. Zitat: An einen Meilenstein glauben nur noch unverbesserliche Optimisten. Denn schon, so Lanzet im Text weiter, „bei der Zielsetzung der Konferenz“ endeten „die Gemeinsamkeiten“ zwischen den Entwicklungsländern und den Staaten des Nordens. Darüber hinaus sei der Verhandlungsverlauf durch eine zunehmend verhärtete Haltung der reichen Länder in zentralen Fragen geprägt gewesen. Er nennt dafür einige Fixpunkte: erstens die Tendenz der reichen Länder, sämtliche Probleme der Entwicklungsfinanzierung in den Entwicklungsländern als deren eigene, also nationale Probleme zu behandeln; zweitens die Zurückweisung jeder Mitverantwortung der Industrieländer und der von ihnen kontrollierten internationalen Finanzorganisationen sowie der WTO an Überschuldung, wirtschaftlicher Instabilität und wenig entwickelten Märkten in den Entwicklungsländern; drittens das Bestreiten jeder Notwendigkeit für substanziellen, institutionellen und strukturellen Reformbedarf durch die Industrienationen; viertens die Zurückweisung jeder Verpflichtung, zusätzliche Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit oder die Entschuldung bereitzustellen, und stattdessen das Pochen auf den Schutz von Privatinvestitionen, Privatisierung, Deregulierung, Währungsstabilität und die Liberalisierung des Handels. ({1}) - Sie brauchen nicht zuzuhören. Offenbar haben Sie diesen Text vorher nicht gelesen. ({2}) So treffe das vorläufige Abschlussdokument nur in völlig unverbindlicher Weise Aussagen über Kernfragen zukünftiger Entwicklungsfinanzierung, etwa zu den Verhandlungszielen der in Doha vereinbarten neuen Welthandelsrunde, zu privaten Direktinvestitionen, zum Schuldenmanagement, zur Kontrolle und zur Reform der internationalen Finanzinstitutionen, zur Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, zur Notwendigkeit globaler Steuern wie der Tobin Tax oder zum Follow-up der UNO-Konferenz selbst. Letztlich wiederhole der vorläufige Abschlusstext nur das, was in anderen Dokumenten bereits enthalten sei. Von dem verkündeten Aufbruch - auch Sie haben ihn hier beschworen -, von einem neuen Konsens sei nichts zu spüren. - So weit sinngemäß Peter Lanzet. Ich verweise darauf, dass der Evangelische Entwicklungsdienst nicht unbedingt eine kleine oder irgendwie radikal geartete NGO ist. Peter Lanzet steht mit seinen Bewertungen nicht allein da. „Ein Minimalkonsens“, der weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibe, so nannte Jens Martens von der entwicklungspolitischen Organisation WEED das Papier. Statt verbindliche Schritte für einen internationalen Entwicklungspakt festzulegen, drohe die Konferenz nun, in ein „globales Dilemma“ zu führen, sagt zum Beispiel Peter Eisenblätter von terre des hommes Deutschland. Erwartungsgemäß gab es übrigens die größten Auseinandersetzungen über den Punkt „öffentliche Entwicklungshilfe“. Am Ende wurden alle strittigen Passagen in dem Papier einfach getilgt, um überhaupt zu einer Einigung zu kommen. Insbesondere die USA haben in dieser Frage jede konkrete Zusage konsequent verweigert. Auf den Widerstand Washingtons stieß etwa die Forderung nach einer umgehenden Verdoppelung der globalen Entwicklungshilfe um 50 Milliarden Dollar. Selbst diese Summe liegt bekanntlich noch deutlich unter den vereinbarten 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden sollen. Aber warum in dieser Frage auf die USA zeigen, wenn der eigene Finanzminister und der eigene Schrumpfhaushalt so nahe sind und auch hier Mal für Mal schöne Worte konkrete Taten ersetzen sollen? ({3}) Frau Ministerin, lieber Kollege Schlauch, den Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden soll, bis 2006 auf 0,33 Prozent zu erhöhen bedeutet - ich habe das ausgerechnet - eine Steigerung von 0,015 Prozent pro Jahr. Bis Sie das Ziel von 0,7 Prozent erreichen, vergeht eine Zeitspanne von 30 Jahren. Das ist wirklich eine Glanzleistung. ({4}) Wie soll das Ziel des Millenniumgipfels vom September 2000 vor diesem Hintergrund umgesetzt werden? Wie soll die Armut bis 2015 halbiert werden, wie soll sauberes Trinkwasser Zigmillionen Menschen zur Verfügung gestellt werden, wie sollen Schulbildung und eine Zukunftschance für alle Kinder auf der Welt erreicht werden, wenn sich die reichen Staaten der Erde beharrlich weigern, Unterentwicklung tatsächlich als ein globales Problem konsequent anzugehen? Das zu tun, heißt konkret, endlich vom Kuchen abzugeben. Es heißt noch mehr: die ganze Bäckerei miteinander zu teilen. Die Herausforderungen sind jedenfalls überwältigend. Fast 1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Mehr als 850 Millionen Menschen können nicht lesen und schreiben. Rund 826 Millionen Menschen leiden an Hunger, Unter- und Mangelernährung. Fast 325 Millionen Kinder besuchen keine Schule - und wir streiten uns hier um Peanuts! Ich erwarte von der Bundesregierung konkrete Schritte in Monterrey, aber insbesondere in dem, was danach folgt. Ich nenne ein paar Aspekte, die das konkret verdeutlichen: Zunächst einmal fordern wir die Bundesregierung auf, in Monterrey eine Vorreiterrolle zu spielen, um das Abschlussdokument, das bereits erarbeitet worden ist, für weiterführende Schritte zur Entwicklungsfinanzierung zu öffnen, konkrete Festlegungen und Fristensetzungen zu unterstützen und eigene Initiativvorschläge für einen gesicherten Follow-up-, also Nachfolgeprozess, einzubringen. Darüber hinaus fordern wir sie auch auf, bei der Gestaltung des Follow-up-Prozesses folgende Forderungen mit Nachdruck zu unterstützen, voranzutreiben und bei deren Umsetzung ebenfalls eine Vorreiterrolle einzunehmen - inhaltlich gibt es zumindest in Bezug auf die Aussagen der Ministerin keine Probleme; aber in Bezug auf die Umsetzung umso mehr -: Erstens. Die Implementierung des Ziels, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfeleistungen bereitzustellen, sollte bitte nicht erst in 30 Jahren stattfinden; denn vor 30 Jahren wurde dieses Ziel verkündet. Das ist nicht die Geschwindigkeit, die wir in diesem Bereich anstreben sollten. ({5}) Zweitens. Ein verbindlicher Stufenplan zur Erhöhung der ODA, also der öffentlichen Entwicklungshilfe, der in einem ersten Schritt eine Verdoppelung der ODA-Leistung anstrebt und dadurch eine Aufstockung um circa 50 Milliarden US-Dollar zur Einhaltung der Millenniumsziele ermöglicht, ist im Rahmen der OECD aufzustellen. Drittens. Die bestehenden finanziellen Abhängigkeiten zwischen Nord und Süd sind durch neue Formen einer vertraglichen Nord-Süd-Kooperation im Sinne eines Global Deals von Grund auf zu ändern. Das sind genau die Hoffnungen, die mit der Konferenz in Monterrey eigentlichen verbunden waren. Viertens. Die Einführung einer Devisenumsatzsteuer ist massiv zu befördern. Auch auf diesem Gebiet haben wir in der Ministerin hinsichtlich der Inhalte hoffentlich eine Partnerin. Fünftens. Die HIPC-Entschuldungsinitiative ist auf hoch verschuldete Entwicklungsländer mittleren Einkommens auszudehnen. Sechstens. Eine vollständige Entschuldung der am wenigsten entwickelten Länder ist durchzusetzen. Siebtens. Ein internationales Schuldenmanagement ist zu entwickeln und zu implementieren. Es gibt noch weitere Punkte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist weit mehr, als alle Ihre Anträge bieten und als das, was in den Reden angedeutet worden ist. Aber es ist erst ein Anfang von dem, was bitter nötig wäre. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion, das Wort.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass es heute zur zweiten Regierungserklärung zur Entwicklungspolitik in der Geschichte der Bundesrepublik gekommen ist. Das, was es unter einer unionsgeführten Regierung nie gegeben hat, hat die jetzige SPD-geführte Bundesregierung zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren erreicht. ({0}) Dies ist ein schöner Erfolg für die Ministerin und für uns. Es ist zugleich ein Ausdruck dafür, dass wir der Entwicklungszusammenarbeit einen höheren Stellenwert gegeben haben. ({1}) Dazu bedarf es natürlich mancherlei Überzeugungsarbeit. Es ist doch klar, dass es innerhalb der Fraktionen Diskussionen gibt, wo wer wie viel Geld bekommt. Aber unsere Überzeugungsarbeit innerhalb der Fraktionen hat für ein anderes Politikverständnis gesorgt. Der Erfolg, der nun beim Treffen des Europäischen Rates in Barcelona deutlich wird, gibt uns dabei Recht. Wir müssen bei anderen Mitgliedern der Bundesregierung und vor allen Dingen auch innerhalb der Fraktionen sehr viel für unser Verständnis von Entwicklungspolitik werben, darüber debattieren und andere davon überzeugen. Denn dann haben wir bessere Ausgangspositionen. ({2}) Diese Debatte bietet daher eine gute Gelegenheit, über Bilanz und Perspektive der deutschen Entwicklungspolitik zu reden. Das Ende des Ost-West-Konfliktes, die in den letzten Jahren beschleunigt voranschreitende Globalisierung und nicht zuletzt der 11. September 2001 haben die Rahmenbedingungen für Entwicklungspolitik entscheidend verändert. Daher muss Entwicklungspolitik für das 21. Jahrhundert als Teil globaler Struktur- und Friedenspolitik verstanden und in enger Zusammenarbeit mit Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet werden. Wir haben dies seit 1998 konsequent umgesetzt und können nun zu Recht behaupten, dass sich unsere Politik an den Zielsetzungen von sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, politischer Stabilität und ökologischem Gleichgewicht orientiert. ({3}) Dass wir in den letzten dreieinhalb Jahren ein gutes Stück vorangekommen sind, zeigen eine Vielzahl neuer Initiativen: Wir haben ein nationales Aktionsprogramm zur Halbierung der weltweiten Armut aufgelegt. Der Bundeskanzler steht dahinter und wird uns hoffentlich weiter so wie bisher unterstützen. Wir haben es erarbeitet und beschlossen. Darin wurde festgelegt, dass die gesamte Politik der Bundesregierung der Armutsbekämpfung verpflichtet ist, nicht nur die Politik des Ressorts Entwicklungspolitik, sondern die aller Ressorts. Wir haben auf dem Kölner Gipfel 1999 eine Entschuldungsinitiative angestoßen, auf deren Basis erweiterte, an das Ziel der Armutsbekämpfung gekoppelte Entschuldungsmöglichkeiten für die ärmsten und höchstverschuldeten Entwicklungsländer gefunden wurden und eine armutsorientierte Kooperationspolitik von IWF und Weltbank durchgesetzt werden konnte. Eine Anhörung unseres Ausschusses zusammen mit dem Finanzausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss, bei der Vertreter von IWF und Weltbank, genauer gesagt: Wolfensohn und Köhler, anwesend waren, hat es vorher überhaupt noch nicht gegeben. Der Stellenwert von Entwicklungspolitik ist also ganz enorm gestiegen. Wir haben unser Engagement bei der internationalen Bekämpfung von Aids verstärkt und Mittel dafür mobilisiert, dies nicht nur unter dem Dach der Vereinten Nationen, sondern auch in Zusammenarbeit mit anderen Partner- und Geberländern sowie in Kooperation mit der privaten Wirtschaft. Das ist, wie ich finde, ein sehr gutes Zeichen. Wir haben ein Gesamtkonzept erarbeitet, in dem Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung im Kontext eines erweiterten Sicherheitsbegriffs verstanden werden. Dabei kommt der Entwicklungspolitik mit ihrem Beitrag zu politischer, ökonomischer, ökologischer und sozialer Stabilität eine tragende Rolle zu. Wir haben uns für eine gerechtere, sozialere und ökologisch orientierte Welthandelsordnung, die auch die Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigt, eingesetzt. Wir alle wissen, dass wir hier noch einen weiten Weg vor uns haben. Doch die Anfangssignale sind positiv und wir können daran weiterarbeiten. ({4}) Wir haben den zivilen Friedensdienst als friedenspolitisches Instrument gestärkt, das den gewaltfreien Umgang mit Konflikten unterstützt. Wir haben uns besonders für einen erfolgreichen Abschluss des Cotonou-Abkommens eingesetzt. Das gibt den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, den AKP-Staaten, wiederum sehr viel mehr Sicherheit für die nächsten Jahre und hilft auch der Krisenprävention. Wir haben eine neue Initiative für Klimaschutz, zur Bekämpfung der Wüstenbildung, für biologische Sicherheit sowie zur Entschärfung von Konflikten um Wasserressourcen auf den Weg gebracht. Über all diese Punkte hinaus haben wir zahlreiche Maßnahmen ergriffen, die zum Ziel haben, Frauenrechte zu stärken, Menschenrechte zu achten und die zunehmende Spaltung der Welt in Arm und Reich zu verhindern. ({5}) Von all diesen Dingen, die in den letzten dreieinhalb Jahren auf den Weg gebracht worden sind, scheint allerdings die CDU/CSU-Fraktion bisher noch nichts gehört zu haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Entwicklungspolitik der letzten dreieinhalb Jahre weist, wie ich meine, eine exzellente Bilanz auf. Dabei steht für uns zuvörderst die Erkenntnis, dass die meisten Probleme der Entwicklungsländer zugleich globale Herausforderungen darstellen. Die zunehmende Armut, das immer noch anhaltende Bevölkerungswachstum, die Ausbreitung von Aids sowie der Klimawandel und die Verknappung von Wasservorräten müssen als Bedrohung für uns alle begriffen werden. Sie sind wesentliche Ursachen für gesellschaftliche Spannungen, gewaltsame Konflikte, Flucht und Vertreibung. Diese Probleme entfalten eine globale Dynamik, die letztlich Frieden und Stabilität weltweit gefährden können. ({6}) Unser entwicklungspolitischer Ansatz ist vom Bewusstsein und der Notwendigkeit der sozialen und ökologischen Gestaltung geprägt. Ziel unserer Politik ist es, zur Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse aller Menschen beizutragen. Das bedeutet für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten: Wir treten für soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Frieden und Menschenrechte sowie den Erhalt natürlicher Ressourcen ein. ({7}) Die Armutsbekämpfung selbst bleibt überwölbendes Ziel unserer Politik. Doch die Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe kann nicht allein vom Staat geleistet werden. Sie erfordert die Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte. Deshalb müssen wir auf allen Ebenen die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und der privaten Wirtschaft intensivieren. Ich kann nur sagen: Die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft haben wir im Haushalt großzügig bedacht. Wir werden unser Auge darauf haben, dass dies auch weiterhin geschieht. Die Zusammenarbeit mit der privaten Wirtschaft - Sie haben es von der Ministerin gehört - hat sich positiv gestaltet. Sie wird sich weiter ausdehnen und einen guten Beitrag leisten. Bilanz zu ziehen heißt aber gleichzeitig, Perspektiven unserer Politik aufzuzeigen. Wir werden mit unserer Politik der globalen Verantwortung auch in den nächsten Jahren fortfahren. Dies bedeutet, wir werden Armut bekämpfen, Frieden sichern und die Globalisierung sozial gerecht und ökonomisch gestalten. Die Mitgestaltung internationaler Regelwerke, die Unterstützung von Strukturveränderungen in den Partnerländern, aber auch die Reform entwicklungspolitischer Strukturen bei uns in Deutschland, die Zusammenführung von Institutionen in Bonn beispielsweise, sind für uns zentrale Ansatzpunkte. Es wird dabei auf Folgendes ankommen: Erstens müssen wir unsere Armutsbekämpfung weiter intensivieren und bis zum Jahr 2015 den Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, halbieren. ({8}) Zweitens. Weltumspannende internationale Strukturen bestimmen zunehmend die Möglichkeit, nachhaltige Entwicklung zu verwirklichen. Dies wird besonders bei den Diskussionen über Verschuldung, Welthandelsordnung, internationale Sozialstandards und internationale Umweltnormen deutlich. Wenn wir letztlich einen langfristig tragbaren Interessenausgleich haben wollen, dann müssen auch die Entwicklungs- und Transformationsländer ihre Interessen berücksichtigt sehen, indem sie diese Regelwerke und ihre Institutionen selbst bestimmen und mitgestalten. Dies bedeutet, wir müssen uns um mehr Kohärenz bemühen, insbesondere in der Handels-, Wirtschaftsund Agrarpolitik. Wir dürfen dabei die Frage der Reform der internationalen Finanzmärkte und Finanzinstitutionen nicht vergessen. Auch Monterrey ist hier ein wichtiges Signal. Natürlich wollten wir mehr, natürlich üben wir Kritik an dem Abschlussdokument. Aber wir haben hier einen Anfang gesetzt und das ist wichtig. ({9}) Wir gehen also gut vorbereitet nach Monterrey in Mexiko - für die, die noch nicht wissen, wo es liegt. Drittens. Ich denke bei diesem Punkt insbesondere an meinen Freund Werner Schuster. Wir dürfen Afrika nicht zu einem vergessenen Kontinent werden lassen. Afrika bleibt daher im Mittelpunkt unserer Bemühungen um Armutsbekämpfung, die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten und den Abbau krasser sozialer Ungleichheiten. ({10}) Viertens. Wir brauchen weltweit eine Verbesserung und Verbreiterung der Finanzierungsbasis für nachhaltige Entwicklung und für globale öffentliche Güter. Nur so können wir unsere Politik auf Dauer effizienter, wirksamer gestalten; denn ohne eine verlässliche Entwicklungsfinanzierung ist eine Politik der globalen Verantwortung und deren Umsetzung nicht erreichbar. Wir sind damit auf einem guten Weg. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn Ihres Elften Berichts zur Entwicklungspolitik schreibt die Bundesregierung richtigerweise: Niemals zuvor waren deshalb die Voraussetzungen günstiger, die in vielen Teilen der Welt noch immer bedrückende Armut zu überwinden, die natürlichen Ressourcen zu bewahren und die Grundlagen für eine friedlichere Welt zu schaffen. Doch heute müssen wir feststellen, dass diese entwicklungspolitische Gunst der Stunde bisher nicht genutzt werden konnte. Trotz aller Erfolge in Teilgebieten gehen die Tendenzen der wichtigsten Parameter nämlich genau in die falsche Richtung: ({0}) Die absolute Armut wächst, die Ungleichheiten zwischen Nord und Süd und innerhalb der Entwicklungsländer wachsen, die Anzahl der Krisenherde nimmt keinesfalls ab und die Umweltzerstörung geht dramatisch weiter. ({1}) Meine Damen und Herren, in der Tat stammen die Terroristen vom 11. September nicht aus den Slums. Aber jedem, auch dem Mann auf der Straße, ist klar geworden, dass wir unseren Wohlstand und Frieden auf Dauer nur bewahren können, wenn Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern für sich und ihre Kinder mehr Perspektiven als bisher sehen. ({2}) Die Entwicklungspolitik muss sich nach dem 11. September einer breiteren Diskussion stellen. Deswegen ist es gut, dass wir uns im Bundestag erneut kritisch mit der Entwicklungspolitik auseinander setzen. Herr Schlauch, wären Sie nicht bei den Grünen, hätte ich bei Ihrer Rede sicherlich öfter klatschen können; ({3}) denn wir sind uns in der Zielsetzung einig. Aber auch hier steckt der Teufel im Detail und es gibt eine große Diskrepanz zwischen Papier und Realität. ({4}) Herr Erler, auch durch die unübersehbare Arroganz am Anfang Ihrer Rede lassen wir uns nicht beeindrucken. Wir werden natürlich die offensichtlichen Schwächen der Regierungsarbeit kritisieren. Diese Kritik beginnt mit dem Umfang der Entwicklungszusammenarbeit. Ich bin immer wieder verblüfft, was verschiedene Menschen aus ein und demselben Zahlenmaterial machen können. Frau Ministerin, Sie sind wirklich eine Meisterin im Werfen von Nebelkerzen. ({5}) Sie haben den Wahlkampf 1998 gemeinsam mit dem damaligen Kanzlerkandidaten Schröder ganz unbestreitbar mit dem Versprechen geführt, die Entwicklungsmittel zu erhöhen. Im Wahljahr 2002 müssen wir feststellen, dass diese Mittel um 7 Prozent geringer als im Jahr 1999 sind. Das ist die Wahrheit, die Sie aushalten müssen. ({6}) Ich bin sicher, dass auch unsere Kritik sowie die Kritik der Kirchen und der Nichtregierungsorganisationen dafür gesorgt haben, dass Ihr Haushalt nicht noch mehr zum Steinbruch wurde. Deswegen werden wir auch weiterhin den Finger in diese Wunde legen. ({7}) Wir von der CDU/CSU haben unsere Hausaufgaben als Opposition gemacht. ({8}) Wir haben in unserer Fraktion einen Antrag verabschiedet, der uns bindet, in zehn Jahren schrittweise das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen. Sie dagegen haben Fachleute und Öffentlichkeit in den letzten Jahren mit immer neuen Programmen zum Narren gehalten, die zwar vollmundige Überschriften trugen, aber mit der finanziellen Wirklichkeit in keiner Weise etwas zu tun hatten. Selbst Ihre Entschuldungsinitiative ist mittlerweile stecken geblieben. ({9}) Ich warne auch davor, die Diskussion um die Tobinsteuer als Ablenkungsmanöver zu benutzen. Wir beteiligen uns gerne - das sage ich ehrlich und offen - an einer ergebnisoffenen Diskussion über neue Finanzierungsquellen; auch wir wollen mehr Geld für die Entwicklungspolitik. Aber es muss eine seriöse Diskussion sein. Solange die meisten Industrieländer in Wirklichkeit gar nicht daran denken, Herr Bindig, bei solchen globalen Steuern mitzumachen, ist diese Diskussion unseriös.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. ({0})

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, da Sie wie vorher unser Kollege von der FDP auf die Tobin Tax zu sprechen gekommen sind, frage ich Sie, ob Sie mir zustimmen, dass das Gutachten, von dem die Ministerin gesprochen hat, nachweist, dass die Tobin Tax erstens geeignet ist, die größten Ausschläge auf den Finanzmärkten zu glätten - es ist natürlich kein Instrument, das ganz allein Ordnung auf den Finanzmärkten schaffen könnte -, dass es zweitens sehr wohl möglich ist, in einer Zeitzone wie zum Beispiel in Europa die Tobin Tax einzuführen, und dass drittens die Finanzmärkte London, Frankfurt und Zürich nach Einführung dieser Steuer keineswegs auswandern würden.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wiederhole, dass wir über neue Finanzierungsmechanismen weltweit nachdenken müssen. Ich habe mich auch mit dem Gutachten beschäftigt. Die KfW hat dazu eine Veranstaltung durchgeführt, bei der ich zugegen war. Dabei kamen auch die möglichen Gefahren zur Sprache. Ich muss nicht unbedingt die Auffassung der Gutachter teilen. Ich gebe ihnen aber insoweit Recht, als es theoretisch möglich wäre, diese extremen Schwankungen zu dämpfen. ({0}) Aber bei dieser Diskussion ist auch deutlich geworden, dass erhebliche Risiken bestehen, wenn zu viele wichtige Länder nicht mitmachen. Ich kenne bisher nur zwei europäische Länder, die sagen würden: Wenn alle mitmachen, machen wir auch mit. Genau das ist der Punkt: Das ist zu wenig. ({1}) Ich bin der Überzeugung, dass der Deutsche Bundestag und auch die Bundesregierung nicht um die Arbeit herumkommen, in den Haushalten der nächsten Jahre mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, weil wir an der Schwelle zur Handlungsunfähigkeit stehen. ({2}) Auch wenn die Bundesregierung gerade noch die Kurve zu der Erklärung zur nationalen Mindestquote von 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts bis zum Jahre 2006 gekriegt hat, so ist dies erstens nur der Anfang und zweitens steht dies nur auf dem Papier, wie so vieles, was uns die Bundesregierung vorgelegt hat. ({3}) Aber bei einer seriösen Diskussion geht es nicht nur um Masse, sondern auch um Klasse, also um die Frage nach konzeptionellen und qualitativen Fortschritten in der Entwicklungspolitik. Auch dies sehen wir kritisch. Die Idee einer regionalen und sektoralen Schwerpunktsetzung ist zwar richtig, aber die rot-grüne Variante ist ein Schuss nach hinten. Ausgerechnet unter Rot-Grün gerät unsere Zusammenarbeit beim Umwelt- und Ressourcenschutz in immer mehr Ländern trotz der zum Teil existenziellen Umweltprobleme in Bedrängnis. ({4}) Ausgerechnet ein Kernbereich der Hilfe zur Selbsthilfe und der langfristigen Armutsbekämpfung, nämlich der Sektor Bildung und Ausbildung, hat die meisten Regierungsverhandlungen der jüngsten Vergangenheit nicht überlebt. ({5}) Ein elementarer Punkt bei der Aufbereitung des 11. September 2001 ist für mich die gezielte Unterstützung von Entwicklungsländern beim Einklinken in den Globalisierungsprozess. Es wurde von den Handlungsbarrieren berichtet, die zu beseitigen sind. Das halte ich auch für richtig. Aber wenn ich in den Entwicklungsländern auf extrem schwache Institutionen, auf einen völlig unzureichenden Bankensektor, auf ein nicht vorhandenes Rechtswesen, auf ein korruptes Zollsystem, auf ein kaputtes Polizeiwesen sowie auf ein nicht vorhandenes Schulwesen stoße, kann ich die Barrieren noch so weit beseitigen: Diese Entwicklungsländer haben davon gar nichts. ({6}) Wir haben in dieser Hinsicht viele Vorschläge gemacht. Sie sind leider kaum darauf eingegangen. Das halten wir für einen strategischen Fehler. Auch auf die Frage, Frau Ministerin, wie die Entwicklungspolitik gegenüber islamisch geprägten Ländern - zum Teil auch mit zweifelhafter Regierungsführung nach dem 11. September 2001 besser greifen kann, ist Ihnen in meinen Augen nichts Substanzielles eingefallen. Die Sprachlosigkeit der Kulturen muss auch in der konkreten Entwicklungspolitik überwunden werden. Dabei stehen wir erst am Anfang, wobei dies noch positiv ausgedrückt ist. Ein Stichwort - das haben wir auch schon öfter in die Debatte eingebracht - ist, dass unser Instrumentarium zu schwerfällig ist. Es muss flexibilisiert werden, vor allem in Umbruchzeiten. Der jugoslawische Minderheitenminister hat erst in dieser Woche noch einmal erklärt, sein Land brauche keine neuen runden Tische, keine Konferenzen, sondern konkrete und schnelle Hilfe. Diese müssen wir auch anbieten. Wir brauchen schnellere und konkretere Hilfe für demokratische Wackelkandidaten zum Beispiel in Form der Ausweitung der Stiftungsarbeit. Ein weiterer struktureller Schwachpunkt rot-grüner Entwicklungspolitik ist ihr Hang zum Multilateralismus. Dies ist für mich derzeit ein immer größer werdendes Steuergeldergrab, das Unsummen verschlingt, aber große Effizienzschwächen aufweist, und zwar deshalb, weil Deutschland zu wenig Einfluss auf das Geschehen nimmt. Es genügt nicht, mit Herrn Wolfensohn ein Paket zu Aids und Gesundheit zu schnüren, wenn es eklatante Umsetzungsschwierigkeiten gibt, weil das Paket zu kompliziert ist. Das gilt leider auch für die globale Umweltfazilität. ({7}) Unsere Forderung an Rot-Grün lautet deshalb: Geben Sie wieder mehr Geld in die eigene bilaterale Zusammenarbeit und sorgen Sie gleichzeitig dafür, dass mit der Vergabe von Mitteln an internationale Organisationen auch der entsprechende deutsche Einfluss auf die Politik einhergeht. ({8}) Damit komme ich zum dritten Problembereich, nämlich der Kohärenz und Koordination. Auch dies sind schwierige Aufgaben. An diesen Problemen können all die gut gemeinten Projekte der Entwicklungspolitik, gerade auch bei der Armutsbekämpfung, scheitern. Simbabwe ist ein klassischer Fall. Ein blühendes Land, das sich wirtschaftlich absolut auf dem Höhenflug befindet, wird durch „bad governance“ und nicht durch fehlende ländliche Entwicklungsprojekte ruiniert. Mugabe konnte dies tun, weil der Westen nicht geschlossen war und politisch nichts riskierte. Die deutsche Außenpolitik ließ die deutsche Entwicklungspolitik im Regen stehen. Das geschah bezüglich vieler Orte, und zwar gerade auch in Afrika, nämlich im Sudan, an den Großen Seen und anderswo. Das Gleiche gilt für die Themen, die Herr Schlauch vorhin angesprochen hat, nämlich den Umwelt- und Ressourcenschutz und den Tropenwald. Ausgerechnet die grüne Spitze der Außenpolitik hat dort keinen Finger krumm gemacht, um die Entwicklungspolitiker zu unterstützen. Eine Entwicklungspolitik ohne Unterstützung von Kanzleramt und Außenministerium läuft ins Leere. Mein Fazit ist daher: Frau Ministerin, Sie hüpfen zwar medienwirksam von Ast zu Ast, ({9}) wer aber hinter die Kulissen sieht, erkennt, dass Sie bewährte Rezepte verwässert und schlüssige Konzepte für neue Herausforderungen nicht durchgesetzt haben. Unter Rot-Grün hat die deutsche Entwicklungspolitik ({10}) national wie international an Gewicht verloren. ({11}) Wir fahren mit leeren Händen nach Monterrey ({12}) und müssen alles tun, damit wir wenigstens zur Konferenz Rio + 10 in Johannesburg konzeptionell und finanziell einigermaßen vorbereitet anreisen können. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss dem Kollegen Christian Ruck wegen der Kritik an Joschka Fischer energisch widersprechen; denn der Minister hat natürlich ein sehr gutes Wahrnehmungsvermögen für die Probleme, die Sie angesprochen haben. Ich muss auch die Ministerin in Schutz nehmen. In den letzten drei Jahren haben wir in der Öffentlichkeit einen sehr viel größeren Wahrnehmungspegel für die Entwicklungspolitik erreicht ({0}) als in all den Jahren zuvor. ({1}) Angesichts der äußerst schwierigen Lage in vielen Entwicklungsländern vergessen wir aber häufig - auch in diesem Fall -, dass wir bereits eine ganze Menge erreicht haben. Darauf wurde auch schon eingegangen. In den letzten Jahrzehnten konnten wir - auch aufgrund entwicklungspolitischer Kampagnen - die allgemeine Lebenserwartung weltweit insgesamt steigern und die Kindersterblichkeit senken. Selbst die absolute Zahl der Hungernden ging zurück. Vor dem Elend, das es in der Welt noch reichlich gibt, dürfen wir nicht erstarren. Wir müssen selbstbewusst handeln und konkrete Beiträge zur Verhinderung internationaler Krisen leisten. Hilfe kann dabei - das haben wir gelernt - immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wir werden uns diese so verstandene Hilfe mehr kosten lassen müssen als bisher, weil nur so unsere Zukunft gesichert werden kann. ({2}) Die Bundesrepublik wird bis 2006 mindestens 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Das ist auch ein Erfolg der Bemühungen, die wir von der entwicklungspolitischen Seite her im Rahmen des Regierungshandelns und der parlamentarischen Arbeit unternommen haben, und zwar nicht erst seit gestern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Konferenz in Monterrey bietet eine gute Gelegenheit, eine grundsätzliche Weichenstellung für die Armutsbekämpfung, die nachhaltige Entwicklung und die Krisenprävention vorzunehmen; denn zum ersten Mal steht die Gesamtheit der wirtschaftlichen Nord-Süd-Beziehungen auf der Tagesordnung. An einer wichtigen Stelle taucht im Entwurf des Monterrey-Konsenses die Mobilisierung der heimischen Finanzmittel und die Erhöhung der privaten Direktinvestitionen auf. Gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, funktionierende Steuer- und Budgetsysteme, also auch die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer, werden in den Mittelpunkt gerückt. Sie sind die Grundlage für eine zukunftsfähige Entwicklung. Dies kann aber nicht bedeuten, dass wir den schwarzen Peter nur an die Betroffenen weiterreichen und die Verantwortung für Fehlentwicklungen des Globalisierungsprozesses im Norden von uns weisen. Entwicklung bedarf vielfältiger Anstrengungen. Geld aus dem Norden, Strukturreformen im internationalen Finanzsystem, Handel und Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer müssen Hand in Hand gehen; denn Entwicklung ist ein dynamischer Prozess. ({3}) Entwicklungszusammenarbeit muss sich vorrangig auf gute Regierungsführung, die Ausbildung effizienter Steuer- und Finanzsysteme und die Korruptionsbekämpfung stützen. Hierbei gilt es zu beachten, dass es sich auch in den Entwicklungsländern um politische Systeme mit einer Menge von ganz unterschiedlichen Akteuren handelt. Durch externe Rahmenbedingungen, die wir setzen, und besonders auch durch die Politik des Internationalen Währungsfonds wurden bisher nur bestimmte politische Gruppen in den Entwicklungsländern einseitig begünstigt. Ich nenne zwei Beispiele. Eines ist Argentinien, wo sich Carlos Menem, der frühere Chef des Landes, so lange an der Macht halten konnte, weil er sich auf ein von außen inspiriertes und mitgetragenes Währungssystem der Dollarparität stützte, das sich jetzt allerdings als Fiasko erweist. Der brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardosa hat zweimal hintereinander die Wahlen in seinem Land gewonnen, weil es den so genannten Plan Real gab, ein Währungsregime, das stärker als jedes andere zuvor von internationalen Kapitalflüssen abhängig ist. Argentinien löst sich nun im Finanzchaos auf. Irgendjemand muss die Rechnungen bezahlen. Für die Deckung der Hermes-Bürgschaften in Argentinien werden das wohl die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sein. Aber die Hauptlast der Verschuldung hat die argentinische Bevölkerung zu tragen. Ich bin froh, dass in die internationale Debatte auch hier endlich Bewegung gekommen ist; denn eine stärkere Einbeziehung des Privatsektors bei der Lastenübernahme von Entschuldung muss umgesetzt werden. ({4}) An einem fairen und transparenten Entschuldungsverfahren, dem so genannten internationalen Insolvenzrecht, wird nun auch im IWF gearbeitet. Auch der Internationale Währungsfonds beschäftigt sich endlich damit. Wir als Fraktion und als Partei haben uns schon seit langer Zeit dafür stark gemacht. Lassen Sie mich im Hinblick auf die Monterrey-Konferenz einen letzten Punkt nennen: innovative Finanzinstrumente zur Steuerung von Globalisierungsprozessen und zur Erschließung zusätzlicher Finanzquellen. Die Globalisierungsprozesse haben dazu geführt, dass viele nationale Politikinstrumente stumpf geworden sind. Den neuen Herausforderungen wie der stärkeren Betonung von Krisenprävention und sozialer Gerechtigkeit können sie nicht mehr Rechnung tragen. Deshalb fordern wir ein Gegensteuern durch die international koordinierte Erhebung von Entgelten, von Steuern und Abgaben zum Schutz und zur Finanzierung globaler öffentlicher Güter wie Umwelt, Gesundheit und Stabilität des internationalen Finanzsystems. Die Studie von Herrn Professor Spahn, die im Auftrag des BMZ erstellt wurde, wurde schon angesprochen. Den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP biete ich die Internetadresse an, unter der sie das Gutachten herunterladen können, damit sie nicht wie die Berliner Drehorgelspieler immer wieder die gleichen Argumente gegen eine Tobinsteuer herunterleiern müssen. ({5}) James Tobin, ein großer Ökonom, der bedauerlicherweise in dieser Woche verstorben ist, wird dieses Laienspiel ohnehin nicht gerecht. Tobin wusste selbst, dass die Entwicklung freier Märkte auch staatlicher Lenkungsinstrumente bedarf - nicht mehr und nicht weniger. Wer gesehen hat, dass Währungsspekulationen in zweistelliger Milliardenhöhe an einem Tag Entwicklungschancen für Jahrzehnte zunichte machen können, weiß effiziente Mittel zu schätzen, durch die einer Kasinowirtschaft zugunsten von Handel und Investitionen Grenzen gesetzt werden. ({6}) Wie sagte Michel Camdessus, der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für die Konferenz in Monterrey, neulich bei uns im Ausschuss so schön? „Die Vorschläge zu innovativen Finanzinstrumenten waren für manche Teilnehmer zu kreativ und fanden deshalb keinen Eingang ins Schlussdokument.