Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/14/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Bundesministerin, die Redezeit für die Regierungserklärung ist abgelaufen. ({0})

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Darf ich noch einen Schlusssatz sagen?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja, bitte.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Wir haben auch an die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger gedacht. Das Heimgesetz ist novelliert worden. Wir wissen, dass Schwäche und Abhängigkeit von Kommunikation eine Rolle spielen. Bei den Heimverträgen sind höhere Standards zu bieten. Wir denken im Schadensersatzrecht auch an die jungen Menschen, die sich beispielsweise im Straßenverkehr anders verhalten als Ältere. Wir denken an ihre Situation im Bezug auf die Kommunikationstechniken. Selbst beim Rabattgesetz haben wir alte Zöpfe abgeschnitten. ({0}) Bis hin zum Kinderspielzeug sind Kinder zu schützen. Erwachsene müssen die Aufgabe übernehmen, die, die nicht lesen können, zu unterstützen. Wir überlassen die Verbraucher nicht den Werbestrategen. Durch das Sozialstaatsprinzip und das Primat der Politik gilt: Wir wehren Gefahren ab, wir schützen die Schwächeren. Diese Bundesregierung stellt die Werkzeuge dafür bereit. Information ist ein entscheidendes Instrument für den Demokratisierungsprozess dieser Gesellschaft. Wir haben im letzten Jahr eine Menge geschafft. Deshalb will ich an dieser Stelle neben den Verbraucherorganisationen auch den Kolleginnen und Kollegen der betroffenen Ressorts und den Ministeriumsmitarbeitern noch einmal danken. Meine Damen und Herren, der Kampf um die Durchsetzung der Rechte der Verbraucher hat gerade erst begonnen. Wesentliche Voraussetzung für einen Erfolg ist, dass Verbraucherkultur und -gedanken selbstverständlicher Teil unseres Denkens und unseres Regierungshandelns werden. Genau dafür stehen wir. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nach der Regierungserklärung eröffne ich jetzt die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch heute Morgen wird nach dieser Regierungserklärung mehr als deutlich: Die Verbraucherschutzpolitik von Renate Künast ist die größte politische Rückrufaktion in diesem Land. ({0}) Das einzige funktionierende Schnellwarnsystem ist das Bundeskabinett, wenn es darum geht, Renate Künast einzufangen, damit sie keinen weiteren Flurschaden anrichten kann. ({1}) Frau Künast wird doch geradezu täglich vom Kanzler abgekanzelt. ({2}) Wo sind denn die lieben Kollegen, bei denen man sich immer bedankt, zum Beispiel der Bundeskanzler und der Bundeswirtschaftsminister? ({3}) Ich glaube, da gibt es nicht viel Gemeinsamkeit an diesem Kabinettstisch. Jetzt gibt es die neueste preisverdächtige Rhetorik von Ihnen, Frau Künast. Sie wollen eine „verbraucherorientierte Marktwirtschaft“ einführen. Es ist ja klar: Wer mit einer zunehmend unsozialen Politik dabei ist, die soziale Marktwirtschaft geradezu abzuschaffen, der erfindet solche neuen Soundbytes. ({4}) Dafür sind Sie als Ideologieministerin immer zu haben. ({5}) Ich sage Ihnen eines: Die soziale Marktwirtschaft ist der beste Verbraucherschutz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie ist gut für den Wettbewerb, für die Nachfrage und damit gut sowohl für die Verbraucher als auch für die Arbeitgeber in unserem Land. Ihre Rhetorik, die wir gerade gehört haben, muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie haben im Haushalt den Bundesverband der Verbraucherzentralen doch nur deshalb gefördert und die entsprechenden Mittel erhöht, weil wir in der Haushaltsdebatte Ihre versteckten Tricks aufgedeckt haben. ({6}) Denken wir in diesem Zusammenhang nur an die Energieberatung. Sie haben doch die Zuschüsse für die unabhängige Energieberatung der Verbraucherzentralen gekürzt. ({7}) Aber trotzdem tun Sie jetzt so, als seien Sie die Schutzpatronin dieser Beratungseinrichtungen. Es ist schön, dass Sie manchmal unsere Papiere lesen. Es freut uns, dass Sie endlich darauf kommen, dass eine Stiftung Bildungstest eine gute Sache ist. Wir haben vorgedacht und Sie schreiben ab. Das begrüßen wir. Ich erwähne weiterhin, dass Sie regelmäßig einen Verbraucherschutzbericht erstellen wollen. Wunderbar! Wir haben ihn vor einem Jahr in diesem Haus gefordert. ({8}) Machen Sie weiter so! Setzen Sie unsere Vorschläge um! ({9}) Durch die zunehmende Mobilität der Menschen, der Waren und der Dienstleistungen sowie durch die weltweite Vernetzung der Märkte erlangt der Verbraucherschutz im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft auf regionaler, auf nationaler und auf internationaler Ebene eine immer größere Bedeutung. Wir wissen: Der Verbraucherschutz ist nicht nur eine Frage der Agrarpolitik, sondern eine Querschnittsaufgabe. Mit fast allen Bereichen in der Politik hat der Verbraucherschutz Berührungspunkte. Die Menschen erwarten klare Konzepte für diesen umfassenden und vorbeugenden Verbraucherschutz. Die Devise muss sein: weg vom