Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau
Bundesministerin, die Redezeit für die Regierungserklärung ist abgelaufen.
({0})
Darf ich noch einen Schlusssatz sagen?
Ja, bitte.
Wir haben auch an
die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger gedacht. Das
Heimgesetz ist novelliert worden. Wir wissen, dass
Schwäche und Abhängigkeit von Kommunikation eine
Rolle spielen. Bei den Heimverträgen sind höhere Standards zu bieten.
Wir denken im Schadensersatzrecht auch an die jungen
Menschen, die sich beispielsweise im Straßenverkehr anders verhalten als Ältere. Wir denken an ihre Situation im
Bezug auf die Kommunikationstechniken. Selbst beim
Rabattgesetz haben wir alte Zöpfe abgeschnitten.
({0})
Bis hin zum Kinderspielzeug sind Kinder zu schützen.
Erwachsene müssen die Aufgabe übernehmen, die, die
nicht lesen können, zu unterstützen.
Wir überlassen die Verbraucher nicht den Werbestrategen. Durch das Sozialstaatsprinzip und das Primat der Politik gilt: Wir wehren Gefahren ab, wir schützen die
Schwächeren. Diese Bundesregierung stellt die Werkzeuge dafür bereit. Information ist ein entscheidendes Instrument für den Demokratisierungsprozess dieser Gesellschaft.
Wir haben im letzten Jahr eine Menge geschafft. Deshalb will ich an dieser Stelle neben den Verbraucherorganisationen auch den Kolleginnen und Kollegen der betroffenen Ressorts und den Ministeriumsmitarbeitern
noch einmal danken.
Meine Damen und Herren, der Kampf um die Durchsetzung der Rechte der Verbraucher hat gerade erst begonnen. Wesentliche Voraussetzung für einen Erfolg ist,
dass Verbraucherkultur und -gedanken selbstverständlicher Teil unseres Denkens und unseres Regierungshandelns werden. Genau dafür stehen wir.
({1})
Nach der
Regierungserklärung eröffne ich jetzt die Aussprache. Als
erste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch heute
Morgen wird nach dieser Regierungserklärung mehr als
deutlich: Die Verbraucherschutzpolitik von Renate Künast
ist die größte politische Rückrufaktion in diesem Land.
({0})
Das einzige funktionierende Schnellwarnsystem ist das
Bundeskabinett, wenn es darum geht, Renate Künast einzufangen, damit sie keinen weiteren Flurschaden anrichten kann.
({1})
Frau Künast wird doch geradezu täglich vom Kanzler abgekanzelt.
({2})
Wo sind denn die lieben Kollegen, bei denen man sich
immer bedankt, zum Beispiel der Bundeskanzler und der
Bundeswirtschaftsminister?
({3})
Ich glaube, da gibt es nicht viel Gemeinsamkeit an diesem
Kabinettstisch.
Jetzt gibt es die neueste preisverdächtige Rhetorik von
Ihnen, Frau Künast. Sie wollen eine „verbraucherorientierte Marktwirtschaft“ einführen. Es ist ja klar: Wer mit
einer zunehmend unsozialen Politik dabei ist, die soziale
Marktwirtschaft geradezu abzuschaffen, der erfindet solche neuen Soundbytes.
({4})
Dafür sind Sie als Ideologieministerin immer zu haben.
({5})
Ich sage Ihnen eines: Die soziale Marktwirtschaft ist der
beste Verbraucherschutz für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Sie ist gut für den Wettbewerb, für die
Nachfrage und damit gut sowohl für die Verbraucher als
auch für die Arbeitgeber in unserem Land.
Ihre Rhetorik, die wir gerade gehört haben, muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie haben im
Haushalt den Bundesverband der Verbraucherzentralen
doch nur deshalb gefördert und die entsprechenden Mittel
erhöht, weil wir in der Haushaltsdebatte Ihre versteckten
Tricks aufgedeckt haben.
({6})
Denken wir in diesem Zusammenhang nur an die Energieberatung. Sie haben doch die Zuschüsse für die unabhängige Energieberatung der Verbraucherzentralen gekürzt.
({7})
Aber trotzdem tun Sie jetzt so, als seien Sie die Schutzpatronin dieser Beratungseinrichtungen.
Es ist schön, dass Sie manchmal unsere Papiere lesen.
Es freut uns, dass Sie endlich darauf kommen, dass eine
Stiftung Bildungstest eine gute Sache ist. Wir haben vorgedacht und Sie schreiben ab. Das begrüßen wir. Ich erwähne weiterhin, dass Sie regelmäßig einen Verbraucherschutzbericht erstellen wollen. Wunderbar! Wir haben ihn
vor einem Jahr in diesem Haus gefordert.
({8})
Machen Sie weiter so! Setzen Sie unsere Vorschläge um!
({9})
Durch die zunehmende Mobilität der Menschen, der
Waren und der Dienstleistungen sowie durch die weltweite Vernetzung der Märkte erlangt der Verbraucherschutz im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft auf regionaler, auf nationaler und auf internationaler Ebene eine
immer größere Bedeutung. Wir wissen: Der Verbraucherschutz ist nicht nur eine Frage der Agrarpolitik, sondern
eine Querschnittsaufgabe. Mit fast allen Bereichen in der
Politik hat der Verbraucherschutz Berührungspunkte. Die
Menschen erwarten klare Konzepte für diesen umfassenden und vorbeugenden Verbraucherschutz. Die Devise
muss sein: weg vom Reparaturbetrieb und hin zum vorbeugenden Verbraucherschutz.
Unsere Eckpfeiler sind bekannt: Transparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle und Nachhaltigkeit. Aber das
alles gelingt nur, wenn wir Kompetenz und effizientes
Handeln bei den Beteiligten vorfinden.
({10})
Bei der Bundesregierung kann man davon aber nicht sprechen.
Frau Künast, Sie haben einen umfassenden Verbraucherschutz versprochen. Was haben Sie aber nach einem
Jahr erreicht? Sie haben einen Flickenteppich geschaffen,
auf dem man zudem noch ausrutscht, weil er - das ist eine
große Enttäuschung - aufgrund von Untätigkeit, Kompetenzmängeln und Skandalen schlecht gewebt wurde.
({11})
An dieser Stelle komme ich gleich auf das Verbraucherinformationsgesetz, das Sie gestern im Kabinett
verabschiedet und heute hier auch erwähnt haben: Was ist
denn aus Ihrem ehrgeizigen Vorhaben geworden, den
Kauf nach ethischen Wertvorstellungen zu ermöglichen?
Sie haben dazu sogar noch Eckpunkte präsentiert. Dazu
kann ich nur sagen, dass aus diesem Eckpunktepapier ein
schlapper Lappen geworden ist. Eine Ihrer angeblich so
wichtigen drei Säulen, der Anspruch auf Information gegenüber den Unternehmen, ist vom Wirtschaftsminister
sogar einkassiert worden. Die Dienstleistungen fielen, so
hört man, der SPD Niedersachsen zum Opfer und sollen
jetzt aus dem Anwendungsbereich komplett gestrichen
worden sein.
Wir von der Union begrüßen grundsätzlich das Vorhaben, die Transparenz und Informationsmöglichkeiten auf
den Märkten zu stärken. Der Begriff des mündigen Verbrauchers ist aus unserer Sicht keine bloße Floskel: Je informierter und aufgeklärter die Verbraucher sind, desto
besser können sie den Markt steuern und desto funktionstüchtiger ist der Wettbewerb.
Aber die Verbraucher benötigen in erster Linie nicht
mehr, sondern bessere Informationen.
({12})
Wir brauchen keine Fülle zusätzlicher Kennzeichnungsvorschriften für Spezialisten und Juristen, sondern wir
brauchen klare, verständliche Regelungen für Menschen
wie du und ich.
({13})
Auf die Qualität der Information kommt es an. Die Information allein sagt häufig nichts; wir brauchen Erläuterungen dazu, also im besten Sinne des Wortes Klasse statt
Masse.
({14})
Wir brauchen in unserem Land vor allen Dingen keine
willkürliche oder tendenziöse Informationsflut nach dem
Motto „Freie Fahrt für Panik“.
({15})
Aber das passt ja zu Ihrem Ministerium: Nachdem Sie die
konventionelle Landwirtschaft pauschal an den Pranger
gestellt haben, haben Sie sich jetzt wieder neue Betätigungsmöglichkeiten eröffnet. Ihr wissenschaftlicher Beirat ist aus Protest gegen eine Satzungsänderung zurückgetreten, weil er um seine Unabhängigkeit fürchtete.
({16})
Wer eine solche ideologisch verbrämte Politik macht,
nützt dem Verbraucher überhaupt nichts.
({17})
Unsere Wirtschaft braucht klare und verlässliche Rahmenbedingungen, nach denen sie agieren kann, nicht aber
ständig neue Knüppel zwischen die Beine und noch mehr
Bürokratie.
Frau Künast, wo Eigenverantwortung gestärkt werden
könnte, verfügen Sie noch nicht einmal über Kompetenz.
Wird sie Ihnen entzogen oder nehmen Sie sie nicht wahr?
Der Kanzler spricht jetzt wieder mit den Bossen. Ihre Kollegin Schmidt lässt sich Ihre Gesetze wenigstens noch von
der Pharmaindustrie abkaufen. Aber Sie können an dieser
Stelle noch nicht einmal mitreden.
({18})
Sie haben hier von den vielen Informationsmöglichkeiten geredet, die Sie den Menschen verschaffen wollen.
Die Bundesregierung hat zum Beispiel im Gesundheitswesen die Möglichkeit, Informationen zu geben. Aber da
blockieren Sie: Eine Politik, die auf Transparenz auch bei
den Kosten setzt, wollen Sie nicht. Sie haben doch die
Kostenerstattung in der GKV zugunsten des Sachleistungsprinzips abgeschafft. Hier hätten wir eine Möglichkeit zu mehr Transparenz. Aber Sie tun es nicht. Im Gegenteil, bei der Pflege reden Sie zwar von mehr Qualität,
wollen dies aber mit noch mehr Bürokratie und noch mehr
Dokumentation erreichen, anstatt dass Sie die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Pflegekräfte genug
Zeit haben, sich am Krankenbett und am Pflegebett den
Menschen zu widmen. Dort wäre Ihr Einsatz gefordert.
({19})
Sie haben über die Schnellwarnsysteme geredet. Das
Beispiel des Chloramphenicols im Shrimpsskandal hätten
Sie besser überhaupt nicht erwähnt. Das war doch eine
peinliche Nummer. Sie, Frau Künast, wurden von den
Bundesländern nicht nur im Shrimpsskandal, sondern
auch im Hinblick auf die BSE-Tests aufgefordert, koordinierend tätig zu werden.
({20})
In beiden Fällen Fehlanzeige! Sie haben sich auch auf der
europäischen Ebene nicht darum gekümmert.
({21})
Dafür brauchen wir gar nicht nach China, sondern nur
nach Polen zu schauen. Es gab keine Äußerung von Ihnen
zu den Zuständen der BSE-Tests und zur BSE-Situation
angesichts der Tiermehlverfütterung in den EU-Beitrittstaaten. Wo bleibt denn Ihr Engagement an dieser Stelle?
Es ist nichts als Rhetorik zu erkennen.
Sie haben das Wettbewerbsrecht angesprochen. Die
Justizministerin hat Ihren Platz verlassen.
({22})
Eine Arbeitsgruppe tagt seit über einem Jahr und legt
selbst auf Nachfrage keine Ergebnisse vor. Sitzen Sie da
überhaupt mit am Tisch? - Es gibt keine koordinierte
Verbraucherschutzpolitik in unserem Land.
({23})
Frau Künast, wohin man in Ihrem Haus auch schaut:
von Transparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle, Nachhaltigkeit, Kompetenz und Effizienz keine Spur. Sie
haben in Ihrer Regierungserklärung im letzten Jahr gesagt: Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Sie haben die
Scherben nicht aufgelesen; es sind nicht weniger geworden. Das ist aber auch ganz klar; denn mit reiner Rhetorik
kann man dies nicht leisten.
({24})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Eigentlich ist die Redezeit viel zu schade,
({0})
um auf die billige Polemik einzugehen, die die Kollegin
Widmann-Mauz vorgetragen hat. Es gibt schon ein
schwaches Bild ab, wenn man hier nur herummotzt, obwohl man auf keine gute Bilanz aus der eigenen Regierungszeit verweisen kann. Sie haben von der „Ideologieministerin“ gesprochen. Angesichts dessen kann man bei
Ihnen nur von billiger Polemik sprechen.
({1})
Wir sind uns wirklich zu schade, uns dies hier anhören zu
müssen.
({2})
Nun aber zur Regierungserklärung. Dieses Jahr scheint
ein Jahr der Bilanzen über die Verbraucherpolitik dieser
Koalition zu werden. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Medien Anfang dieses Jahres eine durchaus
positive Bilanz gezogen haben. Die heutige Regierungserklärung gibt uns Gelegenheit, zu zeigen, dass mit rotgrüner Verbraucherpolitik durchaus schwarze Zahlen geschrieben werden können.
Wir haben im letzen Jahr vieles erreicht; dies ist in der
Jahresbilanz des Verbraucherschutzministeriums nachzulesen. Für mich ist am wichtigsten, dass viele Diskussionen heute anders geführt werden als noch vor zwei Jahren. Ein halbes Jahr vor dem ersten deutschen BSE-Fall
haben wir an einem Entschließungsantrag zum Weißbuch
für Lebensmittelsicherheit geschrieben. Damals haben
wir noch mit heftigem Protest gegen die Forderung nach
einer Positivliste für Futtermittel gerechnet. Heute ist feststellbar, dass diese Forderung überhaupt nichts Gewagtes
mehr hat; sie ist selbstverständlich geworden. Auch das
Verbraucherinformationsgesetz, das gestern vom Kabinett beschlossen wurde, wäre vor zwei Jahren noch nicht
vorstellbar gewesen.
({3})
Insbesondere im Prozess der Umsetzung des Weißbuches für Lebensmittelsicherheit und als Reaktion auf
die BSE-Krise haben wir wichtige Vorsorgemaßnahmen
für die Sicherheit der Lebensmittel getroffen. Wir schaffen Transparenz und die notwendigen Bewertungs- und
Kontrollstrukturen. Damit haben wir für den Lebensmittelbereich Regelungen gefunden, die den Verbraucherinnen und Verbrauchern den notwendigen Schutz und die
Voraussetzungen für einen bewussten und selbstbestimmten Konsum geben.
({4})
Wir sehen in dem Verbraucher einen aufgeklärten
Menschen, der selbst in der Lage ist, seine Konsumentscheidungen zu treffen. Die Grundlage dafür - dies ist
Aufgabe der Verbraucherpolitik - ist eine verlässliche
Verbraucherinformation über die Eigenschaften von Produkten und Mindeststandards in Bezug auf Sicherheit,
Haftung und vor allem Gewährleistung.
Unser Ziel ist es, den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht nur im Lebensmittelbereich, sondern auch
hinsichtlich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes
den notwendigen Schutz zu geben und die notwendigen
Auswahlkriterien zur Verfügung zu stellen. Auch hier haben wir einiges erreicht.
Gerade im wirtschaftlichen Verbraucherschutz stehen
Entscheidungen an, die für die Verbraucherinnen und
Verbraucher von großer Bedeutung sind. Die Kommission hat eine Debatte darüber angestoßen, wie der europäische Binnenmarkt auch zu einem Binnenmarkt für
die Verbraucherinnen und Verbraucher wird. Bisher profitieren diese kaum vom Gemeinsamen Markt. Insbesondere die unterschiedlichen Rechtsnormen halten sie
davon ab, in anderen Mitgliedstaaten zu kaufen.
Die Frage der Harmonisierung dieser Regelungen
prägt die Diskussion um den gesetzlichen Rahmen für den
elektronischen Geschäftsverkehr. Sie wurde von der
Kommission mit dem Grünbuch Verbraucherschutz für
Geschäftspraktiken im gesamten Bereich des Handels mit
Verbrauchern auf die Tagesordnung gesetzt.
Wir haben in Deutschland gute Erfahrungen mit einer
Generalklausel im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gemacht, durch die für Verbraucher und Unternehmen Transparenz geschaffen worden ist. Gleichzeitig
brauchen wir für bestimmte Bereiche spezielle Regelungen. Als ein Beispiel sei hier das Fernabsatzgesetz genannt. Diese Kombination halte ich auch mit Blick auf
eine europäische Harmonisierung für sinnvoll.
Ein funktionierender Wettbewerb mit einer breiten Angebotspalette sorgt dafür, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher Produkte und Dienstleistungen nach ihren
Präferenzen auswählen können. Wettbewerbspolitik ist
damit logischerweise auch immer Verbraucherpolitik. Ein
funktionierender Binnenmarkt wird auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern Vorteile bringen.
({5})
Deutschland hat zum Beispiel innerhalb der Europäischen
Union ein vergleichsweise hohes Preisniveau. Hier können die Verbraucher profitieren.
Wir müssen uns allerdings darum kümmern, dass diese
Auswahl für die Verbraucherinnen und Verbraucher auch
in Zukunft gesichert bleibt. Konzentrationsprozesse bei
Banken, Medien, Versorgungsunternehmen oder im Lebensmittelhandel können für die Verbraucherinnen und
Verbraucher schnell zum Nachteil werden, insbesondere
wenn von der Wettbewerbspolitik nicht mehr der nationale Markt als relevanter Markt angesehen wird.
({6})
Auch bei den Regelungen zum unlauteren Wettbewerb müssen wir uns fragen, welche Vorschriften alte
Zöpfe sind und welche Sinn machen. Es ist klar: Wir
haben heute ein anders Bild vom Verbraucher als vor
100 Jahren. Trotzdem müssen wir dafür sorgen, dass Verlässlichkeit und Transparenz im Handel die Regel sind.
Kein Mensch kann heute mehr sagen, ob er für sich zum
Beispiel den optimalen Handytarif gewählt hat. Wir wollen nicht, dass durch ständige Sonderverkäufe auch in anderen Bereichen die Preistransparenz aufgehoben wird.
Ich halte es daher für richtig, dass wir in Ruhe darüber
nachdenken, wie wir die größtmögliche Freiheit und den
notwendigen Schutz der Mitbewerber, des Mittelstandes
und der Verbraucher erzielen.
In der heutigen Regierungserklärung wurde an vielen
Beispielen aufgezeigt, dass der funktionierende Wettbewerb allein nicht ausreicht, um Verbraucherrechte zu
schützen. Auch die Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften im Jahre 2001 haben in ihren Arbeiten auf
dem Gebiet des Verbraucherschutzes deutlich gemacht:
Auf funktionierenden Märkten entstehen dadurch, dass
Transparenz fehlt, suboptimale Ergebnisse.
Das heißt: Können Verbraucherinnen und Verbraucher
die Eigenschaften von Produkten nicht einordnen, sind sie
auf zusätzliche Informationen angewiesen. Wir werden
ihnen diese geben: Wir werden weiter dafür sorgen, dass
Produkte und Dienstleistungen so gekennzeichnet werden, dass bewusste Kaufentscheidungen getroffen werden
können. Durch die Schuldrechtsmodernisierung wurden
Werbeaussagen verbindlich. Dies ist ein Erfolg für die
Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir haben Kennzeichnungspflichten eingeführt und werden weitere prüfen. Ich denke hier an die Strahlung bei Handys oder an
den Energieverbrauch bei Kraftfahrzeugen. Wir wollen
auch bei weiteren Produkten die Möglichkeiten dafür
schaffen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher auf
Informationen der Behörden und auch der Unternehmen
zurückgreifen können.
({7})
Wir unterstützen verstärkt die Verbraucherverbände
und die Stiftung Warentest. Gerade Letztere ist als unabhängige Stelle für objektive Informationen notwendig.
Ich kann mir durchaus auch eine größere Unabhängigkeit
für die Stiftung Warentest vorstellen.
({8})
Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher in
die Lage versetzen, ihre Rechte auch durchzusetzen. Die
Schuldrechtsmodernisierung hat hier Fortschritte gebracht.
So sorgen wir zum Beispiel mit der Verlängerung der Gewährleistungsfristen dafür, dass eine gute Qualität von Produkten gesichert wird. Wir wollen in Zukunft außergerichtliche Streitschlichtungsverfahren verstärkt einführen.
Auch die Stärkung der Verbraucherverbände ist ein Schritt,
umVerbraucherrechte besser durchsetzen zu können.
({9})
Meine Damen und Herren, wir alle hier im Bundestag
werden heute wieder eine Lanze für den Verbraucherschutz brechen. Wir werden in der nächsten Zeit aber auch
Entscheidungen treffen, bei denen der Verbraucherschutz
gefragt ist. Ich nenne Ihnen einige Beispiele:
Bisher sind die Beförderungsbedingungen im öffentlichen Personenverkehr alles andere als kundenfreundlich.
({10})
Hier müssen wir deutliche Verbesserungen erreichen, insbesondere dann, wenn in Zukunft die Schnittstellen zwischen verschiedenen Unternehmen geregelt werden müssen. Der Kunde ist kein Bittsteller. Wenn er eine Fahrkarte
kauft, hat er einen Anspruch darauf, rechtzeitig anzukommen. Noch ist dieser Schritt aber nicht umgesetzt.
Mit der privaten Altersvorsorge haben wir einen
neuen Markt für Finanzdienstleistungen geschaffen. Wir
werden beobachten müssen, wie sich dieser entwickelt.
Es stellen sich die Fragen, ob die Beratungsangebote reichen und ob die angebotenen Produkte seriös sind. Gegebenenfalls werden wir auch hier handeln müssen.
Auch auf dem Bildungsmarkt gibt es im Moment eine
unüberschaubare Anzahl schwer vergleichbarer Angebote. Wir müssen deshalb prüfen, ob wir hier durch unabhängige Tests oder durch Qualitätssiegel mehr Transparenz schaffen können.
({11})
An diesen Themen wird sich zeigen, ob wir die Verbraucherinnen und Verbraucher in ihren Rechten unterstützen. Wir haben mit dem Verbraucherinformationsgesetz und mit dem, was wir im letzten Jahr gemacht
haben, erste Schritte unternommen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir auch in Zukunft noch weitere Schritte zum
Wohle der Verbraucher und Verbraucherinnen machen
werden.
({12})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Frau Ministerin Künast, Sie haben
heute über Eckpunkte dieses neuen Verbraucherinformationsgesetzes gesprochen, das ich ein Placebogesetz
nenne; denn bei dieser Politik und bei diesem Gesetz steht
etwas drauf, was nicht drin ist.
({0})
Das ist bezeichnend für Ihre gesamte Politik.
Vergegenwärtigen Sie sich einmal, dass die Behörden
zwar auskunftspflichtig gegenüber dem Verbraucher, aber
nicht verpflichtet sind, Informationen einzuholen. Das
heißt doch im Umkehrschluss, dass Sie nur die Infos, die
Sie ohnehin haben - Sie kennen diese rechtlich abgesicherten Informationen und wollen sie weitergeben -, den
Verbrauchern zur Verfügung stellen. Da gehe ich lieber
ins Internet. Dort erhalte ich mehr Infos als dadurch, dass
in den Behörden solche neuen Strukturen geschaffen werden.
({1})
Die Frage ist auch, wem Sie mit diesem hohen Anspruch an Technik und Auskunftspersonal gerecht werden
wollen. Was bedeutet das für die Kosten? Wer soll sie tragen?
({2})
Haben Sie sich darüber überhaupt Gedanken gemacht?
Mir ist Folgendes ganz besonders wichtig: Frau Ministerin Künast, ich habe den Eindruck, dass Sie an der Realität völlig vorbei agieren. Wissen Sie eigentlich gar nicht,
dass die Lebensmittelwirtschaft auf der einen sowie
Mediziner und Technologen auf der anderen Seite hinter
den Kulissen gemeinsam seit über einem Jahr sehr dezidiert dabei sind, ein hervorragend ausgeklügeltes Netz
von Daten und Zusatzinformationen auf ein Datennetz zu
überspielen, das den Kunden vor Ort im Laden zur Verfügung stehen soll? Die Selbstverpflichtung wird also
schon längst umgesetzt.
({3})
Ich nenne ein Beispiel: Wenn jemand, der auf bestimmte Inhaltsstoffe allergisch reagiert, in einem Supermarkt der Zukunft an eine technologische Einrichtung
geht, kann er mithilfe eines Strichcodes künftig sehr dezidierte und wissenswerte Informationen bezüglich Aromen
und Allergiestoffe in einem Produkt erhalten. Das nenne
ich eine Spitzenleistung. Das sind Visionen. Das ist auch
ein Mehrwert für den Verbraucher. Ich glaube, da hinken
Sie völlig hinterher, weil in der Privatwirtschaft vieles
schon längst auf dem Weg ist.
({4})
Was Sie mit Ihrer Politik versprechen, Frau Künast,
wird nicht eingehalten. Dazu gehört auch das Thema
Stiftung Warentest. Sie haben sich heute Morgen noch
einmal als Gönnerin und Förderin der Stiftung dargestellt.
Ich darf Sie daran erinnern, dass die Stiftung und auch die
FDP-Bundestagsfraktion größten Wert darauf legen, dass
dieser Stiftung endlich ein Stiftungskapital zugesprochen
wird, damit die Stiftung unabhängig von schwankenden
Haushaltslagen ihre Arbeit erledigen kann.
({5})
Nehmen wir das Thema Honig. Es ist doch hervorragend, wenn 15 oder 16 Sorten in einem Test dargestellt
werden und der Verbraucher eine Übersicht über Qualität
und Preis bekommt. Auch dabei sind Sie furchtbar kleinlich. Die Stiftung Warentest braucht Unabhängigkeit und
ihr Stiftungskapital, damit diese Säule der Verbraucherpolitik und der Verbraucherinformation, die auch beim
Verbraucher hoch angesehen ist, gestärkt wird.
({6})
Ein anderer inhaltlicher Punkt, bei dem wir als FDP offensiv vorangehen, ist die Forderung nach einem Gesetzes-TÜV für Verbraucherbelange.
({7})
- Frau Höfken, auch Sie sind gleich an der Reihe. - Das
heißt, künftig könnte auf die Entstehung eines Gesetzestextes in den zuständigen Ministerien - Frau Ministerin,
Sie sind nur noch für die wenigsten Verbraucherthemen
direkt zuständig -, zum Beispiel im Justizministerium,
Einfluss genommen werden. Hier ist bisher überhaupt
nichts passiert.
({8})
Unsere Vorstellung ist: Wenn ein Gesetz entsteht, dann
sollen Verbraucherbelange in den Text eingearbeitet werden. Die Auswirkungen auf die Kostenstrukturen, die
Bürokratisierung sowie die Klarheit des Anliegens müssen deutlich gemacht werden. Dieser Punkt ist also sehr
wichtig.
Frau Ministerin Künast, Sie haben ständig von Kontrollen gesprochen. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass wir
bundesweit viel zu wenig Kontrolleure haben? Laut EU
müsste eigentlich die dreifache Anzahl an Kontrolleuren
in den Ländern vorhanden sein.
({9})
- Der Bund und die Länder haben kein Geld. Also muss
man sich auf einen Fahrplan einigen. Dieses Thema ist
höchst problematisch.
Ich nenne Ihnen noch einen Bereich: Landwirtschaft
und Bioprodukte. Frau Künast, ist Ihnen eigentlich
bekannt - Professor Kuhlmann hat das neulich in einem
Vortrag sehr gut herausgearbeitet -, dass wir durch die
Produktion hervorragender konventionell erzeugter Lebensmittel überhaupt erst in der Lage sind, die Nischenproduktion von Bioprodukten - das ist sehr wichtig
und wird von uns unterstützt -, die marktkonform und
nicht per Diktat ablaufen muss, zu betreiben? Ansonsten
hätten wir nicht einmal die Möglichkeit, unseren täglichen Bedarf zu decken. Auch das ist hochproblematisch.
Noch einmal zum Thema Honig aus China. Frau
Künast, ist Ihnen eigentlich bekannt, dass die chinesischen
Sorten häufig mit den argentinischen Sorten gemischt werden? Wissen Sie auch, dass dann, wenn die Pollen entfernt
werden, keinerlei Rückschlüsse auf das jeweilige Herkunftsland gezogen werden können? Das heißt, wir müssen - ich denke, wir sitzen zusammen mit der Wirtschaft
und der Industrie, die dieses Problem erkannt haben, in einem Boot - klarer kennzeichnen, damit der Verbraucher
weiß, welcher Herkunft das Produkt ist, das er kauft.
Verehrte Ministerin: Ideologien sind bewaffnete Ideen.
Das hat schon Ignazio Silone gesagt. Wir als FDPBundestagsfraktion möchten nicht, dass derlei Waffen gegen die Verbraucher gerichtet werden. Machen Sie also
inhaltsreiche Politik, die die Verbraucher tatsächlich ein
Stück weiterbringt. Hören Sie auf, ihnen vorzugaukeln, es
würde konzeptionell und effektiv etwas für sie getan. Ich
bin froh darüber, dass die Wirtschaft längst auf dem richtigen Weg ist. Sie wird Ihnen vormachen, was Lebensmittelinformation und Lebensmittelsicherheit bedeuten.
Vielen Dank.
({10})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Höfken vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kopp, ich kann Ihnen eine gewisse Naivität
nicht absprechen. Bei aller Liebe: Was Sie unter Selbstverpflichtung und Verantwortung der Wirtschaft verstehen, haben wir gesehen. Das war ein Laisser-faire ohne
vernünftigen Rahmen.
({0})
Wie erklären Sie sich denn eigentlich, dass schon wieder
Shrimps mit Antibiotikarückständen in die Futtermittel
gekommen sind? Wie erklären Sie sich die Tiermehlskandale der letzten Jahre oder die mangelhaften Labortätigkeiten in Bayern?
({1})
Das soll dann alles Selbstverpflichtung der Wirtschaft
sein? Ich denke, so kann das nicht laufen.
({2})
Man muss über diese Debatte eine bisschen traurig
sein. Warum mauzt die CDU mit Schaum vor dem Mund?
({3})
Ganz klar: um den Verbraucherschutz klein zu halten, die
Durchsetzung alter Lobbyinteressen wieder zu ermöglichen und zu verhindern, dass der Dreck unter dem Teppich hervorgekehrt wird. Ich kann die Debatte des ganzen
letzten Jahres wirklich nicht anders deuten.
Wir haben in dieser Woche den Verbraucherschutztag. Es geht uns darum, der vermeintlichen und tatsächlichen Abzocke von Verbrauchern entgegenzuwirken. Es
geht um Aufklärung und Information der Verbraucher sowie um die Möglichkeit eines Preisvergleiches.
({4})
Der Euro ist ja ein Beispiel dafür. Es entpuppen sich
einige Wirtschaftsbereiche oder Betriebe trotzt aller
Schwüre, die Euroeinführung nicht zu missbrauchen, als
Euroschmarotzer erster Güte. Es geht um unrechtmäßige
oder zumindest unverschämte Angebote von Dienstleistungen bzw. Verkäufe von Produkten, sei es bei Banken
oder Reinigungen bzw. im Lebensmittelbereich. Bei einem Vergleich, der nötig ist und ermöglicht werden muss,
geht es nicht nur um die Höhe der Preise, sondern auch um
die Qualität, gerade im Lebensmittelbereich.
Um den Verbraucher mündig zu machen, um ihm die
notwendigen Informationen zukommen zu lassen, hat
diese Bundesregierung entschieden gehandelt. Sie hat
völlig neue Strukturen geschaffen, um den Verbraucher
aus seinem Mauerblümchendasein, in dem Sie ihn über
viele Jahre hinweg gehalten haben, herauszuholen.
({5})
Die Verbraucher brauchen, um preiswert - im Sinne
von „den Preis wert“ - Produkte und Dienstleistungen
kaufen zu können und am Markt teilnehmen zu können,
Information und Transparenz, Beteiligung und Schutz.
Die Möglichkeiten dafür sind jetzt geschaffen worden,
und zwar durch ganz neue Strukturen, das heißt durch ein
neues Ministerium, das jetzt Verbraucherschutzministerium heißt. Wir vergessen fast, dass es hier einen Paradigmenwechsel gegeben hat, auch mit der Ministerin
Renate Künast. Wo gehobelt wird, fallen eben auch
Späne. Sie von der Opposition hobeln ja erst gar nicht.
({6})
Zur Umsetzung der neuen Strukturen wurden das Verbraucherinformationsgesetz und das Neuordnungsgesetz
geschaffen. Es gibt jetzt eine Trennung von Risikobewertung und Managementaufgaben. Bewertung und Handeln
sind nun getrennt. Wir haben jetzt zum ersten Mal eine
Struktur, die es ermöglicht, die Probleme im Verbraucherschutz wirklich zu benennen und Regierungshandeln
objektiv zu gestalten. Das ist ein riesiger Schritt in Richtung Verbraucherschutz.
Zum Verbraucherinformationsgesetz. Was wollen
Sie eigentlich? Auf der einen Seite sagen Sie, das Gesetz
sei ein Placebo, und auf der anderen Seite veranstalten Sie
eine große Schreierei, weil es die Wirtschaft beeinträchtigen könnte.
({7})
Richtig ist, dass es ein riesiger Schritt in Richtung zu
mehr Verbraucherschutz ist. Denn die Verbraucher haben
erstmals Zugang zu den Informationen, die sie brauchen,
und die Behörden haben die Möglichkeit - diesen Fall haben wir übrigens gerade wieder in Bayern, wo die Wirtschaft den Staat verklagt, weil er angeblich Maßnahmen
ergriffen hat, die nicht in Ordnung waren - , vorsorgenden
Verbraucherschutz gefahrlos zu praktizieren.
({8})
Das ist nicht nur für die Verbraucher interessant, sondern
vor allem auch für die Multiplikatoren, die Presse und die
Verbraucherverbände, die auf diese Art und Weise die
Verbraucherinformation sehr stark verbessern können.
Wir haben zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wir
haben die Arbeit der Verbraucherorganisationen und die
Informationstätigkeit der Medien gestärkt und den Zugang für die Verbraucher und Verbraucherinnen selbst gesichert. Ich meine, das ist ein riesiger Schritt.
({9})
Dieser Schritt bezieht sich auf die Lebensmittel und Bedarfsgegenstände, also auf eine sehr große Gruppe von
Wirtschaftsgütern. Das scheint Ihnen aber zu wenig zu
sein. Sie können ohne weiteres die Länder unterstützen.
Das tun wir auch. Derzeit haben Sie auch die Gelegenheit,
bei der Produktsicherheitsrichtlinienumsetzung noch weitere Schritte zu gehen. Wir warten dabei auf Ihre weitere
Unterstützung.
Auch der Bereich Dienstleistungen wird sicherlich
demnächst diskutiert werden. Wir werden noch weitere
Schritte unternehmen - und zwar gern mit der Opposition
gemeinsam -, weil mehr Transparenz auf dem Markt auch
Innovationen und mehr Erfolg für deutsche Produkte gerade im Wettbewerb mit anderen Ländern bedeutet.
Im Verbraucherschutz spielen die Siegel und Labels
eine große Rolle für die Transparenz auf dem Markt. Das
Biosiegel ist sehr wohl positiv zu erwähnen.
({10})
Der Erfolg auf dem Markt ist bereits sichtbar geworden.
Durch diese Unterstützung haben wir eine Umsatzsteigerung um 30 Prozent erreichen können. Die Ökofläche hat
sich um 20 Prozent erhöht. Das ist ein riesiger Erfolg. Wir
möchten, dass dieses erfolgreiche Marktsegment noch
vergrößert werden kann.
({11})
Als Letztes möchte ich die Labels im Bereich der konventionellen Produktion - beispielsweise das QS - ansprechen. Ich bin davon überzeugt, dass auch dieses Konzept einen positiven Widerhall auf dem Markt findet, und
dass auch die neuen Labels in anderen Bereichen wie die
Handy- und Energielabels erfolgreich sein werden.
Labels, Verbraucherkennzeichnungen und Zertifizierungen bedeuten für die Verbraucher, dass sie Geld sparen
können und mehr Qualität erzielen können. Es ist diese
Bundesregierung, die diese Möglichkeiten sehr offensiv
schafft.
({12})
Aber Verbraucherpolitik heißt nicht nur, die Verbraucher aufzuklären und ihnen Zugang zu Informationen zu
verschaffen, sondern sie bedeutet auch Schutz, zum Beispiel wenn es um Kinder geht oder die Verbraucher in
ihren gesundheitlichen Rechten beeinträchtigt sein könnten. Auch auf diesem Gebiet sind wir weit fortgeschritten.
Im Bereich Gentechnik - das habe ich gerade in der
Diskussion gehört - haben wir erreicht, dass es zu einem
Monitoring kommt.
({13})
Die gesamte Bundesregierung hat verhindert, dass es zu
einem unkontrollierten Marktzugang von gentechnisch
veränderten Produkten kommt, und hat ein entsprechendes Monitoring und eine wissenschaftliche Untersuchung
des Nutzens und der mit dieser Technologie verbundenen
Risiken vorgeschaltet.
({14})
Die Bundesregierung und das BMVEL haben auch
dafür gesorgt, dass in vielen anderen Bereichen des Verbraucherschutzes - von den Azofarbstoffen bis zu den
Kinderspielzeugen - die Verbraucherinnen und Verbraucher besser geschützt sind. Sie achten zudem darauf, dass
auch über den Lebensmittelbereich hinaus Schritte unternommen werden, die dem Verbraucherschutz oberste Priorität einräumen.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Diskussion in den letzten Tagen und Wochen zurückkommen. Es ging in erster Linie darum, dass Gesetze erlassen
werden, die aber nicht befolgt werden. Aus dieser Diskussion wurde ersichtlich - ich nenne die Stichworte
„BSE-Tests“ und „Chloramphenicol“, insgesamt antibiotische Rückstände -, dass die Opposition den Verbraucherschutz nur zur Instrumentalisierung benutzt.
({15})
Wir erleben es bei den BSE-Tests - das schockiert mich
immer wieder, obwohl ich vielleicht mit den Jahren daran
gewöhnt sein sollte -, dass Gruppierungen - die Führer
von Genossenschaftsvereinigungen genauso wie der Präsident des Deutschen Bauernverbandes - die Regierungen
unter Druck setzen. Im Fall des Verbraucherschutzministers Sinner war es die „Stern“-Geschichte. Es gab in der
Tat eine offene Einflussnahme auf den Verbraucherschutzminister in Bayern, was die BSE-Tests und die Verkehrsfähigkeit bzw. nicht vorhandene Verkehrsfähigkeit
von Fleisch angeht. Im Fall der BSE-Tests und der Antibiotikarückstände werden plötzlich Gesetzesverstöße verUlrike Höfken
harmlost. Es gibt aber einen Unterschied: Im Fall der mit
Antibiotikarückständen belasteten Shrimps gehen Ihnen
die Verbraucherschutzanforderungen nicht weit genug.
Hier verlangen Sie - das wäre Ihnen am liebsten - sogar
den Sturz der Bundesregierung. Ich kann Ihnen nur sagen:
Frau Künast hat konsequent gehandelt; denn sie hat sofort
die bestehenden Informationslücken beseitigt.
({16})
Wenn es aber um antibiotische Rückstände im Bereich des
Pflanzen- und Obstbaus geht, wenden Sie plötzlich andere
Maßstäbe an. Ich möchte nicht missverstanden werden:
Auch ich bin an einer Lösung der Probleme der Obstbauern interessiert, die übrigens auf Ihre gesetzgeberischen Maßnahmen zurückgehen. Aber man kann nicht mit
zweierlei Maß messen und die Bauern - Stichwort „Altes
Land“ und die damit zusammenhängenden Verstöße gegen das Pflanzenschutzmittelrecht - in die unheilvolle Allianz aus mangelhafter Beratung und Kontrolle ziehen
und sie bei Gesetzesverstößen bestärken.
({17})
Das darf nicht sein. Wenn man es mit dem Verbraucherschutz ernst meint, dann darf man nur einen einzigen
Maßstab anlegen. Das Motto lautet: Information, Kennzeichnung, Schutz und Partizipation der Verbraucher bei
gleichzeitiger Wahrung der Interessen der Wirtschaft. Die
bestehenden Gesetze müssen eingehalten werden.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Denn
man kann nicht Gesetzesverstöße verharmlosen und
gleichzeitig erwarten, dass die Verbraucher das neue
Qualitätszeichen QS, das im konventionellen Bereich eingeführt wird, entsprechend würdigen. Die Verbraucher
werden dieses Qualitätszeichen nur dann zu würdigen
wissen, wenn sie sehen, dass die Gesetze ernst genommen
werden.
Danke schön.
({0})
Das Wort
hat jetzt unsere Kollegin Kersten Naumann von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Künast, man kann sich natürlich alles schönreden. Aber die Realitäten sehen völlig anders
aus, als Sie sie gerade geschildert haben. Ich hoffe trotzdem, dass Sie Ihre Träume Realität werden lassen können.
Wir würden Ihnen dabei gerne helfen.
({0})
In einem Koalitionsantrag - daran kann ich mich noch
gut erinnern - ist nachzulesen:
Verbraucherschutz ist als durchgängiges Leitprinzip
anzuerkennen und muss zur politischen Richtschnur
bei allen Entscheidungen und Maßnahmen
werden …
Wo ist dieses durchgängige Leitprinzip, wenn es um den
Schutz vor Täuschung und die wirtschaftliche Übervorteilung im Zusammenhang mit der Riester-Rente geht?
Wo war es, als der Diskurs zur grünen Gentechnik wieder
eröffnet wurde, sich die Bundesregierung aber bereits im
Vorfeld auf einen Schwellenwert von 1 Prozent geeinigt
hatte? Wo ist dieses durchgängige Leitprinzip, wenn
es um das Werbeverbot bei Tabak und Alkohol oder um
das Verbot des Rauchens auf öffentlichen Plätzen geht?
Lang ist die Liste der schamlosen Abzockereien, gegen
die nicht wirkungsvoll vorgegangen werden kann. Zahllose Gewinnspiele, ruinöse Immobiliengeschäfte und unerlaubte Faxwerbung sind nur ein Teil dieser langen Liste.
Seit gestern ist klar: Das geplante Verbraucherinformationsgesetz wird den Wirtschaftsinteressen geopfert.
Jetzt soll die Auskunftspflicht nur noch gegenüber Behörden bestehen und nur noch für Lebensmittel gelten. Die
Wirtschaft, von den Versicherungen über den E-Commerce bis hin zum Einzelhandel, setzt mit ihren riesigen
Werbeetats die Trends. Sie hat den längeren Arm und bestimmt, was wie in welcher Qualität und welche Informationen auf den Markt kommen. Jährlich werden hierzulande über 30 Milliarden Euro für Werbung ausgegeben.
Allein die Werbeausgaben im gesamten Tabakbereich betrugen 1997 rund 45 Millionen Euro. Die Tabakindustrie
sollte diese Summe lieber in einen Gesundheitsfonds einzahlen, um betroffene Patienten und Arbeitsplätze im Gesundheitswesen zu retten.
({1})
Wenn man dann noch bedenkt, dass diese Werbekosten
von der Steuerschuld abgezogen werden können, dass aber
für eine unabhängige Verbraucherarbeit gerade einmal
75 Cent pro Bürger - das sind rund 60 Millionen Euro - an
öffentlichen Mitteln zur Verfügung stehen, dann wird die
Schizophrenie der Sache deutlich.
Verbraucherschutz heißt doch aber auch Verbraucheraufklärung. Bildung schützt am besten vor Irreführung. Verbraucheraufklärung und -information sind
eine staatliche Bringeschuld, die von der Wirtschaft zu finanzieren ist.
Wie sieht es zum Beispiel mit dem Schutz von
Jugendlichen vor Unterhaltungsprodukten wie Videos,
Computerspielen und TV-Thrillern nach Zielaltersgruppen aus? Längst ist nachgewiesen, dass ein Zusammenhang zwischen medialer Gewaltdarstellung und zunehmender Jugendgewaltbereitschaft besteht. Auch ist bekannt, dass trotz einer rechtlichen Altersregelung zur
Alkoholabgabe ein wirklicher Schutz von Minderjährigen
vor dem Kauf von Alkohol nicht besteht. Das beweist einmal mehr: Es sind vor allem die Verbraucherrechte im Alltag, gegen die regelmäßig verstoßen wird.
({2})
Verbraucherrechte sind zwar in vielen Gesetzen bis
hin zum Grundgesetz verankert; Verbraucherschutz in der
Marktwirtschaft durchzusetzen ist aber fast so aussichtslos wie der Versuch, mit dem Fahrrad einen Schnellzug
einzuholen.
Da offensichtlich ist, dass Wirtschafts- und Verbraucherinteressen nicht in Einklang zu bringen sind, müssen
gesellschaftlich gewollte und für den Verbraucherschutz
erforderliche Hygiene-, Umwelt-, soziale und wirtschaftliche Standards gesetzlich geregelt werden. Selbstkontrolle
und Selbstverpflichtung der Hersteller, bestimmte Standards einzuhalten, sind keinesfalls ausreichend. Hier bleibt
als einzig Erfolg versprechende Lösung eine verstärkte unabhängige staatliche Kontrolle; Bund und Länder dürfen
die ihnen obliegenden Inspektionen nicht dem Sparprinzip
opfern. Praktisch würde dies bedeuten, in allen Unternehmen ab einer bestimmten Größe die gesellschaftliche
Gütekontrolle einzuführen, die vom Unternehmen zu bezahlen ist. Es kann nicht sein, dass in der Wirtschaft
immense Gewinne privatisiert werden, während der
Staat, also auch die Bundesländer, und damit letztlich der
Steuerzahler für die Kontrollaufgaben aufkommt.
Deshalb sieht die PDS in folgenden Punkten dringenden Handlungsbedarf:
Erstens. Um die Rechte der Verbraucher zu stärken, bedarf es effizienter personeller und sachlicher Rahmenbedingungen für unabhängige Verbraucherarbeit. Für den
Verbraucherschutz ist ein Kernhaushalt notwendig. Dieser muss gesetzlich verankert werden; denn angesichts
steigender Anforderungen durch die Schuldrechtsmodernisierung, die Rentenreform, die Telekommunikation, die
Euroumstellung usw. hört man immer wieder: zu wenig
Personal, zu wenig Geld und zu wenig Sanktionsmöglichkeiten.
Zweitens. Verbraucherorganisationen und Bürgerinitiativen müssen in allen relevanten politischen Gremien
vertreten sein.
({3})
Wo auch immer Verbraucherrechte tangiert werden, sind
die Verbraucher zu befragen und in die Entscheidungen
einzubeziehen.
Drittens. Bei der Liberalisierung und Privatisierung
ganzer Marktsegmente wie Telekommunikation, E-Commerce, Gesundheitsdienstleistungen und -pflege sowie
privater Altersvorsorge müssen Bund und Länder dafür
Sorge tragen, dass Verbraucher am Markt gleiche Chancen erhalten. Neue Gesetze zur Anpassung an den EUMarkt, so beim E-Commerce und bei der Riester-Rente,
sollen mehr Transparenz bei den Verbrauchern schaffen.
Faktisch aber hat sich die Situation verkompliziert, weil
die Verantwortung in den privaten Bereich verlagert worden ist.
Viertens. Eine vorsorgende Verbraucherpolitik erfordert die Konzentration von Zuständigkeiten mit wirksamen Einfluss- und Kontrollrechten wie einem suspensiven Vetorecht in der Verwaltung und im Parlament. Weder
ist die eindeutige Zuordnung der wesentlichen Zuständigkeiten mit der Reorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes abgeschlossen noch ist die vorgesehene
Zielstellung mit zwei neuen Institutionen als die beste Lösung anzusehen.
Fünftens. Die konsequente Durchsetzung des Verursacherprinzips im Produkt- und Umwelthaftungsrecht
würde dazu beitragen, dass Reparatur- und Risikokosten
nicht wie bisher sozialisiert werden, das heißt, dass letztlich nicht mehr der Steuerzahler dafür aufkommt.
Sechstens. Im Verbraucherinformationsgesetz sind
eine Produkt- und Prozesstransparenz, die Sammelklagebefugnis für Verbraucherverbände sowie der öffentliche
Zugang zu staatlichen Prüfergebnissen zu verankern. Es
ist auf keinen Fall nur auf den Lebensmittelsektor und auf
die Auskunftspflicht von Behörden zu beschränken.
Siebentens. Bei der Neuausrichtung der Agrar- und
Ernährungspolitik müssen Lebensmittelproduktion und
-hygiene nicht nur gesundheitliche Risiken ausschließen,
sondern auch die Belange der Umwelt und ethische
Wertvorstellungen, insbesondere was die grüne Gentechnik betrifft, berücksichtigen.
({4})
Damit dem eingangs genannten Leitsatz der Koalition
Rechnung getragen wird, muss der Schutz vor gesundheitlichen und sozialen Risiken sowie rechtlichen und
wirtschaftlichen Nachteilen der Verbraucher Vorrang vor
wirtschaftlichen Kapitalinteressen haben; denn sonst
bleibt alles nur Makulatur.
({5})
Das kann weder die Regierung noch die Opposition wollen, noch wäre dies im Sinne der Verbraucherinnen und
Verbraucher.
Danke.
({6})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ute Kumpf von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Kollegin
Widmann-Mauz, es gibt im Schwäbischen ein Sprichwort
({0})
- dieses ist aber besonders wichtig -: Erst mit 40 wird der
Schwabe gescheit. Bisher habe ich immer gedacht: Das
gilt für die Männer. Ich habe aber festgestellt - Ihr Redebeitrag ist ein Beweis dafür -, dass das inzwischen auch
für die Frauen gilt - leider.
({1})
Ich will in Erinnerung rufen - der Schwabe und auch
die Schwäbin an sich sind manchmal sehr vergesslich -,
dass das Jahr 2001 einen Wendepunkt in der Geschichte
des Verbraucherschutzes darstellt. Der BSE-Skandal
war der Höhepunkt einer Entwicklung. Da hilft kein
Leugnen und kein Wegsehen. Weder die Musterknaben in
Bayern noch die Musterknaben in Baden-Württemberg
konnten sicher sein, dass BSE sie nicht erreicht. Sie mussten entdecken, dass sie nicht verschont geblieben sind. Als
in Großbritannien vor allem bei Schafen und Rindern
dann noch die Maul- und Klauenseuche ausbrach, strebte
das Inferno einen vorläufigen Höhepunkt an.
({2})
Die abendlichen Bilder von den brennenden Scheiterhaufen haben das Vertrauen der Verbraucher in die Sicherheit und in die Qualität landwirtschaftlicher Produkte
nachhaltig erschüttert und - auch bei uns - eine Schockwelle ausgelöst, die die gesamte Lebensmittelbranche, die
Landwirtschaft, die Ernährungsindustrie und den Handel,
in Aufruhr versetzte und die Verbraucherpolitik revolutionieren wird, zum Teil sogar schon revolutioniert hat. Ein
solches Lob haben nicht wir uns ausgesprochen, sondern
Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts in München. Hans-Werner Sinn hat uns attestiert, dass wir auf die
BSE-Krise durch die Neustrukturierung des Ministeriums
und durch die Schaffung neuer rechtlicher Grundlagen
entschlossen reagiert haben, um die gläserne Produktion
sicherzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
was entdecken wir denn da auf einmal?
({3})
Auf einmal erklären auch Sie, die Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind, ganz vollmundig, dass Verbraucherschutzpolitik fester Bestandteil der sozialverpflichteten marktwirtschaftlichen Ordnung ist. Das muss
man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich kann
mir darüber nur verwundert die Augen reiben. Wo waren
denn Ihre Konzepte? Wo war denn Ihre sozialverpflichtete marktwirtschaftliche Ordnung, Ihre entsprechende Verpflichtung in den letzten 16 Jahren, als Sie die
politische Verantwortung getragen haben?
({4})
Fehlanzeige auf der ganzen Linie!
({5})
Wir, die rot-grüne Bundesregierung, haben Bewegung
in die Verbraucherpolitik gebracht; wir haben den Reformstau aufgelöst.
({6})
Mit der Schaffung des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hat
der Verbraucherschutz in Deutschland erstmals Kabinettsrang erhalten.
({7})
Die neue Stellung des Verbraucherschutzes wollen wir
Schritt für Schritt, kontinuierlich festigen und ausbauen.
({8})
Die Verbraucherverbände bescheinigen uns, dass wir im
Bereich der Lebensmittelsicherheit und der Agrarpolitik
hoffnungsvolle Signale gesetzt haben. Durch die Modernisierung des Schuldrechts haben wir eine Verbesserung
der Gewährleistungsrechte erreicht.
Jetzt an die Adresse der FDP: Wenn Glühbirnen schnell
verglimmen, wenn Anzüge schon nach geringer Benutzung durchgescheuert erscheinen, wenn Damenstrümpfe
bei der ersten zaghaften Annäherung eine Laufmasche
bekommen, wenn Kühlschränke rosten oder wenn das
Gulasch in der Pfanne schrumpft, dann sind die entsprechenden Produkte Fälle versteckter Qualitätsmängel.
({9})
Frau Kopp, der liebe Markt regelt eben nicht alles. Es gilt
leider noch immer wirklich oft: Mehr Schein als Sein.
({10})
Der Laschheitswettbewerb wird bedauerlicherweise gestärkt.
Auch das in den letzten Jahren immer wässriger gewordene Obst, das aufgeblasene, geschmacklose Gemüse, das Fleisch der mit Hormoncocktails gefütterten
Schweine, der labbrige Schinken, die holländischen
Retortentomaten, die furnierten Pressspanmöbel oder die
Sahne, die nach dem Schlagen zusammenfällt, finden leider ihre Märkte, also die Märkte der Güter mit Qualitätsmängeln.
Es ist ganz verwunderlich oder auch nicht verwunderlich, dass gerade die Krise auf dem Lebensmittelmarkt
dazu geführt hat, dass drei Wissenschaftler einen Nobelpreis erhalten haben, nämlich George Akerlof, Michael
Spence und Joseph Stiglitz, die von dem Markt der Lemon-Güter, der sauren Zitronen, reden und mit ihren
Beiträgen zur Theorie der asymmetrischen Information
eine Begründung für den staatlichen Verbraucherschutz geliefert haben.
({11})
Alle hier im Hause beschwören den mündigen Bürger,
den mündigen und aufgeklärten Verbraucher. Richtig,
auch wir wollen dieses. Der Staat soll den Bürger nicht
gängeln, der Bürger will den Staat nicht vor der Nase haben, er wünscht sich ihn an seiner Seite. Der Verbraucher
und die Verbraucherin sind die Schlüsselfiguren für unsere Verbraucherpolitik.
Aber in gleicher Weise - Herr Merz, hören Sie gut zu -,
wie BSE und MKS aus den Schlagzeilen der Medien verschwunden sind, haben ungeachtet der BSE-Fälle der
Rindfleischkonsum und die Preise fast wieder das Vorjahresniveau erreicht.
({12})
Also warum eigentlich das Angebot ändern, wenn die
Nachfrage stimmt? So werden Sie fragen, und das fragen
sich auch die Landwirte und der Handel. Es besteht doch
gar keine Notwendigkeit zu einer Veränderung. Der
Verbraucher ist an dieser Stelle widersprüchlich. Unsere
Einschätzung und Bewertung ist: Veränderungen können
sich auf Dauer nur dann durchsetzen, wenn der Verbraucher informiert und befähigt wird, seine Macht tatsächlich
mit dem Einkaufskorb einzusetzen, und wenn er dies auch
rational tut.
Der Werbung kommt bei der Überwindung von Informationsdefiziten zweifelsohne eine wichtige Rolle zu,
aber informative Werbung ist selten. Informative Werbung wird oft durch Imagewerbung ersetzt. Die Mittel für
Imagewerbung wären aber oft besser eingesetzt, um Produkte insgesamt zu verbessern. Deswegen setzen wir auf
Transparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle und Nachhaltigkeit. Das sind Schlagworte, Frau Widmann-Mauz,
die inzwischen auch die CDU abgeschrieben hat.
Staatliche Verbraucherpolitik muss in erster Linie auf
Aufklärung setzen. Nimmt die Lebensmittelaufsicht beispielsweise eine Salami vom Markt, so darf sie nach derzeitiger Rechtslage zwar über die Tatsache an sich informieren, aber nicht über den Namen des Produktes oder
des Herstellers. Auch Informationen darüber, welche Firmen regelmäßig gegen das Lebensmittelrecht verstoßen,
sind derzeit noch geheime Verschlusssache.
Ein aufgeklärter Verbraucher und eine aufgeklärte Verbraucherin sind zunächst aber auf die umfassende Information angewiesen. Daher muss ein Verbraucherinformationsgesetz den öffentlichen Zugang zu staatlichen
Prüfergebnissen und Bewertungen sicherstellen.
({13})
Dieses Ziel verfolgen wir mit unserem Verbraucherinformationsgesetz und mit dem Gesetz zur Neuorganisation
des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. Mit Geheimniskrämerei ist dann Schluss. Verbraucherinnen und Verbraucher erhalten bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen freien Zugang zu Produktinformationen, die den
Behörden vorliegen. Das gilt für Bund, Länder und Gemeinden. Das gilt auch für Informationen über die Beschaffenheit oder die Herstellungsbedingungen und für
Hinweise darauf, ob Produkte Allergene enthalten oder ob
sonstige Untersuchungsergebnisse vorliegen.
Freier Zugang zu Information heißt auch, dass die
Behörden darüber hinaus das Recht erhalten, von sich aus
über bestimmte Sachverhalte aktiv zu informieren. Auch
beim Verstoß gegen verbraucherschützende Vorschriften
werden die Behörden Ross und Reiter und schwarze
Schafe benennen können. Das ist nicht nur im Sinne der
Verbraucher; daran müssen auch die Unternehmen, die
sich vorschriftsmäßig verhalten, die eine weiße Weste haben und sich von Machenschaften anderer abgrenzen wollen, ein Interesse haben.
({14})
Bei den Diskussionen im Bundesrat wurde aus BadenWürttemberg getönt, auf dieses Gesetz könne man verzichten, es gebe in Baden-Württemberg ja ein besseres.
Weit gefehlt, liebe badischen und schwäbischen Kollegen. Unser Gesetz - es ist zwar in Hochdeutsch verfasst,
aber man kann es ins Schwäbische übersetzen - ist besser, denn in dem baden-württembergischen Gesetz hat
der Verbraucher keinen allgemeinen Anspruch auf Information.
({15})
Außerdem muss in Baden-Württemberg vor einer Veröffentlichung noch eine Hürde genommen werden: Es muss
nachgewiesen werden, ob überhaupt ein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung besteht. Als Drittes muss
noch darüber Beweis geführt werden, dass der Veröffentlichung keine betrieblichen Belange entgegenstehen.
Diese Hürden und Stolpersteine gibt es bei unserem
Verbraucherinformationsgesetz nicht. Wir reden nicht nur
darüber, sondern wir handeln auch. Wir schaffen freien
Zugang zur Information.
({16})
Eine Kritik, die wir ernst nehmen, kommt dagegen aus
den Reihen der Verbraucherzentralen. Ihnen geht das Gesetz nicht weit genug. Auch Unternehmen sollten zur Information verpflichtet werden. Diese Forderung konnten
wir in diesem ersten Schritt leider nicht realisieren, aber
wir werden sie nicht aus den Augen verlieren.
({17})
- Das habe ich auch nicht behauptet. Es ist immer schon
eine Binsenweisheit gewesen, dass man, um nach Peking
oder auf den Gipfel eines Berges zu kommen, erst einmal
unten beginnen und den ersten Schritt tun muss.
Die Unternehmen können aber auch von sich aus beweisen, wie ernst sie die Verbraucherinteressen und die
Qualität ihrer Produkte nehmen, indem sie sich eine
Selbstverpflichtung auferlegen und entsprechende Veröffentlichungen von sich aus organisieren.
({18})
Dass die Unternehmen gut beraten sind, ihre Geheimniskrämerei aufzugeben, verdeutlicht ein Vorfall bei dem
Zigarettenhersteller Philip Morris. Rauchen an sich ist
schon nicht besonders gesund, aber die Bedingungen, unter denen Zigaretten hergestellt werden, lassen schon
größte Bedenken aufkommen. Laut „taz“ vom 11. März
soll Philip Morris wissentlich 40 Jahre lang Zigaretten mit
defekten Filtern verkauft haben. Zu diesem Schluss kommen Autoren des Roswell Park Center Cancer Institute in
Buffalo, die Forschungs- und Medizindatenbanken des
Tabakherstellers durchforstet haben.
({19})
Alle Dokumente beinhalteten den Terminus Fall-out,
mit dem plastikartige Fasern beschrieben wurden, die an
der Schnittstelle des Filters entstehen und Krebs auslösen
können. Die Autoren vermuten, dass der Defekt bei der
Hochgeschwindigkeitsherstellung entstehe. Pro Sekunde
werden nämlich 250 Zigaretten produziert. Das heißt,
dass die Unternehmen nicht nur gehalten sind, über ihre
Produkte an sich zu informieren, sondern auch darüber,
welche gesundheitsschädigenden Wirkungen von der
Herstellung ausgehen können.
({20})
Zum Schluss noch einmal zurück zu unseren Nobelpreisträgern und zur Frage, ob sich staatlicher Verbraucherschutz rechnet, legitim ist und ob er auch entsprechende Wirkungen zeigen kann. Stiglitz, einer der
Preisträger und ehemaliger Chefökonom der Weltbank,
hat schon früh in seinen Schriften darauf hingewiesen,
dass sich informierte Verbraucher in einem Markt mit
Qualitätsmängeln nicht nur selbst helfen, indem sie
bessere Kaufentscheidungen treffen können, sondern sie
darüber hinaus auch einen positiven externen Effekt auf
andere Verbraucher ausüben. Durch ihre Kaufentscheidungen ermöglichen informierte Verbraucher anderen
weniger informierten Verbrauchern, vom Preis auf die
Qualität zu schließen. Dies, so der Ifo-Präsident Sinn,
rechtfertigt massive staatliche Unterstützungen - hören
Sie gut zu, Frau Kopp - für Institutionen, die Informationen über objektve Produkteigenschaften sammeln und
verbreiten. Damit schließt sich nämlich der Kreis.
Eine vorsorgende Verbraucherpolitik ist ein positiver
Standortfaktor.
({21})
Wenn die Nachfrageseite gestärkt wird, der Verbraucher
zu einem Verbündeten für Qualität auf dem Markt wird,
dann können nachteilige Folgen des Wettbewerbs für die
nationale Wirtschaft sowie für die sozialen, ökologischen
und kulturellen Lebensbedingungen abgewehrt werden.
Daran werden wir Schritt für Schritt arbeiten, bis wir an
diesem Ziel angekommen sind.
Danke schön.
({22})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Anlehnung an eine
Fernsehsendung kann man nach dieser Regierungserklärung nur sagen: Was nun, Frau Künast? Was ist von
Ihren flotten Sprüchen, die Sie vor einem Jahr machten,
übrig geblieben?
Die gestrige Tagespresse gibt Antworten darauf. In der
„Berliner Zeitung“ steht: „Künasts Verbrauchergesetz
wird abgespeckt“. Die „Welt“ schreibt:
Künast setzt schärferen Verbraucherschutz nicht
durch.
Weiter heißt es:
Dabei ist von der ursprünglichen Fassung offenbar
nur noch wenig übrig geblieben.
Frau Künast, Sie gehen zwar forsch und zum Teil mit
Verleumdungen, so wie im „Greenpeace Magazin“ im
vorigen Jahr geschehen, gegen die Bauern vor. Wenn aber
das Kanzleramt die Industrie vor zu viel Informationspflicht schützt, dann geben Sie klein bei und sind plötzlich
mit einer Selbstverpflichtung der Wirtschaft zufrieden.
({0})
Noch verheerender ist das Urteil in der „FAZ“. Dort
heißt es gestern:
Der Paradigmenwechsel im Künast-Ministerium ersetzt Wissenschaft durch Okkultismus.
Treffender kann man die Agrarwende nicht beschreiben.
({1})
Dazu passt, dass der Wissenschaftliche Beirat im November 2001 - dies wurde von Kollegin Widmann-Mauz
bereits angesprochen - geschlossen zurückgetreten ist.
Sachverstand, Frau Ministerin, ist bei Ihnen nicht gefragt.
Erwünscht ist bei Ihnen Hofberichterstattung, um der rotgrünen Argarwende zu huldigen.
Die „FAZ“ schreibt weiter:
Wissenschaftliche Argumente zählen nicht, das Sagen haben Ideologen.
({2})
Genau das beschreibt die Situation der deutschen Verbraucherschutzpolitik.
Auch Ihre Wortwahl, Frau Ministerin, passt zu dem Artikel in der „FAZ“, in dem von Okkultismus die Rede ist. Im
Frühjahr vorigen Jahres sprachen Sie vom magischen
Sechseck der Agrarwende. Frau Ministerin, Magie hat mit
Zauberei zu tun und Zauberei bedeutet, mit allen möglichen
Tricks etwas vorzutäuschen. Sie, Frau Ministerin, täuschen
mit Ihrer Politik die Verbraucher und gefährden die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft. Frau
Künast, Ihre flotten Sprüche sind nur Schall und Rauch.
({3})
Das sehen auch die Wähler so. Die Kommunalwahl,
die in Bayern stattgefunden hat, war die 19. Wahl in
Folge, bei der die Grünen Stimmen verloren haben.
({4})
Die 20. - dann können Sie Jubiläum feiern - wird in
Sachsen-Anhalt stattfinden. Am 22. September schließt
sich dann mit der 21. Niederlage Ihr magisches Dreieck.
({5})
Erklären Sie bitte einmal den Verbrauchern - damit
komme ich jetzt zu einer Sachaussage -, was das Fütterungsverbot von lebensmitteltauglichem tierischen
Fett bei Kälbern in Deutschland mit dem Verbraucherschutz zu tun hat. Wenn die Verfütterung dieser Fette eine
Gefahr für unsere Verbraucher darstellt, ist es doch unverantwortlich, wenn Kalbfleisch aus Belgien, Holland
oder Frankreich bei uns verkauft werden darf. In diesen
Ländern wird nämlich genau das gleiche tierische Fett
verwendet.
Was nun, Frau Künast? Verbieten Sie sofort den Import
von Kalbfleisch nach Deutschland oder lassen Sie in
Deutschland die Beimischung von tierischem Fett in
Milchaustauschern wieder zu?
({6})
Wir lassen nicht zu, dass Sie sich bei diesem Thema
durchmogeln. Mit der jetzigen Regelung vertreiben Sie die
Kälbermast aus Deutschland. Ist es im Sinne des Tierschutzes und des Umweltschutzes, wenn Kälber aus
Deutschland in das europäische Ausland transportiert werden und das Fleisch dieser Tiere von dort wenig später wieder in die deutschen Supermärkte gelangt? An dem Beispiel sieht man, wie weit Sie von der Realität entfernt sind.
({7})
Bauern, die ihren Beruf erlernt haben, werden gezwungen, einen Sachkundenachweis nach dem anderen
zu erbringen. Wichtiger wäre es, wenn auch Minister, bevor sie ihr Amt antreten, einen Sachkundenachweis erbringen müssten.
({8})
Damit wäre uns einiges an verbraucher- und agrarpolitischer Zauberei in Deutschland erspart geblieben.
Frau Verbraucherschutzministerin, wie ist es mit
Inhaltsstoffen in Lebensmitteln, die in Deutschland verboten, in anderen EU-Ländern jedoch zugelassen sind?
Wo ist Ihr Aufschrei, wenn Lebensmittel aus anderen EULändern mit bei uns verbotenen Inhaltsstoffen in Deutschland verkauft werden? Was nun, Frau Künast? Werden Sie
die Importe solcher Lebensmittel im Interesse des
Verbraucherschutzes verbieten oder ist weiterhin Schweigen im Walde?
Ist es nicht eine Verhöhnung der deutschen Obst- und
Gemüsebauern, wenn Obst und Gemüse aus anderen
EU-Ländern hier in Deutschland verkauft werden darf,
das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt ist, die in
Deutschland verboten sind? Genau in der Woche, in der
wir dieses Thema im Verbraucherausschuss behandelt haben, sind auf der Fraktionsebene im Reichstag Äpfel aus
Italien verteilt worden. Was nun, Frau Künast? Sind diese
Pflanzenschutzmittel eine Gefahr für die Verbraucher
oder nicht?
({9})
Was ist mit den riesigen Tiermehlbeständen in der
Europäischen Union? Es besteht doch die Gefahr, dass
diese Bestände gehortet werden, bis die Europäische
Union die Verfütterung von Tiermehl an Schweine und
Geflügel wieder zulässt. Graefe zu Baringdorf hat davon
bereits gesprochen.
({10})
Wann werden Sie im Ministerrat einen Beschluss durchsetzen, dass diese Altbestände schnellstens beseitigt werden müssen? Sonst müssen wir nach der Aufhebung des
Fütterungsverbotes wieder fragen: Was nun, Frau
Künast?
({11})
Die „FAZ“ wird dann eventuell schreiben, dass das
Problem mit Okkultismus nicht zu lösen ist. Dazu sind
Sachpolitik und Durchsetzungsvermögen in Brüssel gefordert. Beides vermissen Verbraucher und Erzeuger bei
der deutschen Verbraucherschutzministerin.
Nicht nur drei deutsche Tageszeitungen setzen sich,
wie eingangs bemerkt - die Aufzählung hätte auch beliebig fortgesetzt werden können -, kritisch mit der Verbraucherschutzpolitik der rot-grünen Bundesregierung
auseinander. Noch vernichtender ist das Urteil von ExAgrarminister Funke. In einer Pressemitteilung vom
23. Januar 2002 heißt es, er lasse kein gutes Haar an seiner Nachfolgerin. Er bilanziert, Frau Künasts ganzes
Konzept sei unrealistisch. Es würden unberechtigterweise
Ängste bei den Verbrauchern geschürt. Die deutsche
Landwirtschaft verliere an Wertschöpfung und Arbeitsplätzen. Er meint auch, vieles könne er nur noch ironisch
kommentieren.
Ein vernichtendes Urteil von Herrn Funke. Doch wo er
Recht hat, hat er Recht, auch wenn er der SPD angehört.
({12})
Selbst Peter Struck hat in Sachsen-Anhalt einige Forderungen der grünen Ministerin als abenteuerlich bezeichnet.
In einem freien Markt in Europa werden dem Verbraucherschutz nationale Alleingänge nicht gerecht. Die
CDU/CSU tritt dafür ein, den Verbraucherschutz europaweit gleichrangig zu verbessern. Dazu sind statt flotter
Sprüche in Deutschland sachbezogene Verhandlungen in
Brüssel notwendig. Auch für Importe aus Drittländern
sind die gleichen Standards im Verbraucherschutz erforderlich, wie sie der deutschen Landwirtschaft abverlangt
werden.
({13})
Wer sich nur auf Kosten einer Minderheit politisch profiliert - wie Sie das tun, Frau Ministerin -, vertreibt die
Agrarproduktion aus Deutschland und erreicht damit
nicht mehr, sondern weniger Verbraucherschutz.
({14})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ein letzter Satz: Die CDU/
CSU will einen Verbraucherschutz, aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit den Bauern und nicht
einen ideologisch ausgerichteten Verbraucherschutz gegen die Bauern.
({0})
Kein Berufsstand hat an einer verbraucherorientierten Lebensmittelerzeugung mehr Interesse als unsere Bauern
selbst. Nur zufriedene Verbraucher bleiben auch zufriedene Kunden.
Danke schön.
({1})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt von Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Deß stellt
hier die Frage,
({0})
was die Kälbermast mit dem Verbraucherschutz zu tun
hat. Wer diese Frage nach dem BSE-Skandal noch stellt,
der hat anscheinend überhaupt nicht verstanden, worum
es beim Verbraucherschutz geht.
({1})
Ich habe in Ihrem ganzen Redebeitrag nur Polemik
gehört,
({2})
aber keinen einzigen eigenständigen Vorschlag,
({3})
wie die Verbraucher in Zukunft besser geschützt werden
sollen.
Fakt ist: Sie haben den Verbraucherschutz als Politikfeld überhaupt noch nicht erobert. Fakt ist: Wir haben
den Verbraucherschutz in einem Ministerium zusammengefasst und damit gestärkt. Fakt ist: Dies ist die erste Regierungserklärung im Deutschen Bundestag zum Thema
Verbraucherschutz.
({4})
Fakt ist: Die Verbraucher haben in der Person von Renate
Künast im Parlament und in der Regierung erstmalig eine
Stimme.
({5})
Worum geht es? Es geht beim Verbraucherschutz im
Prinzip um einen Dreiklang: Erstens. Die Verbraucher
müssen die freie Wahl haben. Darauf komme ich noch
zurück. Zweitens. Die Verbraucher müssen an Informationen herankommen können, um in ihrem Interesse sachkundig entscheiden zu können.
({6})
Drittens. Der Staat ist dafür verantwortlich, die Gesundheit der Verbraucher zu schützen und außerdem den
Schutz vor Betrug zu gewährleisten. Das sind die drei
Säulen des Verbraucherschutzes, für die sich Renate
Künast zusammen mit dem Verbraucherschutzministerium verantwortlich fühlt.
Herr Deß, ich kann nur sagen: Ich habe in die Sachkompetenz von Renate Künast als Verbraucherschutzministerin tausendmal mehr Vertrauen - wenn man sieht,
wie beliebt Renate Künast ist, dann muss man sagen: auch
die Bürger ({7})
als in Ihren ehemaligen Landwirtschaftsminister. Sie haben
damals den Dicksten aus Ihrer Fraktion, der am engsten mit
den Lobbyisten der Bauernschaft verbunden ist, zum Landwirtschaftsminister gemacht.
({8})
Spätestens seit der BSE-Krise konnte man sehen, dass er
die Interessen der Verbraucher nicht vertreten hat.
({9})
Zum Verbraucherschutz gehört, dass die Verbraucher
eine Wahl haben.
({10})
Wir haben die Liberalisierung bestimmter Märkte schon
hinter uns. Wir können uns doch noch daran erinnern, wie
befreit man sich gefühlt hat, als man den Telefondienstleister selbst wählen konnte. Dieser Wettbewerb hat zu
weit gehenden Preisnachlässen bei den Telefontarifen geführt.
Es gibt jetzt auch die Liberalisierung des Energiemarktes. Auf dem Papier haben wir zwar eine 100-prozentige Marktöffnung. Aber wenn man sich die Zahlen
anschaut, wie groß die faktische Öffnung des Energiemarktes ist - ich habe die entsprechenden Zahlen aus einer Quelle der EU -, dann zeichnet sich folgendes Bild ab:
Finnland 20 bis 30 Prozent, die Niederlande 10 bis 20 Prozent, Großbritannien 40 bis 50 Prozent. In Deutschland
haben wir eine faktische Marktöffnung von nur 5 bis
10 Prozent. Das heißt, dass der Verbraucher in diesem Bereich immer noch nicht die freie Wahl bei den Stromlieferanten hat.
Je kleiner der Kunde ist, umso mehr muss bei der Liberalisierung darauf geachtet werden, dass die Interessen
des Verbrauchers berücksichtigt werden. Dass die Großindustrie bei der Liberalisierung ihre Interessen durchsetzen kann, ist einleuchtend. Sie tut das auch. Es ist aber
überhaupt nicht gewährleistet, dass sich der einzelne
Kunde durchsetzen kann. Dies im Auge zu haben gehört
zum Verbraucherschutz dazu.
({11})
Auf der Tagesordnung steht noch die Novellierung des
Energiewirtschaftsgesetzes. Wir haben darauf gedrängt,
dass hier nicht nur der Gasbereich berücksichtigt wird,
sondern dass in diesem Zusammenhang auch über Strom
geredet wird. Die Verbändevereinbarung muss endlich
verrechtlicht werden, damit auch der einzelne Kunde in
der Lage ist zu klagen. Wir wollen, dass das Kartellamt in
seiner Funktion durch die Möglichkeit des Sofortvollzugs
gestärkt wird. Im Zweifelsfall soll nicht erst der kleine
Verbraucher den großen Stromkonzern verklagen, weil er
dann drei, vier oder fünf Jahre warten und viel Geld ausgeben muss, um sein Recht zu bekommen. Wir wollen
vielmehr, dass das Kartellamt eine Schutzfunktion hat und
quasi eine Regulierungsbehörde in Deutschland darstellt,
damit der Verbraucher schnell und zügig zu seinem Recht
kommt.
({12})
Dazu gehört auch - Renate Künast und auch andere haben das bereits angesprochen -, dass man dafür sorgt, dass
es auf diesen Märkten eine Vielfalt der Akteure gibt. Wenn
es nämlich nur zwei oder drei Anbieter gibt, dann hat man
keine freie Wahl. Die andere Seite ist also, für die Vielfalt
der Akteure und damit für Wahlfreiheit zu sorgen. Deswegen sind Fusionen in diesen Märkten - Renate Künast
hat es angesprochen - unter dem Aspekt der Verbraucherschutzinteressen durchaus kritisch zu betrachten. Wenn
das Kartellamt zum Beispiel bei der Fusion von Eon und
Ruhrgas sagt, hier entstehe ein marktbeherrschender Konzern im Gas- und Strombereich, dann ist unter dem Aspekt
der Verbraucherschutzinteressen ein sehr kritischer Blick
darauf zu werfen.
({13})
Im Übrigen habe ich gehört, dass Herr Rexrodt diese
Fusion begrüßt. Zugleich ist er - das halte ich in diesem
Zusammenhang für sehr interessant - im Vorstand einer
PR-Agentur, die BP vertritt. BP hat aber ein Interesse an
dieser Fusion. Die Liberalität scheint also dann aufzuhören, wenn der schnöde Mammon beginnt.
({14})
Wichtig ist Transparenz. Im Hinblick auf die Energiemärkte ist von Bedeutung, dass die Bürger wissen, woher ihr Strom kommt. Der Strom aus der Steckdose hat
keine Farbe. Daher unterstützen wir die Europäische
Union in ihren Bemühungen um den Aufbau eines Zertifizierungssystems, das die Voraussetzung dafür ist, dass
man wählen kann, ob man Atomstrom, Strom aus erneuerbaren Energien, einen durchschnittlichen Strommix
oder Strom aus der Region kauft. Auch dies ist Teil der
Vertretung von Verbraucherinteressen.
In diesem Zusammenhang muss ich einer meiner Vorrednerinnen leider widersprechen, die behauptet hat, dass
wir die Energieberatung abgebaut hätten.
({15})
Das stimmt schlichtweg nicht. Im Jahr 2002 haben wir
circa 15 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt,
6 Millionen DM mehr als im Jahre 2001.
({16})
Angesichts der knappen Haushaltskassen ist das eine beachtliche Steigerung der Förderung der Energieeinsparberatung; dies zeigt, dass wir ihr einen besonders wichtigen Stellenwert beimessen.
({17})
Dasselbe gilt für die Unterstützung der Verbraucherberatung insgesamt. Der Haushaltsansatz für den Dachverband lag im Jahr 2000 bei 8,5 Millionen Euro, im
Jahr 2001 bei 9,3 Millionen Euro und im Jahr 2002 bei
11,5 Millionen Euro. Diese Stärkung der Verbraucherberatung zeigt, dass der Verbraucherschutz durch das
Verbraucherschutzministerium in Parlament und Kabinett
an Bedeutung gewonnen hat.
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel Ihrer Regierungserklärung
„Auf dem Weg in eine verbraucherorientierte Marktwirtschaft“ macht wenig Sinn, Frau Künast. Eine Marktwirtschaft, die Angebot und Nachfrage in Einklang bringt, ist
automatisch verbraucherorientiert. Marktwirtschaft beinhaltet bereits Verbraucherschutz.
({0})
Insofern kann ich heute Morgen nur staunen; denn man
hat den Eindruck, das Thema Verbraucherschutz sei etwas
ganz Neues. In Wirklichkeit ist es fast so alt wie Methusalem. Deshalb brauchen wir keine Worthülsen wie „verbraucherorientierte Marktwirtschaft“. Vielmehr brauchen
wir ein schlüssiges Konzept für einen ganzheitlichen Verbraucherschutz.
({1})
Alles, was bislang an Vorschlägen aus dem Verbraucherschutzministerium bekannt geworden ist, zeigt, dass
sich Verbraucherschutz nach den Vorstellungen von Frau
Künast auf den Bereich der Lebensmittelsicherheit beschränkt.
({2})
Was ist denn diese so genannte Neuorganisation des
gesundheitlichen Verbraucherschutzes anderes als das
bloße Durcheinanderwürfeln bereits bestehender nachgeordneter Einrichtungen des BMVEL?
({3})
Sehr geehrte Frau Künast, die Bürger haben sich mehr
als das bloße Auswechseln irgendwelcher Türschilder erhofft: „Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit“ statt „Bundesamt für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin“. Und das soll eine
Neuorganisation des Verbraucherschutzes sein? Wenn
Ihnen nicht mehr einfällt, ist das ein politischer Offenbarungseid.