“ Gleichzeitig geht aber auch Herr Camdessus davon aus, dass in Monterrey über weiter reichende Vorschläge gesprochen wird. Wir werden jedenfalls als Koalition auch in Zukunft mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen. Wir werden die internationale Debatte zur Entwicklungsfinanzierung mit weiteren innovativen Vorschlägen vorantreiben. Wir sind auf einem guten Weg. Danke. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer entwicklungsDr. Angelika Köster-Loßack politischen Debatte ist es richtig, zunächst einmal das Gute festzustellen. ({0}) Zwischen Regierung und Opposition gibt es - übrigens nicht erst seit 1998, sondern auch davor - weitgehende Einigkeit über die Zielsetzungen, den präventiven Charakter und die friedenstiftende Wirkung der Entwicklungszusammenarbeit. ({1}) Was aber viele Menschen, die sich für die Entwicklungszusammenarbeit und die Bekämpfung von Hunger und Armut in der Welt engagieren, mittlerweile schier zur Verzweiflung treibt, ist die riesige Diskrepanz zwischen dem, was an Programmen und Regierungserklärungen vorgetragen wird, und der Realität, die sie in dieser Welt vorfinden. ({2}) Wenn man die Realitäten betrachtet, muss sich in einer entwicklungspolitischen Debatte wie heute mancher, der hört, was die Vertreter der Regierungskoalition vortragen, vorkommen wie in einer Märchenstunde. ({3}) Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist unter Rot-Grün noch größer geworden, als sie vorher ohnehin schon war. ({4}) Herr Kollege Erler, man kann das auch nicht mit dem Hinweis wegstecken, es sei buchhalterisch und klein kariert, wenn man nach Zahlen fragt. Nein, Politik wird dann konkret, wenn man in den Haushalt sieht. Den Worten müssen Taten folgen. Die Taten zeigen sich in den Zahlen des Haushaltes. ({5}) Die Frau Bundesministerin kann es drehen und wenden und aus der sinkenden Entwicklungshilfe noch eine höhere ODA-Quote herausrechnen, Fakt ist: Der Anteil des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung am Bundeshaushalt ist von 1,68 Prozent im Jahre 1998 auf 1,49 Prozent im Jahr 2002 gesunken. Das ist das Gegenteil von dem, was Rot-Grün zu Beginn ihrer Amtszeit angekündigt hat. ({6}) Verehrte Frau Ministerin, Ihnen ist im Laufe ihrer politischen Karriere einmal die Bezeichnung „die rote Heidi“ verliehen worden. Ich finde, diese Bezeichnung müsste Ihnen heute neu verliehen werden für die Schamesröte, die Ihnen angesichts des Desasters der rot-grünen Entwicklungspolitik, das Sie zu verantworten haben, ins Gesicht steigen müsste. ({7}) Ständig kommen von Ihnen neue Papiere, neue Konzepte, neue Programme und neue Projekte - Sie haben sie auch vorgetragen und vorgelesen -, aber die inhaltliche Konsistenz der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist eher verloren gegangen, als dass sie an Profil gewonnen hätte. ({8}) Erwähnt worden ist schon die so genannte Schwerpunktsetzung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. So wurde das Aktionsprogramm 2015 zur Halbierung der weltweiten Armut genannt. Was ist daraus geworden? Kaum sind die Konzepte veröffentlicht, sind sie schon zerfleddert. Ihre Länderliste wird ständig korrigiert. Die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen sind reine Zufälligkeiten. Kollege Ruck hat schon vorgetragen, was unter dem Gesichtspunkt der Armutsbekämpfung, den wir als wichtigste Zielsetzung ansehen, alles unter die Räder gerät. Ich nenne den Schwerpunkt Bildung, der bei den 37 Schwerpunkt-Partnerländern, mit denen wir mittlerweile Verträge haben, gerade noch viermal und bei den 33 Partnerländern gerade noch einmal vorkommt. ({9}) Zielgerichtete Armutsbekämpfung erreicht man nicht mit Zufälligkeiten, sondern nur mit einer klaren entwicklungspolitischen Strategie. ({10}) Sie haben sich für das Aktionsprogramm 2015 heute erneut belobigt. Ich will daran erinnern: Vor einem Jahr haben Sie das Programm vorgestellt und angekündigt, es gebe einen Umsetzungsplan und einen Finanzierungsplan. Bis zum heutigen Tag liegen kein Umsetzungsplan und kein Finanzierungsplan vor. Das Aktionsprogramm ist Schall und Rauch. ({11}) Nun komme ich zu dem Ziel, die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent zu erhöhen. Die Europäische Union will wenigstens 0,33 Prozent vorschreiben. Es ist schon erbärmlich, dass es die Deutschen waren, die sich bis zum Schluss dagegen gewehrt haben. Jetzt hat der Kanzler angeblich eingelenkt, aber natürlich alles versehen mit einer Protokollnotiz des Bundesfinanzministers: unter Vorbehalt des Haushalts. ({12}) Wenn Sie sich jetzt für die bescheidenen 0,33 Prozent belobigen, meine Damen und Herren von Rot-Grün - was schon erbärmlich genug ist -, muss ich Sie daran erinnern, dass Sie beim Weltwirtschaftsgipfel die Steigerung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit angekündigt haben. Drei Tage später hieß es: Im Haushalt werden die Mittel reduziert. Wer soll dem Kanzler noch glauben, wenn er auf internationalen Konferenzen Erklärungen unterschreibt und später genau das Gegenteil macht? Wir Peter Weiß ({13}) glauben es Ihnen auch in diesem Fall nicht, wenn Sie keinen entsprechenden Haushalt vorlegen. ({14}) Im Übrigen könnten Sie heute Farbe bekennen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün. Wir stimmen nachher über einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion ab, in dem der Deutsche Bundestag ein verbindliches Gesetz - keine unverbindlichen Erklärungen - fordert, in dem das 0,7-Prozent-Ziel für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit festgeschrieben wird. Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann glauben wir Ihnen Ihre Erklärungen. ({15}) Nachhaltige Entwicklung bedarf aktiver Zivilgesellschaften in den Ländern des Südens. Der Entwicklungsprozess kommt nur voran, wenn mehr Menschen dort ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Zivilgesellschaftliche Gruppen fördert man am ehesten, indem man ihre Partnerorganisationen unterstützt. Aber Sie haben für die entwicklungspolitische Arbeit der deutschen Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen bis heute rund 50 Millionen Euro gestrichen, indem Sie - raffiniert gemacht - die Mittel im normalen Haushalt auf dem gleichen Stand gelassen, aber die Mittel für die Arbeit in Ostund Südosteuropa reduziert haben. Denn Sie wollen ja nach dem Jahr 2003 die Regionaltitel für Südosteuropa und Mittel- und Osteuropa gänzlich entfallen lassen. Auch hierbei gilt: Sie loben erst die Nichtregierungsorganisationen mit schönen Worten und lassen sie anschließend am Seil herab. ({16}) Entwicklungszusammenarbeit muss das Ziel verfolgen, das Wohlstandsgefälle zu verringern. Die Menschen in den weniger entwickelten Ländern müssen neue Zukunftsperspektiven erhalten. Es liegt offenkundig in unserem Interesse, gerade die Diskrepanz zu unseren unmittelbaren Nachbarn in Ost- und Südosteuropa zu verringern. Doch was macht Rot-Grün? Die Mittel zur Unterstützung der Transformationsprozesse in den Ländern Osteuropas und Südosteuropas sind zu einem großen Steinbruch geworden. Allein in einem Jahr ist eine Absenkung um 15 Prozent erfolgt. Ab 2003 soll es gar nichts mehr geben. ({17}) Meine Damen und Herren, da wir tagtäglich das zunehmende Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit erleben, meine ich, dass Deutschland in der Tat einen neuen Push für die Entwicklungszusammenarbeit braucht. ({18}) Dazu gehören im Wesentlichen verlässliche finanzielle Rahmenbedingungen für langfristig wirkende Projekte statt Katastrophen-Hopping von einem Ende der Welt zum anderen, ({19}) ein klares Bekenntnis zur Priorität selbsthilfeorientierter Armutsbekämpfung, die Stärkung der Zivilgesellschaften sowie demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen und die Integration der Entwicklungsländer in eine internationale soziale Marktwirtschaft. Um das zu erreichen, braucht es aber Politiker, die ihren Worten Taten folgen lassen. Dazu braucht es offensichtlich eine neue Bundesregierung. Vielen Dank. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Detlef Dzembritzki.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, Sie freuen sich offenbar noch über die Zustimmung Ihrer Kollegen. Ich muss Ihnen aber sagen: Es ist immer wieder verwunderlich, wenn man sieht, wie die Opposition in solchen Diskussionen wie der heutigen ihre Regierungsvergangenheit verdrängt. Natürlich haben Sie Recht, dass es bedauerlich ist, dass das 0,7-Prozent-Ziel nicht erreicht worden ist. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir das, was in 16 Jahren zu tun versäumt worden ist, nicht in dreieinhalb Jahren aufholen können. ({0}) - Man muss das ständig wiederholen, weil ihr das offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmt. Das ist doch das Problem. Wenn ihr daran arbeiten und vernünftige Alternativen auf den Tisch legen würdet, dann könnten wir darüber diskutieren. ({1}) - Herr Präsident, der Kollege Schauerte möchte offensichtlich eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich entnehme Ihrer Bemerkung, dass Sie Ihre Redezeit verlängern wollen.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eigentlich habe ich noch nicht einmal richtig angefangen. Aber schaden kann es nicht. Peter Weiß ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Schauerte, bitte schön.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt, man könnte das, was in 16 Jahren zu tun versäumt worden ist, nicht in vier Jahren aufholen.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dreieinhalb!

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Stimmen Sie mir aber zu, dass man auf jeden Fall die Fehlentwicklungen in den letzten dreieinhalb Jahren nicht hätte größer werden lassen dürfen? ({0}) 1998 war der Anteil der Mittel, die für die Entwicklungshilfe zur Verfügung standen, höher als 2002. Sie müssen doch zugeben, dass Sie sich von dem 0,7-Prozent-Ziel noch viel weiter entfernt haben als wir damals. ({1})

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich bin Ihnen für Ihre Frage ausgesprochen dankbar, und zwar nicht nur, weil Sie meine Redezeit damit verlängern, sondern auch, weil Sie mir die Chance geben, deutlich zu machen, dass dieses Zahlenspiel nicht vollkommen der Wahrheit entspricht. Richtig ist, dass wir wegen des enormen Schuldenbergs, den Sie uns hinterlassen haben, einen Konsolidierungskurs einschlagen mussten, der auch dazu geführt hat, dass der Etat des Einzelplans 23 - Entwicklungszusammenarbeit - von 1998 bis heute um 1 Prozent reduziert worden ist. ({0}) Herr Kollege, wenn Sie sich aber die ODA-Rate anschauen, werden Sie feststellen, dass es von 1998 bis heute eine Steigerung um 9 Prozent gegeben hat. Insgesamt haben wir also unsere Verantwortung wahrgenommen. ({1}) - Herr Kollege, Sie werden doch zugeben müssen, dass ich in elf Minuten Redezeit nicht auf alles eingehen kann. Ich werde mit Ihnen darüber im Ausschuss diskutieren. ({2}) Ich finde es interessant, wie nervös Sie werden, wenn wir über diese Punkte diskutieren. ({3}) Die Oppositionsparteien - Sie selbst haben das eben angesprochen, als Sie auf Ihre Anträge verwiesen - scheinen die Lösung des Problems darin zu sehen, dass per Gesetz die 0,7-Prozent-Quote verordnet wird. Sie haben aber keine Deckungsvorschläge gemacht. Eine solche Haltung können sich die Regierungsparteien nicht leisten; denn das wäre eine verantwortungslose Politik. In meiner Antwort auf die Zwischenfrage habe ich bereits darauf hingewiesen, dass wir trotz der finanziellen Engpässe beharrlich an der Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Entwicklungszusammenarbeit gearbeitet haben. Angesichts des immer wieder angestellten Vergleichs mit anderen Ländern möchte ich fragen: Welche Länder erreichen denn tatsächlich das 0,7-Prozent-Ziel oder können wie Schweden, das in vorbildlicher Weise 0,86 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellt, sogar mehr aufwenden? Das sind ausnahmslos solche Länder, die es geschafft haben, ihre öffentlichen Finanzen in Ordnung zu bringen, die also einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen können ({4}) und deshalb die Möglichkeit haben, ihre Solidarität mit dem Süden in noch stärkerem Maße zum Ausdruck zu bringen. Herr Kollege Hedrich - ich wiederhole das; ich bitte Sie trotzdem, mir noch einen Augenblick Ihrer Aufmerksamkeit zu schenken -, Sie haben uns eine Schuldenlast hinterlassen, für die im Jahr Zinsen gezahlt werden müssen, die zehnmal höher sind als das, was wir im Entwicklungsetat zur Verfügung haben. ({5}) Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was wir alles machen könnten, wenn wir diese Zinsbelastung nicht hätten. ({6}) Nun zur bevorstehenden Konferenz in Monterrey, die bereits angesprochen worden ist: Herr Günther, ich weiß nicht, inwieweit Sie die entsprechenden Unterlagen zur Kenntnis genommen haben. Aber die Frau Ministerin hat in ihrer Rede sehr deutlich gemacht, welche Schwerpunkte auf der Konferenz in Monterrey zu setzen sein werden und welche Chancen bestehen. Zu Ihnen, lieber Herr Kollege Hübner, möchte ich sagen - schade, dass die Zeit nicht reicht, um darauf näher einzugehen -: Es ist in der heutigen Diskussion der Eindruck vermittelt worden, als ob es auf der bevorstehenden Konferenz in Monterrey, an der fast alle Mitgliedstaaten der UN teilnehmen, so zugehen würde wie in unserem Parlament. Wir müssen wissen - wir wissen es ja auch -, dass in der internationalen Zusammenarbeit dicke Bretter gebohrt werden müssen. Wir haben bisher kein Instrument von Global Governance. Mit dem, was bisher erreicht worden ist und was durch unsere Politik international ergänzt und erweitert wird - ich denke da an die EU und die AKP-Staaten -, sind doch Fortschritte erzielt worden, wie wir sie vor drei, vor fünf oder vor sechs Jahren nicht hatten. ({7}) Von daher ist der internationale Weg mit der multilateralen Zusammenarbeit, die wir betrieben haben, ein erfolgreicher Weg, der für die Länder des Südens auch Verbesserungschancen bringt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung wird an ihrem Konsolidierungskurs festhalten. Wir sind auf einem guten Weg, die gewaltige Verschuldung, die Sie uns hinterlassen haben, zurückzufahren. ({8}) Ich bin sicher, dass dadurch finanzielle Spielräume frei werden, die es uns erlauben, die Entwicklungsausgaben zu erhöhen, ohne dadurch nachfolgende Generationen zu belasten. Alles andere wäre auch verantwortungslos. Trotz dieser Situation, die Sie uns hinterlassen haben, ({9}) ist die Bilanz der rot-grünen Koalition in der Entwicklungszusammenarbeit durchaus beeindruckend. Wenn Sie, lieber Kollege Hedrich, hier am Pult sprechen, habe ich manchmal den Eindruck, dass Sie im Grunde Ihren Versäumnissen der letzten 16 Jahre hinterherlaufen ({10}) und im Grunde bedauern, dass Sie die Chancen nicht wahrgenommen haben, dass es Ihnen nicht gelungen ist, das Politikfeld Entwicklungspolitik zu einer Querschnittsaufgabe zu machen, die alle Ressorts bindet und uns bei jedem Gesetzgebungsvorhaben in die Pflicht nimmt, die Interessen des Südens zu bedenken und zu berücksichtigen. ({11}) Unser Ansatz in der Entwicklungszusammenarbeit unterscheidet sich grundlegend von dem vergangener Jahre. Herr Weiß, Sie können hier am Pult noch so laut werden: Wir haben mit den Partnerländern des Südens eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe entwickelt. Wir unterstützen die Bereitschaft zu Reform und Entwicklung. Die Empfängerländer werden bei der Planung von Hilfsprogrammen von Anfang an beteiligt; sie sind in ein Gesamtkonzept einbezogen. Wir fordern eine Selbstverpflichtung unserer Partner zu guter Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Achtung von Menschenrechten; das war die klare Vorstellung und die Konzeption unserer Koalition. Herr Kollege Ruck, Sie wissen sehr wohl, dass wir bei diesem ganzheitlichen Ansatz das Potenzial der Zivilgesellschaft mit einbinden, selbstverständlich auch den Schutz der natürlichen Ressourcen im Auge haben und gerade Wert darauf legen, dass auch die Länder, die mit uns zusammenarbeiten - wir waren zusammen in Vietnam und in anderen Ländern -, ({12}) diesen Ansatz beachten. ({13}) Meine Damen und Herren, schauen Sie sich als Beispiel für diese Politik die Entschuldungsinitiative an! Gerade bei der Armutsbekämpfung wird das Potenzial der Zivilgesellschaft mit eingebunden. Gerade hierbei wird Wert auf Gesundheitspolitik und auf Bildungspolitik gelegt, um Defizite abzubauen. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie der Weltbank zeigt - das ist interessant -, dass wir mit dieser Politik bei gleichem Mitteleinsatz fast dreimal so viele Menschen aus der schlimmsten Armut befreien können, wie das noch vor zehn Jahren möglich gewesen wäre. Hieran wird deutlich, dass Strukturveränderungen mindestens genauso wichtig sind wie die Frage nach mehr Geld oder weniger Geld, wenn nicht sogar wichtiger. ({14}) Es ist, finde ich, wirklich nicht kollegial, nicht parlamentarisch, lieber Kollege Hedrich, wenn Sie von täuschen, verschleiern und verfälschen sprechen, wenn Sie im Zusammenhang mit Osttimor von Showeffekten sprechen. Es ist schade, dass der Kollege Blüm nicht hier ist. Wir waren gemeinsam in Osttimor. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir dort im Verhältnis zu viel Mittel einsetzen. Wir können hier sehr wohl darüber diskutieren, ob der massierte personelle Einsatz der UN in der jetzigen Art und Weise sinnvoll ist, aber dass hier der Eindruck erweckt wird, wir würden uns um Menschenrechte kümmern und wir würden auch kleinen Ländern helfen, nur um Showeffekte zu erzielen, finde ich erbärmlich. Das gehört nicht in eine solche Diskussion. ({15}) Für unsere Neuausrichtung steht auch der Stabilitätspakt Südosteuropa. Wir haben hier im Rahmen der Europäischen Union - einige Kollegen haben schon darauf hingewiesen - einen subregionalen politischen Prozess angestoßen. Das heißt, dass die betroffenen Länder Südosteuropas zu einer selbsttragenden Zusammenarbeit zurückfinden und sich die Ziele des Stabilitätspaktes zu Eigen machen. Einige Kolleginnen und Kollegen haben davon gesprochen, dass die Einrichtung von runden Tischen nicht notwendig sei. Wichtig sei nur, dass schnell Gelder fließen würden. Zumindest die Aussage, dass die Einrichtung von runden Tischen nicht notwendig ist, ist fatal. Wir brauchen doch im Bereich der Sicherheitspolitik, das heißt der inneren und äußeren Sicherheit, eine überregionale Zusammenarbeit. Wir brauchen eine Zusammenarbeit, um Infrastrukturmaßnahmen nicht nur einem, sondern allen Ländern nutzbar zu machen. Deswegen plädiere ich dafür, dass die Instrumente, die man auf dem GeDetlef Dzembritzki biet der überstaatlichen Zusammenarbeit der Regionen entwickelt hat, weiter gefördert werden. Ich plädiere aber auch dafür, dass immer wieder geprüft wird, ob Bürokratie reduziert werden kann, um vor Ort schneller wirksame Hilfe zu ermöglichen. Die EU hat diesen Prozess auf multilateraler Ebene politisch und materiell beachtlich unterstützt. Die EU und die Bundesrepublik werden sich aus diesem Bereich nicht zurückziehen. Das Ziel unserer Maßnahmen ist, den Ländern eine Perspektive auf Teilhabe an unserer Werte- und Wachstumsgemeinschaft zu geben und ihre Bemühungen auf dem Weg dorthin zu flankieren. In Mazedonien - man kann das nicht oft genug unterstreichen - ist es uns durch eine vernünftige Präventionspolitik gelungen, eine aggressive Auseinandersetzung bzw. einen Bürgerkrieg zu verhindern. Natürlich kostet auch das Geld. Aber es kostet sehr viel weniger Geld, als wenn wir dort mit Militärapparaten eine Hilfe leisten würden, die im Grunde zu spät kommt und der friedlichen Entwicklung nicht dienlich ist. ({16}) Diese Erfahrungen aus der überregionalen und multilateralen Zusammenarbeit sollten wir auf die zentralasiatischen Staaten übertragen. Hier können wir eine Menge einbringen. Diesen Ländern ist die Zusammenarbeit wichtig und nicht die Abschottung. Der Besuch des Ministerpräsidenten Karzai gibt mir die Gelegenheit, daran zu appellieren - ich glaube, das ist ein Aufruf an uns alle -, nicht nur auf die Stadt Kabul zu schauen. Der afghanische Infrastrukturminister hat heute im Auswärtigen Ausschuss deutlich gemacht, dass auch in den Regionen, in die die Flüchtlinge zurückkehren wollen, eine Entwicklung stattfinden muss. Sie müssen dort eine Infrastruktur vorfinden. Lassen Sie uns also auch hier schauen, wie wir weiterhelfen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz aller Fortschritte bei Kohärenz und Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit ist es mir in den verbleibenden Sekunden meiner Redezeit ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass wir im Norden unser Bewusstsein hinsichtlich der Wahrnehmung des Südens verändern müssen. Ein Beispiel dafür ist Afrika. In den Schulbüchern - die KonradAdenauer-Stiftung hat hierzu eine interessante Studie vorgelegt - kommt Afrika als Kolonialkörper vor. Die Begrifflichkeit in den Schulbüchern entspricht überhaupt nicht unserer Zeit. Tierfilme und Katastrophen, das ist das Bild, das von Afrika vermittelt wird. Wer sich an deutschen Universitäten mit Afrika beschäftigen will, muss lange nach einem Angebot suchen. Fündig wird er am ehesten im Bereich der Ethnologie. In der Politikwissenschaft kommt Afrika kaum vor. Aber aus diesem Bereich brauchen wir Fachkräfte, die später in der Politik, in der Verwaltung und in internationalen Gremien an der Ausgestaltung der deutschen Politik teilhaben und sich in der globalisierten Welt zurechtfinden können. Im Klartext heißt das, dass wir heute einen ganzen Kontinent, also 54 Staaten, aus dem Blick von Politik und Gesellschaft ausblenden. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich unsere Universitäten und Schulen mitverantwortlich dafür fühlen, einen Bewusstseinsprozess zu initiieren und zu beeinflussen, und zwar in dem Sinne, dass Prävention und das Wissen übereinander notwendig sind und Verstehen die Voraussetzung dafür ist, in dieser einen Welt friedlich und zukunftsorientiert zusammenzuleben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkte 13 b und 13 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/6496 und 14/6269 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/8493 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/6496 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 13 d: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Entwicklungsfinanzierung international stärken - VN-Konferenz „Financing for Development“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/8487? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkte 13 e bis 13 g: Die Vorlagen auf den Drucksachen 14/8109, 14/8338 und 14/8057 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Zusatzpunkt 12: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Mit der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung den Abwärtstrend der Finanzmittel für nachhaltige Entwicklung umkehren“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/8482? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Zusatzpunkt 18: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/5578 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss zu überweisen. - Anderweitige Vorschläge liegen nicht vor. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie die Zusatzpunkte 13 bis 15 auf: 14. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hansjürgen Doss, Friedhelm Ost, Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Offensive für die Bauwirtschaft - Drucksachen 14/6315, 14/8504 Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Kutzmutz ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Wiesehügel, Dieter Maaß ({2}), Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zukunft der deutschen Bauwirtschaft - Drucksachen 14/7297, 14/8506 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Wiesehügel ZP 14 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, Horst Friedrich ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Chancen für die Bauwirtschaft durch weniger Regulierung - Drucksachen 14/7458, 14/8507 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Hansjürgen Doss ZP 15 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Uwe Hiksch, Christine Ostrowski, Rolf Kutzmutz und der Fraktion der PDS Zukunft der Bauwirtschaft - Drucksachen 14/7135, 14/8498 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Hartmut Schauerte für die CDU/CSUFraktion das Wort.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns mit einer ganz dramatischen Entwicklung in einer aufgrund der schwierigen Verhältnisse ausgesprochen gebeutelten Branche. Ich darf am Anfang sagen: Wenn man sich in der Volkswirtschaft umschaut, dann muss man feststellen, dass es keiner Branche so schlecht geht wie der deutschen Bauwirtschaft. ({0}) Man kann an den entsprechenden Zahlen erkennen, dass sie noch nie eine derart dramatische Verschlechterung ihrer Rahmenbedingungen hat hinnehmen müssen wie zurzeit. Es geht den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Unternehmen schlecht. Es gibt Arbeitsplatzverluste in einer Größenordnung, die wir uns in anderen Branchen gar nicht vorstellen können. Im Jahr 1998 - Herr Wiesehügel, in diesem Jahr wurden Sie, der Vorsitzende der IG BAU, in den Deutschen Bundestag gewählt - gab es 1 156 000 Beschäftigte. Nach Ihrem engagierten Einsatz in den letzten dreieinhalb Jahren im Deutschen Bundestag gibt es 250 000 Bauarbeiter weniger. ({1}) Das sind zweieinhalbmal so viel, wie es insgesamt noch Beschäftigte im deutschen Steinkohlebergbau gibt. ({2}) - Nein, aber trotz. In ihn setzte die Bauwirtschaft damals große Hoffnungen. Aber in den fast vier Jahren, in denen er im Parlament mitgearbeitet hat - in dieser Zeit wechselten oft die Bauminister -, ist diese Branche sozusagen an die Wand gefahren worden. ({3}) Ich möchte auf die Zahlen bezüglich der Arbeitsplätze zurückkommen. Wir werden in diesem Jahr in der Baubranche weitere 50 000 bis 60 000 Arbeitsplätze verlieren. Damit landen wir bei 900 000 Arbeitsplätzen. Ich möchte auch auf die Zahl der Konkurse in der deutschen Bauwirtschaft eingehen: Im Jahr 2001 hatten wir 9 026 Konkurse. Eine so hohe Zahl hat es noch nie gegeben. Es geht um 9 026 Existenzen und damit um viele, viele Arbeitsplätze. Zudem muss man bedenken, dass mit der Erhöhung der Zahl der Bauarbeitnehmer um einen Arbeitnehmer eine Arbeitsplatzwirkung für die deutsche Volkswirtschaft in Höhe von 0,9 Arbeitnehmern verbunden ist. Damit sind allein durch die Veränderungen in dieser Branche circa 500 000 Arbeitsplätze weggefallen. Das ist die bittere Bilanz nach dreieinhalb Jahren sozialdemokratischer Verantwortung für die Bauwirtschaft. ({4}) Die Bauwirtschaft hat von allen Wirtschaftszweigen unserer Volkswirtschaft die mit Abstand höchste Konkursrate zu verzeichnen: Auf 10 000 Betriebe kommen 280 Pleiten. Damit ist die Konkursrate um 2,8 Prozent höher als die durchschnittliche Konkursrate in der deutschen Wirtschaft und der deutschen Industrie. In dieser Situation haben wir Mitte letzten Jahres einen Antrag eingebracht; er wird heute beraten. Es brennt lichterloh. Die Situation hat sich eher noch verschlechtert. Aber die Regierung hat keine Konzepte, keine Programme. Sie kuriert nur am Symptom herum. Die Bauwirtschaft leidet wie kein anderer Wirtschaftszweig unter den Fehlentwicklungen in der Gesamtwirtschaft; denn sie ist der empfindlichste Teil. Der Umstand, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland kein WirtVizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters schaftswachstum haben, schlägt sich daher überproportional in der Bauwirtschaft nieder. Deswegen sage ich für die CDU ganz sachlich und ruhig und in allem Ernst: ({5}) Ohne Wirtschaftswachstum werden wir diese Probleme auch durch noch so viele Programme nicht in den Griff bekommen. Vom Wachstum aber verstehen Sie nun wirklich nichts. Davon verstehen wir von der CDU/CSU eindeutig mehr. ({6}) Der berühmte Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Herr Clement, hat im letzten Jahr ein Wirtschaftswachstum von 0,1 Prozent hingelegt. Im Gegensatz dazu hatten die Baden-Württemberger ein Wachstum in Höhe von 1,3 Prozent. Die Bayern haben ein Wachstum von 0,9 Prozent erreicht. So gering es auch ist: Es ist immerhin neunmal höher als das in Nordrhein-Westfalen. Wir können diesen Vergleich für alle Länder der Bundesrepublik anstellen, Herr Wiesehügel, das Ergebnis wird nicht anders aussehen. Ich weiß, es tut weh, aber es ist wahr: Je länger Rot-Grün regiert, desto schlechter sind die Wachstumsraten, desto höher sind die Arbeitslosenraten und desto größer ist die Anzahl der Pleiten. ({7}) Das ist nun einmal die bittere Wahrheit. Daran werden Sie im kommenden Wahlkampf gemessen werden. Der Grund für die Situation in der Bauwirtschaft ist also zuallererst das fehlende Wirtschaftswachstum. Es liegt aber auch an der zunehmenden Bürokratie. Hier muss ich einmal die Grünen ansprechen. Vonseiten der Grünen gibt es viele Bedenkenträger; bei nahezu allen Planungen, Anträgen und Genehmigungen in der Bundesrepublik Deutschland, sowohl in den Gemeinden als auch in den Ländern, sind viele Behörden davon betroffen. Sie können jede Sitzung als Beispiel nehmen; denn es ist immer so: Es werden viele Fachleute gehört, aber in 95 Prozent der Fälle, bei denen es um Genehmigungen geht, sind es die Grünen - ein oder zwei Grüne sind stets dabei -, die Bedenken vortragen. Mit einer solchen Bremspolitik können Sie der Bauwirtschaft in Deutschland nicht auf die Beine helfen. ({8}) Sie haben durch die Anlegung Ihrer Steuerreform und den bei einer Vielzahl von Gesetzen praktizierten Verschiebebahnhof die finanzielle Basis der Kommunen zerstört. Die Kommunen sind allerdings der wichtigste Investor in der Bauwirtschaft. Mehr als zwei Drittel aller öffentlichen Investitionen sollten seitens der Kommunen stattfinden. Aber Herr Eichel, dieser tüchtige Finanzminister, hat den Bund bei der Nettoneuverschuldung schöngerechnet und die Neuverschuldung der Gemeinden und der Länder um ein Mehrfaches steigen lassen. Die Gemeinden müssen sich heute dreimal so hoch verschulden wie 1998. Das nimmt ihnen die Kraft, in die Bauwirtschaft zu investieren, und daher brechen die Arbeitsplätze weg. Auch das Mietrecht haben Sie aus ideologischen Gründen immer wieder verschlechtert. ({9}) - Sie haben es eindeutig verschlechtert, und zwar zulasten der Investitionen. Man müsste einmal - aus der Sicht des Steuerzahlers halte ich das für akzeptabel - jedem Minister des Bundeskabinetts fünf oder sechs Wohnungen übertragen, zum Beispiel indem man sie ihnen schenkt. Sie glauben gar nicht, zu was für Erkenntnissen sie anschließend kommen würden. Sie würden von da an über die Notwendigkeit von Reformen im Mietrecht ganz anders denken. Die Minister des Bundeskabinetts müssten einmal selbst die Praxis in diesem Bereich erleben. Das wäre wirklich ein hochinteressanter Vorgang. ({10}) Ich komme auf private Finanzierungen zu sprechen. Herr Wiesehügel, ich würde mich an Ihrer Stelle wirklich zurückhalten. Sie reden ja gleich. Versuchen Sie doch einmal, eine Bilanz Ihrer Politik in den vergangenen dreieinhalb Jahren in Bezug auf dieses - Ihnen auf den Leib geschnittene - Thema zu ziehen! Wenn Sie eine ehrliche Bilanz ziehen, dann können Sie doch nicht mehr ruhig schlafen. ({11}) Also: Was private Finanzierungen in die Infrastruktur angeht, sind Sie keinen Schritt weitergekommen. Nichts läuft da. Investitionshaushalte in Bund, Ländern und Gemeinden sind zusammengestrichen worden. So wird die Baukonjunktur zerstört. Wir brauchen eine Infrastrukturoffensive und eine Stärkung der investiven Haushaltsansätze. Legale Arbeit muss wieder bezahlbar sein. Betriebsverfassungsrechtliche Probleme müssen so gelöst werden, dass Flexibilität auf dem Bau möglich ist. ({12}) Arbeit auf dem Bau ist erschwert worden, sie ist bürokratisiert worden und sie ist verrechtlicht worden. Zur Vergabepraxis: Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Clement will die öffentliche Hand seines Landes jetzt von der VOB befreien. Das sind Ihre Beiträge zur Verbesserung der Lage der Bauwirtschaft. Kümmern Sie sich einmal darum! Reden Sie einmal mit ihm! Nordrhein-Westfalen ist immerhin kein kleines Land. Die Vergabe von Aufträgen an Mittelständler muss verbessert werden. Erbrachte Leistungen müssen zeitgerecht bezahlt werden. Gehen Sie an die Lösung dieses Problems heran und greifen Sie das in Sachsen praktizierte Modell auf, über das wir diskutieren! Machen Sie etwas! Schieben Sie die Dinge nicht vor sich her! Was die Zahlungsmoral in Bezug auf in Deutschland erbrachte Bauleistungen angeht, sind mittlerweile unerträgliche Zustände eingetreten. Sie haben die Einkommensgrenze für die Gewährung der Eigenheimzulage genau bei denjenigen, die bauen könnten, um etwa ein Drittel gekürzt. ({13}) Das heißt, Sie haben den Kreis der Anspruchsberechtigten, die unsere Bauwirtschaft in Gang bringen könnten, verkleinert. ({14}) All das ist unerträglich. ({15}) Ich bin der Auffassung, dass wir einen wirklichen Neuanfang brauchen. Man muss sich den Problemen der Bauwirtschaft wirklich zuwenden. Ihre bürokratischen Ansätze und die Art und Weise, wie Sie gängeln und Investitionen verhindern, machen einen solchen Neuanfang unmöglich. Sie sind nicht in der Lage, die Rahmenbedingungen für Wachstum zu schaffen, und ohne Wachstum ist der deutschen Bauindustrie nicht mehr zu helfen. ({16}) Wir brauchen eine Regierung, die Wachstum organisieren kann. Deswegen werden wir diese Fragen zu einem zentralen Wahlkampfthema machen. Wir werden mit den Bauarbeitern darüber reden, ({17}) wer für die schlechte Lage der Bauwirtschaft seit dreieinhalb Jahren verantwortlich ist. Das sind nämlich diejenigen, die sich permanent dazu berufen fühlen, als Herolde der Interessen der Bauarbeiter aufzutreten. In Wahrheit sind sie das Gegenteil. Ihre Bilanz ist niederschmetternd und enttäuschend. ({18})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Klaus Wiesehügel für die Fraktion der SPD das Wort.