Reparaturbetrieb und hin zum vorbeugenden Verbraucherschutz. Unsere Eckpfeiler sind bekannt: Transparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle und Nachhaltigkeit. Aber das alles gelingt nur, wenn wir Kompetenz und effizientes Handeln bei den Beteiligten vorfinden. ({10}) Bei der Bundesregierung kann man davon aber nicht sprechen. Frau Künast, Sie haben einen umfassenden Verbraucherschutz versprochen. Was haben Sie aber nach einem Jahr erreicht? Sie haben einen Flickenteppich geschaffen, auf dem man zudem noch ausrutscht, weil er - das ist eine große Enttäuschung - aufgrund von Untätigkeit, Kompetenzmängeln und Skandalen schlecht gewebt wurde. ({11}) An dieser Stelle komme ich gleich auf das Verbraucherinformationsgesetz, das Sie gestern im Kabinett verabschiedet und heute hier auch erwähnt haben: Was ist denn aus Ihrem ehrgeizigen Vorhaben geworden, den Kauf nach ethischen Wertvorstellungen zu ermöglichen? Sie haben dazu sogar noch Eckpunkte präsentiert. Dazu kann ich nur sagen, dass aus diesem Eckpunktepapier ein schlapper Lappen geworden ist. Eine Ihrer angeblich so wichtigen drei Säulen, der Anspruch auf Information gegenüber den Unternehmen, ist vom Wirtschaftsminister sogar einkassiert worden. Die Dienstleistungen fielen, so hört man, der SPD Niedersachsen zum Opfer und sollen jetzt aus dem Anwendungsbereich komplett gestrichen worden sein. Wir von der Union begrüßen grundsätzlich das Vorhaben, die Transparenz und Informationsmöglichkeiten auf den Märkten zu stärken. Der Begriff des mündigen Verbrauchers ist aus unserer Sicht keine bloße Floskel: Je informierter und aufgeklärter die Verbraucher sind, desto besser können sie den Markt steuern und desto funktionstüchtiger ist der Wettbewerb. Aber die Verbraucher benötigen in erster Linie nicht mehr, sondern bessere Informationen. ({12}) Wir brauchen keine Fülle zusätzlicher Kennzeichnungsvorschriften für Spezialisten und Juristen, sondern wir brauchen klare, verständliche Regelungen für Menschen wie du und ich. ({13}) Auf die Qualität der Information kommt es an. Die Information allein sagt häufig nichts; wir brauchen Erläuterungen dazu, also im besten Sinne des Wortes Klasse statt Masse. ({14}) Wir brauchen in unserem Land vor allen Dingen keine willkürliche oder tendenziöse Informationsflut nach dem Motto „Freie Fahrt für Panik“. ({15}) Aber das passt ja zu Ihrem Ministerium: Nachdem Sie die konventionelle Landwirtschaft pauschal an den Pranger gestellt haben, haben Sie sich jetzt wieder neue Betätigungsmöglichkeiten eröffnet. Ihr wissenschaftlicher Beirat ist aus Protest gegen eine Satzungsänderung zurückgetreten, weil er um seine Unabhängigkeit fürchtete. ({16}) Wer eine solche ideologisch verbrämte Politik macht, nützt dem Verbraucher überhaupt nichts. ({17}) Unsere Wirtschaft braucht klare und verlässliche Rahmenbedingungen, nach denen sie agieren kann, nicht aber ständig neue Knüppel zwischen die Beine und noch mehr Bürokratie. Frau Künast, wo Eigenverantwortung gestärkt werden könnte, verfügen Sie noch nicht einmal über Kompetenz. Wird sie Ihnen entzogen oder nehmen Sie sie nicht wahr? Der Kanzler spricht jetzt wieder mit den Bossen. Ihre Kollegin Schmidt lässt sich Ihre Gesetze wenigstens noch von der Pharmaindustrie abkaufen. Aber Sie können an dieser Stelle noch nicht einmal mitreden. ({18}) Sie haben hier von den vielen Informationsmöglichkeiten geredet, die Sie den Menschen verschaffen wollen. Die Bundesregierung hat zum Beispiel im Gesundheitswesen die Möglichkeit, Informationen zu geben. Aber da blockieren Sie: Eine Politik, die auf Transparenz auch bei den Kosten setzt, wollen Sie nicht. Sie haben doch die Kostenerstattung in der GKV zugunsten des Sachleistungsprinzips abgeschafft. Hier hätten wir eine Möglichkeit zu mehr Transparenz. Aber Sie tun es nicht. Im Gegenteil, bei der Pflege reden Sie zwar von mehr Qualität, wollen dies aber mit noch mehr Bürokratie und noch mehr Dokumentation erreichen, anstatt dass Sie die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Pflegekräfte genug Zeit haben, sich am Krankenbett und am Pflegebett den Menschen zu widmen. Dort wäre Ihr Einsatz gefordert. ({19}) Sie haben über die Schnellwarnsysteme geredet. Das Beispiel des Chloramphenicols im Shrimpsskandal hätten Sie besser überhaupt nicht erwähnt. Das war doch eine peinliche Nummer. Sie, Frau Künast, wurden von den Bundesländern nicht nur im Shrimpsskandal, sondern auch im Hinblick auf die BSE-Tests aufgefordert, koordinierend tätig zu werden. ({20}) In beiden Fällen Fehlanzeige! Sie haben sich auch auf der europäischen Ebene nicht darum gekümmert. ({21}) Dafür brauchen wir gar nicht nach China, sondern nur nach Polen zu schauen. Es gab keine Äußerung von Ihnen zu den Zuständen der BSE-Tests und zur BSE-Situation angesichts der Tiermehlverfütterung in den EU-Beitrittstaaten. Wo bleibt denn Ihr Engagement an dieser Stelle? Es ist nichts als Rhetorik zu erkennen. Sie haben das Wettbewerbsrecht angesprochen. Die Justizministerin hat Ihren Platz verlassen. ({22}) Eine Arbeitsgruppe tagt seit über einem Jahr und legt selbst auf Nachfrage keine Ergebnisse vor. Sitzen Sie da überhaupt mit am Tisch? - Es gibt keine koordinierte Verbraucherschutzpolitik in unserem Land. ({23}) Frau Künast, wohin man in Ihrem Haus auch schaut: von Transparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle, Nachhaltigkeit, Kompetenz und Effizienz keine Spur. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung im letzten Jahr gesagt: Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Sie haben die Scherben nicht aufgelesen; es sind nicht weniger geworden. Das ist aber auch ganz klar; denn mit reiner Rhetorik kann man dies nicht leisten. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der SPD-Fraktion.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist die Redezeit viel zu schade, ({0}) um auf die billige Polemik einzugehen, die die Kollegin Widmann-Mauz vorgetragen hat. Es gibt schon ein schwaches Bild ab, wenn man hier nur herummotzt, obwohl man auf keine gute Bilanz aus der eigenen Regierungszeit verweisen kann. Sie haben von der „Ideologieministerin“ gesprochen. Angesichts dessen kann man bei Ihnen nur von billiger Polemik sprechen. ({1}) Wir sind uns wirklich zu schade, uns dies hier anhören zu müssen. ({2}) Nun aber zur Regierungserklärung. Dieses Jahr scheint ein Jahr der Bilanzen über die Verbraucherpolitik dieser Koalition zu werden. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Medien Anfang dieses Jahres eine durchaus positive Bilanz gezogen haben. Die heutige Regierungserklärung gibt uns Gelegenheit, zu zeigen, dass mit rotgrüner Verbraucherpolitik durchaus schwarze Zahlen geschrieben werden können. Wir haben im letzen Jahr vieles erreicht; dies ist in der Jahresbilanz des Verbraucherschutzministeriums nachzulesen. Für mich ist am wichtigsten, dass viele Diskussionen heute anders geführt werden als noch vor zwei Jahren. Ein halbes Jahr vor dem ersten deutschen BSE-Fall haben wir an einem Entschließungsantrag zum Weißbuch für Lebensmittelsicherheit geschrieben. Damals haben wir noch mit heftigem Protest gegen die Forderung nach einer Positivliste für Futtermittel gerechnet. Heute ist feststellbar, dass diese Forderung überhaupt nichts Gewagtes mehr hat; sie ist selbstverständlich geworden. Auch das Verbraucherinformationsgesetz, das gestern vom Kabinett beschlossen wurde, wäre vor zwei Jahren noch nicht vorstellbar gewesen. ({3}) Insbesondere im Prozess der Umsetzung des Weißbuches für Lebensmittelsicherheit und als Reaktion auf die BSE-Krise haben wir wichtige Vorsorgemaßnahmen für die Sicherheit der Lebensmittel getroffen. Wir schaffen Transparenz und die notwendigen Bewertungs- und Kontrollstrukturen. Damit haben wir für den Lebensmittelbereich Regelungen gefunden, die den Verbraucherinnen und Verbrauchern den notwendigen Schutz und die Voraussetzungen für einen bewussten und selbstbestimmten Konsum geben. ({4}) Wir sehen in dem Verbraucher einen aufgeklärten Menschen, der selbst in der Lage ist, seine Konsumentscheidungen zu treffen. Die Grundlage dafür - dies ist Aufgabe der Verbraucherpolitik - ist eine verlässliche Verbraucherinformation über die Eigenschaften von Produkten und Mindeststandards in Bezug auf Sicherheit, Haftung und vor allem Gewährleistung. Unser Ziel ist es, den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht nur im Lebensmittelbereich, sondern auch hinsichtlich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes den notwendigen Schutz zu geben und die notwendigen Auswahlkriterien zur Verfügung zu stellen. Auch hier haben wir einiges erreicht. Gerade im wirtschaftlichen Verbraucherschutz stehen Entscheidungen an, die für die Verbraucherinnen und Verbraucher von großer Bedeutung sind. Die Kommission hat eine Debatte darüber angestoßen, wie der europäische Binnenmarkt auch zu einem Binnenmarkt für die Verbraucherinnen und Verbraucher wird. Bisher profitieren diese kaum vom Gemeinsamen Markt. Insbesondere die unterschiedlichen Rechtsnormen halten sie davon ab, in anderen Mitgliedstaaten zu kaufen. Die Frage der Harmonisierung dieser Regelungen prägt die Diskussion um den gesetzlichen Rahmen für den elektronischen Geschäftsverkehr. Sie wurde von der Kommission mit dem Grünbuch Verbraucherschutz für Geschäftspraktiken im gesamten Bereich des Handels mit Verbrauchern auf die Tagesordnung gesetzt. Wir haben in Deutschland gute Erfahrungen mit einer Generalklausel im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb gemacht, durch die für Verbraucher und Unternehmen Transparenz geschaffen worden ist. Gleichzeitig brauchen wir für bestimmte Bereiche spezielle Regelungen. Als ein Beispiel sei hier das Fernabsatzgesetz genannt. Diese Kombination halte ich auch mit Blick auf eine europäische Harmonisierung für sinnvoll. Ein funktionierender Wettbewerb mit einer breiten Angebotspalette sorgt dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher Produkte und Dienstleistungen nach ihren Präferenzen auswählen können. Wettbewerbspolitik