({4})
Sie hätten doch nur die Vorgaben des Von-Wedel-Berichtes umsetzen müssen. Aber nicht einmal dazu hat es
gereicht. Im Gegenteil: Die Vorschläge der Bundesregierung stehen den in dem Von-Wedel-Gutachten erhobenen
Forderungen zum Teil diametral entgegen. Deshalb haben
sich auch die Wissenschaftler des BgVV in einem offenen
Brief gegen Ihre Vorschläge für eine Neukonzeption des
Verbraucherschutzes ausgesprochen. Wenn Sie sich schon
den konstruktiven Vorschlägen der Opposition verschließen, sollten Sie zumindest auf Ihre Mitarbeiter hören,
Frau Künast.
({5})
Wie wollen Sie die von Ihnen gewünschten strukturellen Änderungen umsetzen, wenn Sie für Ihre eigenen Mitarbeiter nur noch über offene Briefe zu erreichen sind?
Wie kommt es, dass Sie trotz der Kompetenz Ihrer Mitarbeiter nicht in der Lage sind, ein schlüssiges Konzept für
eine effiziente Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes vorzulegen?
({6})
Ihre bisherigen Vorschläge, verehrte Frau Künast, führen nicht zu einer Neuorganisation; sie stellen ein staatliches Bürokratieförderprogramm dar.
({7})
In vier Jahren der Regierungsverantwortung sind die Grünen zu regelrechten Ärmelschonerfetischisten geworden.
Immer dann, wenn die Grünen an die Lösung eines Problems herangehen, steht am Ende ein neues Behördenungetüm. Das bringt nicht mehr Umwelt-, Gesundheitsoder gar Verbraucherschutz. Nach grüner Philosophie soll
es wohl zeigen, dass man „etwas gemacht“ hat. Der Staat
braucht nach vier Jahren grüner Bürokratiemast dringend
eine Entschlackungs- und Abmagerungskur.
({8})
Die FDP ist da die geeignete Diätassistentin.
Ein Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel mit
sage und schreibe vier Einvernehmensbehörden führt zu
einem definitiven Bürokratie-Overkill. Frau Künast
wird in ihrer Bürokratieverliebtheit nur noch von ihrem
grünen Kollegen Jürgen Trittin übertroffen. Jürgen Trittin,
der Heilige Bürokratius in Person, Schutzpatron aller
Bürokraten,
({9})
bringt es bei der Umsetzung der EU-Biozid-Richtlinie sogar auf sieben beteiligte Behörden. Das Fatale dabei ist,
dass diese Bürokratieexzesse nicht ein Mehr an Verbraucherschutz bringen. Sie kosten vor allem Geld, und zwar
das Geld der Verbraucher. Marktwirtschaft und Verbraucherschutz sind kein Widerspruch, Bürokratie und Verbraucherschutz aber sehr wohl.
({10})
Ein schlanker Staat ist für die FDP auch eine Form von
praktiziertem Verbraucherschutz. Das Umweltbundesamt
blockiert bereits heute die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Das Trauerspiel um die Zulassung von Plantomycin gegen den Feuerbrand im Obstbau hat
eindrucksvoll die Ineffizienz des deutschen Zulassungssystems belegt. Dabei haben wir zurzeit nur zwei beteiligte Behörden. Sich vorzustellen, wie es erst mit vier
Einvernehmensbehören sein wird, überlasse ich Ihrer
Fantasie.
Frau Kollegin Sehn, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja.
Anstatt, wie im Von-Wedel-Gutachten gefordert, eine
klare Struktur aufzubauen, schafft Frau Künast ein regelrechtes Behörden- und Kompetenzwirrwarr. Das ist kein
Verbraucherschutz, das ist eine institutionalisierte Form
der Verbraucherverunsicherung.
({0})
Frau Kollegin Sehn!
Ich komme zum Schluss.
({0})
Die Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes könnte ein Wendepunkt in der Verbraucherpolitik sein. Sie könnte ein Beleg dafür sein, wie die
Politik Strukturen sinnvoll zusammenführt. Sie könnte
damit zu einem Sinnbild eines schlanken, modernen Staates werden. Die Bundesregierung ist offensichtlich außerstande, diese Chance zu nutzen. Echter Verbraucherschutz
ist deshalb, die Bürger unseres Landes vor dieser verbrauchten Regierung zu schützen.
Danke.
({1})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Bleser von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Umfrage hat ergeben, dass die
meisten Menschen neben der Medizin die Ernährung als
maßgebend für den Erhalt ihrer Gesundheit ansehen. Es
ist also verständlich, dass Väter und Mütter höchst sensibel reagieren, wenn Lebensmittelskandale bekannt werden oder die Qualität von bestimmten Lebensmitteln in
Zweifel gezogen wird.
Die Lebensmittelskandale der letzten drei Jahre haben
die Menschen misstrauisch und unsicher gemacht. Wir,
die CDU/CSU, nehmen die Sorgen der Menschen, gerade
wenn es um die Qualität unserer Nahrungsmittel geht,
sehr ernst. Die Bundesregierung und Sie, Frau Künast, haben die Verängstigung hingegen genutzt, um eine Ihrer
links-grünen Ideologie entsprechende Agrarwende zu begründen.
({0})
Der Bundeskanzler und Sie haben von „Masse statt
Klasse“ gesprochen und die Abschaffung der Agrarfabriken gefordert. Die modern und nachhaltig produzierende
Landwirtschaft haben Sie zu Ihrem Feindbild erklärt.
Frau Künast, Sie sind jetzt 14 Monate im Amt. - Vielleicht hören Sie auch einmal zu. - Wir fragen Sie deshalb:
Was haben Sie in dieser Zeit ganz konkret zur Verbesserung des Verbraucherschutzes umgesetzt?
({1})
Sind etwa irgendwo in Deutschland Agrarfabriken geschlossen worden? Mir jedenfalls ist nichts davon bekannt geworden.
({2})
Die gesetzlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit
BSE zum Beispiel wurden noch zusammen mit uns von
Ihrem Vorgänger eingeleitet. Sie haben sich auf Sprüche
beschränkt, denen keine Taten gefolgt sind. Frau Künast,
Sie waren einfach nur laut.
({3})
Obwohl Sie alle Zeit und alle Chancen hatten, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen, haben Sie schon im
Januar dieses Jahres bei der Abwehr gesundheitlicher
Gefahren durch aus China importierte Shrimps kläglich
versagt.
({4})
Einige Hundert Tonnen verseuchten Futters sind in die
Nahrungsmittelkette gelangt, Frau Künast.
Sie haben es bis heute nicht geschafft, die unterschiedlichen Vorgehensweisen der Bundesländer im Bereich der Lebensmittelüberwachung zu koordinieren.
Bis heute kommen in Deutschland Lebensmittel ohne
entsprechende Kennzeichnung im Wert von 37,3 Milliarden Euro auf den Markt, welche zu einem überwiegenden Teil zu Bedingungen erzeugt worden sind, die in
Deutschland nicht genehmigt worden wären. So dürfen
selbst in den EU-Staaten Pflanzenschutzmittel angewendet werden, die bei uns verboten sind. Aber Obst und
Gemüse, die mit diesen Pflanzenschutzmitteln behandelt
werden, sind dann, wenn sie aus anderen EU-Staaten
kommen, bei uns verkehrsfähig, während entsprechend
behandelte einheimische Produkte nicht abgesetzt werden dürfen.
({5})
Frau Ministerin, so geschickt wie Sie hat bisher noch
kaum jemand die deutschen Verbraucher getäuscht. Anspruch und Handeln liegen bei Ihnen intergalaktisch weit
auseinander.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, werden jetzt sicher einwenden, dass Sie doch immerhin das
Biosiegel eingeführt haben, ein Siegel, das sich an den
niedrigeren europäischen Standards orientiert. Damit haben Sie den deutschen Biobauern einen Bärendienst erwiesen, die bei ihrer Produktion viel strengere Kriterien
anlegen.
({6})
Haben Sie das etwa mit Ihrem Spruch „Klasse statt
Masse“ gemeint? Umgekehrt würde ein Schuh daraus.
Im Übrigen hat mir auf eine Anfrage im September
letzten Jahres Ihr Staatssekretär Dr. Thalheim
({7})
bestätigt, dass bei uns Produkte aus der ökologischen
Landwirtschaft nicht der staatlichen Lebensmittelüberwachung unterliegen. Auch dies haben Sie bisher nicht geändert.
({8})
Vielleicht wird das jetzt anders. Sie wollen zwei neue
Bundeseinrichtungen schaffen, ein Bundesinstitut für Risikobewertung und ein Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit. Dabei sollen Risikobewertung und Risikomanagement auch noch an unterschiedlichen Standorten getrennt wahrgenommen werden. Schon
diese Konstruktion lässt erkennen, dass hierbei nichts Gescheites herauskommen kann. Denn nur wer das Risiko bewerten kann, kann auch die entsprechenden Empfehlungen für dessen Beseitigung erarbeiten.
Das ist nicht nur meine Meinung, sondern diese Meinung vertreten auch die Mitarbeiter des Bundesinstituts
für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, was in einem Brief an Sie, Frau Künast, vom
Februar dieses Jahres deutlich wird. Im diesem Brief
heißt es:
Das geplante Bundesamt kann, wenn es die Bewertung nicht zu seiner Kernkompetenz zählen und auf
das geplante Bundesinstitut angewiesen sein soll,
seine eigenen Entscheidungen und Ratschläge kaum
selbst verantworten.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({9})
Wir von der CDU fordern unabhängige wissenschaftliche Lenkungsausschüsse zum Beispiel für Lebensmittelsicherheit, Produktsicherheit oder zur Unterstützung einer
nachhaltigen Pflanzenproduktion auf EU-Ebene mit nationaler Spiegelung. Die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse können dann Grundlage für politisches Handeln werden.
Ihnen, Frau Künast, ist wissenschaftliche Unabhängigkeit allerdings ein Dorn im Auge. Den wissenschaftlichen Beirat in Ihrem Haus haben Sie deshalb mit Ihnen
nahe stehenden Personen besetzt.
({10})
Sie scheuen eine wissenschaftliche Debatte, weil Sie um
Ihr grün-ideologisches Weltbild fürchten.
Wer glaubt, dass das Durcheinander damit ein Ende
hat, irrt. Ganz im Gegenteil: Es kommt zu einer weiteren
Steigerung. Sie haben gestern ein Verbraucherschutzgesetz durch das Kabinett gebracht;
({11})
vielmehr das, was davon noch übrig geblieben ist. Nun
hören Sie zu: Darin heißt es unter anderem, dass Sie mit
zusätzlichen Warn- und Auskunftspflichten den bewussten Einkauf nach ethischen Wertvorstellungen ermöglichen wollen. Wer sagt, was ethisch ist? Machen Sie das,
Frau Künast, oder haben wir einen weiteren Ethikrat zu
erwarten?
({12})
Ein gravierender Nachteil des Gesetzentwurfes ist aber
auch - das muss hier immer wieder angesprochen werden -, dass er nur die heimischen Produzenten und Produkte und nicht die importierten Waren betrifft.
Meine Damen und Herren, es gäbe durchaus die Möglichkeit, Verbraucherinformationen zu verbessern und
gleichzeitig eine qualitätssteigernde Wirkung zu erzielen.
Ich meine die große Palette von No-Name-Produkten,
auch Eigenmarken großer Handelsunternehmen genannt.
Insbesondere der Lebensmitteleinzelhandel kann in diesem Bereich keine Transparenz und Klarheit vom Acker
über den Stall und den Hersteller bis zur Ladentheke für
sich in Anspruch nehmen. Dazu, den leicht erkennbaren
Namen des Herstellers auf der angebotenen Ware zu verlangen, hat dieser Regierung der Mut gefehlt. Wir werden
dieses Thema aufgreifen.
Beispielhaft geht hier der Deutsche Bauernverband
vor. Mit der Einführung eines eigenen Qualitätssiegels
will er, beim Schweinefleisch beginnend, Transparenz
vom Stall bis zur Ladentheke herstellen.
({13})
Damit erreicht der Bauernverband etwas, was der Ministerin weder national noch auf EU-Ebene gelungen ist,
nämlich den völligen Verzicht auf antibiotische Leistungsförderer in der Schweinemast als Voraussetzung für
die Teilnahme an dem Qualitätszeichen „QS“ vorzuschreiben.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Die
rot-grüne Bundesregierung hinterlässt in der Verbraucherpolitik ein Chaos.
({14})
Die Lebensmittelproduzenten stellen wegen der Unklarheit
der zukünftigen Linie der Ernährungs- und Verbraucherschutzpolitik Investitionen zurück. Das kostet Arbeitsplätze. Die Verbraucher sind verunsicherter als je zuvor.
({15})
Wir, die CDU/CSU, werden nach der Wahl ein neues
Kapitel in der Verbraucherschutzpolitik aufschlagen.
({16})
Zusammen mit den Verbraucherschutzorganisationen und
der Wirtschaft wollen wir die Position der Verbraucher am
Markt weit über den Ernährungsbereich hinaus erheblich
stärken. Die programmatischen Vorarbeiten hierzu sind
bereits weitgehend abgeschlossen.
({17})
Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Imhof.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gesundheitliche Verbraucherschutz, über den ich heute hier noch einmal kurz
sprechen will, greift eigentlich in alle Bereiche des
Verbraucherschutzes hinein. Logischerweise ist eine Abgrenzung manchmal sehr schwierig.
Fest steht allerdings - ich hoffe, darin sind wir uns in
diesem Hohen Hause alle einig -, dass die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger das kostbarste Gut ist; das
gilt es zu bewahren.
({0})
- Ja, da dürfen Sie gerne klatschen. - Wir fangen damit
bereits sehr weit im Vorfeld an, und zwar mit einer guten
Informationspolitik und einem erheblich erweiterten Informationszugang für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die manchmal leider auch Patientinnen und Patienten sind.
Man kann sich allerdings etwas wundern, wenn man
sich manche Presseberichte der vergangenen Tage anschaut, die sich mit dem Verbraucherinformationsgesetz
beschäftigen. Hier und da wird kräftig gemeckert. Das
ist bei neuen Gesetzen ja nicht so ungewöhnlich. Den
Unternehmern geht das Gesetz immer noch zu weit.
Manchmal ist sogar von Existenzgefährdung die Rede.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es manche Hersteller in der Vergangenheit auch ganz gut ohne unsere Hilfe
geschafft haben, sich in existenzgefährdende Absatzkrisen zu manövrieren. Ich denke dabei an die bereits vielfach zitierten Lebensmittelskandale - das kann man gar
nicht oft genug sagen -: an Tiermehl in Futtermitteln, an
Antibiotika wie Streptomycin in Bienenhonig, an verseuchte Shrimps - diese sind auch schon erwähnt worden -, an Salmonellen in Schokolade usw. Dabei kann einem der Appetit wirklich kräftig vergehen. Diese Liste
ließe sich beliebig fortsetzen.
Manche Hersteller konnten sich in der Vergangenheit
sicher fühlen - meiner Meinung nach viel zu sicher -,
wenn es darum ging, gesundheitsbeeinträchtigende Mittel
in den Lebensmittelkreislauf hineinzubringen. Wir aber
haben uns zum Ziel gesetzt, dass sich die Menschen in
unserem Land, die ja auch Kundinnen und Kunden sind,
sicher fühlen, wenn sie Lebensmittel, Pflegeprodukte
oder Medikamente kaufen und verbrauchen.
Auf der anderen Seite bedrängen uns natürlich auch die
schon zitierten Verbraucherorganisationen, denen unsere
Maßnahmen zur Stärkung des Verbraucherschutzes nicht
schnell und nicht weit genug gehen. Dafür haben wir Verständnis. Aber ich möchte genau an deren Adresse deutlich hervorheben, dass uns ihre Mitwirkung und ihre Stärkung ein ganz zentrales Anliegen sind. Frau Ministerin
Künast und auch unsere verbraucherpolitische Sprecherin, Frau Teuchner, haben das vorhin sehr deutlich gesagt.
Nach Jahren des Stillstands, des Auf-der-Stelle-Tretens
und zum Teil auch des Wegschauens haben wir jetzt mit
vielen kleinen Schritten in die richtige Richtung - auch
kleine Schritte sind Schritte - bewiesen, dass wir uns auch
beim gesundheitspolitischen Verbraucherschutz nicht auf
Lippenbekenntnisse beschränken. Aber wir wissen natürlich auch, dass noch sehr viel Arbeit vor uns liegt. Wir sind
wild entschlossen, sie in Angriff zu nehmen.
({1})
Die Verbraucher bei ihrem selbstständigen Handeln zu
unterstützen und ihnen so viel Informationen wie möglich
an die Hand zu geben, das zieht sich wie ein roter Faden
durch unsere Verbraucherpolitik. Wir wollen Vorsorge
und Chancengleichheit beim Informationszugang ermöglichen. Durch das Verbraucherinformationsgesetz wird
aber auch erreicht, dass den Behörden nicht mehr wie so
oft in der Vergangenheit die Hände gebunden sind, wenn
es um die Vermittlung und Weitergabe von Informationen
geht. Sie müssen nun sogar von sich aus warnen, wenn sie
Gesundheitsgefahren befürchten. Aber auch wenn keine
Gefahr im Verzug ist, wenn es nur darum geht, dass auf
dem Etikett einer Wurstkonserve steht, dass kein Rindfleisch darin enthalten ist, dies aber nicht den Tatsachen
entspricht, können sie die Verbraucherinnen und Verbraucher von sich aus darüber informieren.
Wir treffen damit Vorsorge vor möglichen gesundheitlichen Gefahren. Aber dieses Vorgehen schützt natürlich
auch die verantwortungsvollen Erzeuger und Hersteller
von Lebensmitteln. Wir können uns sicherlich noch alle
gut daran erinnern - es ist noch nicht so lange her -, wie
viele Landwirte durch den BSE-Skandal an den Rand ihrer Existenz gedrängt worden sind, weil die Verbraucher
- dabei möchte ich mich persönlich einschließen - total
verunsichert waren und allem und jedem misstraut haben.
({2})
Unser Verbraucherinformationsgesetz bietet eine gute
Grundlage, um dieses Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Das wird - da bin ich ganz sicher - allen Seiten nutzen.
({3})
Dies wird auch an den Gesetzen deutlich, die wir auf
den Weg gebracht haben und die ganz besonders den
gesundheitlichen Verbraucherschutz in den Mittelpunkt
gestellt und gestärkt haben, zum Beispiel das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz, das unter anderem die Pflegequalität, die Qualitätssicherung und die Kontrolle zum Ziel
hat, und das Medizinproduktegesetz, in dem es unter anderem um die effiziente Überwachung von Medizinprodukten geht.
Auch fördern wir - das will ich an dieser Stelle ebenfalls sagen - Modellvorhaben unabhängiger Einrichtungen, die sich die Beratung und die Aufklärung von Patientinnen und Patienten zum Ziel gesetzt haben. Gerade
kranke Menschen, aber auch ihre Angehörigen sind oft
verängstigt und verunsichert. Sie sind oft in einer Ausnahmesituation und glauben manchmal - das hängt mit alten Strukturen und der Angst vor den „Weißkitteln“ zusammen -, am kürzeren Hebel zu sitzen.
Wir wollen, dass Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte und auch die Vertreter der Krankenkassen
auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren.
({4})
Wir wollen Patientinnen und Patienten, die manchmal
sehr weitgehende Entscheidungen für ihr Leben treffen
müssen, in ihrer Verantwortung für sich selbst stärken und
unterstützen.
Wir wollen mündige Patientinnen und Patienten sowie
mündige Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich denke,
diesem Ziel sind wir heute ein ganz großes Stück näher
gekommen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Heiderich.
Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Die Presselandschaft gestern
war eindeutig, und zwar eindeutig vernichtend. Die
Ankündigungsministerin Künast ist erneut um Längen
hinter ihren großen Sprüchen zurückgeblieben.
({0})
Wenn Sie sich, Frau Ministerin, vorhin mit Dornröschen
in Beziehung gebracht haben, muss ich Ihnen sagen: Sie
kommen mir eher vor wie die Nina Hagen der Verbraucherpolitik: große Röhre, grelle Auftritte, doch wenn das
Scheinwerferlicht aus und die Schminke ab ist, bleibt nur
viel Ernüchterung und viel grau in grau.
({1})
Ihren Vorgänger im Amt muss ich nicht mehr zitieren,
Albert Deß hat das vorhin zur Genüge getan. Sie, Frau
Ministerin, haben am 8. Februar 2001 an dieser Stelle
vollmundig erklärt: „Verbraucherschutz wird jetzt endlich unter einem Dach gebündelt“. Sie sind mit diesem
großen Anspruch genauso gescheitert wie mit vielen anderen Ihrer vollmundigen Erklärungen. So hat Ihr Haus
beispielsweise immer noch keine Zuständigkeiten für
Trinkwasser oder für die Zulassung von Chemikalien,
wie wir das gerade aktuell beim Biozid-Gesetz feststellen. Aber auch bei anderen Verbraucherschutzthemen
- Sie haben sie vorhin aufgelistet - wie Strahlenschutz
beim Mobilfunk oder Finanzdienstleistungen müssen Sie
bei anderen Ministerien Anleihen nehmen, weil Sie selbst
bei weitem noch nicht das an Zuständigkeiten haben, was
Sie versprochen haben.
Statt notwendiger Aufgabenbündelung haben Sie mit
Ihrer neuen Organisationsstruktur an den Erfordernissen
von Praxis und Wissenschaft vorbei gehandelt. Die Trennung in ein Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie ein Bundesinstitut für Risikobewertung verlängert die Entscheidungswege und schafft
neue bürokratische Hürden. So nennen auch die Verbraucherverbände die von Ihnen durchgezogene Aufteilung
kontraproduktiv. Dabei hatte das Von-Wedel-Gutachten
gefordert, unnötige Schnittstellen und Doppelarbeit zu beseitigen.
Zu einem ähnlich negativen Urteil wie die Verbraucherverbände kommt der Bundesverband für Tiergesundheit, wenn er zur bisherigen Praxis feststellt, dass gerade
die Gesamtverantwortung, in der alle Zulassungsschritte
von der Beurteilung der einzelnen Dossiers bis zur
Erteilung des Zulassungsbescheides zusammengeführt
wurden, zu einer erheblichen Steigerung der Effizienz
bei Einhaltung höchster Zulassungsstandards geführt
habe. Risikobewertung und Risikomanagement können
- so meine ich - nur in enger gegenseitiger Abstimmung
auf der Basis einer hohen Fachkenntnis erfolgreich durchgeführt werden. Jetzt - so sagt auch der Bundesverband werde der Verfahrensablauf weiter verlängert. Zusätzlicher Abstimmungsbedarf mit der europäischen Behörde
werde notwendig und in der Folge würden die überwiegend mittelständischen national operierenden Unternehmen die Verlierer der Umstrukturierung sein. - So viel zu
Ihrem neuen Weg in der Marktwirtschaft.
Noch eine Stufe kritischer wird Ihre Festlegung gesehen, wonach künftig BBA, BfR, UBA und BVL als Einvernehmensbehörden fungieren müssen. Jede Bewertungsbehörde müsse also - so schreiben es die Fachleute wissenschaftliche Teilbereiche der anderen Bewertungsbehörden mit bearbeiten und damit Doppelarbeit leisten.
Das Ganze führe letztlich zu einem Mammutverfahren,
das konträr zu den Erkenntnissen des Von-Wedel-Gutachtens stehe. - So die Fachleute und die Wissenschaft, aber
von denen halten Sie ja, wie vorhin zu hören war, relativ
wenig.
Insgesamt muss eine Abkoppelung von eigener Forschung - das ist eigentlich einleuchtend - auf Dauer ein
Risikomanagement, das ja an der aktuellen wissenschaftlichen Entwicklung orientiert sein muss, zunehmend problematisch werden lassen. So schreibt auch das
Von-Wedel-Gutachten konsequenterweise, dass eine valide wissenschaftliche Politikberatung durch eine Institution ohne eigene qualifizierte wissenschaftliche Arbeit
nicht möglich sei. Der Kompetenzwirrwarr in Ihrem
Hause ist also keineswegs behoben und Ihre großartige
Ankündigung vom vergangenen Jahr wieder einmal
nichts als heiße Luft.
Lassen Sie mich an einem Beispiel ausführen, wie
schlecht der Verbraucherschutz in Ihrem Hause noch immer funktioniert. Gerade gestern - das ist sicherlich auch
für die Kollegen sehr interessant - habe ich ein Schreiben
des hessischen Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaft
und Forsten erhalten, in dem wieder einmal Ihre Untätigkeit angesprochen wird. Sie, verehrte Frau Ministerin, haben bereits am 10. September vergangenen Jahres vom
hessischen Sozialministerium eine Mitteilung erhalten,
dass bei Rückstandsproben von Honig CarbendazimRückstände festgestellt worden waren, und zwar interessanterweise auch bei zwei Ökohonig-Proben.
({2})
Das hessische Ministerium hatte danach Grenzwertüberschreitungen festgestellt und Ihr Haus gebeten, seine
Rechtsauffassung zur lebensmittelrechtlichen Beurteilung der Rückstände umgehend mitzuteilen.
Meine Damen und Herren, bis zum heutigen Tage liegt
weder dem Land Hessen eine Beurteilung aus Ihrem
Hause vor, noch gibt es von Ihnen eine Antwort darauf, ob
bei der Zulassung Carbendazim-haltiger Mittel vor der
bald wieder stattfindenden Rapsblüte Änderungen im Zulassungsverfahren erfolgen müssen.
({3})
Ich will das nicht problematisieren. Aber wenn eine
Ministerin ständig die Worte „Verbraucherschutz“ und
„Verbraucherinformation“ in der Öffentlichkeit herumtönt, muss wohl auch festgestellt werden: Wenn sie innerhalb von fünf Monaten nicht in der Lage ist, Ihrem Amtskollegen zu antworten, dann bleibt sie um Längen hinter
Ihrem eigenen Anspruch zurück.
({4})
Solange Sie, Frau Ministerin, noch nicht einmal solche einfachen Vorgänge beherrschen, sollten Sie meiner
Meinung nach den Begriff „vorsorgenden Verbraucherschutz“ zurückhaltender benutzen. Wie wollen Sie denn
die Millionen Verbraucher in Deutschland informieren,
wie Sie es mit Ihrem Gesetz angeblich vorhaben, wenn
Sie selber innerhalb von fünf Monaten nicht in der Lage
sind, Ihrem Ministerkollegen in Hessen eine Antwort zu
geben?
({5})
Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Sie bei
den Honigproben gerade in der letzten Zeit äußerst heftig reagiert, die Grenzwerte auf ein Zehntel zurückgefahren haben und damit auch - das ist schon häufiger hier
ausgeführt worden - ein riesiges Problem für die Obstbauern in Deutschland geschaffen haben. Welch ein erneuter Widerspruch zwischen Ihren Worten und Ihrem
Handeln!
Ähnliche Widersprüche sind in Ihrem Hause beispielsweise hinsichtlich der Rückstände von Dicloran in Erdbeeren zu verzeichnen. Werden die Früchte aus anderen
europäischen Ländern importiert, dann werden bis zu
100fach höhere Rückstände toleriert als bei entsprechender deutscher Ware. Das entspricht einem Verhältnis
1:100, Frau Ministerin. In Ihrer Rede auf der Grünen Woche am 12. Januar haben Sie verkündet:
Mögliche Konflikte zwischen Verbraucherschutz bei
Lebensmitteln und Liberalisierung des Welthandels
dürfen nicht zu Lasten unserer Lebensmittelsicherheit und -qualität gehen,
In den Fällen, die ich eben vorgetragen habe, handeln Sie
aber ganz anders. Entweder sind die Grenzwerte in anderen europäischen Ländern gesundheitlich unbedenklich
- dann müssen aber auch die deutschen Obstbauern
nach diesen Grenzwerten produzieren dürfen - oder die
Höchstwerte sind nicht hinnehmbar; dann müssen Sie
dafür sorgen, dass der Import schleunigst verhindert wird.
({6})
Ansonsten ist all Ihr Gerede von den Rückstands-Höchstmengenverordnungen nichts anderes als politischer Aktionismus auf dem Rücken der heimischen Bauern und
Verbraucher.
({7})
Frau Ministerin, ich zitiere zum Abschluss aus der
„FAZ“ von gestern:
Wissenschaftliche Argumente zählen nicht, das Sagen haben die Ideologen.
Mit vielen Entscheidungen Ihres Hauses bestätigen Sie
diese Aussage. Ich meine, es wird Zeit, dass der Verbraucher die Gelegenheit nutzt, sich von einer solchen Ideologie zu befreien.
Schönen Dank.
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 14/8520 soll an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung zu dem Antrag auf Genehmigung zum
Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse erweitert werden. Die entsprechende
Drucksache liegt Ihnen vor.
({0})
Gibt es Widerspruch gegen die Erweiterung der Tagesordnung? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1})
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse
- Drucksache 14/8536 Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
4. Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördern und Fordern in
Vermittlungsagenturen ({2})
- Drucksache 14/8365 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 2a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz
- Drucksache 14/8010 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz
- Drucksache 14/7280
({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5})
- Drucksache 14/8531 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({6})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fördern und Fordern - Sozialhilfe modern
gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L.
Kolb, Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Reintegration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt - Anreize für die
Rückkehr in das Erwerbsleben erhöhen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Maier,
Dr. Barbara Höll, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Die Sozialhilfe armutsfest gestalten
- Drucksachen 14/7293, 14/59/82, 14/7298,
14/8531 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der
Ministerpräsident des Landes Hessen, Roland Koch.
Roland Koch, Ministerpräsident ({7}) ({8}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit
einer ganzen Reihe von Monaten gibt es eine für jeden
deutlich vernehmbare Diskussion über die Frage, wie wir
mit Menschen, die seit langer Zeit arbeitslos sind und die
Ansprüche an die staatlichen Sozialsysteme haben, umgehen sollen, damit möglichst viele von ihnen eine
Chance haben, in Zukunft wieder ins Erwerbsleben
zurückzufinden. Angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen - wir alle wissen, in Wahrheit sind es 6 Millionen,
wenn man diejenigen, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind, hinzurechnet -,
({9})
bei 1,6 Millionen Sozialhilfeempfängern in der Bundesrepublik Deutschland, bei ständiger Zunahme der
Zahl der Langzeitarbeitslosen, die weit über dem Durchschnitt anderer europäischer Staaten liegt, und angesichts der in den letzten vier Jahren ständig gestiegenen Zahl der Sozialhilfeempfänger, die länger als fünf
Jahre Sozialhilfe beziehen, ist es in der Tat an der Zeit,
die Politik der ruhigen Hand zu beenden und endlich etwas zu tun.
({10})
- Haben Sie wirklich keine besseren Argumente als den
Hinweis auf die Geschichtsbücher? Versuchen Sie einmal
die Zukunft zu gestalten! Ich dachte immer, die SPD
wollte einen Beitrag zur Zukunft der Menschen leisten.
({11})
Wenn man nach fast vier Jahren, in denen man an der Regierung war, nichts anderes anzubieten hat als den Hinweis, dass andere vorher regiert haben, dann hat man vier
Jahre lang zu wenig getan. Darüber müssen wir, bitte
schön, diskutieren.
({12})
Wir haben inzwischen - das gilt jedenfalls für mein
Bundesland, vielleicht sogar im besonderen Maße - in einer ganzen Reihe von Landkreisen und Regionen, aufbauend auf jeweils eigenen Ideen, Modellversuche
durchgeführt und durchaus Erfolge bei der Etablierung
von neuen Beratungssystemen an der Basis gehabt. Es
gibt hier Vorreiter, die inzwischen glücklicherweise bundesweit eine Rolle spielen. Sie alle haben nur ein großes
Problem: Sie können auf der Grundlage des Job-AQTIVGesetzes - Frau Staatssekretärin, Sie werden nachher
sicherlich noch etwas dazu sagen - zwar ein paar theoretische Vorarbeiten leisten. Aber die Tatsache, dass Anträge
auf Sozial- und Arbeitslosenhilfe in einem Büro bearbeitet werden, bedeutet noch lange nicht, dass in Zukunft nur
noch ein Formblatt für eine Hilfemaßnahme ausgefüllt
werden muss. Nein, es werden weiterhin zwei sein; denn
die Zahl der Formblätter hat sich nicht reduziert, sie dürfen bestenfalls auf einem Schreibtisch ausgefüllt werden.
Auch wenn ein Modell im Main-Taunus-Kreis oder im
Main-Kinzig-Kreis oder sonst wo in Hessen erfolgreich
ist, ist es verboten, es auf das ganze Bundesland auszudehnen; Ihre Versuchsklausel verhindert das. Wir sind
über den Zeitpunkt hinaus, uns nur gegenseitig Vorschläge zu machen. Wir müssen zu handeln beginnen;
denn die Zahlen entwickeln sich so. Darum geht es bei
diesem Gesetzentwurf.
({13})
Ich bin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich dankbar dafür, dass sie dieses Thema ergänzend zu
den Beratungen im Bundesrat auch hier zur Sprache
bringt. Ich sehe, dass man im Bundesrat im Augenblick
auf Zeit spielt, und es ist zu erwarten, dass sozialdemokratische Kollegen das möglicherweise auch hier tun. Dabei besteht, wenn ich eine Äußerung der Frau Staatssekretärin vor einiger Zeit in einer Zeitung richtig
verstanden habe und wenn ich an die Reaktionen meines
niedersächsischen Kollegen Gabriel denke, darüber, dass
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Arbeitslosen- und Sozialhilfe heute zusammengehören,
überhaupt kein Streit. Irgendwann muss der Grundsatz
„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ zur Geltung kommen. Dafür müssen wir jetzt eine Chance haben.
({14})
Der Gesetzentwurf bringt für unsere Tradition in der
Bundesrepublik Deutschland möglicherweise an einem
Punkt einen neuen Ansatz: Es soll möglich sein, eine Aufgabe, die zum Bereich der Sozialpolitik gehört, in den
Bundesländern unterschiedlich zu lösen.
In der Diskussion des letzten halben Jahres ist vielfach
das Stichwort „Wisconsin-Modell“ gefallen. Dieses Modell ist nur eines von vielen, aber es ist immerhin eines,
bei dem es gelungen ist, im ersten Jahr 60 Prozent und
über einen längeren Zeitraum 90 Prozent derer, die dort
Sozialhilfeempfänger waren, wieder in Arbeit zu vermitteln. Das ist doch ein Grund, zumindest einmal hinzuschauen. Ich habe immer nur gesagt: Lassen Sie uns die
Marke von 50 Prozent der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger erreichen! Zumindest das müssten wir uns
doch als Anspruch gegenseitig zumuten können.
({15})
Zur Wahrheit gehört auch: Das Gesetz, das in Wisconsin angewandt worden ist, wäre niemals nationales USamerikanisches Gesetz geworden, wenn erst alle nationalen Überlegungen - das gilt für einen Kontinent und auch
für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland - angestellt worden wären und man erwogen, abgewogen,
angehört, noch einmal diskutiert, geprüft, ausprobiert und
wieder verworfen hätte. Im US-amerikanischen Recht
gibt es aber die gute Möglichkeit, Ausnahmeregelungen
für einzelne Staaten vorzusehen und ihnen zu erlauben,
abweichend vom Bundesrecht etwas zu versuchen. Nur so
ist es möglich gewesen, in Wisconsin, in Oregon, in Teilen von Kalifornien bestimmte Modelle auszuprobieren.
({16})
Die Erfolge, die ich genannt habe - 60 Prozent und
90 Prozent -, haben am Ende die Demokraten im
amerikanischen Parlament, die ursprünglich skeptisch
waren, dazu gebracht, dieses Modell zur Regierungsvorlage von Bill Clinton in der zweiten Amtsperiode zu
machen. Die Häuser des amerikanischen Parlaments haben dann das, was vorher politisch streitig war, einstimmig beschlossen. Auch in den USA gäbe es diese Möglichkeit der Unterstützung bis zum heutigen Tage nicht,
wenn sie nicht in einigen Regionen hätte ausprobiert werden können.
Geben Sie uns in der Bundesrepublik Deutschland mit
ihrem Föderalismus doch die Chance, Modelle nicht nur
zu diskutieren, sondern in einem bestimmten Rahmen
auch auszuprobieren, sodass es am Ende vergleichbare
Zahlen und Daten gibt!
({17})
Dazu brauchen wir bundesrechtliche Rahmenbedingungen, die uns erlauben, einige Voraussetzungen zu
schaffen. So müssen wir die rechtliche Möglichkeit haben, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe miteinander zu
verzahnen. Wir müssen das, was derzeit im SGB III steht,
und das, was im BSHG steht, zusammenführen. Wir müssen dafür sorgen, dass es eine Landeskompetenz dafür
gibt, die kommunale Sozialhilfe hinzuzunehmen.
({18})
Es wird häufig darüber geredet, dass man viel Geld für
Integrationsarbeit braucht. Wir geben mehr als 25 Milliarden Euro im Bereich der Arbeitsförderung aus. Dabei
habe ich noch nicht einmal alle Sozialhilfezahlungen aus
den Kommunen an Langzeitarbeitslose dazugerechnet. Es
wird mehr Geld als in jedem anderen industriellen Staat
der Erde dafür eingesetzt. Damit müssen wir effizienter
arbeiten, als wir es zurzeit tun. Wir tun es nicht, weil jeder für sich arbeitet.
({19})
Vorher müssten wir einige Prinzipien klären. Das System in Deutschland, dass Sozialhilfeansprüche zunächst
Ansprüche auf Geldzahlung sind, die gelegentlich durch
Kooperation und Hilfepläne ergänzt werden, müssen wir
verändern. Aus meiner Sicht ist Sozialhilfe ein Angebot
der Solidargemeinschaft, der Gesellschaft an leistungsbereite Einzelne, sie darin zu unterstützen, den Weg zurück
in normale wirtschaftliche Verhältnisse zu finden. Es ist
eine zweiseitige Vereinbarung.
Nur in Modellregionen - in dieser Situation sind Sie
zurzeit - wird ein Hilfeplan durchgeführt, weil es nur dort
möglich ist. Wir unterstellen - das kann man auf der
Grundlage des Gesetzes tun -, dass es sich dabei um einen Verwaltungsakt handelt. Das ist die einzige Chance.
Was geschieht dann? Es wird eine Klage des Betroffenen
beim Verwaltungsgericht gegen den Hilfeplan geben, was
eine zweijährige Aufschiebung bewirkt. Dies ist einer der
Gründe, warum in den Sozialämtern von der Hilfeplanung
unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzbarkeit sehr wenig
Gebrauch gemacht werden kann. Das zeigen die Modellversuche.
({20})
Das muss so nicht sein. Man kann das ändern. Man
muss dafür sorgen, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
etwa hinsichtlich der Betreuung von Kindern und des Angebots von Qualifikationen - zurzeit finanziert aus unterschiedlichen Haushaltstöpfen; dabei sind unterschiedliche Vorschriften hinsichtlich der Rechnungslegung und
unterschiedlicher Haushaltsjahre zu beachten - zentral
organisiert werden. Im Augenblick prasseln auf den einzelnen Beamten all diese Vorschriften, die für den einen
Bereich wie für den anderen zutreffen, herab.
Warum lösen Sie das nicht für fünf Jahre in irgendeinem Bundesland, beispielsweise in Hessen, auf? Warum
überlassen Sie die Organisation nicht einer einzigen Institution? Lassen Sie uns prüfen, was passiert, wenn wir uns
Ministerpräsident Roland Koch
um die Sache kümmern können, weil wir uns nicht mehr
um die Vorschriften kümmern müssen!
({21})
Ich möchte, dass jeder, der sich bei einer Institution
meldet, die sich um Arbeits- und Sozialhilfe kümmert,
weiß, dass es eine Art Leiter von Maßnahmen gibt: Am
Anfang gibt es ein Angebot im ersten Arbeitsmarkt
- prima -; dann ein Angebot im zweiten Arbeitsmarkt
- besser als keines -; wenn beides nicht funktioniert, gibt
es ein gezieltes Qualifizierungsprogramm, damit man
eine Chance hat, über den zweiten Arbeitsmarkt in den
ersten zu kommen; wenn das alles nicht funktioniert - das
kann auch sein -, gibt es eine gemeinnützige Arbeit, bis
wir eine andere Lösung finden; wenn auch das nicht funktioniert, gibt es den Bereich der therapeutisch betreuten
Arbeit, um den Arbeitslosen in einen geregelten Tagesablauf einzubinden, um ihn auf Dauer wieder eingliedern zu
können.
Rechnen Sie doch einmal für die Länder, in denen Sie
Wahlkreise haben, aus, wie viele Millionen wir zurzeit für
Programme ausgeben, die das Ziel haben, Menschen mithilfe sozialpädagogischer Betreuung das Pünktlich-zurArbeit-Gehen beizubringen. Das muss nicht sein. Wir
müssen eine anschlusslose Möglichkeit der Wiedereingliederung schaffen, damit jeder trotz Eintritt der Arbeitslosigkeit - in welcher Situation auch immer - im Kreislauf eines normalen Lebens bleibt.
({22})
Das ist durchaus ein erheblicher Anspruch an den Staat,
an die Kommunen, die Länder - wir wären bereit, uns
auch auf den Gebieten zu engagieren, auf denen wir zurzeit keine Zuständigkeit haben - und an den Bund.
({23})
Es ist wichtig, zunächst einmal festzustellen: Wir müssen
in der Tat für jeden das Passende finden. Aus meiner Sicht
besteht erst dann die Berechtigung, jeden, der nicht bereit
ist, sich in diesen Prozess zu integrieren, zu fragen, ob er
tatsächlich anspruchsberechtigt ist.
({24})
Wir müssen auch über die Sanktionsmöglichkeiten
- wenn man sie so nennen möchte - diskutieren. Die heute
vorhandenen Sanktionsmechanismen für Alleinstehende
sind aus meiner Sicht nachhaltig wirksam. Wenn eine Sozialverwaltung die verwaltungsrechtlichen Vorschriften
und einiges andere überwindet, reichen sie möglicherweise aus. Bei jemandem, der eine Familie mit zwei Kindern hat und der sagt, er sei nicht bereit, sich dem Hilfeplan zu unterwerfen oder eine Arbeit aufzunehmen, macht
der maximale Betrag, der abgezogen werden kann, einen
verschwindend geringen Teil der gesamten sozialen Subventionsleistungen aus, die über verschiedene Tranchen
und verschiedene Institutionen ausgereicht werden; Stichworte: Sozialhilfe, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hausbrandbeihilfe, Möglichkeiten der Erziehungsunterstützung bis hin zu Ausbildungsprogrammen.
({25})
Ich bin dafür - das werden wir in der nächsten Legislaturperiode durchsetzen -, dass wir mithilfe des Familiengeldes dafür sorgen, dass die Kinder aus der Sozialhilfe herauskommen.
({26})
Auf der anderen Seite bin ich auch dafür, dass wir dafür
sorgen, dass jeder - unabhängig vom Familienstand weiß, dass Kooperation erforderlich ist, weil der Staat seinerseits entsprechende Angebote gemacht hat.
Das Ärgerliche an dieser wie auch an vielen anderen
wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussionen dieser
Tage ist, dass das eigentlich alle wissen.
({27})
Wenn Sie intensiv - unter sechs, acht oder zehn Augen mit den Beteiligten reden, stellen Sie fest, dass niemand
sagt, ein solches Vorgehen sei falsch. Auch im Bundesrat
und in Fachausschüssen wird bestenfalls die Vertagung
auf die Zeit nach der Bundestagswahl beschlossen. Es
wird nicht beschlossen, eine solche Initiative abzulehnen.
In der Tat wäre es schwierig, dies zu begründen. Ich frage
Sie: Warum wollen Sie wieder warten? Dankenswerterweise engagieren Sie sich politisch in dieser Debatte. Ich
als Hesse mache Ihnen ein Angebot: Wenn das alles so unbrauchbar ist, lassen Sie mich doch hereinfallen. Lassen
Sie es uns in Hessen machen, meine Damen und Herren.
Dann zeigen wir Ihnen, ob es geht oder nicht. Hören Sie
auf, nur theoretisch darüber zu reden.
({28})
Ich will Ihnen ein letztes Beispiel, den Grund nennen,
warum wir glauben, uns mit einigem Selbstbewusstsein
darum kümmern zu können. Wir haben in den vergangenen Jahren zusammen mit dem Landesarbeitsamt durch
eine Umstellung der Arbeitsförderung ein Sonderprogramm des Coaching der Vermittlungsagentur für
arbeitslose schwerbehinderte Arbeitnehmer in unserem Land eingeführt.
({29})
Wir haben 2001 in nur einem Jahr eine Reduzierung des
Anteils derjenigen, die als Schwerbehinderte arbeitslos
sind, von 22 Prozent erreicht.
({30})
Im Bundesgebiet ist es, wenn man nur die westdeutschen
Länder nimmt, ein Rückgang von 6 Prozent.
Wir sind sehr optimistisch, dass wir es schaffen können. Das bisher Erreichte ist eine Leistung des Landes zusammen mit der Hauptfürsorgestelle, dem Landesarbeitsamt und den Landkreisen. Wir haben im Vergleich aller
Bundesländer den größten Rückgang bei den Langzeitarbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland.
({31})
Ministerpräsident Roland Koch
Deshalb sage ich Ihnen: Gehen Sie doch das Risiko ein,
mich und meine Regierung ausprobieren zu lassen, ob wir
es schaffen. Wir wären bereit, zugunsten derjenigen in
diesem Lande, die seit längerer Zeit auf Beschäftigung
warten, das Risiko einzugehen.
Vielen herzlichen Dank.
({32})
Zur Geschäftsordnung erhält der Kollege Repnik das Wort.
Frau Präsidentin!
Wir diskutieren derzeit über eines der größten Probleme,
das die Bundesrepublik Deutschland berührt, nämlich
über die Fragen, wie man die Arbeitslosigkeit verringern
und den Abbau von Arbeitslosigkeit verbessern kann. Wir
stellen fest, dass bei diesem für die Bundesrepublik
Deutschland wichtigen Thema kein einziger Bundesminister auf der Regierungsbank sitzt, auch nicht der zuständige Bundesminister Riester. Wir beantragen hiermit,
den Bundesminister Riester ins Plenum des Deutschen
Bundestages zu zitieren.
({0})
Ebenfalls zur
Geschäftsordnung erhält die Abgeordnete Susanne
Kastner das Wort.
Herr Kollege Repnik, die
zuständige Parlamentarische Staatssekretärin spricht in
dieser Debatte noch. Sie können das der Rednerliste entnehmen.
({0})
- Das mag Ihnen nicht reichen. - Wir lehnen Ihren Antrag,
den Bundesminister herbeizuzitieren, ab, weil wir glauben, es ist guter parlamentarischer Brauch, dass die
Staatssekretärin in einer solchen Debatte spricht.
({1})
- Frau Präsidentin, dann beantrage ich eine Unterbrechung für eine Fraktionssitzung.
({2})
Gibt es weitere
Wortmeldungen zur Geschäftsordnung?
({0})
Nach einer Beratung unter den Geschäftsführern entscheide ich so, wie in diesem Haus immer entschieden
wurde, dass nämlich der Antrag auf Unterbrechung, wenn
er von einer großen Fraktion gestellt wird, anderen Anträgen vorgeht.
({1})
- Sie können sich dazu verhalten, wie Sie wollen. Aber
das ist auch in der Vergangenheit immer Übung dieses
Hauses gewesen. Ich habe mich darüber noch einmal informiert.
({2})
Ich unterbreche die Sitzung für zehn Minuten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder
eröffnet.
Im Rahmen der Geschäftsordnungsdebatte wurde der
Antrag auf Erscheinen des Ministers gestellt. Da sich der
Minister jetzt im Saal befindet, gehe ich davon aus, dass
der Antrag in der Sache erledigt ist.
({0})
Dies ist auch die Meinung der Geschäftsführer.
Wir können also bei gut gefülltem Haus in der Debatte
fortfahren. Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete
Brigitte Lange.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der hessische Löwe hat gebrüllt
({0})
- warten Sie es ab! -; Sie sehen uns zutiefst erschreckt.
({1})
Ich kann nur sagen: Wegen dieser Rede hätte Walter
Riester nicht kommen müssen.
({2})
Ich kann verstehen, dass Sie bekümmert sind, dass der
Minister dem hessischen Ministerpräsidenten nicht sein
Ohr geliehen hat. Aber warum sollte er auch? Er hat doch
nichts Neues gesagt.
({3})
Der Atem, der ihm bei seiner Rede entwich, enthielt jede
Menge heiße Luft.
({4})
Er ist nach vorne gestürmt und hat hier weit geöffnete
Scheunentore eingerannt;
({5})
denn vieles von dem, was er aufgezählt hat, steht bereits
im Gesetz und wird auch praktiziert. Dies hätte er auch in
seinem Hessenland leicht erfahren können, wenn er nicht
Ministerpräsident Roland Koch
den Umweg über Wisconsin genommen hätte und dann
Wisconsin-geblendet hier hereingestürmt wäre.
({6})
Sehr verehrter Herr Koch, es macht sich nie gut, wenn
man die Sozial- und Arbeitsämter im eigenen Land - ich
komme aus Hessen und kenne mich ein bisschen aus - so
darstellt, als müsse der Ministerpräsident nach Berlin rasen, um eine Pressekonferenz zu geben und dort von Maßnahmen zu erzählen, die schon seit Jahren, schon vor seiner Regierungsübernahme und nachher auch trotz der
Regierungsübernahme durch ihn, durchgeführt werden.
({7})
Sie haben hier eine Menge Dinge angeführt, zum Beispiel, dass es nicht möglich sei, einen Hilfeplan zu erstellen. Wo leben Sie denn?
({8})
- Doch, hat er. Ich habe es mir notiert.
({9})
Die Erstellung eines Hilfeplans ist ebenso möglich
wie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Arbeitsamt
und Sozialamt, und zwar über die bestehenden Modelle
- Hessen hat übrigens auch drei Modelle - hinaus. Man
kann dies durchaus machen. Es läge auch in Ihrer Macht,
die entsprechende Unterstützung zu leisten,
({10})
damit auch die restlichen 10 Prozent der Arbeits- und Sozialämter in Ihrem Land - 90 Prozent machen es nämlich - in die Lage versetzt werden, die Hilfen gebündelt
anzubieten.
({11})
Herr Koch, Sie schlagen vor, einen individuellen
Hilfeplan zu erstellen. Sie sagen sogar, dass die Mehrheit
der Sozialhilfeempfänger ihre Situation überwinden und
arbeiten will. Wenn Sie schon einen individuellen Hilfeplan vorschlagen, müssten Sie auch begreifen, was Sie auf
der anderen Seite bei den Sanktionen verlangen.
({12})
Wenn man den Gedanken konsequent durchdringt, dass
man zusammen mit dem Hilfeempfänger einen Plan entwickelt und mit ihm zusammen diese Schritte von Anfang
an geht, stellt sich die Frage der Sanktionen völlig anders.
({13})
Sie haben angesprochen, dass die Sanktionen, also die
Kürzung von Leistungen - in einem ersten Schritt um
25 Prozent und dann möglicherweise um bis zu 100 Prozent - vor allem bei Alleinstehenden angewandt werde,
bei Familien jedoch wirkungslos sei. Das ist im Sinne des
Sozialhilfegesetzes. Sie werden nicht ernsthaft erwarten
können, dass ein Sachbearbeiter im Sozialamt einem Familienvater die Leistungen kürzt, wenn er ganz genau
weiß, dass er damit die Kinder trifft.
({14})
Der Vater, der sich weigert, Arbeit aufzunehmen, der viele
Probleme hat oder alkoholabhängig ist, wird zum Beispiel
seinen Alkoholkonsum nicht einschränken, damit seine
Kinder vernünftig leben können.
({15})
In solchen Fällen ist also eine individuelle Handhabung
der Sanktionsmechanismen durchaus gerechtfertigt.
Aber noch einmal: Wenn wir - wir haben es bereits in
unseren Gesetzen berücksichtigt - von Anfang an konsequent, erfolgsorientiert und mit den anderen zusammen
einen Hilfeplan erstellen, ist die Frage der Sanktionen
nicht mehr in der Weise wichtig, wie Sie es immer wieder
herausstellen.
({16})
Und ganz nebenbei: Sie sollten sich noch einmal von
einem Sozialamtsleiter die richtigen Zahlen zu den Leistungsempfängern vorlegen lassen
({17})
und Sie sollten sich noch einmal darüber informieren lassen, wie viele von den Sozialhilfeempfängern wirklich erwerbsfähig und arbeitslos sind.
({18})
Das sind nämlich wesentlich weniger als Sie angedeutet
haben. Von den geschätzten - es gibt bisher nur Schätzungen darüber - zwischen 600 000 und 800 000, die
wirklich erwerbsfähig arbeitslos sind und vermittelt werden müssen, befindet sich nach den Angaben des Deutschen Städtetages ein Teil bereits in Maßnahmen.
Wenn Sie tatsächlich meinen, von den 600 000 bis
800 000 wenigstens die Hälfte wieder in Arbeit bringen zu
können, kann ich das nicht als ein wahnsinnig ehrgeiziges
Ziel empfinden. Das ist wirklich herzlich wenig. Wir haben andere Vorstellungen.
({19})
- Ja, die braucht man auch. Hektik bewirkt überhaupt
nichts.
({20})
- Wir können ganz ruhig sein und Sie können jetzt auch
ganz ruhig zuhören.
Eine zweite Bemerkung: Sie haben gesagt, dass sehr
viele länger als fünf Jahre Sozialhilfe beziehen.
({21})
- Ja, der hat eine Tröstung nötig!
({22})
- Ich warte noch einen kleinen Moment.
Herr Koch, die durchschnittliche Verweildauer von
Leistungsempfängern in der Sozialhilfe liegt laut Bundesamt für Statistik bei zweieinhalb Jahren. Sie haben
gesagt, dass Sie die Langzeitarbeitslosigkeit in Hessen abbauen. Das tun wir bundesweit; Sie können es nachvollziehen.
({23})
Dass Sie für die Behinderten etwas tun, ist in Ordnung;
das wollten wir auch so.
({24})
Über diejenigen, die einen Lohn erhalten, der nur geringfügig höher als die Sozialhilfe ist, wird gesagt, dass
sie deswegen nicht wieder ins Erwerbsleben zurückkehren. Ich sage Ihnen aber: Genau das stimmt nicht; denn die
Familien, also bei der Gruppe, wo der Lohnabstand am
geringsten ist, beziehen in der Regel weniger als ein Jahr
- viele sogar nur ein halbes Jahr - Sozialhilfe. Das nur
einmal zu den Zahlen. Wie gesagt, es lohnt sich, diese anzuschauen.
Ich will jetzt auf das zu sprechen kommen, mit dem ich
im Plenum heute eigentlich anfangen wollte. Es war bisher aber nett.
({25})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Fördern und Fordern - Sozialhilfe modern gestalten“ - so haben wir unseren Antrag, den wir heute verabschieden wollen, überschrieben. Wir brauchen eine Reform unseres 40 Jahre
alten Sozialhilfegesetzes, das im Kern aktuell geblieben
ist und nach wie vor gewährleistet, dass niemand unter
dem menschenwürdig Lebensnotwendigen, dem soziokulturellen Existenzminimum, leben muss.
Unsere sechs Eckpunkte benennen Weichenstellungen
für eine umfassende Reform. Es geht also nicht um Puzzeleien an einzelnen Paragraphen, nicht um Reförmchen
und schon gleich gar nicht um „Verschlimmbesserungen“,
wie wir es aus der letzten Wahlperiode so gut kennen. Es
geht vielmehr darum, das Sozialhilfegesetz den veränderten Anforderungen anzupassen. Es gibt eine veränderte Empfänger- und Ursachenstruktur.
({26})
Das erfordert, dass wir das im Grundsatz fabelhafte
System auf seine problemgerechte Leistungsfähigkeit
überprüfen, Schnittstellen zu den anderen sozialen Sicherungssystemen abklopfen und es wieder so fit machen,
dass es seinem Auftrag gerecht werden kann,
({27})
nämlich Menschen aufzufangen und sie so schnell wie
möglich wieder aus diesem System heraus zu fördern. Darauf lege ich Wert.
An dieser Stelle sage ich auch: Geldleistungen allein
ersetzen keine Ursachenbewältigung. Nicht alle Ursachen
lassen sich durch Sozialhilfe lösen. Das alarmierende Problem von Kindern in der Sozialhilfe zum Beispiel muss
außerhalb der Sozialhilfe geregelt werden. Wir sind dabei,
Lösungen zu erarbeiten.
({28})
- Ihr Kandidat hat gesagt, dass das Geld, um das zu finanzieren, nicht vorhanden ist. An Ihrer Stelle wäre ich
ganz ruhig.
({29})
Frau Kollegin
Lange, ich muss Sie leider darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit vorbei ist.
({0})
Lassen Sie mich einen letzten
Satz sagen. Wir haben mit unseren vorgelegten sechs Eckpunkten die Weichen richtig gestellt.
({0})
Ihre Vorwürfe treffen uns nicht. Die Fachwelt hat unsere
Reformziele bestätigt. Sie ist bereit, uns auf diesem Reformprozess zu begleiten.
({1})
Wir werden diese Reform weiterhin in Ruhe vorbereiten
und sie in der nächsten Wahlperiode umsetzen.
Danke.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nun zur
ernsthaften Reformdebatte zurückkehren.
({0})
Die Fülle der Anträge, die heute für die Debatte zur Reform des einfachsten sozialen Netzes in Deutschland vorgelegt worden sind, zeigen, dass es in der Sozialhilfe und
in der Arbeitslosenhilfe in der Tat einen hohen Reformbedarf gibt. Der Thematik, dieses System für die Zukunft
zu reformieren, haben Sie sich jetzt durch den Jubel zu einer Rede, die sicherlich dem üblichen Niveau der Kollegin nicht angemessen ist, entzogen.
Was Sie uns heute hier vorlegen - ich meine den zweiten Punkt, nicht das OFFENSIV-Gesetz und die entsprechende Initiative des Landes Hessen; darauf komme ich
gleich -, ist ein Gesetzentwurf zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes. Das ist die Verlängerung der Verlängerung einer Übergangsregelung.
({1})
Die ganze Legislaturperiode haben Sie eine Sozialhilfereform angekündigt, die Sie nicht einmal in Ansätzen fertig gebracht haben. Der Antrag, den Sie heute vorlegen, ist
so vage, dass er weit hinter dem zurückliegt, was heute
schon vielerorts Praxis in den Sozialämtern und den Arbeitsämtern der Bundesrepublik Deutschland ist.
({2})
Das zeigt nicht nur die Dringlichkeit einer Reform. Es
zeigt auch, wie notwendig es ist, sich über die Prämissen
dieser Reform klar zu werden, und dass es Mut braucht,
diese Reform anzugehen.
Ich will ein paar der Prämissen darstellen. Wir alle wissen, dass es arbeitsfähige Hilfeempfänger gibt. Was wir
brauchen, ist eine Sozialpolitik, die diese Menschen wieder in die Lage versetzt, den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen.
({3})
Dazu ist unser gegenwärtiges Sozialhilferecht nicht wirklich geeignet. Durch die Tatsache, dass praktisch jeder
Hinzuverdienst auf die Sozialhilfe angerechnet wird, ist
kein wirklicher Ansatzpunkt vorhanden.
({4})
Das heißt, wenn man eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt schaffen will, muss man dafür sorgen, dass die Anrechnungsregelungen in der Sozialhilfe anders ausgestaltet werden. Nach unserem Vorschlag sollten 50 Prozent
zunächst in der Hand des Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen verbleiben. Diese Anrechnungssätze sollten dann
weiter hochgefahren werden. Nur so wird ein Sprungbrett
in den ersten Arbeitsmarkt geschaffen.
({5})
Zweiter Punkt: „Fördern und fordern“ nennen Sie es.
Aber Sie ziehen nicht die Konsequenzen daraus. Wir sagen: keine Leistung ohne die Bereitschaft zur Gegenleistung. Nur dann können wir in der Tat dafür sorgen, dass
diejenigen, die wirklich etwas leisten wollen, dazu kommen, während diejenigen, die auf unsere Unterstützung
angewiesen sind, diese auch bekommen. Das kann zum
Beispiel infolge von Kindererziehung der Fall sein. Wir
müssen aber auch durch eine andere Verwaltung, eine andere Organisation, direkte Ansprachemöglichkeiten für
die Hilfeempfänger schaffen, damit sie stärker gefördert
werden und zeigen können, was sie zeigen wollen.
({6})
Es muss dabei ein dritter Punkt sichergestellt sein - das
ist genau der Punkt, um den sich die Koalition herumdrückt: Es muss Möglichkeiten für Sanktionen geben.
({7})
- Sie sagen, die Sanktionen gebe es heute schon. Es gibt
die Möglichkeit einer teilweisen Kürzung,
({8})
die aber - das war die Erfahrung, die uns von den Sozialämtern mitgeteilt worden ist - nicht ausreicht, weil sie
aufgefangen werden kann und deshalb nicht wirklich einen Anreiz bietet.
An dieser Stelle, Herr Koch, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Das, was Sie in Ihrem OFFENSIV-Gesetz vorschlagen, ist bis auf einen Punkt heute schon möglich und
wird in vielen Bereichen auch bereits praktiziert - leider
nicht überall in Hessen. Es wird zum Teil in dem so genannten MoZArT-Modellversuch umgesetzt; ein sehr dekorativer Name für etwas sehr einfaches, nämlich die Zusammenarbeit von Sozialamt und Arbeitsamt. Aber längst
nicht alle Möglichkeiten, die diese Modellprojekte bieten,
werden ausgeschöpft. Umsetzbar ist das heute schon, und
zwar nicht nur in den Modellprojekten. Ich würde mir
wünschen, dass auch in Hessen sehr viel stärker davon
Gebrauch gemacht wird.
Es gibt nur einen Punkt, der nicht möglich ist, nämlich
schärfere Sanktionen gegenüber denjenigen, die wirklich
nicht den Willen haben mitzumachen. Wer nicht mitmachen kann, braucht unsere Hilfe und soll sie auch in Zukunft bekommen. Von dem, der nicht mitmachen will,
müssen wir die Bereitschaft zur Gegenleistung verlangen.
Wenn sie nicht vorhanden ist, muss es Sanktionsmöglichkeiten geben.
({9})
Letzter Punkt dazu: Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
müssen zusammengefasst werden. Das ist genau der
Punkt, vor dem Sie zurückschrecken.
({10})
Wir haben dafür einen eigenen Antrag vorgelegt. Es ist
die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass mehrere
Formulare ausgefüllt werden müssen. Auch nach Ihrem
Modell, Herr Koch, brauchen Sie noch zwei Formulare.
Nur wenn Sie es so machen, wie wir es vorgeschlagen haben, nämlich eine einheitliche, transparente Leistung aus
einer Hand verwirklichen, dann können Sie wirklich eine
Vereinfachung ohne Schnittstellen haben.
Eine solche Reform verdient den Namen Reform. Das,
was hier vorgelegt worden ist, ist viel Schaum. Lassen Sie
uns zur Ernsthaftigkeit zurückkehren; dann können wir
vielleicht noch etwas machen.
Danke.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren hier wirklich über einen ausgekochten Plan.
({0})
Ich denke, Sie hätten sich, bevor Sie das eingebracht
haben - gerade als Parteien mit dem C in Ihren Parteinamen -, an einen Ausspruch des ehemaligen Ruhrbischofs Hengsbach erinnern sollen. Er hat Folgendes gesagt:
Habe ich ohne wichtigen Grund durch eine Wortmeldung eine Sitzung verlängert und somit mich und
andere von der Familie fern gehalten, lieber Gott,
dann hilf mir, mein großes Maul zu halten, bis ich
weiß, worüber ich rede.
({1})
Meine Damen und Herren, ich meine, dass man wirklich hätte nachdenken sollen, bevor man etwas fordert,
was längst möglich ist. Herr Koch hat in seiner Rede vorhin selber deutlich gemacht, dass es - übrigens auch im
Land Hessen - möglich ist, Experimente oder eigene
Wege auf das gesamte Land auszuweiten. Sie haben das
zum Beispiel bei den Behinderten auch getan - das haben
Sie vorgetragen - und das ist auch gut so.
Aber Sie wollen sich mit Ihren Vorschlägen bzw. mit
dem so genannten OFFENSIV-Gesetz mit 30 Prozent der
Mittel aus den Versicherungsleistungen für Arbeitslose
für Job-Center in Hessen bedienen. Sie wollen 30 Prozent der Mittel von den Arbeitsämtern in die Job-Center
umschichten.
({2})
Das ist es doch, was Sie für Hessen durchsetzen wollen.
Ich kann Ihnen aber versichern, dass die Beschränkungen,
die es auf Bundesebene gibt, gut sind. Wir wollen nicht,
dass Sie in Hessen für sich allein entscheiden können, was
mit den Mitteln der Versicherten gemacht wird.
({3})
Des Weiteren schlagen Sie vor, dass der hessische bzw.
kochsche Weg einer Experimentierphase bis 2007 ausgedehnt werden soll. Wir haben vor - das ist Ihnen bekannt;
es ist auch in dem zweiten Gesetzentwurf, den wir heute
noch diskutieren werden, dargelegt -, in der nächsten Legislaturperiode, die im Herbst beginnt, vieles von dem,
was heute schon vorbereitet und möglich ist umzusetzen,
nämlich zum Beispiel die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in ein gemeinsames Angebot,
({4})
die Maßnahmen im Rahmen von MoZArT, was auch in
Hessen bereits gemacht wird. Dabei handelt es sich um
Maßnahmen, die bereits so weit fortgeschritten sind, dass
wir am Beispiel von Best Practice die besten Lösungen für
die gesamte Bundesrepublik Deutschland finden können.
Dazu müssen wir nicht abwarten, bis Hessen 2007 seine
Experimentierphase beendet hat.
({5})
Das OFFENSIV-Gesetz, das Sie einbringen, ist an einer Stelle offensiv. Es greift nämlich offensiv in die Debatte um Hängematten und Faulenzer ein. Das ist der Hintergrund.
({6})
Ich meine, dass wir die Diskussion so nicht mehr führen
dürfen. Herr Koch hat diese Begriffe hier nicht benutzt;
aber er hat sie zum Beispiel in seiner Pressemitteilung, in
der er das OFFENSIV-Gesetz in Hessen vorgestellt
hat,verwendet.
Reden wir doch einmal über die Sanktionen. Sie wollen sie ausweiten und verschärfen. Das haben Sie hier
wieder vorgetragen. Es gibt bereits Sanktionsmöglichkeiten. Man kann die Eckregelsätze bei den Sozialhilfeempfängern um 25 Prozent kürzen und bei mehrfachem Verstoß sogar die gesamte Sozialhilfe streichen.
Das reicht Ihnen als Sanktionsmöglichkeiten offenbar
nicht aus. Ich weiß nicht, wie weit Sie noch gehen wollen.
({7})
- Dass die FDP sagt, dass dies richtig ist, wundert uns
nicht. Denn Sie wollen - das zeigen Ihre Debattenbeiträge - verlässliche und vernünftige Sozialhilfe, um die
Leute in den Stand zu versetzen, sich flexibel auf den Arbeitsmärkten zu bewegen. Stattdessen wollen Sie bei den
bestehenden Sanktionen noch nachlegen - hinsichtlich
der Sozialhilfe habe ich das eben ausgeführt - und reden
die beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe
bestehenden Sanktionsmöglichkeiten einfach klein.
Dass die Arbeitslosen heutzutage so gut wie jeden Job
annehmen müssen, ist Ihnen bekannt. Was sie jedoch
brauchen, ist Hilfe, um in die Jobs hineinzukommen. Sie
müssen qualifiziert werden und brauchen Angebote aus
einer Hand. Dabei stehe ich ganz auf Ihrer Seite, Herr
Koch. Aber solche Angebote sollten wir nicht erst nach
2007, sondern schon in der nächsten Legislaturperiode
einführen.
({8})
Herr Koch, Sie haben von einem notwendigen Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik gesprochen.
Richtig! Wir haben diesen notwendigen Paradigmenwechsel mit dem Job-AQTIV-Gesetz eingeleitet. Nur, unser Paradigmenwechsel ist anders als der kochsche; denn
wir setzen auf die Integration in den ersten
Arbeitsmarkt, und zwar mit einem Set von Maßnahmen,
mit vernünftiger Beratung und mit Eingliederungsvereinbarungen. Die Integration muss im Vordergrund stehen.
Die Menschen dürfen nicht erst langzeitarbeitslos sein,
bevor ihnen geholfen wird. Es muss ihnen sofort geholfen
werden. Der Gedanke der Integration muss, wie gesagt,
im Vordergrund stehen.
Ihr Paradigmenwechsel zielt auf etwas ganz anderes
ab. In Ihrer damaligen Pressemitteilung - auch das haben
Sie heute hier nicht so deutlich gesagt - ist zu lesen, dass
jede Arbeit - ich betone: jede - würdiger sei als der Bezug von Transferleistungen. Herr Koch, das ist der Paradigmenwechsel, den Sie wollen.
({9})
- Frau Schwaetzer, ich glaube Ihnen, dass Sie das richtig
finden. - Wenn wir über diesen Paradigmenwechsel diskutieren, müssen wir auch über die Arbeitslosen in den
neuen Ländern reden - ich glaube, Herr Laumann von der
CDU/CSU-Fraktion wird mich sicherlich darin unterstützen -, zum Beispiel über einen älteren Ingenieur, der arbeitslos geworden ist, oder über eine junge Frau, die nach
der Erziehungsphase wieder in den Arbeitsmarkt hineinfinden muss. In diesen Fällen kann es doch nicht darum
gehen, dass jede Arbeit angenommen werden muss. Solchen Menschen muss vielmehr eine Arbeit angeboten
werden, die ihnen die Chance bietet, irgendwann auf dem
ersten Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Daran müssen
wir uns orientieren.
({10})
Was Sie in der jetzigen Debatte suggerieren - das ist
das Gefährliche -, ist, dass Faulheit und Hängemattenmentalität die Ursache seien, die wir bekämpfen müssten. Nein, das ist nicht das Problem.
({11})
Sicherlich gibt es schwarze Schafe unter den Arbeitslosen. Aber die gibt es auch in anderen Bevölkerungsgruppen. Das ist aber bestimmt nicht der Punkt, an dem
wir unsere Politikkonzepte ausrichten müssen. Das Problem sind vielmehr
({12})
der große Mangel an Arbeitsplätzen und das „Missmatch“, dass also die Qualifikationen der Bewerber und
das Anforderungsprofil der Stellen nicht zusammenpassen.
Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen den Menschen
mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen, gerade auch den jungen. Sie sind bereits sehr flexibel, und
zwar so flexibel, dass es schon wieder zu einem Problem
wird, wenn man sieht, wie viele junge Menschen aus den
neuen Ländern abwandern.
({13})
Wir müssen sie mithilfe einer stabilen und verlässlichen
Sozialpolitik in die Lage versetzen, die Anpassungsprozesse zu leisten, die der Arbeitsmarkt ihnen abverlangt.
Man darf ihnen aber nicht das Arbeitslosengeld oder sogar die Sozialhilfe vollständig streichen. Das ist nicht unsere Vorstellung von Fördern und Fordern.
({14})
Wir brauchen die Betreuung aus einer Hand. Das sehe
ich ganz genauso. Das ist richtig. Wir brauchen natürlich
auch ein vernünftiges Verhältnis zwischen Fördern und
Fordern. Die Eingliederungspläne, die wir auf den Weg
gebracht haben und mit deren Hilfe die Arbeitslosen viel
individueller beraten und vermittelt werden können, ermöglichen auch die Nutzung der vorhandenen Sanktionsmöglichkeiten. Sie werden heute häufig nicht angewandt.
Aber es gibt sie. Eine Verschärfung der Sanktionen ist daher nun wirklich nicht notwendig.
Frau Schwaetzer, Sie haben vorhin dazwischengerufen: Warum legen Sie nicht schon jetzt die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen?
({15})
Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahren etwas gemacht, was Sie nie geschafft haben: Wir haben das Projekt „MoZArT“ aufgelegt. Es gibt in vielen Städten in diesem Land genau das, was Sie immer fordern.
({16})
Bedenken Sie aber: Man kann eine solch grundsätzliche
Reform wie die jetzige, bei der es um viele Menschen und
um viel Geld geht, nicht übers Knie brechen. Wir wollen
keine Schnellschüsse; wir wollen tatsächlich helfen.
({17})
- Herr Niebel, das Nebelhorn ruft wieder.
({18})
Wir wollen eine Gemeindefinanzreform,
({19})
weil wir nicht, wie Herr Koch, wollen, dass sich die Kommunen aus der Arbeitslosenversicherung bedienen und
dass die geplanten Reformprojekte - Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe sowie die entsprechenden Betreuungsangebote aus einer Hand - die Kommunen zusätzlich
finanziell belasten. Deswegen brauchen wir die Einbettung in eine Gemeindefinanzreform
({20})
und das - das gebe ich gerne zu - schaffen wir in den
nächsten vier Monaten nicht mehr.
({21})
Wir werden das aber in der nächsten Legislaturperiode angehen.
({22})
- Doch, Herr Niebel, wir schon!
Sie haben gerade dargestellt, was Sie wollen. Sie wollen das Modell Wisconsin. Die eine Hälfte, die Hilfe und
bessere Betreuung betrifft, ist in Ordnung. Sie wollen aber
auch die andere Hälfte und die ist nicht in Ordnung, weil
sie nicht sozial verträglich ist, weil die Sozialhilfe für bestimmte Personengruppen irgendwann vollständig gestrichen wird. Das kann nicht sein.
Sie reden über etwa 800 000 Sozialhilfeempfänger, die
arbeitsfähig sind. Davon ist die Hälfte in Arbeit oder in
Projekten.
({23})
Es bleiben also etwa 400 000 Sozialhilfeempfänger. Sie
benutzen das - das werfe ich Ihnen vor -, um den Sozialabbau, den Abbau von Sozialhilfe und die gänzliche
Streichung von Sozialhilfe wieder in die Diskussion zu
bringen. Das ist eine vordergründige Debatte. Wir haben
mit dem Job-AQTIV-Gesetz und mit dem Antrag „Fördern und fordern - Sozialhilfe modern gestalten“, den wir
heute verabschieden werden,
({24})
den richtigen Weg eingeschlagen. Wir wollen das transparent machen. Wir wollen natürlich die Selbstverantwortung der Menschen, die ohne Arbeit sind, stärken. Wir
wollen die Best-Practice-Beispiele aus dem MoZArTProjekt umsetzen. Das ist unser Antrag; das ist unsere
Linie.
Sie - das sage ich Ihnen noch einmal - wollen eine
Faulenzerdebatte nach vorn bringen,
({25})
die Betroffenen nicht integrieren, sondern ihnen letztlich
selbst die Schuld für die Arbeitslosigkeit geben. Diese unsoziale Debatte machen wir nicht mit.
Danke schön.
({26})
Das Wort hat die
Abgeordnete Pia Maier.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Hessen hat das OFFENSIV-Gesetz in den
Bundesrat eingebracht und ist damit zum Glück gescheitert. Im Bundestag wird es als Unionsinitiative wohl ebenfalls scheitern. Ich hoffe nur, dass es nicht Gegenstand der
nächsten Unterschriftenkampagne in Hessen wird.
({0})
Würde dieses Gesetz verabschiedet, entstünde wirklich
ein skurriler Wettbewerb. Es gäbe einen Wettbewerb zwischen den Bundesländern darum, welches Land am
schnellsten die schlechtesten Regelungen für Sozial- und
Arbeitslosenhilfe erlassen kann, um die Arbeitslosen und
Sozialhilfeempfänger dann am effektivsten zu gängeln.
Nur gut, dass Sie damit im Bundesrat gescheitert sind!
Sie wollen für die Länder weit gehende Öffnungsklauseln für die Sozialleistungen einführen. Geöffnet wird
aber nur nach unten. Das kann doch wirklich kein Ziel von
Sozialpolitik sein.
({1})
Bisher sind die Regeln dafür, wann jemand Sozialleistungen erhält, in den wesentlichen Grundzügen im ganzen
Bundesgebiet gleich. Die Regelsätze der Sozialhilfe unterscheiden sich in den alten und neuen Bundesländern
kaum voneinander - mit Ausnahme der Mindestregelsätze in Bayern.
Ich möchte gern ein Beispiel dafür anführen, was die
von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen vermutlich bewirken würden: In Wiesbaden beträgt der volle Regelsatzbedarf für eine Familie mit zwei Kindern zurzeit
ungefähr 961 Euro - ohne Miete. Bei einer Leistungseinschränkung nach § 25 BSHG - das sind die Sanktionen,
die Sie ausbauen wollen - gilt bundesweit, dass für die
Verstöße des Vaters nicht die ganze Familie haften muss.
Deswegen wird bei Fehlverhalten des Vaters nur sein Teil
der Sozialhilfe gekürzt. Diese Sanktionen wollen Sie verschärfen. Es soll nicht mehr nur beim Bedarf des Vaters
gekürzt werden, sondern die ganze Familie soll den Gürtel enger schnallen.
Nehmen wir die Familie in Wiesbaden als Beispiel. Sie
erhält 961 Euro Sozialhilfe. Der Vater weigert sich, eine
Arbeit anzunehmen, die das Amt für zumutbar hält. In
Hessen würde, wenn ich die vorgeschlagenen Regelungen
richtig verstehe, die Sozialhilfe um wahrscheinlich bis zu
190 Euro gekürzt. Zöge diese Familie nur wenige Kilometer weiter nach Mainz, würden nur ungefähr 60 Euro
abgezogen. In Hessen bekäme die Familie also 130 Euro
weniger als in Rheinland-Pfalz. In der gleichen Situation
müsste die gleiche Familie aufgrund unterschiedlichen
Landesrechts mit deutlich unterschiedlichen Sozialleistungen auskommen, und das auf dem niedrigsten Lebensniveau. Dieses Beispiel steht für nur eine von mehreren
Sanktionen, die Sie verschärfen wollen.
Das OFFENSIV-Gesetz will gerade bei Familien, die
von Sozialhilfe leben, sparen, um den Lohnabstand zu erhöhen. Das ist hessische Sozialpolitik, die von der PDS
nicht mitgetragen wird.
({2})
Mit diesem Gesetz schüfen Sie deutlich unterschiedliche
Lebensbedingungen für Hilfeempfänger und -empfängerinnen. Das geht weit über das hinaus, was in Modellversuchen bislang zugelassen wurde. Der grundgesetzlichen
Pflicht zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen
widerspricht das wirklich massiv.
Außerdem würden Sie die angrenzenden Länder in
Zugzwang bringen. Die Länder müssten versuchen, vergleichbare Regelungen zu schaffen, weil sonst womöglich alle Sozialhilfeempfänger von Wiesbaden nach
Mainz - das würde Mainz wohl auch nicht wollen - zögen. Das darf kein Ziel einer ausgleichenden Politik sein.
Mit dem OFFENSIV-Gesetz will man Arbeitslose
schnell in Niedriglohnjobs bringen. Dafür breiten Sie
hier das ganze Instrumentarium aus, mit dem Arbeitslose
gegängelt werden können, damit sie Arbeit annehmen
müssen: egal wie sie bezahlt wird, egal was man vorher
gemacht hat oder welche Qualifikation man hat. Sie wollen auch, dass jemand, der 600 Euro Arbeitslosenhilfe
bekommt, eine Arbeit für 500 Euro annehmen muss.
Hauptsache, es wird gearbeitet, egal zu welchen Bedingungen!
Dieser Ansatz ist viel zu kurzsichtig, erstens für die
Niedriglöhner selbst. Wer für einen Hungerlohn - der
Lohn reicht gerade noch so zum Leben - dauerhaft arbeitet, hat nicht mehr genug in der Tasche, wenn er dann von
Krankengeld, Arbeitslosengeld oder Rente leben muss,
die auf der Grundlage dieses Lohns berechnet wird.
Zweitens. Gerade schlecht bezahlte Jobs werden als
erste abgebaut, wenn ein Betrieb Mitarbeiter entlässt. Die
Gefahr, gleich wieder arbeitslos zu sein, ist also enorm
hoch.
Drittens. Mit solchen Vorschlägen setzen Sie das gesamte Lohngefüge unter Druck. Wenn es immer mehr
Leute gibt, die schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen,
steigt der Druck auch auf diejenigen, die noch etwas mehr
bekommen, auf Lohn zu verzichten. Die Lohndumpingspirale nach unten bekäme neuen Schwung. So haben Arbeitnehmer immer weniger Geld in der Tasche, das sie
ausgeben können und mit dem die Nachfrage angeregt
werden könnte. Das ist keine Politik mit Weitsicht für
mehr Beschäftigung.
({3})
Auf die eigentlich spannenden Fragen geben Sie gar
keine Antwort: Wo sollen die Leute denn eigentlich alle
arbeiten? Wo sind denn die Stellen, die von den Arbeitslosen - mit entsprechendem Druck - angetreten werden
könnten? In Hessen kommen auf derzeit 267 000 Arbeitsuchende ganze 37 000 gemeldete offene Stellen. Das
Missverhältnis von sieben Bewerbern pro offener Stelle
müssen Sie doch erst einmal umkehren, bevor Sie mit solchen Vorschlägen kommen.
({4})
Aber: So was kommt eben von so was. Die Hessische
Landesregierung hat ihre Ideen in Wisconsin geklaut.