Klaus Wiesehügel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003263, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation der deutschen Bauwirtschaft ist tatsächlich schwierig. In einigen Anträgen wird das beschrieben. Diese Anträge waren in den letzten Monaten häufig Gegenstand der Debatte. Herr Schauerte, Sie haben hier ein paar Zahlen genannt. Ich will mich mit diesen Zahlen gerne beschäftigen. Nur, man muss natürlich schon sehen, dass der jeweilige Ansatz interessengeleitet ist: Man wählt ihn so, dass er einem in den Kram passt. Ich möchte Folgendes deutlich machen: Wir können an den Zahlen auch erkennen, wo die Ursachen gegebenenfalls liegen. Sie haben justament das Jahr 1998 gewählt. ({0}) Die Krise der Bauwirtschaft hat aber nicht 1998, sondern 1995 begonnen. Seit diesem Jahr sind die Zahlen rückläufig. 1995 waren nicht wir an der Regierung. Wenn Sie das behaupten, Herr Schauerte, dann zeigen Sie, dass Sie ein sehr schlechtes Gedächtnis haben. Ich will Ihnen die entsprechenden Zahlen ein bisschen genauer nennen. Am 31. Dezember 1995 gab es im Westen 664 807 im Baugewerbe beschäftigte Arbeitnehmer. Das sind die Zahlen der Urlaubskasse des Baugewerbes. Das sind die verlässlichsten Zahlen, die man heranziehen kann; sie sind sehr realitätsnah. Am 31. Dezember des Jahres 2001 - das ist das letzte Jahr, für das wir vollständige Statistiken vorweisen können - waren 424 663 Arbeitnehmer im Baugewerbe beschäftigt. Der Rückgang beträgt also etwa ein Drittel. Das ist in der Tat sehr beachtlich und sehr traurig. Im gleichen Zeitraum, also vom 31. Dezember 1995 bis zum 31. Dezember 2001, haben wir im Osten einen Rückgang von 309 726 Beschäftigten auf 141 749 Beschäftigte zu verzeichnen. Das ist eine Halbierung der Zahl der Arbeitsplätze. Herr Schauerte, dieser Rückgang der Zahl der Arbeitsplätze besonders im Osten, wo wir die Hälfte der Arbeitsplätze verloren haben, hat seine größte Ursache in Ihrer fehlgeleiteten Politik der Steuersubventionen in den neuen Bundesländern. Da können Sie immer wieder sagen, das sei nicht wahr - es ist wahr. ({1}) Jeder, der mit dem Baugewerbe zu tun hat, wird Ihnen bestätigen, dass diese Branche die Sonderabschreibungen, die damals vorgenommen worden sind, heute als Last zu verkraften hat. Deswegen ist die Zahl der Arbeitsplätze, die abgebaut worden sind, in den neuen Bundesländern wesentlich höher als im Westen. Jetzt möchte ich einige Zahlen nennen, die Sie vielleicht nicht so genau kennen. Sie haben eben das Thema der Konkurse angesprochen und haben gesagt, welch ein Skandal die hohe Zahl der Konkurse sei. Nun vernehmen Sie einmal die Zahlen, die die Entwicklung der Zahl der Betriebe seit 1995 widerspiegeln: In den alten Bundesländern ging in dem Zeitraum, den ich eben genannt habe und in dem rund ein Drittel der Arbeitsplätze verloren gingen, die Zahl der Betriebe von 56 801 im Jahr 1995 auf 53 542 im Jahr 2001 zurück. Das ist ein Rückgang von ungefähr 3 000 Betrieben oder von ungefähr fünf Prozent. Im Osten ist die Zahl der Betriebe von 18 368 Betrieben im Jahr 1995 auf 18 432 Betriebe im Jahr 2001 gestiegen. Das ist ein Plus von 64 Betrieben. Konkurs ist das eine, Neu- und Wiedereröffnung von Betrieben ist das andere. Wir haben - das kann ich beweisen - eine Zunahme der Bauunternehmungen in den neuen Bundesländern zu verHartmut Schauerte zeichnen; diese Unternehmungen befinden sich aber jeweils auf wesentlich niedrigerem Niveau. Das zeigt: Die Krise der deutschen Bauwirtschaft wird vor allen Dingen auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen. Die Ursachen des Rückgangs der Beschäftigung in diesem Zeitraum gehen nicht auf das Konto der jetzigen Bundesregierung, sondern eindeutig auf das Konto der alten Bundesregierung. Wir haben es angesichts der Krise, die die Bauwirtschaft durchmacht, und der Voraussetzungen, die wir übernehmen mussten, ungeheuer schwer, die Dinge zurückzudrehen. ({2}) Herr Schauerte, das Problem waren nicht nur die Sonderabschreibungen im Osten. Die Bauwirtschaft selbst war keine sich selbst tragende Branche; Sie haben vielmehr mit Ihrer fehlgeleiteten Steuerpolitik künstliche Kapazitäten aufrechterhalten, die dem Bedarf dieser Volkswirtschaft nicht entsprachen. Diese Überkapazitäten verschwinden nur sehr mühsam vom Markt. Mir tut es um jeden Leid, der arbeitslos wird. Aber daran sieht man, wie tief die Dinge auch in unserem System verwurzelt sind. Zuerst gehen die Arbeitsplätze verloren. Die von Ihnen so bedauerten Arbeitgeber sind noch nicht einmal weg vom Markt; deren Zahl erhöht sich vielmehr. Da müssen Sie die Krokodilstränen etwas zurückhalten; zumindest würde ich das Ihnen empfehlen. ({3}) Wir alle wissen - darin sind wir uns einig -: Das größte Problem der Baubranche ist neben dem Nachfragerückgang, den wir zu verzeichnen haben, und der eklatanten Fehlsteuerung, über die ich gerade ausreichend gesprochen habe, der Verfall der Baupreise durch illegale Beschäftigung, durch Schwarzarbeit und durch Lohndumping. Diese Missstände sind nun wahrhaftig nicht in den letzten drei Jahren entstanden. Doch die Opposition, die dieses Thema jahrelang nicht angegangen ist, wird nicht müde, die falschen Ursachen, die falschen Schuldzuweisungen hier vorzutragen. Es hilft nichts - wie Sie das immer machen - bei jedem Lösungsvorschlag auf die möglichen Baupreissteigerungen hinzuweisen. Das ärgert mich. Sie wissen ganz genau - Sie sind ja Ökonom und verhalten sich wie ein solcher -: Für eine Branche, der es seit 1993 nicht gelungen ist, Preissteigerungen durchzusetzen, während der übrigen produktiven Wirtschaft durchaus 5 Prozent Preissteigerung zugestanden wurden, ist es sehr schwer, Eigenkapital zu bilden, etwas für die Qualifikation der Arbeitnehmer zu tun und Innovationen im Produktionsprozess umzusetzen, um sich besser am Markt aufzustellen. Es ist ein riesiges Problem, dass schon seit neun Jahren keine Preissteigerungen durchgesetzt werden konnten. Jeder Vorschlag, den wir machen, wird von Ihnen und allen liberalen Kräften, seien sie an Universitäten oder sonst wo, unisono bekämpft, weil dadurch zwangsläufig die Baupreise stiegen. Das Problem ist, dass immer dann, wenn wir Verbesserungen vorschlagen - sei es die Bekämpfung von illegaler Beschäftigung, Schwarzarbeit oder Verbesserungen bei der Vergabe -, sofort gebrüllt wird: Ja, aber dann steigen auch die Baupreise. Die Bauwirtschaft hat keine Chance, wenn Sie ihr nicht auf politischer Ebene ermöglichen, mit ihren Produkten auf den Markt zumindest eine ähnliche Rendite wie andere Branchen zu erzielen. Wir haben hierfür konkrete politische Maßnahmen vorgeschlagen. Wer ist wie immer, wenn irgendetwas der Opposition nicht gefällt - man muss nur einmal in Ihren Antrag hineinschauen -, schuld? Die Ökosteuer. Das ist hier genauso. Auch in Ihrem jetzigen Antrag steht wieder: Die deutsche Bauwirtschaft krankt und darbt wegen der Ökosteuer. Aber gerade in der Bauwirtschaft, die eine arbeitsintensive Branche ist, haben die Entlastungen bei den Lohnnebenkosten doch Wirkung gezeigt. Die Verteuerung von Energie ist hier mehr als kompensiert worden. ({4}) Vielmehr erwartet das DIW, dass durch die Ökosteuer bis 2003 zusätzliche Arbeitsplätze in und um die Bauwirtschaft herum entstehen, sodass die Bauwirtschaft davon zumindest ein Stück weit profitieren kann. ({5}) Ebenso falsch und geradezu dreist ist es zu behaupten, die Einschränkung befristeter Arbeitsverträge habe dazu geführt, dass es weniger Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft gebe. Genauso dreist ist es zu sagen, der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit - all das steht in Ihrem Antrag - habe zu Problemen geführt. So etwas zu behaupten ist weltfremd und zeigt wenig Kenntnis der Branche. Das wird Ihnen wohl durchgegangen sein, als Sie irgendeinen Mitarbeiter beauftragt haben, diesen Antrag zusammenzuschreiben. Auch die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung wird immer wieder gerne als Argument benutzt, um die Lage zu erklären, hat aber damit nichts zu tun. Jetzt haben Sie sich gerade hier hingestellt und auf das Mietrecht verwiesen. Es gibt überhaupt keinen Zusammenhang zwischen den Zahlen, die ich hier gerade vorgetragen habe - deswegen habe ich ja bewusst auch das Jahr 1995 herausgegriffen -, und der von uns durchgesetzten Verbesserung des Mietrechts. ({6}) Das ist Ideologie und an den Haaren herbeigezogen, hat aber mit sauberer ökonomischer Betrachtungsweise nichts zu tun. ({7}) Es wird Ihnen auch nicht gelingen - obwohl Sie es ja angekündigt haben -, die politische Verantwortung, die Sie tragen, anderen zuzuschieben. ({8}) Sie können darüber gerne mit den Beschäftigten am Bau reden; da werden Sie sich einiges anzuhören haben. Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Unsere Maßnahmen werden langfristig - das dauert eine Weile - Wirkungen zeigen. ({9}) Hinzu kommt, dass wir Gesetze in der Pipeline haben wie das Gesetz zur Bekämpfung von Illegalität und Schwarzarbeit und ein besseres Vergabegesetz. Diese werden aber im Wesentlichen von Ihnen in der Öffentlichkeit immer wieder angeprangert, während Baubranche, Arbeitgeber und ZDH sagen, dass sie dringend gebraucht werden. ({10}) Es wird darauf gedrungen, dass wir endlich zu Potte kommen. Aber es gibt viele, die dagegen sind. Am lautesten schreit die Opposition. Sie sagt hier, die Zukunft der Bauwirtschaft müsse gesichert werden, aber alle Vorschläge werden von Ihnen torpediert. Sie machen nur öffentlich Druck und räumen im Grunde genommen der Bauwirtschaft überhaupt keine Chance ein. Sie machen billige Oppositionspolitik auf dem Rücken der vielen Menschen, die arbeitslos geworden sind. Das wird Ihnen nicht gelingen. Das ist zu durchsichtig. ({11}) - Ich weiß ja, dass die Opposition jetzt reden wird. Deshalb warte ich nicht ab, sondern setze mich hin und bin darauf gespannt, was Sie jetzt sagen. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die FDP-Fraktion spricht die Kollegin Gudrun Kopp.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Lieber Herr Kollege Wiesehügel, die Opposition hat Schuld und eigentlich ist an der katastrophalen Situation des Baugewerbes auf die Schnelle nichts zu ändern. - Da machen Sie es sich wirklich viel zu leicht. ({0}) Ich möchte zu Beginn meiner Rede eine Branche nennen, die boomt: Einen Zuwachs von 6,5 Prozent hat die Schattenwirtschaft zu verzeichnen. ({1}) Die Rentenversicherungsbeiträge werden von 19,1 auf 19,3 Prozent steigen, und zwar trotz Ökosteuerzufuhr, ebenso die Krankenversicherungsbeiträge auf 14 Prozent, Tendenz steigend. Nicht genannt wurde bisher die Regulierungswut in Deutschland, die nach wie vor anhält und ein Riesenproblem darstellt, und zwar insbesondere für die kleinen und mittelgroßen Firmen in der Baubranche, die immerhin 90 Prozent ausmachen. Sie tragen die Hauptlast. ({2}) Herr Schauerte hat die Insolvenzzahlen genannt. In 2002 haben wir im Bauhauptgewerbe - leider - eine Rekordzahl zu erwarten. Im Jahr 2000 war ein Mehr an Firmenzusammenbrüchen um 4,9 Prozent zu verzeichnen, im ersten Halbjahr 2001 war es ein Anstieg um sage und schreibe 14 Prozent. ({3}) Da sagen Sie, Herr Wiesehügel, so schnell könnten Sie keine Gegenmaßnahmen ergreifen. Das nützt den Arbeitslosen wirklich wenig. ({4}) - Sie haben bis zum heutigen Tag über dreieinhalb Jahre versäumt, die schlechte Lage zu verbessern. ({5}) Ich möchte Ihnen noch einmal sagen: In Ostdeutschland sieht die Lage ganz besonders schwierig aus. Sie haben keinerlei Rezepte, sie zu ändern. ({6}) Der Abschwung in der Bauwirtschaft ist insbesondere in den neuen Ländern nicht gestoppt. Wir wissen: Es gibt seit vielen Jahren eine strukturelle Veränderung im Baugewerbe. Das ist richtig. Aber Sie haben es versäumt, bei einer Belebung der Gesamtwirtschaft anzusetzen. Ich nenne Ihnen dazu einige Beispiele. Es gibt weiterhin einen Abwärtstrend im Bereich des Wohnungsbaus. Wir haben Überangebote, Leerstände und eine Verschärfung des Mietrechts. Ich möchte Ihnen noch einmal erklären: Ein Vermieter, der eine Wohnung vermieten möchte, überlegt sich mehrmals, ob sich dies finanziell rentiert oder ob es Probleme rechtlicher Art gibt. Außerdem sinken weiterhin die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau. Das sind alles andere als positive Zeichen. ({7}) Nach Überzeugung meiner Fraktion, der FDP-Bundestagsfraktion, ist die negative Lage im Bauhauptgewerbe nur durch wirklich einschneidende Veränderungen an den ökonomischen Wurzeln zu beheben, die Sie versäumt haben. Ich nenne Ihnen drei Beispiele: Sie haben es bis heute versäumt, eine umfassende und durchgreifende Steuerreform auf den Weg zu bringen. ({8}) Sie haben zweitens versäumt, die Steuer- und Abgabenlasten zu senken, insbesondere - ich sage es noch einmal für die mittelständische Wirtschaft. Drittens haben Sie eine strukturelle Reform der sozialen Sicherungssysteme versäumt. Nichts dergleichen ist bis heute geschehen. ({9}) Natürlich müssen neben solchen einschneidenden Reformen des Staates auch bei den Tarifparteien und den Verbänden flankierende Maßnahmen greifen, um die Schwarzarbeit zu reduzieren. In der jetzigen Situation kann man nur Lohnzurückhaltung empfehlen. Auch das ist ein Beitrag, die Situation zu entschärfen. ({10}) Stärkere Lohndifferenzierung ist hier ebenfalls zu nennen. ({11}) Herr Kollege Wiesehügel, von dem, was Sie vorhin an neuen Initiativen herausgehoben haben, greife ich die Bauabzugsteuer heraus. Wir sollten uns darüber einig sein, dass die Bauabzugsteuer in der jetzigen Form unerträglich ist. Wir dürfen sie nicht länger aufrechterhalten. ({12}) Als Nächstes erinnere ich Sie an das Tariftreuegesetz, das wir Tarifzwanggesetz nennen. ({13}) Wir waren ja gemeinsam mit dem Kollegen Schauerte bei der Anhörung zu diesem Thema. Was haben wir da gehört? ({14}) Wettbewerb werde in weiten Teilen ausgeschlossen, die öffentlichen Bauaufträge hätten im Durchschnitt 5-prozentige Kostensteigerungen zu verzeichnen und Spielräume für Preissenkungen und für Innovationen im öffentlichen Nahverkehr würden leichtfertig verschenkt. ({15}) Sie haben zwar Ihren Gesetzentwurf derzeit auf Eis gelegt - wahrscheinlich deswegen, weil Sie nicht noch mehr negative Zeichen setzen wollten -, aber ich kann Ihnen heute von diesem Platz auch im Namen meiner Fraktion nur noch einmal sagen: Lassen Sie den Unsinn, noch mehr regulieren zu wollen. ({16}) Auch dieses Gesetzeswerk, das Sie auf den Weg gebracht haben, würde bestehende Regulierungen noch verschärfen. ({17}) Wenn die rot-grüne Regierung nicht schnellstens begreift, was sie seit vielen Jahren falsch gemacht hat und sich nicht wenigstens ansatzweise eines Besseren besinnt und zur Einsicht kommt, dann können wir Liberalen im Interesse der Bauwirtschaft und der in ihr Beschäftigten nur hoffen, dass die Zeit bis zum 22. September schnell vergeht. Dieses Theater darf so nicht weitergehen. Danke. ({18})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte die Diskussion für sehr unbefriedigend, ({0}) weil ich den Eindruck habe, dass wir mit einem Schlagabtausch der besseren Rezepte den Problemen nicht entsprechen. Wir befinden uns nämlich historisch gesehen in einer Phase - das hat gar nichts mit Rot-Grün versus alte Koalition zu tun -, in der die Nachfrage eindeutig zurückgeht. Die Phase nach dem Kriege, in der ein immer weiterer Ausbau der Infrastruktur und immer mehr Wohnungs-, Büro- und Gewerbebau erfolgten, ist zu Ende. Heute ist das Wachstum nicht mehr beliebig auszuweiten. Im Osten ist dieser Prozess sozusagen im Hauruckverfahren - Herr Kollege Wiesehügel sprach eben von einer künstlich überhöhten Form - abgelaufen, sodass die Bauaufträge im Moment sturzgeburtartig zurückgehen. ({1}) Von daher bitte ich, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Nachfrage langfristig nicht mehr so wie in den vergangenen Jahrzehnten sein wird. Das gilt heute schon für den Osten und wird zunehmend auch für den Westen gelten. Die Bauwirtschaft muss sich dieser realen Situation schrittweise anpassen. Das Problem wird uns auch deswegen in Zukunft noch mehr beschäftigen, weil wir einen realen Bevölkerungsrückgang zu erwarten haben, während gegenwärtig die Bevölkerung noch stagniert. Hier greife ich als Beispiel den Mietwohnungsbau auf, weil mir die Argumentation in diesem Bereich allmählich über die Hutschnur geht. Inzwischen leben in unseren Land schon weniger als zwei Personen in einer Mietwohnung. Machen Sie am Mietrecht, was immer Sie wollen, Sie können die Leute nicht zwingen, zwei oder drei Wohnungen gleichzeitig zu bewohnen. ({2}) Das können reiche Zweit- und Drittwohnungsinhaber, normale Bürger aber nicht. Das wird auch in Zukunft nicht anders werden. Die Nachfrage ist an einer Sättigungsgrenze angekommen, wenn man einmal von Räumen wie München, Stuttgart und Frankfurt absieht. Ich bitte Sie inständig, dem Westen nicht durch irgendwelche Förderinstrumente - sei es auch im sozialen Wohnungsbau, für den wir in einem solchen Umfang keinen Neubau brauchen - das aufs Auge zu drücken, was im Osten in Sachen Leerstand unschöne Realität ist. Wir müssen auch bereits in einigen Orten im Westen Leerstand und Rückbau organisieren. Reden Sie der Bauwirtschaft also nicht ein, man könne durch Rechtsinstrumente eine künstliche Nachfrage stimulieren, wenn wir diese nicht brauchen. ({3}) Darüber hinaus - auch dies müssen wir sehr ernst nehmen - befindet sich die Bauwirtschaft bei stagnierender oder teilweise rückläufiger Nachfrage in der Situation, dass die Konkurrenz in den letzten Jahren durch Deregulierungsinstrumente, durch Liberalisierung und teilweise durch Lohn- und Kostendumping extrem gestärkt worden ist. Wer weitere Preissenkungen in der Bauwirtschaft fordert, hat wirklich nicht verstanden, wie die reale Situation aussieht. Das Problem ist, dass es inzwischen teilweise eine Verdrängungskonkurrenz auf sehr niedrigem Niveau gibt. Dies ist nicht nur ein Problem der Löhne, sondern auch der Sozialversicherungsbeiträge und der Kosten. ({4}) - Doch, natürlich besteht eine Lohnkonkurrenz mit dramatischen Auswirkungen. Ziel einer Wettbewerbsgesellschaft kann es doch nicht sein, sich durch Konkurrenz praktisch gegenseitig kaputtzumachen. Statt Verdrängungs- und Vernichtungskompetenz zu propagieren müssen wir vielmehr sagen: Was die Bauwirtschaft wirklich braucht, ist eine echte Nachfrage sowie sinnvolle und sinnvoll finanzierte Aufträge. Daher brauchen wir auf beiden Seiten einen Anpassungsprozess, insbesondere im Osten. Die Bauwirtschaft muss sich auf der einen Seite der realen Nachfrage anpassen. Auf der anderen Seite können wir nicht so viel Wettbewerb und Liberalisierung fordern, wie Sie, Frau Kopp, das eben gemacht haben. Wir müssen schon regelnde Instrumente einführen, die so etwas wie eine Bauwirtschaftskultur wieder entstehen lassen. Denn das derzeitige, mit mafiösen Strukturen vergleichbare System des Niederkonkurrierens mit dem Subunternehmertum kann so nicht bestehen bleiben. Die Versuche, die die Koalition mit der Bauabzugsteuer und mit Maßnahmen gegen illegale Beschäftigung macht, sind dringend notwendig, um in diesem Sektor überhaupt wieder klare Wirtschaftsstrukturen einzuführen. Ich hoffe, dass Sie sie auch anerkennen. ({5}) Es kann sein, dass dies noch nicht das Gelbe vom Ei ist. Wir müssen erst schrittweise Instrumente entwickeln, mit denen wir wieder eine klare Struktur für die Bauwirtschaft schaffen können, ohne zu viel Bürokratie aufzubauen. Aber einfach zu sagen, macht eine weitere Deregulierung, dann werden sie sich gegenseitig die Köpfe einhauen und um die letzten Aufträge konkurrieren, kann nicht das Leitbild für die Bauwirtschaft der Zukunft sein. Es tut mir Leid, aber das kann und darf es nicht sein. Insofern sollten Sie die Bemühungen um klare bauwirtschaftskulturelle Strukturen auch im Lohnbereich ernst nehmen. Ich hoffe, wir finden einen Weg, der beiden gerecht wird, der Unternehmerseite ebenso wie der Arbeitnehmerseite. ({6}) Ich möchte noch etwas zur Ökosteuer sagen - der Kollege Wiesehügel hat vorhin darauf hingewiesen -: Wenn ein Bereich von der Ökosteuer sowie unseren energiepolitischen Maßnahmen und der Energiewende profitiert, dann ist es die Bauwirtschaft. Hier ist nicht nur die Ökosteuer indirektes Instrument, sondern gleichzeitig fängt unsere Wirtschaft insgesamt an, energiebewusster zu werden. Dies haben wir deutlich nach vorn gebracht. Dadurch lösen wir momentan die wesentlichen Investitionen aus, die in der Bauwirtschaft gebraucht werden. Es ist nämlich nicht so - ich habe das vorhin geschildert -, dass wir vor der Alternative dauernde Erweiterungsinvestitionen oder keine Investitionen stehen. Vielmehr gibt es einen Bereich, in dem echter Investitionsbedarf besteht und den Rot-Grün nach vorn gebracht hat, nämlich das gesamte Spektrum der Bestandserneuerung in der Infrastruktur, im Verkehrssektor, im Wohnungssektor sowie im sonstigen Bausektor. Das sind Erneuerungsinvestitionen in generelle Modernisierung sowie gezielt in den Bereichen Energieeinsparung und energetische Innovationen. Hier besteht überall im Land Bedarf. In Zusammenarbeit mit dem Bündnis für Arbeit und Umwelt haben wir es geschafft, dass das Energiesparen im Rahmen des Altbausanierungsprogramms mit 2 Milliarden DM gefördert wird. Hier werden Arbeitsplätze geschaffen, und zwar dezentral über das gesamte Land verteilt. In jeder Region, in jeder Stadt schaffen wir also mit diesen kleinteiligen Investitionen, die der regionalen Bauwirtschaft und dem Mittelstand vor Ort nützen, vielfältige und arbeitsintensive Arbeitsplätze. Diesen Prozess werden wir weiter vorantreiben. ({7}) Von daher weiß ich überhaupt nicht, wie Sie auf die Idee kommen, in diesem Zusammenhang die Ökosteuer anzugreifen. Der nächste Punkt betrifft die Infrastrukturoffensive. Insbesondere im Verkehrsbereich haben wir die Infrastrukturinvestitionen schrittweise wieder nach vorne gebracht und stabilisiert. In der Städtebauförderung haben wir das mit den Programmen Soziale Stadt, Stadtumbau Ost, CO2-Minderung und Altbausanierung erreicht. Auch im Verkehrssektor haben wir die Zahlen wieder eindeutig erhöht. Dabei setzen wir nachweisbar nicht nur auf die Straße, sondern auch auf die Schiene, und damit auf einen Bauwirtschaftsbereich, der sehr viel arbeitsintensiver ist. Denn die Arbeiten im gesamten Schienenund Eisenbahnbereich - auch im Tiefbaubereich - sind sehr viel differenzierter und berühren sehr viel mehr Branchen. Es ist wichtig, zu erkennen, dass es nicht nur bestimmte Quadrat- oder Kubikmeterzahlen Asphalt oder Beton bringt, und man nicht lediglich den laufenden Meter berücksichtigt. Erforderlich ist vielmehr ein Umstrukturieren im Verkehrsbereich, das auf ökologische Ziele gerichtet ist. Damit nutzen wir der Bauwirtschaft und den dort vorhandenen Arbeitsplätzen. Ich würde mir wünschen, dass Sie das positiv sehen, statt einfach nur zu sagen, dass das der falsche Weg sei. Last, not least sollten wir nicht so tun, als ob wir der Bauwirtschaft riesige weitere Wachstumssprünge versprechen können. Auf zwei Punkte lege ich Wert: Erstens. Wir müssen die Wirtschaftsstrukturen stabilisieren, und zwar sowohl auf der Unternehmens- als auch vor allem auf der Arbeitsplatzseite. Außerdem muss angemessen entlohnt werden; das Lohndumping muss eingedämmt werden. Ich weiß, dass wir Schwierigkeiten haben, die richtigen Instrumente dafür zu finden. Trotzdem ist es ein wichtiges Ziel. Ich hoffe, dass auch die Opposition das so sieht. Von daher: Stabilisierung in dem gesamten Bereich, aber keine falschen Wachstumserwartungen wecken, wenn wir sie nicht erfüllen können; Sie können das übrigens genauso wenig. Zweitens. Wir dürfen nicht mit falschen Erwartungen, sondern wir müssen mit klaren Zielen an die Aufgaben herangehen. Wir müssen der Bauwirtschaft sagen, dass sie ihren Beitrag zur Bauwirtschaftskultur selbst erbringen muss; denn es kann nicht sein, dass sich die einzelnen Unternehmen bei dieser Kostenkonkurrenz gegenseitig kaputtmachen. Sie selbst muss ein Stück weit darauf achten, dass Maßnahmen für die Wirtschaftskultur nicht nur von der Politik, sondern auch von den Wirtschaftsakteuren selbst durchgeführt werden; auch diese müssen sich einbringen. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Rolf Kutzmutz für die PDS-Fraktion das Wort.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind nicht weniger als vier Anträge, die innerhalb einer Stunde behandelt werden sollen. Die Redezeit reicht dafür bei weitem nicht aus. Deshalb möchte ich voranstellen: Es kommt nicht sehr häufig vor, dass man auf Fragen überwiegend fundierte Antworten erhält. Ich möchte der Bundesregierung für die Antwort auf unsere Große Anfrage ausdrücklich danken, weil sie eine Menge Fakten enthält, die, wie ich meine, uns bei der künftigen Arbeit durchaus voranbringen können. Wer die Fakten ernsthaft zur Kenntnis nimmt, würde sich viel von der ideologisch gefärbten heißen Luft verkneifen, die auch in dieser Debatte wieder eine Rolle gespielt hat. ({0}) Er würde nämlich erkennen, dass die von Schwarz-Gelb propagierten alten Rezepte den meisten Bauunternehmen und all ihren Beschäftigten nicht einen Millimeter weiterhelfen. Ich will hier deutlich sagen: Wir kennen die Argumente und werfen sie uns gegenseitig an den Kopf. Neue Lösungsvorschläge jedoch, die das Tor öffnen, damit die, die auf dem Bau arbeiten, wieder eine Chance sehen, haben bisher gefehlt. Frau Eichstädt-Bohlig hat sehr viel Kritisches gesagt, was ich unterstütze. Ein einfaches „Weiter so!“ wird es nicht geben. ({1}) Herr Rauen wird anschließend noch sprechen. Ich habe heute früh in die Tickermeldungen geschaut. Das, was er vorgeschlagen hat, war für mich sehr interessant: Sie fordern, dass die öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur in Zeiten wie jetzt dringend hochgefahren werden müssen. - Darüber haben wir viel diskutiert. Zugleich sagen Sie aber, dass wir verstärkt auf private Gelder setzen sollen. Und dann: Aber der langfristige Sparwillen muss trotzdem erhalten bleiben. ({2}) Das Geld muss doch aber von irgendwo herkommen. ({3}) Ich unterstelle Ihnen nicht - dazu werden Sie sich sicherlich gleich äußern -, dass Sie die Einnahmen aus der Vermögensteuer, die wir gerne einführen würden, dazu nutzen wollen, um das Baugewerbe voranzubringen. ({4}) - Nur, wenn man sie einmal ausgibt, kann man sie nicht mehr als Argument benutzen. Das haben Sie auch beim Jäger 90 nicht gemacht. Eine zweite Sache. Frau Kopp, Sie haben über die Schwarzarbeit gesprochen. Was mir dabei auffällt, ist, dass wir zwar fast alle Steigerungsraten bei der Schwarzarbeit deklarieren können. Das Problem, das wir haben, aber ist, die Schwarzarbeit zu erkennen und sie einzuschränken. Das haben wir bisher nicht gelöst. ({5}) Das Problem ist doch aber nicht, dass Sie mich vielleicht bitten, bei Ihnen Fliesen zu verlegen. Das Problem ist vielmehr, dass eine Menge von Betrieben, die sich über Schwarzarbeit erregen, sie selbst organisieren, sonst würde es auf Baustellen nicht dazu kommen. ({6}) - Ich kann das machen, Frau Kopp. Ich habe es öffentlich angeboten. Das ist kein Problem. Ich komme zu einem anderen Punkt, bei dem das Gedächtnis ebenfalls relativ kurz ist. Wenn man von öffentlichen Investitionen redet, muss man auch über die Finanzausstattung der Kommunen sprechen. Es gehört zur Wahrheit, zu sagen, dass den Kommunen in Deutschland von 1980 bis 1997 insgesamt etwa 86 Milliarden DM durch die unterschiedlichen Steuerfestlegungen entzogen worden sind. Wenn man heute über die Bedingungen redet, muss man auch die Bedingungen von damals hinzunehmen. Das Schlimme daran ist, dass diese Politik fortgesetzt worden ist. ({7}) Ihnen von Rot-Grün werfe ich vor, dass sich die Finanzausstattung der Kommunen unter Ihrer Regierung nicht verbessert hat, sondern dass auch Sie mit den Steuergeschenken an die Wirtschaft auf das Prinzip Hoffnung gesetzt haben. Es sind keine neuen Arbeitsplätze entstanden. Es ist kein Ruck durch Deutschland gegangen. Aber die Kommunen leiden unter der Finanzknappheit. Der Grund für die knappen Haushalte - das will ich ausdrücklich sagen - ist nicht die Ökosteuer. Das ist nicht der entscheidende Punkt, obwohl ich dazu eine andere Meinung als die Grünen habe. Die Gewerbesteuer- und die Körperschaftsteuereinnahmen fehlen. Ohne diese gibt es kein Wachstum bei öffentlichen Investitionen. Diese wiederum sind wichtig für das Gemeinwohl und die Bauwirtschaft, weil daraus Aufträge entstehen. ({8}) Die Antwort der Bundesregierung belegt beispielsweise: Die Pro-Kopf-Investitionen der ostdeutschen Kommunen befinden sich seit ihrem Höhepunkt 1992 praktisch im freien Fall. Berücksichtigt man den noch immer bestehenden Nachholbedarf, gerade auch im Sinne eines ökologischen und sozialen Umbaus, und die geringere Bevölkerungsdichte, dann klafft die Investitionsschere zwischen Ost und West wieder weiter auseinander. Das hat langfristig verheerende Konsequenzen. Abwanderung ist nur eine davon, aber sicherlich eine ganz dramatische. ({9}) Die rot-grüne Steuer- und Haushaltspolitik trägt auch an dieser Entwicklung in der Bauwirtschaft einen erheblichen Anteil. Es gibt dazu viel zu sagen. Ich will nur anführen: Manches von dem, was Sie in Angriff nehmen, zum Beispiel die vernünftige Verankerung der Tariftreue beim Vergaberecht, wird konterkariert, wenn man nicht dafür sorgt, dass Geld in die Kassen der Kommunen fließt und damit öffentliche Aufträge vergeben werden können. Das Gesetz zum Vergaberecht kann eine Vorbildwirkung erfüllen. Das will ich ausdrücklich sagen und auch nicht weiter vertiefen. Aber all denen, die über Deregulierung sprechen, will ich Folgendes entgegenhalten: Ein Mannheimer Baustatiker hat vor kurzem in einer Fachzeitschrift geschrieben: „Deregulierung fördert den Pfusch.