ist damit logischerweise auch immer Verbraucherpolitik. Ein funktionierender Binnenmarkt wird auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern Vorteile bringen. ({5}) Deutschland hat zum Beispiel innerhalb der Europäischen Union ein vergleichsweise hohes Preisniveau. Hier können die Verbraucher profitieren. Wir müssen uns allerdings darum kümmern, dass diese Auswahl für die Verbraucherinnen und Verbraucher auch in Zukunft gesichert bleibt. Konzentrationsprozesse bei Banken, Medien, Versorgungsunternehmen oder im Lebensmittelhandel können für die Verbraucherinnen und Verbraucher schnell zum Nachteil werden, insbesondere wenn von der Wettbewerbspolitik nicht mehr der nationale Markt als relevanter Markt angesehen wird. ({6}) Auch bei den Regelungen zum unlauteren Wettbewerb müssen wir uns fragen, welche Vorschriften alte Zöpfe sind und welche Sinn machen. Es ist klar: Wir haben heute ein anders Bild vom Verbraucher als vor 100 Jahren. Trotzdem müssen wir dafür sorgen, dass Verlässlichkeit und Transparenz im Handel die Regel sind. Kein Mensch kann heute mehr sagen, ob er für sich zum Beispiel den optimalen Handytarif gewählt hat. Wir wollen nicht, dass durch ständige Sonderverkäufe auch in anderen Bereichen die Preistransparenz aufgehoben wird. Ich halte es daher für richtig, dass wir in Ruhe darüber nachdenken, wie wir die größtmögliche Freiheit und den notwendigen Schutz der Mitbewerber, des Mittelstandes und der Verbraucher erzielen. In der heutigen Regierungserklärung wurde an vielen Beispielen aufgezeigt, dass der funktionierende Wettbewerb allein nicht ausreicht, um Verbraucherrechte zu schützen. Auch die Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften im Jahre 2001 haben in ihren Arbeiten auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes deutlich gemacht: Auf funktionierenden Märkten entstehen dadurch, dass Transparenz fehlt, suboptimale Ergebnisse. Das heißt: Können Verbraucherinnen und Verbraucher die Eigenschaften von Produkten nicht einordnen, sind sie auf zusätzliche Informationen angewiesen. Wir werden ihnen diese geben: Wir werden weiter dafür sorgen, dass Produkte und Dienstleistungen so gekennzeichnet werden, dass bewusste Kaufentscheidungen getroffen werden können. Durch die Schuldrechtsmodernisierung wurden Werbeaussagen verbindlich. Dies ist ein Erfolg für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir haben Kennzeichnungspflichten eingeführt und werden weitere prüfen. Ich denke hier an die Strahlung bei Handys oder an den Energieverbrauch bei Kraftfahrzeugen. Wir wollen auch bei weiteren Produkten die Möglichkeiten dafür schaffen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher auf Informationen der Behörden und auch der Unternehmen zurückgreifen können. ({7}) Wir unterstützen verstärkt die Verbraucherverbände und die Stiftung Warentest. Gerade Letztere ist als unabhängige Stelle für objektive Informationen notwendig. Ich kann mir durchaus auch eine größere Unabhängigkeit für die Stiftung Warentest vorstellen. ({8}) Wir müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher in die Lage versetzen, ihre Rechte auch durchzusetzen. Die Schuldrechtsmodernisierung hat hier Fortschritte gebracht. So sorgen wir zum Beispiel mit der Verlängerung der Gewährleistungsfristen dafür, dass eine gute Qualität von Produkten gesichert wird. Wir wollen in Zukunft außergerichtliche Streitschlichtungsverfahren verstärkt einführen. Auch die Stärkung der Verbraucherverbände ist ein Schritt, umVerbraucherrechte besser durchsetzen zu können. ({9}) Meine Damen und Herren, wir alle hier im Bundestag werden heute wieder eine Lanze für den Verbraucherschutz brechen. Wir werden in der nächsten Zeit aber auch Entscheidungen treffen, bei denen der Verbraucherschutz gefragt ist. Ich nenne Ihnen einige Beispiele: Bisher sind die Beförderungsbedingungen im öffentlichen Personenverkehr alles andere als kundenfreundlich. ({10}) Hier müssen wir deutliche Verbesserungen erreichen, insbesondere dann, wenn in Zukunft die Schnittstellen zwischen verschiedenen Unternehmen geregelt werden müssen. Der Kunde ist kein Bittsteller. Wenn er eine Fahrkarte kauft, hat er einen Anspruch darauf, rechtzeitig anzukommen. Noch ist dieser Schritt aber nicht umgesetzt. Mit der privaten Altersvorsorge haben wir einen neuen Markt für Finanzdienstleistungen geschaffen. Wir werden beobachten müssen, wie sich dieser entwickelt. Es stellen sich die Fragen, ob die Beratungsangebote reichen und ob die angebotenen Produkte seriös sind. Gegebenenfalls werden wir auch hier handeln müssen. Auch auf dem Bildungsmarkt gibt es im Moment eine unüberschaubare Anzahl schwer vergleichbarer Angebote. Wir müssen deshalb prüfen, ob wir hier durch unabhängige Tests oder durch Qualitätssiegel mehr Transparenz schaffen können. ({11}) An diesen Themen wird sich zeigen, ob wir die Verbraucherinnen und Verbraucher in ihren Rechten unterstützen. Wir haben mit dem Verbraucherinformationsgesetz und mit dem, was wir im letzten Jahr gemacht haben, erste Schritte unternommen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir auch in Zukunft noch weitere Schritte zum Wohle der Verbraucher und Verbraucherinnen machen werden. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Frau Ministerin Künast, Sie haben heute über Eckpunkte dieses neuen Verbraucherinformationsgesetzes gesprochen, das ich ein Placebogesetz nenne; denn bei dieser Politik und bei diesem Gesetz steht etwas drauf, was nicht drin ist. ({0}) Das ist bezeichnend für Ihre gesamte Politik. Vergegenwärtigen Sie sich einmal, dass die Behörden zwar auskunftspflichtig gegenüber dem Verbraucher, aber nicht verpflichtet sind, Informationen einzuholen. Das heißt doch im Umkehrschluss, dass Sie nur die Infos, die Sie ohnehin haben - Sie kennen diese rechtlich abgesicherten Informationen und wollen sie weitergeben -, den Verbrauchern zur Verfügung stellen. Da gehe ich lieber ins Internet. Dort erhalte ich mehr Infos als dadurch, dass in den Behörden solche neuen Strukturen geschaffen werden. ({1}) Die Frage ist auch, wem Sie mit diesem hohen Anspruch an Technik und Auskunftspersonal gerecht werden wollen. Was bedeutet das für die Kosten? Wer soll sie tragen? ({2}) Haben Sie sich darüber überhaupt Gedanken gemacht? Mir ist Folgendes ganz besonders wichtig: Frau Ministerin Künast, ich habe den Eindruck, dass Sie an der Realität völlig vorbei agieren. Wissen Sie eigentlich gar nicht, dass die Lebensmittelwirtschaft auf der einen sowie Mediziner und Technologen auf der anderen Seite hinter den Kulissen gemeinsam seit über einem Jahr sehr dezidiert dabei sind, ein hervorragend ausgeklügeltes Netz von Daten und Zusatzinformationen auf ein Datennetz zu überspielen, das den Kunden vor Ort im Laden zur Verfügung stehen soll? Die Selbstverpflichtung wird also schon längst umgesetzt. ({3}) Ich nenne ein Beispiel: Wenn jemand, der auf bestimmte Inhaltsstoffe allergisch reagiert, in einem Supermarkt der Zukunft an eine technologische Einrichtung geht, kann er mithilfe eines Strichcodes künftig sehr dezidierte und wissenswerte Informationen bezüglich Aromen und Allergiestoffe in einem Produkt erhalten. Das nenne ich eine Spitzenleistung. Das sind Visionen. Das ist auch ein Mehrwert für den Verbraucher. Ich glaube, da hinken Sie völlig hinterher, weil in der Privatwirtschaft vieles schon längst auf dem Weg ist. ({4}) Was Sie mit Ihrer Politik versprechen, Frau Künast, wird nicht eingehalten. Dazu gehört auch das Thema Stiftung Warentest. Sie haben sich heute Morgen noch einmal als Gönnerin und Förderin der Stiftung dargestellt. Ich darf Sie daran erinnern, dass die Stiftung und auch die FDP-Bundestagsfraktion größten Wert darauf legen, dass dieser Stiftung endlich ein Stiftungskapital zugesprochen wird, damit die Stiftung unabhängig von schwankenden Haushaltslagen ihre Arbeit erledigen kann. ({5}) Nehmen wir das Thema Honig. Es ist doch hervorragend, wenn 15 oder 16 Sorten in einem Test dargestellt werden und der Verbraucher eine Übersicht über Qualität und Preis bekommt. Auch dabei sind Sie furchtbar kleinlich. Die Stiftung Warentest braucht Unabhängigkeit und ihr Stiftungskapital, damit diese Säule der Verbraucherpolitik und der Verbraucherinformation, die auch beim Verbraucher hoch angesehen ist, gestärkt wird. ({6}) Ein anderer inhaltlicher Punkt, bei dem wir als FDP offensiv vorangehen, ist die Forderung nach einem Gesetzes-TÜV für Verbraucherbelange. ({7}) - Frau Höfken, auch Sie sind gleich an der Reihe. - Das heißt, künftig könnte auf die Entstehung eines Gesetzestextes in den zuständigen Ministerien - Frau Ministerin, Sie sind nur noch für die wenigsten Verbraucherthemen direkt zuständig -, zum Beispiel im Justizministerium, Einfluss genommen werden. Hier ist bisher überhaupt nichts passiert. ({8}) Unsere Vorstellung ist: Wenn ein Gesetz entsteht, dann sollen Verbraucherbelange in den Text eingearbeitet werden. Die Auswirkungen auf die Kostenstrukturen, die Bürokratisierung sowie die Klarheit des Anliegens müssen deutlich gemacht werden. Dieser Punkt ist also sehr wichtig. Frau Ministerin Künast, Sie haben ständig von Kontrollen gesprochen. Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass wir bundesweit viel zu wenig Kontrolleure haben? Laut EU müsste eigentlich die dreifache Anzahl an Kontrolleuren in den Ländern vorhanden sein. ({9}) - Der Bund und die Länder haben kein Geld. Also muss man sich auf einen Fahrplan einigen. Dieses Thema ist höchst problematisch. Ich nenne Ihnen noch einen Bereich: Landwirtschaft und Bioprodukte. Frau Künast, ist Ihnen eigentlich bekannt - Professor Kuhlmann hat das neulich in einem Vortrag sehr gut herausgearbeitet -, dass wir durch die Produktion hervorragender konventionell erzeugter Lebensmittel überhaupt erst in der Lage sind, die Nischenproduktion von Bioprodukten - das ist sehr wichtig und wird von uns unterstützt -, die marktkonform und nicht per Diktat ablaufen muss, zu betreiben? Ansonsten hätten wir nicht einmal die Möglichkeit, unseren täglichen Bedarf zu