({5})
Dort herrscht nahezu Vollbeschäftigung. Programme die in
Wisconsin bei Vollbeschäftigung funktionieren, lösen ganz
andere Probleme als die, die wir hierzulande haben. Hier
sind zu wenig Arbeitsplätze das Problem und nicht zu wenig Arbeitskräfte wie in Wisconsin. Die Orientierung auf
Billigjobs schafft neue Probleme, die wir noch gar nicht in
dem Ausmaß haben, wie sie in den USA schon bestehen:
Die Zahl der Working Poor, also derer, die um leben zu können, mehrere Jobs brauchen, ist in den USA deutlich höher.
Zum Glück haben wir solche Zustände noch nicht.
({6})
Wir haben ein höheres Maß an sozialer Sicherheit und
ausgleichender Gerechtigkeit als die Vereinigten Staaten.
So soll es auch bleiben.
Wenn Sie die Arbeitslosigkeit wirklich abbauen wollen, dann müssen Sie Arbeitsplätze schaffen. Geben Sie
den Kommunen zum Beispiel Geld für Investitionen! Offenbach hat schon lange kein Geld mehr im Stadtsäckel.
Schaffen Sie doch eine Pauschale ohne Kofinanzierung,
die die Stadt ausgeben kann! Einziges Kriterium: Auftragsvergabe an Betriebe, die Arbeitslose einstellen. Damit könnten Sie die Arbeitslosigkeit abbauen.
({7})
Wenn Sie die Arbeitslosigkeit dauerhaft abbauen wollen, dann sollten Sie besser die Nachfrage ankurbeln. Die
Arbeitslosenhilfe abzuschaffen, den Ärmeren noch weniger zu geben, hilft der Nachfrage nicht. Stattdessen sollte
Tariftreue mit öffentlichen Aufträgen belohnt werden.
Sie sollten die vorhandene Arbeit besser verteilen, statt
Überstunden zu dulden und öffentliche Arbeitsplätze in
den Bereichen einzurichten, die sich ohnehin für kein Unternehmen betriebswirtschaftlich rechnen.
({8})
Sie sollten die soziale Sicherheit stärken, statt sie weiterhin aufzulösen.
Hier stehen sich wirklich zwei Prinzipien gegenüber:
Soziale Unsicherheit oder soziale Sicherheit schaffen?
Die Union und Ministerpräsident Koch wollen Unsicherheit und weniger soziale Leistungen. Sie wollen mehr
Druck, damit schlechtere Arbeit angenommen wird, damit die Löhne sinken und die, die Arbeit zu vergeben haben, noch reicher werden.
Die PDS stellt diesem Sozialabbau ein Konzept sozialer Sicherheit entgegen, verteidigt klare Ansprüche auf
Sozialleistungen und das Recht auf ordentlich bezahlte
Arbeit. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn, der
untere Standards sichert, und ein Vergabegesetz gegen
Billiganbieter.
({9})
Statt Abschaffung der Arbeitslosenhilfe schlagen wir die
Einführung einer Grundsicherung vor.
({10})
Außerdem sollen die Kommunen besser von den Kosten
der Arbeitslosigkeit entlastet und alle Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger in die Arbeitslosenversicherung
geholt werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Sätze zur
Sozialhilfereform der Bundesregierung sagen, die wir
heute auch mit verabschieden. Sie verlängern mit dieser
Sozialhilfereform die Regelung, dass die Regelsätze analog
zur Rente angepasst werden. Die Regelsätze sind mangels
Steigerung in den letzten Jahren ohnehin schon zu niedrig.
Nach der Rentenreform steigen jetzt die Renten noch geringer. Die BfA veröffentlichte gerade, dass die Renten in diesem Jahr mit der alten Regelung - vor der Riester-Reform um einen Prozentpunkt mehr gestiegen wären. Es wird Sie
nicht wundern, dass die PDS dem nicht zustimmt, sondern
eine Anpassung der Regelsätze nach Lebenshaltungskosten
fordert, um eine schleichende Armut zu vermeiden.
Herr Koch, Sie können sich sicher sein: Gegen das
OFFENSIV-Gesetz werden wir offensiv vorgehen.
Danke.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike
Mascher.
({0})
Frau Präsidentin!
Sehr verehrte Damen und Herren! In Deutschland gibt es
schon seit längerem, nicht erst seitdem der Ministerpräsident aus Hessen sich in die Diskussion eingeschaltet hat,
eine Diskussion darüber, wie der Grundsatz „Fördern und
Fordern“ in den großen sozialen Sicherungssystemen umgesetzt werden soll. Diese Diskussion mit Vorschlägen
von sehr unterschiedlicher Qualität spiegelt sich auch in
den Anträgen wider, die wir heute beraten.
Die Regierungskoalition legt konkrete Regelungen
vor, die für die laufende Arbeit der Sozialämter wichtig
sind, und einen Antrag, der zeigt, wie wir das große Projekt für die nächste Legislaturperiode angehen wollen, die
Reform der Sozialhilfe und die Kodifizierung im Rahmen des Sozialgesetzbuches als XIII. Buch.
({0})
Diese Reform muss auch eine Neujustierung der Hilfe zur
Arbeit im Rahmen der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe im System der Arbeitslosenversicherung bringen.
Der Umfang allein dieses Projektes wird deutlich, wenn
wir uns die finanziellen Größenordnungen vor Augen
führen, Frau Dr. Schwaetzer. Daraus ersieht man auch,
warum man das nicht hoppla hopp machen kann.
({1})
Die Arbeitslosenhilfe hatte 2000 ein Volumen von
12,78 Milliarden Euro, davon allein 3,84 Milliarden Euro
für Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, finanziert
aus den Steuermitteln des Bundes. 4,9 Milliarden Euro
Hilfe zum Lebensunterhalt für erwerbsfähige Sozialhilfebezieher und ihre angehörigen Bedarfsgemeinschaften
wurden von Ländern und Kommunen finanziert und
1,1 Milliarden Euro haben die Kommunen für Hilfe
zur Arbeit ausgegeben. Diese Leistungen gehen an
1 460 000 Arbeitslosenhilfebezieher und circa 950 000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger und ihre Familien. Insgesamt brauchen rund 2,7 Millionen Menschen in unserem Land Sozialhilfe.
Der Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung im vergangenen Jahr erstmals vorgelegt hat, sagt
uns, wie es um die Lebenslage dieser Menschen bestellt ist.
({2})
Er zeigt, wie Menschen ökonomisch absteigen. Er beschreibt, welche sozialen Gruppen besonderem Risiko
ausgesetzt sind. Es sind vor allen Dingen Frauen, Alleinerziehende, Familien mit mehreren Kindern und Zuwandererfamilien, die so in Not geraten, dass sie Hilfe zum
Lebensunterhalt brauchen. Allein bei den Kindern unter
18 Jahren gibt es rund 1 Million Sozialhilfeempfänger. Ich
glaube, wir sind uns alle darüber im Klaren, dass ein reiches Land wie die Bundesrepublik sich diesen Skandal
nicht länger leisten kann.
({3})
Fehlende Arbeitsplätze, schlechte Qualifikation, geringes
Erwerbseinkommen, Überschuldung, fehlende Kinderbetreuungsplätze - Herr Singhammer, vor allen Dingen in
Bayern - gehören zu den wichtigsten Ursachen von Bedürftigkeit, hier speziell von Alleinerziehenden.
({4})
({5})
Die Zahl der Menschen, die Hilfe zum Lebensunterhalt
außerhalb von Einrichtungen bekommen, hat sich allein
während der Regierungszeit von Helmut Kohl mehr als
verdoppelt. Hinter dieser Zahl stehen nicht nur schwere
menschliche Schicksale, sondern auch große finanzielle
Belastungen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hat im Jahr
2000 insgesamt rund 9,5 Milliarden Euro gekostet. Die Erfahrungen der Praxis und die Analyse der Anforderungen,
die an ein zukunftsfähiges System der Sozialhilfe gestellt
werden, zeigen, dass wir eine grundlegende Reform brauchen. Die Bundesregierung, die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen, aber auch die Kommunen und einige Länder haben hier schon erste Schritte unternommen.
Wir haben in den drei Jahren, die wir jetzt an der Regierung sind, ein ganzes Bündel von Gesetzen auf den
Weg gebracht, die wesentlich dazu beitragen, dass Menschen erst gar nicht sozialhilfebedürftig werden.
({6})
Ich nenne beispielsweise die steuerliche Entlastung von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Entlastung
von Familien, die Verbesserung des Familienlastenausgleichs,
({7})
die Wohngeldreform, die Sie seit 1990 haben schleifen
lassen,
({8})
die soziale Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter
Erwerbsminderung aus medizinischen Gründen, die Arbeitsmarktpolitik, das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Es zeigt sich auch ein Erfolg dieser
Politik: Die Zahl der Sozialhilfebedürftigen ist seit 1998
um insgesamt 7 Prozent zurückgegangen.
Die Sozialhilfe ist und bleibt für uns eine unverzichtbare Säule des Sozialstaates. Wir müssen sie stärken und
auf neue Anforderungen ausrichten.
({9})
Unser Ziel ist es, den Menschen die Führung eines Lebens
zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht,
wenn eigene Mittel, familiäre Unterstützung und vorrangige Sozialleistungen immer noch nicht ausreichen und
der Hilfesuchende sich aus eigener Kraft nicht helfen
kann. Die Sozialhilfe soll auch in Zukunft nicht nur die
materielle Existenz sichern, sondern auch die Teilhabe am
sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermöglichen. Wir wollen das zum Beispiel durch die nationalen
Aktionspläne gegen Armut und soziale Ausgrenzung erreichen, die wir gemäß Beschluss der EU in Lissabon im
Jahr 2000 im Zweijahresturnus vorlegen werden.
({10})
Frau Kollegin Mascher, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Ja.
Bitte
schön, Herr Meckelburg.
Ich bitte um
Verzeihung, Frau Mascher, dass meine Frage ein bisschen
Abstand zu dem hat, was Sie gerade gesagt haben. Es war
etwas schwierig, Kontakt zum Präsidium zu bekommen.
Eben haben Sie aufgelistet, was Sie in der Sozialpolitik alles gemacht haben und was nach Ihrer Aussage dazu
geführt hat, dass es allen besser geht. Würden Sie mir für
Ihr Haus und damit diese Bundesregierung bestätigen,
dass in den Jahren 2000 und 2001, wo die Rentenanpassungen niedriger als die Inflationsrate lagen und die Sozialhilfesätze an diese gekoppelt waren, die Sozialhilfeempfänger immer weniger in den Taschen hatten, da die
Inflation stärker als die Sozialhilfesätze gestiegen ist?
({0})
Können Sie mir das bestätigen?
Nein, das kann ich
Ihnen nicht bestätigen.
({0})
Wir verstehen die Sozialhilfe als Hilfe zur Selbsthilfe
mit dem Ziel, Menschen wieder zu befähigen, unabhängig von der Sozialhilfe zu leben. Das heißt vor allem,
Menschen wieder ins Erwerbsleben zu integrieren. Wir
stehen hier vor einer sehr komplexen Herausforderung
und vor einer Aufgabe, die Sachkompetenz und sorgfältige Abstimmungen voraussetzt, aber auch soziales Gespür und soziale Intelligenz verlangt. Aus gegebenem Anlass appelliere ich nicht nur an die Kollegen der
Opposition, sondern an uns alle, verantwortungsvoll mit
dem Thema Sozialhilfe umzugehen und keine Illusionen
zu nähren, dass man hopplahopp Armut beseitigen und Sozialhilfebezug verringern kann, aber auch keine Vorurteile
zulasten der Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu befördern und das soziale Klima in unserem Land
zu verschlechtern. Das haben insbesondere die Kinder
von Sozialhilfeempfängern nicht verdient.
({1})
Ich finde es problematisch, wenn Herr Stoiber vorrechnet, wie viele neue Stellen sich bei Umsetzung seiner
Vorschläge schaffen ließen, oder wenn Herr Koch Sündenböcke schafft, indem er suggeriert, dass sich das Problem der Sozialhilfe von allein löse, wenn man - erlauben
Sie mir das Bild - die Daumenschrauben nur ein wenig
anziehe.
({2})
Meine Damen und Herren, wir sprechen von Problemen, die mehrere Millionen Menschen betreffen, Menschen, die oft ganz unverschuldet in eine schwierige Lebenslage geraten sind.
({3})
Ich denke, wir alle sind uns einig, dass diese Menschen
Respekt und gezielte Hilfe verdienen. Das ist jedenfalls
der Anspruch, mit dem die Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen an die Reform der Sozialhilfe herangehen.
Wir haben das in dem Antrag „Fördern und Fordern Sozialhilfe modern gestalten“ im Einzelnen dargelegt.
({4})
- Frau Dr. Schwaetzer, ich vertraue auf Ihre Lesefähigkeit. - Wichtige Aspekte sind dabei:
Erstens. Die eigentliche Notlage: Der Hilfebedürftige
muss stärker in den Vordergrund gestellt werden. Vorrangiges Ziel der Leistung ist die Überwindung der Hilfebedürftigkeit bei Arbeitslosigkeit, Überschuldung und
Wohnungslosigkeit. Die Bearbeitung von Familienproblemen und die Auflösung von Betreuungsdefiziten gelingen nur dann, wenn sich der Hilfesuchende aktiv beteiligt. Wir wollen die Hilfebedürftigen stärker in den
Hilfeprozess einbeziehen. Sie sollen als Partner ernst genommen werden. Denn wir sind sicher, dass das ein erster wichtiger Schritt ist, um eine Notlage zu überwinden.
Anreize und Sanktionen können den Prozess unterstützen,
sind aber kein Selbstzweck.
Zweitens. Geldleistungen der Sozialhilfe, also der Regelsatz, Unterkunftskosten und einmalige Leistungen,
müssen nach wie vor als soziale Leitplanken zur Überwindung einer Notlage gesehen werden. Das bedeutet, sie
müssen so ausgestaltet sein, dass keine soziale Ausgrenzung erfolgt, aber auch so, dass sie nicht dazu verleiten,
sich darin einzurichten. Die Geldleistungen müssen, insbesondere im Bereich der einmaligen Leistungen, vereinfacht werden. Der Betroffene muss wissen, womit er wirtschaften kann, und soll nicht ständig als Bittsteller mit
ungewissem Ausgang antreten müssen. Die Verwaltung
muss von den komplizierten Einzelfallregelungen entlastet werden.
Drittens. Diese tiefgreifende Umgestaltung der Sozialhilfe kann man nicht einfach von oben verordnen. Wir
wollen deswegen all die Erfahrungen, die wir mit der Experimentierklausel, der Pauschalierung von Sozialhilfeleistungen und den verschiedenen Projekten im Bereich
der Hilfe zur Arbeit gemacht haben, auswerten. Dabei
wollen wir nicht bis zum Jahr 2007 warten. Dieses Datum
wird ja in dem Gesetzentwurf, der in Hessen ausgebrütet
worden ist, nahe gelegt.
({5})
Wir wollen den Grundsatz des Förderns und Forderns,
den wir schon im Job-AQTIV-Gesetz umgesetzt haben,
auch im Bereich der Sozialhilfe zur Geltung bringen. Aber
man muss ganz klar sagen: Wir wollen keine Sanktionen,
die zum Beispiel so weit gehen, dass Kinder vom Fehlverhalten ihrer Eltern betroffen werden. Das kann nicht
unsere Politik sein.
({6})
Eines lässt die CDU/CSU in ihrem Antrag ganz locker
beiseite, nämlich die Schlüsselfrage: Wie wird das alles finanziert? Was bedeutet das für die Finanzverfassung?
Sich einfach an der Arbeitslosenversicherung anzudocken
und sie zur Finanzierung anzuzapfen, das halte ich für
kein seriöses Konzept.
({7})
Das Ziel der Bundesregierung ist eine umfassende Sozialhilfereform. Wir befinden uns auf gutem Kurs. Wir
brauchen keine neuen Experimentierklauseln bis 2007.
Wir brauchen auch keine Schnellschüsse. Die Vorarbeiten
für die Reform werden vorangetrieben.
Die von Peter Hartz geleitete Kommission wird zu
organisatorischen Fragen sowie zu den Schnittstellen
zwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Vorschläge
erarbeiten. Die Kommission zur Gemeindefinanzreform
wird die Fragen der Finanzverantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden klären. Wir
werden die Erfahrungen mit den Experimentierklauseln und den MoZArT-Projekten sowie die Ergebnisse
der Arbeit zum Beispiel der Bertelsmann Stiftung auswerten.
({8})
Wir werden sehr genau sehen, was in den Familien- sowie
Kinder- und Jugendberichten zur Situation von Frauen
und Alleinerziehenden steht. Wir werden eine Sozialhilfereform durchführen, die abgestimmt ist und die zwar
keine Patentrezepte enthält, aber eine wirklich grundlegende Neuordnung dieses wichtigen Bereiches mit sich
bringt.
({9})
Wir versprechen hier nicht, den Königsweg erfunden zu
haben. Wir behaupten auch nicht wie Herr Koch oder Herr
Stoiber, wir hätten den Stein der Weisen in der Tasche,
({10})
ohne ein Finanzierungskonzept zu haben. Wir wollen
nicht fünf Jahre warten,
({11})
bis wir bundesweit das Ziel einer besseren Integration
durch Erwerbsarbeit erreichen.
Vielen Dank.
({12})
Als
nächster Redner hat der Kollege Peter Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir heute im Deutschen Bundestag erleben, ist schon sehr bezeichnend.
Trotz des Höchststands der Arbeitslosenzahlen von
4,3 Millionen und trotz der Tatsache, dass wir heute das
zentrale Thema der Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe diskutieren, glänzte der Bundesminister
für Arbeit zunächst einmal durch Abwesenheit
({0})
und musste erst durch eine Initiative der Opposition dazu
bewegt werden, sich gnädig dazu herabzulassen, endlich
in diesem Hohen Hause zu erscheinen.
Das passt zusammen: erst 1,2 Millionen Arbeitslose
aus der Statistik herauswerfen und dann, wenn im Bundestag darüber debattiert wird, nicht da sein.
({1})
Stärker kann man seine Verachtung und Nichtachtung der
Arbeitslosen in Deutschland nicht ausdrücken, als es
Walter Riester hier tut.
({2})
Nachdem Sie nun endlich da sind, Herr Minister, wollen Sie nachher auch noch das Wort ergreifen.
({3})
Nach den vielen Absichtserklärungen, die wir nun gehört
haben, erwarte ich von Ihnen, dass Sie hier klipp und klar
sagen, wie Sie Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen wollen und das Hilfeinstrumentarium für
Langzeitarbeitslose einheitlich so ausgestalten wollen,
dass es tatsächlich Wirkung hat.
Denn es ist doch merkwürdig: Bei der CDU/CSU, bei
der FDP,
({4})
bei den Koalitionsfraktionen wird erklärt, sie wollten Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen. Aber es
geschieht nichts. Auch heute geschieht nichts. Das ist das
Faktum.
({5})
Es geschieht nur eines: Auf Antrag der Bundesregierung
werden heute mehrere Übergangsfristen im Bundessozialhilfegesetz noch einmal bis zum Jahr 2004 verlängert, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, nichts zu tun.
Das ist das, was heute beschlossen wird: ein Gesetz zum
Nichtstun!
({6})
Sie haben angekündigt, eine Sozialhilfereform durchzuführen; daran darf ich Sie erinnern. Sie haben derzeit
noch die Mehrheit im Deutschen Bundestag. Sie stellen
derzeit die Bundesregierung. Sie könnten handeln!
({7})
Stattdessen legen Sie dem Deutschen Bundestag einen
weiteren Antrag vor, in dem Sie erklären, was Sie alles
gerne machen würden, wenn Sie auch in der nächsten
Legislaturperiode wieder an die Regierung kommen
könnten.
Ich will Ihnen eines sagen:
({8})
Ihre Methode des Vertröstens, die Sie heute anwenden,
und Ihre Ankündigungen sind deswegen Schall und
Rauch, weil Sie, wenn Sie so weitermachen, nach dem
22. September gar keine Gelegenheit mehr haben werden,
das, was Sie jetzt erzählen, in die Tat umzusetzen.
({9})
Mit dem Entwurf des OFFENSIV-Gesetzes liegt jetzt
wenigstens ein konkreter Vorschlag vor, den Sie beschließen könnten,
({10})
um einen ersten Schritt zu unternehmen - ich betone:
nicht, um alle Probleme zu beseitigen -, um Arbeitslosenund Sozialhilfe wirklich zusammenzuführen:
({11})
gemeinsame Job-Center und die gleichen Beratungs- und
Hilfemöglichkeiten für alle Hilfebezieher, gleiche Zumutbarkeitsschranken für alle Langzeitarbeitslosen, gleiche Förderinstrumentarien, gleiche Möglichkeiten, bei
Arbeitsaufnahme etwas hinzuzuverdienen und damit einen besseren Arbeitsanreiz zu haben als bisher, gleiche
Möglichkeiten der Qualifizierung, gleiche Sanktionsmöglichkeiten, wenn Hilfe und Arbeitsgelegenheit trotz
Angebot abgelehnt werden.
Sie wissen ganz genau, dass in all Ihren schönen
Modellversuchen, die Sie so sehr loben, eines bleibt:
Die unterschiedlichen rechtlichen Regelungen des
Sozialhilfegesetzes und des SGB III stehen nebeneinander.
Wir machen ein Angebot zu einem ersten Schritt, beides wirklich zusammenzuführen. Dabei könnten Sie mitmachen. Aber Sie sagen: Nein, das vertagen wir.
({12})
Sie haben große Schreckensszenarien entworfen, die
aber alle daneben liegen. Uns geht es um das Prinzip, dass
der Arbeitslose einen Betreuer bekommt und dass er nur
aus einem Geldtopf Förderung erhält.
({13})
Wir bieten den arbeitslosen Menschen, die eine Arbeit suchen, eine Eingliederungsvereinbarung an.
({14})
In diesem verbindlichen Vertrag zwischen Hilfebezieher
und dem Amt sollen Rechte und der Anspruch auf Leistungen, aber auch entsprechende Gegenleistungen festgeschrieben werden.
({15})
- Ich muss so laut sprechen, weil ihr die Wahrheit nicht
vertragen könnt und deshalb dazwischenruft. Das ist der
Punkt.
({16})
Anstatt den richtigen Schritt zu gehen - dass man ihn
gehen kann, beweist das OFFENSIV-Gesetz -, zählen Sie
Ihre Bedenken auf, die schon seit Jahrzehnten vorgetragen werden. Der neue Chef der Bundesanstalt für Arbeit, der von Ihnen ins Amt gesetzte Florian Gerster,
({17})
hat in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ festgestellt:
Deutschland ist zu langsam, zu bedenklich, zu
schwerfällig, was die Flexibilisierung vonArbeitsverhältnissen in der ergänzenden Beschäftigung angeht.
Wir ziehen mit unserem Gesetzentwurf daraus die Konsequenz. Aber Rot-Grün blockiert.
({18})
Sie von Rot-Grün haben zum Thema Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe einen Antrag der Belanglosigkeiten vorgelegt. In dem Titel Ihres Antrages sprechen Sie so schön
von „Fördern und Fordern“. Sie haben sich in der Überschrift leider etwas geirrt. Der Titel müsste heißen: Vertagen und Vertrösten.
({19})
Das ist Ihre Antwort an die Menschen, die in Deutschland
Arbeit suchen und die in Deutschland auch Arbeit finden
könnten. Es ist nämlich offenkundig, dass in einem breiten Beschäftigungssegment gerade für diejenigen, die als
Langzeitarbeitslose heute auf Arbeitslosen- und Sozialhilfe angewiesen sind, Beschäftigung aktiviert werden
könnte, wenn man nur wollte.
Aber derzeit gibt es diese Beschäftigung leider nicht in
Form legaler, sondern vorwiegend in Form illegaler Arbeit. Ein Spitzenergebnis rot-grüner Politik ist: Deutschland ist Spitze bei der Schwarzarbeit. Die Schwarzarbeit
in Deutschland hat mittlerweile einen Anteil von 16,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
({20})
Damit liegt Deutschland im Vergleich der Industriestaaten
auf Platz drei hinter Italien und Spanien. Die legale Wirtschaftstätigkeit in Deutschland schrumpft dank Ihrer Politik; die illegale Beschäftigung nimmt zu.
Unser Angebot, den Niedriglohnsektor zu aktivieren,
Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfebeziehern zu helfen, in
Beschäftigung zu kommen und dafür eine zusätzliche
staatliche Förderung zu erhalten, schafft die Voraussetzung, damit aus illegaler Arbeit legale Arbeit werden
kann. Das ist übrigens nicht nur die Position der
CDU/CSU, sondern auch die Position des von Ihnen ins
Amt gehievten Herrn Gerster. Er erklärt in einem Interview mit dem „Spiegel“:
Ich bin überzeugt, dass wir nach diesem Prinzip eine
Vielzahl neuer Stellen etwa im Handel, in der
Landwirtschaft oder der Gastronomie schaffen können - Jobs, die heute allenfalls schwarz gemacht
werden. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, um mit
gezielten staatlichen Zuschüssen das riesige Beschäftigungsfeld gering qualifizierter Tätigkeiten
etwa in Privathaushalten zu erschließen.
({21})
Was Gerster kapiert hat, das fordern wir schon lange. Aber
es wird von Rot-Grün bis zum heutigen Tag blockiert.
({22})
Zu Beginn dieser Legislaturperiode vor bald vier Jahren ist diese rot-grüne Regierung mit dem Motto angetreten, sie müsse einen angeblichen Reformstau auflösen.
({23})
Heute, vier Jahre später, müssen wir angesichts der dramatischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt feststellen,
dass der Reformstau in Deutschland einen Namen hat.
Der Name lautet Rot-Grün.
({24})
Peter Weiß ({25})
Deutschland ist mittlerweile, was Wirtschaft und Arbeitsmarkt anbelangt, in Europa auf einem Abstiegsplatz.
Die Regierungsmannschaft ist konzeptionslos und bei
Debatten gar nicht mehr anwesend, der Trainer am Ende
seiner Ideen. Wir wollen, dass Deutschland im Interesse
seiner Bürgerinnen und Bürger wieder um die Meisterschaft spielt. Dazu brauchen wir eine neue Mannschaft
und einen neuen Trainer. Vertragsabschluss für die Neuen
ist am 22. September.
Vielen Dank.
({26})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Niebel von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die SPD wegen der
Rede von Ministerpräsident Koch eine Sondersitzung ihrer Fraktion beantragt hatte, hatten Kollege Riesenhuber
und ich gehofft, dass sie darüber nachdenkt, was sie in
den letzten dreieinhalb Jahren aus ihrem Versprechen,
eine Sozialhilfereform umzusetzen, gemacht hat, und anschließend hier im Plenum des Deutschen Bundestages
feststellt, nur eine Verlängerung einer Verlängerung einer
Übergangsregelung komme dem versprochenen Anspruch
nicht wirklich nahe.
({0})
Leider haben wir uns geirrt. Das ist schade. Aber Sie haben noch 219 Tage lang Zeit, Ihr Versprechen zu erfüllen
und die steuerfinanzierten Hilfesysteme so umzubauen,
dass sie den betroffenen Menschen Zukunftschancen eröffnen.
({1})
Das von der Union vorgelegte OFFENSIV-Gesetz geht
in die richtige Richtung, verfolgt aber in erster Linie nur
das Ziel, noch einmal deutlich darauf hinzuweisen, dass
Sie mit Ihrer totenstarren „ruhigen Hand“ dreieinhalb
Jahre lang nichts getan haben. Es reicht nicht aus, sich damit herauszureden, dass andere vor Ihnen regiert hätten.
Sie trugen dreieinhalb Jahre lang die Verantwortung und
haben in dieser Zeit Ihre Versprechen nicht erfüllt. Dafür
werden Ihnen die Wählerinnen und Wähler am 22. September die Quittung geben.
({2})
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es zwei steuerfinanzierte Transferleistungssysteme, die für ein und
denselben Lebenssachverhalt, nämlich die Unterstützung
derer, die sich ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene
Erwerbstätigkeit finanzieren können, gedacht sind und
deren Verwaltung 3,5 Milliarden Euro kostet. Die für
diese Doppelverwaltung benötigten Steuergelder sollten
sinnvollerweise für die Unterstützung derjenigen Menschen ausgegeben werden, die in diesem Land Hilfe brauchen, weil sie nicht alleine für sich sorgen können.
Allein der Umstand, dass sich das Drittel der Arbeitslosenhilfeempfänger, das ergänzende Leistungen zum
Lebensunterhalt bezieht, in ihren wesentlichen wirtschaftlichen Verhältnissen vor zwei wildfremden Beamten quasi entkleiden muss - dies hat etwas mit der Würde
der Menschen zu tun, die nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können -, lässt es als sinnvoll erscheinen,
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzufassen.
({3})
Natürlich ist es sinnvoll, dass man versucht, all diejenigen, die aus der Versicherungsleistung herausgefallen und bei der steuerfinanzierten Bedürftigkeitsleistung
- wie auch immer sie dann heißt - angekommen sind, einheitlich und umfassend zu betreuen. Selbstverständlich
brauchen wir mittelfristig Job-Center, in denen staatliche
und private Vermittler gemeinsam und in Konkurrenz zueinander Bildungsträger, Therapieangebote und im Zweifelsfall auch gemeinnützige Tätigkeiten anbieten. Diesen
Weg verbauen Sie in dieser Legislaturperiode, statt die
letzten 219 Tage Ihrer Regierungszeit zu nutzen, auf diesem Weg den ersten Schritt zu gehen.
({4})
Ein Fallmanager, der die Lebensumstände der Einzelnen
genau kennt, der den zu betreuenden Personen Hilfestellungen geben kann, ist genau der Richtige, damit sie wieder in den Arbeitsprozess hineinkommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu der Faulenzerdebatte, die Sie uns hier unterstellen wollen, hat Ihr
Bundeskanzler angestiftet. Das muss man ihm auch immer wieder sagen. Natürlich gibt es keine Leistung ohne
die grundsätzliche Bereitschaft zur Gegenleistung. Wer
aber nicht in der Lage ist, etwas leisten zu können, braucht
unsere Hilfe. Dafür brauchen wir angesichts der heute
knappen Haushaltsmittel jeden verfügbaren Euro. Damit
diejenigen, die nichts leisten können, unsere Hilfe bekommen, müssen wir also all diejenigen sanktionieren,
die nichts leisten wollen.
({5})
Wir müssen die Schwachen vor den Faulen schützen.
Erlauben Sie mir ein Beispiel. Sie haben vielfach darauf hingewiesen, dass ich aus der Arbeitsvermittlung
komme. Ich kann nur sagen: Man lernt aufgrund praktischer Erfahrungen. 1994 gab es im politischen Umfeld
eine Diskussion, an die ich mich noch sehr genau erinnere; damals war ich noch Arbeitsvermittler. Es wurde darüber diskutiert, ob die Arbeitslosenhilfe nicht auf drei
Jahre befristet werden sollte.
({6})
- Dies haben Sie schon in zwei Debatten gemacht, lieber
Kollege, allerdings im Rahmen von Aktuellen Stunden, und
dort konnten Sie keine Zwischenfrage stellen. Nun haben
Sie die Gelegenheit, aufzustehen und eine Frage zu stellen.
Dann bekommen Sie eine Antwort. Mit Ihren Beschimpfungen können Sie in Aktuellen Stunden fortfahren.
Ich kann mich noch erinnern, wie viele Arbeitslosenhilfeempfänger, die bereits zwei, drei oder auch fünf Jahre
- bis hin zu 16 Jahren - Arbeitslosenhilfe bezogen haben,
Peter Weiß ({7})
plötzlich beim Arbeitsamt erschienen und außerordentlich
glaubwürdig erklärten, wie dringend sie schon immer und
gerade jetzt eine Arbeit suchen. Nach Ende der Diskussion über einer Befristung der Arbeitslosenhilfe hat man
diese Arbeitslosenhilfebezieher nicht mehr gesehen.
Mit anderen Worten: Es gibt natürlich einen großen
Teil jener, die händeringend Arbeit suchen. Es gibt aber
auch genügend andere, bei denen man hier und da nachhelfen muss, damit das System nicht so stark strapaziert
wird, dass diejenigen, die wirklich Hilfe brauchen, nicht
mehr versorgt werden können. Deswegen ist dies der richtige Ansatz.
({8})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen Antrag eingebracht, der auch die Finanzierung gemeinsam mit den
Kommunen regelt. Natürlich brauchen wir dafür eine
Gemeindefinanzreform, Frau Dückert. Was dazu aber
von Rot-Grün in dieser Legislaturperiode vorgelegt worden ist, war eine „gemeine“ Finanzreform. So wird das
nicht funktionieren.
({9})
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Bundesminister Walter
Riester das Wort.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Abgeordneter Weiß, ich weiß nicht genau, gegen
wen oder für wen Sie sprachen. Als ich hierher kam, habe
ich mich gefreut, dass der Plenarsaal aufgrund des kleinen
Aufstands voll war; denn ich dachte, ich könnte zu dieser
wichtigen Frage einmal vor allen im Parlament sprechen.
({1})
Ich sehe jetzt, dass Ihre Fraktion, Herr Niebel, hier noch
nicht einmal mehr mit ihrem Anteil von 7 Prozent vertreten ist. So ernst also nehmen Sie dieses Thema.
({2})
Da wir gerade bei dem Stichwort „ernst“ sind: Herr
Ministerpräsident Koch, als Sie das erste Mal Ihre Überlegung öffentlich geäußert haben, habe ich dies bereits gesagt: Ich teile Ihre Auffassung in vielen Punkten, nämlich
dann, wenn sie sich auf die gut entwickelte Praxis bezieht,
die es nicht zuletzt auch in Bereichen Ihres Landes gibt.
Ich kenne die Praxis, die im Main-Kinzig-Kreis entwickelt worden ist, sehr genau. Dies ist zum Teil in das
Job-AQTIV-Gesetz aufgenommen worden.
Was ich allerdings nicht für richtig halte, ist, bis zum
Jahr 2007 eine Experimentierklausel aufzunehmen, da die
Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und
die Neugestaltung viel schneller vonstatten gehen müssen.
Was ich ebenfalls nicht teile, ist die Auffassung, dass
Sanktionsmöglichkeiten im Einzelfall sozusagen flächendeckend zwingend notwendig sind; denn dafür müssten
wir ein entsprechendes Angebot an Arbeitsplätzen haben.
Das will ich nicht, um es einmal deutlich zu sagen.
({3})
Mit einem solchen Anspruch kämen wir flächendeckend
- dies ist nicht polemisch gemeint, ich will nur zum Nachdenken anregen - zu einem zweiten Arbeitsmarkt.
Mein Ziel ist es, alles dafür zu tun, dass mit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe denjenigen, die arbeitsfähig sind, ein schneller Zugang zum
ersten Arbeitsmarkt ermöglicht wird.
({4})
An diesem Ziel müssen sich die Organisations- und Finanzstränge ausrichten. Dies bedeutet aber, dass wir parallel dazu eine Gemeindefinanzreform in Angriff nehmen. Noch in diesem Monat wird die Regierung die
Zusammenführung dieser beiden Projekte vornehmen.
Unser Ziel ist es, spätestens Ende 2004 die gesamte Reform abgeschlossen zu haben und sie mit den entsprechenden Schritten der Arbeitsmarktreform zu verbinden.
Nun zu dem, was bereits geschehen ist. Meine Damen
und Herren, über die Hälfte der Arbeits- und Sozialämter
in Deutschland haben in den letzten drei Jahren enge Kooperationen entwickelt, die sie auch praktizieren.
({5})
Zum Teil sind sie über die Modellprojekte MoZArT entsprechend unterstützt worden.
({6})
Herr Ministerpräsident, gerade in den zwei am meisten
entwickelten Teilen Ihres Landes, im Main-Kinzig-Kreis
und in Wiesbaden, ist das der Fall. Genau das unterstützen wir. Genau das ist in der Praxis entwickelt worden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich darf
Sie vielleicht daran erinnern, dass Sie damals, als der unbequeme Schritt anstand, die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosenhilfeempfänger an den Zahlbeträgen auszurichten, alle samt und sonders dagegen
gestimmt haben.
({7})
Bei dieser Frage darf man sich nicht in die Büsche schlagen. Deswegen bezweifle ich, dass Sie reformfähig sind.
Dort, wo es unbequem wird, wo es über Spruchblasen hinausgeht, ducken Sie sich sofort.
({8})
Sie waren lange Jahre reformunfähig. 1997 war „Reformunfähigkeit“ das Wort des Jahres. Sie haben sich
auch in Ihrer Oppositionszeit als reformunfähig erwiesen.
({9})
Weil ich das weiß, kann ich solche Kleinaufstände, wie
ich sie vorhin erlebt habe, wo man auf einmal das Haus
füllt und es schlagartig wieder verlässt, wenn es um die
Diskussionen geht, leider nicht mehr ernst nehmen.
({10})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Minister Riester, fünf Minuten seichte Ankündigungsrhetorik ersetzen keine einzige Tat.
({0})
Davon haben die Menschen hier im Plenum und auch diejenigen, die uns sonst zusehen, zunehmend die Nase voll.
Durch Ihre Regierungszeit zieht sich ein roter Faden:
({1})
Es begann mit dem Spruch, an den sich viele noch erinnern: Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser.
({2})
Heute, nach dreieinhalb Jahren, stellen wir - und nicht nur
wir - fest: Es ist vieles, ja sogar nahezu alles schlechter
geworden.
({3})
Die Menschen können dies auch sehr genau überprüfen.
Das Einzige, was Konjunktur hat,
({4})
ist die Schwarzarbeit. Der Kollege hat schon darauf hingewiesen, dass sie mit 16,5 Prozent der regulären Wirtschaftsleistungen einen neuen traurigen Höchststand erreicht hat. Die Menschen suchen Auswege aus einem
überbordenden Abgabenstaat.
({5})
Die Bilanz, die Sie jetzt vorweisen - das ist ein sehr
ernstes Thema und diese muss man auch im Zusammenhang sehen -, ist deprimierend.
({6})
Die deutschen Sozialversicherungen sind in der Krise.
Obwohl der Arbeitsmarkt allein aus demographischen
Gründen jedes Jahr um 200 000 Menschen schrumpft, ist
die Zahl der offiziell gemeldeten Arbeitslosen jetzt auf
4,3 Millionen angestiegen.
({7})
Die Krankenversicherung gerät aus den Fugen. Die
Beiträge steigen und betragen im Durchschnitt nunmehr
14 Prozent. Die Pflegeversicherung wird von Ihnen Monat für Monat angezapft und Gelder der Versicherten werden in andere Systeme überführt. In der Rentenpolitik
sind Sie trotz der Ökosteuer gescheitert.
({8})
Trotz Ökosteuer wird der Rentenbeitrag im nächsten Jahr
auf 19,3 Prozent steigen.
({9})
Die Menschen zahlen doppelt: Ökosteuer und höhere
Beiträge.
({10})
Über allem schwebt wie ein Wetterleuchten die heraufziehende demographische Katastrophe, die uns alle
besorgt macht. Ihre Rezepte darauf sind Ankündigungen
und Versprechungen, die Sie immer wieder kassieren.
Die Lage ist so ernst, dass wir eine Neujustierung der
Sozialversicherungssysteme und eine Generalrevision
der Arbeitsmarktordnung brauchen. Das OFFENSIVGesetz, das von Hessen initiiert worden ist und das der
hessische Ministerpräsident hier in einer überzeugenden
Weise begründet und dargelegt hat,
({11})
haben wir gerne als Initiative übernommen, weil es genau
diese Neujustierung beinhaltet.
({12})
- Herr Kollege, Sie brauchen sich nicht zu erregen, ich
sage Ihnen schon, worum es geht.
({13})
Es geht nicht darum, Politik mit einer neuen Mitleidlosigkeit zu betreiben, sondern wir wollen vielmehr einen
im guten Sinne verstandenen mitfühlenden Sozialstaat errichten.
({14})
Das bedeutet, dass diejenigen, die leistungsfähig sind,
ihre Leistung für das Ganze einbringen müssen, und dass
die Menschen, die nicht in der Lage sind, entsprechende
Leistungen zu bringen, auch weiterhin mit unserer Hilfe
und unserem Engagement rechnen können.
Bundesminister Walter Riester
Ich sage Ihnen ganz konkret, welche beiden Gruppen
wir meinen. Zum einen meinen wir Familien mit Kindern, die es ganz besonders schwer haben. Frau Staatssekretärin, in einem stimme ich Ihnen zu: Es ist ein Skandal, dass noch immer eine so große Zahl von Kindern
Sozialhilfe beziehen muss. Wir wollen dem mit dem Familiengeld ein Ende setzen.
({15})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, man muss die Zwischenrufe verstehen können. Bei 30 Zwischenrufen gleichzeitig
geht das nicht. - Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schemken?
Gerne.
({0})
Kollege
Schemken, bitte
Es wäre ganz gut,
wenn Sie jetzt einmal aufmerksam zuhören würden. Vielleicht frage ich ja in Ihrem Sinne.
Herr Kollege Singhammer, wie bewerten Sie den Vorwurf, der bezüglich der Kinderbetreuung hier soeben gegenüber dem Land Bayern gemacht wurde? Ich gehe davon aus, dass Sie - bezogen auf die Metropole München dazu eine Auskunft geben können.
({0})
Herr Kollege
Schemken, die Kollegin Mascher hat darauf hingewiesen
und gemeint, sie müsse dem Freistaat Bayern einen besonderen Nachholbedarf in Sachen Kindergartenversorgung vorhalten.
({0})
Dies ist nicht richtig. Es gibt allerdings eine einzige Ausnahme: In der rot-grün regierten Landeshauptstadt München sind die Zahlen in Bayern am schlechtesten. Das ist
eine Schande.
({1})
Ich darf den Gedanken von gerade aufgreifen, bei welchen Gruppen wir mehr tun müssen: Das sind zum einen
die Familien und zum anderen die Menschen mit einem
Handicap bzw. einer Behinderung. Das meine ich mit einem mitfühlenden Sozialstaat.
Das heißt aber auch - das ist der vollständig richtige Ansatz -, dass Menschen, die gesund und tatkräftig sind und
die keinenAnhang haben, mehr tun müssen und nicht mehr
damit rechnen können, sich in einem sozialen Netz ohne
eigenes Engagement längere Zeit aufhalten zu können.
Das ist richtig und notwendig; dahinter stehen wir auch.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, soziale Ungerechtigkeit entsteht vor allem dann, wenn Leistungsunterschiede nicht beachtet werden, wenn also derjenige,
der mehr tun kann, nicht gefordert wird und derjenige, der
mehr Hilfe braucht, die entsprechende Hilfe nicht erhält.
Das OFFENSIV-Gesetz ist genau das richtige Rezept gegen eine Entwicklung, die die Menschen in unserem Land
immer mehr beklagen.
({3})
- Herr Kollege, das ist keine Mogelpackung, das ist ein
konkreter Antrag, der umgesetzt wird, wenn wir mit Ihrer
Hilfe die entsprechende Mehrheit erhalten und Sie nicht
bloß die übliche Ankündigungsrhetorik verwenden, die
Sie seit vielen Jahren hier praktizieren.
({4})
Ich komme jetzt zu einem wichtigen Punkt: Damit die
Menschen aus dem Bereich der sozialen Fürsorge wieder
heraus und auf eigene Füße kommen,
({5})
brauchen wir ein abgestimmtes System. Wir haben uns
nicht mit Ankündigungen aufgehalten, sondern wir haben
eine klare Konzeption vorgelegt.
({6})
Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Zunächst komme ich
zum Geringverdienerbereich. Wir haben als Grenze
400 Euro vorgeschlagen. Ihr 630-DM-Gesetz war das
größte Feuerwerk für mehr Schwarzarbeit in Deutschland
in den letzten 20 Jahren.
({7})
Wir wollen die Menschen wieder in eine legale Beschäftigung zurückholen und wir wollen insbesondere den Einstieg in eine Beschäftigung erleichtern. Deshalb haben
wir 400 Euro vorgeschlagen. Die Geringverdiener sollen
keine zusätzlichen Abgaben zu entrichten haben und die
Pauschalsteuer wird vom Arbeitgeber ganz unbürokratisch entrichtet.
Der nächste Schritt ist das Einfädeln in die Beschäftigung, ohne gleich hohe Abgaben an die Sozialversicherung entrichten zu müssen, damit ein gleitender Übergang
erreicht wird. Damit wird Schwarzarbeit vermieden und
der Einstieg erleichtert. Unser Gesamtkonzept, das, was
wir heute Vormittag besprochen haben, bedeutet für diejenigen, die in der Sozialhilfe sind, eine Hilfe, um wieder
in Arbeit zu kommen. Dies geschieht nicht nur mit guten
Worten, sondern vor allem auch mit Taten, wie wir sie
festgelegt haben.
Das ist ein geschlossenes Konzept. Hätten Sie das verwirklicht, dann stünden Sie nicht vor einem solchen
Scherbenhaufen, wie das bei Ihnen der Fall ist.
({8})
Ich verspreche Ihnen an dieser Stelle: Wir werden es anders machen. Ich bin mir auch sicher: Wir werden es besser machen.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Walter Hoffmann von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Singhammer, ich hatte nicht den Eindruck, dass der hessische Ministerpräsident seine Position in einer überzeugenden Art und Weise dargelegt hat.
({0})
Das ist sicherlich eine subjektive Auffassung von Ihnen
gewesen. Die anwesende Mehrheit dieses Hauses hat dies
in der Tat nicht so gesehen.
({1})
Aber ich bekenne: Es ist bemerkenswert, dass er an
dieser Diskussion heute teilnimmt. Es ist deshalb bemerkenswert, weil es mittlerweile verdeutlicht, wer in der
immerhin zweitgrößten Bundestagsfraktion in der Sozialpolitik den Ton angibt.
({2})
Wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf - normalerweise macht man das nicht -,
({3})
dann empfehle ich Ihnen schlicht und ergreifend: Entwickeln Sie eigenständige, selbstkritische Positionen!
Lassen Sie sich nicht von Hessen an der Leine führen!
({4})
Wenn es nun so wäre, dass in der Diskussion qualitative Sprünge entstanden wären, dann hätte ich das akzeptiert. Aber wir alle haben mitbekommen, dass das in dieser Sache nicht geschehen ist. Vieles von dem, was wir
heute diskutieren, ist Ausdruck von Aktionismus, der
nicht durch die Sache selbst, sondern nur durch die Vorwahlkampfzeit und durch nichts anderes zu begründen ist.
({5})
Ihre Forderung, zum Beispiel Vermittlungsagenturen
für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger einzurichten,
({6})
ist im Kern völlig richtig. Daran gibt es überhaupt nichts
zu deuteln.
({7})
Die Grundidee der Zusammenfassung von Beratung, Betreuung, Vermittlung und Leistungsauszahlung in einer
Hand kann nur von jedem unterstützt werden. Aber genau
das machen wir auch.
({8})
Sie rennen mit Ihrer Forderung offene Türen ein. Es ist
von mehreren Vorrednern bereits gesagt worden: Es gibt,
unterstützt mit 15 Millionen Euro, auch in CDU/CSU-geführten Bundesländern bundesweit 30 Modellversuche.
Dort wird eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Sozial- undArbeitsämtern erprobt. Genau dort gibt es
gemeinsameAnlaufstellen, in denen Hilfebedürftige beider
Systeme, von der Beantragung von Leistungen über die Erarbeitung von Eingliederungsplänen bis hin zur Vermittlung, im Grunde genommen von einer Stelle betreut werden. Das ist in der Sache richtig und sinnvoll. Deshalb sage
ich noch einmal: Wir sollten diese Modellversuche
-sie laufenzumgrößtenTeil imFrühjahrdieses Jahresaussinnvoll mit Kreativität und Fantasiereichtum auswerten
und dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen.
Ich will noch einmal das unterstreichen, was der Bundesarbeitsminister gerade gesagt hat. Ich warne sogar davor, Herr Koch, Ihren Antrag anzunehmen; denn die Datierung Ihres Antrages bis zum Jahre 2007 würde
praktisch bedeuten, dass wir eine richtige Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe erst ab dem Jahre 2007 angehen könnten. Das dauert uns viel zu lange. So lange wollen wir nicht warten. Wir wollen dies bereits im Jahre
2003 nach der gewonnenen Bundestagswahl machen.
({9})
Es ist bereits - ich will das nicht wiederholen - auf
viele Modellprojekte auch in Hessen hingewiesen worden. Ein Modellprojekt läuft im Main-Kinzig-Kreis. Sie
alle kennen diese Projekte und wissen, dass sie gut laufen.
Mit ihnen ist es gelungen, die Zahl der Sozialhilfeempfänger drastisch zu verringern. Das ist eine von uns allen
anzuerkennende Leistung.
({10})
Es bleiben einige wirklich schwer zu verändernde
Fakten.
Fakt ist, dass wir die Zahl der Sozialhilfeempfänger
nur zu einem bestimmten Prozentsatz verringern können,
denn nur ein kleiner Teil von ihnen ist - ich glaube, das
hat man mittlerweile verstanden - arbeitsfähig.
({11})
Zweiter Fakt ist: Alle Drohungen mit Kürzungen der
Sozialhilfe laufen im Grunde genommen leer. Wir können
bereits mit der bestehenden Rechtslage Kürzungen vornehmen. Die Frage, die ich mir immer wieder gestellt
habe, ist: Was will man eigentlich erreichen, wenn man
das konkret weiß?
Der dritte Punkt - man muss auch das klar und deutlich
festhalten -: Das System und das Angebot von stärkerer
Betreuung und Sanktionen auf beiden Seiten setzen voraus, dass eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen
existiert. Ich denke, wir haben ein paar gute und richtige
Schritte gemacht. Es ist das Job-AQTIV-Gesetz erwähnt
worden, wir setzen im Moment das rheinland-pfälzische
Niedriglohnmodell um. Das sind Schritte in die richtige
Richtung, die wir weiter fortführen möchten. Es wird unser aller Aufgabe sein, in diesem Segment - im Dienstleistungssektor, im Niedriglohnbereich - verstärkt Arbeitsplätze zu schaffen, damit wir den Sozialhilfeempfängern
und den Arbeitslosenhilfeempfängern etwas Konkretes
anbieten können.
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Alle Vorschläge
zur Verbesserung der individuellen Beratung und Hilfe
dürfen nicht die bestehenden Modellprojekte und Versuche ignorieren und quasi einen Neubeginn in der Diskussion fordern. Bundesweite Spezialregelungen sind nicht
nur bezogen auf die einzelnen Länder verfassungsrechtlich unmöglich, sondern führen auch zu Flickenteppichen, die die Entwicklung einheitlicher Lebensverhältnisse in den Regionen massiv erschweren werden. Das
wollen wir auf keinen Fall.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Von daher
bleiben der Vorwurf - Herr Koch, ich kann das nicht ändern - des Populismus und der Verdacht, dass, wie schon
einmal, diesmal auf Kosten der Minderheit der Sozialhilfeempfänger aus Stimmungen Wählerstimmen gemacht
werden sollen. Das ist nicht nur abgekocht, sondern im
wahrsten Sinne des Wortes abgebrüht.
({0})
Wir werden uns dagegen ganz massiv wehren.
({1})
Herr Kollege Hoffmann, Ihre Redezeit ist weit überzogen. Kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir sollten
also die bestehenden Handlungsmöglichkeiten mit den
Experimentierklauseln nutzen und das Angebot des neuen
Job-AQTIV-Gesetzes in der Praxis umsetzen, die Erfahrungen aus den 30 MoZArT-Projekten ebenfalls weiter
entwickeln und die vorhandenen kommunalen Experimente umsetzen. Ich bin davon überzeugt, dass wir
mit einer ruhigen Hand die Reform der Sozialhilfe in
der nächsten Legislaturperiode angehen werden. Herr
Singhammer, dann wird es uns gelingen, einen mitfühlenden Sozialstaat zu entwickeln.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Zum Tagesordnungspunkt 4: Interfraktionell wird
die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
14/8365 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zum Zusatzpunkt 2 a: Abstimmung über die von der
Bundesregierung sowie von den Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwürfe zur Verlängerung von Übergangsregelungen im
Bundessozialhilfegesetz auf Drucksachen 14/8010 und
14/7280. Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/ 8531, die genannten Gesetzentwürfe als
Gesetz zur Verlängerung von Übergangsregelungen im
Bundesozialhilfegesetz in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
übrigen Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen?- Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen.
Zusatzpunkt 2 b: Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/ 8531 die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 14/7293 mit dem Titel: „Fördern
und Fordern - Sozialhilfe modern gestalten“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/5982
mit dem Titel „Für eine Reintegration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt - Anreize für die Rückkehr in das Erwerbsleben erhöhen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/8531 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7298 mit dem Titel „Die
Walter Hoffmann ({0})
Sozialhilfe armutsfest gestalten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der PDS-
Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 k - es
handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren - sowie die Zusatzpunkte 3 a bis c auf:
20.a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten
Einsatz auf mazedonischem Territorium zum
Schutz von Beobachtern internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenabkommens
vom 13. August 2001 auf der Grundlage des
Ersuchens der mazedonischen Regierung vom
8. Februar 2002 und der Resolution Nr. 1371
({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 26. September 2001
- Drucksache 14/8500 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
({3})
- Drucksache 14/8448 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes und straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ({5})
- Drucksache 14/8447 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Errichtung einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen ({7})
- Drucksache 14/8449 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Tourismus
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Grundstoffüberwachungsgesetzes
- Drucksache 14/8387 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, Bonn
- Drucksache 14/8465 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Kultur und Medien
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über den Auswärtigen
Dienst ({10})
- Drucksache 14/8225 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung
der organisierten Kriminalität zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Litauen vom 23. Februar 2001
und zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik
Slowenien vom 2. März 2001 ({12})
- Drucksache 14/8199 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 14/8450 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Die Gewaltspirale im Nahen Osten beenden
- Drucksache 14/8271 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
k) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Übereinkommen über nukleare Sicherheit
Bericht der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland für die Zweite Überprüfungsta-
gung im April 2002
- Drucksache 14/7732 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({16}), Eduard Oswald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Verbesserung der Schifffahrtsverhältnisse im
Donauabschnitt zwischen Straubing und Vilshofen
- Drucksache 14/8484 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({18}),
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Ausbau der Donau zwischen Straubing und
Vilshofen
- Drucksache 14/8497 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Dirk Fischer ({20}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Notwendigkeit des Saaleausbaus
- Drucksache 14/8485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Gesetzentwürfe auf Drucksache 14/8447
und Drucksache 14/8449 sollen zusätzlich an den Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 b, c und e bis m
auf. Dabei handelt es sich um die Beschlussfassungen zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 21 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vorbereitung einer bundeseinheitlichen
Wirtschaftsnummer
- Drucksache 14/8211 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie ({23})
- Drucksache 14/8505 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hansjürgen Doss
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt auf Drucksache 14/8505, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktion und der PDS-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Verträgen vom 15. September 1999 des
Weltpostvereins
- Drucksache 14/7977 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie ({25})
- Drucksache 14/8446 Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Schulz ({26})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt auf Drucksache 14/8446, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 21 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Februar
2001 zur Ergänzung des Abkommens vom
5. April 1993 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Lettland über
den Luftverkehr
- Drucksache 14/7419 ({27})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({28})
- Drucksache 14/8355 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/8355, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 f:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Oktober 2000 zur Änderung und Ergänzung des
Abkommens vom 18. Juni 1991 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Staat
Bahrain über den Luftverkehr
- Drucksache 14/7978 ({29})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({30})
- Drucksache 14/8356 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/8356, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 g:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Juni
2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kap Verde über den Luftverkehr
- Drucksache 14/7976 ({31})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({32})
- Drucksache 14/8357 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/8357, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 h:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes vom 20. Mai 1997
zur Revision des Übereinkommens vom
20. März 1958 über die Annahme einheitlicher
Bedingungen für die Genehmigung der Ausrüstungsgegenstände und Teile von Kraftfahrzeugen und über die gegenseitige Anerkennung der
Genehmigung
- Drucksache 14/7245 ({33})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({34})
- Drucksache 14/8405 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Heise
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/8405, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 21 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 362 zu Petitionen
- Drucksache 14/8369 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 362 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der
FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungpunkt 21 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 363 zu Petitionen
- Drucksache 14/8370 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 363 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei
Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 364 zu Petitionen
- Drucksache 14/8371 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 364 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei
Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungpunkt 21 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 365 zu Petitionen
- Drucksache 14/8372 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 365 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei
Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDPFraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 366 zu Petitionen
- Drucksache 14/8373 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 366 ist einstimmig an-
genommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e sowie die
Zusatzpunkte 4 bis 7 auf:
5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf
Bindig, Lilo Friedrich ({40}), Angelika Graf
({41}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christa
Nickels, Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin
Müller ({42}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
58. Tagung der VN-Menschenrechtskommis-
sion in Genf
- Drucksache 14/8376 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({43}) zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte im Völkerrecht und im in-
ternationalen Bereich
- Drucksachen 14/7483, 14/8406 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heide Mattischeck
Hermann Gröhe
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf
Bindig, Lilo Friedrich ({44}), Angelika
Graf ({45}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord-
neten Christa Nickels, Dr. Angelika Köster-
Loßack, Cem Özdemir, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Weltweite Bekämpfung und Ächtung der Folter
- Drucksache 14/8488 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe ({46}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe,
Annette Widmann-Mauz, Monika Brudlewsky,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Im Namen der „Ehre“ - Gewalt gegen Frauen
weltweit ächten
- Drucksachen 14/7457, 14/8404 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf ({47})
Christa Nickels
Carsten Hübner
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Ina
Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Sklaverei weltweit verhindern
- Drucksache 14/8280 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({48})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann
Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Dr. Klaus
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kinkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Den Friedensprozess im Sudan in Gang setzen
und nachhaltig fördern
- Drucksache 14/8481 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({49})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann
Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/ CSU
Lage der Menschen- und Minderheitenrechte
in Vietnam
- Drucksache 14/8483 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({50})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 6 Beratung des Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Hildebrecht Braun ({51}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine China-Resolution der Europäischen
Union auf der 58. VN-Menschenrechtskommission
- Drucksache 14/8486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({52})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Konkrete Maßnahmen zur Stärkung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte ergreifen
- Drucksache 14/8502 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({53})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort die Kollegin Heide Mattischeck von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist und
bleibt eine wichtige Aufgabe - national wie auch international. Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat im vorletzten Jahr eine Anhörung zu diesem Thema durchgeführt. Diese Anhörung hat uns noch
einmal wichtige Anregungen für unsere Arbeit im Ausschuss gegeben.
Obwohl alle Vertragsstaaten mit der Unterzeichnung
des Sozialpakts die Gleichrangigkeit dieser Rechte mit
den bürgerlichen und politischen Rechten anerkannt haben, spielte der Sozialpakt zumindest in der westlichen
Welt lange eine eher untergeordnete Rolle. Darüber hinaus geriet er in den ideologischen Ost-West-Streit.
Während die Entwicklungsländer und bis zum Ende des
Kalten Krieges auch der Ostblock dem Sozialpakt den
Vorrang gaben, drängte der Westen vorrangig auf die Umsetzung des Zivilpakts. Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahre 1993 wurden die Unteilbarkeit
und die Gleichrangigkeit beider Pakte noch einmal deutlich bestätigt.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind in
der Regel nicht einklagbar. Die einzige Kontrollinstanz
auf internationaler Ebene bildet das Berichtsverfahren
vor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte beim Wirtschafts- und Sozialrat der
Vereinten Nationen. Gegenüber diesem Ausschuss berichtet auch die Bundesrepublik Deutschland regelmäßig
über den Stand der nationalen Bemühungen bei der Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte. Die Themen in den vergangenen Berichten waren
unter anderem das immer noch vorhandene wirtschaftliche Ost-West-Gefälle in unserem Land und zum Beispiel
der Status Asylsuchender. Gerade hierzu haben wir nun
bei der Novellierung des Ausländerrechts und im Rahmen
des Zuwanderungsgesetzes Initiativen ergriffen. Auch das
in Stellungnahmen immer wieder kritisierte Informationsdefizit hinsichtlich der Armut in Deutschland ist mit
dem im letzten Jahr vorgelegten Armutsbericht weitgehend beseitigt worden. Gelöst worden sind allerdings
noch nicht alle Probleme in diesem Bereich.
Trotzdem besteht auch bei uns weiterhin kein Grund,
sich auf Lorbeeren auszuruhen, zumal man wohl kaum
von Lorbeeren sprechen kann, wenn es um die Erfüllung
elementarer und schon vor Jahrzehnten kodifizierter
Rechte geht. SPD und Grüne fordern deshalb in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Empfehlungen des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
nicht nur konstruktiv aufzugreifen, sondern auch publik zu
machen, um damit das öffentliche Bewusstsein zu schärfen. Weitere wichtige Forderungen sind die immer wieder
angemahnte frühzeitige und regelmäßige Einbeziehung
der Nichtregierungsorganisationen in die Vorbereitung der
zukünftigen Berichte und eine bessere geschlechtsspezifische Differenzierung der Berichterstattung.
({0})
Um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte endlich wirkungsvoller durchsetzen zu können, muss es auch
für den Sozialpakt ein individuelles Beschwerdeverfahren entsprechend der Regelung für den Zivilpakt
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
geben. Das ist eine Forderung, die wir in unserem Antrag
noch einmal aufgegriffen haben. Man muss sagen, dass
sich gerade die deutsche Regierung dafür schon in der
Vergangenheit immer wieder auch bei der MRK besonders stark gemacht hat.
Nötig ist die Entwicklung und die Durchsetzung von
Verhaltenskodizes für transnationale Unternehmen - das
ist mir besonders wichtig -, die sich an den Konventionen
der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation orientieren und die für Deutschland weitgehend selbstverständliche Praxis auch für andere Standorte
umsetzen.
Insgesamt muss es Ziel unserer Politik sein, die Wirksamkeit staatlicher Steuerungsinstrumente auch und gerade gegenüber der globalisierten Wirtschaft zu erhalten,
um der völkerrechtlichen Verpflichtung zum Schutz und
zur Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in vollem Umfang nachkommen zu
können.
An dieser Stelle möchte ich auf eine Forderung in unserem Antrag besonders hinweisen. Die Bundesregierung
wird aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass die OECDLeitsätze für multinationale Unternehmen umgesetzt werden und die deutsche nationale Kontaktstelle für die
Leitsätze als interministerielle Struktur eingerichtet wird,
in der die Sozialpartner und die Nichtregierungsorganisationen in allen wichtigen Fragen beteiligt werden.
Ein weiterer Hinweis ist mir in diesem Zusammenhang
besonders wichtig: Weder die Weltbank noch der IWF,
noch die WTO sind an die Menschenrechtspakte gebunden. Sie sind in den letzten Jahren zunehmend - nicht
ganz zu Unrecht - in die Kritik geraten. Wir regen deshalb
an, dass jene Vertragsstaaten, die zugleich Anteilseigner
von IWF und Weltbank sind, in ihren so genannten Staatenberichten an den UN-Ausschuss für die WSK auch ihre
Politik gegenüber den internationalen Finanzsituationen
sowie ihre in den Gremien vertretenen Positionen darstellen. Ich denke, das ist eine ganz wichtige und umfassende
Forderung, deren Umsetzung - das wissen wir alle - noch
sehr lange dauern wird. Wenn wir dies aber nicht angehen,
immer wieder darauf hinweisen und die Bundesregierung
auffordern, weiterhin danach zu handeln, werden all die
Probleme, die wir zurzeit auf der Welt haben, nicht gelöst
werden können.
Die 58. Sitzung der Menschenrechtskommission der
Vereinten Nationen, die MRK, findet in diesem Jahr - wie
wir alle wissen - in einer besonders angespannten Zeit
statt. Die Zuspitzung der Konflikte um Kaschmir und in
Palästina, die Fortdauer des Bürgerkrieges in Tschetschenien und eine Vielzahl anderer regionaler und lokaler
Konflikte gehen allesamt mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen einher. Daraus leiten sich eine Reihe
von Forderungen in unserem Antrag zur MRK ab.
Die nationale, regionale und internationale Umsetzung
der in Durban vereinbarten Maßnahmen gegen Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit muss organisiert werden.
Die Unterzeichnung und Ratifizierung der VN-Konvention gegen transnationales organisiertes Verbrechen
sowie das Zusatzprotokoll zur Vorbeugung, Bekämpfung
und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere
des Frauen- und Kinderhandels, müssen vorangebracht
werden.
({1})
Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die
Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und das Zusatzprotokoll
zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Handel mit Kindern sowie Kinderprostitution
und Kinderpornographie muss unterzeichnet und ratifiziert werden.
Die Auseinandersetzung um die weltweite Ächtung
und Abschaffung der Todesstrafe - damit haben wir uns
hier sehr häufig zu Recht beschäftigt - muss weitergeführt
werden.
({2})
Die Einhaltung der Menschenrechte und die Verfolgung begangener Menschenrechtsverletzungen an vielen
Orten der Welt muss thematisiert und in den Blick der Öffentlichkeit gestellt werden, nicht zuletzt in Tschetschenien, in Tibet, in Xinjiang und in den kurdischen Gebieten der Türkei. Darauf müssen wir immer wieder
hinweisen und sollten das vor dem Hintergrund aktueller
Aktionen nicht vergessen.
Mit besonderer Sorge verfolgen wir die Entwicklung
der Menschenrechtssituation in einzelnen Staaten. Wenn
ich diese nenne, heißt das nicht, dass es nicht auch in anderen Staaten der Welt Probleme gibt. Einheimische wie
internationale Menschenrechtsorganisationen - das habe
ich eben schon erwähnt - berichten aus Tschetschenien
von schweren Menschenrechtsverletzungen auf beiden
Seiten. Es darf kein Krieg gegen die Bevölkerung geführt
werden. Das Vorgehen der russischen Streitkräfte steht
weiterhin nicht im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht.
Die Türkei hat mit den Verfassungsänderungen im letzten Jahr sicher einen wichtigen Schritt hin zu einer eventuellen Mitgliedschaft in der EU getan. Die Menschenrechtslage ist aber nach wie vor mehr als unbefriedigend:
Verletzung der Presse- und Meinungsfreiheit, Folter in den
Gefängnissen, Beibehaltung der Todesstrafe usw.
Wir begrüßen das Vorhaben der indonesischen Regierung, ein Menschenrechtsgericht zur Ahndung der Verbrechen in Osttimor einzusetzen. Aber zum Beispiel die
gewaltsame Räumung eines Armenviertels in Jakarta
durch die Polizei verletzt die Menschenrechte der Bevölkerung.
Der Rechtsstaatdialog mit China ist zu begrüßen. Die
Liste der Menschenrechtsverletzungen in China ist jedoch
lang: die exzessive Anwendung der Todesstrafe, die Administrativhaft zur Umerziehung durch Arbeit, das Verbot
politischer Opposition, die Verfolgung religiöser Minderheiten und die noch zunehmende Unterdrückung der Tibeter und der Uiguren.
In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung unserer
Anträge.
Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung machen, die mir besonders am Herzen liegt. Wir haben seit
dem 11. September viele Diskussionen um die Bekämpfung des Terrorismus geführt. Wir sind uns alle darin einig, dass dieser Terrorismus, vor allen Dingen aber seine
Wurzeln und Ursachen, bekämpft werden müssen. Vieles
von dem, was ich gesagt habe, trägt dazu bei bzw. kann
dazu beitragen.
Es geht bei der Terrorismusbekämpfung aber auch um
die Einhaltung der Menschenrechte bei dem, was wir gegen den Terrorismus tun. Auch wenn Wut, Trauer und
Schmerz über diese entsetzlichen Verbrechen vom
11. September manchmal individuell verständlich sind,
dürfen die Reaktionen einer zivilisierten Gesellschaft
nicht dazu führen, dass man bei der Bekämpfung des Terrorismus die Menschenrechte außer Kraft setzt - weder
bei uns noch anderswo.
Danke schön.
({3})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Brudlewsky von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Zu den wichtigsten Themen
im Parlament gehören unzweifelhaft die Menschenrechte
- die der Bewohner im eigenen Land, aber auch die
Rechte der Menschen in anderen Ländern der Welt. Der
Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages
hatte seit Beginn dieser Legislaturperiode daher keinen
Mangel an Arbeit.
Es ist gut, dass die Menschenrechte im Bewusstsein
der Menschen und auch im Bewusstsein der Politik immer
fester verankert sind. In einer Reihe von Ministerien sind
die Menschenrechte mit eigenen Arbeitsstäben in die
alltägliche Arbeit integriert. Weiterhin finden bilaterale
Gespräche mit anderen Staaten vonseiten unserer Regierung oder auch im Rahmen der EU und anderer internationaler Gremien heutzutage auch immer unter dem Gesichtspunkt der Achtung der Menschenrechte statt.
Diese Einbeziehung der Menschenrechte auf allen Gebieten hat wesentlich dazu beigetragen, Anfragen zur Verbesserung der Menschenrechte weltweit schneller voranzubringen, als dies zu Zeiten des Kalten Krieges möglich
war. Aber sogar heute unter rot-grüner Regierung hat man
schnell lernen müssen, dass man aus politischer Rücksichtnahme, aus Gründen der Diplomatie in manchem
Land die Menschenrechtsfrage behutsamer ansprechen
muss, als man dies noch vor einigen Jahren zu Regierungszeiten von Helmut Kohl gefordert hat.
Die zu dieser Debatte vorliegenden Anträge sind ein
Querschnitt aus vielen einzelnen schicksalhaften Beispielen, die aus aller Welt an uns herangetragen und bei uns
beraten wurden. Durch Berichte von mutigen Menschenrechtsvertretern oder durch Parlamentarierreisen erfuhren
wir direkt vor Ort noch intensiver, als dies durch Medienberichte möglich ist, vom Leid vieler Millionen Kinder,
Frauen und Männer in aller Welt. Vor allem das Schicksal
der Kinder, die als schwächstes Glied aus allen Auseinandersetzungen hervorgehen, muss uns Ansporn genug
sein zu handeln. Wer wie ich Hunderte von Kindern als
Waisen, als Hungernde, als Krüppel, als Minenopfer, als
Kindersoldaten gesehen hat oder sich an die vielen Kinder in den Flüchtlingslagern Afrikas erinnert, den lassen
solche Bilder nicht mehr los.
Es ist eigentlich mit dem normalen Menschenverstand
nicht zu fassen, welche Grausamkeiten im Allgemeinen in
der Welt heute noch systematisch verübt werden und was
im Besonderen Frauen und Mädchen in nicht wenigen
Ländern der Welt nach wie vor zugefügt wird. In den
zurückliegenden Monaten ist ganz besonders die Situation von Frauen durch die jüngsten Ereignisse in Afghanistan in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Es war
eigentlich beschämend, aber in gewisser Weise auch bezeichnend, den weltweiten Aufschrei der Öffentlichkeit
bei der Sprengung der Buddhaskulpturen durch die Taliban zu hören, während es andererseits vorher das jahrelange Schweigen der Öffentlichkeit gegenüber der entsetzlichen und menschenverachtenden Lage insbesondere
der Frauen in Afghanistan gab.
({0})
Hier hat ein Regime nicht nur die Hälfte seiner Bevölkerung demokratischer Grundrechte beraubt, sondern sie
vielmehr ganz aus dem öffentlichen Leben verbannt und
zu Leibeigenen des anderen Geschlechts gemacht. Das
darf die Weltgemeinschaft nie mehr zulassen.
Diejenigen, die zur Zeit der Talibanherrschaft und jetzt
wieder in Afghanistan und auch in Pakistan vor Ort waren, können sicher noch viel detaillierter auf die momentane Lebenssituation dort eingehen. Ich möchte zu diesem
Thema nur sagen: Es ist eine erfreuliche Tatsache, dass
über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Im Namen der
‚Ehre’ - Schandemorde und Gewalt gegen Frauen weltweit ächten“ im Ausschuss Einigkeit bestand.
Angesichts der verheerenden Gewalt von beiden
Seiten im Nahen Osten kann man mit Spannung die Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen erwarten. Zum 58. Mal tritt dieses internationale
Gremium in einigen Wochen in Genf zusammen. Im entsprechenden Antrag der Koalition werden zwar einige
wichtige Fakten dargelegt, jedoch fehlt uns in diesem Antrag eine klarere Benennung bestimmter gravierender
Menschenrechtsverletzungen, die uns, wenn überhaupt,
zu schwammig formuliert sind.
Gerade angesichts der Lage in Tschetschenien kann
man sich unseres Erachtens nicht auf die Aussage beschränken, dass es dort Menschenrechtsverletzungen auf
beiden Seiten gibt, sondern man muss aufzeigen, dass hier
seit Jahren, schon lange vor dem Geschehen am 11. September, unter dem Vorwand, Terroristen zu bekämpfen,
Zivilisten grausam gefoltert und ermordet wurden und
noch werden.
({1})
In den letzten Tagen war in einigen großen Zeitungen
über das Wirken so genannter Todesschwadronen der russischen Armee und der berüchtigten Sondereinheiten des
Innenministeriums zu lesen, die unter Duldung der russischen Regierung Hunderte tschetschenischer Männer
verschleppen und brutalst zu Tode foltern. Bei allem Verständnis für die weltweite Antiterrorallianz, der sich auch
Russland angeschlossen hat: Diese darf nicht als Feigenblatt und Vorwand für die Verfolgung und Unterdrückung
eigener missliebiger Bevölkerungsgruppen dienen.
({2})
Dem muss die freie Welt, dem müssen wir entgegentreten
und eine klare Trennung zwischen Terroristenbekämpfung und dem Tschetschenien-Problem einfordern.
Ich hatte deshalb beim Putin-Besuch in Berlin und seiner Rede hier im Hohen Hause für mich persönlich die
Konsequenz gezogen, nicht an dieser Plenarveranstaltung
teilzunehmen, sondern stattdessen vor dem Brandenburger
Tor zusammen mit der Gesellschaft für bedrohte Völker
auf diese gravierenden Menschenrechtsverletzungen
durch die russische Regierung hinzuweisen. Wir müssen
darauf aufmerksam machen, dass keine Medien in dieses
Gebiet kommen, um über die wirklichen Schicksale der
Betroffenen zu berichten. Wenn Berichte herausgelangen,
dann nur, weil es immer wieder todesmutige Frauen und
Männer wagen, die Wahrheit herauszutragen. Werden sie
mit Film- oder Fotomaterial von den russischen Behörden
gefasst, dann drohen ihnen langjährige Gefängnisstrafen,
Folter oder sie verschwinden einfach für immer.
Es genügt auch nicht festzustellen, dass die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt bleibt. Vielmehr muss
die russische Regierung klar und deutlich aufgefordert
werden, den Krieg gegen das tschetschenische Volk sofort
zu beenden.
({3})
Es wäre auch dringend notwendig, eindringliche Forderungen nach einer internationalen Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien zu erheben.
Auch China kommt in dem Koalitionsantrag verhältnismäßig gut weg. Schon der einleitende Passus „trotz
ermutigender Zeichen“ lässt erst einmal Hoffnung aufkeimen, die aber dann schon wieder im Keim erstickt wird.
Was sich jedoch in China, dem Land, in dem in sechs Jahren die sportliche Jugend der Welt zu den Olympischen
Spielen zusammentreffen wird, wirklich abspielt, ist ein
Trauerspiel und lässt noch lange nicht auf Verbesserung
der Menschenrechtslage hoffen. Fast täglich bekommen
wir Meldungen über die schwierige Menschenrechtslage
in Tibet, über die Sanktionen gegen die Falun-Gong-Bewegung und die schwierige Lage der Christen im Land.
Es darf nicht sein, dass der Welt bei den Olympischen
Spielen nur jubelnde Parteikader zuwinken und die Opposition in dieser Zeit weggeschlossen wird und nach dem
Olympiaereignis alles so weiter geht wie bisher.
({4})
Kolumbien, Simbabwe und der Sudan gehören meines
Erachtens ebenfalls zwingend in die Reihe der Länder, in
denen viele Opfer durch Menschenrechtsverletzungen zu
beklagen sind; sie werden in dem Antrag aber leider nicht
erwähnt.
Trotz dieser Anmerkungen, die darauf hinweisen, dass
uns dieser Antrag zu verhalten, zu vorsichtig ist, trotz unserer Bemängelungen werden wir den Antrag aber nicht
ablehnen, sondern uns der Stimme enthalten.
Einer Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag der
FDP „Sklaverei weltweit verhindern“, der zunächst noch
an die Ausschüsse überwiesen wird und daher noch nicht
zur Abstimmung kommt, steht unsererseits nichts im
Wege.
Ich merke, dass ich mich doch ein wenig lange ausgelassen habe, möchte aber noch sagen, dass es ein Glücksfall ist, dass die UN unseren ehemaligen Innenminister
Gerhart Baum als Sonderbotschafter für die Region des
Sudan eingesetzt hat und sich ein sehr positiver Dialog
mit uns und vielen NGOs über den Sudan entwickelt hat,
der der Region hoffentlich bald friedlichere Zeiten
bringt.
Abschließend möchte ich generell feststellen, dass im
Ausschuss für Menschenrechte trotz der eben aufgezeigten Meinungsverschiedenheiten doch die Meinungen von
Koalition und Opposition in Fragen der Menschenrechte
häufig enger beieinander liegen, als dies in anderen Ausschüssen der Fall ist. Ich möchte bei dieser Gelegenheit
ausdrücklich all meinen Kolleginnen und Kollegen im
Ausschuss für das gute Miteinander bei der nicht immer
leichten Arbeit für die Rechte der Menschen in aller Welt
danken. Das schließt natürlich nicht aus, dass wir in Einzelfragen verschiedene Auffassungen haben und daher
unterschiedlich abstimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke für Ihre
Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort
hat jetzt unsere Kollegin Christa Nickels vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!
„Die 58. Sitzung der ... MRK findet in diesem Jahr in
einer besonders angespannten Zeit statt.“ Sie findet ziemlich genau ein halbes Jahr nach den Terroranschlägen vom
11. September 2001 statt, „die in vielen Staaten einen Politikwechsel bewirkt haben, in dem neue Allianzen sowie
neue Schwerpunkte ... entstanden sind“. So lautet es im
Antrag der Koalitionsfraktionen zur MRK, der heute auf
der Tagesordnung steht. Allmählich werden die Strukturen dieser neuen Politikansätze, ihre Chancen und auch
ihre großen Risiken, klarer erkennbar. Die neuen Herausforderungen in der Menschenrechtspolitik gewinnen an
Schärfe.
Wir als Angehörige der Nachkriegsgeneration - so erscheint mir das ziemlich oft - leben bis heute in dem
Grundgefühl, dass die demokratische, rechtsstaatlich verfasste Zivilgesellschaft eine für alle Zeit garantierte
Grundkonstante ist, die uns nie verloren gehen kann. Aber
allmählich erkennen wir gerade vor dem Hintergrund der
globalen Herausforderungen, dass sich jede Generation
solcher Errungenschaften wie der Menschenrechte neu
vergewissern, sie neu erkämpfen und sichern muss.
({0})
Angesichts dessen stelle ich mit großem Erstaunen und
auch immer wieder mit Erschrecken fest, wie viele Wächter und Anwälte der Menschenrechte in der Stunde der
Not die Menschenrechte offenbar als eine Schönwetterveranstaltung für blauäugige Gutmenschen, weltfremde Fantasten oder - das liest man wörtlich so - „verzärtelte Weicheier“ ansehen. Wer aber so argumentiert,
liefert den Diktatoren und Menschenschindern in der Welt
ungewollt eine Steilvorlage; das muss man ganz klar und
deutlich sagen. Von daher gesehen wird gerade auch in der
globalisiert zugespitzten Auseinandersetzung die Gefahr
größer, dass der Antiterrorkampf mit menschenrechtlich
fragwürdigen Mitteln geführt wird.
Darum haben wir als Koalitionsfraktionen die Bundesregierung noch einmal aufgefordert - wir wissen, dass sie
das auch tut -, auf der 58. MRK in Genf entschieden darauf zu bestehen, dass menschenrechtliche Standards im
Antiterrorkampf eingehalten werden und dass die Verhältnismäßigkeit der Mittel auch in dieser Extremsituation gewahrt bleibt. Menschenrechtsrabatt im Antiterrorkampf darf es unter gar keinen Umständen geben,
wenn man die Menschenrechte an sich nicht gefährden
möchte.
({1})
Seit dem 11. September 2001 ist es nach meiner Einschätzung Methode geworden, islamistische Fundamentalisten einseitig als die eigentlichen Feinde der Menschenrechte zu betrachten. Dabei dürfen wir nicht vergessen,
dass es Gründe dafür gibt, weshalb der Islamismus bereits
seit den 70er-Jahren auf dem Vormarsch ist und weshalb
sich islamistische Oppositionelle immer wieder kämpferisch für die Wiedereinführung der Scharia einsetzen.
Die internationalen Menschenrechtspakte werden in
vielen muslimischen Ländern nicht als Grundlage einer
gemeinsamen und werteorientierten Politik begriffen,
sondern lediglich - wie es auch seinen Niederschlag in
der Kairoer Erklärung von 1990 findet - als Ausdruck
westlicher Werte und westlichen Hegemoniestrebens.
Das liegt auch mit daran, dass die betroffenen Länder
sehr oft unter der Kolonialisierung und deren menschenrechtlich zweifelhaften, brutalen Methoden gelitten
haben.