“ Ich glaube, diesen Punkt müssen wir unbedingt aufnehmen. ({10}) Mein letzter Satz, Herr Präsident: Die Maßstäbe für das Bauen müssen aus meiner Sicht vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ökologisch, sozial und auch betriebswirtschaftlich müssen Fehlentwicklungen vermieden werden. Bei Großprojekten wie das für den Großflughafen Schönefeld, aber auch bei vielen Autobahnen und manchen Fernbahntrassen sollten wir das Credo beherzigen: Wir bauen, um besser zu leben. Aber wir leben nicht unbedingt besser, weil wir bauen. Danke schön. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär, dem Kollegen Dr. Ditmar Staffelt, das Wort.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schauerte, lassen Sie mich mit Ihrer Anmerkung zum Thema Wachstum beginnen. Sie werden sich daran erinnern, dass Bundesminister Müller in diesem Hause erst vor wenigen Wochen darauf aufmerksam gemacht hat, dass auch die Opposition sehr vorsichtig sein sollte, mit Wachstumszahlen zu jonglieren. Ich wiederhole: Zwischen 1992 und 1997 lag die durchschnittliche Wachstumsrate der deutschen Volkswirtschaft bei 1,2 Prozent. Dieses Wachstum haben Sie zudem mit einem Volumen von rund 50 Milliarden DM über Sonderabschreibungstatbestände für Investitionen in Ostdeutschland angeheizt und unterbaut. Zwischen 1998 und 2001 lag die durchschnittliche Wachstumsrate bei 1,6 Prozent. Ich bitte daher darum, sich bei all den Diskussionen, die Sie führen, einigermaßen an objektive Maßstäbe zu halten. Sie scheinen bei Ihrer Rede gänzlich den Überblick über die Dimensionen verloren zu haben. ({0}) Ich will an dieser Stelle noch eines zu den Begründungen sagen, die hier angeführt werden. So heißt es unter anderem, die Novellierung des Mietrechts sei eine ganz große Katastrophe. Ich will gar nicht über den Inhalt streiten. Allein die Tatsache, dass das neue Mietrecht am 1. September des letzten Jahres in Kraft getreten ist, muss dafür herhalten, eine Rückwärtsbetrachtung über die letzten Jahre zu begründen. Das ist doch geradezu lächerlich, meine Damen und Herren von der Opposition, und greift in keiner Weise. ({1}) Dasselbe gilt für die Bauabzugsteuer. Wir haben die Bauabzugsteuer eingeführt, weil neben den Gewerkschaften insbesondere die Unternehmerschaft dieses Gesetz wollte. Es sollte ein Beitrag dafür sein, wieder ein Stückchen Ordnung in den Bereich der Bauwirtschaft einzuführen. Im Übrigen: Ich habe mich selbst davon überzeugt und bei Finanzämtern angerufen - man weiß ja nie, wie das mit Behörden ist - und nachgefragt, was ich denn tun müsse. Es ist völlig unbürokratisch und unproblematisch gelaufen: formloser Antrag und schon geht es los! Niemand, der ordentlich versteuert, kommt in irgendeine Form der Verdrückung, wenn er auf der Grundlage dieses Gesetzes handelt. ({2}) Noch ein Wort zur Tariftreue: Sicherlich kann man sehr viel über die Methodik streiten und unterschiedliche Wege beschreiten. Ohne jede Frage sind es nicht nur die Gewerkschaften, die das anmahnen. Auch der Bauindustrieverband ({3}) - der Bauindustrieverband, Herr Schauerte, natürlich! -, der Zentralverband des Deutschen Handwerks und weitere verschiedenste Vertreter der Gewerke mahnen Tariftreue an. Sie alle wollen endlich, dass die redlichen Handwerker in diesem Lande wieder eine Chance am Markt haben und nicht jene bevorzugt werden, die sich nicht an die Spielregeln halten. ({4}) Ich füge noch eines hinzu: Es gibt Beispiele in den Vereinigten Staaten von Amerika. Einige Staaten haben ein so genanntes Tariftreuegesetz eingeführt, andere haben es nicht. Es hat sich eines gezeigt - ich kann Ihnen gerne einmal bei Gelegenheit die entsprechende wissenschaftliche Auswertung überreichen -: Dort, wo Tariftreuegesetze existieren, ist die Qualifizierung der Arbeitnehmerschaft weitaus besser, ist die Qualität am Bau weitaus besser, ist der Stand der Technisierung - mit Auswirkungen auf die Struktur der Bauwirtschaft - sehr viel höher. Schließlich hat es - über einen längeren Zeitraum gesehen - auch keine nennenswerten Preissteigerungen in diesen Staaten gegeben. Schauen Sie doch einmal objektiv auf die Tatbestände und klotzen Sie nicht nur. Das wird Ihnen in der Sache nicht weiterhelfen. Die Wählerinnen und Wähler, die Sie vermeintlich anzuwerben glauben, werden Ihnen in einer solch unsachlichen Weise nicht folgen können. ({5}) Wir haben zahlreiche andere Maßnahmen eingeführt, um - ich wiederhole es - ein Stück mehr Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen. Sie wissen das; ich brauche das hier nicht zu wiederholen. Wir haben das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen verabschiedet. Wir werden auch die neuen Vorschläge, die es vonseiten des Bundesrates gibt, prüfen; das steht völlig außer Frage. Sie haben in Ihrem Antrag die EU-Osterweiterung angeführt und zählen auf, was wir alles tun müssten. Längst aber sind durch diese Bundesregierung Übergangsfristen hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit geschaffen worden. Ich sage Ihnen noch eines: Werben Sie doch mit uns gemeinsam bei den Unternehmerinnen und Unternehmern gerade in den grenznahen Gebieten in unserem Lande dafür, sich stärker für die neuen Märkte zu interessieren und stärker mit den Polen und Tschechen zu kooperieren, damit aus dieser Veranstaltung eine Erfolgsstory für die kleinen und mittleren deutschen Unternehmen werden kann. Die Bundesregierung wird alles tun, um diesen Prozess zu unterstützen. ({6}) Lassen Sie mich noch etwas zur Steuerreform anmerken, die letztlich für alles herhalten muss. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass alles, was wir unternommen haben, mit den Verbänden abgesichert war und dass die Steuerreform, die - das haben Sie völlig beiseite geschoben - mit Ihrer Zustimmung, übrigens auch mit der der FDP, im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss zustande gekommen ist, eine gute Grundlage für die Entwicklung unserer Volkswirtschaft bildet. ({7}) Es ist klar - der Sachverständigenrat hat das noch einmal ausdrücklich unterstrichen -, dass ein Vorziehen der Steuerreform nichts bringt. Deswegen machen wir das auch nicht. ({8}) Auch Konjunkturprogramme, wie sie von Ihnen angemahnt worden sind und Herr Stoiber sie erwähnt hat, bringen nichts, sondern stellen allerhöchstens eine kurzfristige Blase dar, die letztlich platzt. Strukturell hätten wir nichts erreicht, einzig vom Konsolidierungskurs würden wir abkommen und gegen europäische Verpflichtungen verstoßen. Das kann doch keine seriöse Politik sein, Herr Schauerte. ({9}) Und schließlich: Es gibt zahllose Maßnahmen zur Verstetigung der Baunachfrage in unserem Land. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat viele der Maßnahmen, die ohnehin in der Pipeline waren, umstrukturiert und vorgezogen. Das betrifft den Straßenbau, den Ausbau der Schienenwege und den Wohnungsbau. ({10}) Dabei handelt es sich um Milliardenbeträge. Nehmen Sie nur die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur: 37 Milliarden Euro in dieser Wahlperiode plus 6,5 Milliarden Euro zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden. Oder denken Sie daran, dass wir im Vergleich zum Vorjahr die Mittel für die Straßenbauleistungen noch einmal um 10 Prozent aufgestockt haben. Das Antistauprogramm wird ebenso seine Wirkung zeigen. Außerdem haben wir die Initiative „Bauen jetzt - Investitionen beschleunigen“ gestartet und versuchen, insbesondere in den strukturell benachteiligten Bereichen, wirksam zu werden. Meine Damen und Herren, ich füge hinzu: Lassen Sie die Kirche im Dorf, wenn Sie an dieser Stelle argumentieren. Die Strukturen sind - das ist bereits ausgeführt worden - durch das Gebietsfördergesetz und die 50-prozentige Sonderabschreibung für Neubauten in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung von Ihnen versaut worden. Das bewirkte ein Aufblähen der Baukonjunktur, das durch nichts gerechtfertigt war. An dieser Stelle sollte Ihr kritisches Nachdenken beginnen. ({11}) Ich möchte noch auf eines zu sprechen kommen, das mir auch sehr wichtig ist. Wir versuchen, auch etwas für die Qualität und die Strukturen zu tun. So haben die Energieeinsparverordnung oder das KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramm ein Volumen von ungefähr 25000 Arbeitsplätzen gesichert oder neu geschaffen. In diesen Bereichen führen wir das Bauen in eine neue qualitative Stufe. Daran sollten Sie sich orientieren. Es geht nämlich nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität und Strukturwandel in der Bauwirtschaft. Das ist unser großes Anliegen. Vor diesem Hintergrund haben wir kein Problem, jedermann mit großem Selbstbewusstsein zu sagen, was wir auf dem Felde der Unterstützung der Bauwirtschaft in schwieriger Lage getan haben. Danke schön. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Peter Rauen spricht für die Fraktion von CDU und CSU. ({0})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als jemand, der aus der Branche kommt, bin ich dankbar dafür, dass heute Morgen von allen Parteien unterstrichen worden ist, dass die Lage in der Bauwirtschaft verheerend ist. ({0}) Da unser Antrag schon seit einem halben Jahr vorliegt, wäre ich auch dankbar gewesen, wenn heute Morgen Bauminister Bodewig und Wirtschaftsminister Müller anwesend wären. Die Bauindustrie war und ist eine Schlüsselindustrie. In der Vergangenheit war sie eine Konjunkturlokomotive, wenn es nach einer Rezession wieder aufwärts gegangen ist. Auch das ist wohl heute noch genauso. Aber der Wandel, den wir in der Bauwirtschaft erlebt haben, ist schon gravierend. Herr Wiesehügel hat zu Recht festgestellt, dass die Baupreise 2001 nominal niedriger waren als vor etlichen Jahren: Trotz Lohnerhöhungen und eines Kostenschubs bei den Energiekosten sind die Baupreise 2001 nominal niedriger gewesen als 1995! Seit 1995 ist die Zahl der in der Baubranche Beschäftigten um 500 000 - das ist mehr als ein Drittel - zurückgegangen. Das gab es in keiner anderen Branche. Im letzten Jahr waren in der Bauwirtschaft insgesamt 265 400 Menschen arbeitslos. Das sind fast 28 Prozent. Die Situation in den alten Bundesländern ist sicherlich schon dramatisch genug. Aber in den neuen Bundesländern ist sie noch schlimmer. Dazu kann ich nur sagen: Die Insolvenzzahlen wiesen schon Mitte der 90er-Jahre eine stark steigende Tendenz auf. Diese hat sich aber noch verstärkt. Laut Statistischem Bundesamt gab es 1995 5 539 Insolvenzen und 2001 9 026. Holzmann ist nicht dabei. Es hat keinen Sinn, zu glauben, für die Krise in der Bauwirtschaft gebe es Tausende von Ursachen. Ich mache mir seit mindestens 15 Jahren - ich bin seit 36 Jahren selbstständig - Gedanken darüber, wohin die Entwicklung in der Baubranche geht. Ich habe im Wesentlichen zwei Ursachen für den Verfall der Bauwirtschaft ausgemacht. Erstens. Die Bauwirtschaft ist wie kein anderer Wirtschaftszweig durch die permanent zunehmende Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft belastet. Zweitens. Die Baubranche ist durch illegale Beschäftigung leider kriminalisiert. Wir müssen feststellen, wo die Ursachen dafür liegen. Die Ursachen sind für mich, liebe Freunde, völlig klar: In keiner anderen Branche ist der Unterschied zwischen dem, was der Arbeitnehmer netto verdient, und dem, was er brutto kostet, so groß wie in der Bauwirtschaft. Heute muss ein Facharbeiter fünf bis sechs Stunden arbeiten, um seine legale Arbeitsstunde zurückkaufen zu können. Das ist die Wurzel des Übels, der Schattenwirtschaft in Deutschland. ({1}) Das ist einer der Gründe, warum sich in der Bauwirtschaft die illegalen Beschäftigungsformen so ausgeweitet haben. Die große Spanne zwischen dem, was die Arbeitnehmer nach deutschem Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht netto bekommen, und dem, was die Arbeitnehmer brutto kosten, ist die Spielwiese für diejenigen, die gegen das geltende Recht verstoßen. ({2}) - Herr Wiesehügel, lassen Sie solche Zwischenrufe bitte sein! Das Thema ist viel zu ernst. Ich bin der Meinung, dass wir darüber qualifiziert reden müssen. Ich möchte ja einen Mann wie Sie, Herr Wiesehügel, der als Vertreter der Arbeitnehmer bei der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung mithelfen kann, gerne überzeugen. Ich habe gestern einmal nachgerechnet, was es bedeuten würde, wenn die jetzt gestellte Lohnforderung in Höhe von 4,5 Prozent tatsächlich durchkäme - ich wünsche es meinen Leuten; denn ich bin der Meinung, dass sie netto zu wenig verdienen -: Ein Spezialbaufacharbeiter, der vorher 13,98 Euro pro Stunde verdient hat, bekäme dann 14,61 Euro. Was bleibt ihm netto übrig? Ihm bleiben netto 1 449 Euro übrig. Das sind im Vergleich zu dem, was er vor der Lohnerhöhung verdient hat, leider nur 44,19 Euro mehr. Was kostet eine solche Lohnerhöhung den Unternehmer? Eine solche Lohnerhöhung kostet den Unternehmer 158,29 Euro mehr. Das heißt also, damit die Mitarbeiter netto lächerliche 44,19 Euro mehr bekommen, muss der Unternehmer 158,29 Euro mehr aufwenden. Es verschwinden also gut 114 Euro in den öffentlichen Kassen. Lassen Sie uns doch einmal darüber nachdenken! Es kann doch nicht wahr sein, dass bei einer Lohnerhöhung um 1 DM nur vier Groschen beim Arbeitnehmer ankommen, dem Betrieb aber Mehrkosten in Höhe von 1,50 DM entstehen! Sie müssen doch begreifen, dass dann, wenn wir die Ursache für dieses Übel nicht beheben, nur der Zwang der Menschen, sich ökonomisch zu verhalten, also in die Schwarzarbeit zu gehen, verstärkt wird und dass noch mehr Kräfte wirken werden, illegale Strukturen aufzubauen. Entgegen allen Versprechungen Ihrer Regierung ist es leider nicht gelungen - es ist auch uns seinerzeit nicht gelungen -, die Lohnzusatzkosten zu senken. Wir sind mit den Sozialversicherungsbeiträgen im Jahr 2002 wieder auf genau dem Niveau angelangt, auf dem wir 1998 waren. Das ist Fakt. Dennoch müssen die Betriebe mit der Ökosteuer und anderem enorme Kostenschübe verkraften, ohne dass sie das über die Preise weitergeben können. ({3}) Die Rechnung, die Sie einmal aufgestellt haben, nämlich die Ökosteuer einzuführen, um die Rentenversicherungsbeiträge zu reduzieren, stimmt nicht mehr. Das ist aufgefressen worden. Den Menschen, der seine Lohnabrechnung bekommt, interessiert nicht, ob das Geld an die Krankenkasse, ans Finanzamt oder in die Pflegeversicherung geht; er stellt nur fest, dass ihm von dem, was er verdient, netto immer weniger übrig bleibt. Wenn wir keine Umkehr schaffen, dann werden wir dem nicht gerecht werden, was mit Europa auf uns zukommt. Wir haben gesagt: Europa, das ist der freie Verkehr von Menschen, Waren und Dienstleistungen. Die Menschen verhalten sich jetzt so, wie wir Politiker es wollten. Ich finde es auch völlig normal, dass Menschen aus anderen Ländern bei uns arbeiten. Über eines war ich aber schon erstaunt: Ich war vor einiger Zeit in Portugal, wo es einen riesigen Bauboom gibt. Ich habe geguckt, wer dort arbeitet, weil ja die Portugiesen in Deutschland, in Frankreich und in Luxemburg arbeiten. Dort in Portugal arbeiten die Marokkaner. Wenn man guckt, wer in Tschechien oder in Polen auf dem Bau schafft, dann stellt man fest, dass es die Ukrainer, die Letten und die Weißrussen sind. Diese Migration findet also statt. Wenn wir in Deutschland glauben, wir könnten in unserem Sozialstaat zulassen, dass eine solch große Spanne besteht zwischen dem, was Menschen verdienen, und dem, was sie letztlich ausgeben können, und dem, was brutto an Arbeitskosten produziert wird, dann werden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht bestehen. Ich komme zum letzten Punkt. Es ist evident, dass das mit dem Thema zu tun hat, und darauf ist auch der Herr Staatssekretär eingegangen. Es findet leider ein Rückgang der öffentlichen Investitionen statt. Fakt ist, dass der Bund im Jahr 2002 - er geht da mit schlechtem Beispiel voran - 5 Milliarden Euro weniger investiert als 1998. Das ist keine Fantasie von mir, sondern das ist Fakt; das kann man im Bundeshaushalt 2002 nachlesen. Die Bauinvestitionen des Bundes sind im Jahr 2001 gegenüber dem Jahr 2000 um 6,6 Prozent zurückgegangen. Sie gehen nach den Planungen nun wiederum um 6,2 Prozent zurück. Das heißt, der gepriesene Finanzminister Eichel hat seinen Haushalt über die Investitionen konsolidiert. Das ist genau der falsche Weg. Er hätte über die Ausgaben konsolidieren müssen. Das hat er aber nicht geschafft. Er hat die Kraft dazu nicht gehabt. ({4}) Nun kann man sagen: Für die Bauwirtschaft spielt der Bund nicht die große Rolle; die Investitionen der Gemeinden sind für die Bauwirtschaft am wichtigsten, und zwar flächendeckend. Es ist aber leider die Wahrheit, dass mit der Steuerreform die Finanzen der Gemeinden ruiniert worden sind. ({5}) Sie haben weit mehr Steuerausfälle zu verkraften, als dass sie ihre Investitionsvorhaben noch auf den Weg bringen könnten. ({6}) Hier sind ja viele, die kommunal tätig sind, vielleicht sogar bei der Zuhörerschaft. Wer auch nur drei Jahre in einem Gemeinderat war, der weiß: Wenn bei den Einnahmen auch nur ein Stückchen wegbricht, dann trifft das die Spitze der frei verfügbaren Finanzen und damit vor allem die Investitionen. Wir haben also die verheerende Situation eines sich selbst beschleunigenden Abschwungs in der Bauwirtschaft. Da steht uns noch etwas bevor und von dieser Regierung wird nicht gegengesteuert! ({7}) Herr Kutzmutz, lassen Sie mich ganz kurz noch auf eines eingehen. Wenn schon keine Haushaltsmittel verfügbar sind, mit denen etwas finanziert werden kann, dann muss ein Stückchen Fantasie entwickelt werden. Wir wissen, was es auch in den neuen Bundesländern an planfestgestellten Maßnahmen gibt. Die müssen morgen finanziert werden. Wenn der Staat schon keine Finanzierungen mehr übernehmen kann - denn er hat sich verrannt -, dann muss er zumindest privates Geld mobilisieren, damit die entstandene Infrastrukturlücke und auch die in den neuen Bundesländern bestehende hohe Produktivitätslücke endlich geschlossen werden und es zu einem selbst tragenden Aufschwung kommt. Zur Konzessionsabgabe sagen die Grünen: Das ist ein Griff auf zukünftige Haushalte. - Das stimmt; Sie haben Recht. Aber die Alternativen sind folgende: entweder die Volkswirtschaft noch weiter in den Keller zu fahren oder privates Kapital zu mobilisieren, ({8}) damit Investitionen zu ermöglichen und dann mit einer klaren Ausgabenkonsolidierung zukünftig Spielräume zu schaffen, damit wir anstehende Baumaßnahmen finanzieren können. ({9}) Ich komme aus der Branche und habe keine Freude an der derzeitigen Entwicklung. Nur, wie untätig und desinteressiert die derzeitige Regierung in diesem Bereich ist, das ist wirklich schlimm. ({10}) - Herr Staffelt hat gesagt, was getan wird. Zum Kollegen Schauerte habe ich daraufhin gesagt: Das Schlimmste ist, dass er glaubt, was er sagt, nämlich dass die Maßnahmen der Regierung ausreichen. Sie reichen nicht aus. Ich bin nicht böswillig; aber ich möchte auf Folgendes hinweisen: Es muss Entscheidendes geschehen, wenn wir in Deutschland das Problem der Arbeitslosigkeit insbesondere im Baubereich lösen wollen. Schönen Dank. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dieter Maaß ({0}). Er spricht für die SPD-Fraktion.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal beschäftigt sich der Deutsche Bundestag mit der Lage in der Bauwirtschaft. Seit 1995 ist der Auftragseingang in der Branche rückläufig. Die Zahl der Beschäftigten geht zurück. Dieser Trend scheint - zumindest im Westen - gestoppt, allerdings auf niedrigem Niveau. Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, die Maßnahmen darzustellen, die die Bundesregierung und die sie tragende Koalition seit 1998 ergriffen haben, um die Rahmenbedingungen für alle im Baubereich Tätigen zu verbessern. ({0}) Was fanden wir bei der Regierungsübernahme vor? Die von CDU/CSU und FDP gewährte 50-prozentige steuerliche Sonderabschreibung in den neuen Bundesländern hat zu erheblichen Überkapazitäten am Bau geführt. Wie keine andere Branche leidet die Bauwirtschaft unter den Problemen der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung, die von der Regierung Kohl nicht bekämpft worden sind. ({1}) Unsere höchste Belastung ist die hohe Staatsverschuldung: 1 500 Milliarden DM allein beim Bund. Dafür tragen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP - ich kann es Ihnen nicht ersparen -, die Verantwortung. Wir haben mit dem Schuldenabbau begonnen und halten trotz geringen Wirtschaftswachstums daran fest. Darüber hinaus haben wir eine Steuerreform durchgesetzt, durch die die Unternehmen entlastet worden sind. Dies gilt auch für mittelständische Unternehmen, obwohl von Interessengruppen oft anderes behauptet wird. ({2}) Um die Lohnnebenkosten, die Kosten der Arbeit, zu senken und den Verbrauch von Ressourcen zu lenken, haben wir die Ökosteuer eingeführt. Dazu stehen wir, auch im Wahljahr. ({3}) Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendegesetz verbessert, um die legale Beschäftigung zu sichern. Zu unseren haushaltspolitischen Maßnahmen im Hinblick auf die Bauwirtschaft: Insgesamt stellen wir 2002 allein für die Bereiche Wohnungswesen und Städtebau Investitionen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro zur Verfügung. ({4}) Zusätzliche Finanzmittel für Investitionen aus der Zinseinsparung durch den Verkauf der UMTS-Lizenzen fließen in die Infrastruktur. In einem Zeitraum von zwei Jahren macht dies für die Instandhaltung und den Neubau bei Schiene und Straße fast 4,5 Milliarden Euro aus. Für das Anti-Stau-Programm werden bis 2007 rund 3,8 Milliarden Euro bereitgestellt. Wir haben die Mittel für die Städtebauförderung letztes Jahr auf 434 Millionen Euro erhöht. Für den Stadtumbau sind es bis 2005 jährlich 153 Millionen Euro. ({5}) Das Wohngeld - wir bezeichnen es als indirekte Investition - ist um 3,75 Millionen Euro jährlich gesteigert worden. Mit unseren Reformen des Wohnbaurechtes fördern wir gezielt im Wohnungsbestand und haben dabei auch dem genossenschaftlichen Wohnungsbau eine höhere Bedeutung zugemessen. Wir helfen mit diesem Gesetz den Beziehern niedriger Einkommen, zu Wohneigentum zu kommen. ({6}) - Das würde ich nicht sagen. - Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, sind währenddessen nur um die Bezieher von Jahreseinkommen über 123000 Euro besorgt. Das KfW-Programm zur Wärmedämmung schafft Arbeitsplätze in Klein- und Mittelbetrieben. ({7}) Angesichts der immensen Verschuldung, die uns die Regierung Kohl hinterlassen hat, sind diese Investitionen das Maximum des Möglichen, um Arbeitsplätze am Bau zu sichern. Bevor Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, weitere Ausgaben fordern, sollten Sie erst einmal erklären, wie Sie diese Forderungen mit dem Ziel des Schuldenabbaus in Einklang bringen wollen. Weiter gehende Investitionsprogramme sind nur möglich, wenn wir in eine höhere Staatsverschuldung gehen. Das will aber niemand: weder die Koalition noch die Regierung und auch nicht die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. ({8}) Die Forderung der FDP nach Deregulierung ({9}) kommt für uns Sozialdemokraten nicht infrage. Wir wollen keine Liberalisierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und keine Flexibilisierung des Tarifrechts durch die Einführung von gesetzlichen Öffnungsklauseln. § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes lassen wir unverändert: Betriebsräte können nicht Tarifvertragspartei sein. ({10}) In einigen Monaten endet die 14. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. ({11}) Wir Sozialdemokraten und unser Koalitionspartner haben aber noch zwei Gesetzentwürfe in den Beratungen der Ausschüsse, die die Rahmenbedingungen der Bauindustrie verbessern sollen. Da ist zum einen das Gesetz zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit und zum anderen das Gesetz zur Tariftreue im Vergaberecht. In einer der nächsten Sitzungen stehen sie hier zur Entscheidung an. Wir wollen mit diesen Gesetzen die Arbeitnehmer, die Unternehmen, aber auch unsere Sozialsysteme vor Sozialdumping schützen. Ich bitte Sie hier und heute: Helfen Sie uns dabei und geben Sie diesen Gesetzen Ihre Zustimmung! Danke schön. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 14: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8504 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Offensive für die Bauwirtschaft“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6315 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Zusatzpunkt 13: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8506 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Zukunft der deutschen Bauwirtschaft“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7297 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Zusatzpunkt 14: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8507 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Mehr Chancen für die Bauwirtschaft durch weniger Regulierung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7458 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der FDP bei unterschiedlichem Abstimmungsverhalten der CDU/CSU - teils Ablehnung, teils Enthaltung - angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl derArbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat - Drucksache 14/8214 ({0}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) - Drucksachen 14/8529, 14/8546 - Berichterstattung: Abgeordneter Karl-Josef Laumann b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/8530 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Oswald Metzger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen möchten, sich in die Lobby zu begeben. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres das Wort. ({3}) Dieter Maaß ({4})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen außerordentlich wichtigen Gesetzentwurf, der sich in zwei unterschiedliche Teile gliedert. Die Forderungen nach Regulierung und Modernisierung gesetzlicher, insbesondere arbeitsrechtlicher Regelungen sind weit verbreitet. Sie sind häufig überzogen, manchmal aber auch sehr berechtigt. Wenn wir erkennen, dass bestehende Strukturen zu kompliziert und schwerfällig sind, müssen wir sie durch neue, zielführende Organisationseinheiten und Arbeitsabläufe ersetzen. Dies geschieht durch den vorliegenden Gesetzentwurf. Mit der Vereinfachung des Verfahrens zur Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat durch Art. 1 und Art. 2 dieses Gesetzentwurfes greifen wir gezielt die Bedürfnisse der Praxis auf. Diese kritisiert das bisherige Wahlverfahren seit vielen Jahren als zu kompliziert, kostenträchtig und langwierig. Das Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat setzt an diesen Kritikpunkten an und bildet die rechtliche Grundlage für die notwendige Anpassung der Wahlordnung: Wir reduzieren die Zahl der Delegierten und erreichen so Kostenersparnisse und organisatorische Erleichterungen bei der Durchführung der Wahlen. Bei der Ermittlung der Kandidaten der leitenden Angestellten wird es künftig nur noch eine Abstimmung geben; dies gestaltet das Wahlverfahren einfacher und es wird zeitlich gestrafft. Den Bedürfnissen der Unternehmen nach mehr Flexibilität bei der Durchführung des Wahlverfahrens tragen wir dadurch Rechnung, dass Vorbereitung und Ablauf der Wahlen künftig auch unter Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnik möglich sind. In vielen Unternehmen sind in diesem und im nächsten Jahr die Aufsichtsratswahlen durchzuführen. Mit dem Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat ermöglichen wir diesen Unternehmen ein modernes, zeitlich gestrafftes und nicht zuletzt auch kostengünstigeres Wahlverfahren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Art. 3 dieses Gesetzes reagieren die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen, bestehend aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, auf die Krise der Bundesanstalt für Arbeit um ihre Vermittlungstätigkeit. Ich erkläre hier, dass die Bundesregierung mit diesem Gesetzesteil schnell, angemessen und entschieden Strukturen verändert, die zu kompliziert und schwerfällig geworden sind, und Innovationen durchsetzt, die auf dem Arbeitsmarkt zu neuen Chancen und Möglichkeiten führen. ({0}) Erinnern wir uns: Am 16. Januar erreichte das Bundesarbeitsministerium ein Bericht des Bundesrechnungshofes; das ist knapp acht Wochen her. Wir wurden dadurch mit Praktiken der Arbeitsvermittlung konfrontiert, die wir bis dahin nicht für möglich gehalten hatten. ({1}) Der Bundesarbeitsminister hat schnell und entschieden gehandelt; wir haben zur Aufklärung der Tatbestände beigetragen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat selbst Untersuchungen in Gang gesetzt. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Bundeskanzler und der Bundesarbeitsminister am 22. Februar ein zweistufiges Konzept öffentlich vorgestellt haben, mit dem wir kunden- und wettbewerbsorientierte Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen und erhebliche Veränderungen in der Arbeitsmarktpolitik und in der Arbeitsverwaltung umsetzen. Mit Art. 3 dieses Gesetzentwurfs tun wir das. Ich weise darauf hin, dass seit der Vorstellung dieses Konzepts auf der Bundespressekonferenz am 22. Februar gerade drei Wochen vergangen sind. Nun möchte ich ein paar Bemerkungen zu den Kernpunkten dieses Konzepts machen. Die Leitung der Bundesanstalt für Arbeit wird völlig umstrukturiert: Sie wird sich in der Zukunft nicht mehr von den Spitzen privater Unternehmen unterscheiden. Sie erhält einen dreiköpfigen Vorstand, der nur auf vertraglicher Basis und auf Zeit in der Verantwortung bleibt. Effektivität und Wettbewerb werden, wie in der Wirtschaft, die Leitlinie sein. Wie Sie wissen, wird Florian Gerster, der jetzige Sozialminister des Landes Rheinland-Pfalz, der neue Vorsitzende des Vorstands der Bundesanstalt für Arbeit. ({2}) Außerdem werden wir den bisherigen Vorstand und den bisherigen Verwaltungsrat zusammenführen und deutlich verschlanken. Der Verwaltungsrat wird künftig nur noch aus 21 Personen bestehen. Seine Wirkungsweise und seine Kompetenz werden dem Aufsichtsrat nach dem Aktienrecht weitgehend angeglichen. Der Verwaltungsrat erhält deutlich mehr Kompetenzen und Zuständigkeiten. Er hat die Aufgabe, den Vorstand zu kontrollieren. ({3}) Damit schaffen wir moderne Dienstleistungsstrukturen an der Spitze der Bundesanstalt für Arbeit. Wir werden diesen Strukturprozesss in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen. ({4}) Ich komme auf den Kern dieser Reform, die wir zügig fortsetzen, zu sprechen. Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung orientiert sich am Grundsatz „fördern und fordern“. Dies erfordert ein intensives Eingehen auf die individuellen Potenziale und Probleme der Arbeitssuchenden und die konkreten Bedürfnisse der Unternehmen. Bereits das Job-AQTIV-Gesetz zielt deshalb auf eine Neuausrichtung der Arbeitsvermittlung ab. Die hinter uns liegende Krise der Bundesanstalt für Arbeit hat die Chance geboten, grundlegende Änderungen durchzuführen und aus starren Behördenstrukturen und institutionell bedingten Fehlsteuerungen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Genau das machen wir mit dem heutigen Gesetzentwurf. ({5}) Dazu gehört, dass wir die Kernkompetenz der Bundesanstalt stärken. Das heißt vor allen Dingen: Wir müssen alles tun, um das günstigste, schnellstwirksame Instrument der Arbeitsmarktpolitik, nämlich die Vermittlung, zu verstärken und zu verbessern. Die notwendigen Änderungen müssen in der Bundesanstalt für Arbeit selbst vorgenommen werden. Diesbezüglich hat der neue Vorstand in den nächsten Monaten ganz entscheidende Aufgaben wahrzunehmen. Außerdem müssen wir die Bundesanstalt für Arbeit in den entsprechenden Segmenten dem Wettbewerb aussetzen. Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Bedingungen für private Vermittlung deutlich verbessert. Wir haben alle bürokratischen Hemmnisse für die Zulassung zur privaten Vermittlung aufgehoben. Es gibt keine Erlaubnisvorbehalte mehr. Wir werden durchsetzen, dass es zu einer Verbandszertifizierung und zu einem Gütesiegel für private Vermittler kommt. Wir eröffnen die Möglichkeit, dass private Vermittler künftig auch von Arbeitnehmern Honorare nehmen. Gegenwärtig können sie das nur von Arbeitgebern. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Chance auf zusätzliche Vermittlungen damit deutlich erhöht wird. Künftig ist es nicht nur möglich und selbstverständlich, die Vermittlungsangebote der Bundesanstalt für Arbeit wahrzunehmen, sondern auch, Private in Anspruch zu nehmen, die Honorare sowohl von Arbeitgebern als auch von Arbeitnehmern erhalten können. Wir führen als zusätzliches Instrument Vermittlungsgutscheine ein. Sie sind mit folgender Staffelung verbunden: Im ersten halben Jahr der Arbeitslosigkeit belaufen sie sich auf 1 500 Euro, vom sechsten bis zum neunten Monat auf 2 000 Euro und ab dem neunten Monat auf 2 500 Euro. Wir eröffnen zusätzlich die Möglichkeit der privaten Arbeitsvermittlung aus dem Ausland. Die Bundesregierung hat mit diesem Gesetzentwurf viele Innovationen auf den Weg gebracht und zügig und schnell gehandelt. Sie kann sich daher relativ sicher sein, dass die von ihr ergriffenen Maßnahmen - auch im Vergleich zu dem, was die Opposition diskutiert hat - konkurrenzlos sind. Ich habe einmal eine Reihe von Papieren durchgelesen, die Sie verabschiedet haben, und muss Ihnen sagen - Herr Laumann verzieht jetzt das Gesicht -, dass Sie sich bei der Beratung des Ausschusses zu Art. 3 des Gesetzentwurfes ausdrücklich anders ausgesprochen haben. Sie haben große Probleme, öffentlich zu vermitteln, was schlecht an dem ist, was die Regierung auf den Weg gebracht hat. Sie haben deshalb diese Schwierigkeiten, weil daran nichts Schlechtes zu finden ist. Wir haben entschieden und schnell gehandelt. Die Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung wahr, und zwar auch mit dem jetzigen Gesetzespaket, das am 1. April in Kraft tritt. Es wird seine Wirksamkeit entfalten. Zusätzlich haben wir eine Kommission unter der Leitung von Dr. Peter Hartz eingesetzt, die weitere Vorschläge unterbreiten soll. Die Kommission wird ihre Vorschläge zum 15. August vorlegen. Wir werden mit diesen Vorschlägen in den Wahlkampf gehen, weil wir ein Interesse daran haben, dass die Bürgerinnen und Bürger erfahren, welche weiteren Strukturreformen wir bezüglich des Arbeitsmarktes und der Bundesanstalt für Arbeit in der nächsten Legislaturperiode durchsetzen werden. Für diese Reformen werden wir öffentlich werben. Sie können Ihre Vorschläge unterbreiten. Ich bin mir aber relativ sicher, dass wir dieses Reformwerk nach dem 22. September fortsetzen werden. Schönen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Karl-Josef Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion wird - das haben wir auch im Ausschuss deutlich gemacht - dem Teil des Gesetzes, der sich mit der Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmer in die Aufsichtsräte beschäftigt, zustimmen. Sie haben sich aber dafür entschieden, dieses Gesetz politisch mit einem ganz anderen Thema zu besetzen. Dazu möchte ich heute reden. Erstens. Wir haben erlebt, dass die Regierung das Gesetzgebungsverfahren, das die Dinge regelt, von denen der Staatssekretär hier gesprochen hat, in ganzen drei Arbeitstagen im Deutschen Bundestag durchgesetzt hat; die Beratungen im Ausschuss waren am Mittwochmittag abgeschlossen. Dazu kann ich nur sagen: Dass die Regierung, die über zwei Wochen braucht, um das Gesetz aufzuschreiben, dem Fachausschuss nur drei Tage zur Beratung lässt oder eine Anhörung durchführt, zu der einige Sachverständige deswegen nicht kommen konnten, weil sie zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal die Einladung hatten, macht deutlich, dass das Parlament für diese Bundesregierung anscheinend nur noch eine Staffage ist. ({0}) Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen - dazu zähle ich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, die ich einmal als Basisdemokraten erlebt habe - lassen sich durch eine solche Vorgehensweise zu Erfüllungsgehilfen machen. ({1}) Zweitens. Sie haben bei der Erarbeitung dieses Gesetzes hinsichtlich der Neuordnung der BA auf der obersten Ebene, auf der Ebene in Nürnberg, die große Chance vertan, die Tätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit auf die Versicherungsleistungen, auf die Arbeitslosenversicherung, zu konzentrieren. Wir hätten es gerne gesehen, wenn die Drittelparität aufgegeben worden wäre, sodass die Beitragszahler, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, für den Versicherungsteil allein verantwortlich hätten entscheiden können. Die zusätzlichen, allgemeinen staatlichen Aufgaben, die heute über die Arbeitsämter abwickelt werden werden, unterfielen dann der Entscheidung der Politik, ohne dass andere, die damit nichts zu tun haben, hier hineinreden könnten. Diese Chance haben Sie vertan. ({2}) Ein weiterer Punkt. Sie haben in diesem Gesetzgebungsverfahren nichts, aber auch gar nichts getan, um die staatliche Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit zu verbessern. Sie haben in das Gesetz hineingeschrieben, dass der neue Vorstand unter Berücksichtigung der jetzt geltenden öffentlichen Dienstrechts- und Tarifstrukturen zusehen solle, wie er Verbesserungen zustande bekommt. Ich sage Ihnen voraus: Mit öffentlichen Tarifstrukturen wird eine erfolgsabhängige Prämienbezahlung der staatlichen Arbeitsvermittler nicht funktionieren. Nie und nimmer! ({3}) Warum sind Sie nicht dem Vorschlag gefolgt, dass auch die staatliche Arbeitsvermittlung als ein Eigenbetrieb innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit geführt wird? Dann hätte zwischen den staatlichen und den privaten Arbeitsvermittlern zum 1.April Gleichheit hergestellt werden können. Am 1. April werden in diesem Land 2,6 Millionen Menschen, die länger als drei Monate arbeitslos sind, einen Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein haben. Herr Staatssekretär, wenn wir einmal davon ausgehen, dass sie im Schnitt einen Gutschein in Höhe von 2 000 Euro bekommen, dann ergibt sich daraus auf einen Schlag eine Summe von 5,2 Milliarden Euro, die Sie aufbringen müssen. Dann geht Ihr Haus hin ({4}) und schreibt allen Ernstes in einer Vorlage für den Haushaltsausschuss, dass das durch eingespartes Arbeitslosengeld kompensiert werde und man im Übrigen dafür im Haushalt der BA einen Leertitel vorsehen werde. Das ist schon ein tolles Stück. Viel schlimmer ist, dass für die private Arbeitsvermittlung 5,3 Milliarden auf dem freien Markt ausgegeben werden sollen, aber im Gesetz nicht eine einzige Voraussetzung genannt wird, die ein privater Arbeitsvermittler erfüllen muss. Indem Sie für diesen sensiblen Bereich keinerlei Vorgaben machen, befinden Sie sich auf dem Holzweg; denn somit sind die Vorgaben für jemanden, der in Deutschland eine Bulette verkaufen will, höher als für jemanden, der Menschen vermittelt. ({5}) - Dann können wir auch beim Bulettenverkauf die Vorgaben erfolgsabhängig gestalten. - Sie haben nicht einmal vorgeschrieben, dass Vermittler eine Berufsausbildung haben müssen oder wie ein Büro aussehen muss. In den entsprechenden Gesetzen für Anwälte steht wenigstens noch drin, dass ein solches Büro öffentlich zugänglich sein muss. ({6}) Wissen Sie, was aufgrund dieses Gesetzes passieren wird? - Sie sorgen dafür, dass sich in diesem Bereich Seelenverkäufer selbstständig machen und durch diese Leute die gute Idee der privaten Arbeitsvermittlung diskreditiert wird. ({7}) Wenn man innerhalb von drei Tagen ein Gesetz durchpeitscht, kann man das natürlich nicht ordentlich regeln. Seien Sie nicht auch noch stolz darauf! Auch die Stellungnahmen des Bundesverbandes Personalvermittlung, die uns in den letzten Tagen erreicht haben, kritisieren, dass Sie in diesem Punkt nichts geregelt haben. ({8}) Hier handelt es sich einfach um eine schlampige Gesetzgebungsarbeit. ({9}) In Deutschland muss aus gutem Grund derjenige, der Fahrräder repariert, zumindest einen Meisterbrief haben. Vor diesem Hintergrund ist aber das Gesetz, das Sie, Herr Riester, auf den Weg gebracht haben und nach dem private Arbeitsvermittler in diesem Land überhaupt keine Voraussetzungen mitbringen müssen, ({10}) unverantwortlich. Ihrem Hinweis auf § 35 Gewerbeordnung in diesem Zusammenhang entgegne ich, dass es sich hierbei nicht um eine Präventivregelung handelt. Es muss erst einmal im Einzelfall bewiesen werden, dass die Leute nicht vertrauenswürdig gearbeitet haben. In einem so sensiblen Bereich so zu handeln ist unverantwortlich. Ich habe jetzt gerade gehört, ich sei der Oberregulierer. ({11}) Herr Brandner, dazu kann ich nur sagen, dass Sie uns doch fünf Minuten vor der Abstimmung im Ausschuss einen Entschließungsantrag auf den Tisch gelegt haben, in dem Ihre und die grüne Fraktion die Bundesregierung auffordern, dieses Problem zu regeln. ({12}) Wenn Sie es aber erst dann regeln, wenn sich die Leute schon selbstständig gemacht haben, dann bekommen Sie es nicht mehr in den Griff. ({13}) Es werden lange Übergangsfristen notwendig für diejenigen, die der Zertifizierung, die Sie sich später einfallen lassen, nicht entsprechen. Das, was Sie uns und dem deutschen Volk letzten Endes zumuten, zeugt von unseriöser Arbeit. Mit einem solchen Gesellenstück, Herr Riester, hätten Sie nicht einmal eine Gesellenprüfung bestanden. Das ist ganz sicher. ({14}) Nehmen wir einen weiteren Punkt, damit die Leute in Deutschland einmal erkennen, wie die Bundesregierung denkt. Der Vorschlag des Ministeriums lautete ja nun allen Ernstes, dass die arbeitslosen Menschen die private Arbeitsvermittlung zu großen Teilen selber zahlen sollten. Sie, Herr Riester, haben ein entsprechendes Gesetz eingebracht, das die Koalitionsfraktionen unter Ihrem Namen übernommen haben. Das macht das Ganze eigentlich noch viel schlimmer. In dem Gesetz stand, dass der Arbeitsvermittler einem Maurer, der eine mit 2 000 Euro bezahlte Arbeit aufnimmt, 5 000 Euro abnehmen kann, von denen er im Endeffekt 3 500 Euro selber tragen muss. Da Sie, Herr Riester, das so eingebracht haben, wissen wir auch, wie Sie denken. Dass das Gesetz dann von den Koalitionsfraktionen abgelehnt wurde, ist ein anderes Thema. Daran erkennen wir, wie die jetzige politische Führung des Arbeitsministeriums denkt: sozialpolitisch unverantwortlich. ({15}) Auch dieses müssen wir heute feststellen. ({16}) Nun wuchs der politische Druck. Ich habe ja schon bei der Ausschusssitzung am Freitag gemerkt, wie nervös die Kollegen der SPD wurden, als wir diesen Punkt thematisierten. ({17}) Also wurde das Gesetz geändert und hereingeschrieben, dass die Leute einen Vermittlungsgutschein im Wert von 1 500 Euro bekommen sollen. Sie erreichen damit aber nur, dass die private Arbeitsvermittlung den Problemgruppen verschlossen bleibt. Denn wenn die Arbeitgeber eigentlich Eingliederungszuschüsse bräuchten, um überhaupt Leute einzustellen, werden sie niemals bereit sein, an den privaten Arbeitsvermittler etwas zu zahlen, der ihnen den Mann oder die Frau vermittelt hat. Deswegen ist Ihr Kriterium mit den 1 500 Euro für die Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt unintelligent und der Betrag auch nicht hoch genug. ({18}) Jetzt nenne ich einen letzten Punkt. Sie haben die Frage des Vermittlungsgutscheins allein an die Dauer der Arbeitslosigkeit gekoppelt. Das heißt, die langsamen Vermittler bekommen die besten Gutscheine. Wenn ich Arbeitsvermittler wäre und jemand zu mir käme, der fünfeinhalb Monate arbeitslos wäre, würde ich den Fall erst einmal 14 Tage liegen lassen. ({19}) Die 500 Euro, die ich dann bekäme, würde ich mir erst einmal in die Tasche stecken. ({20}) Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wenn Sie beim Job-AQTIV-Gesetz durchsetzen, dass wir für jeden Arbeitslosen ein Profiling machen, dann hätten Sie unter dem Gesichtspunkt des sparsamen und wirtschaftlichen Einsatzes der Mittel der Sozialversicherung der Arbeitsverwaltung die Möglichkeit einräumen müssen, an diesem Profiling entlang eine Entscheidung zu treffen. Denn Ihr Zeitkriterium ist zumindest fantasielos, um nicht zu sagen unintelligent. ({21}) Wir haben also viele Gründe, dieses Gesetz abzulehnen. ({22}) Schönen Dank. ({23})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Laumann war eben ein lebendiges Beispiel dafür, wie viel Schwierigkeiten die Opposition hat, ({0}) auch nur ein Sachargument gegen das Gesetz vorzutragen, das wir heute hier verabschieden wollen. ({1}) Auf Sie trifft zu: Denn sie wissen nicht, was sie wollen. ({2}) Ich will Ihnen das an drei Punkten in Bezug auf das, was Sie eben vorgetragen haben, deutlich machen. Sie reden über etwas, was wir hier überhaupt nicht zur Abstimmung stellen, Herr Laumann. Sie haben gesagt, dass die Arbeitslose oder der Arbeitslose, die oder der zu einem privaten Vermittler geht, etwas draufzahlen muss. Sie haben das beklagt. Aber das war früher in der Diskussion. Wir haben das verändert. Wir haben als neues Verfahren ein Gutscheinsystem eingeführt, sodass der Arbeitslose, der zum Vermittler geht, nichts draufzahlen muss. Ich weiß nicht, worüber Sie reden; über das, was wir hier verabschieden wollen, jedenfalls nicht. ({3}) Zweiter Punkt. Sie beklagen hier, dass das Ganze zu schnell gehe. Es ging wirklich schnell. Wir haben sehr schnell reagiert. ({4}) Gleichzeitig beklagen Sie aber, dass wir zum 1. April nicht ein neues Anreizsystem in den Arbeitsämtern einführen. ({5}) Bitte entscheiden Sie sich, was Sie wollen. Sie wissen offenbar nicht, was Sie wollen. ({6}) Dritter Punkt. Sie spielen sich hier - das finde ich wirklich höchst amüsant, das muss ich Ihnen sagen, Herr Laumann - zum Gralshüter des Bürokratismus auf. ({7}) Ich weiß nicht, was Sie hier einführen wollen. Sollen sich die Dritten wieder in eine Handwerksrolle eintragen? ({8}) Wollten Sie uns gerade sagen, dass sozusagen im überholten Zunftwesen die Modernität der Zukunft liegt? Wir wollen hier einführen, dass sich die Dritten der Gewerbeaufsicht stellen müssen. Wir bringen heute mit einem Entschließungsantrag hier ein, dass ein Berufsbild entwickelt werden muss. Dass dann von den zuständigen Berufsverbänden ein Qualitätssiegel entwickelt werden muss, das ist doch völlig klar. Herr Laumann, Sie wissen also auch an dieser Stelle nicht, worüber Sie reden. ({9}) Sicher, wir haben eine ungewöhnliche Situation und eine solche bedarf auch einer ungewöhnlichen Reaktion. Was an dem, was wir machen, ungewöhnlich ist, ist die Schnelligkeit. Das hätten Sie in Ihrer Regierungszeit nicht zustande gebracht. ({10}) Warum machen wir das? Weil wir in der Situation sind, dass wir bei einer hohen Arbeitslosigkeit im Moment in der Bundesanstalt für Arbeit eine Arbeitsverwaltung haben, die nicht arbeitsfähig ist, ({11}) die wir in den Stand setzen müssen, einen Neuanfang zu machen und arbeitsfähig zu werden. Dafür schlagen wir heute die ersten Pflöcke ein, drei an der Zahl. Erstens. Der Vorstand kann eingesetzt werden. Ich bin sehr froh, dass er zum 1. April seine Arbeit aufnehmen kann. Ebenfalls ist sehr wichtig, dass die HartzKommission, die ihre Arbeit schon aufgenommen hat, dann mit dem Vorstand zusammenarbeiten kann. Wir haben nämlich ein großes Reformprojekt vor uns, bei dem die Eckpunkte noch entwickelt werden müssen. Der zweite Punkt: Der Verwaltungsrat wird institutionalisiert. Er ist verkleinert worden und wird dadurch effektiver. Auch ist er zu Recht drittelparitätisch besetzt, weil die Länder und die öffentliche Hand über ihre eigenen Programme sehr viel mit der Arbeitsmarktpolitik zu tun haben und sich in dieses Gremium einbringen müssen. ({12}) Der dritte und in diesem Zusammenhang zentrale Punkt: Wir wollen, dass die unverzügliche Vermittlung für jeden, der gerade arbeitslos wird - das ist das Herzstück des Job-AQTIV-Gesetzes -, in den nächsten Monaten gewährleistet wird. ({13}) Deswegen müssen wir hier so schnell handeln, wenn es darum geht, die Möglichkeit einer Vermittlung durch Dritte einzuführen. ({14}) Wir werden uns hier auch nicht von Ihnen aufhalten lassen, weil es im Interesse der Arbeitslosen in diesem Lande ist, dass es nahtlos mit der Vermittlung weitergeht. ({15}) - Ich weiß nicht, ob ich Sie störe, wenn ich hier weiterrede. ({16}) Aber ich würde meine Rede doch gerne zu Ende bringen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir hier Neuland betreten. Zum einen schaffen wir jetzt einen freien Marktzugang für Dritte. Das ist ein erheblicher Fortschritt. Ich wünsche mir, dass wir eine lebendige Vermittlungskultur in diesem Lande bekommen, ({17}) die dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Konkurrenz zwischen privater und öffentlicher Arbeitsvermittlung gibt, sich aber auch eine Kooperation zwischen Arbeitsämtern und Dritten weiterentwickelt. Zum anderen haben wir die Vermittlungsgutscheine eingeführt. Im Moment diskutiert man in der Öffentlichkeit in der Tat darüber, ob die Honorierung richtig bemessen ist. Es geht in der Tat darum, ob diese Vermittlungsgutscheine als Anreiz zur direkten Vermittlung durch einen Dritten wirksam genug sind. Das wird sich in der Praxis erweisen. Von der FDP wird wahrscheinlich gleich der Hinweis darauf kommen, dass derAnreiz zu gering ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn ich meinen Gedanken zunächst zu Ende führen darf, ja. Es wird also gleich das Argument kommen: Möglicherweise ist der Wert der Vermittlungsgutscheine zu gering. Dazu gibt es - hier paddeln alle ein wenig im Nebel natürlich noch keine Erfahrungen, auch nicht im Ausland. Anhand der zukünftigen Erfahrungen wird dieses Instrument aber so ausgestaltet werden können, dass es praktikabel ist. Frau Kollegin Luft, jetzt können Sie Ihre Frage stellen.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Dückert, können Sie meinen Eindruck entkräften, dass dies heute eine ziemlich schwarze Stunde des Parlamentarismus ist? Eine so gravierende Veränderung, wie sie bei der Bundesanstalt für Arbeit vorgenommen werden soll, wird heute an ein artfremdes Gesetz angehängt. ({0}) Eine zweite und dritte Lesung wird dazu nicht stattfinden. Die haushaltsmäßigen Bedenken von allen Oppositionsfraktionen wurden nicht ausgeräumt. In der Vorlage heißt es immer noch, es werde keine haushaltsmäßigen Auswirkungen geben. Es werden aber in jedem Falle Vermittlungsgebühren anfallen; ob Arbeitslosengeld in dieser Höhe tatsächlich eingespart werden kann, weiß man nicht. Wie kann man einen Leertitel für Vorstandsmitgliederbezüge einstellen? Man muss doch wissen, was sie bekommen sollen; dafür braucht man doch keinen Leertitel einzustellen. Es ließe sich noch mehr sagen. Alles läuft darauf hinaus, dass das Gesetz heute hier durchgepeitscht wird. DerHinweisdarauf,dassmangarnichtgewussthabe,wie sehr die Vermittlung bei der Bundesanstalt fürArbeit bisher schief gelaufen sei, irritiert mich natürlich sehr. Sie haben doch kürzlich das SGB III reformiert und das Job-AQTIVGesetz inderHoffnungeingeführt,dassdieVermittlungverbessert werden würde. Aber all das, was wir heute beschließen sollen, wäre gar nicht eingebracht worden, wenn der Statistikskandal nicht aufgedeckt worden wäre. ({1})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin Luft, ich halte dies für eine gute Stunde der Politik. ({0}) Wir zeigen, dass wir an den Stellen, an denen es Handlungsbedarf im Hinblick auf die Arbeitsvermittlung gibt, in der Lage sind, die wenigen Weichenstellungen, die zunächst notwendig sind, sehr schnell vorzunehmen. Ich hätte es für eine schwarze Stunde der Politik gehalten, wenn es der Opposition gelungen wäre, diese notwendigen Handlungen zu blockieren. ({1}) Wir wollen, dass die Bundesanstalt neu anfangen kann. ({2}) Wir wollen, dass die Hartz-Kommission jetzt die notwendigen Konzepte entwickeln kann. Wir wollen, dass die Arbeitslosen vor Ort eine größere Wahlfreiheit und eine größere Chance auf eine schnelle und effektive Vermittlung haben. Deswegen haben wir auch die Vermittlungsgutscheine eingeführt. Ich glaube, dass ein Großteil der Kritik, der von der Opposition angebracht wird, zum Beispiel von Herrn Laumann, ins Leere läuft. Herr Laumann, Sie haben einiges heute schon gar nicht mehr vorgeschlagen. Sie wissen ganz genau, dass es ab dem dritten Monat, den jemand arbeitslos ist, Vermittlungsgutscheine geben wird. Es wird aber auch so sein, dass Menschen, bei denen man dann, wenn sie arbeitslos werden, bereits absehen kann, dass sie besondere Schwierigkeiten haben werden, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten, nach § 37 a des Job-AQTIVGesetzes, das weiterhin gelten wird, von Anfang an über Dritte vermittelt werden können. Das Arbeitsamt kann sich dafür stark und dies möglich machen. Ich glaube, dass wir am Anfang eines sehr umfangreichen Reformprozesses stehen. Dies gilt zunächst für die Bundesanstalt für Arbeit. Hier sind bisher nur kleine, aber notwendige Weichenstellungen erfolgt. Der Rest wird in der nächsten Zeit entwickelt werden. Es kann Jahre dauern, bis dieser Prozess abgeschlossen ist. Wir stehen aber auch am Anfang einer neuen Reformdiskussion bezüglich der Arbeitsmarktpolitik. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen, dass ich glaube, dass der designierte neue Vorstandsvorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, Recht daran tut, dass er sich sehr offensiv in eine Zukunftsdebatte über die Arbeitsmarktpolitik einmischt. Ich glaube, dass in dem jetzt aufgedeckten Desaster bei der Bundesanstalt für Arbeit auch die Chance verborgen ist, ({3}) neue offensive Diskussionen über Reformen am Arbeitsmarkt aufzunehmen. Schönen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz, das uns die Bundesregierung heute vorlegt, ist ein schlimmer Rückfall in die Frühphase ihrer Regierungszeit. ({0}) Sie haben es mit handwerklichen Fehlern gespickt, die dazu führen, dass das Kanzlerwort mal wieder nicht mehr als ein Lippenbekenntnis ist und am Ende kein wirklicher Effekt erzielt werden kann. Ich möchte Ihnen auch begründen, wieso wir zu diesem Schluss kommen: Unabhängig vom Verfahren, zu dem der Kollege Laumann schon genug gesagt hat, verstehen wir vonseiten der FDP-Bundestagsfraktion durchaus, dass Sie die neue Führungsstruktur der Bundesanstalt für Arbeit möglichst schnell einführen wollen. Wir hätten andere Wege gewählt, weil wir der Ansicht sind, dass die Selbstverwaltung abgeschafft gehört. ({1}) Ein guter Grund, warum wir das meinen, ist im gestrigen „Stern“ nachzulesen, und zwar in einem Artikel mit der Überschrift: „Deutschlands teuerstes Spielzeug“. Dies sollte Ihnen doch ein wenig zu denken geben. Sie sind zu anderen Schlüssen gekommen und haben gesagt, die Selbstverwaltungsstrukturen sollen bestehen bleiben. Das ist Ihr Recht, weil Sie die Mehrheit haben. Dennoch ist es inhaltlich falsch und wird Deutschland schaden. Nichtsdestotrotz hätten Sie die Frage der Führungsstruktur nicht mit der inhaltlichen Frage der Ausgestaltung neuer Vermittlungsmöglichkeiten verquicken sollen. Diese haben Sie so schlecht gemacht, dass sie leider nicht werden funktionieren können. Sie haben zwar richtigerweise den Vorschlag der Liberalen aufgegriffen, Vermittlungsgutscheine einzuführen und dadurch vom Grundsatz her Wettbewerbsmöglichkeiten zu schaffen; allerdings werden Sie aufgrund der Ausgestaltung hinterher erkennen müssen - wenn man böswillig wäre, könnte man fast sagen: Vielleicht wollen Sie das auch -, dass dieses Instrument nicht greifen wird. Lassen Sie uns Revue passieren, was passiert ist: Der Kanzler tritt mit dem Arbeitsminister vor die Presse und erklärt, es werde eine Nachfragemacht aufseiten der Arbeitsuchenden geben. Er erklärt, es werde eine Stärkung der privaten Arbeitsvermittlung geben. Der Arbeitsminister nickt das ab und bestätigt es; übrigens eine Urform des pathologischen Lernens: Lernen durch Leiden. Denn noch eine knappe Woche vorher wäre weder beim Arbeitsministerium ({2}) noch bei der SPD-Bundestagsfraktion auch nur der Hauch einer Mehrheit für diese Position zu finden gewesen. ({3}) Dann ging das ganze Theater los. Es folgte ein Sperrfeuer vonseiten der Gewerkschaften und vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion. Es ist völlig klar, dass Sie die Einführung von Vermittlungsgutscheinen auf die Schnelle in dieses Gesetz hineinbringen mussten. Hätten Sie nämlich gewartet, bis die Hartz-Kommission im August damit gekommen wäre, hätten Sie in Ihrer eigenen Fraktion nicht einmal den Hauch einer Mehrheit für dieses Instrument gefunden. ({4}) In der ersten Vorlage bezüglich der Konstruktion der Vermittlungsgutscheine haben Sie richtigerweise festgestellt, dass Arbeitsuchende die Möglichkeit erhalten müssen, private Vermittler zu beauftragen. Wenn man sich in freier Entscheidung für einen anderen Arbeitsplatz interessiert, macht es doch nur Sinn, dass man die Möglichkeit eines zusätzlichen Suchweges erhält und für diesen, wenn man den Auftrag vergibt, dann natürlich auch bezahlen muss. Dass Sie in diesem Segment auf 1 500 Euro deckeln, ist der erste große Fehler Ihrer Nachbesserung im Rahmen dieses Verfahrens. In der ersten Vorlage haben Sie noch festgestellt, dass ein Betrag von bis zu zweieinhalb Bruttomonatseinkommen ein marktüblicher Wert für diese Dienstleistung sei; das ist auch richtig. In Segmenten, in denen hoch qualifizierte Menschen tätig sind, sollte er sogar bis zu einem Drittel des Bruttojahresarbeitsgehaltes betragen. Sie aber deckeln auf 1 500 Euro. Ich kann mir annähernd vorstellen, wie viele private Arbeitsvermittler ein hohes wirtschaftliches Interesse an diesem Vermittlungsgeschäft haben werden. Bei den Gutscheinen haben Sie drei Kardinalfehler eingebaut: Der erste ist die Höhe des Gutscheines. In der ersten Vorlage war die Eigenbeteiligung für die Arbeitsuchenden eindeutig zu hoch, sodass viele Arbeitsuchende dieses Gutscheininstrument aus sozialen Gründen nicht hätten nutzen können. Statt diese Gutscheine mit marktüblichen Preisen auszustatten und somit auch einen wirtschaftlichen Anreiz für private Vermittler zu schaffen, dieses Instrument anzunehmen, haben Sie nun wiederum eine Deckelung eingeführt. Diese wird in der Konsequenz dazu führen, dass ein Großteil der privaten Vermittlungsbetriebe, die sich noch entwickeln werden, an diesem Instrument kein großes Interesse haben wird. Der zweite Kardinalfehler, der hier schon angesprochen worden ist - Frau Dückert wollte, dass ich Ihnen das erkläre, sie hat es sozusagen vorab angekündigt; vielen Dank für diesen Werbeblock -, besteht darin, dass Sie bei der Vergabe und der Ausgestaltung bzw. Höhe der Gutscheine einzig und allein auf die Dauer der Arbeitslosigkeit ({5}) und nicht auf das Alter, die Qualifikation oder den Gesundheitszustand abstellen. ({6}) Es nützt überhaupt nichts, dass die Bundesanstalt im Rahmen der Profilerhebung eventuell einen Dritten beauftragen kann. Dadurch hat der Arbeitsuchende immer noch keine Nachfragemacht, sondern er wird von der Bundesanstalt gesteuert. Im Job-AQTIV-Gesetz haben Sie dieses obrigkeitsstaatliche Denken festgeschrieben. Sie haben nämlich hineingeschrieben, dass die Bundesanstalt bei der Beauftragung Dritter Herr des Verfahrens bleibt. ({7}) Der dritte und letzte Kardinalfehler ist, wie ich finde, der gravierendste. Der Kanzler hat versprochen, dass es Wettbewerb geben wird. Es bleibt bei Lippenbekenntnissen, weil sich die Betonkopffraktion in der SPD durchgesetzt hat. ({8}) Wettbewerb würde es nur dann geben, wenn Sie den Arbeitsuchenden mit ihren Gutscheinen in der Hand eine Nachfragemacht geben könnten. Der Arbeitsuchende ginge dann zum Arbeitsvermittler seines Vertrauens. Das kann der private sein, muss es aber nicht. Es kann nämlich auch der staatliche sein. ({9}) Wenn Sie diesen Wettbewerb hätten haben wollen, dann hätten Sie die Geldmittel dahin fließen lassen müssen, wo die Gutscheine im Erfolgsfall eingelöst werden. Das heißt, entweder hätten Sie die Bundesanstalt mit ihrer Arbeitsvermittlung durch die Einnahme von Gutscheinen finanzieren müssen oder Sie hätten wenigstens die erfolgsabhängigen Lohnkomponenten der staatlichen Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittler an die Einnahme von Gutscheinen koppeln müssen. Das hätte dazu geführt, dass diese Vermittler im Innenverhältnis der Bundesanstalt dafür gesorgt hätten, dass sie in die Lage versetzt werden, überhaupt wettbewerbsfähig zu sein, sodass sie als wirkliche Mitkonkurrenten zu den privaten Anbietern im Vermittlungsgeschäft hätten tätig sein können. ({10}) Insgesamt bleibt folgende Quintessenz: Trotz des grundsätzlich positiven Instruments des Vermittlungsgutscheines haben Sie es leider wieder einmal vermurkst. Es wundert mich überhaupt nicht, dass der Kanzler sagt - man hat es ihm, ich glaube, im „Focus“ zugeschrieben -, dass überall dort, wo Riester gesessen hat, eine kleine Zementschicht bleibt. Das passt zu den Betonköpfen in der SPD-Fraktion, ({11}) die eindeutig nicht reformfähig sind und deshalb am 22. September abgelöst werden müssen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Zu dem Vorgang, der hier über die Bühne gehen soll, kann man nur ein Wort finden: skandalös! ({0}) Es ist skandalös, in welcher Art und Weise ein notwendiges Moment, das die Ärmsten der Armen betrifft, abgehandelt wird. Ich empfinde das als unwürdig. Zweitens. Herr Staatssekretär Andres, Sie haben hier erklärt, es sei eine angemessene Reaktion, die Sie gezeigt haben. Ihre Reaktion war aber so wenig angemessen, wie Ihre Rede, die Sie zu diesem Problem gehalten haben, angemessen war. ({1}) - Es ist nun einmal so, dass sein Verhalten unangemessen gewesen ist. Er hätte das Gesetz verbessern können, aber dazu ist nichts gekommen. Es ist an dieser Stelle über die Finanzierung gesprochen worden. Es ist beschämend, wenn die Finanzierung über die Zuschüsse zu den Rentenversicherungsbeiträgen der in Werkstätten beschäftigten Behinderten erfolgen soll. Es ist ein Skandal, so etwas zu machen. ({2}) Herr Minister, die „FAZ“ hat heute getitelt: „Ich gehe an die Grenze dessen, was das Parlament mittragen kann“. Herr Riester, für uns haben Sie die Grenze überschritten. ({3}) Sie haben Lösungen vorgelegt, die Sie überhaupt nicht weiterbringen werden. Ihre Lösungen sind in ihrer Durchführung nicht klar und eindeutig. Es ist über die Qualifizierung und über die Kontrolle gesprochen worden. Sie geben die Steuerungsfunktion völlig ohne Not aus der Hand, indem Sie das Zusammenspiel von privaten Vermittlern und Bundesanstalt für Arbeit überhaupt nicht regeln. Sie führen eine Selektion unter den Arbeitslosen durch, auch wenn Sie das Schlimmste herausgenommen haben, nämlich dieses Honorar in Höhe des Zweieinhalbfachen eines Monatsgehalts. Im Februar hatten wir 1,6 Millionen Erwerbslose, die keine Leistungen bezogen. Genau diese Menschen - das sind unter den Arbeitslosen die Ärmsten, die Sozialhilfeempfänger und die allein erziehenden Frauen müssen jetzt zahlen, und zwar bis zu 2 500 Euro. ({4}) - Vielleicht kennen Sie Ihr eigenes Gesetz nicht. ({5}) Ich beziehe mich auf den § 296 des Gesetzentwurfs. ({6}) In dessen Begründung heißt es: „Auch für Arbeitsuchende, die keinen Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein haben“ - das sind diejenigen, die keine Leistung beziehen -, ({7}) „sieht die Vorschrift eine Begrenzung des Honorars vor, um sie vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme zu schützen“. Dafür sind die 2 500 Euro festgelegt. Insofern wird es zwei Gruppen geben: diejenigen, die gutscheinberechtigt berechtigt sind, und diejenigen, die es nicht sind. Es gibt ein weiteres Problem - der Kollege Laumann hat darauf hingewiesen -: Sie haben als Kriterium die Dauer der Erwerbslosigkeit gewählt. ({8}) Bisher war es immer so, dass Schwervermittelbarkeit an ganz anderen Kriterien gemessen wurde. Wir meinten mit den Problemgruppen, die schwer vermittelbar sind, die Älteren, die Alleinerziehenden, die Sozialhilfeempfänger und die wenig Qualifizierten. Wenn Sie das als Kriterium einführen, könnte man auch darüber reden, ob man eine Staffelung nach der Dauer der Arbeitslosigkeit gestaltet. So ist es zwar sehr einfach, aber nicht hilfreich. Ich komme zu einer weiteren ungelösten Problematik. Wenn Sie die privaten Vermittler einschalten: Was wird dann aus den Funktionen der Bundesanstalt für Arbeit? Es gab das Kriterium der Zumutbarkeit der Arbeit. Die Nichtannahme einer zumutbaren Arbeit heißt, dass man mit Sperrfristen belegt wird. Wer stellt nun die Nichtzumutbarkeit fest? Wer verhängt die Strafen? Das ist in diesem Gesetz in keiner Weise geregelt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Grehn, bitte denken Sie daran, dass Sie Ihre Redezeit bereits überschritten haben.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lassen Sie mich nur noch sagen: So, wie das Gesetz gestrickt ist, haben Sie sich keine Freunde geschaffen. Die Tatsache, dass Sie Weiteres ankündigen, lässt Schlimmes befürchten, wenn man die Worte des designierten Chefs der Bundesanstalt für Arbeit ernst nimmt. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Abgeordneten Andres das Wort. ({0}) - Nein, Kurzinterventionen sind ein Abgeordnetenrecht. ({1})

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter Grehn, ich möchte nur eine Sache richtigstellen, weil ich mich in dem Punkt angesprochen fühle und das, was Sie gesagt haben, nicht stimmt. Sie haben erklärt, es sei ein Skandal, dass die Mittel für die Kommission aus Haushaltsmitteln zur Rentenleistung für Behinderte genommen werden. ({0}) Ich will Sie nur ganz kurz aufklären, damit keine falschen Gerüchte in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Die Kommission ist eingesetzt worden, als der Haushalt schon verabschiedet war. Damit muss man eine außerplanmäßige Ausgabe im Haushalt etatisieren, wenn man die Kommission vernünftig finanzieren will. Wir haben 1 Million Euro zur Verfügung gestellt. Dieser Betrag ist nicht für die Kommissionsmitglieder bestimmt. Diese machen ihre Arbeit ehrenamtlich; sie können nur Reisekosten abrechnen, können aber Sachverständigenanhörungen und Ähnliches organisieren. Dafür braucht man die Mittel. Damit man eine Deckung aus dem Haushalt des Bundesarbeitsministers hat, wurden dafür Mittel aus dem Titel „Rentenzahlungen für Behinderte in Werkstätten“ genommen. ({1}) - Langsam. Sie müssen gar nicht schreien, es geht nur um eine technische Angelegenheit. Die Ansprüche, die die Behinderten haben, sind Rechtsansprüche, die auf alle Fälle erfüllt werden müssen. Wir glauben, dass wir das aus diesem Titel decken können - es ist ein Schätztitel in Höhe von 800 Millionen Euro -, weil der Zuwachs von Beschäftigten in Werkstätten für Behinderte nicht so ist, wie es vermutet wurde. Das hängt mit einer besseren Versorgung von Schwerbehinderten und Ähnlichem zusammen. Ich sage nochmal: Durch die Einsetzung der Kommission wird keinem einzigen Schwerbehinderten ein Rentenanspruch oder sonst irgendetwas weggenommen. Das wollte ich nur richtigstellen. ({2})

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Staatssekretär, Sie können davon ausgehen, dass ich mich kundig gemacht habe, bevor ich so etwas sage. Ich verweise Sie auf die Drucksache 14/8530 des Deutschen Bundestages. Es handelt sich um den Bericht des Haushaltsausschusses, der unter anderem diesen Vorgang, der zwischen uns beiden gerade ausgehandelt wird, einbezieht. Die Oppositionsfraktionen haben bei der Behandlung des Problems geschlossen nicht teilgenommen, weil es genau darum ging. Mir ist es im Prinzip völlig egal, wofür Sie die Mittel verwenden. Mir ist es aber nicht egal, dass diese Mittel aus dem Bereich der Behinderten kommen. ({0}) - Frau Präsidentin, habe ich das Wort? Es gibt ein Sprichwort, wonach diejenigen, die geschlagen werden, bellen. Liebe Kollegen von der Regierungskoalition, ich versuche Ihnen sachlich meinen Standpunkt zu beschreiben und Ihnen zu sagen, welcher Hintergrund besteht. Es sind Fachleute, die sich mit dem Problem beschäftigt haben. Wenn Sie es dann immer noch nicht glauben, lesen Sie doch den Nachsatz, wonach der Einsatz der Mittel in der Finanzplanung für die Folgejahre fortgeschrieben wird. Sie wissen doch noch gar nicht, was Sie in den Folgejahren verausgaben. Selbst wenn es so sein sollte: In eine solche Maßnahme die Behinderten einzubeziehen, deren Situation Sie eigentlich mit einem Sonderprogramm verbessern wollten, das bis zum Oktober 50 000 Arbeitsplätze für diese Gruppe schaffen soll, also mit dieser Regelung ein solches negatives Signal auszusenden, das sollten Sie sich wirklich noch einmal ganz genau überlegen. Ich weiß nicht, ob das Parlament das so machen sollte. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Grehn, ich will gar nicht großartig darauf eingehen, sondern Sie nur darauf hinweisen, dass die Kommission Mitte August ihre Arbeit beendet haben wird, während Sie mit Folgejahren argumentieren. Nur damit darüber Klarheit herrscht! ({0}) Ich spreche das nur an, damit Klarheit darüber herrscht. ({1}) Bei diesem Gesetzentwurf wird sehr deutlich, dass die Bundesregierung genauso zügig, wie sie nach dem Bericht des Bundesrechnungshofs gehandelt hat, einen wichtigen Reformprozess für die Spitze der BA und für den Bereich der Vermittlung angestoßen hat. Dieser Prozess bringt erstens mehr Rechte und Verantwortung, zweitens mehr Freiheit und mehr Wettbewerb und drittens mehr Chancen und Perspektiven. Das bedeutet auch weniger Verwaltung und Bürokratie. Ich bin fest davon überzeugt, dass es letztlich auch weniger Arbeitslose und mehr Beschäftigung in Deutschland bedeuten wird. ({2}) Wir halten an dem Grundsatz unserer Arbeitsmarktpolitik fest: Fördern und fordern. Derzeit steht der größte Umbauprozess bei einer Behörde in der deutschen Geschichte an. Er muss nach einem vernünftigen Leitbild erfolgen. Dienstleistung im Wettbewerb, Konzentration auf die Kernaufgaben - nämlich die Stärkung der Vermittlung -, ein modernes Management und eine hohe Leistungsfähigkeit, wenn es darum geht, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, stehen dabei im Vordergrund. An die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Arbeitsverwaltung gewandt, sage ich ausdrücklich: Wir wollen diesen Prozess mit den engagierten, innovativen Beschäftigten gemeinsam gestalten, ihre Erfahrungen in die Arbeit einbeziehen, und zwar so, dass deutlich wird: Reformprozesse macht man mit den Menschen und nicht gegen sie. ({3}) Die Arbeitslosen erhalten - das ist bereits angesprochen worden - in der ersten Stufe, nach drei Monaten, einen Gutschein. Er ermöglicht eine freie Auswahl bei den privaten Vermittlern und bei den Arbeitsämtern. Die Betroffenen können sich entscheiden, an wen sie sich wenden. Die eigene Aktivität wird gefördert und gestärkt. Es bleibt dabei: Wenn man nach sechs Monaten noch nicht vermittelt worden ist, besteht ein Rechtsanspruch darauf, dass die Arbeitsverwaltung einen Dritten mit der Vermittlung beauftragt. Das bedeutet mehr Rechte und Eigenverantwortung im System. Wir bieten den Privaten eine neue Chance hinsichtlich ihrer Möglichkeiten am Markt. Das Monopol für die Arbeitsvermittlung und die Anwerbung im Ausland wird aufgehoben. Dritte und Weiterbildner werden bei der Vermittlung stärker mit einbezogen. Es gibt einen freien Markt für die Vermittler. Wenn wir das Gesetz heute beschließen, bedeutet das einen Erfolg für mehr Freiheit und für mehr Wettbewerb im System. ({4}) Jetzt wird es auf das Zusammenwirken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Arbeitsamt mit den Privaten ankommen. In 181 Arbeitsämtern sind mit dem JobAQTIV-Gesetz zusätzlich 3 000 Vermittler hinzugekommen. Im Bereich der privaten Arbeitsvermittlung sind 6 000 Unternehmen angemeldet und genehmigt. Was die von Ihnen geforderten Vorschriften angeht, wundert mich Ihre Regulierungswut in diesem Zusammenhang, Herr Kollege Laumann. ({5}) Ich gehe nach der von uns beabsichtigten Regelung davon aus, dass die Verbände gemeinsam mit der Bundesregierung in nächster Zeit zur Förderung eines qualitätsorientierten Wettbewerbs über Qualitätsstandards sprechen und Zertifizierungsregelungen treffen werden. ({6}) Das bedeutet: Wenn die 9 000 zusätzlichen Vermittler auf dem Markt zur Vermittlung von Arbeitslosen tätig werden, können die 1,4 Millionen freien Stellen schnell mit den Arbeitslosen bzw. den Arbeitsuchenden zusammengebracht werden. Arbeitslose haben also mehr Chancen, eine neue Beschäftigung zu bekommen. Die Kommission wird die Aufgabe haben, in einer zweiten Stufe sehr intensiv den Reorganisierungsprozess der Bundesanstalt für Arbeit vorzubereiten. Konzentration auf die Kernbereiche bedeutet: Arbeits- und Ausbildungsstellenvermittlung, Berechnung und Auszahlung der Lohnersatzleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik. Dieser Prozess kann in der Tat nicht schnell erfolgen, sondern dafür soll der Sachverstand der 15 Personen, die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik repräsentieren, aktiv genutzt werden. ({7}) Im Zentrum werden Vermittlung und Beratung stehen. Dezentralisierung und Vor-Ort-Entscheidungen werden einen wichtigen Gradmesser darstellen. Die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe soll so erfolgen, dass die Organisationsstrukturen erheblich reformiert werden mit dem Ziel, Arbeitslosenhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose möglichst schnell in Beschäftigung zu bringen und Information und Beratung aus einer Hand anzubieten. Das wird weniger Verwaltung und Bürokratie bedeuten. Das wird auch ein Erfolg dieses Gesetzes sein. ({8}) Noch eine abschließende Bemerkung: Es ist gesagt worden, dass 1,6 Millionen Menschen kein Recht auf Vermittlungsgutscheine hätten. ({9}) Das stimmt zwar. Aber das heißt doch nicht, Herr Grehn, dass sich niemand um die Vermittlung dieser Menschen kümmern wird. Das heißt vielmehr, dass die Arbeitsämter in Zusammenarbeit mit den Sozialhilfeträgern auch in Zukunft genauso aktiv wie in der Vergangenheit daran arbeiten werden, dass diese Menschen schnell in neue Beschäftigungsverhältnisse kommen. Wofür haben wir denn das Projekt MoZArT aufgelegt? Welche Chancen und Möglichkeiten haben denn die Städte und die Kommunen nach dem Bundessozialhilfegesetz, Menschen zu beschäftigen? Niemand muss zuzahlen! Lügen Sie die Menschen nicht an! Bei den Grenzen für das Vermittlungshonorar, die wir gesetzt haben, handelt es sich um Schutzgrenzen, damit nicht mehr gefordert werden kann. Sagen Sie den Menschen die Wahrheit! ({10}) Im Klartext: Die finanziellen Obergrenzen bedeuten Sicherheit im Wandel. Dies wird dadurch erreicht, dass für die unteren Bereiche eine Obergrenze von 1 500 Euro und für die oberen Bereiche eine Obergrenze von 2 500 Euro gesetzt wird. Wir verhindern damit Rosinenpickerei und sichern mit der Zertifizierung der Angebote die Qualitätsstandards. ({11}) Warum kritisieren Sie auf einmal das Tempo, das wir hier vorlegen? Vor zwei, drei Wochen haben Sie noch behauptet, es fänden keine Reformen mehr statt. Statt Zögern und Zaudern, statt Kappen und Kürzen wird nun mit hohem Tempo ein vernünftiges Reformwerk in den Bundestag eingebracht. Wir werden uns dabei von Ihnen nicht ausbremsen lassen. Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis! ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf - das, um was es eigentlich geht, ist ein bisschen versteckt worden; wer erwartet denn schon hinter dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat einen solchen Anhang; vielleicht erklärt das auch, warum manche gar nicht gemerkt haben, was dort versteckt worden ist ({0}) - ist ein Dokument des Scheiterns von Rot-Grün bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sie gaukeln nur Handlungsfähigkeit vor. In Wahrheit ist das, was Sie heute verabschieden, ein hektisch zusammengezimmertes Notprogramm für das Wahljahr 2002, wofür das Wort „Programm“ eigentlich noch zu gut ist. ({1}) Herr Staatssekretär Andres, besonders Sie sind in Aktionismus verfallen. Denken Sie daran: Sie sind der letzte Schutzschild, den der Arbeitsminister noch hat. Denn sein Verbindungsmann zur Bundesanstalt für Arbeit, der entweder nicht aufgepasst hat, als es um die Vermittlung ging, oder der etwas nicht weiter vermittelt hat oder der nur so getan hat, als ob er nicht wüsste, was ihm weiter vermittelt worden ist, ist ja geschasst worden. Sie sind also der Letzte, der mit Inbrunst Verteidigungsreden hält. Sie selber sollten einmal darüber nachdenken, in welcher Position Sie sich eigentlich befinden. Bisher kann ich nur Aktionismus erkennen. ({2}) Ich möchte nun das bewerten, was Sie in dieser Legislaturperiode gemacht haben. Hinsichtlich der Reform der Arbeitsförderung haben Sie 1999 ein kleines Vorschaltgesetz verabschiedet, mit dem Sie Dinge gemacht haben, die wir schon vorbereitet hatten. Dabei haben Sie auch zwei oder drei falsche Maßnahmen getroffen. Für 2000 hatten Sie eine große SGB-III-Reform angekündigt. Passiert ist allerdings nichts. 2001 legte die Koalition endlich etwas auf den Tisch, nämlich das Job-AQTIV-Gesetz. Der Name klingt zwar großartig. Aber der Inhalt ist es nicht; denn Sie machen eigentlich nichts anderes, als die Arbeitsförderung auf das reine Vermitteln zu reduzieren. Damit komme ich auf einen Kernpunkt zu sprechen, der mich sehr stutzig macht: Mir ist angesichts der Tatsache, dass Sie monatelang über das Thema Vermittlung im Zusammenhang mit dem Job-AQTIV-Gesetz diskutiert haben, völlig schleierhaft, warum erst durch die Prüfung des Bundesrechnungshofes die Fehler bei der Erhebung der Vermittlungsstatistik bekannt geworden sind. Entweder haben Sie - theoretisch - schludrig gearbeitet oder Sie haben bestimmte Dinge nicht zur Kenntnis genommen. Ich ärgere mich jedenfalls fürchterlich, dass Sie im Januar und Februar dieses Jahres so getan haben, als hätten Sie den Stein der Weisen gefunden. Man muss klar und deutlich sagen: Das, was Sie hier machen, ist relativ kurzfristig gedacht und nur auf das Wahljahr ausgerichtet. Es handelt sich um keine langfristige Strategie, sondern nur um Hektik und Aktionismus. ({3}) Sie haben bei all den Reformschritten wichtige Punkte außer Acht gelassen. Rot-Grün hat sich bis zu diesem Januar nicht um die schon lange anstehende Strukturreform der Bundesanstalt für Arbeit gekümmert. RotGrün hat sich bisher nicht um die Stärkung der privaten Vermittlung gekümmert. Sie haben sich nicht um mehr Wettbewerb und Effektivität in der Arbeitsmarktpolitik gekümmert. Ihr großes Gesetz hat all das gar nicht hergegeben. ({4}) Sie machen im Moment etwas, was Sie ursprünglich gar nicht vorhatten. Das ist das Notprogramm, das ich gerade beschrieben habe. Sie haben auch keine Antwort auf die Frage, wie die gesamte Arbeitsmarktpolitik stärker auf die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet werden kann, keine Antwort darauf, wie der Niedriglohnsektor aktiviert werden kann, keine Antwort darauf, wie die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wirklich aussehen soll. Bei alldem hat Ihnen der Mut gefehlt. Sie haben keine Konzepte dazu. ({5}) Deswegen ist es umso verwerflicher, dass Sie hier jetzt den Eindruck erwecken, als hätten Sie den Stein der Weisen und wollten etwas tun. ({6}) - Regen Sie sich nicht auf, Herr Thönnes! Sie haben doch schon geredet. Keine zweite Rede zwischendurch! ({7}) Das Verfahren, das Sie gewählt haben, ist für alle Beteiligten, für Parlamentarier und Experten, die wir eingeladen haben, eine wirkliche Zumutung gewesen. Sie haben erst den Arbeitsminister Riester monatelang durch den Schutzschild Jagoda abgeschirmt. Dann haben Sie Jagoda in die Wüste geschickt und Tegtmeier hinterher. Daraufhin hat der Bundeskanzler persönlich gesagt: Wir machen eine große Reform. - Bundespressekonferenz 22. Februar. ({8}) - Nein, das war nicht ärgerlich. Das war höchstens für Sie ärgerlich, weil Sie am Mittwoch der darauf folgenden Sitzungswoche nicht in der Lage waren, etwas Konkretes zur Verabschiedung auf den Tisch zu legen. Sie wären sogar bereit gewesen, zu einer Anhörung zu etwas einzuladen, das es noch gar nicht gab. Was hat stattgefunden? Es ist leider so - Frau Vorsitzende, Sie wissen es -: Sie haben zwei Wochen gebraucht. Am letzten Freitag haben Sie etwas auf den Tisch gelegt. An diesem Tag haben wir Experten von außerhalb für diesen Dienstag eingeladen. Dann haben Sie das, was Sie als Koalitionsfraktionen am Freitag auf den Tisch gelegt hatten, am Mittwochmorgen in einer Sondersitzung der Fraktion um 8 Uhr noch einmal verändert, haben uns das im Ausschuss - ich sage es einmal so deutlich - auf den Tisch geknallt, die Beratung durchgezogen und das Gesetz im Ausschuss verabschiedet. ({9}) Heute, zwei Tage später, findet die Schlussabstimmung statt. - Das ist eine Zumutung! Dabei kann nur Murks herauskommen! Das ist das Ergebnis Ihrer Politik! ({10}) Dieses Verfahren ist blamabel. Es war zu wenig Zeit. Es ist auch kein Wunder, dass die Ergebnisse, die heute zu verabschieden sind, unbefriedigend bleiben. ({11}) Ich nenne nur drei Punkte: Erster Punkt. Der Wert der Vermittlungsgutscheine berechnet sich nach Ihren Vorstellungen lediglich nach der Dauer der Arbeitslosigkeit. ({12}) Das heißt konkret: Je langsamer die Vermittlung ist, umso höher werden die Kosten. ({13}) Zweiter Punkt. In den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit besteht selbst dann, wenn die Einschaltung eines Privatvermittlers die Einstellung des Arbeitslosen befördern würde, kein gesetzlicher Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein. Letzter Punkt. Sie gehen bei der organisatorischen Änderung der Bundesanstalt für Arbeit nicht weit genug. Der Aufsichtsrat - Karl-Josef Laumann hat darauf hingewiesen - sollte aus unserer Sicht nur noch aus Gewerkschaftsund Arbeitgebervertretern bestehen, damit die das regeln können, was die Arbeitslosenversicherung betrifft. Nach dem Motto „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bilde ich einen Arbeitskreis“ ({14}) schiebt Rot-Grün die Klärung der eigentlichen Strukturreform der Bundesanstalt einer Kommission zu. Also hier im Parlament Aktionismus, Hektik, schnelles Durchpeitschen ({15}) und die wirklichen Reformen finden in einer Kommission statt! Dann haben Sie noch beschlossen,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Sie können das jetzt nicht mehr ausführen.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- dass diese Kommission am 15. August die Ergebnisse vortragen soll. Das ist zu durchschaubar. Das ist vier Wochen vor der Bundestagswahl! ({0}) Bisher haben Sie für den Arbeitsmarkt eigentlich nichts getan und dann wollen Sie ankündigen, was Sie danach machen wollen. Sie haben vier Jahre zu wenig getan und die Antwort werden Sie vom Wähler bekommen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Kurzintervention des Abgeordneten Grehn. ({0})

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Kollegen, ich hätte gern darauf verzichtet, wenn nicht vom Herrn Kollegen Thönnes die Äußerung gefallen wäre, ich würde die Menschen belügen. Herr Thönnes, ich beziehe mich auf den Entwurf in der vom Ausschuss beschlossenen Fassung, und zwar auf Art. 3 - Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch § 421 g Abs. 1, in dem der Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein geregelt wird. Dies steht in Verbindung mit dem, was in der Ausschussdrucksache 14/2201 zu § 296 Abs. 3 SGB III und in der dazu vorliegenden Erläuterung zu Nr. 3 nachgereicht worden ist. Ich zitiere das gerne noch einmal: Auch für Arbeitsuchende, die keinen Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein haben, - das ist, wie schon gesagt, in § 421 g Abs. 1 geregelt sieht die Vorschrift eine Begrenzung des Honorars vor, um sie vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme zu schützen. Laut Gesetzestext beläuft sich die Honorarbegrenzung auf 2 500 Euro. Dies wollte ich Ihnen noch sagen; darauf habe ich mich bezogen. Nach dieser Regelung gibt es Arbeitslose, die einen Gutschein erhalten und damit bezahlen, und andere, die die private Vermittlung in Anspruch nehmen dürfen, aber dafür ein Honorar - das ist Ihr eigener Terminus - zu zahlen haben, dessen Höhe Sie festgelegt haben. ({0})