decken. Auch das ist hochproblematisch. Noch einmal zum Thema Honig aus China. Frau Künast, ist Ihnen eigentlich bekannt, dass die chinesischen Sorten häufig mit den argentinischen Sorten gemischt werden? Wissen Sie auch, dass dann, wenn die Pollen entfernt werden, keinerlei Rückschlüsse auf das jeweilige Herkunftsland gezogen werden können? Das heißt, wir müssen - ich denke, wir sitzen zusammen mit der Wirtschaft und der Industrie, die dieses Problem erkannt haben, in einem Boot - klarer kennzeichnen, damit der Verbraucher weiß, welcher Herkunft das Produkt ist, das er kauft. Verehrte Ministerin: Ideologien sind bewaffnete Ideen. Das hat schon Ignazio Silone gesagt. Wir als FDPBundestagsfraktion möchten nicht, dass derlei Waffen gegen die Verbraucher gerichtet werden. Machen Sie also inhaltsreiche Politik, die die Verbraucher tatsächlich ein Stück weiterbringt. Hören Sie auf, ihnen vorzugaukeln, es würde konzeptionell und effektiv etwas für sie getan. Ich bin froh darüber, dass die Wirtschaft längst auf dem richtigen Weg ist. Sie wird Ihnen vormachen, was Lebensmittelinformation und Lebensmittelsicherheit bedeuten. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kopp, ich kann Ihnen eine gewisse Naivität nicht absprechen. Bei aller Liebe: Was Sie unter Selbstverpflichtung und Verantwortung der Wirtschaft verstehen, haben wir gesehen. Das war ein Laisser-faire ohne vernünftigen Rahmen. ({0}) Wie erklären Sie sich denn eigentlich, dass schon wieder Shrimps mit Antibiotikarückständen in die Futtermittel gekommen sind? Wie erklären Sie sich die Tiermehlskandale der letzten Jahre oder die mangelhaften Labortätigkeiten in Bayern? ({1}) Das soll dann alles Selbstverpflichtung der Wirtschaft sein? Ich denke, so kann das nicht laufen. ({2}) Man muss über diese Debatte eine bisschen traurig sein. Warum mauzt die CDU mit Schaum vor dem Mund? ({3}) Ganz klar: um den Verbraucherschutz klein zu halten, die Durchsetzung alter Lobbyinteressen wieder zu ermöglichen und zu verhindern, dass der Dreck unter dem Teppich hervorgekehrt wird. Ich kann die Debatte des ganzen letzten Jahres wirklich nicht anders deuten. Wir haben in dieser Woche den Verbraucherschutztag. Es geht uns darum, der vermeintlichen und tatsächlichen Abzocke von Verbrauchern entgegenzuwirken. Es geht um Aufklärung und Information der Verbraucher sowie um die Möglichkeit eines Preisvergleiches. ({4}) Der Euro ist ja ein Beispiel dafür. Es entpuppen sich einige Wirtschaftsbereiche oder Betriebe trotzt aller Schwüre, die Euroeinführung nicht zu missbrauchen, als Euroschmarotzer erster Güte. Es geht um unrechtmäßige oder zumindest unverschämte Angebote von Dienstleistungen bzw. Verkäufe von Produkten, sei es bei Banken oder Reinigungen bzw. im Lebensmittelbereich. Bei einem Vergleich, der nötig ist und ermöglicht werden muss, geht es nicht nur um die Höhe der Preise, sondern auch um die Qualität, gerade im Lebensmittelbereich. Um den Verbraucher mündig zu machen, um ihm die notwendigen Informationen zukommen zu lassen, hat diese Bundesregierung entschieden gehandelt. Sie hat völlig neue Strukturen geschaffen, um den Verbraucher aus seinem Mauerblümchendasein, in dem Sie ihn über viele Jahre hinweg gehalten haben, herauszuholen. ({5}) Die Verbraucher brauchen, um preiswert - im Sinne von „den Preis wert“ - Produkte und Dienstleistungen kaufen zu können und am Markt teilnehmen zu können, Information und Transparenz, Beteiligung und Schutz. Die Möglichkeiten dafür sind jetzt geschaffen worden, und zwar durch ganz neue Strukturen, das heißt durch ein neues Ministerium, das jetzt Verbraucherschutzministerium heißt. Wir vergessen fast, dass es hier einen Paradigmenwechsel gegeben hat, auch mit der Ministerin Renate Künast. Wo gehobelt wird, fallen eben auch Späne. Sie von der Opposition hobeln ja erst gar nicht. ({6}) Zur Umsetzung der neuen Strukturen wurden das Verbraucherinformationsgesetz und das Neuordnungsgesetz geschaffen. Es gibt jetzt eine Trennung von Risikobewertung und Managementaufgaben. Bewertung und Handeln sind nun getrennt. Wir haben jetzt zum ersten Mal eine Struktur, die es ermöglicht, die Probleme im Verbraucherschutz wirklich zu benennen und Regierungshandeln objektiv zu gestalten. Das ist ein riesiger Schritt in Richtung Verbraucherschutz. Zum Verbraucherinformationsgesetz. Was wollen Sie eigentlich? Auf der einen Seite sagen Sie, das Gesetz sei ein Placebo, und auf der anderen Seite veranstalten Sie eine große Schreierei, weil es die Wirtschaft beeinträchtigen könnte. ({7}) Richtig ist, dass es ein riesiger Schritt in Richtung zu mehr Verbraucherschutz ist. Denn die Verbraucher haben erstmals Zugang zu den Informationen, die sie brauchen, und die Behörden haben die Möglichkeit - diesen Fall haben wir übrigens gerade wieder in Bayern, wo die Wirtschaft den Staat verklagt, weil er angeblich Maßnahmen ergriffen hat, die nicht in Ordnung waren - , vorsorgenden Verbraucherschutz gefahrlos zu praktizieren. ({8}) Das ist nicht nur für die Verbraucher