Aber - das möchte ich hier genauso deutlich sagen ein interkultureller Dialog darf nicht weichspülerisch nur
auf Harmonie aus sein. Vielmehr müssen wir auch die Unvereinbarkeit von Teilen dieser Kairoer Erklärung und der
Scharia mit dem universellen Anspruch der internationalen Menschenrechtspakte auf die Tagesordnung setzen
und intensiv darüber diskutieren, wenn wir die Menschenrechte als Magna Charta für eine sich globalisierende Welt weiter erhalten wollen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Darum ist der interkulturelle Dialog in der
Auseinandersetzung keine Marginalie, sondern muss ins
Zentrum gerückt werden.
Ich finde es wichtig, dass wir neben diesen sehr klaren
und deutlichen Differenzen auch daran anknüpfen, was
uns allen unstrittig gemeinsam ist, zum Beispiel die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Wir müssen
deutlich machen, dass die Menschenrechte aus schrecklichen, leidvollen Erfahrungen und auch aus einer Widerstandsbewegung gegen Unterdrückungsmaßnahmen geboren sind, aus Erfahrungen mit dem Totalitarismus und
mit Religionskriegen, um nur zwei besonders drastische
Beispiele zu nennen. Am Ende des 30-jährigen Krieges in
Europa war ein Drittel der Bevölkerung tot. Ähnliche
Leidenserfahrungen, die natürlich nicht direkt vergleichbar sind, gibt es auch in muslimischen Gesellschaften. Sie
sind letztlich transkulturell. Es ist zentral, dass wir an
diese transkulturellen Erfahrungen anknüpfen und sie als
Grundlage dafür sehen, dass nur das Beharren auf den
Menschenrechten wirtschaftliche, kulturelle und soziale
Wohlfahrt ermöglicht und Freiheit sichert.
Darum finde ich es auch sehr begrüßenswert, dass die
Bundesregierung bei der Menschenrechtskommission
eine Resolution zum Recht auf Wohnen einbringen wird.
In diesem Punkt sind alle einer Meinung, aber er ist bei
weitem noch nicht vollständig umgesetzt. Das ist eine
richtige Herangehensweise, um nicht nur das Trennende,
sondern auch das Gemeinsame zu beraten.
Wichtig ist, dass wir in Bezug auf die Bekämpfung
der Folter - das fordern wir in unserem Antifolterantrag,
der Ergebnis einer Anhörung des Menschenrechtsausschusses ist, mit dem wir auch die weltweite Kampagne
von Amnesty International gegen Folter unterstützen wollen - von der Menschenrechtskommission einfordern,
dass sie einen Schwerpunkt auf dieses Thema setzt. Frau
Brudlewsky hat es schon gesagt: Der Antrag hat eine ganz
neue, schreckliche Aktualität, zum Beispiel vor dem Hintergrund der schrecklichen Entwicklungen in Tschetschenien. Wir haben gerade wieder neue Informationen darüber bekommen, in welch menschenverachtender Weise
Menschen gequält, gefoltert, umgebracht werden oder
verschwinden. Es kann unter keinen Umständen angehen,
dass Russland aufgrund der Tatsache, dass es nun ein
wichtiges Mitglied der Antiterrorkoalition ist, ein Menschenrechtsrabatt gegeben wird. Gerade unter Bündnispartnern gilt, dass Folter und grausame Behandlung abzuschaffen sind. Das ist mehr als eine Frage des
politischen Willens. Wir müssen das unter allen Umständen durchsetzen. Wir müssen die Unkultur der Straflosigkeit gemeinsam bekämpfen.
Für mich ist sehr erfreulich - da möchte ich auch auf
meine Erfahrungen von über einem Jahr als Vorsitzende
des Menschenrechtsausschusses hinweisen -, dass der
Menschenrechtsausschuss über alle verschiedenen, auch
politischen, Auffassungen hinweg in den wesentlichen
Fragen gemeinsam an einem Strang zieht, dass er sich
nicht für irgendwelche partei- oder machttaktischen
Spielchen operationalisieren lässt. Wir haben in den
letzten Jahren, seit der Menschenrechtsausschuss ein
Vollausschuss des Deutschen Bundestages ist, Maßstäbe
für die absolut notwendige Kultur gesetzt, dass man in Fragen der Menschenrechte mit aller Energie über die Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam vorgeht. Ich möchte mich
sehr dafür bedanken, dass das möglich ist und dass wir uns
vor entscheidenden Sitzungen im Bundestag die nötige
Zeit nehmen, diese Fragen zu debattieren.
Danke schön.
({2})
Für
die FDP-Fraktion spricht jetzt Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Situation der Menschenrechte, ihre Achtung und Durchsetzung sowie die Ahndung ihrer Verletzungen, ist kurz
vor Beginn der 58. Konferenz der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen nicht gut. War es schon
auf der letzten Tagung, der 57. Konferenz im vergangenen
Jahr, äußerst schwierig, den bestehenden Standard der
Menschenrechte zu verteidigen und wichtige Länderresolutionen überhaupt auf die Tagesordnung zu bringen, sind
die Fronten in diesem Jahr noch stärker verhärtet.
Seit den fürchterlichen Anschlägen vom 11. September
letzten Jahres steht die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus im Mittelpunkt internationaler Politik. Die
Beteiligung an der Terrorismusbekämpfung, die aktive
Teilhabe an der Antiterrorallianz, zumindest ihre aktive
Duldung, haben die Achtung der Menschenrechte in den
Hintergrund treten lassen. In manchen Staaten wird der
11. September instrumentalisiert, um endlich, auch unter
Inkaufnahme von Menschenrechtsverletzungen oder ihrer
bewussten Begehung, gegen Minderheiten, die jetzt ausschließlich Terroristen zu sein scheinen, vorgehen zu
können.
Da kämpfen beispielsweise die Russen in Tschetschenien nunmehr auch oder ausschließlich gegen den Terrorismus, wobei sie sich nur sehr eingeschränkt in die Karten schauen lassen wollen und vor Repressionen nicht
zurückschrecken. Nicht nur die Pressefreiheit ist in manchen Staaten ein Opfer des Terrorismus geworden, wie es
der Beauftragte der OSZE für die Freiheit der Medien und
die Pressefreiheit in unserem Ausschuss vor wenigen Tagen eindeutig und unmissverständlich feststellte.
Die Voraussetzungen für die 58. Konferenz der
Menschenrechtskommission sind also nicht besonders
gut. Da die Vereinigten Staaten derzeit nicht Mitglied der
Menschenrechtskommission sind - die Zeichen stehen
aber gut, dass sich das bald ändern wird -, fehlt für die
Thematisierung mancher wichtigen Anliegen die treibende Kraft.
({0})
Das erleben wir gerade auch in diesem Jahr am Beispiel der Befassung mit der Menschenrechtslage in der
Volksrepublik China. Die Vereinigten Staaten waren,
wenn auch mit einer gewissen selektiven Wahrnehmung,
({1})
die Akteure für die Einbringung einer Resolution, in der
die Verletzung der Menschenrechte angesprochen wurde.
Aber für diese Menschenrechtskonferenz ist auch nach
den bisherigen Bewertungen durch Vertreter der Bundesregierung kaum damit zu rechnen, dass sich irgendetwas
auf diesem Gebiet tun wird. Die Vereinigten Staaten können als Beobachter nicht die aktive Rolle spielen, die notwendig wäre. Innerhalb der EU wiederum scheint kein
Konsens erreichbar zu sein.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb, anknüpfend
an die sich in den letzten Jahren wiederholenden Debatten, leider wieder einen Antrag einbringen müssen, um die
Bundesregierung aufzufordern, sich mit der Unterstützung des gesamten Parlamentes dafür einzusetzen, dass es
mithilfe der EU und auch anderer Partner in der MRK zu
einer Befassung mit der Menschenrechtslage und der Verletzung der Menschenrechte in China kommt.
({2})
Das Thema sollte zumindest auf der Tagesordnung stehen.
Wir sollten auch das Europäische Parlament, das schon
Anfang Februar diesen Beschluss gefasst hat, für unsere
Unterstützung heranziehen. Alle Parlamentarier sind sich
einig, und es muss doch möglich sein, dass angesichts dieses Drucks die Regierenden mehr erreichen können.
({3})
Leider ist es nicht unbedingt die Sache des Bundeskanzlers, das Thema der Menschenrechtsverletzungen in
China direkt anzusprechen. Wir erinnern uns noch alle daran, dass er sagte, er wolle sich nicht die Ritualisierung
der Menschenrechte zu Eigen machen, wie es vorher angeblich der Fall war. Er wollte bei seinem letzten Besuch
in China noch nicht einmal die Situation von vielen Häftlingen und Dissidenten ansprechen. Man kann vieles an
der Politik der alten Regierung bis 1998 kritisieren. Aber
die Menschenrechtsverletzungen waren immer ein unverzichtbarer Punkt in den Gesprächen mit der chinesischen
Seite. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Sie sich in
dieser Hinsicht uns gegenüber eingelassen haben.
({4})
Ich komme zu einem zweiten wichtigen Punkt. Sie,
meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,
sprechen in Ihrem Antrag zur 58. MRK-Konferenz die Situation in Indonesien kurz an. Heute startet das nationale
Ad-hoc-Tribunal in Jakarta, um sich endlich, nachdem fast
drei Jahre vergangen sind, mit den schwersten Menschenrechtsverletzungen, die es im Zuge des Referendums in
Osttimor gab, zu befassen und die Verantwortlichen zur
Rechenschaft zu ziehen. Wir wissen alle: Das Schlimmste
ist, wenn sich impunity, also Straflosigkeit, durchsetzt.
Wenn es dadurch keine Konsequenzen geben würde, wäre
es eine Ermutigung der Machthaber, fast schon eine Aufforderung, die Menschenrechte zu verletzen.
({5})
Es ist ein erster richtiger Schritt, der jetzt in Jakarta gegangen wird. Machen wir uns aber bitte nichts vor: Ob
Menschenrechtsstandards eingehalten werden, ist äußerst
zweifelhaft. Es wurden zu Recht Bedenken von Amnesty
International und von Watch Indonesia an den ausgewählten Richtern und Staatsanwälten im Hinblick auf ihre
Unabhängigkeit geäußert. Wer steht vor Gericht? Von den
ursprünglich 30 Personen, die auf der Liste des damaligen
Generalstaatsanwaltes Darusman standen, sind nur noch
18 übrig geblieben. Darunter befinden sich nicht mehr die
oberen Ränge des Militärs. Wir dürfen angesichts der ersten Schritte in die richtige Richtung nicht zulassen, dass
durch ein solches Verfahren die Standards von Menschenrechten langfristig weiter gesenkt werden.
({6})
Das nationale Ad-hoc-Tribunal darf nicht ein Beispiel
dafür sein, wie man künftig Menschenrechtsverletzungen
aufarbeitet.
Leider ist meine Redezeit fast zu Ende. Aber ich
möchte noch kurz bemerken, dass natürlich auch Indonesien auf der MRK behandelt werden muss. Es sollte versucht werden, die dortigen Probleme mithilfe einer Resolution zu verdeutlichen. Wir wissen, wie schwierig dies
ist. Aber man muss sich diesem Unterfangen widmen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Sudan sagen. Wir
haben zusammen mit der CDU/CSU einen Antrag eingebracht, der jetzt an die Ausschüsse überwiesen werden
wird. Ich bitte darum, dass auch der Sudan auf die Tagesordnung der 58. MRK-Konferenz gesetzt wird, weil sich
die Menschenrechtslage dort bisher nicht verbessert hat.
({7})
Es ist wichtig, dass es auf der Konferenz auch eine kritische Resolution zum Sudan geben wird.
Verbessert hat sich lediglich, dass ein Sonderberichterstatter ins Land darf und dort Gespräche führen und
auch in Gefängnisse gehen kann. Damit funktioniert endlich das Monitoring. Für diesen Sonderberichterstatter
brauchen wir aber ein weiteres Mandat, damit er die jetzt
begonnene Aufgabe fortsetzen kann.
Ich bedanke mich.
({8})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund der knappen Redezeit beschränke ich mich heute auf die Anträge zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Um es
gleich vorweg zu sagen: So sehr der Antrag von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf die Gleichrangigkeit von
bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten auf der einen Seite und von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten auf der anderen Seite abhebt, so sehr
reproduziert er gleichzeitig die bisherige Abwehrhaltung
der allermeisten Regierungen gegen eine juristisch verbriefte Garantie genau dieser WSK-Rechte.
Dem Feststellungsteil kann ich in weiten Passagen ja
zustimmen. Aber die Skepsis gegenüber den WSK-Rechten wird im Forderungsteil offenkundig, indem man buchstäblich mit der Lupe nach konkreten Forderungen suchen
muss. Fast könnte man meinen, hier spricht die Bundesregierung selbst
({0})
- ich zitiere schon noch genug daraus -, wenn es etwa
heißt, sie werde aufgefordert, „in dem Bemühen nicht
nachzulassen“, „Empfehlungen ... nicht nur konstruktiv
aufzugreifen, sondern auch publik zu machen“, „nach
Möglichkeit ... vorzunehmen“, noch einmal „konstruktiv
aufzugreifen“, „sich dafür einzusetzen, dass ... berücksichtigt“ wird, usw. Der beste Beleg für diese parlamentarische Bettvorlegerlyrik ist folgende Forderung:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ... die Prüfung, ob die Revidierte Europäische Sozialcharta ratifiziert werden kann, zügig
fortzusetzen und Bedenken, die einer Ratifizierung
entgegenstehen, in geeigneten Fällen durch eine Änderung des innerstaatlichen Rechts auszuräumen; dabei ist sicherzustellen, dass ein ausreichender
Gestaltungspielraum für Gesetzgebung und Praxis
erhalten bleibt; ...
Wenn das, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Forderung sein soll, dann höchstens eine Aufforderung zur Arbeitsverweigerung.
({1})
Nur am Rande sei erwähnt, dass die Revidierte Europäische Sozialcharta bereits 1996 verabschiedet wurde, also
vor sechs Jahren. Aber prüfen Sie nur zügig weiter; vielleicht lässt sich ja doch noch etwas ausräumen, und sei es
die letzte Hoffnung auf konkrete Schritte.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Millionen Menschen
auf der Welt werden die elementarsten Menschenrechte
vorenthalten: Freiheit, Demokratie, der Schutz vor staatlicher Willkür. Dagegen muss man unmissverständlich Position beziehen, nicht zuletzt auf der Menschenrechtskommissionssitzung in Genf, besser noch durch eine kohärente
Außenpolitik. Die Äußerungen von Bundeskanzler
Gerhard Schröder, nach dem 11. September erscheine das
Vorgehen Russlands in Tschetschenien in einem anderen
Licht, lassen da ebenso besorgt aufhorchen wie die RamboManieren und die Bündnispolitik des US-Präsidenten. Wer
die Nordallianz in Afghanistan - ich rede bewusst nicht
von Präsident Karsai und einigen wenigen anderen - in den
Sattel der Macht hebt, sollte nicht vergessen, dass sich
viele ihrer Vertreter in der Vergangenheit schlimmster
Menschenrechts- und Kriegsverbrechen schuldig gemacht
haben. Ich denke hier etwa an General Dostum, den stellvertretenden Verteidigungsminister.
({3})
- Das wissen Sie doch genau. Das ist überhaupt nicht
abenteuerlich; das sagt Ihnen jeder, der sich mit der Problematik auskennt.
({4})
Inwieweit sich diese Leute in Menschenrechtsfragen
und insbesondere in Fragen der Rechte der Frau von den
Taliban unterscheiden, wird sich erst noch herausstellen
müssen. Wir konnten uns dies in Afghanistan jedenfalls in
Teilen persönlich vor Augen führen lassen.
Doch genau so, wie sich angesichts der Menschenrechtslage in Afghanistan oder in Tschetschenien, im Nahen Osten oder in Indonesien die Frage nach den elementarsten Bürger- und Freiheitsrechten stellt, drängt sich
dort wie hier die Frage nach den WSK-Rechten auf. Man
kann das nicht trennen; solche Probleme gibt es nicht nur
in der so genannten Dritten Welt, sondern auch vor unserer eigenen Haustür.
Eine Reihe von Fachleuten hat bereits konstatiert, Zustände wie in Städten der Dritten Welt hätten unsere Metropolen erreicht: französische Vorstädte, Vorstädte Hamburgs oder Stadtteile Berlins. Dies sind Orte, an denen
sich Armut und soziale Ausgrenzung über Generationen
fortsetzen, wo Bildung und Kultur aus der Reichweite vieler Menschen verschwunden sind, Orte, die Elend sind,
die Elend produzieren und die Elend verstetigen. Wir
müssen das nicht zügig prüfen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, sondern Aufgabe von Politik ist es, das zu ändern - hier und in andern Teilen der Welt.
({5})
Wer die Idee der Globalisierung, wer kosmopolitisches
Denken befürwortet, der muss einer sich globalisierenden
Ökonomie eine sich globalisierende Gesellschaft mit sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen sowie bürgerlichen
und politischen Rechten entgegensetzen, damit der einzelne Mensch nicht dazu verurteilt bleibt, Spielball übermächtiger Kräfte zu sein.
({6})
Die konsequente Forderung nach einen Individualbeschwerderecht auch bei Verstößen gegen den WSK-Pakt,
die in Ihrem Antrag nur leicht anklingt, ist dafür ein erster wichtiger Schritt, wenn auch kein Allheilmittel. Es
wäre ein Signal, dass die Gleichrangigkeit von politischen
und WSK-Rechten strukturell ernst genommen wird. Die
Bundesregierung sollte dabei eine Vorreiterrolle spielen.
Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wird
dazu allerdings wenig beitragen.
({7})
Deshalb kann ich Sie nur dringend auffordern, sich bei
den Ausschussberatungen mit unserem deutlich konkreteren WSK-Antrag intensiv auseinander zu setzen.
Aus Zeitgründen nur noch einen Satz zu dem Antrag
der CDU/CSU zu so genannten Ehrenmorden. Kollegin
Brudlewsky hat eben in ihrer letzen Bundestagsrede darauf Bezug genommen und hat dargestellt, dass es hierzu
große Einigkeit im Ausschuss gab. Mein jüngster Besuch
mit dem Menschenrechtsausschuss in Pakistan hat mir die
Dramatik dieser Problematik nochmals verdeutlicht. Wir
werden dem Antrag selbstverständlich zustimmen. Ich
finde es wichtig, Folgendes in diesem Zusammenhang
hervorzuheben: Gewalt gegen Frauen, liebe Kollegen,
ist vor allem ein Problem der Männer.
({8})
Die Frauen sind in allererster Hinsicht Opfer, die sich entweder selber wehren oder des rechtlichen wie gesellschaftlichen Schutzes bedürfen. Aber lösen können sie
das Problem nicht. Das ist Aufgabe des männlichen Teils
der Welt.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen heute zwei
konkrete Anträge vor, die sich mit zwei Arten von
Menschenrechtsverletzungen befassen. Ich möchte auf
diese beiden Anträge, also auf den Antrag zum Thema der
„Ehrenmorde“ an Frauen und auf den Antrag zum
Thema Folter, eingehen.
Vor knapp zwei Jahren lernte ich in der deutschen Botschaft in Islamabad Hian Jilani, eine Rechtsanwältin aus
Lahore, kennen. Sie erzählte, wie 1999 eine 28-jährige
Pakistanerin in ihrer Kanzlei erschossen wurde, weil sie
sich von ihrem Mann scheiden lassen wollte. Die Mutter
des Opfers hatte den Mörder mit in die Kanzlei gebracht.
Nach dem Mord verließen beide in aller Seelenruhe die
Kanzlei.
Ein halbes Jahr später war trotz der Anstrengungen der
Rechtsanwältin weder gegen den Mörder noch gegen die
Mutter ermittelt oder gar Anklage erhoben worden. Der
Vater der Ermordeten war weiterhin Vorsitzender der
Handelskammer in Peshawar, obwohl er die Ermordung
der Tochter öffentlich gutgeheißen hatte. Die Begründung
für dieses Verbrechen war: Die Familienehre habe gewahrt werden müssen, weil die Tochter das Unvorstellbare verlangt hatte, nämlich die Scheidung. Die Rechtsanwältin musste um ihr Leben fürchten.
Dies beschreibt einen ganz spektakulären Fall eines so
genannten Ehrenmordes. Das Wort „Ehrenmorde“ sollte
man dabei immer in Anführungszeichen setzen;
({0})
denn den Euphemismus sollte man sich in dem Fall sparen und besser von dem sprechen, was es wirklich ist,
nämlich von „Schandemorden“.
({1})
Noch immer sterben Frauen an den Verletzungen, die
ihnen zugefügt werden. Aber nicht immer sterben sie. Im
Frauenhaus der Shanaz Bokhari in Rawalpindi habe ich
vor ziemlich genau einem Jahr Frauen besucht, die auch
mir, einer Frau gegenüber, das Tuch nicht vom Gesicht
genommen haben, weil sie durch die Brandnarben so entstellt waren, dass sie sich geschämt haben, sich zu zeigen.
Jede Bewegung, die diese Frauen gemacht haben, war wegen der Vernarbungen die schiere Folter.
Frau Bokhari hat seit 1994 durch Recherchen an den
Krankenhäusern in Islamabad und Rawalpindi mehrere
Tausend solcher Fälle untersucht und erfasst und sich um
die körperliche und seelische Rehabilitation dieser Frauen
gekümmert. Sie hat auf Anregung der SPD-Bundestagsfraktion für ihre Arbeit erst kürzlich den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar erhalten. Ich bin glücklich, heute
hier mitteilen zu können, dass es uns gelungen ist, eine
dauerhaftere Förderung für ihr Frauenhaus zu finden.
({2})
Der Antrag, der uns heute vorliegt, beschreibt die
Hintergründe dieser unglaublichen Menschenrechtsverletzungen. Diese Frauen, die wir damals gesehen haben,
waren von ihren Vätern, Söhnen, Brüdern, Onkeln
verstümmelt worden, um die vermeintlich beschädigte Familienehre wieder herzustellen. Dabei genügt für die Verletzung dieser Ehre oft eine unbewiesene Vermutung.
Manchmal ist es nur ein Traum, den der Mann hatte. Oft sind
aber selbst dies nur vorgeschobene Gründe. Oft ist es
schlicht und einfach so, dass die Frau einer anderen, neuen
Frau Platz machen muss. Diese Vorgehensweise ist
Bestandteil einer gesellschaftsimmanenten alltäglichen
Gewalt gegen Frauen, die in einer Reihe von Ländern, vorwiegend in Asien und dem Nahen Osten, praktiziert wird.
Wie nimmt die nationale Politik dieser Länder diese
Verbrechen wahr? In Jordanien kämpft das Königshaus
gegen diese Praxis. Im 1999 aufgelösten pakistanischen
Parlament haben allerdings lediglich vier von insgesamt
87 Abgeordneten einem Gesetzentwurf zum Schutz der
Frauen vor Schandemorden zugestimmt. Auch die derzeitige Regierung unter General Musharraf nimmt zumindest meines Erachtens diese Menschenrechtsverletzungen
zu wenig ernst. So hat die pakistanische Justizministerin
vor wenigen Wochen in einem Gespräch, welches wir mit
ihr führen konnten, zwar über schwierige Beweisführungen, fehlende finanzielle Unterstützung, Korruption und
eine fehlende Kooperation mit den Provinzen geklagt,
aber ein wirksames Konzept, eine konkrete Maßnahme
gegen diese Dinge hat sie nicht vorlegen können.
Die heutige Debatte macht deutlich, dass wir parteiübergreifend über solch entsetzliche Verbrechen und die
Untätigkeit des Staates nicht einfach hinweggehen, sondern Druck auf die Länder machen wollen, in denen diese
Praxis vorherrscht. Wir werden deshalb dem Antrag der
CDU/CSU in der vom Ausschuss geänderten Form zustimmen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sagen, was auch schon die Kolleginnen Brudlewsky und
Christa Nickels erwähnt haben: Wir sind uns in diesem
Ausschuss oft einig. Das hat etwas mit den Themenbereichen zu tun, mit denen wir uns beschäftigen. Ich glaube
aber, dass es auch etwas damit zu tun hat, wie die Mitarbeiter die Vorlagen vorbesprechen, wie man versucht, aufeinander zuzugehen.
({3})
Ich möchte infolgedessen die Gelegenheit nutzen, auch
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein herzliches
Dankeschön zu sagen.
({4})
Internationaler Druck ist auch bei der weltweiten
Bekämpfung der Folter notwendig. Obwohl ihr Verbot
in zahlreichen Konventionen verankert ist, ist die Folter in
mindestens 70 Ländern der Welt immer noch eine weit
verbreitete Praxis. Nach dem 11. September 2001 hat bei
manchem die Akzeptanz der Folter sicherlich nicht gerade
abgenommen. Gefoltert wird in diesen Ländern insbesondere in Polizeistationen in den ersten Stunden und Tagen
der Haft und zur Erpressung von Geständnissen, aber
auch in Gefängnissen. Das immerwährende Abspielen
von Musik - von den Nazis gegenüber den Mitgliedern
der Roten Kapelle angewandt - ist genauso Folter wie
Vergewaltigung, Elektroschocks an Genitalien oder ein
Baby vor den Augen der Mutter vor einen scharfen Hund
zu legen. Dass dies Praxis ist, haben wir bei einer Reise in
die Türkei erfahren. Folteropfer sind oft politisch und religiös Andersdenkende, Mitglieder von Minderheiten und
sehr oft auch Frauen und Kinder.
Folter bereitet nicht nur körperliche Schmerzen, sondern verwundet die Psyche des Opfers nachhaltig. Die
Scham über die Erniedrigung in der Folter verschließt den
Opfern oft den Mund. Erst lange Zeit nach den traumatisierenden Erlebnissen können viele Menschen darüber
sprechen; manche können es nie. Man muss auch wissen,
dass Folter die Persönlichkeit der Opfer grundlegend verändert. Aggressivität und Depressionen gehören zu klinisch feststellbaren Folgen. Dies bestätigt unter anderem
das Zentrum für Folteropfer in Berlin, das wir sowohl
vom Ausschuss als auch von der Fraktion her öfter besucht haben. Bei der Vernehmung von Folteropfern, zum
Beispiel im Rahmen eines Asylverfahrens, muss deshalb
sehr sensibel vorgegangen werden. Ich freue mich, dass
das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge seine Mitarbeiter diesbezüglich inzwischen
intensiv schult.
({5})
Folter findet nicht nur in den Ländern des Südens statt.
Es gibt aber eine Reihe von Ländern, in denen die Folter
Angelika Graf ({6})
alltäglich ist. Ich nehme an, dass wir uns im Ausschuss bei
der Beratung der heute eingebrachten Anträge zu Vietnam
und zum Sudan auch mit diesem Themenbereich beschäftigen werden. Folter kann nicht mit der kulturellen Eigenart oder der Notwendigkeit von Geständnissen entschuldigt werden. Um Folter zu verhindern, müssen Folterer
hart bestraft werden und dürfen nicht von Vorgesetzten
gedeckt werden können.
Hilfreich sind hierbei sicherlich Besuche von internationalen Delegationen in Polizeistationen und Gefängnissen, die eine gewisse Öffentlichkeit der Vorgänge herstellen können. Unabdingbar ist eine bessere Ausbildung des
Personals der Polizei und in den Haftanstalten. Hierbei
bietet die Bundesregierung bereits einer Reihe von Ländern ihre Hilfe an. Hilfe für die Opfer und Unterstützung
für die örtlichen Hilfsorganisationen und kritischen Medien müssen hinzukommen.
Ein wichtiges Fazit ist: Wer die Folter wirksam bekämpfen und den Folteropfern helfen will, muss an vielen Punkten der nationalen und internationalen Politik ansetzen.
Eindimensionale Lösungen wird es hier nicht geben.
Ich meine, der vorliegende Antrag fasst in sehr guter,
um nicht zu sagen in hervorragender Weise - das sage ich
nicht deshalb, weil der Antrag von uns kommt - die Ergebnisse einer Anhörung des Menschenrechtsausschusses
vom 17. Oktober 2001 zusammen und formuliert daraus
18 diesbezügliche Forderungen an die Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden uns
freuen, wenn wir die vorhin beschriebene und beschworene Einmütigkeit auch in diesem Zusammenhang bei Ihnen finden könnten.
({7})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Heiner Geißler von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man
heute in die Tageszeitungen schaut und die Berichte über
konkrete Menschenrechtsverletzungen liest, weiß man
gar nicht so richtig, wo man anfangen soll.
Weil es eine grundsätzliche Frage ist, will ich den Vorfall mit der nigerianischen Frau hier noch einmal zur
Sprache bringen. Sie wurde vergewaltigt und soll jetzt in
einem bestimmten Bundesstaat in Nigeria wegen Ehebruchs gesteinigt werden. Das sind keine Einzelexzesse
von sexualneurotischen Mullahs, sondern es ist ein System zu erkennen. Wegen der Einführung der Scharia in
Nigeria sind inzwischen 10 000 Christen geflüchtet.
Wir müssen uns mit dieser Form des Islamismus auseinander setzen. Diese Barbarei religiös zu begründen, ist
eine mindestens genauso schlimme Blasphemie wie
Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Inquisitionen.
({0})
Diese barbarische und extreme Form des Islamismus ist
genauso zu ächten wie die weltweite Folter. Man kann
dies nicht damit begründen, dass es im Namen Allahs geschieht. Das ist ein Missbrauch des Namens Gottes. Das
haben wir hier bei der letzten Debatte schon festgestellt.
Die Anmaßung, Menschenrechte verletzen zu dürfen
- wie es zum Beispiel die Singapur-Schule, Malaysia und
andere tun -, auf eine eigene kulturelle Tradition zurückzuführen, ist nichts anderes als eine Irreführung und dient
vielmehr ausschließlich der ideologischen Zementierung
der eigenen Machtposition.
Das gilt im Übrigen auch für Saudi-Arabien.
({1})
Ich will noch einen Punkt ansprechen, über den wir im
Menschenrechtsausschuss schon ein paar Mal auch mit
dem Innenminister geredet haben: In der „Süddeutschen
Zeitung“ erscheint heute im NRW-Report ein Bericht
über das Abschiebegefängnis in Neuss. Ich will zu dem
Schicksal der kurdischen Frau, die nach 13 Jahren abgeschoben werden soll, nicht Stellung nehmen. Ihr Vater hat
hier Asyl oder zumindest eine Duldung bekommen, weil
er gefoltert wurde. Diese Sache ist bekannt. Aber diese
Frau, die nach 13 Jahren abgeschoben werden soll, hat gesagt, dass sie kein Türkisch, sondern nur Deutsch könne.
Mir ist etwas anderes aufgefallen. Die Betreuungsgruppe „efa“ kritisiert ausdrücklich, dass innerhalb dieses
Gefängnisses in Neuss, in dem 72 Frauen auf die Abschiebung warten, weder eine Psychologin noch eine
Übersetzerin für die oftmals traumatisierten Frauen tätig
ist. Sie verurteilt, dass es Männer sind, die diese Insassinnen medizinisch betreuen. Wir alle miteinander waren uns
nach langen Diskussionen darüber einig, dass gerade
traumatisierte Frauen nicht wieder in die Hände von
Männern fallen sollen, weil sie dann nach den Erfahrungen, die sie gemacht haben, einfach unfähig sind, Auskünfte zu geben.
Frau Nickels, ich möchte vorschlagen, dass wir an den
Innenminister von Nordrhein-Westfalen herantreten, damit er sich um dieses Gefängnis und die dortigen Verhältnisse kümmert.
({2})
Beim Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin habe
ich mich darüber informiert, dass nach Möglichkeit vermieden werden soll, diese traumatisierten Frauen von Polizeiärzten überprüfen zu lassen. Zudem bleibt die Frage,
ob sie dazu überhaupt in der Lage sind. Sie sind dafür
auch gar nicht ausgebildet.
Ich will etwas zur Folter sagen. Sie gehört ganz zweifelsfrei zur widerwärtigsten und perversesten Form der
Intoleranz gegenüber Untergebenen und Gefangenen.
Diese perverse Form der Intoleranz erlauben sich viele
Staaten und sie wird auch von Behörden durchgeführt.
Frau Graf hat die Zahlen genannt. Ich will sie nicht noch
einmal vertiefen. Aber nach dem letzten Bericht von „amnesty“ - die Zahlen stammen aus dem Jahre 1999 - kam
Angelika Graf ({3})
es in 125 Staaten zu Folter und Misshandlungen von Gefangenen. In 81 Staaten starben Menschen an der Folge
systematischer Folter.
Dazu gehören auch solche, mit denen Deutschland intensive Beziehungen pflegt. Ich will diese Staaten einmal
nennen. Es sind China, die Türkei, Indonesien, der Irak,
der Iran, Syrien, Birma, Algerien, Tunesien, Mexiko, Indien und leider auch Israel. Auch das muss man ehrlich
sagen.
({4})
In den meisten Ländern gibt es sogar offizielle Foltermethoden, die im Polizeiunterricht gelehrt werden. Allein in
Syrien sind es 36 offizielle Foltermethoden.
Damit die Bundesregierung nicht glaubt, ich würde
blauäugig die Philosophie vertreten, man solle die wirtschaftlichen Beziehungen zu Ländern abbrechen, in denen gefoltert wird, will ich hinzufügen: Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir dann mit drei Vierteln der Welt
keine wirtschaftlichen Beziehungen mehr unterhalten
könnten. Aber wir alle miteinander im Bundestag haben
schon 1988 unsere eigene Regierung, aber auch die Unternehmer aufgefordert, dass sie in diesen Staaten bei
ihren politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen
Verhandlungen und sonstigen Gesprächen gleichzeitig
immer wieder die Frage der Menschenrechte ansprechen.
({5})
Ich finde, das muss bekräftigt werden.
Wir sollten wirklich dafür sorgen, dass wir, bevor wir
das Wort Euro in den Mund nehmen - so muss man ja jetzt
sagen -, immer wieder die Menschenrechtsfragen ansprechen. Ich möchte den Minister ausdrücklich ermuntern,
dies auch in der Zukunft fortzusetzen.
({6})
Das gilt auch Staaten gegenüber, mit denen wir traditionell oder aufgrund gemeinsamer Zukunftsperspektiven
gute Beziehungen haben.
Dürfen Geschäftsbeziehungen, Gewinne oder der Abschluss von Verträgen wirklich so die Hirne von Demokraten und Unternehmern verwirren, dass sie die
Folterknechte nicht mehr sehen, die hinter ihren Geschäftspartnern stehen und grinsen? Kannibalen werden,
wenn sie mit Messer und Gabel essen, nicht zu zivilisierten Menschen und haben vor allem nicht das Recht, im
Namen derer zu sprechen, die sie gefressen haben,
({7})
so sagt der Satiriker und Lyriker Stanislaw Jerzy. Es geht
aber jedem so. Jeder normale Bürger muss doch misstrauisch werden, wenn der Polizeihund mit dem Schwanz
wedelt. Das müsste somit auch für jeden Geschäftsreisenden gelten.
Was China anbelangt: Ich höre dauernd die Klagen
wegen der Korruption. Auf dem letzten Volkskongress hat
der Ministerpräsident laut darüber Klage geführt. Man
kann die Korruption in China nicht so bekämpfen, wie es
dort gemacht wird. Korruption kann man nur bekämpfen,
wenn man eine unabhängige Staatsanwaltschaft und eine
freie Presse hat. Überall auf der Welt werden die Korruptionsfälle nicht von den Regierungen aufgedeckt. Sie sind
meistens darin verwickelt. Das ist doch klar: Es hat dann
kein Mensch ein Interesse daran, dass es herauskommt.
Korruptionsfälle werden in aller Regel nur durch Journalisten, durch die Presse, aufgedeckt. Wenn China mit der
Korruption fertig werden will - es wäre sinvoll gewesen,
wenn das der Inhalt dieses Antrages gewesen wäre -, dann
muss es endlich die Presse- und Informationsfreiheit einführen. Das ist der beste Weg, um mit diesem Geschwür
fertig zu werden.
({8})
Peter Weiss hat in seinem Drama „Die Ermittlung“ den
Gesang von der Schaukel geschrieben; ein unglaubliches
Gedicht. Er beschreibt darin die so genannte BogerSchaukel, die in den Konzentrationslagern der SS ein beliebtes Folterinstrument war, das insbesondere bei Juden
ausprobiert wurde. Jetzt lese ich in dem letzten Bericht
von Amnesty International, dass ausgerechnet in Israel die
Folter wieder systematisch eingeführt wird.
Was schlimmer ist, lieber Herr Fischer - ich muss das
hier sagen und Sie werden sicherlich mit mir übereinstimmen -: Wir müssen auf etwas anderes aufpassen. Seit dem
11. September wird in den Vereinigten Staaten die Frage
diskutiert, ob Menschenrechte nicht ein Luxusgut der Zivilisation seien, auf die man in Notzeiten schon einmal verzichten könnte. Jonathan Alter, ein berühmter Journalist,
schreibt in „Newsweek“: Es wird Zeit, über die Folter
nachzudenken. Das FBI verdiene eine Chance. - Heute
steht in der „Zeit“, dass das nicht nur Spinnereien von Journalisten sind, sondern dass die Sache bereits realisiert wird.
Die „Washington Post“ hat einen Fall recherchiert, wo ein
Verdächtiger von den Philippinen nach Ägypten transportiert worden ist, weil man ihn nicht in den USA selber foltern will. Man bringt die Leute in befreundete Staaten, die
dann sozusagen diese Sauarbeit für die Demokraten verrichten. Ein hoher Beamter hat der „Washington Post“ bestätigt, dass es Dutzende ähnlicher Fälle gibt.
Wir müssen feststellen, dass niemals der Zweck die
Mittel heiligen darf, vor allem nicht, wenn es sich bei den
Mitteln um Mord oder Folter handelt.
({9})
Man kann natürlich viele Gründe anführen, auch vonseiten der Polizei. Es gäbe aber auf der Welt kein Halten
mehr. Alle Staaten, die wir und andere westliche Demokratien mit Mühe und Not durch unsere Bemühungen dazu
gebracht haben, den Weg des Rechts, auch des internationalen Rechts, zu gehen, würden doch in die unmenschlichen Praktiken zurückfallen. Der gesamte zivilisatorische
Fortschritt, den wir erreicht haben, würde infrage gestellt.
Folter in den USA - das ist unglaublich. In den Vereinigten Staaten sollte nicht die Folter eingeführt, sondern endlich die Todesstrafe abgeschafft werden.
({10})
Wir verlieren sonst jede moralische Position.
Der amerikanische Justizminister, der zu den christlichen Fundamentalisten gehört, sollte vielleicht in seinem
Amtszimmer ein Kreuz aufhängen und daran denken, dass
dort jemand hängt, der systematisch zu Tode gefoltert worden ist. Das könnte auch ein Anlass sein, über den fundamentalistischen christlichen Standpunkt nachzudenken.
Wenn die westlichen Demokratien mit der Folter beginnen, dann haben sie kein Recht mehr, die Verbrechen
der Despoten und Tyrannen dieser Erde zu brandmarken
und zu verfolgen.
({11})
Dann können wir die Bemühungen aufgeben, die Menschenrechte zum integralen Bestandteil der Außenpolitik
zu machen. Das aber ist unser gemeinsames Ziel.
({12})
Das Wort
hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie
mich - was sicherlich ungewöhnlich ist - mit einem Dank
an den Ausschuss und an Sie, Frau Vorsitzende, beginnen,
weil es sich gerade im Bereich der Menschenrechte als
unglaublich hilfreich erweist, dass die Regierung immer
wieder auf das Parlament und auch zunehmend auf das
Europäische Parlament verweisen kann und dass dabei
die Frage der Menschenrechte und das Selbstbewusstsein
des Parlaments - dabei kommt dem Ausschuss eine ganz
besondere Bedeutung zu - in den Gesprächen mit Regierungen, deren Menschenrechtsbilanz fragwürdig und
manchmal sogar äußerst zweifelhaft und kritikwürdig ist,
für uns von sehr großer Wichtigkeit sind.
({0})
Auch der Hinweis auf den Ratifikationsvorbehalt des
Europäischen Parlaments bei Partnerschafts- und Assoziationsabkommen, die überaus hilfreich und nützlich
sind, erweist sich in Menschenrechtsfragen immer als
sehr hilfreich. Deswegen möchte ich mich an dieser
Stelle bedanken.
Man muss aber auch sehen, dass der Kampf um die
Durchsetzung der Menschenrechte einen elementaren
Bestandteil unserer Außenpolitik darstellt. Dies gilt vor
allen Dingen seit dem 11. September. Denn wenn wir im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus bestehen
wollen, dann müssen wir begreifen, dass es sich nicht nur
um eine machtpolitische Auseinandersetzung, sondern
vor allem auch um eine Werteauseinandersetzung handelt.
({1})
Es wäre einer der fatalsten Erfolge des islamistischen Terrorismus, wenn er uns dazu bringen würde, im Kampf gegen ihn unsere eigenen freiheitlichen und menschenrechtlichen Grundwerte infrage zu stellen.
({2})
Wenn wir uns auf die kommende Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf,
die in wenigen Tagen beginnen wird, vorbereiten, ist es sicherlich wichtig und richtig, dass wir uns dieses 11. Septembers und der Herausforderungen, vor denen wir stehen,
bewusst werden. Aber ich betone noch einmal: Im Kampf
gegen den Terrorismus wird es auch Bündnisse mit Regierungen geben müssen, deren eigene Menschenrechtsbilanz
alles andere als zweifelsfrei ist. Aber für unsere eigene
Haltung als Europäer und Deutsche muss klar sein, dass
Demokraten, Menschenrechtsgruppen und Initiativen, die
sich für Entrechtete und Unterdrückte einsetzen und sich
auf die Charta der Vereinten Nationen und die internationalen Menschenrechtskonventionen berufen, die Freiheit
- auch Meinungs- und Organisationsfreiheit - und Gerechtigkeit wollen und sich für soziale Rechte einsetzen, in
uns immer einen unbestechlichen Anwalt haben werden.
({3})
Das gilt auch und gerade seit dem 11. September. Deswegen muss ich das, was Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, gesagt haben, zurückweisen. Ich weiß aus eigener
Erfahrung, dass bei allen Gesprächen, die der Bundeskanzler und ich in China führen, die Menschenrechtsagenda, die Lage der Christen und der Dissidenten in den
Gefängnissen in der Volksrepublik China und die Demokratisierung immer zentrale Punkte darstellen.
({4})
Ich kann dem Kollegen Geißler in diesem Punkt nur zustimmen und ihm den Vollzug der Regierung melden. Bei
dieser Bundesregierung mit mir als Außenminister rangieren Geschäfte in der Tat nicht vor den Menschenrechten. Ich denke, das muss ich hier nicht noch einmal nachdrücklich unterstreichen.
({5})
Es ist mir vorhin sehr schwer gefallen, ruhig zu bleiben, als sich die PDS bei den Menschenrechtsfragen zu
Wort gemeldet hat.
({6})
- Ich sagte ja: Es ist mir schwer gefallen, ruhig zu bleiben.
Kollege Hübner, Sie haben offenbar noch nicht erlebt, wie
es ist, wenn ich richtig laut werde. Für meine Verhältnisse
war ich vorhin noch oberruhig.
({7})
Ich möchte Ihnen Folgendes sagen - das wird gewiss auch
der eine oder andere in Ihren Reihen so sehen -: Sie dürften sich an der Debatte über die Menschenrechte eigentlich nicht mehr beteiligen, wenn Sie sich von der Solidaritätskundgebung, die ein Teil Ihrer Partei vor dem
Schöneberger Rathaus für Herrn Milosevic veranstaltet
hat, nicht zweifelsfrei distanzieren, wobei distanzieren
der falsche Begriff ist.
({8})
Ich frage mich, was Sie eigentlich mit solchen Leuten gemein haben.
({9})
- Eben! Dann müssen Sie aber auch die Konsequenzen
ziehen, wenn Sie mit solchen Leuten nichts zu tun haben.
Ich unterstelle Ihnen ja gar nicht, dass Sie mit solchen
Leuten etwas gemein haben. Nur, es muss zweifelsfrei
klar sein, dass es mit solchen Leuten wie Herrn Milosevic
keine Solidarität geben darf. Sie müssen sich vielmehr im
Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten. Das scheint mir
der entscheidende Punkt zu sein.
({10})
- Herr Hübner, bitte.
({11})
Wir haben das
auf dem kurzen Dienstweg erledigt. Das ist zwischen
Herrn Fischer und mir so üblich.
Bitte, Herr Hübner.
Herr Außenminister, sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in den letzten
Jahren weder im Fall Milosevic noch in anderen Fällen
von Menschenrechtsverletzungen, die in direktem oder
indirektem Zusammenhang mit der Politik beispielsweise
sozialistischer Länder stehen, ein Blatt vor den Mund genommen habe, auch nicht in der Plenardebatte etwa über
die Menschenrechtsverletzungen in China? Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass ich es für problematisch halte,
dass Sie mir solche Dinge vorhalten, wenn ich mich zu
Menschenrechtsproblemen in anderen Ländern zu Wort
melde? Ich empfinde das als eine Retourkutsche, die weder dem Sachverhalt noch dem Redner angemessen ist.
({0})
Herr Hübner,
Sie müssen stehen bleiben.
Meinetwegen kann er sich auch hinsetzen. Ich antworte
ihm trotzdem.
({0})
Herr Kollege Hübner, Sie haben gerade ein hohes Maß
an Sensibilität gezeigt, das Sie bei Ihrer Kritik an der Regierungskoalition vermissen ließen. Das möchte ich nicht
weiter vertiefen. Aber ich kann mich noch sehr gut an Ihre
Reden erinnern, die Sie während des Kosovo-Krieges gehalten haben. Auch das möchte ich nicht vertiefen. Damals konnte keine Rede davon sein, dass Sie kein Blatt
vor den Mund genommen hätten. Sie haben ganz einfach
geschwiegen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich fand es
unerhört, dass es eine Veranstaltung unter der Überschrift
„PDS - Solidarität mit Milosevic“ vor dem Schöneberger
Rathaus gab. So etwas darf es nicht geben. Das ist alles,
was ich Ihnen sagen wollte. Ich würde mich freuen, wenn
Sie das klarstellten.
({1})
Wir stehen vor einer wichtigen Konferenz. Ich denke,
dass sich nun, nachdem Italien seine Kandidatur zurückgezogen hat, vier Länder aus der westlichen Gruppe, darunter Deutschland und die USA, um die vier freien Plätze
in der VN-Menschenrechtskommission bewerben werden. Ich bin mir sicher, dass die USA wieder Mitglied dieser Kommission sein werden. Ich halte das unter allen Gesichtspunkten für sehr wichtig. Ich finde es auch richtig,
dass wir in der westlichen Gruppe ein Rotationsverfahren
einführen werden. Dann werden wir nicht länger von der
Gnade höchst zweifelhafter Mitgliedsländer abhängig
sein. Solche Mitgliedsländer dürfen nicht entscheiden,
wer Mitglied der VN-Menschenrechtskommission werden kann und wer nicht.
({2})
Das heißt aber auch, dass die Bundesrepublik Deutschland, die von Anfang an Mitglied der VN-Menschenrechtskommission ist, beim nächsten Mal aussetzen wird.
Ich kündige das bereits hier an. So ist es in der westlichen
Gruppe abgesprochen worden, damit das Rotationsverfahren in Gang gesetzt werden kann.
Noch ein Wort zu einzelnen Ländern: Die China-Resolution hat bisher leider noch keine Mehrheit gefunden,
auch nicht beim letzten Mal. Die amerikanische Initiative
hat im Verfahren keine Mehrheit gefunden, obwohl die
Europäische Union entschlossen war, zuzustimmen. Ich
sage Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, in diesem
Zusammenhang: Es ist von überragender Bedeutung, dass
die Europäer in Menschenrechtsfragen eine geschlossene
Position einnehmen. Ich würde mir sicherlich in vielen
Fragen eine härtere Gangart wünschen. Damit hätte ich
auf der nationalen Ebene überhaupt kein Problem. Tatsache ist aber, dass wir einen europäischen Konsens brauchen. Dieser europäische Konsens ist gerade im Rahmen
der Vereinten Nationen unverzichtbar und das gilt auch
für die Menschenrechtskommission. Das ist anders als in
früheren Jahren und anders als zu der Zeit, in der ich im
ersten Jahr Außenminister war. Die Bedeutung einer geschlossenen europäischen Position nimmt zu.
Wir werden uns dennoch darum bemühen, dass die Situation in Tschetschenien thematisiert wird. Selbst wenn
es zur Situation in China keine Resolution geben wird,
werde ich das - das kann ich Ihnen hier schon zusagen in der Rede thematisieren. Ich habe bisher in jedem Jahr
in meiner Rede die entscheidenden Punkte benannt; das
gilt auch für andere.
({3})
- Es ist typisch, dass der Zwischenruf „Auch von den
USA?“ von Ihnen kommt,
({4})
und ich will Ihnen auch sagen, warum. Da unterscheide
ich mich übrigens vom Kollegen Geißler, allerdings gar
nicht so sehr in dem, was er in der Sache kritisiert hat,
nämlich dass es in Rechtsstaaten und Demokratien zum
Beispiel Folter nicht geben darf,
({5})
dass es dafür keinen Grund gibt, dass der Zweck die Mittel
nicht heiligt. Ich erinnere mich aber daran, dass es in
schwierigeren Zeiten bei uns diesbezüglich auch schon einmal einzelne andere Meinungen gegeben hat, nicht unbedingt von Personen aus dem politischen Spektrum, das mir
nahe steht. Ich meine die 70er- und frühen 80er-Jahre; ich
könnte auch Namen nennen. Ich unterstelle Ihnen da nichts.
Die USA und Israel sind Rechtsstaaten und Demokratien, in denen wie bei uns zum Teil abwegige Positionen
geäußert werden. Nur, sie sind Rechtsstaaten und das unterscheidet sie elementar von den anderen Fällen, die Sie
genannt haben. Jeder dort kann bis zum obersten Gerichtshof gehen. Ich vertraue völlig auf die rechtsstaatliche Tradition dieser beiden Demokratien. Bei allem, was wir im
Einzelfall bei uns und auch bei ihnen zu kritisieren haben,
würde ich sie niemals in einem Atemzug mit Iran, mit Syrien und mit anderen Staaten nennen. Ich habe schwerste
Bedenken, dies gleichzusetzen.
({6})
Demokratien und Rechtsstaaten sind nicht vor Fehlern
und Irrtümern und auch nicht vor abwegigen Meinungen
gefeit - das gilt für unsere eigene Demokratie ebenfalls -,
aber sie haben ein Verfahren, das um Lichtjahre besser ist,
gerade weil sie Rechtsstaaten sind: Es gibt den Individualschutz für jede einzelne Bürgerin und für jeden einzelnen Bürger. Deswegen finde ich, dass der Zwischenruf
„Auch von den USA?“ in diesem Zusammenhang schlicht
und einfach an der Sache vorbeigeht.
Meine Damen und Herren, wir werden die schwierigen
Länderresolutionen auf der Konferenz diskutieren. Wir
werden uns auch bemühen, die Fragen, die Sie angesprochen haben, zum Beispiel Folter, zu thematisieren. Ich
glaube, dass die Frage der Vereinbarkeit der Scharia mit
den Konventionen das zentrale Thema im Dialog mit dem
Islam ist.
({7})
Ich habe mir erlaubt, das auch in dieser Offenheit auf der
Istanbuler Konferenz anzusprechen.
Die Tagung der Menschenrechtskommission wird in
einem sehr, sehr schwierigen Umfeld stattfinden. Wir
werden auf der Grundlage unserer bisherigen Position,
nämlich dass die Menschenrechte integraler Bestandteil
unserer Grundwerte und damit auch unserer Politik sind,
wie in den vergangenen Jahren auch dort klar Stellung beziehen.
({8})
Zu einer Kurzintervention erhält der Herr Kollege Geißler das Wort.
Lieber Herr Fischer,
ich bin völlig ungeeignet, vom Bundesaußenminister als
Kritiker der USA charakterisiert zu werden. Selbstverständlich sind Israel und die Vereinigten Staaten Demokratien. Umso höhere Ansprüche - das ist das Problem müssen sie an sich selber stellen.
({0})
Ich will das einmal von der Geschichte her betrachten,
auch wenn Vergleiche da immer gefährlich sind. Ich erwähne die Gefangenen auf Guantanamo. Einem Muslim
den Bart abzuschneiden
({1})
und ihn kahl zu scheren ist ungefähr genauso schlimm,
wie wenn man einem Juden das Käppi zerfetzt. Wir haben
in früheren Zeiten ähnliche Bilder gesehen. Wenn ferner
Präsident Bush das Wort „Kreuzzug“ in den Mund nimmt,
dann ist das für viele Muslime genauso schlimm wie das
Wort „Holocaust“ für Juden. Damit werden die Vereinigten Staaten und wir mit ihnen eines Stückes unserer moralischen Autorität beraubt.
Ich bringe hier eine Sorge zum Ausdruck, wenn ich darauf hinweise, dass solche Gedanken in unseren rechtsstaatlichen Demokratien geäußert und von Verwaltungen
möglicherweise sogar aufgenommen werden. Aus Solidarität zu den Vereinigten Staaten müssen wir in der Lage
sein, so etwas zu kritisieren.
({2})
Zur Erwiderung
hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
das Wort.
Herr Kollege Geißler, es war nicht meine Absicht, Ihnen
vorzuschreiben, was Sie zu kritisieren und was Sie nicht
zu kritisieren haben. Wo kämen wir denn da hin? Hier, im
Bundestag, muss alles kritisiert werden können.
Gestatten Sie mir allerdings, darauf hinzuweisen, dass
ich schlicht und einfach in der Reihung ein Problem gesehen habe. Für mich besteht in der Tat ein Unterschied.
Demokratien haben einen höheren Standard zu halten; insofern ist an sie, auch an uns selbst, ein höherer Maßstab
anzulegen. Wir müssen einfach sehen: Diese Debatte steht
im Zusammenhang mit dem furchtbaren Terroranschlag
vom 11. September. Sie wurde in den USA selbst - das
muss man auch sehen - auf das Schärfste zurückgewiesen. Das ist nicht die Entscheidungsgrundlage.
Ich hätte mir von Anfang an gewünscht, dass in Guantanamo bis zur Klärung des Rechtsstatus die entsprechende Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen gilt. Darauf haben die Europäer, die Europäische
Union, aber auch die Bundesregierung hingewiesen. Es ist
dann zu einer entsprechenden Entscheidung gekommen.
Aber eines bitte ich Sie, zu bedenken: Wir müssen Acht
geben, dass wir uns begrifflich nicht völlig vergaloppieren.
Kreuzzüge sind das eine. Bei der Einnahme Jerusalems
1099 durch das erste Kreuzfahrerheer wurde die gesamte
muslimische und jüdische Bevölkerung abgeschlachtet alle. Ich würde das aber nicht mit dem Holocaust gleichsetzen. Insofern rate ich in diesem Zusammenhang - man
hat es mit, wie ich finde, einmaligen Menschheitsverbrechen zu tun - zu einer sehr präzisen Wortwahl; denn sonst
bekommen wir eine Debatte, die meines Erachtens in eine
Sackgasse führt. Das kann nicht im Interesse des gemeinsamen Einsatzes für die Menschenrechte sein.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christoph Moosbauer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Außenminister hat
mir leider Redezeit weggenommen. Ich werde prüfen, ob
das eine Verletzung meiner politischen Rechte ist.
({0})
Ich unterstütze die Bundesregierung in ihrem Bemühen,
die Menschenrechte zum Kern der Außenpolitik zu machen und dementsprechend zu berücksichtigen, natürlich
weiterhin.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi
Annan, hat an dieser Stelle, vor dem Bundestag, kürzlich
noch einmal betont, dass es die gemeinsame Anstrengung
der Staatengemeinschaft sein muss, einen nachhaltigen
Frieden zu schaffen. Er hat damit auch darauf hingewiesen, dass es nicht nur darauf ankommt, Konflikte in der
Welt zu beenden, sondern vor allen Dingen darauf, Demokratie und Menschenrechte dauerhaft zu wahren. Daher ist es auch unsere Aufgabe, den zivilen Frieden täglich
aufs Neue zu wahren sowie für die Demokratie und die
Menschenrechte auch in unserem Land zu kämpfen.
({1})
Freiheit und Demokratie zu erringen ist für viele Länder erst ein Anfang. Demokratie bewährt sich vor allen
Dingen im Umgang mit den Menschenrechten.
({2})
In vielen Teilen der Erde bleiben vielen Menschen rudimentäre Menschenrechte tagtäglich versagt. Die Kolleginnen und Kollegen haben auf Tschetschenien, auf Palästina, auf Tibet, auf den Sudan und auf viele andere Orte
dieser Welt hingewiesen. Aber auch in Gesellschaften, die
Demokratie und Freiheit errungen haben, werden jeden
Tag bürgerliche, politische und auch soziale Rechte verletzt. Daher ist die im Sozialpakt festgeschriebene Berichtspflicht der Staaten keine lästige Fleißaufgabe, sondern eine wichtige Instanz bei der Umsetzung der im Pakt
festgehaltenen Rechte.
Durch den uns vorliegenden Antrag zur „Stärkung der
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Völkerrecht und im internationalen Bereich“ soll gerade dieses Instrument gestärkt werden. In ihm wird die Bundesregierung aufgefordert, bei der Erstellung ihres Berichts
auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen einzubinden, die gegenüber Verletzungen der im Sozialpakt niedergelegten Rechte oft sensibler sind.
Außerdem soll in Zukunft der Bericht publik gemacht
und auch öffentlich diskutiert werden. Das schafft nicht
nur zusätzliche Transparenz, sondern stärkt auch das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Rechte in der Öffentlichkeit. Nur wenn dieses Bewusstsein geschärft wird, können die Menschenrechte dauerhaft verteidigt werden. Die
Berichtspflicht und die im Antrag vorgesehene Stärkung
des Instruments als gering abzutun, wie es oft getan wird,
ist daher falsch.
Zusätzlich müssen wir aber engagiert auf ein Zusatzprotokoll zum Sozialpakt hinarbeiten, das die Möglichkeit von praktikablen Individual- und auch Kollektivbeschwerden ermöglicht, wie es etwa beim Zivilpakt der
Fall ist. Erst wenn betroffene Menschen ihre Rechte auch
wirksam einklagen können, ist der Wesensbestand der
Menschenrechte gesichert.
({3})
Auch das steht im Antrag, im Übrigen nicht im Konjunktiv, wie der Kollege Hübner sagte. Ich will es einmal zitieren:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ... für ein Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt einzutreten ...
Wollte man es noch stärker formulieren, hätte man nur sagen können, man müsse die Bundesregierung zwingen,
dass das passiert. Das können wir natürlich nicht.
Ich danke dem Menschenrechtsausschuss für seine Arbeit und ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen für
die vielen Anträge, die jetzt vorliegen. Wenn wir es wirklich schaffen, die Menschenrechte zum Kernbestandteil
der Außenpolitik zu machen, dann haben wir hier im Parlament gute Arbeit geleistet.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „58. Tagung der VN-Menschenrechtskommission in Genf“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/8376? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung aller anderen Fraktionen angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/8406
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen „Stärkung der wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte im Völkerrecht und im
internationalen Bereich“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei
Enthaltung von FDP und PDS angenommen worden.
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen zur weltweiten Bekämpfung und Ächtung der
Folter, Drucksache 14/8488. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist einstimmig angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/8404 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Im
Namen der ‚Ehre‘ - Gewalt gegen Frauen weltweit ächten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 5 e sowie Zusatzpunkte 4 bis 7:
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8280, 14/8481, 14/8483, 14/8486
und 14/8502 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Maria Böhmer, Dr. Gerhard Friedrich ({0}), Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Maßnahmen der Bundesregierung für eine nationale Bildungsoffensive zur mittel- und langfristigen Behebung des Fachkräftemangels im
IT-Bereich
- Drucksachen 14/4172, 14/6943 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Norbert Hauser.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsmarkt
in Deutschland ist in eine Schieflage geraten. Wir haben
auf der einen Seite 4,3 Millionen Arbeitslose zu beklagen.
Hinzu kommen noch einmal etwa 1,7 Millionen Personen
in Arbeitsförderungsmaßnahmen. Auf der anderen Seite
beklagen wir einen gewaltigen Fachkräftemangel. In der
Zukunft wird es darauf ankommen, diesen gordischen
Knoten in der Bildungs-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zu durchschlagen.
Auch in der IT-Branche gibt es einen Fachkräftemangel. Im letzten Jahr waren etwa 75 000 Stellen - so hat man
errechnet - unbesetzt. Die Schätzungen differierten zwischen 50 000 und 150 000 Stellen. Demgegenüber gab es
fast 70 000 Ingenieure und Naturwissenschaftler, die eine
Stelle suchten, und 32 200 EDV-Fachleute, die arbeitslos
waren. Dies ist eine enorme Verschleuderung von Humankapital, die sich eigentlich kein Staat leisten kann.
({0})
Die Bundesregierung hat bis heute auf diese Probleme
keine geeignete Antwort gefunden. Es gibt eine Reihe von
Programmen; das ist durchaus löblich. Es fehlt aber ein
Gesamtkonzept, und zwar nicht nur für den IT-Bereich.
Weil dies fehlt, greift die Bundesregierung immer wieder
zu Ersatzlösungen.
({1})
So stellt es auch eine Ersatzlösung dar, wenn sie meint, sie
könnte diese Probleme mit einem neuen Zuwanderungsrecht bekämpfen. Dabei vergisst sie aber, dass wir es, wie
eben gerade angesprochen, mit Millionen von Arbeitslosen, Umschülern und Menschen in ABM zu tun haben.
Diese Menschen dürfen wir nicht links liegen lassen.
({2})
Wir müssen uns darum kümmern, dass diese Menschen in
Arbeit kommen. Wir glauben, dass hier ein großes Potenzial vorhanden ist, aus dem sich auch Fachkräfte schöpfen lassen.
Die Zuwanderung - das räume ich durchaus ein - mag
in dem einen oder anderen Fall eine Lösung darstellen, sie
beseitigt aber eben nicht das Grundproblem. Es sind - darauf hat die Bundesregierung gestern hingewiesen etwa 11 000 Greencards erteilt worden. Etwa 8 000 bis
9 000 Arbeitnehmer von diesen 11 000, die in den Genuss
einer Greencard gekommen sind, haben die Möglichkeit
ergriffen und ihre Arbeitsverhältnisse tatsächlich angetreten. Dies, meine Damen und Herren, ist doch angesichts
der Größe des Problems nicht mehr als ein Tropfen auf
den heißen Stein.
({3})
- Sie haben offensichtlich nicht zugehört, Herr Kollege.
Sie müssten gelegentlich das Lesen unterlassen.
Hier handelt es sich lediglich um einen Tropfen auf den
heißen Stein.
({4})
Die Greencardlösung hat deutlich gemacht, dass es möglich ist, Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Sie wissen
ganz genau, dass wir das vorliegende Zuwanderungsgesetz nicht benötigen, um die Probleme im Spitzen- und
Fachkräftebereich zu lösen.
({5})
Hier gibt es durchaus untergesetzliche Möglichkeiten,
zum Beispiel auf dem Verordnungswege, um dieses Problem zu lösen.
({6})
- Ich wäre den Anwesenden auf der Regierungsbank
dankbar, ihre Zwischenrufe, wenn sie denn schon welche
machen, so vernehmlich zu machen, dass man sie auch
versteht. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen die entsprechenden Paragraphen zu nennen. Denken Sie an § 9 Nr. 9 der
Arbeitsgenehmigungsverordnung. Schauen Sie dort hinein; dann sehen Sie, dass es heute schon möglich ist, diesem Fachkräftemangel zu begegnen.
Darf ich Sie
kurz unterbrechen? Die Regierungsbank darf keine Zwischenrufe machen.
Darauf wollte
ich mit meiner Äußerung aufmerksam machen, Frau Präsidentin.
({0})
Sie bringen ja immer wieder die Begründung, dass die
Wirtschaft Zuwanderung verlange, weil sie der Ansicht
sei, der Fachkräftemangel lasse sich nur über Zuwanderung lösen. Schauen Sie sich einmal die Umfrage an, die
der Deutsche Industrie- und Handelskammertag Ende
vergangenen Jahres vorgelegt hat. Es wurden 21 000 Unternehmen befragt; von diesen haben 12 Prozent angegeben, dass sie ausländische Arbeitskräfte anzuwerben gedenken. Auf die Frage, warum denn dieser Prozentsatz so
gering sei, nämlich nur 12 Prozent, wurde die Antwort gegeben, dass zum einen die Kosten für die Suche ausländischer Arbeitskräfte zu hoch seien, zum anderen die Integration in den hiesigen Arbeitsprozess zu schwierig sei
und schließlich unabdingbar für den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik die Beherrschung der deutschen Sprache sei. Dies sei eben bei diesen Menschen weitestgehend nicht der Fall.
Wir brauchen also Lösungen vor Ort für die jetzt Arbeit
suchenden Menschen. Zuwanderung wird uns dabei nicht
besonders weiterhelfen.
({1})
Wir wollen den Fachkräftemangel in Deutschland durch
Maßnahmen auf den Gebieten der Schul- und Hochschulbildung, der dualen Berufsausbildung und der Weiterbildung beseitigen. Bereits Jungen wie Mädchen muss der
Umgang mit Technik zur Normalität werden. Schülerinnen und Schüler sind für naturwissenschaftliche und technische Fächer zu begeistern. Die Fehler der Vergangenheit, in der Technik und Fortschritt oft verteufelt wurden,
dürfen sich nicht wiederholen.
Aber man darf natürlich auch die weiterführenden
Schulen nicht vernachlässigen. Wie man es richtig macht,
zeigt uns zum Beispiel - man höre und staune - der Freistaat Bayern.
({2})
- Ich kann Ihre Begeisterung nachvollziehen. - Dort wird
die IT-Ausbildung bereits in der Mittelstufe - hören Sie
gut zu! - begonnen und gehört damit zum Basisunterricht.
({3})
An den bayerischen Gymnasien nehmen mehr als
29 000 Schüler des Wahlpflichtbereichs Mathematik im
neunten und zehnten Schuljahr an Informatikkursen teil.
Hinzu kommen mehr als 22 000 Schüler, die Informatik
als Wahlkurs belegen. Das heißt, 46 Prozent eines Jahrgangs haben ausgezeichnete Computerkenntnisse. Das ist
ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt.
({4})
Wir beklagen immer wieder zu lange Studienzeiten,
ohne wirklich Gravierendes dagegen zu unternehmen.
Stellen Sie sich einmal eine Verkürzung der Studienzeit
um nur ein Jahr vor. Das brächte dem Arbeitsmarkt in einem Zeitraum von fünf Jahren 40 000 zusätzliche Akademiker. Das ist das Doppelte von dem, was Sie mit der
Greencard erreichen wollten, und ein Vielfaches von dem,
was Sie tatsächlich mit der Greencard erreicht haben.
Gerade im Akademikerbereich werden wir auf einen
erheblichen Fachkräftemangel zusteuern, wenn wir nicht
rechtzeitig reagieren. Von 1998 bis 2010 werden insgesamt
etwa 1,3 Millionen Akademiker aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Der Bedarf für diesen Zeitraum wird auf etwa
1,1 Millionen Akademiker geschätzt. Das heißt, wir brauchen jährlich mindestens 200 000 Hochschulabsolventen.
Laut Kultusministerkonferenz erlangen in den nächsten Jahren jeweils circa 350 000 junge Leute die Hochschulreife; aber nur etwa zwei Drittel dieser jungen Menschen nehmen ihre Chance zum Studium wahr. Das heißt,
mehr als 150 000 junge Menschen streben zwar einen qualifizierten Schulabschluss an, wollen aber danach keine
Hochschule besuchen. Auch hier ist ein enormes Potenzial, das es auszuschöpfen gilt.
30 Prozent der jungen Menschen mit Hochschulreife
absolvieren zunächst einmal eine herkömmliche duale Berufsausbildung. Offensichtlich bietet ein Hochschulstudium in ihren Augen keine ausreichende Basis für eine berufliche Zukunft. Sie beklagen mangelnden Praxisbezug.
Norbert Hauser ({5})
Dieser Praxisbezug muss hergestellt werden. Eine Lösung in diesem Fall heißt: duale Studiengänge. Sie entsprechen dieser Anforderung. Sie wecken die Bereitschaft
zum Studium und haben den unschätzbaren Vorteil, dass
sie die Dauer von acht Jahren für eine duale Erstausbildung plus Studium auf einen Zeitraum von fünf Jahren
verkürzen. Das heißt also, die jungen Menschen stehen
dem Arbeitsmarkt drei Jahre früher zur Verfügung. Dies
ist ein gigantisches Potenzial zur Behebung des Fachkräftemangels.
({6})
Deutschland muss sich international ausrichten, wenn
es im Wettbewerb bestehen will. Dazu gehört, dass der
Wissenschaftsstandort Deutschland Werbung in eigener
Sache macht.
({7})
Hochschulen sind bei der Gründung von Offshoreeinrichtungen zu unterstützen. Studenten, die ihren ersten Abschluss im Ausland machen, um dann ihre Studien in
Deutschland fortzusetzen, gehören zu unserer Zielgruppe.
({8})
Der Wettbewerbsbeitrag der Bundesregierung lautet:
Mittelkürzung für deutsche Kulturarbeit im Ausland.
({9})
Deutsche Schulen werden geschlossen, Goethe-Institute
werden geschlossen, der Deutschen Welle werden die
Mittel gekürzt. Das ist kein Kampf um die besten Köpfe,
({10})
das ist Resignation. Wir brauchen keinen Rückzug, wir
brauchen eine Offensive.
({11})
Ein Letztes: Wettbewerb funktioniert nur, wenn es
genügend Freiheit für die Bildungsträger gibt. Unser Bildungssystem erstickt an bürokratischen Vorgaben und
einengenden Gesetzen. Die Bildungsanbieter in Deutschland sind besser, als einige in diesem Hause es vermuten.
Geben wir ihnen die Chance, ihre Zukunft selbst in die
Hand zu nehmen. Unser Antrag ist ein erster Schritt in
diese Richtung. Haben Sie den Mut und stimmen Sie zu,
damit der Fachkräftemangel wirksam bekämpft werden
kann.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Es spricht jetzt
der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt im
Hause sicherlich Einigkeit darüber, dass die Bildung ein
Schlüsselfaktor bei der Bewältigung des strukturellen
Wandels von der Industriegesellschaft zur Informationsund Wissensgesellschaft darstellt und dass wir davon ausgehen müssen, dass dieser Wandel mit steigenden Tätigkeitsniveaus und Arbeitsplatzanforderungen verbunden
ist und deshalb zu einem höheren Bedarf an qualifizierten
Fachkräften führt. Aus diesem Grund steht das Thema
Fachkräftemangel auf der Tagesordnung aller hoch entwickelten Industriestaaten. Wir alle müssen uns fragen,
inwieweit wir dieser Situation durch geeignete Maßnahmen Rechnung tragen.
Sie wissen, dass der Fachkräftemangel bei der Regierungsübernahme ein sehr brisantes Problem der IT-Branche war. Der Bundesverband Informationswirtschaft,
Telekommunikation und neue Medien bezeichnete den
Mangel an IT-Fachkräften seinerzeit als die entscheidende Wachstumsbremse der deutschen Informationswirtschaft. Damals konnte man von Ausbildungsplätzen
und Ausbildern in größerem Umfang noch nicht reden.
Die Absolventenzahlen im Fach Informatik stürzten ab
und der IT-Weiterbildungsmarkt war von Wildwuchs geprägt.
Die Regierung hat umgehend gehandelt. Sie kann deutliche, auch international beachtete Erfolge vorweisen. Um
das einmal klar zu sagen: Mit Ihrer Großen Anfrage hinkten Sie schon im Jahr 2000 den Entscheidungen der
Bundesregierung hinterher.
({0})
Mit dem Entschließungsantrag bemühen Sie sich nun
krampfhaft, den Abstand zwischen den Entscheidungen
und dem Handeln der Regierung und den Forderungen der
Opposition nicht zu groß werden zu lassen.
Bereits im Sommer 1999 haben wir im Bündnis für
Arbeit zusammen mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften die Offensive gegen den Fachkräftemangel im
IT-Bereich gestartet. Mit dem darauf aufbauenden Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs vom
März 2000 - das war vor Ihrer Großen Anfrage - hat diese
Bundesregierung parallel zur Greencardinitiative eine
Bildungsoffensive gestartet, die ein Bündel von Maßnahmen umfasst
({1})
und alle Bildungsebenen - duale Berufsausbildung, Weiterbildung und Studium - einschließt.
Ihre Rede, lieber Kollege Hauser, ist ein sehr vordergründiger Versuch in einem Wahljahr, das Thema ZuwanNorbert Hauser ({2})
derung aus innenpolitischen Profilierungsgründen gegen
die notwendigen Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung, die diese Bundesregierung längst durchführt, auszuspielen.
({3})
Wenn Sie wirklich ein Interesse daran haben, dass hoch
qualifizierte Fachkräfte aus aller Welt, wie Sie in Ihrem
Text immerhin noch verbalisieren, nach Deutschland
kommen, dann müssen Sie sich sehr gut überlegen, ob Sie
mit Ihrer Position des Ausspielens der notwendigen
Interessen unserer jungen Menschen und der schon in Arbeit Befindlichen gegen das Thema Zuwanderung wirklich einen Beitrag zu dem angemessenen Umgang auch
dieser Gesellschaft mit den Talenten, die aus aller Welt zu
uns kommen sollen, leisten.
({4})
Ich denke, dass wir heute eine positive Bilanz ziehen
können. Wir hatten uns vorgenommen, bis zum Jahre
2002 die Ausbildungsplätze im IT-Bereich und im Bereich der Medienberufe auf 40 000 zu erhöhen. Ende 2001
gab es über 70 000 Ausbildungsplätze im Vergleich zu
14 000 im Jahr 1998.
({5})
Sie verschweigen aus sehr vordergründigen wahltaktischen Gründen sehr gerne, dass wir die IT-Weiterbildungsmaßnahmen von Erwerbslosen in den Jahren 2000
und 2001 auf jeweils 46 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer pro Jahr ausgeweitet haben.
({6})
Das bedeutet, dass wir in diesem Bereich zusätzlich über
10 000 Erwerbslose pro Jahr ausgebildet haben.
Gemeinsam mit den Ländern haben wir schon im Jahr
2000 das Programm zur Weiterentwicklung des Informatikstudiums gestartet, das mit Mitteln in Höhe von 50 Millionen Euro bis zum Jahre 2004 dazu beiträgt, die Studienkapazitäten zu erweitern und die Studienstrukturen sowie
die Praxisorientierung zu verbessern. Lassen Sie uns über
die Zahlen reden! 1997 gab es 11 000 Studienplätze. Jetzt
sind es 27 000 Studienplätze.
({7})
Ist das kein Erfolg dieser Regierung?
({8})
Sie sollten sich an dieser Stelle sehr gut überlegen, ob
Sie Ihre sehr vordergründige Kampagne, die auf einer Beschreibung der Situation basiert, die vielleicht für 1998
angebracht gewesen wäre, fortsetzen wollen, mit der die
Greencard gegen die Ausbildung von Inländern ausgespielt werden soll.
({9})
Ich sage ganz deutlich: Diese Regierung hat von Anfang an ein integriertes Konzept der Förderung der Bildung im beruflichen Bereich, im akademischen Studium
sowie im Bereich der Aus- und Weiterbildung gestartet,
was dazu führt, dass wir erstmals seit der langen Zeit der
Untätigkeit, die Ihre Regierung an den Tag gelegt hat, die
Begabungsreserven für einen zukunftsträchtigen Bereich umfassend ausschöpfen.
({10})
Alle Prognosen weisen gegenwärtig darauf hin, dass
wir die Talsohle bei den Informatikabsolventen längst
durchschritten haben. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet in den nächsten Jahren mit sukzessiv steigenden Absolventenzahlen auf circa 15 000 bis 2005. Das
bedeutet, dass es gegenüber dem Durchschnitt Mitte der
90er-Jahre mehr als eine Verdoppelung geben wird. Die
Studierenden gibt es bereits.
Die Greencard ist ein Erfolg. Es kam nicht darauf an,
möglichst viele Menschen nach Deutschland zu holen. Es
kam vielmehr darauf an, dass Fachkräfte, die bei uns gebraucht werden, nach Deutschland kommen.
({11})
Wenn wir durch unsere Ausbildungsanstrengungen dazu
beigetragen haben, dass es nicht 20 000 oder 25 000, sondern nur 11 000 Menschen sind, die nach Deutschland gekommen sind, weil wir aus wachsenden Ressourcen junger qualifizierter und weiterqualifizierter Arbeitskräfte
schöpfen können, dann ist das etwas, worüber ich mich
nicht beklagen kann.
Ich will einen weiteren Punkt nennen. Unser Bundesministerium hat in der letzten Woche im Rahmen eines internationalen Kongresses die wesentlichen Eckpunkte unserer Reform der IT-Weiterbildung vorgestellt, die
international hohe Anerkennung und Nachfrage erfährt.
Die Reform setzt Qualifikationsstandards für 29 marktgängige Spezialistenprofile in diesem Bereich. Sie wurde
gemeinsam mit Gewerkschaften, Verbänden und Unternehmen entwickelt. Wir wollen damit die Voraussetzung
schaffen, praxisnahe Qualifizierungen in einem Unternehmen mit der wissenschaftlichen Ausbildung an einer
Hochschule zu kombinieren. Sie könnten dies heute uneingeschränkt begrüßen und uns dafür loben,
({12})
dass wir gemeinsam mit der Wirtschaft und mit allen Verbänden diese strategische Weichenstellung für ein qualifiziertes IT-Weiterbildungssystem in Deutschland geschaffen haben. Wir sind auch europaweit eines der ersten
Länder, das die Vereinbarungen zum European Credit
Transfer System in diesem Bereich für die IT-Weiterbildung umsetzt.
Ich schließe mit einer letzten Bemerkung: Sie sind spät
mit Ihren Anträgen und mit Ihren Vorschlägen. Um das
am Beispiel Offshore-Gründungen deutlich zu machen:
Sie stellen dieses Thema heute in Ihrem Entschließungsantrag erstmals zur Debatte. Wir handeln aber bereits. Sie
wissen, dass eine Reihe von deutschen Universitäten in
dieser Richtung von uns unterstützt werden und erste Initiativen in vielen Ländern der Welt starten. Wir wünschen
Ihnen weiterhin viel Glück, mit Ihren Forderungen an das
heranzukommen, was diese Regierung schon längst umsetzt.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Lieber Herr Catenhusen, ich bin gern bereit,
Sie zu loben.
({0})
Aber so dramatisch gut, wie Sie es darstellen, ist es natürlich auch nicht. Wenn Sie hier mit Zahlen operieren, die
auf das Jahr 1998 zurückverweisen, dann dürfen Sie nicht
vergessen, dass diese Berufe in jenem Jahr neu eingeführt
worden sind.
({1})
Angesichts dessen ist es kaum möglich, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon das heutige Mengenniveau erreicht
hatten.
Trotzdem ist die FDP-Fraktion bereit und willens, anzuerkennen, dass die Bundesregierung reagiert hat.
({2})
Sie haben in Ihrer Antwort auf das 100-Millionen-Sonderprogramm zur Weiterentwicklung des Informatikstudiums verwiesen. Das ist ein ordentliches Programm. Des
Weiteren haben Sie auf Tausende von Teilnehmern an
Weiterbildungs- und Qualifikationsmaßnahmen der BA
und auf das Internet für Arbeitslose, Frauen und Umschüler verwiesen. Herr Catenhusen, hier ist es mit dem
Loben nicht getan, hier fehlt uns die Erfolgskontrolle.
Dies betrifft insbesondere die BA. Es liegen keine verlässlichen Zahlen darüber vor, ob diese Schulungen auch zu
Einstellungen führen. Wenn Sie keine Erfolgskontrolle
haben, können Sie im Hinblick auf die Qualität auch nicht
nachregeln.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass die Diskussion über die Bundesanstalt für Arbeit endlich angefangen hat und die Effizienz dieser Anstalt auf dem Prüfstand steht. Dies gilt insbesondere für eine ganze
Generation von IT-Fachkräften zwischen 45 und 55 Jahren, auf die Herr Hauser eben schon hingewiesen hat. Sie
stehen ohne Chance auf einen Job auf der Straße. Ende
2001 - lassen Sie sich diese Zahl einmal durch den Kopf
gehen - waren es immerhin 34 000 arbeitslose IT-Kräfte.
Ich frage mich natürlich, was die Bundesregierung im
Hinblick auf diese Leute macht. Hier muss deutlich effizienter und erfolgsorientierter gefördert werden. Die
11 000 Greencards, die Sie, Herr Catenhusen, eben angeführt haben, sind im Vergleich dazu wahrlich nur ein laues
Lüftchen.
({4})
Im Schulbereich sind wir vorangekommen; das sehen
wir genauso. Fast alle Schulen verfügen inzwischen über
einen Internetzugang, eine wachsende Anzahl auch über
moderne Computer. Ich betone allerdings, Herr
Catenhusen, dass wir vorangekommen sind; denn ein
Großteil dieses Fortschritts ist nicht zuletzt auf das beispielhafte Engagement von Eltern und Sponsoren und
weniger auf das segensreiche Wirken der Bundesregierung zurückzuführen.