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grehn, jetzt haben Sie der Öffentlichkeit noch einmal sehr schön dargestellt, dass Sie nicht in der Lage sind, das gesamte Verfahren bzw. den Text des Gesetzes zu verstehen. ({0}) In der noch geltenden Gesetzeslage - das wird sich voraussichtlich in den nächsten zehn Minuten ändern dürfen von Arbeitnehmern keine Honorare verlangt werden. Mit dem jetzigen Gesetzesvorhaben ändern wir dies. Wir fügen eine Obergrenze, also eine Begrenzung, ein, damit nicht ungerechtfertigt Honorarforderungen erhoben werden können. Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass man zahlen muss; damit das einmal klar ist. Vielmehr ist es die freie Entscheidung des Einzelnen, ({1}) ob er, basierend auf dem Versicherungsanspruch, den er aufgrund seiner Ansprüche an die Arbeitsverwaltung hat, die Hilfen und Unterstützungen der Arbeitsverwaltung in Anspruch nimmt oder ob er sich einen privaten Vermittler sucht. Die Behörden, die Sozialhilfeträger sind, haben nach dem Bundessozialhilfegesetz die Aufgabe, alles dafür zu tun, dass die Menschen Arbeit und Beschäftigung bekommen. Das ist ein Gesetzesauftrag. Machen Sie hier in der Öffentlichkeit den Menschen nichts anderes vor! Definieren Sie am Ende nicht noch Begrenzungen und Schutzvorschriften als eine Regelung, bei der Menschen etwas zahlen müssen! Das stimmt nicht! ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zum Ersten ein Wort an Herrn Meckelburg richten. Herr Meckelburg hat gesagt, wir würden etwas verstecken. Herr Meckelburg, ich sage Ihnen: Wir verstecken nichts. Wir haben etwas zum Vorzeigen. ({0}) Zum Zweiten wurden heute mehrfach Hinweise auf die PISA-Studie gemacht. Nun wissen wir, mit welcher Debatte wir es zu tun haben: Sie bringen die geistigen Qualifikationen in diesem Land in Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich sage Ihnen: Dadurch, dass Sie diesen Gesetzentwurf mit dem Hinweis auf die PISA-Studie kritisieren, zeigen Sie, dass Sie angesichts der Geschwindigkeit, in der wir Gesetzentwürfe erarbeiten und damit die Situation der Menschen in diesem Lande verbessern, nicht in der Lage sind, mit uns mitzuhalten. Sorgen Sie dafür, dass durch Ihre Reaktionen auf die Ergebnisse der PISA-Studie auch in Ihren eigenen Reihen die Argumentationsfähigkeit aufgebaut wird, die nötig ist, um unserer Geschwindigkeit Folge leisten zu können. ({1}) Die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat ist zwar, wie wir alle wissen, kein in der Öffentlichkeit intensiv diskutiertes Thema, aber gleichwohl für die Wirtschaft von erheblicher Bedeutung. Mit diesem Gesetz leisten wir das, was Sie an anderer Stelle einfordern, nämlich eine Entbürokratisierung. Wir vereinfachen und beschleunigen und bewirken damit einen deutlichen Fortschritt in diesem Land bei der Durchführung von Aufsichtsratswahlen. Weit über die Koalition hinaus ist Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf deutlich geworden. Wirtschaft und Gewerkschaften sind sich einig. Durch die Vereinfachung des Wahlverfahrens und die Verringerung der Zahl der Vertreter in Delegiertenversammlungen im Rahmen von Aufsichtsratswahlen werden in einem erheblichen Umfang Kosten eingespart. Der zweite Teil unseres Gesetzes berücksichtigt die Reform der Arbeitsvermittlung. Dabei bleibt festzuhalten, dass es dagegen keine inhaltlichen Einwände gibt, wie es auch heute Morgen in der Debatte deutlich geworden ist. Union und FDP haben nur aus formalen Gründen dagegen gestimmt. ({2}) - Das ist nicht überzeugend. ({3}) Natürlich haben wir die Verfahrensmöglichkeiten voll ausgeschöpft. Das war jedoch nicht gegen die Opposition gerichtet, sondern es ist im Interesse der Sache notwendig gewesen. Für die konstruktiven Beiträge, die Sie innerhalb des parlamentarischen Verfahrens geleistet haben, möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken. Die kurzfristigen Änderungsanträge sind im Übrigen eine Folge der Anhörung. Sie sind ein Beleg dafür, dass wir eine konkrete Beteiligung der Opposition an dem Gesetzgebungsverfahren ermöglicht haben. Sie haben sich im Interesse der Sache an diesem Verfahren beteiligt. Ich kann Sie heute nur auffordern, im Interesse der Beschäftigten in den Arbeitsämtern dafür zu sorgen, dass die Reform der Arbeitsverwaltung gemeinsam vorangetrieben wird. Deshalb bitte ich Sie: Beharren Sie nicht weiter auf Prinzipien, sondern senden Sie das Signal aus, dass die dringend notwendigen Reformen der Arbeitsverwaltung durch ein gemeinsames Votum dieses Hauses nach vorne gebracht werden. ({4}) In diesem Zusammenhang habe ich wenig Verständnis dafür, dass die CDU/CSU-Fraktion quasi ein Amt für die Zulassung privater Vermittler beantragt. Von der PDS hätte ich einen solchen Antrag, der eine Überbürokratisierung beinhaltet, erwartet, von Ihnen aber nicht. ({5}) Es war uns wichtig, dass dieses Gesetz voll auf der Linie von Job-AQTIV liegt. ({6}) Schon heute haben über 2 Millionen Arbeitslose einen Rechtsanspruch auf private Arbeitsvermittlung. Schon heute ist im Gesetz die Evaluierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente festgeschrieben. Mancher wird sich noch über die Ergebnisse wundern. Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist auf einem guten Weg. Das wichtigste Instrument ist und bleibt die Arbeitsvermittlung. Hier korrigieren wir nicht die Reform; aber wir beschleunigen sie. Arbeitsminister Walter Riester hat auf die entsprechenden Berichte des Bundesrechnungshofs schnell, energisch und sorgfältig reagiert. Das zeichnet ihn aus. Hier lassen wir uns von der Opposition nicht ausbremsen - das ist ein durchsichtiges Manöver -, sondern wir beschleunigen einen notwendigen Prozess im Interesse der Arbeitslosen in unserem Land. ({7}) Mit dem neuen Vorstand wird hoffentlich ein Ruck - so hat es der Altbundespräsident Roman Herzog einmal bezeichnet - durch die Arbeitsämter gehen. ({8}) Er ist auch notwendig. Schon im Job-AQTIV-Gesetz ist das Leitmotiv „nicht privat oder öffentlich, sondern privat und öffentlich“, also zum einen basierend auf Kooperation und zum anderen basierend auf Wettbewerb, verankert. Wir erleichtern die Arbeit der privaten Arbeitsvermittlungen und stärken gleichzeitig die öffentliche Arbeitsvermittlung. Ziel ist schließlich eine schnelle Vermittlung, egal durch wen. Ein Musterbeispiel für die sinnvolle Zusammenarbeit ist die Arbeitsvermittlung durch die Bildungsträger. Das ist ein wichtiger Baustein des Job-AQTIV-Gesetzes. Die Bildungsträger kennen den Markt für bestimmte Qualifikationen und auch die Bewerber sehr gut. Die aus NRW stammenden Beispiele - man konnte sie heute in den Tageszeitungen nachlesen - belegen, ({9}) dass diese Art von Arbeitsvermittlung, nämlich Qualifizierung in Verbindung mit Vermittlung, ein erfolgreicher Weg ist. Immerhin können noch 1,2 Millionen offene Stellen in diesem Lande besetzt werden. Den Arbeitsmarkt mehr in Bewegung zu bringen ist das Ziel dieses Gesetzes, das wir erfolgreich erreichen werden. Es gibt keinen Grund zur Resignation. Im kommenden Aufschwung wird die Arbeitsvermittlung erst recht wichtige Beiträge für die Besetzung freier Arbeitsplätze liefern. ({10}) PrivateArbeitsvermittlungen können vor allen Dingen dort helfen, wo Spezialkenntnisse erforderlich sind und wofür bei der breit angelegten öffentlichen Vermittlung nicht sofort die Voraussetzungen geschaffen werden können. Ich will dazu als Beispiel den überschuldeten Arbeitslosen nennen. Verschuldungsprobleme sind, wie wir wissen, ein gravierendes Vermittlungshemmnis. Alle Vermittler darauf zu schulen wäre - ohne Frage - nicht effizient. Hier ist nur in Kooperation mit der Schuldnerberatung etwas zu erreichen. Die Einbeziehung Dritter ist wirkungsvoller, als die Arbeitsvermittler des Arbeitsamtes entsprechend zu schulen. Hierfür haben wir mit dem Job-AQTIV-Gesetz bereits wichtige Voraussetzungen geschaffen; denn der Rechtsanspruch auf Vermittlung durch Dritte, also Externe, besteht in diesen Fällen bereits ab dem ersten Tag der Arbeitslosigkeit. Dies zeigt, dass wir eine schnelle Arbeitsvermittlung wollen und dass wir das Profiling systematisch einsetzen. Dies zeigt aber auch, dass die Beiträge seitens der PDS, die in diesem Land den Eindruck erwecken will, als sei Arbeitsvermittlung zukünftig nur noch gegen Bezahlung möglich, völliger Quatsch sind. Hören Sie auf mit dieser Verunsicherung! Arbeitslose müssen nicht zahlen; sie haben einen Rechtsanspruch auf die Bestellung Dritter ab dem ersten Tag der Arbeitslosigkeit, wenn dies notwendig ist. Genau das sieht das Job-AQTIV-Gesetz vor. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das wäre ein schöner Schlussatz, Herr Kollege; denn Sie haben Ihre Redezeit überschritten.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit diesem Gesetzentwurf stärken wir die Vermittlungsaktivitäten in diesem Land und sorgen wir dafür, dass die Arbeitsvermittlung im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt wird. Das wird ein erfolgreicher Prozess sein und ich hoffe, dass er durch uns alle in diesem Haus unterstützt wird. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe da- mit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ver- einfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat. Der Abgeordnete Seifert hat eine schrift- liche Erklärung zur Abstimmung abgegeben, die wir zu Protokoll nehmen.1) Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe a) seiner Beschlussempfehlung, den Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt getrennte Abstimmung. Ich rufe also zunächst Art. 1 und Art. 2 sowie Einlei- tung und Überschrift in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Art. 1 und Art. 2 sowie Einleitung und Überschrift sind mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der FDP an- genommen worden. Nun rufe ich Art. 3 bis Art. 21 in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Art. 3 bis Art. 21 sind mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf in dritter Beratung zustim- men wollen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltun- gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- men der gesamten Opposition angenommen worden. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8529, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der PDS bei Ent- haltung von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({0}), 1) Anlage 2 Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen verkürzen - Rahmenbedingungen verbessern - Drucksache 14/7159 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({3}), Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Begrenzung der Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen - Drucksachen 14/1307, 14/2841 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Zumkley c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Jörg van Essen, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen verkürzen - Rahmenbedingungen verbessern - Drucksachen 14/4536, 14/6684 Berichterstattung: Abgeordnete Peter Zumkley Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Günther Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Stehzeit von sechs Monaten im Einsatz findet weiterhin nur geringe Akzeptanz. ({0}) Das ist nicht nur die Meinung der FDP-Bundestagsfraktion, das ist der Originalton des Beauftragten für Erziehung und Ausbildung beim Generalinspekteur der Bundeswehr in seinem Jahresbericht 2001. General Löchel hat Recht. ({1}) Diese Erkenntnis ist keineswegs neu. Dennoch wurde die Dauer der Einsätze nicht auf vier Monate zurückgeführt. Die Meinung der Soldaten, also der Betroffenen, ist dem Verteidigungsminister offenkundig gleichgültig. Minister Scharping ist beratungsresistent. Brigadegeneral Löchel bemängelt in seinem Bericht wiederholt die abnehmende Attraktivität des Soldatenberufes. Dies wird festgemacht an abnehmender Sinnhaftigkeit des Dienens, unzureichender Berufsperspektive, fehlender Planungssicherheit, mangelhafter Information und eben der Aussicht, in regelmäßigen Abständen für sechs Monate in den Einsatz gehen zu müssen. Bei allen Einsätzen der Bundeswehr, wie komplex und lang andauernd sie auch sein mögen, muss das Wohl der Soldaten und deren Familien im Mittelpunkt stehen. ({2}) Der Mensch muss absoluten Vorrang haben. Die Gesundheit und das Wohl der Soldaten und ihrer Familien sind ein hohes Gut, das nicht eingeschränkt oder gar aufgegeben werden darf. ({3}) Die Angehörigen der Bundeswehr befinden sich in einem absoluten Stimmungstief, angefangen bei den Rekruten bis hin zur Generalität, die zivilen Mitarbeiter eingeschlossen. Das ist nicht nur mein Eindruck, gewonnen aus einer Vielzahl von Truppenbesuchen und unzähligen Gesprächen; vielmehr gibt dies auch der Bericht von General Löchel wieder. Wie anders soll man folgende Feststellung verstehen: Eine allgemeine Ernüchterung, vor allem wegen der nicht eingehaltenen Versprechungen zur Steigerung der Attraktivität des Soldatenberufes, war überall deutlich zu spüren. ({4}) General Löchel schreibt weiter: Der politischen Leitung wird mit starken Vorbehalten begegnet. ({5}) Dies ist die höfliche Umschreibung der totalen Frustration der Bundeswehrangehörigen und es ist eine schallende Ohrfeige für Bundesminister Scharping. ({6}) Das Urteil der Soldaten ist logisch und richtig. Die zunehmend nicht nachvollziehbaren Handlungen und Entscheidungen dieses Verteidigungsministers lassen keinen anderen Schluss zu. ({7}) Ist denn die Kritik des Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehr-Verbandes eigentlich unberechtigt? ({8}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Hat Oberst Gertz nicht Recht? Minister Scharping ist nicht in der Lage, die Bundeswehr zu führen. ({9}) Er ist ohne Durchsetzungskraft. Dazu wird er vom Finanzminister, vom Kanzler und von seiner eigenen Partei allein gelassen. ({10}) 1999 hat Minister Scharping vollmundige Versprechungen gemacht und Hoffnungen bei den Soldaten der Bundeswehr geweckt. Was wollte er nicht alles verbessern?! 2000 war dann das Jahr der Ernüchterung, 2001 das Jahr der Enttäuschung und mittlerweile hat das Jahr der Abstrafung begonnen. ({11}) Da der Verteidigungsminister offenkundig nicht die Courage besitzt zurückzutreten und der Bundeskanzler nicht die Kraft zu seiner Entlassung hat, bleibt die Abstrafung. Die Wähler werden am 22. September die Quittung für vier Jahre Stümperei und Unfähigkeit ausstellen. ({12}) Die sechsmonatige Einsatzdauer ist nur ein Beleg - es ist nicht der einzige, aber der entscheidende - für die zunehmende Berufsunzufriedenheit bei den Soldaten; die geplante Kürzung des Auslandsverwendungszuschlages für im Kosovo und in Mazedonien eingesetzte Soldaten ist ein weiterer. ({13}) Vorgestern schrieb mir ein Bundeswehrkommandeur, dass die Soldaten seines Verbandes diese Absicht des Ministers mit Betroffenheit und Unverständnis zur Kenntnis genommen haben. Der Kommandeur schrieb: Dies stellt einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum zunehmenden Vertrauensverlust in die Politik und deren Glaubwürdigkeit dar! Derartig einseitige Maßnahmen werden ... nicht ohne Auswirkungen auf die Motivation und Haltung gegenüber der obersten politischen Führung bleiben. ({14}) Damit nicht genug: Es gibt eine Unzahl ähnlicher Punkte. Hier nur eine kleine Auswahl: Besoldungsunterschied Ost/West - nichts passiert; zunehmender Beförderungsstau; mangelnde Flexibilität in Personal-, ({15}) Versetzungs- und Fürsorgefragen; desolate Materiallage und mangelhafter Einsatz von Grundwehrdienstleistenden. Kann das Urteil Wehrpflichtiger etwa blamabler sein, als dass sie ihren Wehrdienst als „Leerlauf“, als ein mit „Beschäftigungstherapien“ angereichertes „Rumdümpeln“ bezeichnen? Auch dies können Sie im Bericht von General Löchel nachlesen. ({16}) Frust entdeckt man überall in der Bundeswehr, wohin man schaut. Das ist berechtigt und verständlich. Nur der zuständige Minister will den Zustand nicht wahrnehmen. Er redet unverändert schön. ({17}) Der Verteidigungsminister attestiert dem schwer kranken Patienten Bundeswehr beste Gesundheit, obwohl sein Beauftragter für Erziehung und Ausbildung feststellt, dass in der Truppe die Entwicklung der Streitkräfte allgemein mit großer Sorge betrachtet wird. Wir haben also absoluten Stillstand in der Bundeswehr. Nichts geht mehr, nicht einmal die gebotene Verkürzung der sechsmonatigen Einsatzdauer. Dieser Minister wird von den ihm unterstellten Angehörigen der Bundeswehr nicht mehr ernst genommen. Das ist ein unzumutbarer Zustand. ({18}) Der Bundeskanzler muss zum Wohl der Bundeswehr handeln. Auch die deutsche Reputation im Ausland steht auf dem Spiel. Sie, meine Damen und Herren, können hier heute Abhilfe schaffen: Stimmen Sie den Anträgen der FDP zu! Vielen Dank. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes Kahrs.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Sozialdemokrat möchte ich für meine Partei vorweg bekräftigen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Ausland einen hervorragenden Dienst verrichten. ({0}) Sie tun dies unter außergewöhnlich hohen Belastungen; die tragischen Ereignisse in Afghanistan, aber auch in der Ostsee und gerade gestern in Hamburg, im so genannten Friedensbetrieb, haben uns das schmerzhaft vor Augen geführt. Sie tun dies auch unter Einsatz ihres Lebens. Als Sozialdemokrat und Major der Reserve ist es mir eine Verpflichtung, von hier aus ein Wort an meine Kameraden, an die zivilen Angestellten und insbesondere an die Angehörigen und Freunde zu richten. Ihnen allen gebührt unser Respekt und unsere Hochachtung, den vom Unglück betroffenen Angehörigen unser tiefes Mitgefühl. Wir alle wissen um ihre hervorragenden Leistungen und den überragenden Beitrag, den die Soldatinnen und SolGünther Friedrich Nolting daten auf diesem Weg für unser Land leisten. Hierfür meinen aufrichtigen und herzlichen Dank. ({1}) Ich komme nun zu dem Antrag der FDP-Fraktion. Wir kennen die Stimmung in der Truppe. Wir kennen und verstehen die Probleme der Soldaten und können sie nachvollziehen. Wir Sozialdemokraten bieten ehrliche Lösungen und versprechen nicht das Unmögliche. Wir wissen: Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, dass man sie ignoriert, Herr Nolting. ({2}) Bei der FDP vermisse ich konstruktive Kritik und weiterführende Vorschläge. Polemik und billiger Populismus ersetzen kein fehlendes Konzept. Die FDP zeigt keine weiterführenden Wege auf. Sie versperrt sich den Fakten. Es sind aber diese Fakten, die den Großteil der Soldaten von der Notwendigkeit eines sechsmonatigen Einsatzes überzeugt haben. ({3}) Ich weise Sie in diesem Zusammenhang auf den Bericht des Wehrbeauftragten - Sie sollten ihn einmal lesen - hin, in dem steht: „Kritik wird weniger im Hinblick auf die militärische Notwendigkeit geäußert“, es werden eher mehr Flexibilität und mehr Freiräume eingefordert. Genau dem kommen wir nach; ({4}) denn im Zweifel, Herr Nolting, entscheidet immer die Wirklichkeit. Um Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, ein Verständnis für die Fakten zu ermöglichen, werde ich Ihnen diese im Rahmen einer kleinen Weiterbildung gerne noch einmal vortragen. Auslöser für unsere Entscheidung, die Einsatzdauer ab dem Jahr 2000 auf sechs Monate zu verlängern, war das verstärkte Engagement der Bundesrepublik Deutschland auf dem Balkan. Das von uns eingeführte Kontingentsystem garantiert dem Soldaten in der Zielstruktur grundsätzlich eine Stehzeit von zwei Jahren in Deutschland. Da das Heer die Hauptlast der Einsätze zu tragen hat, beziehen sich die heutige Debatte und die Zahlen auch in erster Linie auf diese Teilstreitkraft. Herr Nolting, man sollte hier in der Sache diskutieren und nicht über alle anderen Punkte, die einem bei der Bundeswehr sonst noch auffallen. Das geht selbst an Ihrem Antrag vorbei. Zwei Drittel Ihrer Redezeit hatten mit Ihrem Antrag nichts zu tun. ({5}) - Herr Breuer, Sie wissen doch: Je größer und hohler die Glocke, um so lauter ihr Klang. Das Kontingentsystem überträgt jeweils einer der fünf Divisionen die Verantwortung für Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung jeweils eines Einsatzes. Bei fünf Divisionen ergibt sich somit ein sechsmonatiger Einsatz und ein Dienst von zwei Jahren in Deutschland. Wenn Sie entsprechend nachrechnen, dann ergibt fünfmal ein halbes Jahr zweieinhalb Jahre. Bis in das Jahr 2004 weiß schon jetzt jede Einheit, wann sie für einen Einsatz vorgesehen ist, was allen Beteiligten eine erhebliche Planungssicherheit gibt und auch im Sinne der Soldaten ist. Zurzeit gibt es jährlich zwei Kontingente mit jeweils circa 8 400 Soldaten des Heeres im Einsatz: 7 200 Soldaten auf dem Balkan, 350 Soldaten im Rahmen von „Enduring Freedom“ und 850 Soldaten in Afghanistan. Weitere 18 000 sind durch Vor- und Nachbereitung gebunden. In der Summe bindet unser Konzept jeweils circa 26 000 Soldaten pro Halbjahr bzw. Einsatz. So, meine Damen und Herren von der FDP, das sind erst einmal die reinen Fakten. Nun nehmen wir vor diesem Hintergrund noch einmal Ihren Antrag in die Hand und unterziehen ihn mit diesem Wissen einer erneuten Prüfung: Was würde passieren, wenn wir Ihren Vorschlag aufgreifen? Bei Umsetzung Ihres Modells benötigten wir pro Jahr drei Kontingente. Das hieße aber auch, dass künftig drei statt derzeit zwei Divisionen pro Jahr im Einsatz wären. Um dann auch noch die von Ihnen geforderte Stehzeit von mindestens 20 Monaten in Deutschland zu realisieren, müsste man eine weitere Division aufstellen. Eine Verkürzung der Stehzeit liegt, wie ich glaube, weder in Ihrem Sinne, Herr Nolting, noch in dem der Soldaten. Da die Aufstellung neuer Divisionen entfällt, ergibt sich bei Ihrem Konzept ein Aufenthalt der Soldaten in Deutschland je nach Truppengattung von nur noch einem Jahr bis maximal 16 Monaten zwischen den Einsätzen. Erklären Sie einmal den Soldaten im Ausland, dass es nach einem oder eineinviertel Jahr wieder ins Ausland geht! Das ist unverantwortlich. ({6}) Sie, Herr Nolting, überschreiben Ihren Antrag mit den Worten „Rahmenbedingungen verbessern“. Dem stimmen wir zu. ({7}) Verbessern Sie die Rahmenbedingungen für die Soldaten und unterlassen Sie solche Anträge! Dumm und unsinnig in der Sache. Würde man Ihrem Konzept folgen, dann müssten die gesamten Planungen bis in das Jahr 2004 - jetzt steht schon die Ausbildungsorganisation fest, jetzt sind schon die Einheiten informiert - über den Haufen werfen. Keine Planungssicherheit für niemanden - nicht finanzierbar und verantwortungslos. Das ist das Konzept der FDP. Wir Sozialdemokraten hingegen orientieren uns an den Bedürfnissen der Soldaten und an den Fakten. Das sollten auch Sie beizeiten einmal tun. ({8}) Wir bieten realistische Kompromisse an: in der Regel sechs Monate, aber so viele Ausnahmen wie nötig und machbar. ({9}) Davon ist bei Ihnen nichts zu spüren. Wir hingegen sind flexibel. ({10}) Die Spezialisten, die vorzeitig erneut in einen Einsatz gehen müssen, weil sie unverzichtbar sind, können ihre Einsätze splitten. Die Regelung sieht einen Einsatzzeitraum von drei Monaten vor. Im dritten Einsatzkontingent SFOR haben über 30 Prozent der infrage kommenden Zeit- und Berufssoldaten hiervon Gebrauch gemacht. Den Kommandeuren vor Ort wurde ein größerer Handlungsspielraum für die Einteilung ihrer Kräfte gegeben. Dies entspricht dem Grundsatz der inneren Führung. So flexibel muss man sein, um vor Ort reagieren zu können. ({11}) Aber auch andere Möglichkeiten sind denkbar und praktizierbar. So kann bei einigen Dienstposten mit Zustimmung der Soldaten die Versetzung für ein Jahr oder mehr durchaus sinnstiftend gestaltet werden, das heißt kürzer oder auch länger, je nachdem, was sinnvoll ist. Hier muss man flexibel und offen für die Wünsche der Soldaten sein. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie können nun erneut die Sinnhaftigkeit Ihres Antrages überdenken. Unser Modell wurde im Hinblick auf die Interessen der Soldaten entwickelt; damit können sie sich zwei Jahre in Deutschland aufhalten. ({12}) Wenn die neue Struktur im Jahre 2005 erreicht ist, dann werden wir auch dies einer entsprechenden Prüfung unterziehen. Bis dahin, Herr Nolting, geben wir Ihnen die Gelegenheit, Ihren Antrag noch einmal zu überdenken. Deshalb lehnen wir ihn jetzt ab. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz.

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr hat sich in den Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung stark geändert und fundamental gewandelt. ({0}) Seit Mitte der 90er-Jahre bestreiten deutsche Soldaten in zunehmendem Maße zusammen mit ihren Verbündeten Auslandseinsätze, inzwischen auf vier verschiedenen Kontinenten. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus wird auch in Zukunft enorme Ressourcen beanspruchen. Diese Einsätze sind politisch gewollt, militärisch notwendig und inzwischen auch weitestgehend gesellschaftlich akzeptiert. ({1}) Unsere Soldaten leisten dabei in einem schwierigen Umfeld einen hervorragenden Dienst zur Sicherung von Frieden und Freiheit. Dafür sind wir ihnen und ihren Familien alle zu tiefstem Dank verpflichtet. ({2}) Wir wissen aber - ganz aktuell sehr gewiss -, dass dieser Dienst ein schwerer ist, dass er mit großen Risiken und Gefahren verbunden ist. Das hat uns der Raketenunfall in Kabul sehr deutlich gezeigt. Ich denke, man muss wissen, wofür man verantwortlich ist, wenn man solche Entscheidungen trifft. Wir haben eben schon gehört, wie viele Bundeswehrsoldaten im Moment in den verschiedensten Einsätzen sind: über 9 500 insgesamt, 7 000 auf dem Balkan, weitere 1 000 in Afghanistan, 1 500 im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ in Afrika, im Nahen Osten, in Zentralasien und in Nordamerika. Dieser größeren Mitverantwortung Deutschlands in der Welt aber ist die politische Führung der Bundeswehr in keiner Weise gerecht geworden. ({3}) Der außen- und der sicherheitspolitische Anspruch Deutschlands als bevölkerungsstärkstem Land Europas steht in krassem Widerspruch zu dem Zustand, in dem die Bundeswehr im Moment ist. Die Stimmung in der Bundeswehr ist nicht gut, ja, sie ist schlecht, wie wir alle dem Bericht des Wehrbeauftragten - der einmal Ihrer Fraktion angehört hat, Herr Zumkley - entnehmen können. Gleiches sagt der Bericht des General Löchel, der erst einmal in den Schubladen des Generalinspekteurs verschwand, als er diesem überreicht wurde. ({4}) Gleiches sagt auch der ehemalige Befehlshaber der NATO-Truppen im Kosovo, General Klaus Reinhardt. Er spricht von einer tiefen Verunsicherung. Ähnliches - auch Sie hören das, liebe Kollegen von der SPD - wird Ihnen immer berichtet, wenn Sie Truppenbesuche machen. ({5}) Mittlerweile sind wir so weit, dass selbst höhere Dienstgrade im Beisein ihrer Soldaten Bemerkungen über den Verteidigungsminister machen, die vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen wären. ({6}) Schuld daran - das muss sich diese Regierung sogar von Verteidigungsministern anderer Länder anhören - ist in erster Linie die mangelnde Finanzausstattung der Bundeswehr, die uns gegenüber unseren europäischen Verbündeten, von den Amerikanern ganz zu schweigen, immer weiter zurückfallen lässt. Inzwischen muss man glauben, dass dieses geradezu Methode hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Reduzierung der Fähigkeiten der Bundeswehr Teilen dieser Koalition gefällt und sie diese als den richtigen Weg sehen. ({7}) Ein entscheidender Punkt der Unzufriedenheit, der von Soldaten immer wieder genannt wird, ist unter anderem die Kontingentdauer von sechs Monaten im Auslandseinsatz. Wir diskutieren dieses Thema bereits seit mehreren Jahren. ({8}) Bereits im Dezember 1999 haben wir an dieser Stelle dieselbe Debatte geführt. Damals hat - ich denke, das wird heute ähnlich sein - die rot-grüne Koalition mit ihrer Mehrheit den Antrag der Kollegen von der FDP abgebügelt. Im Juni 2000 haben wir zu diesem Thema eine Anhörung im Verteidigungsausschuss gehabt, bei der Sie, Herr Kahrs, nach Ihren Worten zu urteilen, nicht anwesend gewesen sein können. ({9}) Ich will von der tendenziösen Vorbereitung dieser Anhörung gar nicht sprechen. Aber ich sage Ihnen: Dort wurde klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass gerade die unteren Dienstgrade fast alle für eine kürzere Kontingentdauer oder eine Flexibilisierung plädieren, ({10}) ebenfalls ohne Erfolg, denn passiert ist bis heute überhaupt nichts. Im Verteidigungsausschuss haben wir dieses Thema immer wieder auf der Tagesordnung. Aber auch hier haben sich SPD und Grüne nicht in Richtung unserer Soldaten bewegt. Unsere Pflicht muss es sein, für unsere Soldaten die optimalen vorstellbaren Rahmenbedingungen im Einsatz zu schaffen. Dass das bei der Kontingentdauer zum jetzigen Zeitpunkt nicht der Fall ist, haben wir immer wieder feststellen müssen. Die Kontingentdauer und die Möglichkeiten der Betreuung vor Ort sowie der Angehörigen im Heimatland in der Kombination sind ein wichtiger Komplex. Stattdessen sorgt die Bundesregierung mit ihrem Verteidigungsminister dafür, dass die Stimmung in der Truppe nicht zuletzt aufgrund fehlender durchdachter Konzepte für Auslandseinsätze immer schlechter wird. ({11}) Die jetzige Regelung einer sechsmonatigen Einsatzdauer mit einem vierzehntägigen Heimaturlaub als Option wurde einzig und allein aus Kostengründen installiert, nicht mit Rücksicht auf die Menschen, sondern gegen sie. Herr Kahrs, das wissen Sie. ({12}) Damals garantierte man den Soldaten, dass sie mindestens zwei Jahre nicht mehr zu einem Auslandseinsatz müssen, wenn sie von einem Einsatz zurückkommen. ({13}) - Lieber Herr Kahrs, ich bin überzeugt, Sie täten den Soldaten und auch den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses einen großen Gefallen, wenn Sie sich im Bundestag eine schöne neue Aufgabe suchen würden. ({14}) Mittlerweile müssen nicht nur Spezialisten häufiger in den Einsatz, sondern auch der „normale“ Soldat. Das Resultat ist, dass - das wissen Sie alle - das Versprechen einer zweijährigen Pause nicht eingehalten worden ist. Ein Vertrauensverlust in der Bundeswehr ist wegen dieses nicht eingelösten Versprechens deutlich spürbar. ({15}) Die Einsatzdauer von sechs Monaten hat deswegen eine geringe Akzeptanz, weil sie mit Vorübungen und Nachbereitungen dazu führt, dass der Soldat fast ein Jahr seiner Familie und seinem Standort fern bleibt. ({16}) - Die haben wir Ihnen so oft aufgezeigt, Herr Kollege Kahrs. Sie müssen sie ja nicht verstehen. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kahrs, bitte lassen Sie die Kollegin Lietz einmal ausreden.