interessant, sondern vor allem auch für die Multiplikatoren, die Presse und die Verbraucherverbände, die auf diese Art und Weise die Verbraucherinformation sehr stark verbessern können. Wir haben zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Wir haben die Arbeit der Verbraucherorganisationen und die Informationstätigkeit der Medien gestärkt und den Zugang für die Verbraucher und Verbraucherinnen selbst gesichert. Ich meine, das ist ein riesiger Schritt. ({9}) Dieser Schritt bezieht sich auf die Lebensmittel und Bedarfsgegenstände, also auf eine sehr große Gruppe von Wirtschaftsgütern. Das scheint Ihnen aber zu wenig zu sein. Sie können ohne weiteres die Länder unterstützen. Das tun wir auch. Derzeit haben Sie auch die Gelegenheit, bei der Produktsicherheitsrichtlinienumsetzung noch weitere Schritte zu gehen. Wir warten dabei auf Ihre weitere Unterstützung. Auch der Bereich Dienstleistungen wird sicherlich demnächst diskutiert werden. Wir werden noch weitere Schritte unternehmen - und zwar gern mit der Opposition gemeinsam -, weil mehr Transparenz auf dem Markt auch Innovationen und mehr Erfolg für deutsche Produkte gerade im Wettbewerb mit anderen Ländern bedeutet. Im Verbraucherschutz spielen die Siegel und Labels eine große Rolle für die Transparenz auf dem Markt. Das Biosiegel ist sehr wohl positiv zu erwähnen. ({10}) Der Erfolg auf dem Markt ist bereits sichtbar geworden. Durch diese Unterstützung haben wir eine Umsatzsteigerung um 30 Prozent erreichen können. Die Ökofläche hat sich um 20 Prozent erhöht. Das ist ein riesiger Erfolg. Wir möchten, dass dieses erfolgreiche Marktsegment noch vergrößert werden kann. ({11}) Als Letztes möchte ich die Labels im Bereich der konventionellen Produktion - beispielsweise das QS - ansprechen. Ich bin davon überzeugt, dass auch dieses Konzept einen positiven Widerhall auf dem Markt findet, und dass auch die neuen Labels in anderen Bereichen wie die Handy- und Energielabels erfolgreich sein werden. Labels, Verbraucherkennzeichnungen und Zertifizierungen bedeuten für die Verbraucher, dass sie Geld sparen können und mehr Qualität erzielen können. Es ist diese Bundesregierung, die diese Möglichkeiten sehr offensiv schafft. ({12}) Aber Verbraucherpolitik heißt nicht nur, die Verbraucher aufzuklären und ihnen Zugang zu Informationen zu verschaffen, sondern sie bedeutet auch Schutz, zum Beispiel wenn es um Kinder geht oder die Verbraucher in ihren gesundheitlichen Rechten beeinträchtigt sein könnten. Auch auf diesem Gebiet sind wir weit fortgeschritten. Im Bereich Gentechnik - das habe ich gerade in der Diskussion gehört - haben wir erreicht, dass es zu einem Monitoring kommt. ({13}) Die gesamte Bundesregierung hat verhindert, dass es zu einem unkontrollierten Marktzugang von gentechnisch veränderten Produkten kommt, und hat ein entsprechendes Monitoring und eine wissenschaftliche Untersuchung des Nutzens und der mit dieser Technologie verbundenen Risiken vorgeschaltet. ({14}) Die Bundesregierung und das BMVEL haben auch dafür gesorgt, dass in vielen anderen Bereichen des Verbraucherschutzes - von den Azofarbstoffen bis zu den Kinderspielzeugen - die Verbraucherinnen und Verbraucher besser geschützt sind. Sie achten zudem darauf, dass auch über den Lebensmittelbereich hinaus Schritte unternommen werden, die dem Verbraucherschutz oberste Priorität einräumen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Diskussion in den letzten Tagen und Wochen zurückkommen. Es ging in erster Linie darum, dass Gesetze erlassen werden, die aber nicht befolgt werden. Aus dieser Diskussion wurde ersichtlich - ich nenne die Stichworte „BSE-Tests“ und „Chloramphenicol“, insgesamt antibiotische Rückstände -, dass die Opposition den Verbraucherschutz nur zur Instrumentalisierung benutzt. ({15}) Wir erleben es bei den BSE-Tests - das schockiert mich immer wieder, obwohl ich vielleicht mit den Jahren daran gewöhnt sein sollte -, dass Gruppierungen - die Führer von Genossenschaftsvereinigungen genauso wie der Präsident des Deutschen Bauernverbandes - die Regierungen unter Druck setzen. Im Fall des Verbraucherschutzministers Sinner war es die „Stern“-Geschichte. Es gab in der Tat eine offene Einflussnahme auf den Verbraucherschutzminister in Bayern, was die BSE-Tests und die Verkehrsfähigkeit bzw. nicht vorhandene Verkehrsfähigkeit von Fleisch angeht. Im Fall der BSE-Tests und der Antibiotikarückstände werden plötzlich Gesetzesverstöße verUlrike Höfken harmlost. Es gibt aber einen Unterschied: Im Fall der mit Antibiotikarückständen belasteten Shrimps gehen Ihnen die Verbraucherschutzanforderungen nicht weit genug. Hier verlangen Sie - das wäre Ihnen am liebsten - sogar den Sturz der Bundesregierung. Ich kann Ihnen nur sagen: Frau Künast hat konsequent gehandelt; denn sie hat sofort die bestehenden Informationslücken beseitigt. ({16}) Wenn es aber um antibiotische Rückstände im Bereich des Pflanzen- und Obstbaus geht, wenden Sie plötzlich andere Maßstäbe an. Ich möchte nicht missverstanden werden: Auch ich bin