({5})
Aber auch dieses Engagement reicht nicht, was die
Bundesregierung selbst zugibt. Sie sagt nämlich in ihrer
Antwort auf die Große Anfrage, bis 2005 könnten ungefähr 350 000 IT-Fachkräfte gewonnen bzw. ausgebildet
werden. Der Technologiebericht des Wirtschaftsministers
stellt aber schon für 2002 einen Bedarf von 350 000 ITFachkräften fest. Das ergibt eine Lücke von drei Jahren,
Herr Catenhusen. Mit Ausbildung ist dies nicht zu schaffen; wir brauchen - hier widerspreche ich Ihnen sehr
energisch, Herr Hauser - auch qualifizierte Fachkräfte aus
dem Ausland.
({6})
Dieser Punkt stört uns übrigens an dem Antrag der
CDU/CSU.
({7})
Es ist erneut der Versuch, das Thema Zuwanderung in etwas hineinzumischen, bei dem wir uns alle einig sind. Wir
wissen doch, dass wir qualifizierte Kräfte aus dem Ausland brauchen, und sollten dies nicht dergestalt in eine Debatte hineinbringen, dass wir plötzlich die Leute mit
Stammtischargumenten aufhetzen, um Wahlkampfpunkte
zu machen.
({8})
Wir werden heute den Entschließungsantrag an den
Ausschuss überweisen. Ich kann sagen, dass uns vieles an
ihm gefällt. Die Maßnahmen, die Sie zur Integration ausländischer Studenten angeführt haben, liegen auf unserer
Linie. Das gilt auch für die Quoten, in deren Rahmen die
Hochschulen selbst aussuchen dürfen. Wir sind uns mit
Ihnen, aber auch mit Herrn Catenhusen einig, dass es an
der Zeit ist, die Geschwindigkeit im Ausbildungsbereich
zu erhöhen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir im
Ausschuss Ihrem Antrag folgen, warten aber zunächst die
Debatte ab.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem
Thema der heutigen Debatte stößt man natürlich auf den
Begriff der Greencard; dies ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Seit knapp zwei Jahren können Computerexperten und -expertinnen aus Nicht-EU-Ländern
aufgrund der Greencardregelung bei uns arbeiten.
({0})
Über 10 000 Arbeitserlaubnisse wurden bereits ausgestellt. 88 Prozent davon gingen - das erwähne ich nur am
Rande - an Männer.
Was gab es nicht alles an Befürchtungen, insbesondere
von konservativer Seite: Ganze Zuwanderungswellen
könnte diese Greencard auslösen, vergleichbar mit der
Einwanderung in den 50er- und 60er-Jahren. Heute wissen wir mehr. Die Greencard war sicherlich notwendig;
sie ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der ITMarkt ist sehr komplex und erfordert spezifische Qualifikationen sowie ständige Weiterbildung, bringt aber leider
auch häufig wechselnde Arbeitgeber und Einsatzorte mit
sich. Hierdurch sowie durch die vielen Weiterbildungsmaßnahmen, die leider viel zu häufig am Markt vorbei
gehen, lässt sich das scheinbar unverständliche Verhältnis
von bis zu 30 000 arbeitslosen EDV-Fachleuten auf der
einen und einem hohen Fachkräftebedarf auf der anderen
Seite erklären. Die Überprüfung der Qualifizierungsmaßnahmen von Arbeitslosen ist also auch für den IT-Bereich
dringend erforderlich.
Gerade gestern war ich auf der Cebit und habe mich
dort von der guten Zukunftsfähigkeit des IT-Marktes
rund um die neuen Technologien überzeugen können. Die
Bundesregierung ist sich dieser Bedeutung vollkommen
bewusst und hat zahlreiche Maßnahmen getroffen, um
diesen innovativen, aber auch schwierigen Arbeitsmarkt
für alle zu öffnen: für Arbeitslose aus anderen Bereichen
wie für Spezialisten und Spezialistinnen aus dem Ausland.
Wegen der guten Zukunftsaussichten dieser Jobs ist es
besonders wichtig, Mädchen und Frauen frühzeitig für
diese Bereiche zu interessieren. So hat sich die Bundesregierung vorgenommen, den Anteil der Frauen bei den Studienanfängern in Informatikstudiengängen bis zum Jahr
2005 von jetzt 17 Prozent auf 40 Prozent zu steigern.
({1})
Das kann uns auch gelingen. Schon jetzt zeigt sich ein
wachsendes Interesse junger Frauen an den neuen Technologien, an einem naturwissenschaftlichen oder technischen Studium.
({2})
Während Ende 1997 rund 11 000 junge Frauen ein Studium in den Bereichen Ingenieurwissenschaften, Informatik und Elektrotechnik aufnahmen, waren es im Wintersemester 1999/2000 bereits fast 15 000. Diese Entwicklung
ist mehr als erfreulich und wird durch das 100-MillionenSofortprogramm der Bundesregierung zur Verbesserung
des Informatikstudiums weiter anhalten.
Die wesentlichen Ursachen des heutigen Fachkräftemangels liegen in der Bildungspolitik der 90er-Jahre.
({3})
Die Weichen wurden nicht rechtzeitig gestellt, um die
technologischen und bildungspolitischen Herausforderungen, die durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien entstanden sind, frühzeitig zu erkennen.
({4})
Was Helmut Kohl und Co jahrelang ausgesessen haben,
kann man nicht innerhalb kürzester Zeit zum Galoppieren
bringen. Doch Rot-Grün ist hier auf einem sehr guten
Weg. Jetzt wird gesurft und gehandelt.
({5})
- Das tue ich leider nicht, muss ich gestehen.
Wichtig sind - das wurde von Herrn Catenhusen bereits angesprochen - zum einen die Offensive zum Abbau
des Fachkräftemangels im Rahmen des Bündnisses für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und das
Sofortprogramm der Bundesregierung zur Deckung des
IT-Fachkräftebedarfs in Deutschland. Außerdem werden
bis zum Jahr 2004 für die Entwicklung von Lehr- und
Lernsoftware für Schulen, Hochschulen und Berufsbildung circa 650 Millionen DM von der Bundesregierung
bereitgestellt.
({6})
Die Anzahl der Computer und der Internetanschlüsse
wurde in den letzten Monaten massiv gesteigert. Gerade
deshalb ist die Integration der neuen Medien in Schule
und Universität nach wie vor eine ganz zentrale bildungspolitische Aufgabe.
({7})
Mir persönlich liegt in diesem Zusammenhang besonders die Förderung von Mädchen und jungen Frauen
am Herzen. Gestern auf der Cebit fühlte ich mich noch
immer allein unter Männern.
({8})
Dies muss sich nach und nach ändern.
({9})
Auch hier sind wir mit Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung auf einem guten Weg. Stellvertretend
möchte ich in diesem Zusammenhang zwei Projekte erwähnen: Sachsen-Anhalt veranstaltet für Mädchen technische Sommerakademien und unterstützt Patenschaften
mit Hochschulen und Fachhochschulen. In Thüringen
gibt es ähnliche Initiativen, die von der Koordinierungsstelle „Wissenschaft und Technik für Schülerinnen“ begleitet werden.
({10})
Die Aufgeschlossenheit von Mädchen für naturwissenschaftliche Themen, insbesondere für die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, sollen
Projekte wie „girls@D21“ oder „Idee-IT“ wecken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch viel zu
tun, um unsere Gesellschaft für die Herausforderungen
der Informationsgesellschaft fit zu machen.
({11})
Die kurzfristige Gewinnung von IT-Fachkräften oder
auch die erfreuliche Mitteilung, dass alle deutschen Schulen mittlerweile am Netz sind, reichen bei weitem nicht
aus. Wir brauchen eine Bildungspolitik, die flexibel mit
der Berufsausbildung umgeht und nicht in starren Strukturen verharrt.
({12})
Wir wollen eine Informationsgesellschaft ohne Barrieren aufbauen, in der sich junge Frauen genauso selbstständig bewegen wie netzbegeisterte Seniorinnen und Senioren. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung und bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Große Anfragen dienen einerseits der Bundesregierung, ihre Taten der Vergangenheit lobend zu erwähnen, und andererseits der Opposition,
diese kritisch zu hinterfragen und meistens etwas schwarz
zu malen.
Ich möchte zunächst einmal einige lobende Worte aussprechen: Den Trend, dass Deutschland Schlusslicht im
IT-Geschehen zu werden drohte, hat diese Bundesregierung zumindest gestoppt.
({0})
Während der Kohl-Regierung ist eher nichts passiert und
wir haben den Anschluss völlig verpasst.
({1})
Inzwischen sind wir bei einem international vergleichbaren Standard angelangt. Es ist sehr erfreulich, dass inzwischen fast alle Schulen über einen Internetzugang verfügen. Gleichfalls geht die Ausstattung mit Computern
in einem großen Tempo voran.
Dennoch - das zeigt die Antwort der Bundesregierung
auf die Große Anfrage - wird häufig auf die Privatwirtschaft gesetzt.
({2})
Dies gefällt mir nicht unbedingt, wenngleich auch ich
nicht verhehlen will, dass Sponsoring in diesem Bereich
ein Weg sein kann. Ich denke aber, dass auch die Bundesregierung Verantwortung trägt und man sich nicht nur auf
das Sponsoring verlassen darf. Zudem wird natürlich hier
versucht, auf Bildungsinhalte Einfluss zu nehmen.
({3})
Die Bildungsinhalte sollten doch unabhängig festgelegt
werden.
({4})
Ein zweiter Aspekt ist, dass zum Beispiel die Telekom
ganz großzügig ungefähr 33 000 Schulen mit Internetzugängen ausgestattet hat
({5})
- insoweit prima -, die Folgekosten aber häufig auf die
Schulen bzw. Kommunen umgelegt werden. In Brandenburg mussten PCs bereits wieder vom Netz genommen
werden, weil man sich die Folgekosten nicht leisten kann.
Der Internetzugang ist also nicht alles. Die Hard- und
Software gehören dazu.
Hinzu kommen die so genannten Fachkräfte. Lehrerinnen und Lehrer befinden sich auch heute noch häufig in
der Situation, dass ihnen die Schülerinnen und Schüler
zeigen, wie man mit dem PC umzugehen hat, und nicht
umgekehrt. Auch diesem Trend gilt es etwas entgegenzusetzen.
({6})
Ich glaube - das ist ein Aspekt, den ich hier noch einbringen möchte -, dass Medienbildung nicht in erster Linie Spezialistenausbildung, sondern Allgemeinbildung
ist. Häufig wird betont, dass für Naturwissenschaften,
Mathematik und Biologie mehr getan werden muss. Inzwischen ist aber die gesamte Content-Ebene, sind also
die Inhalte genauso wichtig. Dazu gehört der Englischunterricht genauso wie der Deutschunterricht. Der Schwerpunkt darf nicht immer nur auf die naturwissenschaftlichen Fächer gelegt werden. Ich halte eine breit gefächerte,
gute Allgemeinbildung für die eigentliche Grundlage für
einen guten Umgang mit den Herausforderungen in der
IT-Branche.
({7})
Eine gute Allgemeinbildung ist Grundlage für den Umgang mit den Medien. Deswegen hoffe ich, dass wir statt
des Trends zur Spezialisierung den Weg hin zu einer sozial gerechten, allgemeinen Schulausbildung, zu einer allgemeinen Medienbildung in der Bundesrepublik finden.
Dies ist neben der Lösung des Zuwanderungsproblems
die beste Voraussetzung dafür, um den Herausforderungen einer zunehmenden IT-Entwicklung gerecht werden
zu können.
Danke.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich
mit einer Bemerkung zum Kollegen Mayer beginnen, der
vorhin, als es darum ging, dass mehr IT-Experten im
Lande beschäftigt werden sollen, den goldigen Zwischenruf gemacht hat, dass es auch vorher schon möglich
gewesen sei. Lieber Kollege Mayer, sobald ein IT-Experte
in Deutschland sein Informatikstudium abgeschlossen
hatte, ist er aus unserem Land rausgeflogen. Am nächsten
Tag musste er Deutschland verlassen, weil er hier nur Gast
war. Das haben Sie uns hinterlassen. Erzählen Sie hier
also bitte nicht einen solchen Unsinn!
({0})
Gelegentlich bin ich zwar dankbar dafür, dass die Opposition Anträge stellt. Aber sie sollten schon ein wenig
mit der Realität in diesem Lande zu tun haben. Lieber
Herr Kollege Hauser, ich weiß nicht, ob Sie den vorgelegten Antrag als Ihr politisches Testament verstehen und
ob es Ihre letzte Rede war; denn eigentlich müsste einen
dieser Antrag ob der Gehaltlosigkeit ratlos machen
({1})
oder verzweifeln lassen. Sie nehmen Ihren eigenen Antrag
nicht ernst. Ich will auf diesen einmal eingehen.
Sie sagen heute, wir müssten uns um die Behebung des
Fachkräftemangels im IT-Bereich kümmern. Ich kann
Ihnen nur sagen: Prima, das hätten Sie eventuell vor zwei
Jahren sagen können, als Sie nach der Cebit-Äußerung des
Kanzlers Ihre unsägliche Kampagne „Kinder statt Inder“
gestartet haben. Sie wissen ganz genau, dass das auf der
Cebit auf den Weg Gebrachte im Grunde genommen die
Grundlage dessen ist, was wir heute miteinander diskutieren können. Hier sind Sie zu spät gekommen.
Jetzt müssen Sie sich einig werden, was Sie wollen. Sie
sagen uns, dass mit der Greencard - ich zitiere aus Ihrem
Antrag - eine wirkliche Lösung des Problems nicht erreicht werde. Umgekehrt sagte gestern Ihr Kanzlerkandidat - nach langem Würgen gefunden -, dass im Falle eines Wahlsieges bei der Bundestagswahl am Greencard-Konzept festgehalten werden solle. Ich weiß gar
nicht, warum Sie die Wahl gewinnen wollen. Mal ganz davon abgesehen, dass man bei Ihnen keinen eigenständigen
Punkt erkennen kann. Wenn Sie die Wahl gewinnen wollen, um das fortzusetzen, was diese Bundesregierung auf
den Weg gebracht hat, ist ein Wahlsieg Ihrerseits völlig
überflüssig. Dies ist er im Übrigen aber ohnehin.
({2})
- Sie müssen die Realitäten mal ein bisschen zur Kenntnis nehmen!
Nun stellen Sie eine Vielzahl von wunderbaren Forderungen bezüglich der studentischen und wissenschaftlichen Kräfte in Deutschland auf. Was tun Sie aber? Frau
Kollegin Flach, genau die Punkte, die Sie in Ihrem eigenen Antrag fordern, wollen die Union und - wenn ich
Herrn Westerwelle richtig verstehe - auch Herr Westerwelle aus rein parteipolitischen und taktischen Gründen
vor der Bundestagswahl im Bundesrat scheitern lassen.
Das ist etwas, was nicht zusammenpasst.
({3})
Man kann natürlich fragen, woran es liegt. Ich sage es
Ihnen: Wir führen im Moment eine Kampagne durch und
Sie geraten unter Druck. Wir haben die Hochschulen und
die deutschen Wissenschaftseinrichtungen darauf aufmerksam gemacht, dass Sie die dringend notwendige
Internationalisierung im deutschen Wissenschaftsbereich und in der deutschen Hochschullandschaft verhindern wollen, weil Sie einige rechtsradikale bayerische
Stammtische mobilisieren wollen und sich nicht für die
Zukunftsprobleme in diesem Land interessieren. Das ist
Folge dessen, was Sie tun.
({4})
Jetzt hätte ich mich beinahe aufgeregt; aber so ist es
eben.
Ich komme nun auf das zurück, was wir geleistet haben. Sie verkürzen das immer ein wenig auf die Greencard-Debatte. Es gibt noch einige andere Dinge; WolfMichael Catenhusen hat darauf hingewiesen. Zu Ihrer
Zeit waren 15 Prozent der Schulen am Netz, bei uns sind
es heute alle allgemein bildenden Schulen.
({5})
- Fragen Sie doch einmal, was das mit der Bundesregierung zu tun hat und wer die Initiative D21 gemeinsam mit
der Regierung und der Wirtschaft auf den Weg gebracht
hat. Das sollten Sie einmal nachschauen.
({6})
Kollege Mayer sagte, dass Bayern ein Vorbild sei. Wie
sah es denn an den bayerischen Berufsschulen aus, bevor
die Bundesregierung das Zukunftsinvestitionsprogramm
für Berufsschulen auf den Weg gebracht hat?
({7})
Es gab doch ganze Landkreise, in denen keine IT-Fachklassen eingerichtet werden konnten, weil die armen
Menschen keine Computer hatten.
({8})
So war der Sachverhalt. Dann haben wir mit 125 Millionen Euro - das sind 250 Millionen DM - dafür gesorgt,
dass auch in Bayern an den Berufsschulen IT-Fachklassen
eingerichtet werden konnten.
({9})
- Sie können hier noch so toben; das ist die Wahrheit über
den Freistaat Bayern.
Herr Kollege Repnik, in Baden-Württemberg war es
im Übrigen ähnlich. Das Land hat groß getönt, dass es die
Mittel, die der Bund gibt, verdoppeln wolle. Keinen Pfennig hat der Ministerpräsident, der vor der Wahl verkündet
hat, dafür sorgen zu wollen, dass alle Schüler kostenlos an
die Computer können, zur Verfügung gestellt.
({10})
- Herr Repnik, toben Sie nicht rum, stellen Sie eine Zwischenfrage! Es ist Ihnen unbequem, dass Sie mit der
Wahrheit, die aber nicht Ihre Wahrheit ist, konfrontiert
werden.
({11})
Kommen wir zurück zum Zuwanderungsgesetz und
zur Verbesserung der Situation ausländischer Studierender, die wir in Deutschland haben wollen. Wir werden entsprechende Maßnahmen ergreifen. Was fordern Sie? Sie
fordern die Bundesregierung auf, die Aufenthaltserlaubnis ausländischer Studierender nach erfolgreichem Abschluss in Deutschland gegebenenfalls bis zu einem halben Jahr für die Suche nach einem angemessenen
Arbeitsplatz zu verlängern. Dem kann ich nur zustimmen.
Das ist prima. Wir stellen uns übrigens ein Jahr und nicht
nur ein halbes Jahr vor. Genau das, was im Zuwanderungsgesetz steht, ist Ihre Forderung im heutigen Antrag.
Stimmen Sie dem zu, was wir auf den Weg gebracht haben! Hören Sie auf, die Stammtische zu mobilisieren!
({12})
Ein weiterer Punkt: Sie fordern die Bundesregierung
auf, gemeinsam mit der Exportwirtschaft im Ausland um
hoch qualifizierte Kräfte zu werben. Auch dies ist einer
der Schwerpunkte des modernen Zuwanderungsgesetzes.
Aber was ist heute passiert? Heute Morgen war Herr
Koch hier und hat uns mit seinen Ausführungen die Zeit
gestohlen. Herr Koch ist es, der im Moment Unterschriften gegen das sammeln will, was Sie in Ihrem Antrag selbst fordern. Da das Wort „Heuchelei“ von der
Frau Präsidentin wahrscheinlich gerügt würde, möchte
ich von einer heuchlerischen Politik sprechen, die Sie
hier betreiben.
({13})
Ich will Ihre
Lebhaftigkeit nicht durch eine Rüge unterbrechen.
Ich danke Ihnen.
Wir müssen etwas tun.
({0})
Wir müssen in der Tat die Attraktivität unserer Hochschulen für ausländische Studierende und Lehrende verbessern. Hören Sie auf - das ist wirklich eine ernsthafte Bitte
an Sie -,
({1})
das, was Sie selbst als richtig erkennen, durch stoibersche
und kochsche Winkelzüge zu ersetzen! Das nimmt
Ihnen im Land niemand ab. Im Grunde schadet es dem
Standort Deutschland in unglaublicher Weise. Sie haben
die Chance, im Bund und in den Ländern, in denen Sie zusammen mit der FDP noch regieren, Ihren eigenen Antrag
ernst zu nehmen. Sie können im Bundesrat dem, was Sie
hier fordern, zustimmen. Dazu fordere ich Sie auf.
Ansonsten kann ich nur sagen: Vielen Dank für die
Steilvorlage durch Ihre Große Anfrage. Es ist wirklich gelungen, Ihre Versäumnisse aufzuzeigen und unsere Erfolge darzulegen.
({2})
Verabschieden Sie sich von Ihrer nicht mehr in die Zeit
passenden Politik! Stimmen Sie dem, was wir auf den
Weg gebracht haben, zu, um hier Ihren Beitrag zu leisten!
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die
Aussprache.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 14/8492 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Haushaltsausschuss, den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an den
Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht zum Aktionsprogramm der
Bundesregierung
Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts
- Drucksache 14/8456 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Herr Staatsminister Hans Martin Bury.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn ein bayerischer Ministerpräsident diese
Woche über die Cebit marschiert und erklärt: „Den Aufschwung sehe ich hier noch nicht“, dann ahne ich, woher
Ihre Schlusslichtdebatte kommt: Die Schlusslichter sieht,
wer hinterherfährt.
({0})
Deutschland aber startet in das Rennen um die Märkte
von morgen aus der Poleposition. Wir in Deutschland haben mit 56 Millionen Mobilfunknutzern, 31 Millionen Internetzugängen und einer weltweit herausragenden
Telekommunikationsinfrastruktur eine ausgezeichnete
Startposition für die Nutzung mobiler Dienste und Anwendungen. Jeder fünfte ISDN-Anschluss weltweit liegt
in einem deutschen Haushalt oder Unternehmen; bei der
Ausstattung mit breitbandigen DSL-Anschlüssen haben
wir im letzten Jahr sogar die Vereinigten Staaten überholt.
Wir haben in unserem Land eine neue Offenheit und
Begeisterungsfähigkeit für die Chancen neuer Technologien und die wachsende Bereitschaft, Zukunft gemeinsam
zu gestalten. Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm, dessen Fortschrittsbericht wir heute debattieren, den Startschuss gegeben. Wir sind nicht mehr das
Deutschland in den Zeiten der Kohl-Ära, das drohte, den
Anschluss zu verpassen. Wir sind heute in Europa Marktführer im E-Commerce. Nur in den USA gibt es mehr
elektronische B2B-Marktplätze als bei uns. Die Domain
„.de“ ist weltweit das am meisten verbreitete Länderkürzel. Bereits zwei Drittel der deutschen Betriebe verfügen
über eine Webseite, 20 Prozent ermöglichen ihren Kunden
die Onlinebestellung über das Internet.
Die Bundesregierung hat sich an die Spitze der Bewegung gesetzt. Bundeskanzler Gerhard Schröder ist Vorsitzender des Beirats der Initiative D 21, in der Unternehmer
und Politik gemeinsam daran arbeiten, optimale Bedingungen für den Wandel im Informationszeitalter zu entwickeln.
Die Initiative D 21 entspricht dem Leitbild eines aktivierenden Staates und ist für mich ein Musterbeispiel für
Public Private Partnership: gemeinsam Ziele zu definieren, konkrete Umsetzungsschritte zu vereinbaren und
sie zu erreichen. Denken Sie etwa an das Aktionsprogramm zur Beseitigung des Fachkräftemangels oder an
die Initiative „Schulen ans Netz“.
({1})
Als wir die Regierung übernahmen, war zwar das papierlose Büro dort schon erfunden.
({2})
Doch ein ambitioniertes E-Government-Programm haben
erst wir aufgelegt. Bis 2005 wollen wir alle internetfähigen Dienstleistungen der Bundesverwaltung online bereitstellen; denn die Daten sollen laufen, nicht die Bürger.
({3})
E-Government hat zudem einen Link zu E-Democracy.
Wir nutzen die Möglichkeiten des Internets für mehr
Transparenz und die Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger an Entscheidungsprozessen. So haben wir beispielsweise über Internetforen nicht nur Interessenverbände, sondern die gesamte interessierte Öffentlichkeit an
der Erarbeitung einer Strategie für nachhaltige Entwicklung beteiligt. Heute Mittag hat der Bundeskanzler live im
Chat mit der Internet-Community diskutiert.
Wir werden auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft darauf achten, dass es nicht zu einer
von manchen befürchteten Spaltung unserer Gesellschaft
in Vernetzte und Unvernetzte oder in User und Loser
kommt; denn der Zugang zu und die Beherrschung der
neuen Medien entscheidet mehr und mehr über die Chancen im Erwerbsleben und über gesellschaftliche Teilhabe.
Teilhabe an den Chancen ist deshalb der rote Faden
unserer Politik, ob beim Anschluss aller Schulen - die
15 Prozent im Jahr 1998 wurden in der vorangegangenen
Debatte mehrfach erwähnt -, bei der Ausstattung der
Bibliotheken oder bei der Integration in Schulunterricht
und Weiterbildung, der Netzanbindung aller Hochschulen
mit Hochgeschwindigkeitszugängen und bei gezielten
Förderprogrammen für Seniorinnen und Senioren, für Behinderte oder für Kinder im Rahmen der Kampagne
„Internet für alle“.
Vor uns liegen faszinierende Möglichkeiten. Denken
Sie an die Telematik, das Gesundheitswesen oder den
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Bildungssektor. Wer die Chancen sieht, wird auch die Risiken beherrschen und die Herausforderungen bestehen.
Eine Herausforderung liegt darin, die besten Köpfe zu gewinnen, ihre Ideen in Deutschland zu verwirklichen und
damit zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu schaffen. Mit
der Greencard ist uns das schon sehr gut gelungen. Jeder
Inhaber einer Greencard hat im Schnitt zwei bis drei zusätzliche Arbeitsplätze im Lande geschaffen.
Mit einer vernünftigen Steuerung von Zuwanderung
lassen sich also Wachstumspotenziale erschließen. Man
kann aber auch wie die Union die Augen vor der Realität
verschließen. Dann, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Union, ist man irgendwann „world wide
weg“.
({4})
Wir werden auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft weiter vorangehen. Sie mögen dann
weiterhin beklagen, dass Sie nur die Schlusslichter sehen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Heinz Riesenhuber.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bury,
Sie haben uns in einer eindrucksvollen Weise dargestellt,
wie glanzvoll die Bundesregierung in den vergangenen
drei Jahren gearbeitet hat
({0})
und wie trüb die Kohl-Ära gewesen ist.
({1})
Es ist schon eine faszinierende Debatte. Was ist in der
Kohl-Ära passiert? In dieser Ära ist Folgendes passiert:
Wir haben die Normen und Standards in Europa aufgebaut, von denen heute unsere Überlegenheit in Bezug auf
das Mobilfunknetz und ISDN herrührt.
({2})
Wir haben 26 Länder auf eine Schmalband-ISDNNorm gebracht. Wir haben GSM aufgebaut und damit
Mobilfunklizenzen erst möglich gemacht. Wir haben einheitliche Infrastukturen in Europa geschaffen. Wir haben
den Telekommunikationsmarkt liberalisiert. Wir haben
die Märkte geöffnet.
({3})
Wir haben die Ausschreibung der Mobilfunklizenzen
durchgeführt. Dies alles ist der Ausgangspunkt, von dem
Sie leben.
Herr Bury, Sie sagen, Sie haben die Quote der Internetanschlüsse in den Schulen von 15 auf 80 oder 90 Prozent gebracht. Das ist großartig. Das Entscheidende war
aber, mit dieser Aktion überhaupt zu beginnen. Dass Sie
jetzt weiter sind - Gott sei Dank. Ein Zwerg auf den
Schultern des Riesen schaut weiter als dieser, sagte Sir
Isaac Newton.
({4})
Wir wünschen Ihnen weiterhin einen glanzvollen Weitblick, der uns alle beglücken wird.
({5})
Was in diesen Jahren geschehen ist, ist beglückend.
Wenn ich allerdings Ihre Pressemeldungen lese, gibt es
schon Momente der Nachdenklichkeit. Das eine ist, dass
Sie so tun, als ob die Bundesregierung in Weisheit und
Güte gehandelt hätte.
({6})
Das ist aber ein Missverständnis. Das Gute ist, dass diese
Technik aus den Märkten, den Unternehmen und der Wissenschaft kommt und nichts ist, was der Staat in seiner
Weisheit und Güte zu organisieren hätte. Was die Wirtschaft vom Staat verlangt, sind faire Wettbewerbsbedingungen in den Märkten, der Schutz des geistigen Eigentums und die Integrität der Kontrakte. Alles, was sich an
Problemen abzeichnet, lässt sich unter diesen drei Prämissen aufführen. Der Staat erbringt dabei - ich kann das
nur wieder in Erinnerung rufen - eine gute Leistung dann,
wenn er nicht stört.
Was wir in diesen Jahren erreicht haben, haben Sie
hoch gepriesen. Wir haben in der Tat ein flächendeckendes Telefonfestnetz, 40 Millionen Fernsehgeräte - wenn
man nur die angemeldeten Geräte rechnet ({7})
und weit über 50 Millionen Handys. Die gesamte Infrastruktur ist vorhanden. Dies alles ist erfreulich und ist etwas, was wir Ihnen gern als Teil der Grundlage, auf der
Sie fortfahren können, hinterlassen haben.
({8})
Über Ihre Pressemeldung schreiben Sie als Überschrift:
„Deutschland jetzt Spitze in der Informationsgesellschaft“.
({9})
Wenn man so etwas schreibt, muss man sich überlegen, ob
das nicht eine große Versuchung bedeutet, sich auf dem
auszuruhen, was man hat.
Es ist auch reizvoll, andere Meinungen zu lesen. Herr
Eierhoff ist Vorstand von Bertelsmann. In einer anderen
Eigenschaft ist er Vorsitzender der Kommission für Telekommunikation und Multimedia des BDI. Eine ganze
Reihe von klugen Leuten ist in dieser Kommison. Was saStaatsminister Hans Martin Bury
gen sie zu der Frage: Deutschland ist Spitze. Der Anteil
der Internetnutzer beträgt in den USA und in Skandinavien über 55 Prozent,
({10})
in Großbritannien und in den Niederlanden mehr als
45 Prozent, in Deutschland 37 Prozent.
({11})
Das ist nicht ausgesprochen Spitze, aber immerhin. Bei
den Pro-Kopf-Ausgaben für Information und Telekommunikation liegen hinter uns also nur noch Irland, Spanien,
Portugal und Griechenland.
Die Internetangebote des Staates sind eine interessante
Sache. Sie sprachen von Ihren glanzvollen Leistungen im
E-Government. In den Internetangeboten liegen nach einer Untersuchung - ich meine, sie stammt von Accenture - nur Belgien und Italien hinter uns in Europa. So
glanzvoll scheint die Leitfunktion des Staates hier nicht zu
sein.
Wenn Sie so tun, als hätten Sie alles erreicht, dann haben wir die Befürchtung, dass sich die Bundesregierung
entspannt zurücklehnt. Ich sage nur: Wer sich auf seinen
Lorbeeren ausruht und sich auf sie setzt, trägt sie am
falschen Körperteil.
({12})
Insofern ist das, was wir hier vortragen, keine unfreundliche Kritik an dem, was Sie tun. Wir geben vielmehr einen brüderlichen Rat, ganz im Sinne der „admonitio
fraterna“, von der Luther spricht, um den Irrenden auf den
rechten Weg zu geleiten.
Der BDI hat Wünsche angemeldet. Natürlich ist die
Nutzung des Internets an den Schulen eine prächtige Sache. Es wird sicherlich ein Problem sein, die Infrastruktur
auch in Zukunft auf dem neuesten Stand zu halten. Entscheidend ist aber die Frage, wie die Lehrer mit den
neuen Technologien umgehen.
({13})
In Deutschland sind 63 Prozent der Lehrer nicht im Umgang mit Computern und Internet ausgebildet. Nur
29 Prozent der Lehrer in Deutschland nutzen Computer
und Internet im Unterricht. Im EG-Durchschnitt sind es
aber 36 Prozent. Nur noch in Spanien, Portugal und Griechenland setzen die Lehrer die neuen Technologien im
Unterricht seltener ein als in Deutschland. Alle anderen
Länder liegen beim Einsatz von Computern und Internet
im Unterricht vor uns. Ich sage das nicht, um Sie zu ärgern, Herr Bury. Auch ich möchte lieber einen glücklichen Staatsminister sehen. Ich sage Ihnen das nur, damit
Sie wissen, dass hier noch etwas getan werden muss.
({14})
- Er hat schon drei Viertel der Regierungszeit überstanden. Ich bin sicher, dass er auch noch das letzte Viertel
überstehen wird. Dann werden wir wieder die Sache mit
Ruhe und Gelassenheit auf den Weg bringen.
({15})
Wir möchten auf eine Reihe von Fragen weiterführende Antworten haben. Das Problem der Vereinheitlichung der Mehrwertsteuersätze in Europa ist ordentlich gelöst worden. Aber nun muss auch die OECD ein
Konzept entwickeln, das verhindert, dass die Unternehmen in Nicht-EG-Staaten abwandern, um die dortigen
Vorteile zu nutzen, und dann den Firmen im EG-Markt
Konkurrenz machen.
Ich würde gerne wissen, ob die Bundesregierung daran
denkt, Rundfunkgebühren auf multimediafähigen PCs zu
erheben.
({16})
Das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Sie wollen
des Weiteren den elektronischen Gesundheitspass einführen.
({17})
Ich kann dazu nur feststellen: Hier gibt es bisher keine
großen Fortschritte, auch nicht in der Frage des Datenschutzes. Sie sprechen von der elektronischen Signatur.
Dies ist in der Tat eine wichtige Sache. Wir haben schon
damals - ich freue mich über Ihren Beifall - die elektronische Signatur eingeführt, als sie nur noch in Utah manche werden sicherlich wissen, dass dies ein Bundesstaat in den USA ist - genutzt wurde.
({18})
Es ist aber jetzt entscheidend, dass die elektronische Signatur in der Praxis so eingesetzt wird, dass sie in allen Geschäften so einfach wie eine handschriftliche Unterschrift
genutzt werden kann. Wir haben zweifellos eine ganze
Menge erreicht. Das ist erfreulich. Aber es gibt eine Fülle
von einzelnen Fragen, die noch beantwortet werden müssen.
Ich sehe am Blinken des roten Lichts auf meinem Pult,
dass mich die Präsidentin ermahnt, zum Schluss zu kommen.
In der Pressemeldung der Bundesregierung, die sicherlich lehrreich ist, ist zu lesen:
Erstmals hat die Bundesregierung konkrete und
messbare Ziele zur Gestaltung des Wegs in die Informationsgesellschaft gesetzt.
Wenn man weiterliest und versucht herauszufinden,
welche konkreten Maßnahmen in der Zukunft geplant
sind, dann stellt man fest, dass sich ein Viertel des Textes
nur mit Perspektiven beschäftigt. Man findet so gut wie
keine einzige Zahl. Es ist lediglich zu lesen, dass bis 2005
der Anteil der Internetnutzer auf 70 Prozent gesteigert
werden soll. Das ist zwar erfreulich. Aber das entspricht
lediglich den gängigen Prognosen. Man erfährt in der
Pressemitteilung der Bundesregierung des Weiteren, dass
es den ehrgeizigen Plan gibt, den Anteil der mittelständischen Betriebe, in denen das Internet rundum genutzt
wird, von 15 Prozent auf 20 Prozent zu steigern. Auch das
entspricht lediglich der gängigen Prognose. Im Übrigen
ist das nichts, was der Bundesregierung anheim gegeben
wäre. Ich stelle also fest: Die „Perspektiven“ des Berichts
enthalten keine konkreten Zahlen und Ziele. Dann sollten
Sie aber auch nicht so tun, als ob Sie die Gestalter der ITWelt wären. Sie sind es mitnichten. Wenn Sie es aber
schon nicht sind, dann sollten Sie wenigstens die Entwicklung des IT-Bereichs nicht behindern.
({19})
Das, was jetzt läuft, kann nicht planifikatorisch erfasst werden. Insofern ist es weise, dass Sie keine konkreten Zahlen
nennen. Aber dann sollten Sie nicht ankündigen, dass Sie
sich „konkrete und messbare Ziele“ gesetzt hätten.
Das, was jetzt heranwächst, ist die Wissensgesellschaft. Dies bedeutet nicht nur das Zusammenwachsen
von Computer, Telefon und Fernsehen. Nein, in einer solchen Gesellschaft wächst das Wissen. Sie erwächst aus
Wissen. Eine solche Gesellschaft versteht es, mit Wissen
verantwortlich umzugehen und Zukunft zu gestalten,
ohne dabei Rohstoffe zu verbrauchen. Dies zu stützen,
Dynamik und Unternehmungsgeist freizusetzen, dem
Einzelnen die Lust daran zu geben, Zukunft zu gestalten,
die neuen Märkte nicht mit Fragen der Fondsbesteuerung,
über die wir, Frau Staatssekretärin, herzliche Gespräche
führen, zu bedrängen, die Leute nicht mit Vorschriften für
die Business Angels zu entmutigen, sondern Dynamik zu
begründen und zu erweitern, Schwung und Lebensfreude
der Unternehmer zu erreichen, das ist eine der hohen Aufgaben der Bundesregierung. Ich bin zuversichtlich, dass
Sie die nächsten Monate, die Sie das Land noch regieren,
in diesem Geist für unsere gemeinsame Zukunft in diesem
schönen Land konstruktiv nutzen.
({20})
Das Wort hat
jetzt die Staatssekretärin Margareta Wolf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Riesenhuber, es ist durchaus legitim, glaube ich, dass wir
uns glanzvoll darstellen. Wir freuen uns selbstverständlich darüber, dass Sie die Ergebnisse unserer Politik
durchaus als positiv dargestellt haben.
Vielleicht wissen Sie, dass ich eine Anhängerin von
Gelassenheit bin, verehrter Herr Kollege, aber ich habe
doch den Eindruck - dabei will ich gar nicht großartig den
Blick zurück wagen -, dass man vor vier oder fünf Jahren
mehr hätte tun können, was die Präsentation der Bundesregierung im Internet angeht. Gegen Ende der letzten Legislaturperiode habe ich irgendwo einmal gelesen - daran
kann ich mich noch erinnern -, dass das Rüttgers-Ministerium einen Internetauftritt hat. Daraufhin habe ich das
Internet auf alle Ministerien hin durchgeguckt. Kein Ministerium hatte einen Internetauftritt. Das Rüttgers-Ministerium hatte auch noch keinen, weil das noch nicht freigeschaltet war. Wir haben jetzt Open Source in allen
Ministerien. Das ist durchaus ein Erfolg, denke ich, der
sich sehen lassen kann.
({0})
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Wir haben
den großen Sprung vom Mittelfeld in die Spitzengruppe
geschafft und davon haben wir alle etwas.
Herr Riesenhuber, weil Sie in unserem Fortschrittsbericht Zahlen vermisst haben, möchte ich Sie jetzt mit einigen Zahlen behelligen. Die Zahl der Internetnutzerinnen und -nutzer hat sich von Ende des Jahres 1998 bis
heute verdoppelt. Inzwischen sind fast die Hälfte der Internetnutzer Frauen. Die Zahl der Mobilfunknutzerinnen
und -nutzer ist erheblich gestiegen und liegt heute mit
56 Millionen über der Zahl der Festnetzanschlüsse. Die
IuK-Branche ist - das ist gemeinsame Meinung in diesem
Haus - die Wachstumsbranche unserer Wirtschaft mit
800 000 neuen Arbeitsplätzen.
Ich fände es schon schön, wenn einmal konzediert
würde, dass das Aktionsprogramm „Innovation und
Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ - so etwas hat es vorher noch nicht gegeben -,
das von meinem Haus erarbeitet worden ist, die Grundlage
für diesen Erfolg geschaffen hat. Lassen Sie mich dazu einige Schwerpunkte hervorheben:
Wir haben durch gezielte Informations-, Demonstrations- und Aufklärungskampagnen im Rahmen der Initiative „Internet für alle“ Bevölkerungsgruppen angesprochen, die mit diesem Medium vorher überhaupt noch
nicht in Berührung gekommen waren. Es waren vor allem
Seniorinnen und Senioren, aber auch Frauen, die durch
diese Demonstrationskampagnen für das Internet begeistert werden konnten.
Wir haben den Mittelstand davon in Kenntnis gesetzt,
was dieses Medium für ihn bedeuten kann. Das haben wir
durch 24 regionale Kompetenzzentren gemacht. Mit dem
Handwerk zusammen haben wir ein Internetportal aufgebaut. Ich bin froh und glücklich darüber, dass heute mehr
als zwei Drittel der deutschen Betriebe mit einer eigenen
Website im Internet präsent sind. Jeder zweite Betrieb
nutzt das Internet heute für Onlinebeschaffung - auch das
ist, glaube ich, ein Resultat der intensiven Kampagne, die
wir in Sachen E-Commerce durchgeführt haben -; das ist
ein Wettbewerbsfaktor, der die kleinen und mittleren Unternehmen zukunftsfähig macht.
Das Gesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr und
das Gesetz zur digitalen Signatur sind angesprochen worden. Das sind ganz wichtige Gesetze, gerade auch unter
datenschutz- und verbraucherschutzrechtlichen Gesichtspunkten. Wir haben damit die Sicherheit im Netz erheblich ausgebaut und somit auch die Akzeptanz dieses Mediums erhöht.
Wir haben Gründerwettbewerbe und Internetpreise
ausgeschrieben. Ich glaube, das waren für neue Arbeitsplätze, für Unternehmensgründungen und für Innovationen in diesem Bereich durchaus wichtige Motoren.
10 000 qualifizierte Arbeitsplätze wurden geschaffen. Gerade in der letzten Zeit haben wir vermehrt Frauen mit dieDr. Heinz Riesenhuber
sen Preisen ausgezeichnet. Wir werden dies hoffentlich
auch weiterhin tun. Selbstverständlich konnten wir das alles nur durch die intensive Zusammenarbeit mit der Wirtschaft erreichen. In der Initiative D21 - Herr Bury hat es
angesprochen - wurde ein ganz wichtiger Rahmen für die
entscheidenden Schritte gesetzt.
Ich habe mich vorhin über die Einlassungen von Herrn
Hauser, was die Verzahnung zwischen Greencard und Zuwanderungsgesetz angeht, ziemlich geärgert. Wir sollten
zur Kenntnis nehmen, dass 80 Prozent der Greencard für
kleine und mittlere Unternehmen infrage kommen. Jetzt
zu sagen, die Greencard sei nicht angenommen worden,
weil die infrage kommenden Personen zu teuer seien,
führte zu einer Stimmung, die wir in unserem Land nicht
zulassen sollten. Ich möchte Sie wirklich auffordern, dieses Thema nicht zum Wahlkampfthema zu machen.
({1})
- Ja, aber man weiß nicht, was morgen wieder kommt.
({2})
Diese Kakophonie ist wirklich allgegenwärtig.
Ich möchte jetzt auf den Fortschrittsbericht zu sprechen kommen. Weil wir natürlich nicht stehen bleiben,
sondern weitergehen, und weil wir wissen, dass sich die
Entwicklung immer mehr beschleunigt, haben wir uns
neue, konkrete Ziele gesetzt: Die Internetnutzerquote
soll - das wurde schon angesprochen - bis 2005 auf
70 Prozent steigen. Unser Ziel ist auch, dass sich breitbandige Internetanschlüsse bis 2005 als dominierende
Zugangstechnologie etablieren. Ein weiteres Ziel ist es,
den Anteil der mittelständischen Unternehmen mit umfassenden E-Business-Strategien von heute 12 Prozent
auf 20 Prozent im Jahre 2005 zu steigern. Das BMI hat die
E-Government-Initiative BundOnline 2005 auf den Weg
gebracht, durch die bis 2005 über 350 Dienstleistungen
der Bundesverwaltung online bereitgestellt werden sollen. Das spart nicht nur Kosten, sondern es ist auch bürgerfreundlich und ein Beitrag zum Bürokratieabbau.
Lassen Sie mich aus Sicht des Bundeswirtschaftsministeriums einige künftige politische Schwerpunkte nennen,
mit denen wir die Informationsgesellschaft voranbringen
wollen:
Erstens. Die zentrale Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Informationsgesellschaft ist die Verfügbarkeit von komplexen multimedialen Anwendungen. Für
die Bundesregierung hat deshalb der Ausbau der Infrastruktur für Breitbandkommunikation hohe Priorität. Wir
werden unsere marktöffnende Telekommunikations- und
Wettbewerbspolitik fortsetzen.
Zweitens. Wir werden den Übergang zum mobilen Internet sowie die Konvergenz von Informations- und
Kommunikationstechnik und neuen Medien zielgerichtet
fördern.
Drittens. Die Bundesregierung will die Chancen für
E-Government und E-Democracy nutzen, und zwar nicht
nur im Rahmen der bereits genannten Initiative „BundOnline 2005“, sondern auch - das ist sehr wichtig - auf kommunaler Ebene. Dort arbeiten wir mit dem Deutschen
Städte- und Gemeindebund und mit dem Deutschen Landkreistag zusammen. Es gibt in den Kommunen - ich verweise auf die E-Mail-Adresse MEDIA@Komm - bereits
sehr erfolgreiche Projekte. Das sind alles Projekte, die zu
einer bürgernahen Verwaltung und zu einem vermehrten
Abbau von Bürokratie führen. Von daher weisen sie, wie
ich finde, in die richtige Richtung.
Viertens. Im Bereich der IT-Sicherheit kommt es darauf an, den flächendeckenden Einsatz der digitalen Signatur voranzutreiben und den Mittelstand von dem entscheidenden Wettbewerbsfaktor IT-Sicherheit noch mehr
zu überzeugen.
({3})
Auf europäischer Ebene werden wir die Schwerpunkte
unserer IT-Politik aktiv in den neuen Aktionsplan
„eEurope 2005“ einbringen. Die Bekämpfung der digitalen
Spaltung zwischen armen und reichen Ländern wird damit
- das ist wichtig - wirklich zum politischen Schwerpunkt.
Wir werden uns in diesem Sinne in den einschlägigen Gremien der G 8 und der Vereinten Nationen engagieren.
Lassen Sie mich abschließend noch auf die Cebit hinweisen. Die dort vertretenen 8 000 Unternehmen aus aller
Welt illustrieren auf beeindruckende Weise - das sollte
uns alle herzlich begeistern, Herr Kollege Riesenhuber das Entwicklungstempo in dieser Branche und die Vielfalt
der Informationsgesellschaft. Das große Interesse an der
Cebit verdeutlicht die enormen ökonomischen Chancen,
die in der IuK-Technologie gerade für unsere Volkswirtschaft liegen. Ich hoffe, dass wir weiter an diesem Ziel arbeiten.
Herr Riesenhuber, ich empfehle Ihnen dringend die
Lektüre des Berichtes. Er ist gerade aus der Druckerei gekommen und ich schicke ihn Ihnen noch heute zu.
({4})
- Nein.
Danke schön.
({5})
Ich möchte eine
kurze Ermahnung loswerden: Wenn in einer Debatte drei
Mitglieder der Bundesregierung reden und alle ihre Redezeit überziehen, wird es wirklich schwierig. Ich bin
nach der Geschäftsordnung gehalten, Sie nicht zu stoppen, aber ich bitte darum, das bei den nächsten Reden
doch zu bedenken.
Wir sind gerade informiert worden, dass wir eine Abstimmung dazwischenschieben. Ich unterbreche deshalb
jetzt die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt.
Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer
weiteren Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Genehmigung zum Vollzug eines gerichtlichen DurchsuchungsParl. Staatssekretärin Margareta Wolf
und Beschlagnahmebeschlusses erweitert werden. Es handelt sich um eine Ergänzung zu der bereits heute Morgen
beschlossenen Angelegenheit. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe somit Zusatzpunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse
- Drucksache 14/8550 Wir kommen sofort zu Abstimmung. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig, mit den
Stimmen des ganzen Hauses, angenommen worden.
Jetzt machen wir in der Debatte zum Tagesordnungspunkt 7 weiter. Das Wort hat der Abgeordnete Rainer
Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Fortschrittsbericht der
Bundesregierung zu Innovationen und Arbeitsplätzen in
der Informationsgesellschaft ist in meinen Augen ein guter Sachstandsbericht und eine gute Grundlage für die
weiteren politischen Diskussionen
({0})
und für die Weiterentwicklung unserer Informationsgesellschaft. Man soll auch einmal die Wahrheit sagen.
({1})
Meine Damen und Herren, auch wenn die Börse zurzeit die Werte des Neuen Marktes und insbesondere die
New-Economy-Werte abstraft und sich bei vielen Unternehmen dieser Branche früher vorhandene Blütenträume
nicht realisieren lassen, wage ich die Prognose, dass die
New Economy erst am Anfang einer grandiosen wirtschaftlichen Entwicklung steht. Da ist es nur natürlich,
dass sich gerade in der Anfangsphase solch umwälzender
wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen die
Spreu vom Weizen trennt. Langfristig wird sich die IT-Revolution, also die Verknüpfung von Computereinsatz und
Netzwerkstrukturen, durchsetzen und einen hohen Anteil
an der Steigerung unseres Bruttosozialprodukts haben,
({2})
weil die damit verbundenen Innovationen zu höherem
gesamtwirtschaftlichem Wachstum führen. Die Steigerung der Produktivität wird auch international zur Verbesserung unserer Wettbewerbsfähigkeit führen.
({3})
Noch nie konnten wir in solch einem Umfang wie
heute Information in Wissen transformieren. Aufgabe der
Politik wird es sein, diese Entwicklung zu einer umfassenden Informationsgesellschaft zu begleiten und zu unterstützen. Vieles ist in der Vergangenheit - häufig, Herr
Tauss, Gott sei Dank auch partei- und fraktionsübergreifend - beschlossen worden. So haben Sie zum Beispiel
beim Telekommunikationsgesetz mitgewirkt. Das ist eine
Entwicklung, die durchaus positiv zu beurteilen ist.
Wir sollten auch in Zukunft durch Wettbewerb im
Telekommunikationssektor für Innovation und preiswerte Angebote, zum Beispiel im Internet, sorgen. Das
Telekommunikationsgesetz ist dabei eine gute Grundlage.
Die Politik und insbesondere das Bundesministerium für
Wirtschaft - das ist gerade in enge Gespräche eingebunden; es wäre doch ganz nett, wenn Sie zuhören und die
Diskussion begleiten würden -, das eine gewisse Verantwortung auch für die Regulierungsbehörde trägt, sorgen
eben zurzeit nicht dafür, dass private Anbieter und Telekom gleiche Startchancen haben.
({4})
Natürlich will ein Ex-Monopolist seine wirtschaftlich
starke Position am Markt nutzen. Dafür hat jeder Verständnis. Aufgabe der Regulierungsbehörde ist es jedoch,
für fairen Wettbewerb zu sorgen. Dazu sollte auch das
Wirtschaftsministerium beitragen; denn es hat die Fachaufsicht über diese Regulierungsbehörde.
({5})
Vermisst habe ich in dem an und für sich guten Bericht
der Bundesregierung jedoch eine Antwort auf die Frage,
wie gerade der Wettbewerb durch die Förderung von jungen innovativen Unternehmen gestärkt werden könnte,
zum Beispiel durch Zurverfügungstellung von Venture
Capital, und zwar nicht nur von staatlichen Institutionen
wie der KfW, sondern auch von privaten Gesellschaften.
Genauso wichtig sind die rechtlichen Rahmenbedingungen im Urheberrecht. Die EU-Richtlinie zur Harmonisierung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft gibt den Rahmen vor, wie ein Schutz von Werken
und eine angemessene Vergütung bei Werknutzung auch im
digitalen Umfeld gewährleistet werden können. Diese
Richtlinie muss zügig umgesetzt werden. Von besonderer
Bedeutung ist die zukünftige Regelung des Rechts der privaten Vervielfältigung urheberrechtlich geschützter Werke.
({6})
Wir haben uns ausdrücklich für die Förderung von DRMSystemen ausgesprochen.
Obwohl die Bundesregierung immer wieder betont,
welche Bedeutung sie der Informationstechnik beimisst,
hat sie den von ihr seit langem angekündigten Entwurf zur
Umsetzung der EU-Richtlinie, die ich gerade erwähnt
habe, bis heute nicht vorgelegt. Interessanterweise ist auch
kein Vertreter des Bundesjustizministeriums heute anwesend; das scheint es nicht übermäßig zu interessieren.
({7})
- Das hoffe ich sehr. Vielen Dank für diese Vorlage, Herr
Heil. - Während sich alle Beteiligten einig sind, dass es
sich bei dieser Reform des Urheberrechtsgesetzes um ein
für die Urheber und die IT-Wirtschaft gleichermaßen zenVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
trales Thema handelt, verhindert die Bundesregierung auf
diese Weise die notwendige Diskussion
({8})
und hemmt durch ihre Untätigkeit die Etablierung von
Systemen zu digitalem Rechtemanagement. Das können
Sie nicht bestreiten, Herr Tauss.
({9})
Alles in allem kann man sagen, dass wir gerade auf dem
Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie
am Anfang einer rasanten Entwicklung stehen. Aufgabe der
Politik ist es, die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen, damit diese Kommunikationstechnologie nicht durch zu große Regulierung behindert, sondern
gefördert wird. Wir sollten davon Abstand nehmen, diese
Märkte immer nur zu regulieren.
({10})
Wir sollten nur das tun, was unbedingt notwendig ist,
denn gerade auf diesem Gebiet gilt, dass Freiheit und
Deregulierung für Innovation sorgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Bierstedt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man hatte die Absicht
anzukündigen, dass ich hier meine erste Rede halte. Das
stimmt für diesen Deutschen Bundestag, ich hatte allerdings schon Gelegenheit, mich im letzten Deutschen Bundestag zu äußern. Aus diesem Grunde muss ich auf diese
Ehre verzichten.
({0})
Gestatten Sie mir zu Beginn eine kurze Bemerkung,
Frau Staatssekretärin Wolf. Sie haben vorhin in Ihren Ausführungen darauf verwiesen, dass der Mittelstand generell
von der IT-Sicherheit überzeugt werden müsste. Ich glaube, da kommt ein etwas falscher Zungenschlag in die Debatte. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass gerade der Mittelstand an der IT-Sicherheit kostengünstig partizipieren
kann. Diesen Ansatz sollten wir gemeinsam wählen. Es ist
mir wichtig, das einzufügen.
Ich kann der positiven Tendenz in der vorliegenden
Unterrichtung durch die Bundesregierung zustimmen.
Seit dem Regierungswechsel gab es in diesem Politikfeld
tatsächlich einen auch außerhalb des Parlamentes wahrnehmbaren Fortschritt zu verzeichnen.
({1})
Gestatten Sie mir diese Bemerkung trotz meiner erst seit
drei Wochen wieder bestehenden Zugehörigkeit zu diesem Hohen Hause.
({2})
- Genauso ist es, Herr Kollege Tauss, Jörg. - Nach Jahren
einer mehrheitlichen Fokussierung auf die reine Technikausstattung bleibt zu hoffen, dass Sie, meine Damen und
Herren von der Koalition - auch du, Jörg -, Ihre Zuwendung zu den mehr inhaltlichen Themenkreisen und Lösungsansätzen auch finanziell weiterhin umsetzen können
und dass Sie im Diskurs mit den in diesem Sinne positiv
Betroffenen bleiben.
Ihre Bilanz wäre zumindest aus meiner Sicht deutlich
besser ausgefallen,
({3})
wenn Sie neben den in der Wirtschaft geschaffenen Arbeitsplätzen auch noch darauf hätten verweisen können,
dass Sie mit den Ländern und Kommunen Mittel und
Wege gefunden hätten, wie man zum Beispiel die vielen
ABM-Stellen oder auch das ehrenamtliche Engagement
im außerschulischen Bereich - ich meine in den Computerkabinetten oder in den Internetcafés - in ordentlich dotierte und feste Arbeitsplätze umwandeln kann. Wenn wir
uns wirklich auf dem Weg in die Informationsgesellschaft
befinden - was auch immer dies heißen mag -, dann
gehört doch wohl auch dieser Bereich unverzichtbar und
gleichberechtigt dazu. Wertevermittlung im fakultativen
Bereich, das Lehren und Lernen, mit Daten und Inhalten
umzugehen, muss institutionalisiert werden.
Ich möchte mich noch kurz zu dem Bereich E-Government in Ihrer Unterrichtung äußern: Lobenswerte Ansätze und Ergebnisse sind allemal vorhanden. Aber die
mehrheitliche Kommunikation der öffentlichen Verwaltung mit dem Bürger und der Bürgerin, mit der Wirtschaft
und innerhalb der Verwaltungen oder die Kommunikation
mit der örtlichen Legislative findet doch wohl unterhalb
der Bundesebene statt. Dort ist das Geld bekanntlich
knapp. Jeder für die Selbstbefassung - in diesem Status
befinden sich immer noch viele Verwaltungen im Zuge
der Findung von E-Government-Lösungen - ausgegebene
Euro fehlt der Verwaltung für ihre eigentliche Dienstleistungswahrnehmung.
Natürlich sollen und können E-Government-Lösungen
den Dienstleistungscharakter erhöhen und den Aufwand
der Selbstverwaltung minimieren. Dazu benötigen, wie
Modellprojekte zeigen, die Verwaltungen nicht unerhebliche Mittel im investiven Bereich. Darüber hinaus sind
sie mit ihrer derzeitigen personellen Ausstattung schlichtweg überfordert. Auch die Folgekosten für die erhöhten
Qualifikationsanforderungen und die Wissenserfordernisse sind schwerlich aufzubringen.
Noch eine Schlussbemerkung: E-Government-Lösungen sind, strategisch eingesetzt, ein hervorragendes Navigationsmittel in der Kommunikation mit der Verwaltung.
Allerdings ändern sie nichts am eigentlichen Grundübel
unserer Verwaltungsvielfalt. Mir wurde neulich vorgerechnet, dass ein privater Häuslebauer alles in allem mit
187 Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften leben muss.
Er oder sie wird sich mittels E-Government-Lösungen sicherlich leichter zurechtfinden.
({4})
Ob er oder sie sich dabei glücklicher fühlt und ob es insgesamt preiswerter wird, wage ich dennoch zu bezweifeln.
Ich bedanke mich.
({5})
Geübt ist geübt:
Sie haben Ihre Redezeit auf die Sekunde genau eingehalten.
Das Wort hat als Nächstes der Abgeordnete Hubertus
Heil.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Herr Riesenhuber, ich habe
Ihnen sehr begeistert zugehört. Ihre rhetorischen Fähigkeiten sind nicht zu schlagen. Aber beinahe hätten Sie gesagt - Sie haben es wohl vergessen -, Helmut Kohl habe
das Internet erfunden.
({0})
Diesen Eindruck hatte ich, als Sie darauf hingewiesen haben, was alles Tolles Sie gemacht haben und dass wir das
fortsetzen würden. So ist es nicht, Herr Riesenhuber; auch
Sie wissen das. Bis 1998 hatten wir eine Administration,
die in diesem Bereich kaum ansprechbar war.
({1})
Ich will nicht die Frage der Rohrpost bemühen oder noch
einmal darauf eingehen, dass der frühere Bundeskanzler
Kohl die Datenhighways eher dem Verkehrsministerium
zugeordnet hat. So war das doch, Herr Kollege. Sie waren
übrigens einer der wenigen, der sich in der früheren Regierung tatsächlich darum bemüht hat, in diesem Bereich
ein Ansprechpartner zu sein.
({2})
Das möchte ich Ihnen gerne zugestehen.
Seit 1998 haben wir eine Bundesregierung, die in diesem Bereich so etwas wie einen Masterplan aufgestellt
hat. Das ist das Aktionsprogramm, dessen Zwischenbilanz wir heute ziehen. Es gibt technische Innovationen,
die den Lauf der Weltgeschichte entscheidend verändert
haben. Die Erfindung des Buchdrucks, der Dampfmaschine, des Telefons oder des Automobils - das muss ich
als Niedersachse, aus der Nähe von Wolfsburg kommend,
immer wieder feststellen - sind solche Innovationen.
Aber auch heute können wir feststellen, dass die neuen
Medien, speziell das Internet, eine Technologie sind, die
unsere Art zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften, massiv verändert. Wir haben eine Bundesregierung, die die
Chancen und Aufgaben erkannt und genutzt hat, die wirtschaftlichen Potenziale, die diesem Bereich innewohnen,
für unser Land zu erschließen.
1999 haben wir das Programm „Innovationen und
Arbeitsplätze für die Informationsgesellschaft des
21. Jahrhunderts“ auf den Weg gebracht. Es umfasst klare
Zielvereinbarungen und konkrete Maßnahmen, die in enger Abstimmung zwischen Politik und Wirtschaft, dem,
was man „Community“ nennt, umgesetzt worden sind.
In der heutigen Debatte ziehen wir Bilanz. Um es vorwegzunehmen: Ich glaube, dass der Begriff „Fortschrittsbericht“, mit dem diese Bilanz übertitelt ist, sehr treffend
ist, da dieser Bericht eine Erfolgsstory beschreibt, die wir
seit 1998 in diesem Bereich geschrieben haben.
({3})
Ich möchte die Erfolge im Einzelnen darstellen, weil
vorhin von Herrn Riesenhuber angemahnt wurde, konkret
den Zusammenhang herzustellen zwischen einer Entwicklung, die sich Ihrer Meinung nach ganz automatisch
vollzieht, und den Maßnahmen, die wir durchgeführt haben und die sicherlich in vielen Bereich dazu geführt haben, dass Effekte, die schon vorhanden waren, verstärkt
wurden und so das Vorankommen befördert haben.
Der erste Erfolg ist, dass sich die Zahl der Internetnutzer in unserer Regierungszeit von 14 Millionen auf
über 30 Millionen verdoppelt hat. Natürlich, Herr
Riesenhuber, wäre eine Steigerung auch zu erwarten gewesen, wenn wir nicht regiert hätten. Das will ich gar
nicht bestreiten. Es ist aber auch wichtig, in der Politik
den richtigen Hintergrund dafür zu schaffen: Die Kosten
sind gesunken. Das hängt damit zusammen - da sind wir
uns sicherlich einig -, dass wir eine wettbewerbsorientierte Telekommunikationspolitik machen. Ebenso spielt
eine Rolle, dass wir für die Akzeptanz des Internets in dieser Gesellschaft werben. Das hat diese Bundesregierung
in einer vielfältigen Art und Weise getan.
Wir haben zweitens bis Herbst 2001 alle Schulen ans
Netz angeschlossen.
({4})
Auch das war eine Initiative, die mit der Politik dieser
Bundesregierung zusammenhängt. Ich sage hier, im Gegensatz zu einigen anderen, nicht, wir hätten das Internet
erfunden. Das ist Quatsch. Aber ohne die Initiative des
Bundeskanzlers und der Bundesregierung, ohne die Zusammenarbeit mit D21 wäre es nicht gelungen, alle Schulen ans Netz zu bringen. Auch das ist eine ganz erhebliche
Leistung.
Drittens hat sich die Zahl der Mobilfunknutzer seit
dem Jahr 2000 in Deutschland mehr als verdoppelt. Inzwischen übersteigt die Zahl dieser Anschlüsse sogar
schon die Zahl der Festnetzanschlüsse.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Riesenhuber?
Gerne doch.
Bitte.
Die Frau Präsidentin hatte sich einen Moment entspannt, deshalb muss
ich drei Sätze zurückgehen.
Ich werde gleich
abgelöst.
Herr Kollege
Heil, würden Sie mir darin zustimmen, dass bei der Frage,
wie weit die Liberalisierung der Kommunikationsmärkte,
die Sie angesprochen haben, vorangeschritten ist, die
Liberalisierung der Ortsnetze eine entscheidende Rolle
spielt? Wie sehen Sie Ihre Möglichkeiten, die Bundesregierung zu unterstützen, diese so zu liberalisieren, dass wir
auch dadurch konkurrenzfähige Internetangebote zu entsprechend niedrigen Preisen bekommen, deren Senkung
um etwa 30 Prozent bis jetzt nur durch einige große Firmen erzwungen worden ist, während wir bei den Ferngesprächen eine Senkung von über 90 Prozent haben?
Herr Kollege Riesenhuber, ich
erinnere daran, dass wir - nicht ich persönlich; damals
war ich noch nicht in diesem Haus - die Liberalisierung
im Deutschen Bundestag gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Der Kollege Bury, der jetzt Staatsminister
ist, war damals maßgeblich daran beteiligt, auch andere,
zum Beispiel Arne Börnsen. Ich erinnere daran, dass die
Regulierungsbehörde eine Institution ist, die sich um
Wettbewerb verdient gemacht hat. Ich weiß, dass wir im
Ortsnetzbereich eine Diskussion über die so genannte
Bottleneck-Problematik haben. Ich weiß aber auch, dass
es falsch wäre, wenn wir als Staat hier kräftig regulierend
eingreifen würden.
({0})
- Nein, es geht um Regulierung, um Wettbewerb durchzusetzen. Das ist doch der Hintergrund Ihrer Frage. Dafür haben wir die Regulierungsbehörde, die in diesem
Bereich als unabhängige Behörde tätig ist
({1})
und dafür sorgt, dass wir Schritt für Schritt vorankommen. Insofern glaube ich, dass wir auf einem guten Weg
sind. Wenn wir uns in der Analyse einig sind, dass wir in
diesem Bereich nur mit Wettbewerb vorankommen, dann
haben wir etwas gemeinsam. Ich glaube, dass wir die Erfolge auf diesem Gebiet nicht kleiner reden sollten, als sie
sind.
({2})
Tatsache ist doch, dass wir in diesem Bereich die Kosten
durch den Wettbewerb ganz kräftig gesenkt haben. Im Übrigen wurden auch im Ortsnetzbereich die Kosten gesenkt. Es
gibt technische Lösungen - das wissen Sie auch -, die die so
genannte Flaschenhalsproblematik im Ortsnetzbereich lösen könnten. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Anwendung Wireless Local Loop.
({3})
Die technische Entwicklung schreitet voran. Dafür tun
wir eine ganze Menge.
Viertens möchte ich sagen, dass die Branche der Informations- und Kommunikationstechnologien - wir
führen hier eine wirtschaftspolitische Debatte - mit über
800 000 Beschäftigten und einem Anteil von 8 Prozent am
Bruttoinlandsprodukt mittlerweile zu einem der führenden Wirtschaftszweige in unserem Land geworden ist.
({4})
Herr Kollege Riesenhuber, ich will Ihnen verdeutlichen, wieso die Bundesregierung und wir der Überzeugung sind, dass die Aussage, dass Deutschland in Europa
eine Spitzenposition erreicht hat, nicht eine euphemistische Wendung ist, sondern einen realen Zahlenhintergrund hat. In Deutschland verzeichnet der elektronische
Handel einen Umsatz von 25 Milliarden Euro. Damit
steht unser Land auf Platz eins in Europa. Darauf können
wir ruhig einmal stolz sein.
({5})
Im Übrigen sollten wir deutlich machen - Herr Kollege
Funke, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das angesprochen
haben -, dass wir das Gerede, wir würden von einem Extrem der New Economy, nämlich von der absolut blinden
Euphorie von der Art eines Goldrausches vor anderthalb
Jahren, in das andere Extrem, nämlich die absolute Verdrossenheit in diesem Bereich, fallen, nicht zulassen dürfen. Die Cebit, die in diesen Tagen stattfindet, ist in dieser
Beziehung eine sehr erfolgreiche Veranstaltung, weil sie
deutlich macht, dass jetzt die Spreu vom Weizen getrennt
wird und dass Unternehmen, die wertschöpfend tätig sind,
nach vorne kommen. Der Branchenverband Bitkom hat
vorhergesagt, dass wir für das Jahr 2002 insgesamt damit
rechnen können, dass der Umsatz dieser Branche auf die
beträchtliche Summe von über 143 Milliarden Euro steigt.
Auch das hat etwas damit zu tun, dass ein Rahmen gesetzt
wurde.
Lassen Sie mich die zentralen Maßnahmen nennen,
die wir auf den Weg gebracht haben, um den Ordnungsrahmen voranzubringen. Auch dazu haben Sie, Herr
Riesenhuber, vorhin zwar vieles erzählt, aber nicht in der
richtigen Reihenfolge. Richtig ist, dass Sie ein Signaturgesetz gemacht haben. Richtig ist aber auch, dass wir eine
Novelle des Gesetzes zur digitalen Signatur in dieser
Legislaturperiode auf den Weg gebracht und beschlossen
haben.
({6})
Damit haben wir erreicht, dass wir in Deutschland eine
Sicherheitsinfrastruktur haben, die dazu führen kann, dass
die elektronische Signatur zu einem vollständigen Ersatz
der handschriftlichen Unterschrift wird. Dass wir gemeinsam dafür werben und diese Möglichkeit populär
machen, ist gar keine Frage. Ich werbe auch dafür, den
Menschen klar zu machen, dass es diese einfache Möglichkeit mit einem hohen Sicherheitspotenzial gibt.
Die zweite Maßnahme, die ich nennen möchte, ist das
E-Commerce-Gesetz, das wir im Bundestag verabschiedet haben. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen,
Frau Kollegin Wöhrl - Sie sprechen ja nach mir -, sagen,
dass wir das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung abgeschafft haben.
({7})
Damit haben wir auch für den Handel faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen. Ich kann mich daran erinnern,
dass die Abstimmung ein bisschen chaotisch war. Die
CDU/CSU-Fraktion hat zum Teil dagegen gestimmt und
hat sich zum Teil enthalten. Sie wollten die Entwicklung
verzögern. Wir haben aber dieses Wettbewerbshindernis
tatsächlich beseitigt.
Ich will zum Schluss Folgendes deutlich machen:
Wettbewerbsorientierte Telekommunikationspolitik
muss eine Politik sein, in der der Staat - Stichwort „Bund
Online 2005“ - als Vorbild auftritt. Es handelt sich um
eine Politik, die dafür sorgt - das war Gegenstand der vorherigen Debatte -, dass wir in diesem Bereich die Qualifikation verbessern. Dass die Zahl der Ausbildungsplätze
kräftig gestiegen ist und dass sich die Zahl der Studenten
im IT-Bereich seit 1998 verdoppelt hat, sind Punkte, die
deutlich machen, dass wir in Deutschland auf einem guten
Weg sind.
Es ist, wie gesagt, eine Zwischenbilanz. Wir haben
Ziele bis zum Jahre 2005. Ich bin der festen Überzeugung,
dass es diese Bundesregierung ist, die im Jahre 2005
- Herr Kollege Riesenhuber, ich weiß nicht, ob Sie dann
dem Parlament noch angehören werden - einen entsprechenden Bericht vorlegen wird, der zeigt, wie erfolgreich
dieses Programm am Ende war.
Herzlichen Dank.
({8})
Nun gebe
ich der Kollegin Dagmar Wöhrl das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir leben im Zeitalter der
Kommunikationsrevolution. Wir wissen, dass sich die
neuen Kommunikationstechnologien so rasant wie nie zuvor entwickeln, dass das Internet die neue Basistechnologie
darstellt, dass eine breite Internetnutzung für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und für neue Arbeitsplätze entscheidend ist und dass das Internet die Effizienz
der internationalen Arbeitsteilung in einem bisher nicht
gekannten Ausmaß steigert. Deutschland ist ein rohstoffarmes Hochlohnland. Angesichts dessen dürfen wir natürlich nicht nachlassen, die Nutzung der Informationstechnologien, vor allem des Internets, zu fördern. In diesem
Punkt sind wir in diesem Hause sicherlich einer Meinung.
Wir wissen auch, dass mit der Liberalisierung des
Telekommunikationsmarktes von 1997 unter der alten
Regierung die besten Voraussetzungen für die Entwicklung des IuK-Sektors in Deutschland geschaffen wurden.
({0})
Damals haben wir uns an die Regel gehalten, dass durchschlagende Erfolge beim Wandel zur Informationsgesellschaft nur erzielt werden, wenn man das Tempo und die
Richtung vorgibt. Das heißt, die Schnellen fressen die
Langsamen. Diese Erfahrung haben alle modernen Unternehmen gemacht; sie hat für die gesamte Volkswirtschaft
Gültigkeit.
Deshalb ist die Politik gefordert, hier die richtigen
Rahmenbedingungen zu schaffen, die für Investoren
verlässlich sind, die Innovationen nicht hemmen, sondern
anregen, und die vor allem international wettbewerbsfähig sind. Hier müssen wir auf breiter Front zu einer steuerlichen Entlastung kommen;
({1})
denn nur so können wir künftig im boomenden Informations- und Kommunikationssektor verlorenen Boden wieder gutmachen.
({2})
Es ist doch offenkundig, meine Damen und Herren,
dass Aktienoptionen kein normales Einkommen darstellen. Sie sind mit Risiken behaftet. Deswegen müssen wir
endlich dazu übergehen, die Stock Options so zu besteuern, dass junge und innovative Technologieunternehmen
in Deutschland nicht schlechter gestellt werden als bei unseren europäischen Nachbarn.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland verfügt, wie wir alle wissen, über ein
großes Potenzial ausgewiesener Fachleute und innovativer Unternehmen. Dennoch haben wir im IuK-Sektor
Nachholbedarf.
({4})
Deswegen brauchen wir endlich eine umfassende, breit
angelegte Offensive zur Informationsgesellschaft. Meine
Damen und Herren von der Regierung und der Koalition,
hier gebe ich Ihnen einen guten Rat: Machen Sie es sich
einfach und schauen Sie nach Bayern. Dann wissen Sie
ganz genau, wie man eine Zukunftsoffensive angeht.
({5})
Nicht umsonst sind in Bayern 30 Prozent aller InternetStart-ups beheimatet.
Das Aktionsprogramm der Bundesregierung erweckt
nur vordergründig den Anschein, dass sie hier aktiv handelte. Im Wesentlichen ist es nur eine Bündelung von Aktionen, die bereits vor zwei Jahren von der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und
Gesellschaft“ vorgeschlagen wurden.
({6})
- Sie haben das doch nur gebündelt und nichts Neues auf
den Weg gebracht. - Außerdem ist Ihr Aktionsprogramm
alles andere als ehrgeizig. Wenn Sie nur die Vision haben,
dass Deutschland eine europaweite Spitzenposition haben
solle, dann sind Sie wirklich bescheiden.
({7})
Deutschland darf sich bei den neuen Medien und Diensten
nicht mit der Europaliga begnügen.
({8})
Wir müssen Visionen und Ziele haben und weltweit an der
Spitze mitspielen wollen. Es reicht nicht aus, zu sagen,
wir wollten in Europa nach vorn.
({9})
Hier ist auch ein breiter Zugang zum Internet besonders wichtig. Die neuesten Erhebungen in Deutschland
sind aber nicht sehr positiv. Vielmehr zeigen Sie, dass die
digitale Spaltung in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Die Kluft zwischen denjenigen, die selbstverständlich und kompetent mit dem PC umgehen können,
und denjenigen, die das Internet nicht nutzen, ist groß. Die
Umfragen zeigen, dass diese Kluft künftig noch größer
sein wird.
In dem Gestrüpp von unkoordinierten Programmen
und Aktionen hat es die Bundesregierung nicht geschafft,
die Zahl der Internetnutzer in allen Alters- , Bildungs- und
Einkommensschichten zu steigern.
({10})
Sie müssen die Spaltung, die zwischen Usern und Losern
besteht, nun endlich wirkungsvoll bekämpfen und Chancengleichheit beim Zugang zum Netz schaffen.
({11})
Frau Kollegin Wöhrl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heil?
Nein, ich lasse heute
keine Zwischenfrage zu. - Es gibt in Deutschland noch zu
viele digitale Analphabeten. Diese Menschen dürfen wir
zukünftig nicht vom gesellschaftlich-politischen Leben
ausschließen.
Sie stellen sich hier hin und rühmen sich, dass die Situation der Schulen bei der Ausstattung mit Computern
und Internetzugängen verbessert worden sei. Das hilft
nicht viel; denn Sie haben vergessen, für die Wartung und
die Pflege dieser Computer zu sorgen. Warum sagen Sie
das nicht?
({0})
Sie haben in Ihrem Programm „Schulen ans Netz“ versäumt, die Folgekosten zu berücksichtigen. Sprechen Sie
einmal mit den Schulträgern vor Ort, denen in den nächsten Jahren erhebliche Ausgaben ins Haus stehen werden,
bei denen sie nicht wissen, wie sie sie aufbringen sollen.
Sie haben hier eklatante Versäumnisse zu verantworten.
Ihre Zwischenrufe zeigen, dass ich mit meinen Aussagen
den Nerv getroffen habe.
Es wäre viel sinnvoller, wenn Sie endlich zu einem
effizienten E-Government kommen würden, und zwar
zu einem E-Government, das mehr ist als der „elektronische Amtsschimmel“, meine Damen und Herren von der
Koalition. Es gibt eine neue Studie der Unternehmensberatung Accenture. Sie hat die Entwicklung des E-Government in 22 Ländern untersucht. Wo landen wir? Deutschland liegt nicht im vorderen Bereich - ausnahmsweise
auch nicht auf den letzten Plätzen -, sondern auf Platz 15.
Die Analyse, die hinsichtlich der Positionierung
Deutschlands abgegeben wird, ist niederschmetternd. Es
ist zu lesen, dass es keine Zukunftsvision für das E-Government und keine politische Koordinierung der verschiedenen Strategien gebe.
({1})
Daran kann man sehen, dass die Bundesregierung bei diesem Thema vollständig verschlafen hat. Sie verliert sich
in einer Reihe von unkoordinierten Einzelprojekten.
({2})
Man könnte bei dem, was Sie hier auf den Weg gebracht
haben, von einem „virtuellen Flickenteppich“ sprechen.
Es kommt aber nicht auf die Anzahl von Aktionen, Projekten und Programmen an, sondern es ist, gerade bei unserer dezentralen Verwaltungsstruktur, wichtig - das wissen Sie -, zu einer Vernetzung und einer Koordinierung zu
kommen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Bilanz Ihres
Aktionsprogramms zeigt deutlich, dass Sie trotz aller
High-Tech-Rhetorik, die Sie an den Tag legen, die eigentlichen Probleme des Standortes Deutschland, wenn überhaupt, nur tröpfchenweise angehen. Und wenn eine
Lösung greift, dann nur in Ländern, in denen die CDU
oder die CSU regiert.
({3})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen
Hubertus Heil.
Liebe Frau Kollegin Wöhrl,
zum Schluss hätte ich analog zu dem, was Sie davor gesagt haben, gesagt, Herr Stoiber habe das Internet erfunden, wenn Herr Kohl das nicht schon gewesen ist. Da
müssen Sie sich einigen.
Ich will kurz zwei Punkte ansprechen, die mich geärgert haben, weil sie sachlich nicht stimmen. Erstens. Sie
haben gesagt, in unserer Regierungszeit habe sich die
Zahl der Internetnutzer nicht nennenswert erhöht. Halten Sie eine Steigerung von 14 Millionen auf über 30 Millionen Internetnutzer, also mehr als eine Verdopplung innerhalb von drei Jahren, nicht für nennenswert?
Zweitens. Auch Sie haben das Problem der digitalen
Spaltung, der Teilung in Angeschlossene und Ausgeschlossene, angesprochen. Als wir hier in diesem Parlament einen Antrag dazu vorgelegt haben, da haben wir
von Ihrer Fraktion nicht nur keine Zustimmung bekommen, sondern Ihr Kollege von Klaeden hat darüber hinaus
dazwischengerufen, das sei Klassenkampf. Was denn
nun? Wir tun etwas gegen die digitale Spaltung in dieser
Gesellschaft, und zwar mit ganz konkreten Maßnahmen,
beispielsweise mit denen, die wir eben diskutiert haben.
Sie ignorieren das.
Zusammengefasst muss ich sagen, Frau Kollegin
Wöhrl, dass ich sehr enttäuscht bin, wenn versucht wird,
so billig zu sagen, dass in Bayern alles klasse sei und im
Bund tue man gar nichts. Ich bitte Sie, etwas genauer in das
Programm hineinzusehen. Das ist nicht nur ein Sammelsurium von Maßnahmen, sondern es ist ein zusammenhängender Masterplan für die Informationsgesellschaft in
Deutschland.
({0})
Ich erbitte
jetzt Ihre Aufmerksamkeit für den nächsten Redner, den
Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium
für Bildung und Forschung, Wolf-Michael Catenhusen.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele haben
Ihren krampfhaften Versuch, Frau Wöhrl,
({0})
hier zum Beispiel die verwegene These vorzutragen, dass
wir im Bereich der Internetnutzung in den letzten Jahren
gar nicht vorangekommen seien, mit einem gewissen
Amüsement verfolgt. Aber wir befinden uns ja in einem
Wahljahr und nach 22 Jahren versucht wieder einmal ein
bayerischer Ministerpräsident, republikweit Renommee
zu gewinnen. Die Zahl der Internetnutzer hat sich jedoch
seit 1998 auf 30 Millionen gesteigert und damit mehr als
verdoppelt.
({1})
Die Beteiligung von Frauen am Internet ist von 30 Prozent um 15 Prozent auf heute schon über 45 Prozent
gestiegen. Auch die Generationsblockade der älteren
Generation besteht weitgehend nicht mehr. Auch für über
50-, 60- oder 70-Jährige ist die Internetnutzung kein
Thema mehr. Meine Mutter beispielsweise ist 79 Jahre alt,
arbeitet am PC und hat auch einen Internetanschluss.