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Tatsache ist, dass bei einer sechsmonatigen Einsatzzeit und einem Urlaub, der erst ab dem dritten Monat, aber nicht mehr in den letzten fünf Wochen der Kontingentdauer genommen werden darf, die Einsatzstärke in der Urlaubszeit meist nur 75 Prozent beträgt. Darüber sollte man einmal nachdenken. Ich hoffe, dass Sie, Herr Kahrs, wenigstens den Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts gelesen haben; wenn nicht, sollten Sie sich ihn zu Gemüte führen. ({0}) - Kann er lesen? Das freut mich. Zwei Drittel der Soldaten bevorzugen eine Standzeit von vier Monaten ohne Urlaub oder flexiblere Einsatzzeiten. ({1}) Wenn Sie sich einmal das Alter der meisten Soldaten im Einsatz vor Augen halten, dann werden Sie feststellen, dass sie entweder im Aufbau einer Familie begriffen sind oder sehr kleine Kinder haben. Die damit verbundenen Probleme müssen die Soldaten und ihre Angehörigen alleine und getrennt verarbeiten. ({2}) - Ich glaube nicht, dass Sie bei dem Thema Familie und kleine Kinder so ganz mitreden können, Herr Kahrs. Vielleicht können Sie sich nicht in diese Situation hineinversetzen. ({3}) Die Aussicht, in regelmäßigen Abständen für sechs Monate in den Einsatz zu müssen, wirkt auf die Soldaten abschreckend, lässt die Bewerberzahlen sinken und die Abgängerzahlen steigen. ({4}) Das lässt auch die Wehrpflicht, für deren unbedingte Beibehaltung ich aus vielen Gründen plädiere, langsam, aber sicher auf die schiefe Bahn geraten. ({5}) Um die Bedürfnisse der einzelnen Soldaten besser berücksichtigen zu können, muss die Einsatzzeit flexibilisiert werden. Beispielsweise müssen Splittingregelungen durch Mehrfachbesetzung von Dienstposten geschaffen werden. Der Verteidigungsminister und der damalige Inspekteur des Heers haben in der Sitzung des Verteidigungsausschusses am 4. Juli 2001 zugesagt, nach dem Abschluss der Strukturveränderungen der Bundeswehr Verkürzungen für die Einsatzzeit zu bedenken. Das ist im Protokoll der Sitzung nachzuweisen. ({6}) Da die Bundeswehrreform in ihrer angedachten Form nie vollendet werden wird, Herr Kollege Zumkley, ({7}) werden wir uns bald über neue Strukturen unterhalten müssen. Fangen Sie bitte endlich an, dafür Konzepte zu entwickeln! ({8}) - Sie sind an der Regierung, Herr Kahrs. Ich weiß nicht, ob Sie das schon gemerkt haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr schwer, eine Rede zu halten, wenn man wirklich nach jedem Satz unterbrochen wird. Dosieren Sie Ihre Zwischenrufe also besser. ({0}) - Ich dachte, im Verteidigungausschuss säßen Gentlemen. ({1})

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke Ihnen sehr für Ihr Verständnis und freue mich darüber. Aber wir kennen Herrn Kahrs aus dem Verteidigungsausschuss und sind insoweit wirklich schmerzerprobt. ({0}) Lassen Sie mich ein paar Worte zum Familienbetreuungskonzept sagen, weil dieses Thema zu den Einsätzen gehört. Für mich ist Familienbetreuung Bestandteil des Einsatzes. Wir brauchen ein anderes, deutlich verbessertes Familienbetreuungskonzept für die Soldaten und ihre Angehörigen. Nicht zuletzt durch die immer weiter um sich greifende Finanzmisere und die gescheiterte Bundeswehrreform ist die Moral in der Bundeswehr seit einiger Zeit drastisch gesunken; darauf habe ich eben schon hingewiesen. Immer weniger gute Zeitsoldaten wollen Berufssoldaten werden und immer weniger Wehrpflichtige tragen sich mit dem Gedanken, Zeit- oder Berufssoldat zu werden. Die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber ist unter anderem wegen der ineffektiven Einsatzdauer, wegen mangelnder Technik, wegen des Materialnotstandes und vieler anderer Dinge gesunken, aber auch wegen des Nichtvorhandenseins einer gut funktionierenden Familienbetreuung. Eines kann ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Wir werden uns in Zukunft alle damit beschäftigen müssen, wie es ist, wenn Soldaten im Einsatz ihre Familien nicht mehr hinter sich wissen. Ich sage Ihnen voraus, dass die Motivation für den Einsatz bei diesen Soldaten drastisch sinken wird. In diesem Moment wird jeder Einsatz zu einem noch größerem Risiko, als er es zum jetzigen Zeitpunkt schon ist. Um eine vollständige Abdeckung aller Soldaten und deren Familien einschließlich einer 24-stündigen telefonischen Erreichbarkeit und Ansprechbarkeit zu gewährleisten, ist eine flächendeckende Einrichtung von 32 Familienbetreuungszentren notwendig. Dazu gehört eine Aufstockung des Personalbestandes der Familienbetreuungszentren. Die auf der konzeptionellen Grundlage des Bundesministeriums der Verteidigung geplante Einrichtung von zehn Betreuungsstellen mit hauptamtlichem Personal, Frau Staatssekretärin Schulte, ist dafür keinesfalls ausreichend. ({1}) Die - wie Sie mir auf eine Anfrage geantwortet haben vom Ministerium vorgesehene zweijährige Erprobungsphase ist entschieden zu lang. Unsere Jungs sind jetzt im Einsatz und brauchen jetzt unsere Hilfe. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, jetzt muss ich Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Ansinnen und den Anträgen der FDP zu. ({0}) Wir freuen uns, dass dieses Thema hier noch einmal besprochen worden ist. Ich kann Ihnen versichern, dass wir weiterhin dranbleiben werden. ({1}) Man lernt, dicke Bretter zu bohren. Eines Tages werden die Soldaten andere Einsatzkonditionen vorfinden, wahrscheinlich schon nach dem 22. September dieses Jahres. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihnen fällt es natürlich leicht, hier Vorschläge zu machen, die nicht umsetzbar sind, aber engagiert klingen. Das passt zum Wahlkampf, ({0}) erfüllt aber keineswegs die Bedürfnisse einer Bundeswehr im Einsatz und eines Parlaments, das offen ist für Probleme, aber auch versucht, konstruktive Antworten zu finden. ({1}) Wir halten grundsätzlich an der Einsatzdauer von sechs Monaten fest, nicht nur, aber auch, weil alle anderen Nationen, mit denen wir uns zusammen an einer Konflikt- und Friedensprävention beteiligen, die gleiche Stehzeit haben. ({2}) Gleichwohl ist es notwendig - ich teile diese Ansicht -, die Dauer der Einsätze immer wieder zu überprüfen und zu diskutieren. Die Zusage des Verteidigungsministers steht, allerdings nicht für den Prozess der Reform selbst, sondern für das Ende der Reform. ({3}) Dann werden wir erneut die Überprüfung vornehmen. ({4}) Ich denke, dass man die Frage der sechsmonatigen Einsatzdauer nicht zum Dogma verkommen lassen darf, gerade weil wir sehen, wie wichtig die Motivation der Soldaten im Einsatz ist. Diese Motivation ist die Voraussetzung und entscheidende Grundlage dafür, dass der politische Auftrag, den wir in der Regel im Konsens formulieren, auch umgesetzt werden kann. ({5}) Wir wissen, dass derzeit die Grenze der Leistungsfähigkeit erreicht ist. Ich will Ihnen aber sagen, dass ich mich während der Truppenbesuche auf dem Balkan, die ich wie viele andere auch mache, immer wieder davon überzeugen konnte, dass unsere Soldaten im Einsatz erstens hoch motiviert sind, zweitens gute Arbeit leisten und drittens oft ihren Auftrag übererfüllen. ({6}) Gleichwohl weiß ich auch, dass die sechsmonatige Abwesenheit von zu Hause gerade für junge Familien und Beziehungen eine hohe Belastung ist. ({7}) Dies gilt vor allem dann, wenn die Zusage, danach zwei Jahre im Heimatland sein zu können, im Moment - insbesondere bei speziellen Einheiten - nicht eingehalten werden kann. ({8}) Ich möchte vor diesem Hintergrund deutlich machen, dass es nicht darum geht, an der Zahl der Monate herumzufeilschen. Vielmehr ist die Politik gefordert - dies ist in den letzten zehn Jahren meines Erachtens nicht ausreichend erfolgt -, politisch zu entscheiden, wann und mit wie vielen Bundeswehrsoldaten wir uns an welchen Einsätzen beteiligen. Wir wissen, dass bei der Truppe die Grenze der Belastbarkeit im Moment erreicht ist. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, warum wir trotz vieler guter Argumente auch sagen mussten, dass wir derzeit die Rolle der Lead Nation in Afghanistan nicht übernehmen können. Das ist auch richtig so. Wir leisten politisch in anderen Bereichen sehr viel mehr und Notwendiges. Wer den Einsatz dort nur auf das Militärische reduziert, übersieht, dass wir die wichtige Stabilisierung in Afghanistan zum Beispiel durch den Aufbau der Polizei oder durch die Beteiligung an ISAF ganz in den Vordergrund stellen und auch so zur Entlastung unserer Bundeswehr beitragen. Ich denke, dass diese politische Diskussion notwendig ist, gerade auch weil wir wissen, dass zum Beispiel durch das Engagement der Bundeswehr in Mazedonien das Aufflammen eines Bürgerkrieges bislang erfolgreich verhindert werden konnte. Diese politischen Rahmenbedingungen werden wir weiter beobachten müssen. Zum Schluss möchte ich ganz klar sagen, dass wir Flexibilität nicht für ein Zauberwort halten. Wir und auch das Verteidigungsministerium sind gefordert, ein Höchstmaß an Flexibilität im Rahmen der sechs Monate zu prüfen und durchzusetzen. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass dazu auch die Urlaubsregelung gehören muss. Aufgrund vieler Gespräche, aber auch aufgrund der Tatsache, dass man oft mit leeren Flugzeugen hin- und herfliegt, bin ich der Überzeugung, dass eine dritte Urlaubswoche gewährt werden kann, ohne weitere Kosten zu verursachen, wenn man die vorhandenen Transportkapazitäten ausnutzen würde. Ich plädiere dafür, dies zu überprüfen und den Soldaten während der sechsmonatigen Stehzeit diese dritte Urlaubswoche zu gewähren. Wenn wir diese Punkte weiter anpacken und nicht versuchen, die Bundeswehr wieder einmal mit Wahlkampfscheuklappen zu instrumentalisieren, ({9}) wie Herr Nolting oder auch die CDU/CSU das machen, wenn wir kritische Berichte kritisch hinterfragen und wesentliche Elemente in die Politik einfließen lassen - ich meine die Berichte des Wehrbeauftragten und des Brigadegenerals Löchel -, dann können wir der Bundeswehr, uns und unserer Außenpolitik einen größeren Gefallen tun als durch das, was Sie sich hier gerade geleistet haben. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Lippmann.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich fasse den Sachverhalt kurz zusammen: Es geht hier um zweiAspekte, nämlich zum einen um den sozialen Aspekt - die Stehzeiten für die Soldaten und ihre Familien sollen so kurz wie möglich gehalten werden - und zum anderen um den politischenAspekt - dabei geht es um den Sinn von Auslandseinsätzen überhaupt. Wie Sie wissen, steht die PDS in sozialen Fragen aufseiten der Soldaten. Von daher müssten wir dem FDPAntrag zustimmen; denn es liegt insbesondere auch im Interesse der Soldaten und ihrer Angehörigen, die Trennungszeiten so kurz wie möglich zu halten. Nun könnte man natürlich argumentieren - so war es vorhin aus Ihren Reihen auch zu hören -, dass es die Hauptaufgabe von Soldaten sei, in den Krieg zu ziehen, zu kämpfen und persönliche Belange dementsprechend dahinter zurückzustellen. ({0}) Diese Argumentation greift aber zu kurz, weil sie den menschlichen Aspekt ausklammert. ({1}) Dass wir dem FDP-Antrag nicht zustimmen, sondern uns enthalten werden, liegt in dem politischen Aspekt begründet; denn die PDS lehnt Auslandseinsätze ab. ({2}) Wie wir nicht erst seit gestern wissen, sind es keine so genannten „humanitären“ oder „Friedensmissionen“, wie es im FDP-Antrag beschönigend heißt, ({3}) sondern es sind Militäreinsätze, die ein breites Aufgabenspektrum abdecken und zum großen Teil völkerrechtsund verfassungswidrig sind. ({4}) In Afghanistan sind deutsche Soldaten an Kampfeinsätzen beteiligt, die unter Anwendung völkerrechtlicher Konventionen als Kriegsverbrechen geahndet werden müssten. ({5}) Herr Karzai hat sich heute Morgen im Auswärtigen Ausschuss für das erfolgreiche Agieren der deutschen Truppen bei der Zerstörung der großen al-Qaida-Basis vor zwei Tagen in Ostafghanistan ausdrücklich bedankt. ({6}) Meinen Hinweis, dass man über so etwas in Deutschland eigentlich nicht redet, nahm er mit Verwunderung zur Kenntnis, weil wir doch - sinngemäß - stolz darauf sein müssten, wenn deutsche Soldaten gemeinsam mit afghanischen, australischen und US-amerikanischen Soldaten Erfolge erzielten. ({7}) Ich erwähne das hier, weil Herr Karzai ein zentrales Thema aufgegriffen hat, nämlich die Frage der Akzeptanz deutscher Kampfeinsätze. Meine Damen und Herren, Sie stehen doch mit einer großen Mehrheit hinter den Kampfeinsätzen. Deshalb frage ich Sie: Warum überlassen Sie es Herrn Karzai, den Einsatz deutscher Soldaten bei den Kampfeinsätzen zu belobigen? Warum überlassen Sie es amerikanischen Politikern und Militärs, die deutsche Öffentlichkeit über diese Einsätze aufzuklären? Ich frage Sie des Weiteren: Wie muss sich ein Mitglied der in Afghanistan stationierten Bundeswehr, insbesondere der KSK, wohl fühlen, wenn seine Arbeit von seinen Auftraggebern, nämlich diesen vier Fraktionen hier im Haus und der Regierung, negiert wird? ({8}) Wer A sagt, muss auch B sagen. Es reicht nicht aus, die sozialen Belange der Soldaten an der Dauer von Auslandseinsätzen festzumachen. Herr Kollege Kahrs, die Alternative ist, auf eine Beteiligung an Auslandseinsätzen zu verzichten und sich auf die seinerzeit im Grundgesetz formulierte Aufgabe der Landesverteidigung zurückzuziehen. ({9}) Wir werden uns bei der Abstimmung über den FDPAntrag enthalten; denn wir sind der Meinung, dass man Terrorismus nicht mit Thermobomben oder sogar einem eventuellen Einsatz von Nuklearwaffen, sondern ausschließlich durch eine sozial gerecht gestaltete Wirtschaftspolitik, eine Politik des Ausgleichs mit sozialen und zivilen Mitteln bekämpfen kann. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Mogg.

Ursula Mogg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der jüngste Bericht des Wehrbeauftragten hat gezeigt, dass wir in unserem Bemühen, die Situation der Soldaten und Soldatinnen zu verbessern, nicht nachlassen dürfen. Wir sind weit davon entfernt, eine zufriedene Bilanz zu ziehen oder gar selbstgerecht zu sein. Vielmehr stellen wir fest, dass die Verhältnisse, unter denen der Dienst in der Bundeswehr vielerorts geleistet wird, vor allem aber während der Auslandseinsätze, Anlass zum Nachdenken geben. Dies ist eine harte, herausfordernde und auch gefährliche Arbeit, wie wir dies zurzeit insbesondere in Afghanistan zur Kenntnis nehmen müssen. Dies ist allerdings auch eine Arbeit, deren Sinnhaftigkeit von den Soldaten nicht infrage gestellt wird und die ihnen in unserer Gesellschaft und vor allen Dingen dort, wo sie geleistet wird, hohes Ansehen und viel Respekt einbringt. ({0}) Ich hoffe, wir können uns darauf verständigen, dass es unser gemeinsames Anliegen ist, alles Mögliche zu tun, um die Arbeit und Einsatzbedingungen unserer Soldaten so akzeptabel wie möglich zu gestalten, wissend, dass uns dies nie ganz gelingen kann. ({1}) Bei der Ausgestaltung dieser Bedingungen sind wir allerdings darauf angewiesen, uns an den Fakten zu orientieren; denn die Entwicklung der internationalen Sicherheitslage nimmt auf viele vernünftige und gut gemeinte Überlegungen keine Rücksicht, wie wir am 11. September 2001 besonders schmerzhaft erfahren mussten. Die FDP beantragt zum wiederholten Male die Verkürzung der Einsatzdauer bei Friedensmissionen, ohne uns allerdings Lösungsvorschläge für die vermeintliche Alternative anzubieten. ({2}) Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, Herr Nolting, dass ein halbes Jahr Auslandseinsatz eine lange Zeit ist. Trotzdem müssen wir uns den Realitäten stellen und die Grundrechenarten beachten. Das hat der Kollege Kahrs zutreffend herausgearbeitet. Ausgangspunkt aller Überlegungen war schließlich nicht die Festlegung der Verweildauer im Einsatz, sondern die Festlegung der Verweildauer von zwei Jahren im Inland. Daraus folgt zwingend, dass ein kürzerer Auslandseinsatz eine kürzere Verweildauer im Inland nach sich zieht. ({3}) Es bedeutet geringere Planungssicherheit, keinen Urlaub und kürzere Regenerationsphasen. ({4}) Ich bezweifle daher sehr, dass kürzere, dafür aber häufigere Einsätze für die Lebens- und Familienplanung unserer Soldaten wirklich besser sind als das, was wir im Moment haben. ({5}) In die Planung würde vermutlich eher eine größere Hektik hineingetragen. Der Soldat oder die Soldatin würde sich in permanenter Vorbereitung auf den nächsten Einsatz befinden. Der Hinweis auf die überwiegende Praxis unserer Verbündeten ist zudem ein Argument, das in Bezug auf die Abstimmung der Arbeit vor Ort mehr als tragfähig ist. Das Heer trägt bekanntermaßen die Hauptlast der Auslandseinsätze. Trotz aller Schwierigkeiten mit Vergleichen - das räume ich ein - ist es doch sicherlich legitim, darauf hinzuweisen, dass die Soldaten der Marine häufig die Hälfte und mehr eines jeden Jahres unterwegs und entsprechend nur ein halbes Jahr oder auch kürzer bei ihren Familien sind. ({6}) Ich bin mir sicher, dass die Bundeswehr bzw. die betroffenen Soldaten um diese Abwägungsprozesse wissen und dass es mit Blick auf ihre privaten und dienstlichen Belastungen nie eine optimale Lösung geben kann. Richtig ist auch, dass es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr noch unbefriedigende Situationen und Engpässe gibt. Zur Akzeptanz der Realität und der Fakten gehört dabei auch, dass die Bundeswehr eine Armee im Einsatz und im Umbau ist. Diese Tatsache macht uns alle sehr ungeduldig - zugegeben. Auch darum kann nicht immer so flexibel vonseiten des Dienstherrn Bundeswehr agiert werden, wie wir dies wünschen. Ich möchte hinzufügen: noch nicht, denn die Bundesregierung ist durchaus auf einem richtigen Weg, dies künftig zu gewährleisten, und zwar allen öffentlichen Mäkeleien zum Trotz. ({7}) Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir halten den vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion für unehrlich und eher taktisch motiviert, weil die angestrebten Veränderungen im Moment wirklich nichts bringen, möglicherweise sogar eher als Nachteile wahrgenommen werden könnten. Das im Antrag beschworene wichtige Ziel der Rücksicht auf die Soldaten sehe ich jedenfalls mit ein paar Wochen Einsatzverkürzung nicht gewährleistet. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7159 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 14/2841 zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel: „Begrenzung der Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 14/6684 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissionen verkürzen - Rahmenbedingungen verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4536 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den Wirkungen der Wohnungsüberwachung durch Einsatz technischer Mittel ({0}) - Drucksache 14/8155 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Es ist darum gebeten worden, alle Reden zu Protokoll geben zu können. Es handelt sich um die Reden der Ab- geordneten Meyer, Pofalla, Özdemir, van Essen, Jelpke und Pick.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfah- ren wir so. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8155 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage federführend im Rechtsausschuss beraten werden soll. - Auch damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so. Die Überweisung ist so beschlossen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung der steuerlichen Diskriminierung Alleinerziehender - Drucksache 14/8274 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Gerechtigkeit im Familienlastenausgleich herstellen - Drucksache 14/8273 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Hier wird gebeten, die Reden der Abgeordneten Kressl, Wülfing, Scheel und Lenke zu Protokoll zu nehmen.2) Sie sind einverstanden? - Dann verfahren wir so. Zu diesem Tagesordnungspunkt wird einzig die Abgeordnete Barbara Höll reden.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin enttäuscht und finde es feige und ignorant, dass sich die Vertreterinnen der Regierungskoalition nicht der Debatte stellen. ({0}) Ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass Frau Staatssekretärin Hendricks an der Debatte teilnimmt. ({1}) 1) Anlage 3 2) Anlage 4

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, ich möchte Sie unterbrechen. Wenn vereinbart wird, dass Reden zu Protokoll gegeben werden, Ihre Fraktion dem zustimmt und Sie als Einzige reden, geht es nicht, dass Sie das auf Kosten der anderen tun. Das ist schon das letzte Mal so gewesen. Damit verschaffen Sie Ihrer Fraktion einen unstatthaften Vorteil. ({0}) Ansonsten müssen wir in Zukunft in dieser Sache anders verfahren; dann ist das nicht mehr möglich. Denn das Interesse, die Debatte irgendwann zu beenden - zumal, wenn Parteitage stattfinden -, ist gerade von Ihrer Fraktion vorgetragen worden. Darüber müssen wir uns in Zukunft einigen. Aber jetzt haben Sie das Wort. Ich bitte Sie nur, in Zukunft auf diese Sache zu achten. ({1}) - Ich stoppe die Uhr.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die Uhr ist aber die ganze Zeit weitergelaufen, als Sie geredet haben. ({0}) Frau Präsidentin, ich habe nichts dagegen, wenn sich Kolleginnen und Kollegen dafür entscheiden, ihre Reden zu Protokoll zu geben. ({1}) Ich habe aber trotzdem das Recht auf eine moralische Wertung, das ich mir auch nicht nehmen lassen möchte. ({2}) Es bleibt Ihnen natürlich unbenommen, darüber weiter zu diskutieren. Gerade die Familienpolitik ist das Feld, über das Herr Eichel in der Öffentlichkeit immer noch sagt: Prima, wir haben so viel geschafft; es ist alles toll. In der Tat haben Sie in dieser Legislaturperiode das Kindergeld um 80 DM angehoben - das ist auch gut so -, allerdings nur für das erste und zweite Kind. Aber die 1 Million Kinder und Jugendliche, die von Sozialhilfe leben müssen, bekommen von diesen 80 DM monatlich nur 10 DM. Doch ansonsten schien alles prima Klima zu sein. Aber auf einmal haben am 18. Februar dieses Jahres mehr als 100 allein stehende Väter und Mütter beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde eingereicht. Daraufhin gab es ein anscheinend großes Erschrecken und die Erklärung, dass die Lage von Alleinerziehenden tatsächlich schlechter ist, dass man das aber nicht gewusst habe und dass die gegenwärtige Lage Ergebnis des Bundesverfassungsgerichtsurteils sei. Dazu möchte ich klipp und klar sagen: Mit diesem Argument gehen Sie in der Öffentlichkeit auf Dummenfang. Dem ist nicht so. ({3}) Das Bundesverfassungsgericht hat nicht vorgeschrieben, dass Sie Alleinerziehende schlechter stellen müssen. Das haben sowohl Professor Kirchhof in der letzten Zeit des Öfteren als auch am Dienstag dieser Woche Frau Professorin Limbach betont. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgehend vom Gleichbehandlungsgebot angemahnt, dass die alleinige Gewährung des Haushaltsfreibetrags an Alleinerziehende nicht verfassungskonform ist. Soweit ist das richtig. Aber gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ein Diskriminierungsverbot von Eltern gegenüber Kinderlosen ausgesprochen. Dieses Verbot haben Sie gröblichst verletzt. ({4}) Sie haben sich für die - relativ einfache und für den Finanzminister billigste - Variante entschieden, in zwei verschiedenen Schritten vorzugehen. Der erste Schritt ist die stufenweise Abschaffung des Haushaltsfreibetrags vom 1. Januar dieses Jahres bis 2005 für die so genannten Altfälle, das heißt für die Kinder, die bis zum Dezember vergangenen Jahres geboren wurden. Dass dies zumutbar sei, wurde damit begründet, dass schließlich das Kindergeld zum 1. Januar dieses Jahres um 30 DM erhöht worden sei. Die Zahlen sprechen leider eine andere Sprache. Erstens ist Ihnen bekannt, dass Alleinerziehende in der Regel nur einen Anspruch auf das halbe Kindergeld haben, weil die andere Hälfte dem hoffentlich Unterhaltszahlenden - meistens sind das die Väter - zusteht. Das heißt, von der Erhöhung um rund 15 Euro kommen bei den 1,7 Millionen allein erziehenden Müttern und 300 000 allein erziehenden Vätern in der Bundesrepublik in der Regel 7 Euro an. Durch die Abschmelzung in der ersten Stufe des Haushaltsfreibetrags auf 2 340 Euro bezahlt eine Alleinerziehende mit einem mittleren Einkommen und einem Steuersatz von 35 Prozent seit Januar monatlich 15 Euro mehr. Das heißt, sie bekommt 7 Euro, zahlt aber 15 Euro mehr Steuern. Das ist eine monatliche Mehrbelastung von 7 Euro. Verdient sie etwas mehr und unterliegt sie einem Steuersatz von 40 Prozent, dann zahlt sie sogar 18 Euro mehr Steuern. Das heißt, Sie stellen Alleinerziehende seit Beginn dieses Jahres massiv schlechter. ({5}) Sie werden nicht entlastet, sondern sogar stärker belastet. Das gilt für eine Bevölkerungsgruppe, die nun einmal in der Realität im Durchschnitt leider das geringste Einkommen hat und am stärksten von Armut bedroht ist. Alleinerziehende mit einem Kind erreichen gerade 52 Prozent und Alleinerziehende mit zwei Kindern nur noch 46 Prozent des Einkommens kinderloser Ehepaare. Der zweite Schritt, den Sie beschlossen haben, ist, dass ab 1. Januar dieses Jahres Einelternfamilien, die nach diesem Datum entstehen, gar kein Haushaltsfreibetrag mehr gewährt wird. Davon sind also sowohl die Familien, die erst in den nächsten drei Jahren Kinder haben werden, als auch die Familien betroffen, die zwar schon Kinder haben, aber deren Lebensverhältnisse sich verändert haben, sei es durch Scheidung der Eltern, sei es durch Verwitwung oder sei es dadurch, dass sich ein Kind in den Fällen, in denen die Eltern getrennt leben, entschieden hat, von einem Elternteil zum anderen zu ziehen. Sie behandeln diesen Teil der Alleinerziehenden schon seit Januar dieses Jahres wie Singles. ({6}) Sie verstoßen damit massiv gegen das Diskriminierungsverbot. Ich muss sagen: Der öffentliche Protest, der sich genau dagegen richtet, ist berechtigt. Ich weiß nicht, wo Sie leben. Aber mich hat kürzlich die Mutter eines Klassenkameraden meines Sohnes, die leider Witwe ist, angerufen und hat mir mitgeteilt, dass sie monatlich nun fast 70 Euro mehr zahlen müsse. Sie bestrafen diese Mutter durch Ihre Gesetzgebung zusätzlich. Wir sind uns bewusst, dass unser Gesetzentwurf nur die allergrößten Ungerechtigkeiten heilt; denn er sieht vor, dass wenigstens die Alleinerziehenden, die zu der von mir beschriebenen zweiten Fallgruppe gehören, sofort in den Genuss des Haushaltsfreibetrages kommen, auch wenn dieser abgeschmolzen wird. Aber wir würden so wenigstens sofort helfen können und Zeit für eine ordentliche Beratung der Familienförderung gewinnen. Unter Ihrer Regierungskoalition ist die Schere zwischen armen und reichen Familien weiter auseinander gegangen. Auch der Abstand zwischen den Einkommen derjenigen, die Kinder haben, und den derjenigen, die kinderlos sind, ist größer geworden. Hauptursache dafür ist, dass Sie das Existenzminimum von Kindern seit Jahren viel zu niedrig ansetzen. In der Konsequenz verstoßen Sie auch hier gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts; ({7}) denn Sie besteuern existenznotwendige Ausgaben der Eltern für ihre Kinder. Es gibt hier einen großen Handlungsdruck. Aber bisher weigern Sie sich zu handeln. Hier nützt kein Kopfschütteln und kein Lächeln.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Wir haben deshalb in unserem Antrag die Forderungen aufgelistet, die notwendigerweise umgesetzt werden müssen: nachhaltige Erhöhung des Kindergeldes auf mindestens 220 Euro für jedes Kind, das einkommensabhängig zu steigern ist; eine einheitliche Entlastung der Eltern von den Kosten der Kinderbetreuung; Umwandlung des Ehegattensplittings, um nicht den Trauschein, sondern das Leben mit Kindern zu fördern, und zwar unabhängig von der Form, in der Eltern mit ihren Kindern zusammenleben. Ich konnte Mitte Februar der Presse entnehmen,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, machen Sie jetzt bitte Schluss. Sie haben Ihre Redezeit bereits um zweieinhalb Minuten überschritten.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- dass Sie unserem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen wollten. ({0}) Bitte tun Sie es! Die Menschen warten darauf. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/8274 und 14/8273 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. März 2002, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.