({2})
Dazu kann ich Ihnen, Frau Wöhrl, nur sagen: Das Gespenst, das Sie beschreiben, ist Ihre eigene Wahrnehmung, eine Wahrnehmung, die jemand hat, wenn man aus
Bayern mit Sendungsbewusstsein in den Rest der Republik hinausgeht. Also jedem das Seine.
({3})
Wir halten daran fest: Das Aktionsprogramm ist die
strategische Grundlage einer Innovationspartnerschaft
auf dem Gebiet der Informationsgesellschaft. Was wir
brauchten und die alte Regierung nicht zustande gebracht
hat, war eine strategische Verständigung zwischen Regierung, der informationstechnischen Industrie, der Wirtschaft
insgesamt und der Wissenschaft: In welche Richtung soll
denn eigentlich die Entwicklung in der Informationsgesellschaft gehen?
Deshalb haben Sie, Herr Riesenhuber, völlig Recht:
Diese Bilanz ist eine gemeinsame Erfolgsbilanz von
Regierung, Wirtschaft und Wissenschaft sowie Bund,
Ländern und Gemeinden, die ihren Teil dazu beigetragen
haben. Aber dies ist der Weg, den wir für die Informationsgesellschaft gestalten.
({4})
Sie möchten bitte nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass
die europäischen Regierungschefs mit der LissabonErklärung genau den gleichen Weg beschritten haben.
Sie haben dort einen Masterplan bis zum Jahre 2010 vereinbart, mit dem die europäischen Regierungen und die
Europäische Kommission gemeinsam den USA bei der
Entwicklung und Gestaltung der Informationsgesellschaft
ebenbürtig werden wollen. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel.
Wenn wir darüber reden, mit den USA konkurrenzfähig
zu werden, kann man als bayerische Politikerin vielleicht
noch darüber nachdenken, ob das nur eine nationale Aufgabe ist. Wir jedenfalls sind schon längst einen Schritt
weiter.
({5})
Mit Tony Blair, Jospin und vielen anderen Regierungschefs in Europa haben wir eine gemeinsame Perspektive
entwickelt. Ich denke, wir sind an einer Stelle auch sehr
ehrgeizig: Wir wollen in Deutschland und auch weltweit
eine Vorreiterrolle spielen, ein breitbandiger Internetzugang soll die dominierende Zugangstechnologie zum
Internet werden. Ich denke, in der Kombination von Ausbau von DSL, der rechtzeitigen und breiten Nutzung von
UMTS und unserer Kabelinfrastruktur haben wir die
Chance, in den nächsten Jahren eine weltweite Spitzenstellung anzustreben und zu erreichen. Wir haben auf diesem Gebiet ehrgeizige Ziele.
Dass dieser Bereich zur Chefsache in der Politik geworden ist, ist das, was wir brauchen. Eines ist auch deutlich geworden: Wir haben seit 1998 die Forschungsmittel für Bildung, Forschung und Entwicklung im Bereich
Informationstechnik um fast 40 Prozent
({6})
von 550 Millionen Euro im Jahr 1998 auf 766 Millionen Euro im Jahre 2002 gesteigert. Damit stoßen wir die
Weiterentwicklung sowohl der Basistechnologien für das
Internet als auch eine stärkere Softwareentwicklung an,
die gerade für die mittelständische Industrie von besonderer Bedeutung ist.
Ich weise nur darauf hin, dass wir gerade im schulischen Bereich von der Symbolpolitik von „Schulen ans
Netz“ von 1998 weggekommen sind.
({7})
Wir haben die Innovationspartnerschaft zwischen öffentlichem und privatem Sektor, um diese Anschlüsse zu realisieren, gestärkt. Jede Schule ans Internet! Wir wissen,
dass dies Folgeaufgaben und Folgekosten hat. Jeder muss
hier seine Verantwortung tragen. Wir als Bund haben,
ohne dass dies unsere ureigene Aufgabe war, eine Reihe
von Maßnahmen ergriffen. Wir haben geholfen, die ITAusstattung in den Berufschulen für die berufliche
Bildung zu verbessern. Wir haben Internetecken und
-cafés in öffentlichen Bibliotheken und Einrichtungen geschaffen.
Eines muss man aber auch deutlich sagen: Natürlich
stehen die Länder in der Verantwortung, bei der Lehrerausbildung weiterzukommen. Viele Länder haben in den
letzten zwei Jahren mit den notwendigen Schritten begonnen. Das Tragen der Folgekosten ist eine gemeinsame
Aufgabe. Das kann der Bund nicht für die Länder und Gemeinden erledigen. Ich lache mich ja kaputt, wenn Frau
Wöhrl der Meinung ist, wir sollten die Aufgaben an der
Basis und ein notwendiges, kostengünstiges Management
von IT-Systemen in den Schulen finanzieren.
({8})
Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ich glaube auch
nicht, dass das ganz ernst gemeint war.
Ich denke, dass es darauf ankommt, dass der Bund die
Initiativen startet, mit denen wir in der Innovationspartnerschaft Schwerpunkte setzen können. Lassen Sie mich
das abschließend an zwei Beispielen verdeutlichen. Der
Blick richtet sich auf den Kontent, den Inhalt. Wie können
wir im Bildungssystem eine qualitativ hochwertige Ausbildung unter Nutzung der neuen Technologien gewährleisten? Dazu haben wir zwei Maßnahmen ergriffen,
mit denen wir international Vorbild sind:
Mit mehreren 100 Millionen Euro fördern wir die Entwicklung qualifizierter Bildungssoftware für alle Einrichtungen des Bildungssystems, von den Schulen über die
Hochschulen bis hin zur beruflichen Aus- und allgemeinen Weiterbildung. Das ist unser erster Beitrag.
Der zweite Beitrag ist die Einführung multimedialgestützter Studiengänge in den verschiedensten Bereichen
des deutschen Hochschulsystems auf breite Ebene.
Meine Damen und Herren, das sind Flaggschiffprojekte, mit denen wir Bildung und Beschäftigung nach
vorne bringen. Ich denke, die Bilanz dieser Debatte zeigt,
dass wir auf dem richtigen Weg sind. In den Zwischentönen - auch der Beiträge der Opposition - ist deutlich geworden, dass Sie gerne möchten, dass es noch schneller
und besser geht, dass die Richtung aber stimmt.
Danke schön.
({9})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8456 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Tauss,
Harald Friese, Ludwig Stiegler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Grietje Bettin, Cem
Özdemir, Kerstin Müller ({1}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
E-Demokratie: Onlinewahlen und weitere
Partizipationspotenziale der neuen Medien
nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Erwin Marschewski ({2}), Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Voraussetzungen für die Durchführung
von Onlinewahlen
- Drucksachen 14/8098, 14/6318, 14/8466 Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Grietje Bettin
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus ist
damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Harald Friese für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir
zunächst eine Anmerkung Richtung CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Kollegin Bonitz, wir bedauern es wirklich,
dass wir keine Einigung über einen gemeinsamen Antrag
erzielt haben. Ich sage Ihnen, dass es der Sache gut getan
hätte, einen gemeinsamen Antrag zu stellen.
Worum geht es? Es geht hier heute um eine Positionsbestimmung des Deutschen Bundestages, welche
Konsequenzen wir aus neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien und aus dem veränderten
Kommunikationsverhalten der Menschen ziehen. Daraus
leiten sich folgende Fragen ab: Verändern sich die Formen
politischer Kommunikation und hat dies Auswirkungen
auf die Teilnahme der Menschen an der politischen Diskussion? Weil dies Fragen sind, die alle Fraktionen und
alle Parteien gleichermaßen betreffen, haben wir Ihnen einen gemeinsamen Antrag geradezu auf einem silbernen
Tablett angeboten. Sie haben sich aber verweigert,
({0})
weil in dem Antrag folgender Satz enthalten ist - ich zitiere -:
Denkbar sind darüber hinaus mittelfristig die Ermöglichung der elektronischen Stimmabgabe bei Volksabstimmungen ...
Das hat bei Ihnen geradezu panische Reflexe und
Angstzustände ausgelöst, weil sie befürchten, dass damit
eine mittelbare Zustimmung zum Instrument einer Volksabstimmung verbunden sei.
({1})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich muss
Sie wirklich fragen: Wie viel Angst haben Sie eigentlich
vor dem Volk?
({2})
Wir werden Ihren Antrag ablehnen und ich sage Ihnen
auch, warum: Sie springen viel zu kurz. Sie können nicht
die von Ihnen zu Recht beklagte Tatsache, dass es immer
mehr Nichtwähler gibt, verändern, indem Sie ein neues
Wahlverfahren einführen. Das ist zu kurz gesprungen. Die
politische Teilhabe ist kein technisches Problem. Die Ursachen, warum Menschen nicht mehr zur Wahl gehen,
sind ganz andere.
({3})
Das hat etwas mit Parteien- und Politikverdrossenheit sowie der fehlenden Transparenz politischer Entscheidungen zu tun.
({4})
Es hat absolut nichts mit der Frage zu tun, ob uns neben
der Urnen- und der Briefwahl noch ein drittes Wahlverfahren zur Verfügung steht. Politische Teilnahme ist mehr,
als online wählen zu dürfen und die Teilnahme an neuen
Kommunikationsformen.
({5})
Wir wollen die Chancen ausloten, die sich durch eine
veränderte Gesellschaft ergeben. Wir nehmen auch zur
Kenntnis, dass junge Menschen andere Formen der Kommunikation haben und diese praktizieren. Wir wissen,
dass das Internet für mehr Informationen und deshalb
auch für mehr Transparenz sorgen kann. Damit haben wir
die Voraussetzungen für politisches Interesse, politische
Diskussionen und politische Teilhabe definiert. Das hat
etwas mit Informationen, Transparenz und auch Glaubwürdigkeit zu tun.
Deshalb ist es für uns wichtig - das werden wir heute
ausdrücklich beschließen -, dass das E-DemokratieProjekt des Deutschen Bundestages fortgesetzt und
schnell abgeschlossen wird, mit dem Modelle der elektronischen Demokratie erprobt werden. Wir wollen,
dass das E-Government-Programm des Programms
„BundOnline 2005“ zügig umgesetzt und verwirklicht
wird. Im Rahmen dieses Programms sollen auch schon
Testwahlen in anderen gesellschaftlichen Bereichen online praktiziert und durchgeführt werden.
Aber eines muss ich dazu sagen: Bundestags- oder
Landtagswahlen haben eine andere Bedeutung als andere
Wahlen; denn in den Wahlen konkretisiert und konstituiert sich die Demokratie. Deshalb müssen bei Bundestagsund Landtagswahlen bestimmte Bedingungen unabdingbar erfüllt sein. Das sind nämlich die Wahlgrundsätze: unmittelbar, frei, gleich, allgemein und geheim.
({6})
Eines darf aber nicht infrage gestellt werden: Bei Onlinewahlen muss ganz klar identifiziert werden können,
ob tatsächlich der Wahlberechtigte wählt. Die Geheimhaltung muss sichergestellt sein. Die Geheimhaltung
muss auch nach Abschluss des Wahlvorganges sichergestellt sein, weil die Geheimhaltung der Wahl nicht nur ein
Recht des Bürgers - das ist es auch -, sondern auch eine
Verpflichtung ist, über die nicht disponiert werden kann.
Auch müssen wir sicherstellen, dass die Wahldaten gegen
Angriffe von außen geschützt sind. Es kann vorkommen,
dass man eine Wahl wiederholen muss.
Deshalb bitte ich Sie: Mäkeln Sie doch nicht am
Innenminister herum, wie Sie das in der ersten Beratung
Ihres Antrages gemacht haben. Wir sind dankbar, dass unser Innenminister keinen Schnellschuss macht,
({7})
sondern in seinem Hause eine Arbeitsgruppe eingesetzt
hat, um genau diese Fragen zu prüfen, zum Beispiel ob die
Geheimhaltung und die Identifizierung sichergestellt
sind.
({8})
Sie verweisen darauf, dass bei der Briefwahl die
Geheimhaltung nicht sichergestellt sei, meine Damen und
Herren Kollegen von der CDU/CSU.
({9})
Sie können doch nicht anhand der Tatsache, dass bei der
Briefwahl die Geheimhaltung nicht sichergestellt ist, ableiten, dass wir ein drittes Wahlverfahren einführen, bei
dem die Geheimhaltung ebenfalls nicht sichergestellt ist.
Die Bedeutung der Briefwahl wird zurückgehen; denn
das Bundesinnenministerium plant, dass bis zum Jahre
2006 alle Wahllokale in Deutschland miteinander vernetzt
sind, sodass ich an jedem Ort, an dem ich mich befinde,
wählen kann, und damit der Grund für Briefwahl, nämlich
Abwesenheit vom Wohnort, nicht mehr vorliegt.
({10})
Dies scheint mir im Augenblick wichtiger als manches andere zu sein. Dies ist ein erster Schritt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen und die Gefahr der mangelnden Geheimhaltung bei der Briefwahl zu verringern.
({11})
Wir sind offen für Innovationen und Veränderungen.
({12})
Wir wollen die Chancen neuer Kommunikationsformen
nutzen. Wir werden aber auch sorgfältig prüfen, ob die
Bedingungen, die ich formuliert habe, erfüllt werden.
Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({13})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Sylvia Bonitz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die CeBIT hat gerade wieder ihre Tore geöffnet und zeigt uns, wie mobile
Kommunikation Welten verbindet. In rund sechs Monaten
ist Bundestagswahl. Sie zeigt uns, was die Wählerinnen
und Wähler mit ihrer Stimmabgabe verbinden: einen
Sonntagsspaziergang, vielleicht schlechtes Wetter, eine
muffige Wahlkabine sowie Stift und Wahlzettel. Im günstigsten Falle hat das Wahlvolk in Vorausahnung des wahlsonntäglichen Schmuddelwetters oder aufgrund ernsthafter Verhinderungsgründe von seinem Recht auf Briefwahl
Gebrauch gemacht.
Während unser Wahlbürger zwar von seinem Heim-PC
aus online shoppen, online banken und online chatten
darf, so darf er eines nicht: online wählen.
In den letzten Jahren hat die Zahl der Internetnutzer
weltweit stark zugenommen. Auch bei uns in Deutschland
nutzen inzwischen 30 Millionen Menschen das Internet
zur Unterhaltung, zur Kommunikation oder zur Informationsbeschaffung. Immer mehr bundesdeutsche Haushalte
sind mit PCs ausgestattet. So gewinnt angesichts einer stetig wachsenden Zahl von Internetnutzern die Möglichkeit
der Onlinestimmabgabe zunehmend an Bedeutung. Die
mittels Internet abgegebene Wählerstimme könnte damit
die herkömmliche Stimmabgabe im Wahllokal oder per
Briefwahl um ein attraktives, zeitgemäßes Angebot ergänzen.
Der Weg dorthin scheint mit dieser Bundesregierung
sehr steinig zu werden.
({0})
Erst im Februar wurde bekannt, dass frühestens 2006
- Herr Friese, Sie haben es gesagt - die Wahllokale miteinander vernetzt werden und dann Onlinewahlen vor Ort
möglich sein sollen. Dies ist zwar ein erster richtiger
Schritt, dennoch sind echte Onlinewahlen nach den Vorstellungen der Bundesregierung frühestens 2010 geplant.
Es fällt auf, dass neben plakativen Ankündigungen,
Deutschland befinde sich auf dem Wege zu Onlinewahlen, konkrete Schritte in diese Richtung bislang nicht erkennbar sind. Zwar erwähnt die Regierungskoalition in
ihrem Antrag eine Arbeitsgruppe im Bundesinnenministerium, die sich mit der Vorbereitung für die Durchführung von Onlinewahlen beschäftigt,
({1})
doch leider ist die Informationspolitik über den Fortgang
dieser Aktivitäten spärlich. Es hat den Anschein, als ob
man bis auf kleinere Erfolge nicht recht vorankäme.
Worum geht es nun in unserem Unionsantrag? Um bei
der Realisierung endlich voranzukommen, fordern wir die
Bundesregierung auf, einen Bericht über die gesetzlichen,
sicherheitstechnischen und verwaltungsrelevanten Erfordernisse für Onlinewahlen sowie die Maßnahmen zu ihrer
Realisierung vorzulegen. Gleichzeitig wird die Bundesregierung aufgefordert darzulegen, unter welcher zeitlichen
Perspektive und mit welchem technischen, personellen
sowie finanziellen Aufwand erste Onlinewahlen auf den
unterschiedlichen Ebenen durchgeführt werden können.
Die Bundesregierung soll geeignete Projekte zur Erprobung von Onlinewahlen entwickeln und dabei die Erfahrungen aus den Ländern oder anderen gesellschaftlichen Bereichen heranziehen. Eine ganz entscheidende
Voraussetzung - Sie haben das auch erwähnt, Herr Kollege Friese - kommt dabei der Entwicklung eines sicheren und manipulationsfreien Wahlsystems zu, um die Vertraulichkeit der Wahlentscheidung zu gewährleisten. Das
Vertrauen der Bürger in die Sicherheit einer solchen
Wahlalternative ist schließlich die Grundvoraussetzung
für ihre allgemeine Akzeptanz.
({2})
Onlinewahlen können letztlich nur durchgeführt werden, wenn die grundgesetzlichen Anforderungen des
Art. 38 an allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen erfüllt sind.
({3})
So müssen gewährleistet sein: erstens die eindeutige Feststellung der Wahlberechtigung, zweitens die dauerhafte
Geheimhaltung der abgegebenen Wahlentscheidung, drittens die gebotene Einmaligkeit der Stimmabgabe und
Stimmzählung und viertens die Nachprüfbarkeit der
Wahlergebnisse. Vor allem aber muss der gesamte
Wahlvorgang sicher vor Manipulationen geschützt werden. Hackerattacken zur Fälschung von Wahlergebnissen
dürfen keine Chance haben.
({4})
Die Bundesregierung soll diese Bedingungen in Modellprojekten testen und letztlich die Funktionalität dieser
Wahlalternative sicherstellen. Ist all dies gewährleistet,
wird auch die Bevölkerung das Angebot von Onlinewahlen gewiss annehmen.
Um jedoch keine Missverständnisse aufkommen zu
lassen, sage ich an dieser Stelle deutlich: Es geht uns bei
dem Begriff der Onlinewahl um die Schaffung einer zusätzlichen Möglichkeit der Stimmabgabe neben Urnenund Briefwahl. Von einem vollständigen Ersatz der bisherigen Wahlmöglichkeiten kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Rede sein.
Was spricht eigentlich dagegen, das Wahlrecht mit der
Einführung einer zeitgemäßen zusätzlichen Stimmabgabemöglichkeit zukunftsgewandt fortzuentwickeln und zu
ergänzen? Schließlich wurde auch die Briefwahl erst
einige Jahre nach dem Entstehen der Bundesrepublik
zugelassen. Erst seit 1957 dürfen Wählerstimmen per
Briefwahl abgegeben werden. Dabei ist die Briefwahlmöglichkeit seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht
ausdrücklich nur als Ausnahme genehmigt worden. Sie
sollte auf diejenigen beschränkt sein, die am Wahltag aus
einem gesundheitlichen oder anderen trifftigen Grund
nicht im Wahllokal erscheinen können.
Aus dieser Ausnahme hat sich allerdings in den letzten
Jahren eine stetig gestiegene Zahl von Briefwählern entwickelt. So betrug der Anteil der Briefwahlstimmen bei
der Bundestagswahl 1998 allein 16 Prozent. In München
wurde sogar jede vierte Stimme per Briefwahl abgegeben.
Was läge also näher, als angesichts einer stetig wachsenden Zahl von Internetnutzern demnächst auch die Möglichkeit der Stimmabgabe mittels dieses elektronischen
Mediums zuzulassen? Sie wäre in vielen Fällen bequemer, weil die sonst erforderliche Anforderung von Briefwahlunterlagen entfällt.
Um aber den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
gerecht zu werden, gilt weiterhin der Grundsatz, dass der
Wähler sein Kreuz in der Wahlkabine zu machen hat.
Wenngleich dieser Grundsatz zunehmend unterlaufen
wird, so bleibt doch festzustellen: Eine komplette Wahl
per Internet widerspräche wohl zumindest derzeit auch
unserer Wahlkultur. Einige kritisieren gar, eine Stimmabgabe per Mausklick tangiere die Würde des Wahlaktes.
Da unser Anliegen fraktionsübergreifend grundsätzlich
begrüßt wird, bedaure ich es umso mehr, dass SPD und
Grüne unserem Antrag vermutlich die Zustimmung verweigern werden.
({5})
Schade, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, ein Problem damit haben, dass eine gute Idee
von Ihrem politischen Mitbewerber formuliert wurde.
({6})
Ihr nachgeschobener Koalitionsantrag ist - wie so
oft - mit rot-grünen Verbalblähungen angereichert, die
sich in einer Selbstbeweihräucherung der Regierungsarbeit verlieren. So frage ich mich, warum Sie es nötig haben, das Projekt „BundOnline 2005“ als E-GovernmentInitiative der Bundesregierung immer wieder in den
Himmel zu loben. Selbst Bundesinnenminister Otto
Schily ist sich für einen Gastbeitrag in der gestrigen Ausgabe der „Welt“ nicht zu schade.
({7})
Hat der Minister derzeit nicht Wichtigeres zu tun? Vielleicht sollte er zum Beispiel erst einmal sein eigenes Haus
in den Griff bekommen. Vielleicht würde das den
Überblick über die etwas unübersichtliche Nachrichtenlage von der V-Mann-Front beim NPD-Verbotsverfahren
erleichtern.
({8})
Hier gilt das Motto: Die Hütte brennt, sein Laden pennt
und der Minister Texte schreibt, damit er im Gedächtnis
bleibt.
({9})
Wer solche Prioritäten setzt, sollte Mitarbeitern dankbar
sein, die einen nicht mit wichtigen Informationen belästigen.
Im Übrigen - das sei auch erwähnt - ist das Projekt
„Bund online 2005“ bei einem internationalen Vergleich
schon in der ersten Runde durchgefallen, wie der
„Spiegel“ in seiner jüngsten Ausgabe meldet. Peinlich ist
auch, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, den Entwurf für ein Informationsfreiheitsgesetz in
Ihrem Antrag erwähnen. Dieser Entwurf des Innenministeriums ist aber noch nicht einmal im Bundeskabinett verabschiedet, geschweige denn in den Bundestag eingebracht worden.
({10})
Eine wahre Zumutung findet sich allerdings an einer
anderen Stelle in Ihrem Antrag wieder. Darin heißt es:
Denkbar ist darüber hinaus mittelfristig die Ermöglichung der elektronischen Stimmabgabe bei Volksabstimmungen oder aber die Ermöglichung der elektronischen Einreichung von Petitionen.
({11})
Was wir von der Union auf keinen Fall wollen, ist die
schleichende Einführung von Volksabstimmungen über
den elektronischen Umweg.
({12})
Onlinewahlen sind eine dritte, ergänzende Möglichkeit
der Stimmabgabe neben Urnenwahl und Briefwahl.
({13})
Es ist zu billig, wenn Sie versuchen, Onlinewahlen mit
dem Volksentscheid zu verknüpfen, nur weil Sie Angst
haben, keine parlamentarische Mehrheit für die Einführung von Plebisziten zusammenzubekommen. Für uns
sind dies zwei verschiedene Paar Schuhe.
Ich appelliere daher an Sie: Trennen Sie die Einführung
von Onlinewahlen sauber von dem Thema Volksentscheid. Befreien Sie Ihren Antrag von falschen Lobgesängen auf regierungseigene Projekte, die noch nicht einmal die Kinderkrankheiten überwunden haben. Reden Sie
der Bevölkerung nicht ein, dass Sie mit Ihrem Antrag
- wie Sie schreiben - der Politikverdrossenheit und der
Intransparenz politischer Entscheidungsprozesse begegnen wollen, solange Sie den Korruptionsskandal in der
SPD noch nicht einmal ansatzweise aufgeklärt haben.
({14})
Ich sage das ohne Häme und Schadenfreude. Denn was
der SPD-Filz in Nordrhein-Westfalen angerichtet hat,
schadet der Politik insgesamt.
Befreien Sie Ihren Antrag von diesem überflüssigen
Ballast und konzentrieren Sie sich auf unser gemeinsames
Kernanliegen: die zukunftsgewandte Option, eine zusätzliche Onlinestimmabgabe zügig einzuführen. Wir stimmen doch in diesem wichtigen Punkt überein. Also könnte
unser Antrag heute eine breite Mehrheit in diesem Hause
finden.
Es ist noch viel zu tun, um die Sicherheit solcher elektronisch gestützter Wahlverfahren gewährleisten zu
können. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf,
einen entsprechenden Bericht vorzulegen. Erst muss
die Bundesregierung ihre Hausaufgaben machen. Dann
können wir - hoffentlich bald - auch per Mausklick
wählen.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile
das Wort der Kollegin Grietje Bettin für Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie
sich Folgendes vor: Es ist Bundestagswahl und niemand
geht hin. Dieses Schreckensszenario ist nicht so unwahrscheinlich; denn Politik- und Wahlverdrossenheit schlagen insbesondere bei Wahlen auf unterer Ebene immer
stärker zu Buche.
Doch zukünftig ist auch Folgendes vorstellbar: Es ist
Bundestagswahl, niemand geht hin und es wird trotzdem
gewählt, und zwar per Mausklick am Computer. Für viele
ist wohl auch Letzteres ein Schreckensszenario nach dem
Motto: Die neuen Medien dominieren ohnehin schon immer mehr unseren Alltag. Nun soll auch noch die gute alte
Wahlurne durch einen schnöden PC ersetzt werden?
Meine Antwortet lautet: Nein, wir brauchen Vielfalt. Es ist
Bundestagswahl und viele machen mit - so muss einer der
Slogans lauten -, und zwar in der Wahlkabine, per Briefwahl oder in Zukunft zusätzlich per Mausklick.
Rot-Grün ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass
Onlinewahlen zukünftig ein wichtiges Mitbestimmungsinstrument sein müssen und auch sein werden. Allerdings
darf sich das Thema elektronische Mitbestimmung keinesfalls nur auf das Thema Onlinewahlen beschränken. Der
Fantasie im Hinblick auf elektronische Mitbestimmung
sind nach Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen erst einmal
keine Grenzen gesetzt. Sofort fallen mir Volksabstimmungen und Petitionen als sinnvolle Möglichkeiten der elektronischen Mitbestimmung ein. Aber auch die Virtualisierung der Sitzungen von Parlamentsausschüssen halte ich
grundsätzlich für sinnvoll.
Bündnis 90/Die Grünen befindet sich in Sachen elektronischer Partizipation zweifellos in einer Vorreiterrolle.
Am kommenden Samstag veranstalten die Grünen in
Schleswig-Holstein - das ist mein Landesverband - einen
virtuellen Parteitag. Unter „www.gruener-parteitag.de“
können ab Samstag Menschen mit und ohne Parteibuch
der Grünen über Anträge mitdiskutieren und selber Vorschläge einbringen.
({0})
Wir sind gespannt, direkt zu erfahren, was die Menschen
von uns erwarten und welche politischen Bereiche sie von
uns stärker als bisher beachtet sehen wollen. Wir wollen
mit diesem Parteitag nicht nur ein junges Publikum ansprechen. Wir wollen uns vielmehr generell allen politisch
interessierten Menschen im Land öffnen. Wir probieren
mit diesem virtuellen Parteitag neue Wege der politischen
Kommunikation aus.
({1})
Kritische Stimmen bleiben nicht aus und werden von
uns selbstverständlich ernst genommen. Doch von einer
„elektronischen Diktatur“ - so hat es eine große Regionalzeitung in Schleswig-Holstein formuliert - kann nun
wirklich keine Rede sein. Wir wollen mit dem geplanten
virtuellen Parteitag keineswegs die gesamte politische
Kommunikation inklusive der wichtigen Gespräche in der
Lobby in das Netz verlegen. Wir wollen den Bürgerinnen
und Bürgern vielmehr eine zusätzliche Möglichkeit bieten, sich in die Politik einzumischen und einzubringen.
({2})
Wenn es uns nicht gelingt, mithilfe der elektronischen
Demokratie für mehr Mitbestimmung zu sorgen, dann haben wir etwas falsch gemacht. E-Demokratie heißt nicht
Computerdemokratie, sondern mehr Demokratie.
({3})
Doch wir haben noch einen langen Weg zurückzulegen, bevor bedeutende Wahlen über das Netz durchgeführt werden können. Geeignete Verfahren müssen erst
gründlich erprobt und evaluiert werden. Hier sind wir in
Deutschland mit Unterstützung der Bundesregierung auf
einem sehr guten Weg.
({4})
Es gibt im Bundesgebiet bereits mehrere vorzeigbare Pilotprojekte. So schrieben vor kurzem 234 Wählerinnen
und Wähler in Marburg ein Stück Internetgeschichte, als
sie als erste Wahlberechtigte überhaupt bei einer Landratswahl ihre Stimme online abgeben durften.
Doch nicht nur die technische Funktionsfähigkeit von
Onlinewahlen, sondern auch die breite Aufklärung der
Bürgerinnen und Bürger über das elektronische Wahlverfahren muss gewährleistet sein, um für die notwendige
Akzeptanz in der Bevölkerung zu sorgen.
({5})
Ohne die umfassende Vermittlung von Medienkompetenz
wird es uns nicht gelingen, die neuen Medien so einzusetzen, dass sie für alle und nicht nur für eine computerisierte Minderheit da sind.
Die Bundesregierung ist mit ihrem Schritt-für-SchrittProgramm in Sachen Onlinewahlen sicherlich auf einem
guten Weg. Als ersten Schritt sollen sich die Bürgerinnen
und Bürger in den Wahllokalen an die elektronische
Stimmabgabe per PC und dann, in nicht allzu ferner Zukunft, auch an die Stimmabgabe per heimischen PC gewöhnen, die, wie gesagt, nur eine Möglichkeit von vielen
darstellt. Das langfristige Ziel ist, Kommunalwahlen, aber
auch Landtags- und Bundestagswahlen über das Netz abzuwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen und
Bürger stärker in die Politik einmischen, egal, ob online
oder offline. Hauptsache, wir haben ein offenes Ohr für
ihre Belange. Und dabei können uns die neuen Medien
sehr hilfreich sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die
FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. SchmidtJortzig.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! So
wie Griechenland Inbegriff der Demokratie ist und England oder Großbritannien - so müssen wir wohl besser sagen - Inbegriff des Parlamentarismus ist, soll Deutschland jetzt offensichtlich Inbegriff der elektronischen Wahl
werden. Ich hoffe, dass wir da den Mund nicht zu voll
nehmen und die Erwartungen nicht zu hoch setzen; denn
es ist uns ja noch nicht einmal gelungen - dieser Seitenhieb sei schon gestattet -, in diesem Haus die elektronische Abstimmung einzuführen.
({0})
Liebe Grietje, Sie haben gesagt, dass Sie einen virtuellen Parteitag veranstalten. Ich hoffe, dass der nicht so
schief geht wie der in Baden-Württemberg, bei dem man
nicht einmal die Wahlberechtigungen richtig hinbekam.
({1})
Aller Anfang ist schwer, aber wir sollten das Thema in der
Tat angehen.
Das Internet hat in den letzten Jahren eine gigantische
Entwicklung genommen. Lieber Herr Tauss, verehrte
Frau Wöhrl - sie ist leider nicht mehr hier -, ich vermute
einmal, dass der Siegeszug des Internets auch ganz unabhängig von irgendwelchen grandiosen Politiken, welcher
Farbe auch immer, zustande gekommen wäre.
({2})
Ich jedenfalls habe mir meinen PC nicht auf Initiative der
Regierungspolitik hin zugelegt.
Heute besteht die Möglichkeit, an nahezu jedem Ort
der Welt über eine Unmenge an Informationen zu verfügen, sich Meinungen zu bilden und auch Meinungen auszutauschen. Das Internet ist deshalb zu einem politischen
Faktor geworden und es gilt, die darin liegenden Möglichkeiten auszuschöpfen.
Lassen Sie mich das an einigen Aspekten verdeutlichen, wenngleich die meisten hier schon angeklungen
sind. Bei der letzten Bundestagswahl haben circa 8 Millionen Bürgerinnen und Bürger - das sind immerhin rund
16 Prozent der Wähler - von der Möglichkeit der Briefwahl Gebrauch gemacht. Das heißt, die dezentrale
Stimmabgabe nimmt zu. Auch die mit der Freizügigkeit
einhergehende Mobilität der Bevölkerung lässt sich ins
Feld führen. Man möchte für die Wahl unabhängig von
seinem Wohnort sein, sich möglicherweise auch mit dem
PC in die Natur begeben können.
Viele Bürger beklagen mit Recht die häufig gegebene
Nichtdurchschaubarkeit politischer Vorgänge. Ziel muss
es also sein, wieder mehr Bürger für die Politik zu interessieren, indem Transparenz bzw. Information über das
Geschehen verschafft wird. Das kann - darüber gibt es im
Haus auch keinerlei Dissense - durch Internetnutzung erreicht werden.
({3})
Meine Damen und Herren, das Potenzial, das in der
Möglichkeit der Onlinewahl liegt, sollte daher nicht unterschätzt werden. Die FDP unterstützt deshalb die
Bemühungen, in diesem Bereich zu technischen, sozialen
und juristischen Lösungen zu gelangen.
({4})
Dass wir vorhandene Bedenken ernst nehmen, ist keine
Frage. Jeder Mann und jede Frau hat schon benannt, wo
die Bedenken liegen, nämlich bei der Anwendung der
Wahlrechtskriterien des Art. 38 des Grundgesetzes, was
die Bundestagswahl betrifft. Insbesondere der Grundsatz
der Allgemeinheit der Wahl würde verletzt, wenn man
Bürger, die sich mit der neuen Technologie nicht anfreunden wollen, ausschlösse oder wenn man diejenigen
ausschlösse, die keinen PC haben. Das ist aber nicht geplant. Um es kurz zu machen: Im Hinblick darauf, dass die
Wahl geheim und unmittelbar sein muss, sind natürlich
auch noch Probleme zu lösen.
Die FDP stimmt der Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu.
({5})
- Der Antrag ist nicht schlecht; sonst würden wir nicht zustimmen.
Zum Schluss will ich noch etwas zur Erheiterung des
Hauses zum Besten geben. Gerade wir Liberale können
der Perspektive der Onlinewahl offenbar zuversichtlich
entgegensehen; denn, wie mir berichtet wurde, hat bei
einer vor einiger Zeit durchgeführten virtuellen Wahl
zum Internetkanzler die liberale Kandidatin Malta mit
28,72 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von
immerhin 82,6 Prozent enorm erfolgreich abgeschnitten.
Das werten wir einmal als gutes Omen.
Besten Dank.
({6})
- Nach oben ist die Skala offen.
Für die
PDS-Fraktion spricht die Kollegin Angela Marquardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schmidt-Jortzig,
ein sozialistischer Kandidat hat bei einer solchen Abstimmung sogar einmal gewonnen. Ich hoffe, das bedrückt Sie
jetzt nicht sehr. Das war im vergangenen Jahr.
({0})
Hier ist zum Ausdruck gebracht worden, dass die fehlenden Onlinewahlen weder an der Politikverdrossenheit
noch an der Tatsache, dass viele Menschen zurzeit nicht
mehr zur Wahl gehen, schuld sind; vielmehr hat das Desinteresse an demokratischen Verfahren natürlich andere
Gründe. Einer dieser Gründe ist vielleicht, dass sich dieses Haus auf einen gemeinsamen Antrag, zu Onlinewahlen zu kommen, nicht einigen konnte. Ich finde das sehr
schade, weil ein solches Vorhaben nicht gegen irgendjemand gerichtet ist, sondern uns allen dient.
({1})
Auch ich finde die Aussicht, Abstimmungen per Internet durchzuführen, sehr verlockend. Ich glaube, gerade
für Menschen mit eingeschränkter Mobilität ist das eine
gute Alternative zu den bisher bestehenden Möglichkeiten.
Wahlen müssen frei sein. Das heißt, sie müssen anonym sein und ohne Druck erfolgen. Im Wahllokal kann
man das kontrollieren. Auch bei der Briefwahl kann man
das einigermaßen kontrollieren. Wird im großen Maßstab
am PC abgestimmt, lässt sich immer weniger kontrollieren, inwiefern eine Wahl frei erfolgte. Nur ein Beispiel:
Hat eine Ehefrau, die den PC ihres Mannes nutzt, oder haben Jugendliche, die am heimischen PC ihre Stimme abgeben - ich denke an Wahlen, an denen man ab dem
16. Lebensjahr teilnehmen darf -, wirklich ohne Druck
abgestimmt oder wurde Einfluss genommen? Diesen
Aspekt muss man natürlich beachten. Er spricht letztlich
aber nicht gegen die Durchführung von Onlinewahlen.
Wichtiger sind für mich jedoch die von Kollege Friese
schon angesprochenen technischen Fragen, was Geheimhaltung etc. betrifft. Wir müssen einerseits die Authentizität feststellen und andererseits eine hundertprozentige
Geheimhaltung der Wahlentscheidung gewährleisten. Es
muss bei den Onlinewahlen natürlich Datensicherheit geben. Kollege Tauss, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze:
TKÜV, Cybercrime-Konvention
({2})
- nein, natürlich nicht -; ich könnte es weiter ausführen.
Es gibt Begehrlichkeiten des Bundesinnenministeriums
bezüglich der Überwachung von Verbindungsdaten. Das
alles sind Entwicklungen, die den Datenverkehr durchsichtiger machen und die Anonymität zerstören. Das kann
dazu führen, dass wir letztlich keine Onlinewahlen erleben werden.
Kollege Tauss - ich habe gerade zum Ausdruck gebracht, dass ich Sie schätze -, ich möchte Sie kurz zitieren, wenn Sie erlauben:
Die Überwachungswut im Internet übersteigt schon
jetzt alles, was wir aus der Offlinewelt kennen.
Wohl wahr, Kollege Tauss.
({3})
Ich hoffe, dass wir beide gemeinsam etwas dagegen tun.
Onlinewahlen dürfen kein Feigenblatt werden und eine
Sicherheit im Netz vortäuschen, die so nicht gegeben ist.
Die in den USA erneut aufgeflammten Diskussionen zu
dem Thema Kryptographie zeigen auch, wohin die Entwicklung geht. Ich hoffe, dass die Bundesrepublik unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass sie für Kryptographie ist. Wir warten noch darauf, dass aus einem
Bericht Schlussfolgerungen gezogen werden.
Das E-Demokratie-Projekt muss weitergeführt werden. Ich finde, das ist eine sehr gute Initiative der Bundesregierung. Man kann sich auf einen gemeinsamen Antrag offensichtlich nicht einigen, weil es unterschiedliche
Herangehensweisen an demokratische Verfahren gibt. Ich
halte die Möglichkeit von Volksabstimmungen über das
Internet wirklich für eine hervorragende Ergänzung. Ich
weiß überhaupt nicht, was dagegen spricht, es sei denn,
man hat Angst, kontrolliert zu werden.
({4})
Als letzter
Redner spricht nunmehr der Kollege Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der guten Ordnung
halber auf Folgendes aufmerksam machen: Die Tatsache,
dass wir hier nicht elektronisch abstimmen können, geht
auf einen damaligen Mehrheitsbeschluss von CDU/CSU
und FDP zurück.
({0})
Ich sage das nur, damit es hier keine Missverständnisse
gibt. Wir hatten damals keine Mehrheit in diesem Hause.
Hier sind noch nicht einmal entsprechende Kanäle gelegt
worden. Heute würde das Legen dieser Kanäle sehr viel
Geld kosten. Das ist eigentlich schade.
Liebe Kollegin Bonitz, Sie wissen, Sie schätze ich auch
sehr - nachdem wir uns heute hier alle schätzen, Kollegin
Marquardt, Kollegin Bettin. Ich glaube, bei diesem Thema haben wir zum Teil wirklich Berührungspunkte über
Fraktionen hinweg; das sollte man schon sagen. Weil ich
glaube, dass wir heute schon an einer Stelle sind, wo wir
möglicherweise auch über die Zukunft von Parlament und
Parlamentarismus reden, Kollegin Bonitz, will ich für die
Chronisten, die später einmal gucken, wie das anno 2002
war, festhalten, dass ich es war - das sei in aller Bescheidenheit angemerkt -, der das Thema Onlinewahl in der
letzten Legislaturperiode in den Abschlussbericht der
Enquete-Kommission hineingeschrieben hat.
({1})
Damals haben wir heftige Diskussion mit Ihrer Seite darüber geführt. Dies nur zur historischen Redlichkeit. Aber
wenn wir uns heute weitgehend einig sind, ist das doch
ganz prima.
Ich gebe Ihnen, Kollegin Marquardt, und allen anderen
völlig Recht, die hier gesagt haben, bevor wir über elektronisches Wählen reden, müssen wir natürlich zunächst
einmal darüber reden, dass die Netze sicher sein müssen
und dass der Staat nichts tun darf, um Netze unsicher zu
machen. Wir müssen über die Möglichkeit von Anonymisierungs- und Pseudonymisierungsverfahren reden.
Das sage ich jetzt auch als Forschungspolitiker. Das
Thema ist außerordentlich spannend und könnte einen
großen Schub für die IT-Industrie und für die Softwareindustrie in Deutschland auslösen. Das ist überhaupt
keine Frage.
({2})
Ich kann Ihrem Antrag, Kollegin Bonitz, heute nicht
zustimmen, weil ich die Reduzierung auf das Thema Onlinewahlen für problematisch halte, so interessant es ist.
Gerade unter diesem Gesichtspunkt haben wir es damals
übrigens in den Abschlussbericht der Enquete-Kommission hineingeschrieben.Wir haben gesagt: Sichere Wahlen
im Internet würden voraussetzen, dass wir ein sicheres Internet haben. Ein sicheres Internet wäre übrigens auch Voraussetzung für viele weitere tolle positive Entwicklungen in Geschäftsprozessen. Da haben wir uns einen Schub
erhofft. Man stelle sich vor, bis in die letzte Kommune
und in das letzte Wahlamt hinein würde über die Frage
diskutiert: Wie können wir verhindern, dass die SPD der
CDU/CSU 1 Million Stimmen abnimmt? Das werden wir
schon wegen Ihres Kanzlerkandidaten tun; das ist keine
Frage. Aber es sollte ja nicht elektronisch manipulierbar
sein - natürlich auch nicht anders herum, das will ich Ihnen natürlich zugestehen.
Wenn wir über diese Dinge reden, reden wir über mehr.
Selbstverständlich ist elektronisches Wählen spannend.
In geschlossenen Netzen könnten wir es heute schon tun.
Deswegen schlagen wir vor, elektronische Wahlen beispielsweise bei Wahlen nach dem Betriebsverfassungsgesetz und bei den Wahlen zu den Sozialversicherungsträgern zu ermöglichen. Niemand würde uns daran
hindern, das in diesen Bereichen auszuprobieren. Ich
warne aber davor - das tun auch alle Informatiker -, bei
der höchsten Wahl, die wir in diesem Lande haben, bei der
Bundestagswahl mit elektronischen Wahlen zu beginnen.
Kollegin Bonitz, Sie sollten es deshalb auch nicht zum Gegenstand von Angriffen auf die Bundesregierung machen.
Wir sollten in geschlossenen Netzen Erfahrungen sammeln, zum Beispiel in Betrieben, bei Studentenparlamenten, bei der Testwahl für Schülerinnen und Schüler, und
uns langsam vortasten. Gerade bei der Frage der ITSicherheit ist ein Zeitraum von zehn Jahren nicht zu lang.
Darüber habe ich auch mit den führenden IT-Experten in
unserem Lande gesprochen, die vor einem Schnellschuss
gewarnt haben. Diese Warnungen sollten wir beachten.
({3})
Wir reden über mehr als über elektronisches Wählen
per Mausklick. Ihr Antrag greift einfach zu kurz; der Kollege Friese hat schon darauf hingewiesen. Bertolt Brecht
sprach in seiner Rundfunktheorie einmal von der großartigen Möglichkeit, dass es auch für politische Kommunikation ganz andere Chancen gäbe, wenn man einen
Kommunikationsapparat hätte, der nicht nur empfängt,
sondern es einem auch ermöglicht, selbst zu senden. Das
war in den 30er-Jahren eine tolle Vision.
Aus diesem Grunde wollen wir eben nicht nur darüber
reden, die Leute alle vier Jahre einen Mausklick machen
zu lassen, sondern wir wollen darüber reden, ob das mehr
Partizipation in vielen Bereichen mit sich bringen kann.
Sie haben Angst vor dem Volk, weil Sie sich gegen Volksabstimmungen wenden.
({4})
Das zentrale demokratietheoretische Problem auf der
konservativen Seite des Hauses ist, dass Sie Angst vor
dem Volk haben, weil Sie befürchten, es würde Ihnen
möglicherweise an ein paar Punkten nicht mehr folgen.
({5})
Da werden Sie über Ihren Schatten springen müssen und
Sie werden das auch tun.
Jede Demokratie lebt von aktiver Teilnahme. Die
Chance der neuen Medien ist selbstverständlich nicht,
dass sie automatisch zu mehr Demokratie führen. Aber
wenn wir ein Mehr an Demokratie wollen, dann geben uns
das Internet und die neuen technischen Möglichkeiten
eine herausragende Chance, Bürgerinnen und Bürger
auch an den Prozessen hier im Parlament stärker zu beteiligen. Das wollen mit unserem E-Demokratie-Projekt
ausprobieren. Das ist ein ganz schwieriger Prozess bis hin
zu den Fragen, welche Software eingesetzt wird und wie
sicher kommuniziert werden kann. Das sind alles keine
profanen Probleme. Wir müssen dazu stehen, dass wir
eine solche Beteiligung von außen tatsächlich haben
wollen.
Es gibt drei positive Möglichkeiten: Wir müssen den
Menschen vereinfachte nutzerorientierte Zugänge zu relevanten Informationen geben. Wir müssen komplizierte
politische Verfahren bürgernah nachvollziehbar darstellen. Wir haben die Chance, in einen dauernden direkten
Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern zu treten. Das ist die
Zielsetzung, die wir mit all dem verbinden.
Auch dieses Parlament hat gute Chancen, hierzu in den
nächsten Jahren Beiträge zu leisten. Mit aller Deutlichkeit
sage ich mit Blick auf die Regierungsbank: Selbstverständlich kann ich mir vorstellen, dass wir die Möglichkeiten auch nutzen werden, um Regierungshandeln
- dabei ist es egal, wer gerade regiert; wir werden noch
lange regieren - für uns als Parlamentarier transparenter
zu machen, sodass wir früher in Erfahrung bringen können, was die Ministerien machen. Hier bietet sich eine
hervorragende Chance, zusätzlichen Sachverstand für das
Parlament zu mobilisieren.
Die Akzeptanz und die Legitimation politischer und
parlamentarischer Prozesse können wir, Herr Präsident
- Sie erinnern mich ja schon an die Zeit -, mithilfe der
Technik, wenn wir es wollen, erhöhen. Die Technik richtet es nicht von alleine. Ein Mehr an Demokratie können
wir aber, wenn wir es denn wollen, mithilfe der Technik
realisieren.
({6})
Ich würde mich freuen, wenn Sie alle unserem Antrag
zustimmen. Die FDP hat ja bereits ein positives Beispiel
gegeben, indem Herr Schmidt-Jortzig ein zustimmendes
Votum signalisierte. Vielen Dank dafür. Vielleicht springen auch die anderen über ihren Schatten. Springen Sie
nicht zu kurz! Haben Sie Mut! Stimmen Sie dem Antrag
von Rot-Grün zu!
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/8466. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8098 mit dem
Titel: „E-Demokratie: Onlinewahlen und weitere Partizipationspotenziale der neuen Medien nutzen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der PDS-Fraktion mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 14/6318 mit dem Titel:
„Voraussetzungen für die Durchführung von Onlinewahlen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Statistik über die Beherbergung im Reiseverkehr ({0})
- Drucksache 14/6392 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus ({2})
- Drucksache 14/8475 Berichterstattung:
Abgeordnete Brunhilde Irber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie Sie
wissen, verdient die Tourismusbranche als eine Branche,
die in Deutschland immerhin rund 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, rund 3 Millionen Menschen beschäftigt und 105 000 Ausbildungsplätze bereitstellt, die
besondere Aufmerksamkeit der Bundesregierung. Es ist
uns durch ein vielfältiges Engagement gelungen, die Bedeutung der Tourismuswirtschaft als Wirtschaftsfaktor
in der Öffentlichkeit zu verankern und ihr mehr Anerkennung zu verschaffen.
Auch die Novellierung des Beherbergungsstatistikgesetzes ist ein Weg in die richtige Richtung. Letztlich
misst doch das Instrument Statistik Leistungen und stellt
sie für die Öffentlichkeit vergleichbar dar. Es ist mit Sicherheit richtig, dass man auf der einen Seite möglichst
viel wissen will, um feinsteuern zu können; auf der anderen Seite besteht immer die Sorge, dass die zusätzlich belastet werden, die in der Praxis tätig sind. Wir haben gemeinsam versucht, einen goldenen Mittelweg zu finden,
um sowohl dem einen wie auch dem anderen Anliegen
Rechnung tragen zu können.
({0})
Mit der Beschlussempfehlung des Tourismusausschusses zum Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wir
einen für alle Beteiligten, wie ich denke, tragfähigen
Kompromiss gefunden. Dafür bedanke ich mich auch von
dieser Stelle aus.
Gleichzeitig ist erreicht worden, dass wir den europäischen Vorgaben Rechnung getragen haben, zum Beispiel
den Informationsanforderungen der EG-Tourismusstatistik-Richtlinie, die somit von Deutschland erfüllt werden kann. Mit der Aufnahme der Pflicht der Erfassung der
Zimmerauslastung in den Gesetzentwurf wird darüber hinaus einer langjährigen Forderung der Tourismuswirtschaft entsprochen.
Saldiert können wir sagen: Trotz der Erfassung zusätzlicher Zahlen wird es beim Aufwand eine Nettoeinsparung
geben. Damit ist ein Ziel, das wir uns gesetzt haben, erreicht.
({1})
Es ist auch wichtig, dass nicht vergessen worden ist,
insbesondere den Bereich der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen mitzuberücksichtigen. Dies ist ebenfalls ein Wunsch der Länder und der Tourismusverbände
und wird von der Bundesregierung in vollem Umfange
mitgetragen. Ich glaube, dass damit die bisherige Transparenz beibehalten werden kann, die wir uns alle wünschen und die insbesondere in jenen Ländern und Regionen Bedeutung hat, in denen Kurgäste die überwiegende
Anzahl von Touristen ausmachen, sodass für Unternehmer in der Tourismusbranche Investitionsentscheidungen
erleichtert werden.
({2})
Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetzentwurf in Verbindung mit der Beschlussempfehlung Ihre Zustimmung zu
geben.
({3})
Ich glaube, dass das im Zusammenhang mit der Internationalen Tourismusbörse, die bekanntlich am Sonnabend
in Berlin eröffnet wird, sehr gut ist. Dies ist ein Signal, das
deutlich macht, Herr Hinsken, dass die Politik auch einmal zusammenstehen kann, wenn es darum geht, die Sache voranzubringen.
({4})
Insoweit ist das sicherlich auch für die FDP- und die
CDU/CSU-Opposition ein wichtiges Anliegen.
({5})
Die Bundesregierung hat im Hinblick auf den Tourismus zahlreiche wichtige Schritte getan: Die Steuerreform wirkt. Die Konsolidierung des Haushaltes, die
Entbürokratisierung, die Aufgabe von Rabattgesetz
und Zugabenverordnung, die Investitionsförderung, die
wir im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ auf einem hohen Niveau haben festsetzen können, und auch die Zuwendung für die DZT sind einige von vielen Punkten,
die die Bundesregierung zugunsten des Tourismus aufgelegt hat.
Lassen Sie mich abschließend auf Folgendes hinweisen: Wer sich die Zahlen des deutschen Tourismus in den
vergangenen Jahren anschaut, der wird feststellen können, dass der Tourismus tatsächlich eine Wachstumsbranche in Deutschland ist.
({6})
Ich möchte einmal die Zahlen nennen: Wir hatten 1997
287,2 Millionen Übernachtungen in Deutschland. Es sind
jetzt 326,6 Millionen. Betrachtet man die Zahlen nach
Bundesländern aufgefächert, so sei an dieser Stelle der
Hinweis erlaubt, dass es insbesondere in den neuen Bundesländern gelungen ist,
({7})
in diesem wichtigen Bereich fast durchweg erfreuliche
Akzente zu setzen.
({8})
- Es ist immer alles besser zu machen. Würde diese Möglichkeit in unserem Leben nicht bestehen, wären wir nicht
mehr perspektivisch genug ausgerichtet.
In Berlin - ich fange einmal mit meinem Bundesland
an - stieg die Zahl der Übernachtungen von 8,3 Millionen
auf 11,3 Millionen, in Mecklenburg-Vorpommern von
13,3 Millionen auf 19,8 Millionen. Das zeigt, dass dort
viel in Bewegung ist,
({9})
dass in den Tourismus investiert wird und dass es auch in
den neuen Bundesländern attraktive Angebote gibt. Ich
nenne hier - damit niemand sagt, ich wäre parteipolitisch
einäugig - genauso gern die südlichen neuen Bundesländer Thüringen und Sachsen, die auf diesem Gebiet ebenfalls große Erfolge zu verzeichnen haben.
({10})
Ich möchte abschließend sagen: Wir werden auf dieser
Linie fortfahren. Wir laden Sie alle ein, weiter mitzuhelfen, den Tourismus in Deutschland zu unterstützen und zu
fördern sowie Deutschland im Blick auf den Tourismus
weiter attraktiv zu gestalten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einleitend freue
ich mich, dass wir unsere Kollegin Brunhilde Irber weiter
in den Reihen der Tourismuspolitiker des Deutschen Bundestages begrüßen dürfen. Mein Dank gilt daher Landrat
Christian Bernreiter von der CSU mit seinem überragenden Wahlergebnis von 59,2 Prozent bei den Landratswahlen im Kreis Deggendorf.
({0})
Er hat dafür gesorgt, dass die SPD-Bundestagsfraktion
nach dem Ausscheiden von Staatssekretär Mosdorf nicht
noch mehr von ihrem tourismuspolitischen Sachverstand
verliert.
Ein gutes Beispiel für mangelnden tourismuspolitischen Sachverstand ist die von Rot-Grün geplante Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes, über die wir
heute debattieren. Von dem ursprünglichen Regierungsentwurf ist durch die vehementen Proteste der Tourismusbranche und der Opposition kaum noch etwas übrig geblieben. Erst im Bundesrat wurde der Irrweg Ihres
Gesetzentwurfes auch von SPD-geführten Bundesländern
beendet und wurden die Hauptforderungen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion eingearbeitet. Insofern kann ich
Ihnen für unsere Fraktion hier und heute mitteilen, dass wir
dem Gesetzentwurf zustimmen.
({1})
Zur Verdeutlichung: Es war die rot-grüne Bundesregierung, die die Übernachtungen in Kurkliniken aus der
statistischen Erfassung streichen wollte. Eine verantwortliche und langfristige Tourismus- und Infrastrukturpolitik
der deutschen Heilbäder und Kurorte fordern und
gleichzeitig den Kommunen kein verlässliches Zahlenmaterial als Planungsgrundlage zur Verfügung zu stellen,
das ist rot-grüner Sachverstand pur.
Es war die rot-grüne Bundesregierung, die nur noch
Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben mit mehr als
zwölf Betten statistisch erfassen wollte. Derzeit liegt die
Grenze bei acht Gästebetten. Den effizienten Einsatz von
Steuermitteln bei der Planung von Infrastrukturmaßnahmen
wie bei Verkehrswegen, Wasser- und Abfallentsorgung fordern und gleichzeitig Bund, Länder und Kommunen die
Planungsgrundlagen dafür entziehen - Sachverstand à la
Rot-Grün.
Es war die rot-grüne Bundesregierung, die die Festlegung der Abschneidegrenze mit einem Verweis auf das
Gaststättengesetz regeln wollte. Für diese Verbindung
von Gaststättengesetz und Beherbergungsstatistikgesetz
gab es keine sachliche Begründung. Änderungen im Gaststättengesetz hätten damit Veränderungen in der Tourismusstatistik zur Folge haben können. Auch hier zeigt sich
die Vorstellung von rot-grünem Sachverstand.
In der nächsten Legislaturperiode sollte grundsätzlich
überlegt werden, ob tourismusrelevante Einzelgesetze in
einem eigenen Tourismusgesetz zusammengefasst werden können,
({2})
um etwas mehr Klarheit für die Branche zu schaffen, eine
alte Forderung auch unseres Ausschussvorsitzenden Ernst
Hinsken.
({3})
Leider wurde die Forderung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zumindest einmal im Jahr die Betriebe mit
weniger als acht Betten statistisch zu erfassen, nicht erfüllt. Für eine strategische und nachhaltige Tourismuspolitik wären aber gerade diese Zahlen von unschätzbarer
Bedeutung. Gott sei Dank haben wir im Osten Deutschlands ein Projekt, das uns nähere Auskunft über die Bedeutung dieses touristischen Graumarktes gibt.
({4})
Das Sparkassen-Tourismusbarometer, das jährlich durch
den Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverband und einige Agenturen mit neuen Themen fortgeschrieben wird,
gibt den Ländern und Kommunen nunmehr seit vielen
Jahren Ratschläge für eine positive Entwicklung des Tourismus zwischen Fichtelberg und Rügen.
({5})
Am kommenden Montag wird im Rahmen der ITB dieser bisher noch nicht durch die Statistik erfasste Graumarkt im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
({6})
Vorab schrieb die „Fremdenverkehrswirtschaft“ am
7. März dieses Jahres: „Während das offizielle Übernachtungsvolumen für 2001 insgesamt 57,5 Millionen Übernachtungen in den neuen Bundesländern umfasst, liegt
das ‚wahre‘ Marktvolumen mit 159,1 Millionen Übernachtungen mehr als zweieinhalb Mal so hoch. Zu diesem
Volumen tragen Aufenthalte in Privatzimmern und Ferienwohnungen, der Sofatourismus - private Verwandtenund Bekanntenbesuche -, das Dauercamping und die
Übernachtung in Freizeitwohnsitzen bei - ein bislang in
dieser Höhe völlig unbekannter und daher auch im touristischen Marketing weitgehend vernachlässigter Markt.“
Wie Sie sehen, werden riesige Wirtschaftspotenziale
und erbrachte Leistungen von unserem bisherigen Statistiksystem leider einfach ausgeblendet. Die CDU/CSUBundestagsfraktion sieht daher durchaus weitere Verbesserungsmöglichkeiten im Statistikgesetz. Denn das
Sparkassen-Tourismusbarometer belegt, dass man auch
ohne zusätzliche Bürokratie, ohne zusätzliche Kosten für
die Betriebe und bei gleichzeitiger Wahrung des Datenschutzes zeitnahe Daten über die touristische Lage der Öffentlichkeit sowie politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern zur Verfügung stellen kann. - Wie Sie
sehen: Die Statistik ist nicht alles, aber ohne Statistik ist
alles nichts.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich die heutige Debatte für einen Ausblick auf die ITB,
die größte Tourismusmesse der Welt, nutzen, die übermorgen hier in Berlin beginnt. Die ITB ist unzweifelhaft
ein Seismograph für die bevorstehende Saison. Der
Deutschlandtourismus wird wahrscheinlich von der gestiegenen Nachfrage nach erdgebundenen Verkehrsmitteln profitieren.
({7})
Damit ist die große Chance verbunden, neuen Zielgruppen die hohe Qualität des deutschen Tourismusangebotes
zu präsentieren.
({8})
Im Gegensatz zu allgemein rückläufigen Gästezahlen haben viele Regionen in Deutschland in den letzten Monaten noch Gäste hinzugewinnen können. Es freut mich besonders, dass dies auch für sächsische Tourismus- und
Feriengebiete zutrifft.
({9})
Die Absage einiger großer Reiseveranstalter und Fluggesellschaften bzw. deren deutlich reduzierter Messeauftritt
auf der ITB zeigt die Kurzsichtigkeit dieser Unternehmen,
die die erstbeste Gelegenheit nutzen, sich vom wichtigen
internationalen Messestandort Berlin zu verabschieden ein falsches Zeichen zur falschen Zeit.
({10})
Abschließend möchte ich in der heutigen Debatte eine
Bilanz der rot-grünen Tourismuspolitik ziehen. Die Bundesregierung hätte in den vergangenen Jahren die Chancen der Branche für mehr Arbeitsplätze beherzter nutzen
können und müssen.
({11})
Offensichtlich gehört die große Liebe unseres Wirtschaftsministers Dr. Müller aber wohl vor allem der Energiewirtschaft.
({12})
- Davon habe ich bisher leider sehr wenig mitbekommen,
Herr Kubatschka.
({13})
Sein Interesse für die mittelständisch geprägte Tourismusbranche als Jobmaschine und Leitökonomie des 21. Jahrhunderts hält sich dagegen leider in Grenzen. Das Einzige, was unter Wirtschaftsminister Dr. Müller gewachsen
ist, ist die Schwarzarbeit. Hierzu nur eine Zahl: In diesem
Jahr wird mit einem Volumen von 350 Milliarden Euro
gerechnet.
({14})
Wir werden diese politische Einstellung zu den Millionen
von fleißigen und engagierten Mitarbeitern, Unternehmern und Existenzgründern ab dem 22. September wieder
zur Herzenssache einer von uns geführten Bundesregierung unter Kanzler Edmund Stoiber machen.
({15})
Im Gegensatz zu Minister Müller hat der scheidende
Staatssekretär Siegmar Mosdorf die Initiativen der Opposition zu würdigen gewusst und viele unserer Ideen übernommen. Erinnert sei hier nur an das „Jahr des Tourismus
in Deutschland 2001“, die Bemühungen, das SparkassenTourismusbarometer auf das ganze Bundesgebiet auszuweiten, und die Entwicklung der deutschen Nationalparke
zu einer eigenständigen Premiummarke. An dieser Stelle
hoffe ich, dass uns der neue Staatssekretär, Herr Staffelt,
ebenfalls seine Unterstützung im Ausschuss zusagt und
seine Punkte entsprechend setzen wird.
({16})
Der Deutschen Zentrale für Tourismus als Fenster
Deutschlands in vielen Staaten der Erde möchte ich für
unsere Fraktion ein herzliches Dankeschön sagen. Wir
wollen nach dem 22. September 2002 die DZT deutlich
stärken. Hier sehe ich keine Alternative.
({17})
Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht außer Acht
lassen: Tourismuspolitik ist die beste und nachhaltigste,
vielleicht auch kostengünstigste Außen- und Entwicklungspolitik. Deutschland ist Reiseweltmeister und leistet
damit direkt und indirekt auch einen wichtigen Beitrag
zur Wirtschaftsentwicklung vieler Länder unserer Erde.
Eine Debatte zur Mittelstands- und Tourismuspolitik,
bei der das Thema Rahmenbedingungen nicht angesprochen wird, ist wie ein Blinder, der über die Farben spricht.
({18})
Als ostdeutscher Abgeordneter möchte ich hier die Betrachtung besonders auf die Situation in den neuen Bundesländern lenken. Seit 1999 sinkt in Ostdeutschland die
Kaufkraft stetig. Die Arbeitslosigkeit war seit 1990 noch
nie so hoch wie unter Kanzler Schröder.
({19})
Die Investitionsquote in den neuen Ländern geht seit Jahren zurück. Dafür wächst die Zahl der Unternehmenspleiten auch im Tourismus auf ein neues Rekordniveau, wie
heute „Die Welt“ schreibt.
({20})
In diesen Zusammenhang passt ein Kommentar über
den Ostparteitag der SPD aus der „Freien Presse“ in
Chemnitz von heute - ich zitiere -:
Auf dem SPD-Ost-Parteitag in Magdeburg hat
Schröder vollmundig den A-72-Bau zwischen
Chemnitz und Leipzig versprochen. Kurz darauf ruderten Mitarbeiter im Bundesverkehrsministerium
bereits wieder zurück. Ihr Motto: So war das alles
nicht gemeint. Kein Wunder, dass Sachsens Wirtschaftsminister Schommer nun eine verbindliche
Zusage verlangt. Und zwar vor dem Wahltag.
({21})
Meine Damen und Herren, die Halbwertszeit von Kanzlerversprechen liegt bei Gerhard Schröder mittlerweile nur
noch bei Stunden. So sieht es also aus, wenn ein SPD-Bundeskanzler den Aufbau Ost zur Chefsache macht. Die rotgrüne Bundesregierung ist besonders in den ostdeutschen
Ländern ein Risikofaktor mit erheblicher Standortgefährdung.
Zusätzlich lässt sich die Sozialdemokratie zur Erhaltung ihrer Macht mehr und mehr auf die Bündnisse mit
der PDS ein.
({22})
- Hören Sie doch einmal zu!
({23})
Überall, wo diese Bündnisse bestehen, sackt die Wirtschaft in den Keller. Insofern stellt sich für mich die
Frage, warum der Genosse der Bosse und selbsterklärte
Wirtschaftskanzler Gerhard Schröder nun sogar auf Bundesebene versteckte Bündnisangebote an die PDS aussendet.
({24})
Anscheinend regiert bei Rot-Grün nur noch die Panik.
Die Angst vor dem Machtverlust geht um.
({25})
Diese Politik hat uns auch im EU-Vergleich die rote Laterne eingebracht. Deutschland ist in den wichtigsten
wirtschaftlichen Kennzahlen erstmals Schlusslicht in Europa. Weltwirtschaftliche Krisen gab es auch schon vor
dem 11. September 2001 und auch zu Zeiten einer CDU/
CSU-geführten Bundesregierung. Der entscheidende Unterschied dabei ist: Unter Bundeskanzler Helmut Kohl
({26})
waren wir selbst in der Krise noch die Lokomotive innerhalb Europas.
({27})
Herr Kollege
Brähmig, ich muss Sie jetzt ein wenig bremsen. Ihre
Redezeit ist nämlich abgelaufen.
Ich bin sofort fertig,
Frau Präsidentin. - Heute, unter Gerhard Schröder, sind
wir nur noch der Bremsklotz.
Kollege Hinsken hat diese Situation vor zwei Wochen
von diesem Platz aus sehr anschaulich dokumentiert.
Das Tohuwabohu auf der Regierungsbank verdeutlichte,
wie dünnhäutig die rot-grüne Bundesregierung geworden ist.
Herr Kollege
Brähmig, sehr geduldig bin ich heute nicht.
Ja, Frau Präsidentin. Die Bundesregierung inszeniert bei jeder sich bietenden
Gelegenheit angebliche Erfolge mit riesigen Show-Effekten. Wir werden sie aber nicht aus dieser Schlusslichtdebatte herauslassen.
Jetzt haben Sie selbst
das Stichwort Schlusslicht gegeben. Das rote Licht leuchtet schon eine Weile.
Erlauben Sie mir noch
einen letzten Satz.
({0})
Die letzten vier Jahre waren für Deutschland insgesamt
und für die Tourismuspolitik im Besonderen vier verlorene Jahre. Der Mittelstand und die Wähler werden am
22. September Rot-Grün die Quittung präsentieren.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Es spricht jetzt die
Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn die Opposition hier ein ganz schrecklich
schwarzes Falschbild malt: Der Tourismus in unserem
Land entwickelt sich gut, und zwar auch deswegen, weil
Sie in der Opposition sitzen.
({0})
Weltweit zählt nämlich Deutschland neben den USA,
Spanien, Frankreich und Italien nach wie vor zu den attraktivsten Urlaubszielen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt hat der
Schröder auch noch die Alpen und die Ostsee
gemacht!
Die Entwicklung der Gästeübernachtungen in Deutschland war auch im Jahre 2001 positiv. Die Hotels, Pensionen und anderen Beherbungsbetriebe mit neun oder mehr
Betten in Deutschland begrüßten im Jahr 2001 insgesamt
16,9 Millionen ausländische Gäste. Bevorzugte Reiseziele der ausländischen Touristen waren die deutschen
Großstädte. Ganz anders ist das Reiseverhalten der deutschen Touristen, die es stärker in die stillen ländlichen Regionen mit schöner Natur und in kleinere Gemeinden
zieht.
Es ist gut, dass wir solche Zahlen und Verhaltenstrends
kennen. Wir kennen sie, weil es eine Statistik gibt. Zugegeben, Gerippe sind nicht sonderlich malerisch, das Wortungetüm Beherbergungsstatistikgesetz auch nicht. Aber
ohne eine solche Stütze wäre vieles schlechter, auch wenn
sich uns der Charme des Ganzen erst auf den zweiten
Blick erschließt.
({1})
- Euch erschließt er sich überhaupt nicht.
Mit dem vorliegenden Gesetz wurde die Beherbergungsstatistik an zahlreiche gesetzliche, wirtschaftliche
und europarechtliche Anforderungen angepasst. Das begrüßen wir alle, wie wir auch schon von Ihnen gehört haben. Ich gehe hier nur auf wenige Details ein:
Erstmals werden jetzt die angebotenen Gästezimmer
und nicht nur die Gäste und die Zahl ihrer Übernachtungen erfasst. Dieser auf den ersten Blick kleine Fakt hat
eine große Wirkung. Die Branche erhält so einen viel genaueren Überblick über das bestehende Angebot und kann
gegebenenfalls gezielt die Bedarfslücken füllen.
Das neue Beherbergungsstatistikgesetz sieht auch vor,
das Erhebungsprogramm zu straffen. Bund und Länder
werden durch diese Neuerung Kosten sparen. Das ist, wie
sicherlich auch Sie zugeben werden, eine gute Sache.
Nicht alles ist von uns geändert worden. Wenn sich Altes bewährt hat, kann man es belassen. Dazu sage ich nur,
dass die vorgesehene Streichung der Kur- und Rehaeinrichtungen aus der Beherbergungsstatistik wieder zurückgenommen worden ist. Als Ärztin war ich immer dafür,
dass diese Daten erhoben werden; denn das Kur- und
Bäderwesen stellt ein unverzichtbares Potenzial der Tourismuswirtschaft dar. Die in diesem Bereich getätigten
Übernachtungen sind ohne Zweifel dem touristischen
Verbrauch zuzuordnen, da sich Kur- und Rehateilnehmer
vor Ort wie Touristen verhalten;
({2})
nur werden sie in diesem Fall Patient, Kurgast und Wellnesstourist genannt. Sie kaufen ein, gehen manchmal zum
Essen aus und statten gelegentlich, mit oder ohne Kurschatten, dem Kino, dem Theater oder der freien Natur einen Besuch ab. Der Deutsche Heilbäderverband bezeichnet diese Gäste deshalb zu Recht als „Säule für die lokale
und die regionale Tourismuswirtschaft“.
Abschließend möchte ich die Gründe nennen, die mich
zu der Überzeugung bringen, dass zukünftige Statistiken
über die Beherbergung, aber auch über die anderen Indikatoren der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen
Entwicklung des Tourismus in unserem Land einen positiven Trend aufzeigen werden, und zwar dank Rot-Grün
und unserem Sachverstand, Herr Brähmig. Mit unserem
Tourismusförderprogramm haben wir unter anderem die
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Betreiber von
Einrichtungen ihre Anlagen mit moderner Technologie
ausstatten können und dass damit ein gewichtiger Beitrag
zum Umweltschutz sowie für ein verbessertes Investitionsklima und so auch für den Arbeitsmarkt geschaffen
wird. Die Bundesregierung stellt dafür Gelder in speziellen Förderprogrammen bereit.
Mit der erfolgreichen Einführung der Umweltdachmarke Viabono kann sich der Kunde nun zuverlässig darüber informieren, ob sein Hotel umweltschonend geführt
wird, die Küche Produkte aus der Region anbietet und ob
er auch ohne Auto an sein Reiseziel kommen kann.
Immer mehr Touristen - die meisten kommen, wie ich
eben schon sagte, aus Deutschland; aber wir werben
dafür, dass auch Ausländer hierhin kommen - entscheiden
sich für Ferien in unseren Großschutzgebieten, also in
Nationalparken, Biosphärenreservaten und Naturparken.
Diese sind Qualitätsmarken für ganze Regionen. Daraus
ergeben sich große Chancen auch für den Tourismus. Die
von uns auf den Weg gebrachte Imagekampagne für
Deutschlands Nationalparke kam also genau zur richtigen
Zeit.
Mit dem neuen Bundesnaturschutzgesetz haben wir
ein modernes Naturschutzrecht geschaffen, das die Bewahrung unseres nationalen Naturerbes auf eine deutlich
verbesserte Grundlage stellt, das Landschaftserleben für
die Menschen deutlich verbessert und damit dem Tourismus dient, der auf den Erhalt dieser Landschaft angewiesen ist. Wir müssen die Menschen für das Land Deutschland begeistern.
Veränderungen führen wir auch im Bereich der Mobilität und des Verkehrs herbei, indem wir die Förderung
umweltschonender Verkehrsträger gewährleisten, was
wiederum eine Entlastung für die Umwelt bedeutet. Hier
ist auch die deutlich verbesserte Kooperation mit der
Deutschen Bahn AG zu nennen, die zum Jahr des Tourismus schon gut war und die auch jetzt zum Internationalen
Jahr des Ökotourismus ihren Beitrag leistet.
Wir als Rot-Grün haben uns nicht nur viel für den
Deutschlandtourismus vorgenommen, sondern die Bilanz
kann sich schon jetzt sehen lassen. In den nächsten Monaten werden von uns weitere Initiativen in den Bundestag eingebracht werden. Ich hoffe, dass Sie auch diesen
dann zustimmen werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher für die Fraktion der FDP.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir uns über das Beherbungsstatistikgesetz unterhalten.
({0})
Das wurde bisher fast vergessen.
Ich möchte zunächst betonen, dass ich es für gut halte,
dass wir dieses Gesetz heute wahrscheinlich mit großem
Konsens verabschieden werden.
({1})
Das ist ein Zeichen dafür, dass es in diesem Hause durchaus möglich ist, inhaltliche, sachlich gerechtfertigte
Dinge im Konsens zu regeln, nachdem man sich zusammengerauft hat. In diesem Gesetzentwurf von Rot-Grün
waren Dinge strittig. Wenn keine Änderungen vorgenommen worden wären, hätten wir mit Sicherheit nicht zugestimmt.
Es sollte der Kur- und Rehabereich aus der Tourismusstatistik herausgenommen werden. Das hätte - ich
denke da zum Beispiel an mein Heimatland Baden-Württemberg - für Tourismusländer fatale Folgen gehabt; denn
gerade im Zuge der Gesundheitsreform haben sich die
Kur- und Rehaorte umgestellt. Für sie spielt heute Tourismus die größte Rolle. Wenn dieser Bereich herausgenommen worden wäre, hätte das von der Förderung bis zu vielen anderen Dingen Konsequenzen gehabt, die äußert
kontraproduktiv gewesen wären.
({2})
Wir als Opposition haben das von Anfang an angemahnt.
Wir, CDU/CSU und FDP, haben gemeinsam immer gesagt, dass wir so nicht zustimmen werden.
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir sind der
Regierung und den Regierungsfraktionen weit entgegengekommen, indem wir ihnen immer Zeit gegeben haben,
Kompromisse zu finden. Wir hätten dies auch publikumswirksam nach außen verkaufen können. Wir haben dies
nicht getan, sondern haben im Sinne einer Lösung, die uns
in der Sache weiterbringt, versucht, einen gemeinsamen
Weg zu finden. Ich bin froh, dass die Regierung dann auf
diesen Weg eingeschwenkt ist und wir heute einen Gesetzentwurf vorliegen haben, mit dem wir alle leben können und der auch zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten ist.
({3})
Ich möchte auch ein wenig über den Inhalt reden. Hinsichtlich der Bettenstatistik begrüße ich es sehr - das ist
wichtig -, dass die Abschneidegrenze von acht Betten bei
der statistischen Erfassung bleibt. Wir reden alle in Sonntagsreden darüber, Bürokratie abzubauen. Sobald es aber
konkret wird, sind wir ganz schnell bereit, neue Regelungen einzuführen. Deshalb habe ich mich immer dagegen
gewehrt, noch eine zusätzliche Statistik zu schaffen. Wir
können jetzt gleichzeitig mit der Prüfung einer Möglichkeit der Erfassung statistisch sicherer Daten bei kleineren
Betrieben prüfen, wie man an anderer Stelle Statistiken
einsparen kann. Ich glaube, dass dies der richtige Weg ist.
Das begrüße ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich.
({4})
Von den Vorrednern wurde viel zum Deutschlandtourismus gesagt. Ich denke, wir alle hier in diesem Hause
sind uns darüber einig, dass der Tourismus ein Wirtschaftsfaktor für die Bundesrepublik ist, der weit wichtiger ist, als dies in der Öffentlichkeit und leider manchmal
auch in diesem Hohen Hause wahrgenommen wird. Deshalb ist es richtig, dass wir gemeinsam versuchen, weitere
Maßnahmen zu treffen. Ich appelliere aber auch an die
Regierungsfraktionen, diesen Weg weiter zu beschreiten
und Dinge, die richtig sind, aber von der Opposition kommen, nicht nur deshalb abzublocken, weil sie von der Opposition kommen.
Ich würde mich freuen, wenn wir bei der Frage der
Ausschilderung von touristischen Attraktionen an Autobahnen weiterkämen. Ich denke aber, wir kommen hier
weiter.
({5})
Ich freue mich aber auch auf die nachfolgende Debatte.
Wir haben jetzt in einem wichtigen Punkt Konsens erzielt.
Ich hoffe immer noch, dass wir auch nachher bei der Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung Konsens erzielen.
({6})
Gehen Sie noch einmal in sich. Wir werden darüber noch
einmal inhaltlich diskutieren. Aber es bleibt noch Zeit für
Sie, um nachzudenken. Wenn nicht, machen Sie doch wie
heute Morgen eine kurze Fraktionssitzung und beschließen Sie das. Dann kämen wir heute zu zwei Einigungen. Darüber wären alle am Tourismus Beteiligten
sehr froh.
Herzlichen Dank.
({7})
Einen solchen Werbeblock schon für die nächste Debatte haben wir auch nicht
alle Tage. Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosel
Neuhäuser für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Brähmig, in zehn Minuten lässt sich viel sagen.
({0})
Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass Sie ein wenig
mehr Inhalt rübergebracht hätten.
({1})
- Das war eine Wahlkampfrede, aber sie verhallt irgendwo.
Wir haben 1998 den TAB-Bericht diskutiert. Die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP hatten die
Grundlage für diesen Bericht geschaffen. Damals haben
wir festgestellt, dass es in der Bundesrepublik Deutschland eine unterschiedliche Datenlage gibt, diese auch kritisiert und die Bundesregierung aufgefordert, dies zu ändern. Ich denke, die vorliegenden Gesetzentwürfe, die wir
heute zu beschließen haben, tragen im Wesentlichen dazu
bei, diese Unterschiedlichkeit zu beseitigen und die statistische Erfassung zu vereinfachen.
Der Tourismus als Wirtschaftsfaktor findet in der
wissenschaftlichen Literatur, in Veröffentlichungen und
in Debatten von Politik und der Tourismusbranche selber
eine breite Resonanz und wird gern für die Darstellung eines positiven Images benutzt. Wir haben dies auch vorhin
bei der Rede des Staatssekretärs Staffelt gehört. Man findet zum Beispiel Zahlen zum Beitrag der Tourismuswirtschaft zum Bruttoinlandprodukt, zur Wertschöpfung, zur
Beschäftigungs- und Ausbildungssituation, zur Umsatzentwicklung, zu Übernachtungszahlen usw. Aber genau
diese Daten sind wenig transparent und nicht immer tragfähig, weil sie sehr unterschiedlich „gehändelt“ werden.
Sowohl die amtliche Statistik als auch die wissenschaftliche Forschung liefern voneinander abweichende
bzw. schwer vergleichbare Zahlen. Deshalb sagen Experten immer wieder, dass Prognosen und perspektivische
Betrachtungen für die Zukunft des Tourismus mit Vorsicht
zu benutzen sind. Wenn die Datenlage so widersprüchlich
war und ist, dann lässt sich in der Politik nur unzureichend
über die Bedeutung des Tourismus in der Wirtschaft kommunizieren, lassen sich wirtschaftliche Risiken ebenso
wie Wachstumspotenziale nur unzureichend darstellen
und sind angemessene Instrumente und Maßnahmen
schwierig zu wählen.
Ich möchte ein Beispiel dafür, wie es mit der Datenlage
insgesamt aussieht, nennen. Es geht um den Bereich der
Kinder- und Jugendreisebranche. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugenderholungszentren,
das Deutsche Jugendherbergswerk, das Kolping Familienwerk, die Naturfreundejugend und das Reisenetz gründeten 1998 den runden Tisch der Unterkünfte. Sie bewirtschaften insgesamt 1 130 Beherbungsstätten mit 102 000
Betten für junge Gäste mit jährlich etwa 13 Millionen
Übernachtungen. Die Datenbank über Kinder- und Jugendunterkünfte erfasst aber nur knapp 5 000 Häuser. Wo
finden wir diesen wichtigen Bereich als Wirtschaftsfaktor
wieder? Wer schmückt sich mit diesen Zahlen? Hier sehe
ich unter anderem eine mögliche neue Herausforderung
für das Tourismusbarometer des Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverbandes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um diese unbefriedigende Situation zu beheben, war es an der Zeit, Verbesserungen der amtlichen Statistik und eine fundierte ökonomische Grundlagenforschung im Bereich des Tourismus
zu unterstützen. Die wirtschaftliche Bedeutung und die
Perspektiven des Tourismus können so stärker in den
Blickpunkt wirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer
Betrachtungen gerückt werden. Es wäre geradezu absurd,
der Tourismusbranche die Basis für eine qualifizierte
Branchenbeobachtung zu beschneiden.
Frau Kollegin
Neuhäuser, jetzt muss ich Sie aber ermahnen.
({0})
Ja. - Nein, ich habe keine
sieben Seiten mehr.
Die Beherbungsstatistik ist Grundlage für tourismuspolitische Entscheidungen, für infrastrukturelle Planungen und für Maßnahmen der Tourismuswerbung und der
Marktforschung. Deshalb werden wir diesen zwei Gesetzentwürfen zustimmen.
({0})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal
möchte ich unserem bisherigen Parlamentarischen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Mosdorf namens der
SPD-Fraktion für seine Arbeit sehr herzlich danken. Ich
bin überzeugt, dass dies mit unserem neuen Staatssekretär, Herrn Ditmar Staffelt, genauso sein wird.
({0})
Ich weiß, dass er die Interessen der Tourismusbranche und
der Tourismuspolitik im Wirtschaftsausschuss bereits vehement vertreten hat. Herr Staatssekretär, ich freue mich,
dass Sie bereits heute hier zu diesem Thema geredet
haben.
Manche Tage erhellen einen wirklich und man weiß,
woran man ist. So hat mir auch die geschmacklose BeRosel Neuhäuser
merkung des Kollegen Brähmig zu meiner Wahlniederlage in Bayern gezeigt, woran ich mit ihm bin. Ich weiß
jetzt, was für ein Mensch Sie sind. Die weitere Zusammenarbeit werde ich entsprechend gestalten.
({1})
- Herr Hinsken, auch Ihre heuchlerische Einlassung
möchte ich nicht weiter werten.
({2})
Ich möchte jetzt zum eigentlichen Thema kommen, da
das nicht das Thema der Auseinandersetzung ist. Es geht
vielmehr um das Beherbergungsstatistikgesetz, dessen
Novellierung wir heute beschließen. Das Beherbergungsstatistikgesetz hat für die Betriebe in der Analyse der Konjunktur einen unschätzbaren Wert. Es ist ein unverzichtbares Hilfsmittel für Investitionen im Gastgewerbe und
genießt eine hohe Priorität bei der heimischen Wirtschaft.
Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich beim
Statistischen Bundesamt in Wiesbaden und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums für die in diesem Zusammenhang geleistete Arbeit
und auch für die Arbeit, die durch die Entschließung noch
entstehen wird, bedanken.
({3})
Die Novelle wird allen Interessen gerecht werden: Erstens hat sie erreicht, dass die Statistik in Bezug auf die
Harmonisierung der Europäischen Union angepasst wird.
Zweitens ist ein 20-jähriges Ringen der Hotelbranche um
eine Erfassung der Auslastung der Zimmer jetzt endlich
erfolgreich. Herr Brähmig, Sie und Ihre Fraktion hätten
16 Jahre lang Gelegenheit gehabt, diesen Wunsch der
Branche zu erfüllen, in der Statistik die Zimmerauslastung und nicht nur die Bettenauslastung zu erfassen.
({4})
Dies haben Sie nicht getan. Dies ist jetzt ein Erfolg der
rot-grünen Bundesregierung und zeigt, wie mittelstandsfreundlich wir sind.
({5})
Sie reden zwar immer, aber handeln nicht.
({6})
Sie bluffen nur und ergehen sich in Larmoyanz. Ihre Rede
wäre vielleicht vor dem Kreisverband Pirna, aber nicht
vor dem Deutschen Bundestag passend gewesen.
({7})
Drittens bleiben die Vorsorge- und Rehaeinrichtungen in
der statistischen Erfassung. Für diese Betriebe entstehen
durch die Berichtspflicht keine nennenswerten Belastungen. Auch darum ging es natürlich. Im Kur- und Bäderwesen sind im Jahr 2000 2 Millionen Patienten versorgt
worden. Dies entspricht einer Zahl von 51,6 Millionen
Übernachtungen.
Für diese Übernachtungen erhalten die Gemeinden die
Schlüsselzuweisungen in den Bundesländern, die diese
nach der Beherbergungsstatistik vergeben. Das ist für die
Kommunen äußerst wichtig. Zusätzlich erhalten die Gemeinden dafür die Kurtaxe. Durch die Streichung aus dem
Gesetz wären vermutlich die Zahlungen der Kurtaxe, die
die Kranken- und Rentenversicherungsträger für die Kurgäste abführen, eingestellt worden. Ich glaube, es ist ein
riesiger Erfolg, dass wir das verhindert haben.
({8})
Ich möchte mich ausdrücklich bei dem Kollegen
Burgbacher für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken.
({9})
- Herr Hinsken, auch hier gilt das strucksche Gesetz, dass
kein Gesetzentwurf das Parlament so verlässt, wie er hereingekommen ist.
({10})
Ansonsten wäre das Parlament überflüssig, wenn nur die
Beschlüsse der Regierung umgesetzt würden.
({11})
Vorlagen zu beraten ist unsere Aufgabe. Diese haben wir
mit und nicht gegen die Regierung erfolgreich gelöst.
({12})
Jetzt komme ich zu einem anderen Erfolg. Wir haben
im Jahr 2000 bei den Patientenzahlen Zuwächse um
6,8 Prozent gehabt. Zum Vergleich: 1997, als Sie an der
Regierung waren, gab es einen Rückgang um 17,8 Prozent. 1998 haben wir mit einem Zuwachs von 10,8 Prozent, 1999 von 9,7 Prozent aufgeholt.
({13})
Bei der Beschäftigung gab es im Jahr 2000 einen Zuwachs um 4,1 Prozent. Ich glaube, dass man auch noch einen weiteren Aspekt hinzufügen kann, dass nämlich auch
die Umsätze im Gastgewerbe wieder gestiegen sind und
zwar um 0,9 Prozent.
({14})
- Wenn ich mehr Redezeit hätte, könnte ich darauf noch
eingehen. Aber ein wichtiger Punkt, der in dieser Novelle
enthalten ist, ist der, dass künftig auch eine Erhebung für
Betriebe unter acht Betten einmal jährlich stichprobenartig gemacht werden soll.
({15})
Nach unserer Meinung soll dies bei den prädikatisierten
Orten in Deutschland geschehen.
({16})
Leider habe ich kaum noch Redezeit, sonst könnte ich
noch auf einen anderen Punkt eingehen.
({17})
Die Statistik ist im Ganzen auch billiger geworden.
Das ist ein nicht unwesentlicher Aspekt, da wir einen
Haushalt haben, bei dem wir jeden Euro dreimal umdrehen müssen. Diesen Schuldenberg, der der Grund dafür
ist, dass wir jetzt so sparen müssen, haben Sie uns nach
16 Jahren Regierung hinterlassen.
({18})
Frau Kollegin, Sie haben sicherlich schon das Blinklicht gesehen, was das Ende
Ihrer Redezeit bedeutet.
({0})
Entschuldigung, Frau Präsidentin, für die Überziehung. - Ich möchte jetzt zum
Schluss kommen. Lassen Sie mich noch einen Dank an
den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband aussprechen. Er hat auf die zehnjährige Totalerhebung der Gaststätten und die sechsjährige Kapazitätserhebung verzichtet. Dies hat zu einer Erleichterung geführt.
({0})
Auf die übrigen Erfolge unserer Politik kann ich jetzt
leider nicht eingehen. Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass wir im Jahr 2000 ein Rekordjahr im Deutschlandtourismus hatten und im Jahr 2001 trotz des 11. September eine Zunahme bei den Übernachtungen von
1 Prozent hatten.
({1})
- Das hat auch etwas mit unserer guten Politik zu tun.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/6392 zur Neuordnung der Statistik über
die Beherbergung im Reiseverkehr. Der Ausschuss für
Tourismus empfielt unter Buchstabe a) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8475, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich von den Plätzen zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen aller Fraktionen angenommen worden.
({0})
- Es ist nicht meine Aufgabe, das zu kommentieren.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Tourismus un-
ter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Entschließung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die
Entschließung ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9, der bereits von
dem Kollegen Burgbacher angekündigt worden ist, auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert,
Bartholomäus Kalb, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages
- Drucksache 14/4938 ({1}) ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gerhard Schüßler,
Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes ({3})
- Drucksache 14/5233 ({4})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5})
- Drucksache 14/6216 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Ernst Burgbacher
b) Berichte des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 14/6217, 14/8427 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Christa Luft
Hans Jochen Henke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Horst Schild.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Hinsken, wir kommen in der Sache
schon voran. Bislang haben wir das Thema immer zu viel
späterer Stunde diskutiert. Aber die Hartnäckigkeit, mit
der die Antragsteller ihr Anliegen vertreten, ist durchaus
beeindruckend.
({0})
Ich verhehle nicht, dass für eine Modifizierung der Trinkgeldbesteuerung auch in unserer Fraktion und dort insbesondere bei den Tourismuspolitikern durchaus Sympathie besteht.
({1})
- Moment.
Wenn der Gesetzgeber das geltende Recht bei der Besteuerung von Trinkgeldern modifizieren will, sollte er
sich zunächst mit den rechtlichen Fragen eines solchen
Vorhabens gründlich befassen. Das ist bislang bei den Antragstellern nicht erfolgt. Der Gesetzgeber ist in seinem
politischen Wollen an das Gleichheitsgebot des Art. 3 des
Grundgesetzes und an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden. Er ist insofern gehalten, die daraus folgenden Steuerprinzipien auch bei gesetzgeberischen Vorhaben zu beachten. Das Anliegen, das einem sehr am
Herzen liegt, allein reicht nicht aus.
Ich will versuchen, Ihnen das an einem Beispiel der
steuerlichen Behandlung der Trinkgelder zu verdeutlichen.
Nach § 3 Ziffer 51 des Einkommensteuergesetzes beträgt
der gegenwärtige Freibetrag für Trinkgelder 1 224 Euro.
Die Dimension dieses Freibetrages wird am besten anhand eines Beispiels verdeutlicht: Nimmt man eine Beschäftigte, die jährlich 24 000 Euro verdient - das ist in
der Branche schon ein relativ hohes Einkommen - und zusätzlich 5 Prozent Trinkgeld bekommt, dann ergibt sich
ein Trinkgeld von 1 200 Euro, das völlig steuerfrei bleibt.
({2})
- Das ist in Ordnung. Das ist die gegenwärtige Rechtslage. Man kann durchaus die Auffassung vertreten, dass
das angemessen und ausreichend ist.
Lassen Sie mich einige Gesichtspunkte zur Steuersystematik vortragen, mit denen Sie sich oder wir uns auseinander setzen müssen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - das ist nicht neu - sind
Trinkgelder Arbeitslohn und zu versteuerndes Einkommen.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Moment, Frau Präsidentin. Deshalb reicht es nicht, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, das sei nicht mehr zeitgemäß, Herr Burgbacher. Das
ist eine Kategorie, mit der wir im Steuerrecht nichts anfangen können.
({0})
Bitte schön, Herr Hinsken.
Ich gehe davon aus,
dass Sie die Frage zulassen.
Herr Kollege Schild,
können Sie mir sagen, wie viel Geld der Staat durch die
Trinkgeldsteuer im vergangenen Jahr bzw. in den vergangenen Jahren jeweils eingenommen hat?
({0})
Pflichten Sie in dem Fall nicht dem Bundeswirtschaftsminister Müller bei, der gesagt hat: „Wenn man schon
nicht weiß, wie viel Geld damit eingenommen wird, kann
sie wieder abgeschafft werden“?
Herr Kollege Hinsken, ich versuche gerade, deutlich zu machen, dass es bei solchen Fragen um Gleichbehandlung, Verfassungsgrundsätze und
die Steuersystematik geht.
({0})
Ob es um Einnahmen in Höhe von 3 Millionen oder
30 Millionen Euro geht, ist nicht die entscheidende Frage.
({1})
Entscheidend ist, dass jede steuerliche Regelung auf den
Prüfstand der Verfassungsmäßigkeit gestellt werden
muss.
({2})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir es zuerst beurteilen. Dann können wir immer noch über die steuerlichen
Auswirkungen reden.
Herr Kollege Hinsken, ich fahre jetzt fort.
({3})
- Das Problem ist doch, dass Sie von einer völlig verengten Sicht ausgehen, wenn Sie die Frage in den Mittelpunkt
stellen, ob damit Steuerausfälle in Höhe von 3 Millionen
oder 30 Millionen Euro verbunden sind.
({4})
Ich möchte auf Folgendes aufmerksam machen: Das
Einkommensteuerrecht muss die verfassungsrechtlichen
Prinzipien der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und der gleichmäßigen Besteuerung aller Steuerpflichtigen erfüllen. Das ist Ihnen doch bekannt, Herr
Kollege Hinsken und Herr Kollege Michelbach. Der Gesetzgeber kann doch nicht willkürlich handeln.
({5})
Er hat diese Prinzipien zu beachten. Dazu darf ich aus
dem Urteil des Bundesfinanzhofs zur Frage der Trinkgeldbesteuerung aus dem Jahr 1999 zitieren:
Würden ... freiwillige Trinkgelder von der Besteuerung völlig freigestellt, so würde dies andererseits
den Anspruch auf Gleichbehandlung derjenigen Arbeitnehmer berühren, die bei gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ihren Arbeitslohn in vollem
Umfang zu versteuern haben.
Das hat der Bundesfinanzhof unter ausdrücklicher Würdigung des Vorschlags von Professor Bareis ausgeführt.
Das ist eine Kernaussage des Bundesfinanzhofs zur Besteuerung von Trinkgeldern, die wir bei jeder Änderung
des Steuerrechts zu berücksichtigen haben.
Das Argument - das bringt die FDP in ihrem Antrag
vor -, eine völlige Nichtbesteuerung von Trinkgeldern sei
gerechtfertigt, weil ein ungleichmäßiger Vollzug der Besteuerung durch die Finanzämter erfolge, trifft zumindest
nach Auffassung des Bundesfinanzhofs nicht zu. Trotzdem werden wir die Bundesregierung bitten, eine Bestandsaufnahme durchzuführen, in der die Praxis der
Finanzverwaltungen in den einzelnen Ländern aufgelistet
und vergleichbar gemacht wird. Das ist eine wesentliche
Voraussetzung für einen solchen Nachweis. Der Bundesfinanzhof hat festgestellt, dass der Nachweis, dass es zu
einer ungleichmäßigen steuerlichen Behandlung komme,
von den Klägern nicht erbracht werden konnte. Wir werden die Bundesregierung bitten und hoffentlich bald einen
Bericht bekommen, der es uns erlaubt, zur Frage der steuerlichen Behandlung in den einzelnen Bundesländern etwas mehr zu sagen. Nach der Rechtsprechung wendet die
Finanzverwaltung - jedenfalls nach den bisherigen Erkenntnissen - im Zweifelsfall maßvolle Schätzgrößen bei
der Trinkgeldbesteuerung an.
Ein wichtiger Punkt ist weiterhin, dass in der Steuerpolitik das Postulat der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei sinkenden Steuersätzen verwirklicht wird.
Darin waren wir uns alle einig. Das steht in der Begründung eines jeden Gesetzentwurfes. Das heißt, es soll keine
Ausnahmetatbestände geben und die Gleichmäßigkeit der
Besteuerung soll gewährleistet sein. Es sind schließlich
die Ausnahmen von der Steuerregel, die unser Steuersystem ständiger Kritik aussetzen.
Wir - das gilt sicherlich nicht nur für die Finanzpolitiker - sollten darauf achten, dass unser Steuerrecht nicht
durch weitere Ausnahmen unüberschaubar wird und zu
einer ungleichmäßigen Steuerbelastung führt, die dann
wiederum auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts steht.
({6})
Das haben wir in der Vergangenheit ja mehrmals erleben
dürfen, zuletzt bei der Frage der steuerlichen Behandlung
der Alterseinkünfte. Es waren ja nicht gesetzgeberische
Maßnahmen der jetzigen Koalition, die Anlass für das Urteil waren.
Mir drängt sich auch die Vermutung auf, dass sowohl
CDU/CSU als auch FDP die Folgewirkung ihrer Vorschläge nicht hinreichend im Blick haben. Schon die
Bareis-Kommission hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Missbrauch durch Umwandlung von Lohnbestandteilen in Trinkgelder im Falle ihrer Steuerfreiheit unterbunden werden muss. Zumindest darauf müsste
man sich verständigen. Es würde ansonsten zwangsläufig
ein Anreiz für Arbeitgeber bestehen, den regulären Lohn
mit Hinweis auf steuer- und sozialabgabenfreie Trinkgelder zu senken.
({7})
Das würde die Position der Arbeitnehmer gegenüber der
der Arbeitgeber schwächen. Schon gegenwärtig - auch
das gilt es zu bedenken - liegt der im Gastronomiebereich
gezahlte Tariflohn mit Hinweis auf anfallende Trinkgelder unter dem für vergleichbare Tätigkeiten. Zumindest
ist das nach meiner Erkenntnis bei Tarifverträgen in Baden-Württemberg - das dürfte kein Einzelfall sein - der
Fall. Wir können auch ins Ausland schauen: Wer in die
USA reist, wird feststellen, dass er böse angeschaut wird,
wenn er weniger als 25 Prozent des Rechnungsbetrags als
Trinkgeld gibt. Das liegt daran, dass dort aufgrund entsprechender Regelungen Kellner sowie anderes Bedienungs- und Servicepersonal fast ausschließlich von den
Trinkgeldeinnahmen leben müssen. Das wollen wir jedenfalls nicht.
Wie Sie wissen, knüpfen die Sozialabgaben an die
steuerliche Qualifizierung der Einnahmen an. Fehlende
Sozialversicherungsabgaben können sich auch nachteilig
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auswirken.
Denken Sie nur an die Altersvorsorge! Es hat Folgen für
die Alterseinkünfte, wenn 4 Prozent und mehr des Einkommens nicht sozialversicherungspflichtig sind. Sie
sollten also nicht immer beklagen, wir trügen zur ständigen Senkung des Niveaus der gesetzlichen Rente bei.
Sie müssen sich schon fragen lassen, ob sich bei der
Umsetzung Ihrer Vorstellungen nicht ein GerechtigkeitsHorst Schild
problem hinsichtlich der anderen Steuerpflichtigen ergibt.
Ich habe das ja bereits bei dem Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung ausgeführt. Man kann das aber
auch ganz konkret darstellen - ich hebe dabei auf das Verfassungsgebot der steuerlichen Gleichbehandlung ab -:
Warum sollen Arbeitnehmer Trinkgelder gar nicht oder,
wie es die CDU/CSU vorschlägt, erst ab 2 100 Euro versteuern, während Freiberufler freiwillig gegebene Zuzahlungen oder Trinkgelder vom ersten Euro an versteuern
müssen? Das mag in der Praxis nicht so bedeutend sein.
Wenn man das aber einer rechtlichen Überprüfung unterziehen würde, dann würde man sicherlich feststellen, dass
das ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz ist.
({8})
- Das ist ein anderes Problem. Aber daran können Sie die
Folgewirkung Ihrer Vorschläge sehen. In der Diskussion
über die in Ihren Anträgen erhobene Forderung, den Freibetrag für Trinkgelder anzuheben bzw. sie steuerlich ganz
freizustellen, hat der Bundesverband des Deutschen
Groß- und Außenhandels darauf hingewiesen, dass das
auch für die Arbeitnehmerrabatte gelten müsse. Hier geht
es nicht mehr um 3 Milliarden oder 4 Milliarden Euro,
sondern um ganz andere Dimensionen.
({9})
- Es ist in unserer Fraktion bisweilen möglich, dass man
anderer Auffassung als der Kanzler ist.
({10})
Der Kanzler wird allerdings das letzte Wort haben. Darauf
können Sie sich verlassen.
Ich möchte noch auf einen anderen Sachverhalt hinweisen. Sie sprechen - das gilt insbesondere für den Antrag der FDP-Fraktion - von Schenkungen. Bekommt ein
Arbeitnehmer aber ein Geschenk von einem Dritten, dann
handelt es sich nach unserem gegenwärtigen Einkommensteuerrecht um Einnahmen, die nach § 8 des Einkommensteuergesetzes zu versteuern sind. Eine Zuwendung,
die einem Arbeitnehmer - es spielt keine Rolle, ob vom
Arbeitgeber oder von einem Dritten - gewährt wird und
deren Wert die Grenze von 50 Euro monatlich überschreitet, muss in vollem Umfang versteuert werden.
Auch das berührt den Gleichheitsgrundsatz. Ich sage ja
nicht, dass man das nicht ändern kann. Aber man muss es
wenigstens bedenken. Ich frage insbesondere die Kollegen von der FDP-Fraktion: Sieht so eine gerechte
Besteuerung aus? - Ich denke, hier müssen Sie sich noch
ein bisschen mehr einfallen lassen.
Nicht zuletzt müssen wir auch bedenken, dass neben
den Steuereinnahmen zwangsläufig auch die Einnahmen
der Sozialversicherungen zurückgehen werden. Ich habe
das vorhin im Zusammenhang mit der Rente deutlich zu
machen versucht.
Auf die Fragen, die ich hier aufgeworfen habe, geben
Ihre Anträge keine Antwort. Deshalb werden wir ablehnen müssen.
All die Fragen, die ich formuliert habe, werden die Koalitionsfraktionen sorgfältig prüfen. Vom Ergebnis dieser
Prüfung - in diesem Prozess sind wir bereits - werden wir
unsere weitere Haltung abhängig machen.
({11})
Weil ich noch einige Sekunden Redezeit habe, sei mir
noch ein Wort ganz zum Schluss erlaubt: Sie haben in dieser Frage 16 Jahre nichts getan.
({12})
Da wird uns sicherlich zugestanden werden, dass wir noch
ein paar Tage benötigen, um diese Prüfung zum Abschluss
zu bringen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Schild, wir besprechen das Thema
nicht zuletzt deshalb, weil bei jeder Gelegenheit, wenn
mehr als drei Kellner oder Hoteliers zusammenstehen, irgendeiner von den Sozis aufspringt und sagt: Wir schaffen die Trinkgeldbesteuerung ab. Nur, wenn es darauf ankommt, das hier im Bundestag umzusetzen, geschieht
nichts. Da klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander.
({0})
Auf die steuersystematischen Gesichtspunkte, die Sie
angeführt haben, werde ich gleich eingehen, Herr Schild.
Vorab möchte ich eine Würdigung der Situation vornehmen.
Wir haben heute drei Varianten zur Auswahl. Nach der
ersten Variante, die Herr Burgbacher gleich begründen
wird, soll - das ist der Kern - ein neuer Ausnahmetatbestand in unserem ohnehin schon komplizierten Steuerrecht geschaffen werden. SPD und Grüne legen wie in den
meisten Politikbereichen die Nullvariante vor und sagen:
Ruhige Hand! Wir machen gar nichts. Es besteht kein
Handlungsbedarf. ({1})
Die CDU/CSU als die große bürgerliche Kraft in der
Mitte der Gesellschaft
({2})
legt wie immer einen vernünftigen Vorschlag vor.
({3})
Zunächst zu den geschätzten Kollegen von der FDP.
Auch wir von der CDU/CSU wollen nicht, dass das Trinkgeld, das wir jemandem, weil er uns gut bedient hat, weil
er uns eine hervorragende Serviceleistung geboten hat,
zukommen lassen, eben in Anerkennung dieser persönlichen Leistung, in den klammen Kassen von Eichel landet.
Wir wollen eine Dienstleistungskultur in Deutschland.
Wir wollen die Wachstums- und Beschäftigungschancen,
die im Tourismussektor, einem der wenigen noch wachsenden Wirtschaftszweige, vorhanden sind, für unsere
Volkswirtschaft nutzen.
({4})
Wir wollen gegenüber den dort Beschäftigten, die uns
mitten in der Nacht, an Sonn- und Feiertagen, wann immer wir den Service haben wollen, bedienen, diese besondere Wertschätzung zum Ausdruck bringen können,
ohne das Gefühl haben zu müssen: Das landet letztlich
doch bei Eichel im Sack.
({5})
Aber wir müssen natürlich die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - Herr Schild, insofern
gehe ich auf Ihren Beitrag ein - in Betracht ziehen. Zu
nennen sind die Problembereiche „Gleichheit der Belastung“ und „Gleichheit der Belastungswirkung“. Es gibt
auch in anderen Wirtschaftsbereichen vielfach variable
Gehaltsbestandteile, die leistungsbezogen gewährt werden. Damit ist das Trinkgeld natürlich vergleichbar. So
empfindet es auch der einzelne Trinkgeldempfänger. Weil
er eine Leistung besonders gut erbracht hat, bekommt er
mehr für diese Leistung. Genau so wird es wahrgenommen. Insofern ist die Einteilung des BFH, dass das ein
Gehaltsbestandteil ist, nicht so einfach von der Hand zu
weisen.
Ihre einfache Lösung - mit Verlaub, liebe Kollegen von
der FDP - ist eben nur vermeintlich einfach. Sie lädt zum
Gestaltungsmissbrauch ein.
({6})
Deshalb können wir sie im Rahmen unserer Einkommensteuersystematik nicht abbilden.
Wir haben einen synthetischen Einkommensteuerbegriff. Dabei wird alles, was in einer Wirtschaftsperiode zufließt, sei es aus unselbstständiger Arbeit, sei es aus Vermietung und Verpachtung, seien es Zinseinnahmen aus
Vermögen, zusammengefasst. Dann werden die Werbungskosten, die man aufwenden muss, um dieses Einkommen
zu erzielen, abgezogen und es wird noch die persönliche
Situation berücksichtigt. So kommen wir zu dem Einkommen, das die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit widerspiegelt, und das ist die Bemessungsgrundlage für die
Einkommensteuer. Daran haben wir immer festgehalten.
Deshalb ist unsere Antwort die richtige. Nach zwölf
Jahren - 1990 erfolgte die letzte Anpassung - muss der
Freibetrag wieder kräftig angehoben werden, damit das,
was wir mit der Einführung dieses Freibetrags erreichen
wollten, ökonomisch auch noch bewirkt wird.
({7})
Liebe Kollegen von der SPD und von den Grünen,
wenn man in einem Bereich einen Freibetrag einführt, so
geschieht dies, weil man erkannt hat, dass es zur Vermeidung übermäßigen Verwaltungsaufwands im Verhältnis
zur Ergiebigkeit der betreffenden Steuereinnahmen klug
ist, Bagatellfälle unter den Tisch fallen zu lassen. Wenn
man diese Richtung einmal eingeschlagen hat, dann muss
man logischerweise auch den nächsten Schritt gehen:
Wenn sich Inflation und Gehaltsentwicklung fortentwickelt haben, dann muss man die Freibeträge periodisch
anpassen. Das haben wir bei den Übungsleiterpauschalen
und in anderen Bereichen gemacht. Das muss man auch
auf diesem Gebiet machen. Wir schlagen konkret vor, den
Freibetrag von 2 400 DM auf 4 200 DM, also um 75 Prozent, zu erhöhen. Nach zwölf Jahren des Stillstands ist das
keine übermäßige Steigerung.
Wir würden damit den überwiegenden Teil der Trinkgeldeinnahmen steuerfrei stellen, ohne dass - diese
Bremse wäre nach wie vor vorhanden - die Möglichkeit
zum Gestaltungsmissbrauch gegeben ist. Damit würde
zugleich den Finanzbehörden das Signal gegeben, dass
der Gesetzgeber nicht der Auffassung ist, angesichts der
knappen Ressourcen der Finanzbehörden müsse sozusagen mit Hochdruck darauf geachtet werden, ob auch die
letzte Trinkgeldmark richtig deklariert ist. Stattdessen
vertreten wir die Auffassung: Wir wollen, dass das, was
durch Trinkgelder durchschnittlich verdient wird, steuerfrei bleibt.
({8})
Wir können auf diese Art und Weise eingeübte, relativ
einfache Handhabungen in der betrieblichen Praxis fortsetzen, seien es Tronc- oder Verteilungssysteme mit Punkten, über die auch diejenigen, die nicht direkt an der Kundenfront, sondern in der Küche, am Empfang oder wo
auch immer ihren Dienst tun, an der Gesamtleistung, die
das Haus erbringt, beteiligt werden. Unser Vorschlag ist
also schlüssig. Er hat eine innere Logik. Er bewegt sich
im Rahmen unseres synthetischen Einkommensteuerbegriffes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir sind
uns einig, dass die Bürger bei uns zu viel Steuern und zu
viel Abgaben zahlen.
({9})
Dieses Problem gehen wir gemeinsam an. Unsere Lösung
lautet: dreimal 40 Prozent. Wenn wir ab September an der
Regierung sind, dann werden wir mit Ihnen vereinbaren,
das Ziel zu erreichen,
({10})
dass der Staat niemandem in diesem Land mehr als
40 Prozent Steuern abnimmt, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitrag und dass die Staatsquote unter 40 Prozent
fallen. Das müssen wir in Deutschland erreichen.
({11})
Zur Tourismuspolitik von SPD und Grünen passt nur
eine Überschrift: Versprochen - gebrochen!
({12})
Dasselbe gilt für alles, was Sie im wirtschafts-, finanz und
steuerpolitischen Bereich vorgelegt haben. Im Mai 1998
- Frau Kastner, Sie haben das damals verantwortet - wurden die tourismuspolitischen Grundsätze der SPD aufgestellt. In dem entsprechenden Papier steht zum Thema
Maßnahmen - ohne irgendeinen Vorbehalt - die schlichte
Forderung nach der Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Dieses Versprechen haben Sie den Bürgern gegeben. Warum erfüllen Sie dieses Versprechen denn jetzt,
wo Sie die Mehrheit haben, nicht?
({13})
Versprochen - gebrochen!
Anfang 1999 sagte Bundesminister Müller bei der
ITB-Eröffnung - dies ist ein anderer Bereich, über den wir
auch schon diskutiert haben -, er werde sich nachhaltig
dafür einsetzen, dass die Umsatzsteuerbelastung im Hotelleriebereich reduziert wird. Nichts ist geschehen. Versprochen - gebrochen!
Noch am 5. Februar dieses Jahres hat Bundesminister
Müller auf einer Veranstaltung des Tourismusverbandes
Ostbayern in Plattling die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung gefordert. Mein Kollege Hinsken verfolgt alles,
was im touristischen Bereich passiert, sehr aufmerksam
und er ist der beste Sachwalter für Tourismus in Deutschland überhaupt.
({14})
Er hat diese Aussage des Bundesministers nicht auf sich
beruhen lassen, sondern gleich Müllers Kollegen Eichel
gefragt, wie es mit diesem Vorhaben stehe. Auf Hinskens
Frage an das Haus Eichels, ob man die Auffassung
Müllers teile, hat Herr Diller gesagt: Herr Müller begegnet diesem Ansinnen mit Sympathie; aber an der Haltung
des Bundesfinanzministers ändert sich nichts.
({15})
Wir können uns doch einen Wirtschaftsminister sparen, der das, was er vorhat, nicht durchsetzen kann. Zumindest sollte er sich nicht öffentlich äußern; denn das,
was er ankündigt, wird sowieso nicht umgesetzt.
({16})
Wir sind schon heute gespannt, welches neue Versprechen
Bundesminister Müller am nächsten Samstag bei der
Eröffnung der diesjährigen ITB geben wird. Später wird
es gebrochen. Wir sind sicher, dass es wieder so kommen
wird.
Der Fisch fängt bekanntlich am Kopf an zu stinken.
Das lässt sich auch durch einschlägige Zitate von Bundeskanzler Schröder belegen. Im März 1999 sagte er beim
Bundesverband der deutschen Tourismuswirtschaft zur
Trinkgeldbesteuerung: Darum werde ich mich persönlich
kümmern.
({17})
Das ist die schlimmste Drohung, die in diesem Land für
irgendeinen Politikbereich ausgesprochen werden kann.
({18})
Die Bürger wissen schon Bescheid: Der Bundeskanzler
liebt die Inszenierung im grellen Scheinwerferlicht. Der
Bundeskanzler liebt es, dem jeweiligen Publikum mit
schmeichelnden Worten zu gefallen,
({19})
und der Bundeskanzler liebt markige Worte wie „Chefsache“, „Machtwort“, „mich selbst kümmern“. Aber
wenn es an die Umsetzung geht und die Fernsehscheinwerfer ausgeschaltet sind, sucht der Bundeskanzler schon
wieder nach der Schlagzeile für die nächste Tageszeitung.
Die Menschen bleiben mit ihren Problemen zurück. Versprochen - gebrochen, so auch beim Kanzler.
({20})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün,
Sie können sich nicht mehr so leicht wie wir, die CDU und
CSU, auf steuersystematische Gründe berufen. Sie haben
die Steuersystematik verlassen. Es gibt in unserer Einkommensbesteuerung den synthetischen Einkommensbegriff doch nicht mehr;
({21})
denn Sie haben die Mindestbesteuerung eingeführt, die
Einschränkung bei der Verlustverrechnung vorgenommen
und das Vollanrechnungsverfahren aufgegeben. All das
waren Angriffe auf den Einkommensbegriff, der der Einkommensbesteuerung zugrunde lag. Insofern können Sie
diesen Vorwand heute nicht mehr vorbringen, wenn Sie
gegenüber den Interessengruppen und Ihren Wählern begründen wollen, warum Sie Ihre Wahlversprechen nicht
einlösen.
Sie haben mit Ihrer Steuerreform die großen Kapitalgesellschaften entlastet. Das hat zunächst ein Kursstrohfeuer an den Börsen entfacht, aber von den Entlassungen
in Hunderter- und Tausenderpäckchen bei denen, die Sie
so einseitig durch die Freistellung von Veräußerungserlösen entlastet haben, lesen wir noch immer. Für den Mittelstand in diesem Land gab es Steine statt Brot. Das wirkt
sich heute aus.
({22})
Ich muss zum Schluss kommen.
({23})
Ansonsten würde ich Ihnen all das aufzählen, was Sie
sonst noch verbrochen haben. Teilzeitrecht: Jetzt kann
man sagen, dass man nur noch halbtags arbeiten will, und
ein halbes Jahr später verlangen, wieder ganztags arbeiten
zu können. Betriebsverfassungsrecht: Funktionärswirtschaft statt Sozialpartnerschaft. 630-Mark-Jobs: Damit
haben Sie den Arbeitsmarkt zugeriegelt.
({24})
Herr Kollege Willsch,
für die Aufzählung bleibt jetzt wirklich keine Zeit mehr.
Wir werden am
22. September die Mehrheit in diesem Land erringen und
dann eine Politik für Wachstum und Beschäftigung in diesem Land machen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Willsch, Ihre Rede war so, dass Sie dafür von uns nicht
einmal Trinkgeld bekommen hätten.
({0})
Sie verdient die übliche Qualitätsmarke: Hokuspokus,
Simsalabim. Es ist einfach nicht zu glauben, was Sie gesagt haben.
({1})
Ich komme aus dem Osten und weiß aufgrund Ihrer Regierungszeit genau, was „Versprochen - gebrochen“ heißt.
({2})
Zurück zum Thema. Ich denke, auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es so: Seit man mit dem Euro
zahlt, gibt man entweder gar kein Trinkgeld oder einfach
zu viel.
({3})
Ohne weiter darüber nachzudenken, runden wir die ungenauen Beträge auf. Oder haben Sie den Kellner schon einmal gebeten, von 36,80 Euro auf 39,50 Euro herauszugeben?
({4})
Nein, man sagt dann: 40 Euro.
({5})
- Sie können ja nicht einmal zuhören. Wie wollen Sie
dann Beträge berechnen?
({6})
Damit habe ich ein wesentliches Problem geschildert,
das im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht. Nicht einmal wir, die Gäste, wissen gleich, wie viel Geld wir für
guten Service drauflegen sollen.
({7})
Wie aber nun können es die Finanzämter genau wissen?
Wir wissen, dass sie es nicht können. Und wenn man etwas nicht genau weiß, versucht man es mit Schätzungen.
Damit schafft man aber ein neues Problem. Bei der
Schätzung des Trinkgeldes muss nämlich eine Vielzahl
von Faktoren berücksichtigt werden: die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kunden, die Höhe der Rechnung,
({8})
die Art des Betriebes, die wirtschaftliche Rahmenlage und
- nicht zu vergessen - die typischen Eigenheiten der Gäste, die standortspezifisch sind. Zusätzlich erschwert wird
diese Schätzung dadurch, dass in Deutschland im Gegensatz zu sehr vielen anderen Ländern kein fester Prozentsatz für Trinkgelder gilt. Diese Faktoren sind kaum objektiv zu ermitteln, diese Daten kann kein Finanzamt
verlässlich erheben und bewerten.
({9})
Es fehlen aber auch belastbare Angaben über die Höhe des
Steueraufkommens aus der Trinkgeldbesteuerung.
Rein steuersystematisch betrachtet ist eine Trinkgeldsteuer zweifelsfrei im Grundsatz richtig. Darüber haben
wir jetzt und auch schon zu früheren Terminen hier sehr
ausführlich gesprochen. Trinkgelder stellen eben Einkommen dar wie andere Entlohnungen auch. Es ist sicherlich nicht unproblematisch, wenn Einkommen in
Form von Trinkgeldern steuerfrei gestellt wird, Einkommen in anderer Form dagegen voll versteuert werden
muss. Das Gerechtigkeitsgefühl wird hier sicherlich verletzt.
Doch das Gerechtigkeitsgefühl kann auch durch die
Praxis der Erhebung der Trinkgeldsteuer verletzt werden.
Die Finanzämter haben im Umgang mit der Dienstleistungsgesellschaft scheinbar schlechte Erfahrungen gemacht, denn einem Taxifahrer, einer Friseurin oder anderen Angestellten des Dienstleistungssektors trauen sie
nicht zu, einen ebenso freundlichen Service wie die angesprochenen Kellner zu bieten. Man vermutet deshalb, sie
erhalten weniger Trinkgeld. Die Finanzämter gehen davon aus, dass bei solchen Berufen der Freibetrag nicht erreicht wird.
Wenn der Steuerpflichtige, der Trinkgelder bezieht, in
seiner Steuererklärung keine Angaben zur Höhe des
Trinkgeldes macht, muss das Finanzamt davon ausgehen,
dass es unterhalb des Freibetrages liegt. Während die MitKlaus-Peter Willsch
arbeiter des Finanzamtes das den Friseurinnen glauben,
versuchen sie bei Kellnern den Gegenbeweis anzutreten.
Das ist relativ erfolglos, denn es gibt für die eingenommenen Trinkgelder keine Aufzeichnungspflicht. Deswegen existieren die bereits angesprochenen Schätzungen.
Ein komplizierter Fakt jagt hier den anderen: Fehlende
objektive Maßstäbe bei der vorgenommenen Schätzung
der Trinkgelder durch das Finanzamt wiegen finanzielle
Nachteile, die durch den erheblichen Verwaltungsaufwand entstehen, nicht auf. Steuergesetze aber müssen zumindest als Nebenzweck die Erzielung von Einnahmen
voraussetzen.
Zur Verwaltungsvereinfachung wurde 1954 ein Freibetrag eingeführt, der dann im Jahre 1990 auf 2 400 DM
- das sind 1 224 Euro, wie schon gesagt - verdoppelt
wurde. Eine lohnende Verwaltungsvereinfachung ist dadurch aber keinesfalls eingetreten. Die Abhängigkeit von
den richtigen Angaben der Arbeitnehmer konnte durch
diese Regelung nicht aufgehoben werden. Denn selbst
wenn Angaben des Schuldners vorliegen, müssen die
Behörden prüfen, ob er denn die Wahrheit spricht.
({10})
Zudem nehmen die pflichtbewussten Männer und Frauen
von den Finanzbehörden und -gerichten selbst dann
Schätzungen vor, wenn ihnen keine Angaben vorliegen.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten geht
davon aus, dass im Hotel- und Gaststättengewerbe rund
100 000 Personen Trinkgeld beziehen. Die Einnahmen
von etwa 90 Prozent der Beschäftigten bleiben unterhalb
der festgesetzten Grenze. Die eingenommenen Steuern
können dann aber nur Peanuts sein, die durch hohe Verwaltungskosten für Überprüfungen und Schätzungen dahinschmelzen dürften. Ich denke, Verwaltungseffizienz
buchstabiert man anders. All dies führt zu Überlegungen,
wie das Problem gelöst werden kann. Die von CDU/CSU
und FDP vorgelegten Vorschläge lehnen wir ab. Kollege
Schild hat hierzu Hinreichendes und Ausreichendes gesagt. Die Tourismuspolitiker der Koalition sind sich aber
darin einig, dass weiter an einer Lösung gearbeitet werden
muss. Sie können sich sicher sein, dass wir das auch tun.
Danke schön.
({11})
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte gerne, damit wir wissen,
über was wir reden, eine Passage zitieren:
Eine Form der Anerkennung für die Beschäftigten im
Gastgewerbe stellt das Trinkgeld dar, mit dem Gäste
ihre Zufriedenheit ausdrücken. Die Besteuerung des
Trinkgelds als Arbeitslohn verkennt den persönlichen Charakter dieser Anerkennung und ist daher abzuschaffen.
({0})
Dieses Zitat stammt nicht aus FDP-Papieren, sondern aus
den tourismuspolitischen Leitlinien der SPD, Frau
Kastner, von 1998.
({1})
Wir geben Ihnen jetzt die Gelegenheit, Ihr Wahlversprechen einzulösen. Sie müssen heute nur zustimmen und die
Wähler sind mit Ihnen zufrieden.
({2})
Lieber Herr Schild, niemand versteht, dass Sie nicht
zustimmen wollen. Wir haben auch im Finanzausschuss
die Argumente ausgetauscht. Ihre Einwände sind ja alle
berechtigt, aber bei der Diskussion sind die Gegenargumente immer schwächer geworden. Wie lässt es sich denn
rechtfertigen, dass in Hotellerie und Gastronomie massiv
kontrolliert wird, in allen anderen Bereichen aber nicht?
Das widerspricht der Gleichmäßigkeit der Besteuerung
und kann deshalb so nicht aufrechterhalten werden.
({3})
Wir sprechen von steuersystematischen Überlegungen.
Da habe ich nun wirklich Schwierigkeiten mit einem Argument, das, so glaube ich, auch von Ihnen, lieber Herr
Willsch, kam und das so nicht gelten kann. Es ist ja richtig: Es gibt höchstrichterliche Urteile, gemäß denen
Trinkgeld versteuert werden muss. Aber, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, wir sind der Gesetzgeber.
({4})
Wenn es solche Urteile gibt, wir aber anderer Ansicht
sind, dann ändern wir doch das Gesetz! Genau das wollen
wir tun. Wer soll es denn sonst tun? Deshalb legen wir
heute einen solchen Gesetzentwurf vor.
({5})
Auch Sie wissen ganz genau, dass für besonders guten
Service Trinkgeld gegeben wird. Ich möchte das klarstellen: Wenn ich schlecht bedient werde, gebe ich kein
Trinkgeld. Wenn ich gut bedient werde, gebe ich Trinkgeld. Aber dann möchte ich nicht, dass es in der Tasche
von Herrn Eichel oder Herrn Diller landet. Es soll bei dem
bleiben, dem ich es gebe.
({6})
Wir müssen endlich bereit sein umzudenken. Wir gehen bisher nach der Devise vor: Wer nett serviert, wird abkassiert. Wir wollen Leistung belohnen. Deshalb müssen
wir die Steuern insgesamt senken. Wir müssen in diesem
Zusammenhang das Steuersystem vereinfachen und vorher muss die Trinkgeldsteuer abgeschafft werden.
({7})
Es lohnt sich übrigens, einen Blick in die Nachbarländer zu werfen. Herr Diller, die Bundesregierung hatte
mir vor zwei Jahren auf eine diesbezügliche Anfrage
geantwortet, dass in fast allen Ländern der Europäischen
Union Trinkgeld besteuert wird. Jetzt besagte eine neue
Antwort der Bundesregierung, dass es nur zwei Länder
gibt, von denen das bekannt ist. Alle Länder um uns
herum besteuern Trinkgeld faktisch nicht. Das muss man
einmal wahrnehmen.
({8})
Jetzt, verehrter Herr Schild, noch einmal zu Ihren Argumenten: Sie haben die Bareis-Kommission von 1994
und, so glaube ich, auch Professor Kirchhoff angesprochen. Von beiden Seiten wird die Abschaffung der
Trinkgeldbesteuerung vorgeschlagen.
({9})
Professor Kirchhoff schlägt in seinem Karlsruher Entwurf
zur Reform des Einkommensteuergesetzes vor - ich habe
es dabei und kann es Ihnen vorlegen -, auf die Trinkgeldbesteuerung zu verzichten. Das ist Kirchhoff im Original.
({10})
Er sagt eindeutig, dass trotz der weiteren Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage die Trinkgeldbesteuerung weg
muss.
({11})
- Nein, ich zeige es Ihnen nachher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie wollen einen halben Schritt gehen, indem Sie sagen:
Wir setzen den Freibetrag hoch. Lieber Herr Willsch, ich
muss Sie jetzt auf Folgendes hinweisen: Mehrere Kollegen aus Ihrem Ausschuss sagen öffentlich ebenfalls, dass
die Trinkgeldbesteuerung weg muss. Der bayerische
Wirtschaftsminister Wiesheu hat öffentlich gefordert, die
Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen. Deshalb fordere ich
Sie auf, nicht einen halben Schritt zu gehen, sondern mit
uns zu springen und mitzumachen.
({12})
Hätten Sie dies bereits früher getan, dann wären wir in
dieser Frage vielleicht einen Schritt weiter.
Es geht noch um etwas anderes. Es geht darum, dass
viele Tausende Menschen in unserem Land abends und
am Wochenende arbeiten. Wir verlangen von ihnen einerseits, dass sie freundlich sind, und haben andererseits die
Motivationsbremse Trinkgeldbesteuerung. Schaffen wir
sie doch ab! Sorgen wir für mehr Servicequalität in
Deutschland! Sorgen wir dafür, dass sich Lächeln in
Deutschland wieder lohnt!
({13})
Ich appelliere jetzt wirklich an alle in diesem Hohen
Hause. Der Kanzler hat es versprochen.
({14})
Herr Wiesheu hat es versprochen. Die SPD hat es versprochen. Wirtschaftsminister Müller hat es vor zwei Monaten öffentlich versprochen.
({15})
Vor diesem Hintergrund kann es doch nicht sein, dass Sie
heute die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung wieder
ablehnen. Das würde kein Mensch verstehen. Sorgen Sie
dafür, dass sich Lächeln wieder lohnt! Wenn Sie es heute
nicht tun, dann wird Ihnen im September vielleicht das
Lachen vergehen.
({16})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn wir heute schon
zum vierten Mal über die Frage der Trinkgeldbesteuerung
diskutieren, werden wir das Problem wiederum nicht lösen. Denn wo kein Wille ist, ist auch kein Weg.
({0})
Trinkgelder sind für viele Beschäftigte, insbesondere
in der Gastronomie und im Friseurwesen, nach wie vor
lebensnotwendig, da ihre Löhne so niedrig sind, dass sie
kaum zum Leben reichen. Eine entsprechende Sozialabgabenpflicht durch den Arbeitgeber wäre eigentlich
eher notwendig als eine Besteuerung.
({1})
Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit oder im Alter ist
aufgrund der niedrigen Löhne nicht gegeben und der
Gang zum Sozialamt gegenwärtig fast unvermeidlich.
Steuersystematisch ist es sicher richtig, dass eigentlich
jede Mark Einkommen besteuert werden muss. Es gibt
viele Bereiche, in denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen ähnlich niedrigen Lohn wie die Beschäftigten in der Gastronomie haben und alles besteuert wird.
Aber - das wissen Sie doch alle - gerade im Gastronomiebereich arbeiten immer mehr, inzwischen die Hälfte
der Beschäftigten, auf Teilzeitbasis. Im Vergleich zum
produzierenden Gewerbe werden relativ viele Lehrstellen
angeboten. Das ist positiv. Doch die Mehrheit der jungen
Leute suchen nach der Ausbildung ihr Glück in anderen
Bereichen, weil die Löhne so niedrig und die Arbeitsbedingungen schlecht sind.
Hinzu kommt, dass eine tatsächliche Gleichstellung
nicht sichergestellt werden kann, da die Höhe der Trinkgelder entweder freiwillig angegeben werden muss oder
das Finanzamt diese auf der Grundlage der Umsätze
schätzt.
Letzteres ist gerade gegenwärtig sehr problematisch.
Nach der Euroumstellung hat man zwar in manchen Gaststätten das Gefühl, in den Speisekarten sei die D-Mark
durch den Euro ersetzt worden und der Preis - und damit
auch der Umsatz - habe sich verdoppelt. Das Trinkgeld ist
damit nicht automatisch gestiegen. Im Gegenteil - da können Sie einmal Kellner, Taxifahrer oder Ihre Friseurin fragen -, es wird gegenwärtig sehr viel weniger Trinkgeld
gegeben als noch vor einem halben Jahr. Von dem Verwaltungsaufwand in den Finanzämtern will ich hier gar
nicht reden.
Wesentlich mehr Steuern könnten wir zum Beispiel
durch zeitnahe Betriebsprüfungen einnehmen, aber dafür
fehlen uns ja bekanntlich die Leute. Wesentlich mehr
Steuereinnahmen könnten wir auch haben, hätten wir
nicht diese verunglückte Reform zur Einkommens- und
Unternehmensbesteuerung.
({2})
Gewinne aus dem Verkauf von Beteiligungen bleiben
steuerfrei, nur bei den Niedriglohnempfängerinnen und
-empfängern sind wir steuersystematisch konsequent.
Den Kleinen beißen eben die Hunde.
Die Erhöhung der Freibeträge, wie die CDU/CSU
sie fordert, ist eine Nachbesserung, die für die Betroffenen eine gewisse Verbesserung bedeuten würde. Nur wird
das Problem dadurch nicht generell gelöst und wir haben
es in der nächsten Legislaturperiode wieder auf der Tagesordnung.
Die PDS-Fraktion unterstützt den Vorschlag der FDP,
die Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen.
({3})
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Das ist endlich einmal ein
konsequenter Schritt.
Ich bedanke mich.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages auf Drucksache 14/4938 ({0}). Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6216, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDPund der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Einkommensteuergesetzes auf Drucksache 14/5233. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6216, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion, der PDS-Fraktion und einige Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der Mehrheit der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei
Verkehrsdienstleistungen
- Drucksachen 14/4378, 14/8378 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Weißbuch
Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft
KOM ({4}) 370 endg.; Ratsdok. 11932/01
- Drucksachen 14/7409 Nr. 2.38, 14/8480 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Karin Rehbock-Zureich.
Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die
Wachstumsprognosen hinsichtlich des Verkehrs sind eindeutig: Bis 2015 nimmt der Personenverkehr in Deutschland um 20 Prozent zu, der Güterverkehr nimmt um
64 Prozent zu. Die enormen Folgen dieser Zunahme liegen auf der Hand. Uns allen ist klar: Allein auf der Straße
lässt sich diese Herausforderung nicht bewältigen. Dazu
benötigen wir ein integriertes Verkehrssystem, das alle
Verkehrsträger nach ihren Stärken einsetzt. Die Schiene
wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt nicht nur
für die Situation in der Bundesrepublik, sondern dies gilt
auch EU-weit.
Das Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis
2010: Weichenstellungen für die Zukunft“ resultiert aus
der zentralen Erkenntnis, dass die Steuerung der Entwicklungen im Verkehrsbereich notwendig und das
Zusammenspiel aller Verkehrsträger unerlässlich ist, da
nur so die Mobilitätsbedürfnisse der Bürgerinnen und
Bürger und auch der Wirtschaft dauerhaft gesichert werden können.
({0})
Die zentralen Rahmenbedingungen müssen erfüllt
werden. Hier geht das Weißbuch in die richtige Richtung.
Es bietet gute Ansätze und ist eine wichtige Basis für eine
europaweit ökonomisch und ökologisch dauerhaft tragbare Mobilität. Langfristziele sind die Entkopplung von
Verkehrs- und Wirtschaftswachstum und das Erreichen
ausgewogener Verkehrsträgeranteile. Nur so ist dem prognostizierten Zuwachs zu begegnen. Vorgeschlagene
Maßnahmen sind die Einflussnahme auf die Preise des
Straßenverkehrs, Begleitmaßnahmen zur Effizienzsteigerung anderer Verkehrsträger und gezielte Investitionen in
transeuropäische Verkehrsnetze. Dies ist wirtschaftlich
sinnvoll und verkehrspolitisch notwendig.
({1})
Selbstverständlich gibt es auch Themen, die in diesem
Weißbuch aus unserer Sicht nicht ausführlich genug behandelt wurden. Hier sind es besonders die Maßnahmen,
die dazu beitragen, Klimaschutzziele wie die Verringerung des Schadstoffausstoßes und der Lärmemissionen zu
erreichen. Hier sind weitere Anstrengungen notwendig,
gerade im Hinblick auf die Erreichung der Klimaschutzziele, die im Kioto-Protokoll vorgesehen sind.
In den Beratungen auf europäischer Ebene zur Umsetzung der Weißbuch-Vorschläge muss die Bundesregierung vor allen Dingen folgende Akzente setzen: Da ist
zum einen die Stärkung der Wettbewerbsposition der
Schiene sowie der See- und Binnenschifffahrt und zum
anderen die Beschleunigung der Marktöffnung im Bereich des Schienenverkehrs, und zwar im Personen- wie
im Güterverkehr. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die
Stärkung der Interoperabilität. Hier legen wir besonderen
Wert auf die Verbesserung der grenzüberschreitenden
Verkehre; denn dies ist der Markt der Zukunft.
({2})
Auch hinsichtlich der Stärkung der Intermodalität des
Verkehrssystems haben die Bundesregierung und die
SPD-Fraktion zusammen mit den Grünen, unserem Koalitionspartner, wichtige Weichenstellungen für die Zukunft schon beschlossen und zum Beispiel die Mittel für
die Kombiverkehre im Haushalt verstärkt, um so ein
deutliches Zeichen zu setzen. Das Fördervolumen lag
2001 bei 150 Millionen DM bzw. 75 Millionen Euro. Die
kontinuierliche Erhöhung dieser Mittel seit Regierungsübernahme spiegelt den politischen Willen wider, die
Potenziale des Kombiverkehrs und die Verlagerung der
Güterverkehre auf die Schiene zu unterstützen.
({3})
Ein ganz wichtiges Vorhaben, das Sie über Jahrzehnte
in den Schubladen liegen ließen, ist die Stärkung des
Verursacherprinzips bei der Anlastung der Infrastrukturkosten. Wir werden schrittweise von einer Haushaltsfinanzierung zu einer Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur übergehen.
Des Weiteren wird auf der Tagesordnung der EU die
Erhöhung der Verkehrssicherheit und die Reduzierung der
negativen Umweltwirkungen des Verkehrs stehen. Dass
eine Reduzierung der Schadstoff- und Lärmemissionen
von besonderer Wichtigkeit ist, liegt auf der Hand. Wir
halten es aber auch für wichtig, die faire Anlastung aller
vom Verkehr verursachten Kosten auf EU-Ebene zu erörtern. Dazu gehört auch das Thema Mineralöl- und KfzBesteuerung.
({4})
Bei diesem Thema gibt es noch große Defizite auf EUEbene, was eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im Straßengüterverkehr angeht. Dabei wird ein
Schwerpunkt der zukünftigen Verkehrspolitik auf der Entwicklung einheitlicher Rechtsvorschriften im Hinblick
auf die Kraftstoffbesteuerung und die Nutzerentgelte liegen müssen.
Im Arbeits- und Sozialrecht haben wir bereits Fortschritte erzielt. Wir haben die Kontrollen verbessert und
mit dem EU-Führerschein die Voraussetzungen dafür
geschaffen, dass sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse die Normalität im Transportbereich werden.
({5})
Vergleichbare Wettbewerbsbedingungen kann es nur
bei fairem Wettbewerb in ganz Europa geben. Um die Ungleichgewichte in Europa zu vermindern, muss der Subventionswettlauf beendet und Subventionsabbau betrieben werden.
Gerade mit der Einführung der LKW-Maut gehen wir
den ersten Schritt hin zu einer Nutzerfinanzierung der
Straßenverkehrsinfrastruktur. Es erscheint in diesem Zusammenhang geboten, die Entlastungsmaßnahmen für
das Verkehrsgewerbe auf die Tagesordnung zu setzen,
denn vom Grundsatz her schafft eine LKW-Maut kein Ungleichgewicht und keine Verzerrungen im Transportmarkt, da die Maut für alle LKWs auf deutschen Autobahnen gilt, egal, aus welchem Land sie kommen.
Die Transportwirtschaft leidet heute noch unter der
konzeptionslosen Liberalisierung vergangener Jahre. Leider sind gerade unter Ihrer Regierung die Märkte auf EUEbene liberalisiert worden, ohne dass zur gleichen Zeit
eine Harmonisierung erfolgt wäre. Vielmehr ist zu Ihrer
Regierungszeit die Harmonisierung der Liberalisierung
hinterhergerannt.
({6})
Wir haben damit begonnen, diese Defizite aufzuarbeiten. Bis 2003 sollen nach unserem Willen die Subventionen im Mineralölsteuerbereich auslaufen. Auch haben wir
dafür gesorgt, dass es bei der EU-Osterweiterung im
Sinne des heimischen Gewerbes zu ausreichenden Übergangsfristen kommen wird.
Die Maut für schwere LKWs auf deutschen Straßen,
die seit Jahren auf der Tagesordnung stehen könnte, um
hier zu einem gerechteren Wettbewerb unter den Verkehrsträgern zu kommen, wird im Vermittlungsverfahren
von Ihnen leider behindert. Von Ihnen wird nach dem
Motto „Zurück in die Steinzeit“ aus rein taktischen ÜberKarin Rehbock-Zureich
legungen heraus ein wichtiges Infrastrukturprojekt verhindert - dieses Projekt geht weg von der Haushaltsfinanzierung und hin zu einer Nutzerfinanzierung, um europaweit eine Chancengleichheit der Verkehrsträger
herzustellen -, und zwar zum Schaden aller Verkehrsträger.
({7})
Dieses Verhalten geht auch zulasten eines Infrastrukturprojektes, bei dem wir durch die Einführung einer
LKW-Maut Marktführer sein könnten, nämlich bei der
Entwicklung eines über Satellit gesteuerten neuen Systems. Hier könnten wir die Vorreiterrolle in Europa spielen. Dies muss Ihnen bewusst sein, wenn Sie diese Verhinderungspolitik hier weiter betreiben.
({8})
Wir haben mit der LKW-Maut, deren Einnahmen in
das Gesamtsystem der Verkehrsinfrastruktur zurückfließen sollen, ein Projekt auf die Tagesordnung gebracht,
das den integrativen Ansatz dieses Verkehrssystems deutlich macht. Es macht darüber hinaus deutlich, dass wir
eine Chancengleichheit für alle Verkehrsträger erreichen
wollen und dass wir dies europaweit angehen müssen. Mit
den Harmonisierungsschritten, die hierfür nötig sind, machen wir einen großen Schritt in Richtung Mobilität.
Ich fordere Sie dazu auf, dass Sie dem Grundsatz dieses Weißbuches, das für die Zukunft des Wettbewerbs
aller Verkehrsträger in Europa eine neue Dimension darstellt, zustimmen und dass die Harmonisierungsansätze,
die im Weißbuch aufgezeigt werden, von Ihnen mitgetragen werden. Lassen Sie uns gemeinsam diesen wichtigen
Schritt tun! Ich denke, in diesem Hause sind alle der Meinung, dass dieses Weißbuch eine Grundlage für die Gestaltung zukünftiger Mobilität darstellt, die wir alle unterstützen müssen. Manches ist selbstverständlich auch aus
unserer Sicht noch verbesserungswürdig. Die Bundesregierung hat von uns den Auftrag, diese Änderungsvorschläge aufzugreifen und durchzusetzen.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Wir haben unsererseits einen Antrag vorgelegt, der alle Punkte aufgreift.
Wir bitten Sie, diesem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({9})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dirk Fischer.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich kann die Bundesregierung nur dazu auffordern, die Interessen der deutschen Verkehrswirtschaft und unserer Betriebe in Bezug
auf die Arbeitsplätze bei kommenden Ratstagungen der
EU-Verkehrsminister verstärkt vorzutragen; denn die
Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen für das
Verkehrsgewerbe muss weiterhin als vordringliches Ziel
der europäischen Verkehrspolitik definiert werden.
Natürlich haben Sie, Frau Kollegin Rehbock-Zureich,
Recht, wenn Sie sagen, dass der Grundsatz „erst Harmonisierung, dann Liberalisierung“ nicht verwirklicht wurde, sondern dass Mitte der 80er-Jahre die Liberalisierung
an die erste Stelle gerückt ist und dadurch Harmonisierungsdefizite geblieben sind.
({0})
Daraus folgt, dass wir um so hartnäckiger einfordern müssen, dass diese Defizite abgebaut werden, weil in einem
europäischen Binnenmarkt Wettbewerb nur unter gleichen Bedingungen funktioniert.
({1})
Ich darf feststellen, dass wir immer noch keine fairen Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Verkehrsgewerbe haben. Die Wettbewerbsverzerrungen bei den
verkehrsspezifischen Gebühren und Abgaben, bei den
technischen Regelungen und den Sozialvorschriften, insbesondere bei ihrem Vollzug, müssen abgebaut werden.
Denn aus dem unterschiedlichen Vollzug entstehen permanent weitere Wettbewerbsverzerrungen.
Unser Land ist sicherlich bei der Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht am EU-treuesten. Deswegen müssen wir auch verlangen, dass die Kommission
den gleichmäßigen Vollzug des Gemeinschaftsrechts im
Auge behält. Ohne Harmonisierung stehen viele mittelständische Unternehmen der Transportwirtschaft in unserem Lande vor dem Aus oder der Ausflaggung. Beides
kostet Steueraufkommen, beides kostet Arbeitsplätze und
verschärft die Arbeitsmarktsituation in unserem Land.
({2})
Natürlich müssen Sie sich immer wieder dazu bekennen, dass Sie in dieser Legislaturperiode, in der Sie in diesem Hause die Mehrheit haben, die Situation durch eine
einseitige Steuer- und Abgabenpolitik erheblich verschärft haben und dass Sie eben nicht - eingepasst in die
europäische Entwicklung - gehandelt haben, sondern
dass Sie unser Gewerbe noch dramatisch höher einseitig
belastet haben, während andere Länder - Frankreich,
Belgien, Italien
({3})
und insbesondere die Niederlande als ein Hauptwettbewerber auf der Straße - ihrem Gewerbe gezielt durch
Entlastung geholfen haben. Während dort also das Gewerbe entlastet worden ist, ist es bei uns dramatisch mehr
belastet worden.
Nun wollen Sie mit Ihrem Mautgesetz ohne einen ausreichenden Harmonisierungsbeitrag voll zuschlagen. Hier
soll unserem Gewerbe, das seinen Umsatz überwiegend
auf unserem Markt generiert, ohne nennenswerte Harmonisierung eine achtfach höhere Gebührenbelastung aufgebrummt werden.
({4})
Frau Rehbock-Zureich, ich sage noch einmal: Es geht
hier nicht um das Ob; es geht hier nicht um den Grundsatz.
Auch wir haben in unserer Regierungszeit die Umstellung
einer zeitbezogenen Euro-Vignette auf eine streckenbezogene, nutzungsabhängige Gebühr vorbereitet.
({5})
Es geht vielmehr um das Wie. Es geht hier nicht um Taktik, sondern um die Existenz deutscher Unternehmen und
um die Arbeitsplätze deutscher Arbeitnehmer.
({6})
Bezüglich der Umstellung der Haushaltsfinanzierung
auf die Nutzerfinanzierung kostet es verdammt viel
Glaubwürdigkeit, wenn diejenigen, die bezahlen müssen,
nachweisen, dass ein erheblicher Anteil des Aufkommens
nicht in die Verbesserung der Infrastruktur geht, sondern im Haushalt verschwindet. Es ist nahezu das Doppelte dessen, was heute schon über die Euro-Vignette im
Haushalt verschwindet. Das und nichts anderes ist der
Kernpunkt unseres Konflikts.
({7})
Wir sind Ihnen - um das deutlich zu sagen - in unserer
Kompromissbereitschaft in zwei Punkten erheblich entgegengekommen: Zum einen werden wir bis zu einem gewissen Grad eine Quersubventionierung anderer Verkehrsträger und ihrer Infrastruktur akzeptieren, wenn es
um die Erreichung eines Gesamtkompromisses geht.
({8})
Zum anderen sind wir im Hinblick auf die blauen Briefe,
die diese Bundesregierung aus Brüssel bekommt, und im
Hinblick auf die nahezu unhaltbaren Zusagen, die bis zum
Jahre 2004 gemacht worden sind, sogar bereit, hinzunehmen, dass der Status quo im Haushalt nicht angetastet
wird. Aber alles, was darüber hinausgeht, muss zusätzlich
als Harmonisierungsbeitrag erbracht werden. Es muss für
das Gewerbe zumindest einen geringen flankierenden
Schutz geben.
({9})
Das ist der Punkt, um den wir streiten, nicht aber um den
Grundsatz.
({10})
Es gibt auf europäischer Ebene dringenden Handlungsbedarf, da die Kommission mit ihrem Weißbuch nur
die Wettbewerbsregulierung und weniger die Wettbewerbsharmonisierung beabsichtigt. Ich glaube, dass die
rot-grüne Regierungskoalition Unrecht hat;
({11})
denn das Weißbuch stimmt in wichtigen Punkten eben
nicht mit den verkehrspolitischen Zielsetzungen des
Deutschen Bundestages überein. Der Deutsche Bundestag ist gegenüber Brüssel, gegenüber der Kommission,
geradezu verpflichtet, diese Nichtübereinstimmungen
herauszuarbeiten.
Stetiges Verkehrswachstum bedingt einen großen Infrastrukturausbaubedarf. Die EU-Kommission sieht aber
vornehmlich Infrastrukturinvestitionen zugunsten der
Schiene vor. Ich halte das für einigermaßen weltfremd.
Wenn ich mir Ihren Verkehrsbericht anschaue und die Zuwächse im Straßengüter- und Straßenpersonenverkehr,
die dort aufgezeigt und prognostiziert werden, zugrunde
lege, muss ich sagen, dass ich dieses für einigermaßen
weltfremd halte. Es ist keine realistische Perspektive für
die anderen Verkehrsträger.
({12})
Richtigerweise stellt die Kommission fest, dass das
Fehlen leistungsfähiger Verkehrsinfrastrukturnetze weitgehend unterschätzt wird. Mit Sicherheit hat sie damit
aber auch unsere Bundesregierung gemeint, die dieses in
eklatanter Weise tut. Es ist doch ein Widerspruch, wenn
Sie in der Investitionspolitik nur einseitige Schwerpunkte
setzen, die überhaupt nicht umsetzbar sind.
Meine Damen und Herren, bei der Revitalisierung der
Eisenbahnen will Europa die Trennung von Netz und
Betrieb als Ziel der Schienenverkehrspolitik verwirklichen. Das steht ausdrücklich in der EU-Verordnung 1107/70 neu, der so genannten Infrastrukturrichtlinie.
({13})
Damit sollen Wettbewerb, Wachstum, ein geringerer öffentlicher Zuschussbedarf und Privatisierung möglich
und monopolistische Strukturen aufgebrochen werden.
Die Grundvoraussetzung dafür ist die Unabhängigkeit
des Netzes;
({14})
denn für die Schaffung weiterer Kapazitäten ist dies unerlässlich. Ich kann nur eines sagen: Frau Rehbock-Zureich,
dieses mickrige und unzureichende Task-Force-Ergebnis
ist, gemessen an dem, was Herr Minister Bodewig in
Stuttgart auf dem Parteitag der Grünen gesagt hat - diesem haben Sie zugejubelt -, in Wahrheit Bodewig hoch
minus Drei.
({15})
Eines ist doch ganz klar - das sagt Ihnen jeder Sachverständige und Sie können auch die Kommission fragen -:
Dirk Fischer ({16})
Mit diesem Ergebnis erfüllt Deutschland die EU-Richtlinie nicht.
({17})
Es besteht ein weiterer Handlungsbedarf. Unserem
mittelständischen Verkehrsgewerbe dürfen keine weiteren Sonderlasten aufgebürdet werden, weil ein fortbestehender und immer höherer Zuschussbedarf unseres monopolistischen Eisenbahnunternehmens den Wettbewerb
verhindert. Wenn wir uns die finanziellen Ergebnisse der
Bahnreform bis heute anschauen, erkennen wir, dass
diese Aussage sehr zutreffend ist. Sie können die Handlungsverweigerung auf einem Felde nicht durch ein überbordendes Belasten der mittelständischen Verkehrsunternehmen ausgleichen. Das ist eine Politik, die nach meiner
Auffassung voll daneben geht.
({18})
Zum Bau der transeuropäischen Netze ist zu bemerken, dass in den Randregionen deutlich wird, dass die
Nachbarländer ihre Baumaßnahmen bis an die Grenze
vorangetrieben haben. Die nicht sehr finanzstarke Tschechische Republik hat eine entsprechende Autobahnverbindung gebaut. In Deutschland gibt es auf der A 6 nach
wie vor erhebliche Defizite.
({19})
Das ist die Wirklichkeit. Dort werden die Projekte vorangetrieben, während in Deutschland zu viel diskutiert und
zu wenig getan wird.
({20})
Deutschland darf sich nicht mit wohlklingenden Ankündigungen zufrieden geben, sondern muss auch die konkreten Maßnahmen umsetzen.
Wenn der Bundesverkehrsminister dem Deutschen
Bundestag bei der Debatte über das Weißbuch der EUKommission - das ist sozusagen die Magna Charta der europäischen Verkehrspolitik - die Ehre seiner Anwesenheit
gegeben hätte - das hätte ich für erforderlich gehalten -,
würde ich ihm jetzt zurufen: Herr Minister Bodewig, die
Bauleistung muss hoch- und die Propagandaleistung
muss heruntergefahren werden. Das wäre allemal besser,
als permanent umgekehrt zu handeln.
({21})
Lassen Sie mich ein Wort zu unserem Antrag „Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistungen“ sagen; ich komme damit auf den Ausgangspunkt meiner Rede zurück. Auch hier im Hause ist es
unbestritten, dass es gravierende Harmonisierungsdefizite bei den Wettbewerbsbedingungen im Bereich der
Transportwirtschaft, nämlich beim Straßengüterverkehr
und bei der Binnenschifffahrt, gibt. Die Beseitigung dieser Defizite im europäischen Güterverkehrsmarkt ist Ziel
der zukunftsorientierten Verkehrspolitik meiner Fraktion.Wir wollen die europäische Marktordnung weiter
ausbauen. Wir wollen weiterhin dafür sorgen, dass faire
Wettbewerbsbedingungen auch für unsere deutschen Unternehmen entstehen.
Die Harmonisierung ist Voraussetzung für die Marktöffnung. Die EU-Kommission muss daher zügig ein
Weißbuch über die noch fortbestehenden Regelungs- und
Vollzugsdefizite zur Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen für die Verkehrsdienstleistungen im europäischen Binnenmarkt - quasi wissenschaftlich genau - erarbeiten. Daraus ergibt sich auch Regelungsbedarf im
Hinblick auf den Beitritt der Staaten aus Mittel- und Osteuropa und die damit verbundene Erweiterung des Verkehrsmarktes; denn eine Erweiterung in dieser Situation
führt zu weiteren Marktverwerfungen.
Das Weißbuch soll als Grundlage dienen, einen Maßnahmenkatalog zu erstellen, der einen zügigen Abbau
dieser Defizite bewirkt und damit faire Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer gewährleistet. Es
reicht nicht aus, schöne Ziele zu definieren, sondern es
müssen konkrete und konsequente Maßnahmen ergriffen
werden.
({22})
Ich sage deutlich: Wer das Weißbuch ablehnt, will die
Wahrheit verschleiern und nicht zum Handeln gezwungen
werden. Einen SPD-Antrag, in dem dies von der Europäischen Kommission gefordert wird, habe ich bisher noch
nicht gelesen. Wir sind im Interesse unserer deutschen
Firmen und ihrer Arbeitnehmer zum Handeln verpflichtet.
Deswegen müssen wir Druck auf Europa machen, endlich
die Wahrheit auf den Tisch zu legen. Dann fällt, auf
Deutsch gesagt, der politische Handlungskatalog unten
heraus.
({23})
Ich erteile Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Fischer, nach Ihrer Rede habe ich
folgenden Eindruck: Erstens: Sie haben das Ergebnis der
Task Force nicht verstanden.
({0})
Zweitens: Sie haben das vorliegende Weißbuch der EU
nicht verstanden. Drittens - das ist Ihr Hauptproblem -:
Sie haben offenbar die Verkehrsprobleme, vor denen ein
Land mitten in einem sich erweiternden Europa heute und
in den nächsten Jahren steht, nicht begriffen.
Ihre Forderung heißt: Weiter so wie bisher! Steckt immer mehr Geld in den Straßenbau! Baut einfach die dritte
und vierte LKW-Spur, um die Warteschlangen der LKW,
die praktisch rollende Lagerhallen sind, zu vermeiden. So
lösen wir die Probleme. - Das kann es wirklich nicht sein.
Dirk Fischer ({1})
Ich hatte gedacht, Sie hätten im Laufe der Legislaturperiode ein bisschen mehr von den Problemen begriffen.
({2})
- Die Probleme muss man doch endlich ernst nehmen.
Ich nenne Ihnen jetzt die Zahlen der EU, die für ein
Land in der Mitte Europas besonders gravierend sind: Allein bis 2010 werden wir einen Zuwachs von 38 Prozent
im Personen- und von 24 Prozent im Güterverkehr haben.
Wenn diese Zahlen zutreffen, dann müssen wir von diesem „Weiter so!“ im Straßenausbau wegkommen. Denn:
Erstens. Die Straßen sind schon sehr verstopft. Zweitens.
Wir können nicht - wir haben über den drohenden blauen
Brief schon diskutiert - ständig weiter Geld in den
Straßenausbau stecken. Das geht nicht. Dass dies auch
ökologisch unverträglich ist, sollten Sie inzwischen gelernt haben.
({3})
Demgegenüber ist gerade das EU-Weißbuch für die europäische Verkehrspolitik bis 2010 ein sehr guter Handlungsrahmen, um eine verträgliche Mobilität national
und in Europa zu gewährleisten. Es ist auch eine Bestätigung für die Politik, die Rot-Grün in diesen vier Jahren
begonnen und umgesetzt hat und auch weiterhin betreiben
wird. Von daher gibt die EU mit ihrem Weißbuch die entscheidende Unterstützung für unsere Strategie.
Unsere Strategie ist: Die jahrzehntelange einseitige
Bevorzugung der Anteile für den Verkehrsträger Straße
muss endlich zurückgefahren werden. Dafür muss der
Ausbau des umweltfreundlichen Schienenverkehrs und
der Binnenschifffahrt dort, wo sie umweltverträglich ist,
gefördert werden. All dies muss in ein richtiges Gleichgewicht gebracht werden. Es muss umgesteuert werden, um
die Straßen, insbesondere unsere überfrachteten Autobahnen, endlich zu entlasten. Dieses Ziel werden wir in Kooperation mit der EU weiterhin verfolgen.
({4})
Ich muss ganz klar sagen: Die LKW-Maut, die in
Grundzügen auch von Ihnen unterstützt wird, ist ein ganz
zentraler Baustein. Ich sage es noch einmal - meine Kollegin Karin Rehbock-Zureich hat es eben schon gesagt -:
Es geht nicht, dass Sie jetzt einfach Forderungen stellen,
man solle jetzt über so viel Harmonisierung all das wegkompensieren, was die LKW-Maut eigentlich bringt, damit wir endlich ein Stück weit von der Steuerfinanzierung
zur Nutzerfinanzierung kommen. Das ist das Erste, was
wirklich sehr wichtig ist. Wir können keine Harmonisierung machen, die das Ganze letztlich wieder aufkommensneutral macht. Ich bin gespannt, was Sie, Herr Kollege Friedrich dazu sagen. Wir haben es erlebt, wie Sie in
der Arbeitsgruppe zum Vermittlungsausschuss die Verhandlungen blockiert haben.
Ich sage als Zweites - es ist sehr wichtig, sich das klar
zu machen -: Die Probleme des Verkehrsgewerbes liegen
nicht so sehr in diesem Bereich, sondern im Sozialdumping, der Konkurrenz von Billigstfahrpreisen in einem
ruinösen Wettbewerb um niedrige Löhne und um niedrigste Steuerabgaben, indem man den Standort des Unternehmens ins Ausland verlagert. Von daher besteht das Problem - Sie hatten das vorhin zugegeben - , dass wir
während Ihrer Regierungszeit nicht nur in Deutschland,
sondern europaweit ein Zuviel an Liberalisierung hatten,
das zu einem ruinösen Wettbewerb geführt hat. An diesen
Schrauben muss gedreht werden. Die LKW-Maut ist ein
sinnvolles Instrument, gerade um mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit zwischen den ausländischen Fahrzeugen, die durch unser Land fahren, und unseren eigenen
zu bekommen. Das wird auch vom Verkehrsgewerbe
längst anerkannt. Von daher heißt unsere Formel: Ein
Stück weit Harmonisierung, Ausgleich und Kompensation über die Mineralölsteuer und ansonsten eine LKWMaut, die als Lenkungsinstrument wirklich greift.
Als Drittes ist besonders wichtig, dass die Maut anteilig auf Straße, Schiene und naturverträgliche Binnenschifffahrt gelenkt wird und dass wir damit Schritt für
Schritt in ein integriertes Verkehrskonzept umsteuern und
ein Verhältnis im Verkehr erreichen, das die Straße entlastet und der Schiene das abverlangt, was sie wirklich
leisten kann. Daran arbeiten wir systematisch weiter, auch
die nächsten vier Jahre in Kooperation mit Europa. Dann
sind wir ein Stück weiter.
({5})
Das Wort hat nun Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich in dieser Wahlperiode alles richtig verstanden habe, dann hat
die Bundesregierung unter Führung von SPD und Grünen
dem deutschen Gewerbe im Januar 2001 versprochen, mit
der Umstellung der Maut von der Zeitbezogenheit auf die
Streckenbezogenheit würde es eine Harmonisierung auf
größtmöglichem europäischen Niveau geben.
({0})
Frau Rehbock-Zureich, Sie sagen, wir hätten eine Harmonisierungslast hinterlassen. Wenn man zugrunde legt,
was Sie im Januar 2001 dem Gewerbe versprochen haben,
und sich dann anhand der vorgelegten Zahlen anschaut,
was Sie mit der Maut dem Gewerbe zur Verfügung stellen, kann man sagen: Offensichtlich ist der Harmonisierungsbereich, den Sie akzeptieren, in der Größenordnung
von 260 Millionen Euro zu sehen. Mehr sind Sie nicht bereit, dem Gewerbe zur Verfügung zu stellen, und dies bei
einer Gesamtbelastung des deutschen Gewerbes durch die
Maut von immerhin 2,6 Milliarden Euro. Das ist ungefähr
ein Verhältnis von 10 zu 1.
Wenn das alles zutrifft, sollten Sie sich fragen lassen,
wem Sie eigentlich Vorwürfe machen. Zu einem Zeitpunkt, wo Sie angeblich Harmonisierungsdefizite festellen, beschließen Sie die Ökosteuer. Sie beläuft sich mittlerweile auf 24 Pfennig plus 4 Pfennig Umsatzsteuer. Sie
beschließen eine Maut, die das deutsche Gewerbe nicht
entlastet, sondern belastet. Das alles geschieht vor dem
Hintergrund der zu erwartenden EU-Osterweiterung.
Dann, Frau Kollegin Rehbock-Zureich, hilft Ihnen auch
keine noch so lange Übergangsfrist.
({1})
Wenn sie nämlich in einer vorgegebenen Zeit nicht in der
Lage sind, national die Kosten zu senken, dann können
Sie sich die Übergangsfrist sparen. Sie verlängern eigentlich nur das Problem, aber Sie lösen es nicht. Das ist das
eigentliche Defizit. Deswegen verstehe ich nicht, warum
Sie im Ausschuss ein Weißbuch auf Antrag der Kollegen
der Unionsfraktion ablehnen, in dem Europa aufgefordert
wird, Defizite in der Harmonisierung einmal deutlich zu
machen. Denn dann weiß man, wo man ansetzen muss.
Es nützt doch nichts, im Wege einer Selbstfindungsgruppe nach dem Motto „Gut, dass wir darüber geredet
haben“ in jedem Weißbuch der EU erneut festzustellen,
dass zwar aufgezeigt worden ist, was zu tun ist, dass aber
der Rat - oder wer auch immer - das nicht verstanden hat.
Es nützt dem deutschen Gewerbe nichts und es nützt erst
recht nichts, auf nationaler Ebene dauernd neue Kosten
für das deutsche Gewerbe zu erfinden, die andere umgehen.
Wenn ich mich recht erinnere, dann ist das, was im
Jahr 2000 von allen schon genannten Ländern dem jeweiligen Gewerbe eingeräumt worden ist, mit Zustimmung
der Bundesregierung erfolgt, ohne dass deswegen Widerspruch eingelegt worden ist. Es nützt dem deutschen Gewerbe auch nichts, wenn Sie jetzt sagen, das läuft zum
Jahresende aus. Die Spritpreise steigen mittlerweile wieder an. Die Rohölpreise steigen ebenfalls. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Sie werden sich wundern, was
andere Länder - Italiener, Belgier, Franzosen oder Niederländer - noch alles erfinden, um aus diesem Versprechen wieder herauszukommen.
Wir kommen zum Thema Bahn. Das ist offensichtlich
die allein selig machende Lösung. Im Jahr 2001 ist groß
getönt worden, die Bahn habe einen Güterzuwachs in
Höhe von 1,5 bis 2 Prozent erzielt. Das galt als Leistung
von Herrn Mehdorn. Wir haben erwidert, das liege ausschließlich an der Wirtschaftsentwicklung insgesamt.
Jetzt liegt die Statistik für das Jahr 2001 vor: minus 2 Prozent. Das ist dann offensichtlich auch die Leistung der
Bahn. Denn wenn der Zuwachs die Leistung der Bahn ist,
dann gilt das auch für ein Minus. Deswegen verstehe ich
nicht, dass Sie uns dauernd erzählen wollen, mit Ihrer Politik würden Sie Probleme im Hinblick auf den Gütermarkt lösen. Nein, es bleibt dabei: Wir müssen endlich
Wettbewerb auf der Schiene darstellen.
({2})
Wir müssen echte Leistungsfähigkeit auf der Schiene
schaffen, sonst wird das Ganze nichts. Selbst die Bahn
gibt zu: 15 Cent Maut pro Kilometer auf der Autobahn
bringen eine Güterverlagerung von der Straße auf die
Schiene von bestenfalls 1 Prozent. Wenn das Ihre Lösung
ist, dann stehen Sie sehr schnell im Wald. Deswegen wird
es Zeit, dass ab September wieder eine andere Verkehrspolitik stattfindet.
In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Unionsfraktion und werden Ihre Anträge ablehnen.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wohl immer so, dass man einem umfangreichen Weißbuch wie
dem vorliegenden alles oder fast alles - viele Fakten,
Vorteile und eine ganze Reihe liebenswerter Vorhaben für alle Fraktionen entnehmen kann. Das hat auch Vorteile. Ich würde zum Beispiel das in dem Weißbuch vorgesehene notwendige Vorhaben erwähnen, die Zahl von
jährlich 40 000 Straßenverkehrstoten in Europa zu halbieren.
Ich meine, dass das Wichtigste, das man zum Weißbuch feststellen kann, der folgende Widerspruch ist. Einerseits wird in der Gesamtorientierung zu Recht festgestellt, dass eine Verlagerung auf Schiene und Wasser, und
zwar eine Rückführung der Anteile von Straße und Luft
auf das Niveau von 1998 zugunsten von mehr Anteilen
von Schiene und Wasser, notwendig ist.
({0})
Gleichzeitig wird aber allseits festgestellt, dass man
weiter Flughäfen und Straßen bauen und Engpässe beseitigen müsse. Ich meine, wir machen dabei auf EUEbene den gleichen Fehler wie auf bundesdeutscher
Ebene, indem man eine parallele Förderung aller Verkehrsträger vornimmt. Aber auf dem derzeitigen hohem
Niveau wird man keine wirkliche Wende in diesem Bereich erreichen.
Was stattdessen notwendig wäre, sind zwei Dinge.
Erstens sollten wir das Thema Transportintensität untersuchen, nämlich die Tatsache, dass für eine Ware der
gleichen Qualität von Jahr zu Jahr - ein Glas Wasser, ein
Mikrofon, ein Auto oder ein Fahrrad - mehr Transportkilometer anfallen und immer weitere Wege zurückgelegt werden, ohne dadurch in irgendeiner Weise einen
wirtschaftlichen Vorteil zu haben. Zweitens müssen wir
über die individuelle Mobilität diskutieren, bei der
nicht über mehr Kilometerfraß mehr Genuss herauskommen muss. Zum Beispiel bietet Ryanair an, für 10,
20 oder 30 Euro europaweit überall hinfliegen zu können. Selbstverständlich wird dann jede Art von Tourismus im eigenen Land bzw. im Nahbereich nicht mehr
realisierbar sein.
Interessant ist, dass keiner meiner Vorredner - ich kann
das beurteilen; denn ich bin der letzte Redner in dieser Debatte - darauf hingewiesen hat, dass auf Seite 11 des
Weißbuches eine grundlegende Strategie zur Entkopplung von Verkehrswachstum und Wirtschaftswachstum gefordert wird.
({1})
Horst Friedrich ({2})
- Kollege Friedrich, eine solche Entkopplung findet
nicht im Verkehrs-, sondern nur im Energiebereich statt.
Die Industrie verbraucht nämlich trotz Wirtschaftswachstums immer weniger Energie. Aber im Verkehrsbereich geht man noch immer davon aus, dass der Verkehr im gleichen Maße wie die Wirtschaft wachsen
muss. Das hat beispielsweise schon die Kollegin Rehbock-Zureich gleich zu Beginn ihrer Rede deutlich gemacht. Sie sprach davon, dass das Wirtschaftswachstum
irgendwie auf die Verkehrsträger verschoben werden
müsse. Ich glaube, dass es nicht verschoben werden
muss. Nach meiner Auffassung ist es möglich, das ökonomische System so zu gestalten, dass es Wirtschaftswachstum ohne Zunahme des Verkehrs gibt. Das müsste
das Ziel sowohl auf bundesdeutscher Ebene als auch auf
EU-Ebene sein.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Zusatzpunkt 8: Wir kommen zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/8378 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistungen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/4378 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP bei Stimmenthaltung der PDS angenommen.
Zusatzpunkt 9: Wir kommen zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/8480 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über das Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010:
Weichenstellungen für die Zukunft“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis
der genannten Unterrichtung, eine von den Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vorgeschlagene
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Stimmverhältnissen wie zuvor angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss in Kenntnis der genannten Unterrichtung, eine
von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Ich rufe die Zusatzpunkte 10 und 11 auf:
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über den Versatz von Abfällen unter Tage und zur Änderung von Vorschriften
zum Abfallverzeichnis
- Drucksachen 14/8197, 14/8321 Nr. 2.1, 14/8523 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann ({1})
Werner Wittlich
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu der Ver-
ordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Entsorgung von Altholz
- Drucksachen 14/8198, 14/8321 Nr. 2.2,
14/8522 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann
Frank Obermeier
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Ich eröffne die Aussprache und schließe sie gleich wie-
der; denn alle Reden sind zu Protokoll gegeben, und zwar
die der Kolleginnen Hustedt, Homburger, Bulling-
Schröter und Altmann sowie der Kollegen Brinkmann,
Wittlich und Obermeier.1)
Zusatzpunkt 10: Wir kommen zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung
der Bundesregierung über den Versatz von Abfällen
unter Tage und zur Änderung von Vorschriften zum Ab-
fallverzeichnis, Drucksache 14/8523. Der Ausschuss
empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8197 zu-
zustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS ange-
nommen.
Zusatzpunkt 11: Wir kommen zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
Bundesregierung über die Entsorgung von Altholz,
Drucksache 14/8522.
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache
14/8198 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung von FDP und PDS angenommen.
1) Anlage 2
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes
Singhammer, Horst Günther ({3}), Ulrich
Adam und weiterer Abgeordneter
Dokumentation der freigelegten russischen
Graffiti-Inschriften im Reichstagsgebäude in
historisch gerechtfertigtem Umfang
- Drucksache 14/6761 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Johannes Singhammer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kein anderes Gebäude in Deutschland trägt ein so hohes Maß an
Geschichtlichkeit wie der Sitz des Deutschen Bundestages, der Reichstag. Dieser Antrag will zu einer Balance,
zu einem inneren Gleichgewicht dieses Gebäudes mit seinen historischen Häutungen und der erfolgreich praktizierten demokratischen Bundesrepublik Deutschland beitragen.
Um jedes Missverständnis von vornherein auszuschließen: Es geht nicht darum, die Eroberung des Reichstags durch die Rote Armee und damit das tatsächliche,
aber auch symbolhafte Ende der nationalsozialistischen
Schreckensherrschaft zu verdrängen, zu verwischen oder
gar die Geschichte umzuschreiben. Niemand von den Unterzeichnern beabsichtigt Derartiges.
Der jetzige Zustand kann aber nicht überzeugen. Auf
mehr als 100 Metern Seitenlänge in mehreren Etagen des
Reichstags erscheinen Graffiti der sowjetischen Soldaten.
An keiner Stelle des Gebäudes werden die in kyrillischer
Schrift angebrachten Signaturen übersetzt.
({0})
An keiner Stelle erfolgt eine Erklärung des historischen
Zusammenhangs. Zu 90 Prozent enthalten die Graffiti Namen, in den wenigsten Fällen Inhalte. Eine erhebliche Anzahl der Originalgraffiti wurde beseitigt. Das Selektionskriterium war vermutlich ein obszöner oder verletzender
Inhalt. Jedenfalls ist bereits eine Auswahl getroffen
worden.
Unser Antrag hat zum Ziel, dass die Graffiti an einem
Ort konzentriert erhalten bleiben, dass sie übersetzt werden und dass den Besuchern der historische Hintergrund
des Reichstags erklärt wird. Wir wollen darüber hinaus
eine Debatte dazu anstoßen, wie sich die erfolgreichste
Demokratie Deutschlands, die Bundesrepublik und ihr
Parlament, in dieses Gebäude in einer lebendigen Weise
einbringen kann.
Die Eroberung des Reichstagsgebäudes und der Sieg
über den Nationalsozialismus waren zugleich Ausgangspunkt zunächst eines demokratischen Experiments, mittlerweile einer fest verankerten erfolgreichen Demokratie,
der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Umzug des
Deutschen Bundestags im Jahr 1999 von Bonn nach Berlin in den Reichstag begann keine neue Zeitrechnung; sie
begann schon wesentlich früher, nämlich spätestens 1949
mit der Gründung der Bundesrepublik. Seither haben Generationen von Parlamentariern eine erfolgreiche, fest gegründete demokratische Staatsform ausgebaut. Darauf
können wir stolz sein.
({1})
Aber kaum etwas im Gebäude des Reichstags erinnert
daran. Während die Parlamente unserer europäischen
Nachbarn oder auch die Parlamente in Übersee Repräsentanten und Grundlagen ihrer Demokratie eindrucksvoll
darstellen, findet Erinnerung im Sinne von Realpräsenz
als Vergegenwärtigung unserer demokratischen Geschichte in diesem Parlamentsgebäude kaum oder nur ungenügend statt. Nirgendwo erscheint der Text des Grundgesetzes, weder im Original noch dem Inhalt nach, als
Grundlage unserer parlamentarischen Verfasstheit.
({2})
Nirgendwo wird auf die tragende Struktur der Bundesrepublik, die Bundesländer, hingewiesen. Jeglicher Hinweis auf die Länder fehlt. 100 Meter Graffiti, aber kein
einziges Wappen eines Bundeslandes an den Wänden des
Reichstags, das führt zu einer ungewollten Verdrängung
der Bundesstaatlichkeit.
Nirgendwo wird auf die Präsidentinnen und Präsidenten dieses Hohen Hauses hingewiesen. Jede Erwähnung
der Persönlichkeiten, die den Parlamentarismus nach
1945 geprägt haben, fehlt, während in Bonn vor dem Umzug - viele werden sich daran noch erinnern -, die
Gemälde der Präsidenten, beispielsweise im Vizepräsidentenbereich des Plenarsaalbaus, zu sehen waren.
Damit entfernt sich der Bundestag von einer Tradition,
die andere angesehene Parlamente pflegen. Selbstverständlich hängen im Capitol in Washington, der Hauptstadt der Vereinigten Staaten, die Bilder der bisherigen
Speakers. Natürlich können beispielsweise in Österreich
die Porträts aller Präsidenten im Empfangssalon betrachtet werden. Ähnliches gilt für andere demokratische Länder. Die Kanzler der deutschen Nachkriegsdemokratie,
wie Konrad Adenauer oder Willy Brandt, sind im Reichstag nicht existent.
Das Reichstagsgebäude in seiner jetzigen Form ist das
Ergebnis des Wunders der deutschen Einheit. Warum
weist beispielsweise nichts auf diese glückliche Wendung
der deutschen Geschichte hin?
({3})
Warum wird der Einigungsvertrag bzw. der Zwei-plusVier-Vertrag an keiner Stelle gezeigt?
({4})
Präsident Wolfgang Thierse
Die Verengung der Geschichtlichkeit auf 100 Meter
nicht erklärte Graffitidarstellung verspielt eine Chance.
Wir alle wissen, dass sich Deutschland mit seiner Geschichte schwer tut und Gedenktage in unserem Land
vielfach als Freizeit verstanden werden. Viele beklagen
den Mangel an positiver Geschichtlichkeit. Nutzen wir
deshalb die Chance, unsere erfolgreiche Demokratie an
dem Ort darzustellen, wo sie sich täglich ereignet! Graffiti allein sind zu wenig für dieses Haus.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Singhammer, was Sie soeben gemacht haben, war sehr geschickt: Erst stellen Sie
einen Antrag, mit dem Sie dazu auffordern, etwas zu entfernen, und dann sprechen Sie über etwas, was Ihrer Meinung nach hinzugefügt werden soll.
({0})
Das ist vielleicht dialektisch. Ihr Antrag ist - das gilt auch
für seine Begründung - sehr kurz. Es ist wie früher bei den
Aufsätzen: Man sollte über den Elefanten schreiben und
hat sich nur auf das Schreiben über die Schlange vorbereitet.
Das Reichstagsgebäude ist kein Haus der Geschichte;
aber es ist ein Haus mit Geschichte.
({1})
Dies sichtbar gemacht zu haben ist jedenfalls für mich das
Großartige an der heutigen architektonischen Gestaltung.
({2})
Dort, wo es möglich war, wurde nicht geglättet, wurde
nicht verputzt, wurde nicht geweißt, sondern es wurden
Stolpersteine gelassen, Brüche in unserer Geschichte
symbolisiert. Das zeigt sich an den abgeschlagenen Ornamenten, die wir in den Gängen sehen, an geschliffenen
und ungeschliffenen Steinblöcken in den Wänden und
natürlich in den restaurierten Inschriften sowjetischer
Soldaten, von denen die Reichstagsruine voll war, und
zwar überall und nicht nur in diesem begrenzten Teil. Sie
erinnern an die schrecklichen Folgen der Naziherrschaft
und an das befreiende Ende dieser Diktatur und des Krieges. Daran ändert übrigens nichts, dass der Reichstag
- trotz Reichstagsbrand - fälschlicherweise als Symbol
für Nazideutschland in Anspruch genommen wurde.
Diese Graffiti sind authentische Zeitzeugnisse, die, im
ursprünglichen Sinne des Begriffes „Denkmal“, Denkmalcharakter besitzen. Es sind keine von der Obrigkeit
verordneten, sehr häufig ästhetisch verquasten Siegeroder Heldenmonumente, sondern sie sind - gestatten Sie
mir, dass ich das so sage - Ausdruck des Triumphs und des
Leids der kleinen Leute.
({3})
Da stehen nämlich Namen. Ihnen sind die Namen der einfachen Leute zu wenig. Sie brauchen Bilder von Präsidenten. Das macht den Unterschied aus.
Meine Damen und Herren, diese authentischen Zeitzeugnisse wollen Sie zumindest in großen Teilen weißen,
unsichtbar machen, Sie wollen die Wände sauber waschen.
({4})
Dies, meine Damen und Herren von CDU/CSU, wird und
kann man nicht als schlichten Reinigungsvorgang interpretieren, sondern als einen bedenklichen Umgang mit
den Schattenseiten unserer deutschen Geschichte.
({5})
Nun sagen Sie, Sie wollen die Graffiti nur noch, aber
eben doch, an einem Ort belassen - ich habe den Antrag
nämlich gelesen - und sie auf einen „gerechtfertigten Umfang“ reduzieren. Letzteres ist übrigens meines Erachtens
bereits geleistet. Ich glaube nicht, dass dies den Wünschen
aller entspricht.
({6})
Von einem, der schon früher gegen die Graffiti wetterte, diesen Antrag aber erstaunlicherweise nicht unterzeichnet hat - vielleicht, weil ihm der Antrag nicht weit
genug geht? -, von Herrn Zeitlmann, liegt ein Zitat vor,
von dem ich wohl vergebens hoffe, dass es falsch ist.
({7})
- Hören Sie ruhig einmal zu! - Den Erhalt der Graffiti bezeichnete er als „Kotau vor den Siegermächten“. Nun
überlasse ich Ihnen die Bewertung dieser Aussage angesichts der Schrecknisse zwischen 1933 und 1945.
({8})
Dieses Zitat sollte man vielleicht neben den Inschriften
anbringen, vielleicht in Sütterlin, damit Jugendliche es
nicht lesen können.
({9})
Zumindest macht diese Aussage deutlich, dass es viele
gibt - sicher nicht alle Unterzeichner dieses Antrages -,
denen es nicht um mehr oder weniger Inschriften geht,
sondern um die Inschriften selbst.
Nun hat es in der Tat vor Jahren die Überlegung gegeben, die Zahl der Graffiti zu reduzieren. Schon allein ein
Argument sollte uns überzeugen, diese Diskussion nicht
wieder aufzunehmen, nämlich die Antwort auf die Frage,
wie die Besucher des Reichstagsgebäudes auf die Graffiti und auch auf ihre Anzahl reagieren. Ich bin Berliner
und habe oft die Möglichkeit, auch in sitzungsfreien Wochen mit Besuchern durch dieses Haus gehen. Ich mache
oft von dieser Möglichkeit Gebrauch. Meine Damen und
Herren, ob Sie mir das nun glauben oder nicht: Ich habe
noch keinen Besucher gehabt, der die Graffiti, auch im
derzeitigen Umfang, infrage stellte.
({10})
Im Gegenteil, mein Hinweis, dass einige Kollegen diese
Graffiti verringern wollen, lässt immer nur den Zeigefinger an die Stirn schnellen. Ich habe mich auch beim Besucherdienst erkundigt. Der Besucherdienst kommt zu
demselben Ergebnis.
Ich mache auch immer deutlich, wer diese Graffiti reduzieren will. Ich sage, dass es lediglich Abgeordnete von
CDU und CSU mit einem etwas fremdgehenden Liberalen sind und dass die Sozialdemokraten, die den Initiatoren zunächst auf den Leim gegangen sind, sich schnell
wieder von diesem Antrag distanziert haben.
({11})
Dass man das deutlich macht, gehört dazu.
Meine Damen und Herren, noch ein letzter Hinweis. Es
ist Ihnen vielleicht nicht bewusst oder Sie wollen es nicht
wahrhaben: Diese Graffiti bieten spannende Diskussionsanstöße, vor allen Dingen bei Gesprächen mit Jugendlichen.
({12})
Wenn die Graffiti an einem anderen Ort zu finden wären,
wäre die Aufmerksamkeit noch viel stärker. Wissen Sie,
was die Besucher des Reichstagsgebäudes, die die Möglichkeit hatten, auf diese Etage zu kommen, sagen, wenn
Sie sie fragen, was eigentlich das Interessanteste an diesem Reichstag ist? Sie nennen zwei Sachen: die Kuppel
und die Graffiti.
({13})
- Dies darf man einmal sagen. - Das sind die Antworten,
die Sie hören.
Meine Damen und Herren, das Schöne und Beruhigende an diesem Antrag ist, dass er in diesem Haus niemals eine Mehrheit finden wird.
Ich bedanke mich.
({14})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag ist sicherlich
berechtigt. Es lohnt sich sicherlich, über diesen Antrag zu
diskutieren. Aber ich bin anderer Meinung. Ich bin deshalb anderer Meinung, weil wir uns in der Baukommission und im Kunstbeirat - in beiden bin ich Mitglied sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigt haben. Als wir
darüber in der Baukommission das erste Mal vom Architekten informiert und wir gefragt wurden, wie wir damit
umgehen wollen, habe ich nicht erlebt, dass jemand massiv dagegen gesprochen hat. Man hat das eine Argument
gegen das andere abgewogen und überlegt, in welchem
Umfang man die Graffiti belassen solle. Aber die Tatsache, dass ein Zeitzeugnis erhalten bleiben soll, war nie
umstritten.
({0})
Jetzt ist es eine Frage des politischen Instinkts und der
politischen Bewertung, wie man diese Debatte führt. Es
lohnt sich nicht, wie ich finde, hier eine Schärfe hineinzubringen. Wir können hier mit ebenso großer Gelassenheit diskutieren, wie wir über das Kunstwerk von Hans
Haacke und über andere Dinge diskutiert haben. Wir sollten alles vermeiden, was hier eine Schärfe hineinbringen
könnte. Viele Leute würden das nicht verstehen, auch ich
nicht.
({1})
Ich hielte das für kontraproduktiv. Die Ausführungen von
Herrn Singhammer waren mehr als dürftig. Er sagte, dass
er nicht zufrieden mit den Hinweisen auf Historie und unseren föderativen Staat, mit denen der Reichstag bisher
ausgestattet ist, ist. Darüber kann man diskutieren und
auch unterschiedlicher Meinung sein. Wenn er aber Inschriften, die nicht wir angebracht haben, die nicht auf unsere Initiative zurückgehen, sondern bezüglich derer wir
nur die Entscheidung getroffen haben, sie zu belassen, reduzieren und auf das dokumentarisch Notwendige zurückführen will, muss er sich schon fragen lassen, was der
tiefere Gehalt seiner Argumente ist.
({2})
Zwar kann man darüber streiten, was dokumentarisch
notwendig ist; die Diskussion darüber - darauf bin ich
stolz - haben wir aber in den Gremien des Bundestages,
in denen diese Fragen behandelt worden sind, in einer ruhigen und sachlichen Art geführt.
({3})
Ich bin stolz darauf, dass wir Größe gezeigt haben und
nicht eine kleinkarierte Diskussion darüber geführt haben,
ob jetzt hier ein Meter zu viel oder dort ein Meter zu wenig erhalten bleiben soll, sondern die Dinge einfach so
hingenommen haben. Natürlich haben wir die Denkmalpflege herangezogen und mit dem russischen Botschafter
darüber gesprochen, was seiner Meinung nach richtig und
notwendig ist.
({4})
Wir haben uns dabei auf einen Umfang geeinigt, der akzeptabel ist und auch akzeptiert worden ist.
Eckhardt Barthel ({5})
Auch ich, lieber Kollege von der SPD-Fraktion, habe
noch nie jemanden getroffen, der beim Rundgang mit mir
durch den Reichstag an den Graffitis Kritik geübt hätte.
Die Besucher waren hochinteressiert und gespannt auf
das, was man ihnen in diesem Zusammenhang erzählt hat.
Viele, vor allen Dingen die jungen Leute, auf die es uns
ganz besonders ankommt, können sich das alles gar nicht
mehr so richtig vorstellen.
({6})
Über Kunst kann man streiten. Hier wollen wir aber
keine Veränderung. Hier akzeptieren wir den Status quo
nicht nur, sondern treten offensiv für seine Bewahrung
ein, weil wir wissen, dass darin ein Selbstverständnis zum
Ausdruck kommt, das uns zu unserer eigenen Größe gereicht.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Heinrich,
ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gesagt haben, man
dürfe hier keine Schärfe hineinbringen. Ich war wirklich
drauf und dran, sehr ironisch und scharf zu reden. Ich will
jetzt einen Gang zurückschalten; Sie haben nämlich völlig Recht: Solch ein Antrag hat keine Aussicht auf Erfolg.
Ich habe mich natürlich gefragt, was die Antragsteller
umtreibt: Ist es nur Reinlichkeitswahn, wie ihn die Deutschen oft haben?
({0})
Sind Ihnen vielleicht die Wände zu beschmutzt? Ich bin
aber zu dem Schluss gekommen, dass es das allein nicht
sein kann. Dann habe ich mir gesagt: Vielleicht kommt es
ihnen doch auf den Inhalt an: dass nämlich Siegesinschriften von Sowjetsoldaten als Zeichen der Schmach
bzw. Schande vorhanden sind.
({1})
Jetzt spreche ich nach Herrn Heinrich - wie gesagt, ich
bin ganz milde - und sage: Man kann Geschichte ja Gott
sei Dank nicht umschreiben.
({2})
- Ich nehme alles zurück. - Politiker pflegen Geschichte
permanent zu ihren eigenen Gunsten umzuschreiben. Regime schreiben sie sowieso um.
({3})
Man kann zwar vorübergehend einiges versuchen, aber de
facto kann man vieles nicht fälschen.
Als Nächstes habe ich mich gefragt: Wollen die Antragsteller die Geschichte einhegen? Wollen sie sie musealisieren - das wurde ja sehr deutlich - und an einem Ort
verstecken, an dem man den sowjetischen Kilroys möglichst überhaupt nicht begegnet? Das war doch offensichtlich das Ziel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb sage ich Ihnen: Wir tagen hier im „Deutschen Bundestag im Reichstag“.
({4})
So lautet die komplizierte und offizielle Bezeichnung.
({5})
- Darin zeigt sich die Schwierigkeit deutscher Geschichte,
Frau Lengsfeld. Der Deutsche Bundestag hat diese Geschichte mit vollem Bewusstsein angenommen, als er seinen Sitz hier im Reichstag, so wie er zum damaligen
Zeitpunkt war, eingenommen hat.
({6})
Er möchte diese Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen - mit den Kilroys wie auch mit der schönen, transparenten Kuppel - annehmen.
Mit jeder russischen oder sonstigen Parlamentariergruppe - ich treffe viele aus dem Bereich der GUS-Staaten - gehe ich durch die Korridore. Die Menschen sind bewegt und dankbar dafür, dass wir diese Inschriften
erhalten haben. Sie finden in den Ortsangaben der Inschriften ihre Landsleute wieder.
Ich möchte Ihnen, obwohl ich kein Russisch sprechen
kann, sagen, was dort geschrieben steht - denn so viel Kyrillisch habe ich mir angeeignet -: „Moskau-Berlin“ oder
„Kaukasus-Sotschi-Warschau-Berlin-Elbe“. Die Ukrainer finden Kiew und Odessa. Selbst die vier Soldaten, die
aus dem fernen sibirischen Osten von der pazifischen
Küste her kamen, schrieben ihre Namen unter „Chabarowsk-Moskau-Berlin“. An einer Stelle gibt es auch eine
Inschrift in georgischer Sprache. Diese haben Sie vielleicht noch nicht entdeckt.
({7})
Ich weiß nicht, ob Sie diese dann besonders hegen wollen.
({8})
Alle Inschriften, die ich zitiere, stehen an ganz verschiedenen Stellen. Sie können gar nicht alle zusammenbringen. Es gibt auch eine amerikanische Inschrift in lateinischen Lettern, die da lautet: „E. Kenedy“. Dahinter
steht geschrieben: „13. May 1945“. Dies zeigt: Es gibt
doch einige Amerikaner, die sich mit den Russen verbrüdert und hier ebenfalls unterschrieben haben.
Deshalb möchte ich einen russischen Kollegen zitieren, der mir Folgendes gesagt hat: Wenn wir in Moskau
doch erst so weit wären, dass wir auch in der Duma die
Orte des Gulag an die Wand schreiben könnten! Deshalb sollten Sie begreifen, dass Sie auf diese Inschriften
stolz sein müssten. Vielleicht zeigt dies eine solche
Äußerung.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den meisten der
Besucher, von denen ich gesprochen habe, gehe ich auch
in die Lobby der Plenarebene, in den Raum mit den
Büchern zum Gedenken an unsere von den Nazis umgebrachten oder in das Exil vertriebenen Kollegen aus der
Weimarer Zeit. Die russischen oder ukrainischen Besucher blättern in den Büchern. Dort finden sie die Namen
unserer ehemaligen Kollegen aus der KPD, der USPD,
der SPD, dem Zentrum und - wenn Sie sie sich selbst angesehen haben, wissen Sie es - selbst aus dem ChristlichSozialen Volksdienst und der DNVP. Sie beeindruckt die
Breite des Widerstands gegen die Nazidiktatur. Sie verstehen, dass die ersten Opfer der Nazidiktatur die deutschen Politiker selbst und ihre Parteien waren.
Aber nur, wer sich auch der Soldaten erinnert, die aus
den Weiten Russlands hierher gekommen sind, um den
Faschismus zu besiegen, hat das Recht, an die eigenen
Opfer zu erinnern. Bewusst bleiben muss uns beides: die
schmachvollen und die ehrenhaften Seiten der deutsche
Geschichte.
({10})
Deshalb denken Sie noch einmal gründlich nach. Werfen Sie Ihren Antrag in den Papierkorb! Im Papierkorb
landet er, wie ich das Plenum und Herrn Heinrich verstanden habe, so oder so.
({11})
Ich erteile Kollegen
Heinrich Fink, PDS-Fraktion, das Wort.
Ich möchte eindeutig festhalten, sehr verehrter Herr Präsident, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen: Für die Neugestaltung des geschichtsträchtigen Reichstages steht der Name Sir
Norman Foster, für das Parlament in der Zeit des Umbaus
der Name Rita Süssmuth, der damaligen Präsidentin des
Deutschen Bundestages; ihr zur Seite stand die Baukommission.
({0})
Die Neugestaltung ist in einem demokratischen Prozess
vollzogen worden. Darunter fallen auch die Graffiti.
Bei den Umbauarbeiten des Reichstagsgebäudes für
den Deutschen Bundestag wurden kyrillische Inschriften
freigelegt, die 1945 nach der Eroberung des Gebäudes
von sowjetischen Soldaten angebracht wurden. Diese Beschriftungen wurden durch die Bundesbaugesellschaft
Berlin mbH dokumentiert und mithilfe der russischen
Botschaft übersetzt.
Von der damaligen Präsidentin des Deutschen Bundestages und dem Botschafter der Russischen Föderation
wurde im April 1996 gemeinsam eine Auswahl der Inschriften definiert, die restauriert und erhalten werden
sollten. Unabhängig hiervon hat der Denkmalpfleger des
Landes Berlin, Professor Engel, zusammen mit dem Büro
Sir Norman Foster in einem größeren Umfang erhaltenswerte Inschriften festgelegt. Grobes Kriterium hierbei
war, nur Flächen zu berücksichtigen, die zu mehr als
50 Prozent mit Inschriften versehen waren. Die Inschriften wurden mit hohem finanziellen Aufwand fachgerecht
restauriert. Sie müssen erhalten bleiben.
Bei jedem Rundgang mit Besuchergruppen bin jedenfalls ich beeindruckt, dass Architekt und Baukommission die Inschriften sowjetischer Soldaten in gemeinsamer Entscheidung erhalten haben, mit denen die Soldaten
in den ersten Stunden des Kriegsendes die Wände des zerstörten Reichstages spontan zu einer Kapitulationsurkunde gemacht haben. Eine Inschrift drückt das in zwei
Worten aus: Woina kaputt - der Krieg ist zu Ende. Kürzer
kann der Sieg über den deutschen Hitlerfaschismus nicht
definiert werden.
({1})
Jeder Name ist doch ein bleibendes Lebenszeichen für
Tausende Gefallene der Roten Armee, die noch wenige
Tage zuvor auf den Seelower Höhen in der letzten
Schlacht um Berlin ihr Leben lassen mussten. Laut Antrag
sollen aber nun diese Namen, weil sie nur nichts sagende
Wiederholungen ohne weitere Hinweise seien, auf einen
„historisch gerechtfertigten Umfang“ reduziert werden.
Gerade diese Reduzierung würde dem architektonischen
Konzept, das sich gerade auch der Geschichte des
Reichstages verpflichtet weiß, widersprechen.
({2})
Foster bekennt:
Die Graffiti von 1945 traten aus der deutschen Geschichte hervor, die die Soldaten der siegreichen
Sowjetarmee nach der Eroberung Berlins an die
Wände gekritzelt hatten. Diese Inschriften bewegten
mich sehr - jede einzelne davon ein lange der Vergessenheit anheim gefallener Hinweis auf leidvolle
persönliche Erfahrungen. ... Ich begann zu begreifen,
dass keine noch so gelungene Ausstellung die Spuren
der Vergangenheit eindrucksvoller bezeugen kann
als dieses Bauwerk.
Ich fände es sehr bedauerlich, wenn die Enkel der Befreier von Berlin zum Beispiel in Moskau, Kiew und
Nowgorod in der Zeitung lesen müssten, dass die Namen
der Helden von damals dem deutschen Volk heute historisch ungerechtfertigt zu viel Platz wegnehmen.
Ich hoffe, dass solche Artikel nie geschrieben werden
können. Deshalb bitte ich Sie, mit mir alles zu tun, diese
Antikriegsautogramme zu erhalten.
Herr Kollege Fink, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Meine Fraktion setzt sich
ausdrücklich dafür ein, dass die Schriftzüge denkmalgeschützt bleiben und damit die Befreiung vom Hitlerfaschismus dokumentiert wird.
({0})
Das Wort hat der Kollege Horst Kubatschka für die Fraktion der SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln
heute einen Gruppenantrag und keinen Fraktionsantrag;
diesen Hinweis halte ich für wichtig. Sonst müssten wir
uns nämlich über die außenpolitische Wirkung dieses Antrages unterhalten. In der Russischen Föderation hat man
für diesen Antrag wenig Verständnis.
({0})
Hören Sie auf den russischen Botschafter, dann wüssten
Sie es. - Da es aber ein Gruppenantrag ist, ist für mich der
außenpolitische Aspekt nicht so wichtig. Ich möchte den
Antrag aus geschichtlicher und denkmalpflegerischer
Sicht betrachten. Geschichte und Denkmalpflege sind Politik, mit Geschichte und Denkmalpflege wird Politik gemacht.
({1})
Norman Fosters faszinierende Bauidee bestand darin,
das noch vorhandene Vergangene sichtbar zu lassen und
das Neue klar erkennbar zu machen. Alte und neue Bausubstanz grenzen sich klar ab, sie stoßen aufeinander und
wenden sich zu etwas Neuem. Die Spuren der deutschen
Geschichte sind klar erkennbar. Dazu gehören auch die
Graffiti. Die Verringerung ihrer Zahl, die der Antrag fordert, würde der Bauidee zuwiderlaufen. Die Bauidee ist
sowohl außen wie im Inneren durchgehalten. Die Kuppel
halte ich für eine Glücksidee. Es freut mich immer wieder, dass sie zu einer touristischen Attraktion in Berlin
wurde. Die Menschen stehen Schlange, um in die Kuppel
zu gelangen.
({2})
Die Kuppel ist aber viel mehr als nur eine touristische Attraktion. Über den Besuch der Kuppel ergreifen die Bürgerinnen und Bürger Besitz von ihrem Parlament - ich betone: ihrem Parlament -: Es entsteht Identifizierung mit
der Demokratie. Die Menschen erleben den Ort, an dem
Demokratie umgesetzt wird. Diese Möglichkeit wird von
vielen Menschen wahrgenommen.
Bedauerlicherweise, aber notwendigerweise ist das Innere des Bundestages nicht so leicht zugänglich. Deswegen führe ich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger
durch diesen Teil des Hauses. Dies machen alle Abgeordneten dieses Hauses. Beim Rundgang stoßen wir natürlich auf die Graffiti. Ich erzähle, dass an 17 Stellen nahezu
200 Graffiti erhalten geblieben sind. Ich erzähle aber
auch, dass sehr wohl auch Graffiti entfernt wurden:
Deutschfeindliche Parolen sind - übrigens in Zusammenarbeit mit der russischen Botschaft - beseitigt worden. Ich
berichte weiter, dass es für die sowjetischen Soldaten in
Berlin fast eine Pflichtaufgabe war, sich in den Ruinen des
Reichstages zu verewigen. Sicher schwang bei dieser
Handlung auch die Freude mit, den Krieg überlebt zu haben. Es herrschte aber auch Trauer über die durch die
Deutschen zerstörte Heimat und über die gefallenen Kameraden. Sicher war aber auch Stolz dabei, zusammen mit
den Amerikanern, Briten und Franzosen sowie den anderen Alliierten Deutschland vom Faschismus befreit zu haben. All dies ist nachvollziehbar und hat sich in Form der
Graffiti erhalten. Damit sind diese ein Teil der deutschen
Geschichte an einem markanten Ort.
({3})
Die Graffiti waren durch den Wiederaufbau des Reichstages hinter Verkleidungen verschwunden. Sie waren aus
dem geschichtlichen Gedächtnis getilgt. Beim Umbau
wurden sie wieder entdeckt und erhalten.
Der Reichstag ist ein geschichtlicher Ort und ein Symbol für das wiedervereinigte Deutschland. Er ist aber auch
ein Symbol für den schmerzhaften Weg Deutschlands zur
Demokratie, für den langen Weg nach Westen. Wir müssen auch die bitteren Seiten der deutschen Geschichte aushalten. Geschichte ist nicht teilbar. Ich weiß, dass Geschichte interpretierbar ist. Jede Generation schreibt ihre
Geschichte - deswegen mein leichter Protest, Herr Kollege Lippelt, bei Ihren Ausführungen. Aus diesem Grunde
müssen sichtbare Zeichen bleiben. Die vorhandenen
Graffiti als Teil unserer Geschichte müssen erhalten bleiben. Dieses geschichtliche Gedächtnis darf nicht geschmälert werden. Wenn wir die Zahl der Graffiti reduzieren, wie es der Antrag will, engen wir auch unser
Gedächtnis ein. Die Graffiti sollen möglichst unsichtbar
gemacht werden, um so aus dem geschichtlichen Gedächtnis verdrängt zu werden.
({4})
Es wäre ein erneutes Vergessen wie nach dem Wiederaufbau des Reichstages. Diesen Akt des Vergessens dürfen
wir nicht zulassen. Eine Vielzahl von Graffiti sind Namen.
Sie müssen erhalten bleiben, denn sie repräsentieren Einzelschicksale, es ist Geschichte von unten.
({5})
Es sind diejenigen, die den Krieg erleiden mussten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch einmal auf die Besucher zurück, die wir alle durch den
Reichstag führen. Den meisten Besuchern müssen wir die
Graffiti erklären, denn die kyrillische Schrift kann kaum
jemand lesen. Dies trifft natürlich vor allem für Besucherinnen und Besucher aus den alten Bundesländern zu.
In diesem Zusammenhang weise ich auch immer auf
den Gruppenantrag der Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU hin.
({6})
- Ihr „Sehr gut!“ werden Sie jetzt vielleicht überdenken. Ich habe dieselben Erfahrungen wie zwei meiner Vorredner gemacht und muss Ihnen sagen: Ob alt, ob jung, ob
Frau, ob Mann, niemand hat für diesen Antrag Verständnis. Die Mehrheit dieses Hauses hat für diesen Antrag
auch kein Verständnis. Deswegen lehnen wir ihn ab.
({7})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Vera Lengsfeld für die
Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang stelle ich allen
Anwesenden die Frage, an welcher Stelle sich die SS-Runen befinden und ob Sie auch der Meinung sind, dass die
SS-Runen zur notwendigen Dokumentation gehören, weil
sie Teil unseres Selbstverständnisses sind?
({0})
- Wieso? Diese Runen existieren und man muss sich mit
ihnen auseinander setzen.
({1})
- Ach ja, auch das ist Geschichte? So, so.
({2})
Ein demokratischer Staat muss der eigenen Geschichte
gedenken und er muss das symbolisch an Orten der politischen Macht tun, vor allen Dingen in Parlamenten. Er
muss dies erst recht hier im Reichstagsgebäude tun, da
dieser Ort selbst ein Nationalsymbol ist. Aber es kommt
gerade in einem demokratischen Parlament darauf an,
welcher Geschichte man sich politisch erinnert; denn an
dieser Erinnerung zeigt sich, welche Auffassung man von
seinem Staat hat. Jedes Erinnern im politischen Raum ist
Geschichtspolitik. An unserem Erinnern werden wir erkannt. Aber nicht jede Spur der Geschichte ist gleichbedeutend und nicht jede Spur der Geschichte hat etwas
mit der demokratischen Tradition der Bundesrepublik
Deutschland und ihres Parlaments zu tun.
({3})
Der Kaiser mochte das Reichstagsgebäude nicht; er
nannte es Reichsaffenhaus und verbannte es aus der damaligen Mitte Berlins vor das Brandenburger Tor. Bis zuletzt widersetzte er sich der Inschrift auf dem Westportal,
„Dem Deutschen Volke“. Die Nazis mochten das Haus
noch weniger. Niemals war der Reichstag Symbol nationalsozialistischer Politik.
Die Inschriften sowjetischer Soldaten im Reichstagsgebäude erinnern an die Eroberung Berlins durch die Rote
Armee. Sie zu bewerten ist dem Gemeinschaftswerk der
Versöhnung, Verständigung und dem Vertrauen zwischen
Deutschen und Russen keineswegs abträglich, wie behauptet wird, im Gegenteil. Zwar hat die Rote Armee einen Teil Deutschlands unzweifelhaft vom Nationalsozialismus befreit, nicht aber vom Totalitarismus. Zu unserer
Geschichte gehört eben auch, dass der nationalsozialistischen Diktatur in einem Teil Deutschlands die real-sozialistische Diktatur folgte.
({4})
- Aber sicher hat die Rote Armee etwas mit der real-sozialistischen Diktatur der DDR zu tun; denn die DDR
hätte ohne die Rote Armee gar nicht existieren können.
Ich bitte Sie, Herr Kollege!
({5})
Die sowjetischen Soldaten haben im Mai 1945 kommunistische Siegesbekundungen, Verwünschungen oder
einfach nur Namenszüge hinterlassen; Letztere machen
95 Prozent aller über den Reichstag verteilten Reste
sowjetischer Geschichte aus. Nach meiner Auffassung
müssen sie in diesem Umfang nicht dokumentiert bleiben.
({6})
- Was dokumentieren sie denn? Es war alles andere als
eine Armee eines freiheitlich-demokratischen Landes, die
den Reichstag eroberte. Die Inschriften zeugen zum Teil
von der totalitären Geschichte der Sowjetunion.
({7})
- Natürlich, der kleine Soldat hat das an die Wände geschrieben. Wenn der kleine Soldat eine Huldigung Stalins
an die Wände geschrieben hat, dann kann er natürlich etwas dafür, meine Damen und Herren.
Das Andenken an die gefallenen sowjetischen Soldaten
soll nach unserem Antrag an einer dafür eigens eingerichteten Gedenkstelle im Reichstagsgebäude bewahrt werden. Wir sollten daneben aber nicht vergessen, dass der
zerbombte Reichstag während des Endkampfes um Berlin Notspital und Schutzkeller für schwangere Frauen war.
Wir sollten nicht vergessen, dass sich die Kämpfe um Berlin und die Eroberung des Osten Deutschlands unter ungeheuren Verbrechen vollzogen. Es ist im Sinne der Antragsteller deshalb zureichend, einen ausgewählten Platz
nebst Gedenktafel und Übersetzungen diesen Tatsachen
zur Verfügung zu stellen.
Dieses Gebäude repräsentiert unsere Demokratie. Das
Parlament hat vor allen Dingen der demokratischen Tradition in Deutschland zu gedenken. Wir müssen symbolisch an unsere freiheitlichen Traditionen erinnern:
({8})
an die Ausrufung der Republik durch Scheidemann, die
Gott sei Dank wirkungsvoller war als die Ausrufung der
sozialistischen Republik, oder an den Widerstand gegen
die sowjetische Blockade. Als die Sowjets 1948 gegen
den ganzen westlichen Teil der Stadt die Blockade errichteten, versammelten sich 350 000 Deutsche vor dem
Reichstag. Ernst Reuter machte ihnen Mut und appellierte
an alle Völker der Welt, den Blick auf das freie Berlin zu
richten. Wir müssen nicht zuletzt - das sage ich auch mit
großem Ernst - an das legendäre Konzert an Pfingsten
1986 vor dem Reichstag erinnern, das Unter den Linden
zu den ersten Rufen „Die Mauer muss weg“ führte. Das
sind die demokratischen Traditionen der Bundesrepublik
Deutschland, die wir in den Mittelpunkt stellen sollten.
({9})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6761 an den Ausschuss für Kultur und
Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter,
Wolfgang Bierstedt, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurAufhebung des Magnetschwebebahnplanungsgesetzes
- Drucksache 14/8300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried
Wolf, Eva Bulling-Schröter, Wolfgang Bierstedt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Keine Entscheidung über den Bau einer Magnetschwebebahn-Strecke in der Bundesrepublik Deutschland ohne Einstellung der entsprechenden Bundesmittel in den Bundeshaushalt
- Drucksache 14/8296 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten Redezeit erhalten soll. Ich höre auch hier keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die PDSFraktion ist der Kollege Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Es gab in
den Jahren 1998 und 1999 zwei verkehrspolitische Duftmarken der neuen Regierung, und zwar zum einen den
Baustopp für die Strecke Nürnberg-Erfurt und zum anderen das Aus für die Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin.
Als der Baustopp für die Strecke Nürnberg-Erfurt diskutiert wurde, haben wir darauf hingewiesen, dass, wenn
man nur einen Baustopp verhängen und stattdessen keine
alternativen Maßnahmen realisieren würde, im Osten zu
Recht gesagt werde, dass das einseitig eine Maßnahme
gegen den Osten sei, und dass Druck ausgeübt werde, den
Baustopp wieder aufzuheben. Genau das ist passiert; Bundeskanzler Schröder hat das vor einigen Tagen gesagt.
Es bleibt der Transrapid. Ich glaube, dass an diesem
Beispiel das Desaster der Verkehrspolitik von SPD und
Grünen noch deutlicher wird. In den ersten acht Jahren
nach der Wende haben wir uns bei der Fahrzeit auf der
Strecke Hamburg-Berlin langsam an die Fahrzeit von
1934 herangetastet. Wir haben dann erlebt, dass die Fahrzeit vier Jahre lang gleich geblieben ist, und zwar bei zwei
Stunden und acht Minuten. Es wurde vier Jahre lang, also
während einer ganzen Legislaturperiode, keine Verbesserung auf dieser Strecke erzielt.
Die Technik des Transrapid wird als brillant angesehen. Im September 2000 wurde ein Knebelvertrag zwischen dem damaligen Verkehrsminister Klimmt und dem
Transrapid-Konsortium geschlossen, wonach bis zum
30. Juni dieses Jahres eine Willenserklärung zum Bau einer oder mehrerer Transrapid-Strecken in Deutschland
vorliegen müsse und dass anderenfalls pro Jahr 35 Millionen DM für die Optimierung dieser Technik bezahlt werden müssten.
Pünktlich haben wir jetzt eine Machbarkeitsstudie für
zwei Projekte vorliegen, einmal für die Strecke zwischen
München und München-Flughafen und zweitens für die
Strecke zwischen Dortmund und Düsseldorf. Die Situation in München möchte ich nur kurz streifen. SPD und
Grüne vor Ort in München sagen Nein zu dem Projekt,
aber Stoiber sagt Ja. Damit ist die absurde Situation eingetreten, dass eine Art Stoiber/Schröder-Schnellbahn gebaut werden kann, aber das gegen den Willen der Stadtregierung in München.
Im Ruhrgebiet - dort liegt die Strecke Dortmund-Düsseldorf, die am relevantesten sein dürfte und die wahrscheinlich versucht werden wird zu bauen - ist die Situation noch burlesker und noch grotesker. Hierzu möchte
ich drei Aspekte nennen.
Erstens. Bisher ist in allen Parteien, in denen es Transrapid-Befürworter gab, immer gesagt worden, dass die
Transrapid-Technik eine Technik für Höchstgeschwindigkeit im erdgebundenen Verkehr sei. Bei der Strecke Dortmund-Düsseldorf soll jetzt eine bereits existierende und
funktionierende Hauptverkehrsader genommen und parallel dazu eine Transrapid-Strecke gebaut werden. Die
Höchstgeschwindigkeitsbahn wäre dann praktisch eine
Turbostraßenbahn. Dies wäre eine völlige Veränderung
und Entwertung der eigentlichen Technik.
Zweitens. Wir erleben bei dieser Strecke - ähnlich wie
damals bei der Strecke Hamburg-Berlin - eine unheimliche Schönrechnerei in Bezug auf Fahrzeit, Bauzeit,
Kosten und die Fahrgastzahl. Wenn man dies als Milchmädchenrechnung bezeichnen würde, wäre dies eine Beleidigung aller Milchmädchen.
({0})
Um nur einen Aspekt zu nennen: Die Rechnung in der
Machbarkeitsstudie sieht so aus: Die Fahrt mit diesem
Zug zwischen Dortmund und Düsseldorf ist ein Premiumangebot. Gleichzeitig müssen, um zu dem gewünschten
Ergebnis zu kommen, die Pendler in den Hauptverkehrszeiten zu 30 Prozent stehen; und dies im Premiumangebot, welches mehr kostet als die normale Bahn. An diesem
Beispiel wird klar, wie hier schöngerechnet wird. Ich
glaube, dass der Kollege Königshofen nachher auch darauf eingehen wird, wie mit dieser Schönrechnerei der
Bock zum Gärtner gemacht wird.
Ein weiteres Beispiel für Schönrechnerei ist, dass den
Instituten, die die Machbarkeitsstudie gemacht haben, gesagt wurde, sie bekämen weiteres Geld beim Bau der
Strecke, wenn sie die Strecke machbar rechnen würden.
Drittens. Ich glaube, dass das Argument dafür, warum
man eine Turbostraßenbahn baut, Sinn macht. Es macht
Sinn, weil die Transrapid-Technik auf der Strecke bis zum
Jahre 2001 mit 2,5 Milliarden DM subventioniert wurde.
Zudem sollen die Baukosten zu 70 oder 80 Prozent subventioniert werden. Darüber hinaus wird aber jetzt gesagt:
Wenn wir dies zu einer Nahverkehrstrecke machen, können wir Regionalisierungsgelder nehmen. Wenn alle
Fahrten zu 60 Prozent vom Bund subventioniert werden
und auch noch Regionalisierungsgelder hineinfließen,
macht die Strecke Sinn. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Strecke absolut unsinnig ist, weil hier eine
Hochgeschwindigkeitstechnik im regionalen Nahverkehr
eingesetzt werden soll.
Wir erleben, wie sich jetzt überall vor Ort Widerstand
erhebt. Ich glaube nicht, dass sich die Situation so wie in
München entwickeln wird, wo das Projekt einfach eine
tote Angelegenheit bleiben wird. Vielmehr wird bereits
jetzt in Düsseldorf und Essen Nein zu dieser Strecke gesagt. In Duisburg und Mülheim haben SPD und Grüne mit
nur einer Stimme Mehrheit die Strecke momentan noch
verteidigt. Wahrscheinlich werden aber auch diese Städte
entlang der geplanten Strecke kippen.
Die PDS hat einen Gesetzentwurf und einen Antrag
vorgelegt. Zu unserem Antrag möchte ich sagen: Alle Parteien sollten sich - das wäre das Mindeste - darauf einigen, dass nicht noch einmal das Modell Scharping angewandt wird, damit nicht noch einmal nach Karlsruhe
gegangen werden muss, weil Bundesmittel für ein - in
meinen Augen, nicht in Ihren - unsinniges Projekt versprochen werden, wofür nirgendwo im Haushalt Bundesmittel eingestellt sind. Diese Versprechen dürfen nicht gemacht werden. Die bisher von den Regierungsparteien
gemachten diesbezüglichen Versprechen sollten zurückgenommen werden.
Danke schön.
({1})
Nächster Redner ist
der Kollege Reinhard Weis für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach meinen Zählungen ist es in dieser Legislaturperiode ungefähr die achte
Debatte zum Transrapid. Angesichts der leeren Ränge ist
die Frage, warum wir heute Abend darüber miteinander
debattieren, tatsächlich berechtigt. Wir haben dieses
Thema auch im Fachausschuss schon ausgiebig besprochen. Aber wenn es gewünscht wird, stelle ich die Geschichte des Transrapid noch einmal dar.
({0})
Wir haben uns nach langem Überlegen aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen entschlossen, den Transrapid
zwischen Hamburg und Berlin nicht zu bauen und damit
endlich eine Hängepartie zu beenden. Wir haben aber hier
im Deutschen Bundestag überlegt, wie wir das Knowhow der Schwebebahntechnik für Deutschland erhalten
und sichern können. Zu diesem Sicherungskonzept gehört
unsere Entscheidung - die auf industriepolitischen Erwägungen beruht - die Anwendung in Schanghai zu unterstützen.
Bei einer Rückschau auf die Beiträge der PDS in den
vergangenen Debatten und auch bei Betrachtung der heutigen Vorlagen der PDS drängt sich mir nur ein Eindruck
auf: dass die PDS offensichtlich ein neurotisches Verhältnis zur Magnetschwebebahntechnik hat.
({1})
Mir als Ingenieur ist ein solch grundsätzlich ablehnendes Verhältnis zu einer an sich ganz attraktiven Verkehrstechnik rätselhaft. Man mag zu den Projekten Metrorapid
im Ruhrgebiet oder Flughafenanbindung an München stehen, wie man will. Tatsache ist aber doch, dass mit der
Magnetschwebebahntechnik eine Verkehrstechnik zur
Verfügung steht, die die Möglichkeit bietet, schneller und
bei Geschwindigkeiten bis zu 250 km/h sogar leiser als
mit herkömmlichen öffentlichen Verkehrsmitteln ein Ziel
zu erreichen.
Wir können auch davon ausgehen, dass die Umweltbelastungen zumindest nicht höher sein werden als bei herkömmlicher Schienentechnik. Nur ein Narr könnte erwarten, dass ein neues Verkehrsmittel, das in Ballungsräumen
Mobilität für viele Tausende von Menschen sichern soll,
mit keinerlei Eingriffen in Natur, Landschaft oder Städtebau verbunden sein würde. Wer das annimmt, könnte Verkehrsplanungen schlechthin beenden. Irgendwie scheint
mir die PDS diesen Punkt erreicht zu haben.
({2})
In ihrem Antrag nimmt die PDS Bezug auf die beiden
Magnetschwebebahnprojekte in Nordrhein-Westfalen
und Bayern. Es wurde schon kurz dargestellt, wie es zu
diesen Projekten kam, wie das Auswahlverfahren aussah
und wie sich schließlich herauskristallisierte, dass die beiden Projekte in Nordrhein-Westfalen und Bayern die aussichtsreichsten aus der Liste der von den Bundesländern
vorgelegten Projekte sind. Die Machbarkeitsstudien wurden im Februar übergeben. Dann fiel auch die Entscheidung, die ausgewählten Projekte entsprechend den bereits
genannten industriepolitischen Erwägungen und den Zusagen zu bezuschussen. Meine Fraktion steht zu diesen
Zusagen. Innerhalb des Rahmens, den wir bezüglich der
beiden Schwebebahnprojekte in Nordrhein-Westfalen
und Bayern mit den Zuschüssen setzen wollten, herrscht
nunmehr Klarheit und Planungssicherheit.
Ich möchte hier mit zwei Irrtümern aufräumen. Als
Erstes gibt es eine Reihe von Kritikern, die jetzt lamentieren, dass der Bund bei den Projekten in NordrheinWestfalen und Bayern zu hohe Risiken übernehmen
würde. Richtig ist, dass es sich weder beim Metrorapid
noch bei der Flughafenanbindung an München um ein
Bundesprojekt handelt. Bei beiden Strecken handelt es
sich stattdessen um regionale Verkehrsprojekte. Die
Verantwortung für die Realisierung liegt in vollem Umfang bei den beiden Bundesländern.
({3})
- Aus industriepolitischen Gründen wollen wir diese Projekte bezuschussen. Wie gesagt, das tun wir mit dem Rest
der Summe, die für die Strecke Hamburg-Berlin zur Verfügung stand. Dabei handelt es sich um einen gedeckelten
Betrag, den wir später nicht erhöhen werden. Diese Bezuschussung stellt auch keine Projektbeteiligung dar.
({4})
Der Bund wird keine weiteren Risiken übernehmen, weder für den Bau noch für den Betrieb.
({5})
Zweitens. Es ist auch ein Irrtum, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgendeine Notwendigkeit bestünde, für
eine haushaltsrechtliche Absicherung der beiden regionalen Projekte im Bundeshaushalt zu sorgen. Richtig ist
dagegen, dass die Länder am Zuge sind. Es ist deren Aufgabe, ein schlüssiges Finanzierungskonzept vorzulegen
und den Eigenanteil der beiden Länder verbindlich darzustellen. Wir wissen, dass beide Länder konkrete Vorstellungen haben und sich zu diesen auch äußern werden. Es
erscheint mir wichtig, dass an dieser Stelle auch auf die
unterschiedliche Verantwortlichkeit zwischen den föderalen Ebenen hingewiesen wird.
Die PDS unterstellt uns mit ihrem Antrag, wir würden
mit dem Haushaltsrecht nicht sorgfältig umgehen. Ich
weise das mit Entschiedenheit zurück.
({6})
Ebenso weise ich die Unterstellung in dem Gesetzentwurf
der PDS zurück, beim Magnetschwebebahnplanungsgesetz handele es sich um ein Bürgerknebelungsgesetz.
({7})
Die Begründung der PDS zu ihrem Gesetzentwurf ist
einfach haarsträubend, so als hätten wir hier chinesische
Verhältnisse. Dann wird auch noch das „Handelsblatt“ als
Kronzeuge für die Notwendigkeit des PDS-Vorstoßes
herangezogen. Das alles ist schon ziemlich abenteuerlich
und wohl nur mit dem bereits eingangs erwähnten neurotischen Verhältnis der PDS zur Magnetschwebetechnik zu
erklären.
Meine letzte Anmerkung: Jedes große industriepolitische Projekt ist natürlich nicht frei von Risiken. Wenn es
nun zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen gelingt, diese
völlig neue Verkehrstechnologie mit ihrem hohen Entwicklungspotenzial darzustellen, dann hat das nicht nur
für Nordrhein-Westfalen, sondern auch für den Industriestandort Deutschland eine Bedeutung. Das ist genau
der Hintergrund dafür, warum wir als SPD-Bundestagsfraktion an unserer Zusage zur Gewährung eines Zuschusses für diese Projekte festhalten.
Danke.
({8})
Vielen Dank, Herr
Kollege Weis, dass Sie Ihre Redezeit nicht ausgeschöpft
haben.
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der
Kollege Dirk Fischer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Gesetzentwurf zur Aufhebung des Magnetschwebebahnplanungsgesetzes soll wohl heute das vollenden, was die
Bundesregierung mit ihrer Zerstörung des Schienenprojektes Hamburg-Berlin begonnen hat. Eine hochmoderne
und umweltfreundliche Technologie soll in Deutschland
lebendig begraben werden.
({0})
Der Antrag lässt sich nur mit einer Fundamentalopposition gegenüber der Magnetschwebebahntechnologie erklären. Deswegen ist eine inhaltliche Auseinandersetzung
wahrscheinlich nicht mehr möglich. Technologische MoReinhard Weis ({1})
dernisierungsimpulse sowie Impulse für den Arbeitsmarkt
würden im Keim erstickt werden. Die technologische Poleposition bei dem spurgeführten Hochgeschwindigkeitsverkehr in Europa würde verschenkt werden. Dass
die Magnetschwebebahntechnologie europäische Distanzen in den spurgeführten Verkehrssystemen schrumpfen
lassen würde, wird einfach ignoriert.
Befänden wir uns nicht im Wahljahr, wäre die Zahl derer, die den Transrapid lieber tot als lebendig sähen, deutlich höher. Die Grünen könnten sich aus ideologischer
Verblendung weiterhin grundsätzlich gegen jede Art von
Highspeed positionieren. Auch die SPD müsste nicht aus
wahltaktischem Kalkül den Metrorapid in NRW und die
Flughafenanbindung München - ohne jeden Kabinettsentscheid und ohne jede Bundestagsbefassung mit qualifizierten Unterlagen - durchpeitschen.
Wir hätten hierzu noch Fragen zu stellen. Während für
292 Kilometer zwischen Hamburg und Berlin auf völlig
neuer Trasse ein Betrag von 6,1 Milliarden DM und kein
Pfennig mehr als nicht mehr finanzierbar galt, sind jetzt
für 79 Kilometer zwischen Düsseldorf und Dortmund auf
vorhandener Bahntrasse 2,6 Milliarden Euro für die Infrastruktur nicht zu viel. Während es bei der Strecke Hamburg-Berlin unabdingbar war, keinen Parallelverkehr zu
akzeptieren, ist bei der Strecke Dortmund-Düsseldorf
mittlerweile jede Menge Parallelverkehr unschädlich. Auf
großen Werbetafeln in NRW wird verkündet: Für die Fußball-WM 2006 muss alles fertig sein. Uns will man erklären, dass für ein Ereignis von zwei oder drei Wochen, in
denen vielleicht zwei Spiele in Dortmund und, wenn es
hoch kommt, noch zwei in Düsseldorf stattfinden, ein solches Investment argumentativ begründbar ist.
({2})
Hierzu erklärt die Industrie, dass dies bis 2006 niemals
fertig werden kann, weil Planungsgrundlagen fehlen. Bei
der Strecke Hamburg-Berlin war ein halbes Jahr Probebetrieb eingeplant, um nur jedes Verkehrs- oder Sicherheitsrisiko auszuschalten. Ich sage der Industrie: Clement
und Schwanhold werden euch den schwarzen Peter schon
früh genug zuschieben; da könnt ihr ganz sicher sein.
Es gibt also Fragen über Fragen, die noch zu stellen
wären. Der Löwenanteil der von Bodewig versprochenen
Bundesmittel hat eine Höhe von 2,3 Milliarden Euro. Der
Steuerzahler gibt durch unsere Entscheidung fast 5 Milliarden DM aus.
({3})
Herr Kollege Weis, bei aller persönlichen Wertschätzung
für Sie: Es ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus, dass
Sie hier erklären, das sei kein Bundesprojekt.
({4})
Der Steuerzahler hat einen höheren Anspruch an die Ausübung der Verantwortung des Deutschen Bundestages im
Umgang mit seinen schwer verdienten Steuermitteln. Das
kann ich wohl behaupten.
({5})
1,75 Milliarden Euro fließen - das ist für uns natürlich
nicht nachvollziehbar; es gibt überhaupt keine Unterlagen, warum das so ist - nach Nordrhein-Westfalen, wo
sich SPD-Ministerpräsident Clement dank dieser Wahlkampfhilfe als erfolgreicher Hightechförderer feiern lassen kann. Der Verdacht, dass Parteipolitik der sachlichen
Bewertung vorgezogen wurde, liegt nahe. Außerdem ist
Bodewigs Ankündigung eine unverbindliche Absichtserklärung und keine verlässliche Finanzierungsgrundlage. Eine Finanzierungszusage kann in dieser Legislaturperiode in haushaltsrechtlich unbedenklicher Weise
nur durch einen Nachtragshaushalt erfolgen; denn im
Bundeshaushalt 2002 sind weder Barmittel noch Verpflichtungsermächtigungen eingestellt.
Bei der Vorstellung der Machbarkeitsstudien ist
schlicht und ergreifend die Unwahrheit gesagt worden.
({6})
In der „Frankfurter Rundschau“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist diese Unwahrheit an die lesende
Bevölkerung weitergegeben worden, weil Sie nicht selber
geprüft haben. Es verstößt gegen die elementaren Mitwirkungsrechte des Parlamentes, wenn eine unverbindliche
Zusage von Bundesmitteln von der nordrhein-westfälischen Landesregierung als ausreichende Planungsgrundlage bezeichnet wird, um im weiteren Verfahren die
Maßnahme zu planen und auszuführen. Schon die Bestellung der Militärflugzeuge A400M führte zur Abgabe einer uneingeschränkten Unterwerfungserklärung vor dem
Bundesverfassungsgericht. Wie oft soll dieser Vorgang
noch passieren?
({7})
Die permanente Verletzung des parlamentarischen
Haushaltsrechtes hätten wir uns einmal in unserer Regierungszeit erlauben sollen. CDU/CSU und FDP haben das
Budgetrecht des Deutschen Bundestages immer ernst genommen. Der Fachausschuss für Verkehr hat einen Anspruch auf Beteiligung und Information. Sie haben durchgesetzt, dass wir bei Transrapidprojekten drei große
Hearings durchgeführt haben. Die Vorgängerregierung
hat beratungsfähige Unterlagen paketweise geliefert. Es
hat Parlamentsbeschlüsse gegeben. SPD und die Grünen,
die sich gelegentlich als Erfinder der Demokratie darstellen, sollten sich - ich sage es in aller Härte und Deutlichkeit - dafür schämen, wie hier das Parlament abgefertigt
wird.
({8})
Es passt ins Bild, dass Herr Bodewig über das Land
zieht, Presseerklärungen abgibt und Konferenzen durchführt sowie Geld verteilt, aber nicht hier sitzt, wo es darum geht, uns zu erläutern, warum er was zugesagt hat.
({9})
Wir verlangen eine Kabinettsentscheidung. Diese Unterlage muss dann dem Deutschen Bundestag zur Entscheidung vorgelegt werden, die Fachausschüsse müssen
Dirk Fischer ({10})
damit befasst werden. Ihnen gegenüber muss der Nachweis des verkehrlichen Nutzens und der Wirtschaftlichkeit
erbracht werden. Es muss klargestellt werden, zulasten
welcher Bereiche der Bundesanteil von 2,3 Milliarden
Euro im Verkehrsetat gewonnen werden soll.
Sie müssen nun bitte
zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende.
Es muss deutlich gemacht werden, was Sie mit „andere
Bundesmittel“ für Transrapidstrecken meinen und woher
Sie diese nehmen wollen. Ich kann nur eines sagen: Dieses Material muss dem Parlament umgehend geliefert
werden. Wir können uns mit dem bisherigen Verfahren
nicht abspeisen lassen. Wenn Sie das nicht tun, werden
wir Grund haben, nach dem 22. September beim Transrapid eine seriösere Politik zu machen, als es von dieser Regierung mit Spiegelfechtereien geschieht.
({0}).
Jetzt spricht die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie gesagt, wir reden zum wiederholten Mal
über das Lieblingsspielzeug einiger Herren. Ich glaube, es
geht nicht nur darum, dass einige ein neurotisches Verhältnis zum Transrapid haben. Andere haben offenbar ein
so erotisches Verhältnis, dass sie das immer wieder hier
ausleben müssen. Ich weiß auch nicht, warum das sein
muss, egal, ob es von der linken oder von der rechten Seite
kommt.
({0})
Ich will mich auf den Punkt konzentrieren, der sowohl
von Herrn Kollegen Fischer angesprochen wurde als auch
im Antrag der PDS vorkommt, nämlich die Behauptung,
es werde das Haushaltsrecht verletzt. Das ist nicht der
Fall.
({1})
- Nein, Sie kennen offenbar das Haushaltsrecht nicht,
Herr Kollege Fischer. Von daher sollten Sie an dieser
Stelle etwas üben.Wir haben sehr wohl genau darauf geachtet.
(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das sagen
die Richtigen! Das ist nur noch peinlich! - Dirk
Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Fragen Sie
mal die Kollegin Altmann, was sie früher verlangt hat!
- Ich würde es Ihnen gerne sagen.
Es gibt keinerlei haushaltsrechtlich verbindliche Zusagen über den Einsatz von Bundesmitteln für den Bau der
Magnetschwebebahn. Das Haushaltsrecht des Deutschen
Bundestages ist und bleibt an dieser Stelle korrekt gewahrt.
Darauf hat sowohl der Minister als auch wir als Haushälter
sehr genau geachtet. Von daher sollten Sie Ihren Adrenalinspiegel ein Stück weit heruntergehen lassen.
Das Zweite ist, - der Kollege Weis hat darauf hingewiesen -, dass die Projekte, um die es jetzt geht, Ländersache sind.
({2})
- Sie sollten sich mit dem Vorgang wirklich einmal beschäftigen und nicht immer nur Reden halten über Dinge,
über die Sie sich offenbar nicht ausreichend informiert haben.
Der Bund hat sich bei der Beendigung des Projektes
Hamburg-Berlin - das auf Initiative der Deutschen Bahn
AG nicht verwirklicht wurde, weil ihr die Finanzierung zu
aufwendig war - verpflichtet, dass er, wenn in Deutschland neue Strecken gebaut werden, bereit ist, die restlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.
({3})
Jetzt sind die Machbarkeitsstudien von NordrheinWestfalen und München vorgelegt worden. Auf dieser
Grundlage hat sich der Bund bereit erklärt,
({4})
- als Absichtserklärung; es wäre gut, wenn Sie zuhören
würden -, dafür die verfügbare oder kalkulatorische Restsumme bis zu 2,3 Milliarden Euro bereitzustellen. Aber
die Projekte sind und bleiben in voller Finanzverantwortung der beiden Länder.
({5})
- Es gibt noch keine gesetzliche Basis für diese Finanzierung.
({6})
Es wäre gut, wenn Sie das endlich kapieren würden. Vielleicht sollten Sie sich den Vertrag einmal durchlesen. Ich
habe Ihnen eben schon erklärt, dass ein Vertrag gemacht
worden ist. Wenn Sie Fragen haben, dann melden Sie sich
zu einer Frage, statt mir die Redezeit zu nehmen.
({7})
Dirk Fischer ({8})
- Offenbar können Sie solche Verträge nicht lesen, sonst
wüssten Sie es besser.
Kurzum, die Projekte liegen hinsichtlich der Finanzierung und Wirtschaftlichkeit in der Verantwortung der
Länder
({9})
und müssen von ihnen hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit, ihrer konkreten Machbarkeit, des Planfeststellungsverfahrens und des gesamten Verfahrens erst einmal auf
den Weg gebracht werden. Erst auf dieser Grundlage wird
im Haushalt - das wird selbstverständlich erst in der
nächsten Legislaturperiode der Fall sein - darüber befunden,
({10})
inwieweit die Mittel für diese Projekte ausbezahlt werden
können.
Ich beende jetzt meine Rede, weil die Kollegen offenbar nicht das Interesse haben, sich so weit darüber zu informieren, dass sie wissen, was Sache ist.
({11})
Es tut mir wirklich Leid. Ich hatte von den Mitgliedern
des Verkehrsausschusses erwartet, dass sie sich die Mühe
machen, sich die Verträge anzusehen,
({12})
und zur Kenntnis nehmen, was Herr Bodewig als Absichtserklärung abgegeben hat, wobei er aber das Limit
sehr deutlich angesprochen hat.
({13})
- Meine Güte! Es tut mir Leid, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({14})
Da der Kollege Fischer in Sachen Transrapid offenbar
doch sehr dumm ist und nicht einmal zuhören kann, tut es
mir Leid.
({15})
Lassen wir das für heute einfach so stehen!
({16})
Ring frei für den Kollegen Horst Friedrich von der FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
nicht unbedingt ringen, aber es war schon ein Lehrstück
der Parlamentsgeschichte. Ausgerechnet Sie, Frau
Eichstädt-Bohlig, wagen es, dem Deutschen Bundestag
eine Lehrstunde im Haushaltsrecht zu geben. Das ist doch
der Höhepunkt der Frechheit.
Was Sie persönlich mit dem A400M und der Haushaltssituation jeden Tag aufs Neue abliefern, müsste Sie
eigentlich dazu bringen, sich zu dem Thema Haushaltsrecht und der Beachtung des Parlaments etwas devoter zu
verhalten.
({0})
Das ist schon ein starkes Stück.
Zu den Anträgen der PDS-Fraktion: Dass Sie, Herr
Kollege Wolf, diese Anträge stellen, überrascht mich
nicht. Auch das Ergebnis überrascht mich nicht; denn es
ist wenigstens konsequent. Was hat sich gegenüber der
Diskussion über die Strecke Hamburg-Berlin bei den beiden in den Blick genommenen Strecken - der MetrorapidStrecke und der Strecke München Hauptbahnhof bis zum
Münchner Flughafen - geändert? Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die uns damals vorgeworfen haben,
alle unsere Gutachten mit verkehrswirtschaftlicher
Grundlage seien Schall und Rauch, Hausnummern, unseriös und Ähnliches mehr, machen nun das Gleiche.
({1})
Für die Strecke Hamburg-Berlin wurde alles infrage gestellt. Nun hören wir zu unserer großen Überraschung:
Das ist kein Bundesprojekt. Aber auf welcher Berechnungsgrundlage sind im Haushalt noch 5 Milliarden DM
aufgeführt? Wie werden die denn ausgegeben?
Wenn ich es bisher richtig begriffen habe, ist der Bund
im Verkehrswegebau nur für die Sachen zuständig, die
auch Bundesangelegenheiten sind. Im Gegensatz zu uns,
die wir bei der Strecke Hamburg-Berlin die 6,1 Milliarden DM tatsächlich in den Haushalt eingestellt hatten
- auch aufgeteilt in der Finanzierung -, ergibt sich bei Ihnen bestenfalls aus einer Fußnote im Haushalt, dass man
gegebenenfalls beabsichtige, die restlichen Mittel, die
noch nicht bei der Strecke Hamburg-Berlin - der Schienenstrecke - für die Vorfinanzierung der Verwirklichung
des Eisenbahnkreuzungsgesetzes ausgegeben worden
sind, irgendwann für den Bau des Transrapids auf den beiden Strecken zur Verfügung zu stellen.
Nun haben wir erlebt, wie virtuelles Geld verteilt wird,
das noch gar nicht in den Haushalt eingestellt worden ist.
Plötzlich prescht die nordrhein-westfälische Staatskanzlei
vor und erklärt, die Verteilung der Gelder für die Magnetschwebebahnstrecken in NRW und Bayern stehe schon
lange fest: 75 Prozent der Gelder würden an NRW und
25 Prozent an Bayern gehen. Das war natürlich ein Fehler. Das haben Sie auch erkannt und deshalb schnell
erklärt, alles sei noch offen. Nach Vorlage der Gutachten
werden die Gelder - überraschenderweise - exakt nach
dem angekündigten Schlüssel verteilt. Komisch, darüber
regt sich kein Mensch mehr auf.
Die Begründung für diesen Verteilungsschlüssel ist
sehr pfiffig: Herr Clement erklärt öffentlich, NRW müsse
einen höheren Zuschuss aus der Bundeskasse bekommen,
weil die geplante Strecke in NRW nicht so rentabel sein
werde wie die in Bayern. Das ist natürlich die Krönung
und endlich das Eingeständnis, dass der Ministerpräsident
des Landes NRW, der als großer Reformer, Erneuerer und
Modernisierer angetreten war, eigentlich mit leeren Händen dasteht. Weil Herr Clement jetzt händeringend ein
Prestigeprojekt braucht, wird der Transrapid als Metrorapid missbraucht, ohne dass klare Finanzierungsgrundlagen vorhanden sind.
({2})
Ihre Berechnungsgrundlagen für die heutigen Magnetschwebebahnstrecken sind schlechter als unsere für die
Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin, die Sie damals vehement kritisiert haben. Was mussten wir uns nicht alles
von Frau Staatssekretärin Gila Altmann anhören, die damals verkehrspolitische Sprecherin der Grünen war! Bisher habe ich von ihr zu den Berechnungsgrundlagen für
die Strecken in NRW und Bayern kein einziges Wort
gehört. Dazu kann man nur sagen: Mein lieber Mann,
Grüne, wie weit ist es mit euch gekommen!
({3})
Es kommt aber noch schlimmer. Das Ganze wird sogar
noch als der große Durchbruch verkauft nach dem Motto:
Die Technik war ja gut, wir müssen sie nur umsetzen.
Dazu kann ich nur sagen, liebe Kollegen von Rot-Grün:
Setzt sie endlich um! Schafft eine Finanzierungsgrundlage für diese seriöse Technik, damit der Transrapid nicht
nur in Schanghai, sondern auch bei uns gebaut werden
kann. Das, was Sie bisher abgeliefert haben, ist eine
Frechheit und keine Unterstützung für eine moderne
Technik!
({4})
Das letzte Wort in dieser Debatte hat der Kollege Norbert Königshofen für die
CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der „Spiegel“
schreibt am 4. März 2002:
Es gehört zu den größeren Momenten im Leben
eines Verkehrsministers, wenn man mal eben so
2,3 Milliarden Euro für ein Zukunftsprojekt unters
Volk bringen darf. Das Problem dabei ist nur das: Er
hat dieses Geld nicht. Es ist nicht da, jedenfalls nicht
im Bundeshaushalt 2002.
Es gibt auch keine Verpflichtungsermächtigung; denn
ein entsprechender Antrag der Union wurde ja bekanntlich
bei den Haushaltsberatungen im letzten November abgelehnt. Es gibt - darauf ist bereits hingewiesen worden auch keine Beratungen und keine Anhörungen im Verkehrsausschuss und keine Entscheidungen. Dennoch verteilt Herr Bodewig - darauf wurde schon hingewiesen fiktives Geld, und zwar 1,45 Milliarden Euro an NRW
und 0,55 Milliarden Euro an Bayern. Wir brauchen aber
eine seriöse Beratung; denn es stellen sich ja eine Menge
Fragen.
Frau Eichstädt-Bohlig, es gibt zwar keine Verträge oder
dergleichen. Aber wir haben etwas Interessantes zur
Machbarkeitsstudie über die Metrorapid-Strecke in NRW
gefunden. Uns liegt eine „Gemeinsame Erklärung des Verkehrsministeriums in NRW und des Konzerns Deutsche
Bahn AG“ vom 11. Juli 2001, unterschrieben von Clement
und Mehdorn, vor. Darin wird festgehalten, dass im Rahmen der notwendigen Vergabeverfahren der Know-howVorsprung der an der Machbarkeitsstudie beteiligten Firmen angemessen zu berücksichtigen sei. Im Klartext: Wird
aufgrund der Machbarkeitsstudie der Metrorapid gebaut,
haben die Verfasser der Studie gute Chancen, ein riesiges
Stück vom Planungskuchen zu bekommen. Damit wir wissen, worüber wir reden: Es geht dabei um Gesamtplanungskosten in Höhe von 334 Millionen Euro!
({0})
Da verwundert es nicht, dass sich die entscheidenden
Eckdaten innerhalb eines Wochenendes verändern. Investitionskosten: rund 500 Millionen Euro weniger; das sind
14 Prozent weniger. Betriebskosten: rund 11,5 Millionen
Euro pro Jahr weniger; das sind 18,5 Prozent weniger. Die
Fahrgastprognose wird von 25 Millionen auf 34,5 Millionen Fahrgäste heraufgesetzt; das sind sage und schreibe
40 Prozent mehr. Da kann man schon fragen: Warum so
bescheiden? Man hätte ja auch noch mehr hineinschreiben können.
({1})
Auf dieser Grundlage vergibt nun der Herr Bodewig
Geld!
Woher das restliche Geld kommen soll - der Metrorapid in Nordrhein-Westfalen kostet 3,2 Milliarden Euro -,
weiß niemand.
({2})
Es wird gesagt: Wir bekommen günstige Kredite. - Wie
die aber getilgt werden sollen und wie die Zinszahlungen
finanziert werden sollen, sagt niemand. Nur ein Beispiel:
Für einen Kredit von 1 Milliarde Euro fallen Kreditkosten
in Höhe von 75 bis 80 Millionen Euro pro Jahr an. Wenn
man die Betriebskosten von 50 Millionen Euro dazunimmt, dann kommt man auf 130 Millionen Euro. Die
fährt der Metrorapid nie ein.
Auch der verkehrliche Nutzen ist sehr umstritten. Die
Gewerkschaft Transnet schreibt am 25. Februar 2002 in
ihrem „Un-Machbarkeitspapier“, dass der Metrorapid zu
vermehrt gebrochenem Verkehr, zu erhöhten Fahrpreisen
und zu Arbeitsplatzverlusten führt, und kommt zu dem
Schluss: Der Metrorapid ist verkehrspolitisch überflüssig,
Horst Friedrich ({3})
der Nutzen ist nicht absehbar und die Kosten sind nicht
kalkulierbar.
All das hätten wir gern geprüft, aber Vorlagen haben
wir nicht. Vielleicht kann Herr Großmann seinem Minister einmal sagen, dass es für ihn - als ehemaliger Gewerkschaftssekretär hat er ja eigentlich guten Kontakt zu
seinen Kollegen - ganz gut wäre, auf seine Kollegen von
Transnet zu hören.
Wie notiert doch der „Spiegel“ unter dem Titel
„Kurtchens Mondfahrt“ - ich zitiere -:
So ist das immer bei ihm.
- Gemeint ist Minister Bodewig.
Was er auch anpackt, irgendetwas funktioniert nie.
Irgendetwas kommt immer dazwischen. Irgendetwas
ist nie ganz zu Ende gedacht.
({4})
Ich schließe mich an und sage: So ist es auch hier.
({5})
Mir bleibt jetzt nur
noch, die Aussprache zu schließen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8300 und 14/8296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Alle sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. März 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.