an einer Lösung der Probleme der Obstbauern interessiert, die übrigens auf Ihre gesetzgeberischen Maßnahmen zurückgehen. Aber man kann nicht mit zweierlei Maß messen und die Bauern - Stichwort „Altes Land“ und die damit zusammenhängenden Verstöße gegen das Pflanzenschutzmittelrecht - in die unheilvolle Allianz aus mangelhafter Beratung und Kontrolle ziehen und sie bei Gesetzesverstößen bestärken. ({17}) Das darf nicht sein. Wenn man es mit dem Verbraucherschutz ernst meint, dann darf man nur einen einzigen Maßstab anlegen. Das Motto lautet: Information, Kennzeichnung, Schutz und Partizipation der Verbraucher bei gleichzeitiger Wahrung der Interessen der Wirtschaft. Die bestehenden Gesetze müssen eingehalten werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Denn man kann nicht Gesetzesverstöße verharmlosen und gleichzeitig erwarten, dass die Verbraucher das neue Qualitätszeichen QS, das im konventionellen Bereich eingeführt wird, entsprechend würdigen. Die Verbraucher werden dieses Qualitätszeichen nur dann zu würdigen wissen, wenn sie sehen, dass die Gesetze ernst genommen werden. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt unsere Kollegin Kersten Naumann von der PDSFraktion.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Künast, man kann sich natürlich alles schönreden. Aber die Realitäten sehen völlig anders aus, als Sie sie gerade geschildert haben. Ich hoffe trotzdem, dass Sie Ihre Träume Realität werden lassen können. Wir würden Ihnen dabei gerne helfen. ({0}) In einem Koalitionsantrag - daran kann ich mich noch gut erinnern - ist nachzulesen: Verbraucherschutz ist als durchgängiges Leitprinzip anzuerkennen und muss zur politischen Richtschnur bei allen Entscheidungen und Maßnahmen werden … Wo ist dieses durchgängige Leitprinzip, wenn es um den Schutz vor Täuschung und die wirtschaftliche Übervorteilung im Zusammenhang mit der Riester-Rente geht? Wo war es, als der Diskurs zur grünen Gentechnik wieder eröffnet wurde, sich die Bundesregierung aber bereits im Vorfeld auf einen Schwellenwert von 1 Prozent geeinigt hatte? Wo ist dieses durchgängige Leitprinzip, wenn es um das Werbeverbot bei Tabak und Alkohol oder um das Verbot des Rauchens auf öffentlichen Plätzen geht? Lang ist die Liste der schamlosen Abzockereien, gegen die nicht wirkungsvoll vorgegangen werden kann. Zahllose Gewinnspiele, ruinöse Immobiliengeschäfte und unerlaubte Faxwerbung sind nur ein Teil dieser langen Liste. Seit gestern ist klar: Das geplante Verbraucherinformationsgesetz wird den Wirtschaftsinteressen geopfert. Jetzt soll die Auskunftspflicht nur noch gegenüber Behörden bestehen und nur noch für Lebensmittel gelten. Die Wirtschaft, von den Versicherungen über den E-Commerce bis hin zum Einzelhandel, setzt mit ihren riesigen Werbeetats die Trends. Sie hat den längeren Arm und bestimmt, was wie in welcher Qualität und welche Informationen auf den Markt kommen. Jährlich werden hierzulande über 30 Milliarden Euro für Werbung ausgegeben. Allein die Werbeausgaben im gesamten Tabakbereich betrugen 1997 rund 45 Millionen Euro. Die Tabakindustrie sollte diese Summe lieber in einen Gesundheitsfonds einzahlen, um betroffene Patienten und Arbeitsplätze im Gesundheitswesen zu retten. ({1}) Wenn man dann noch bedenkt, dass diese Werbekosten von der Steuerschuld abgezogen werden können, dass aber für eine unabhängige Verbraucherarbeit gerade einmal 75 Cent pro Bürger - das sind rund 60 Millionen Euro - an öffentlichen Mitteln zur Verfügung stehen, dann wird die Schizophrenie der Sache deutlich. Verbraucherschutz heißt doch aber auch Verbraucheraufklärung. Bildung schützt am besten vor Irreführung. Verbraucheraufklärung und -information sind eine staatliche Bringeschuld, die von der Wirtschaft zu finanzieren ist. Wie sieht es zum Beispiel mit dem Schutz von Jugendlichen vor Unterhaltungsprodukten wie Videos, Computerspielen und TV-Thrillern nach Zielaltersgruppen aus? Längst ist nachgewiesen, dass ein Zusammenhang zwischen medialer Gewaltdarstellung und zunehmender Jugendgewaltbereitschaft besteht. Auch ist bekannt, dass trotz einer rechtlichen Altersregelung zur Alkoholabgabe ein wirklicher Schutz von Minderjährigen vor dem Kauf von Alkohol nicht besteht. Das beweist einmal mehr: Es sind vor allem die Verbraucherrechte im Alltag, gegen die regelmäßig verstoßen wird. ({2}) Verbraucherrechte sind zwar in vielen Gesetzen bis hin zum Grundgesetz verankert; Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft durchzusetzen ist aber fast so aussichtslos wie der Versuch, mit dem Fahrrad einen Schnellzug einzuholen. Da offensichtlich ist, dass Wirtschafts- und Verbraucherinteressen nicht in Einklang zu bringen sind, müssen gesellschaftlich gewollte und für den Verbraucherschutz erforderliche Hygiene-, Umwelt-, soziale und wirtschaftliche Standards gesetzlich geregelt werden. Selbstkontrolle und Selbstverpflichtung der Hersteller, bestimmte Standards einzuhalten, sind keinesfalls ausreichend. Hier bleibt als einzig Erfolg versprechende Lösung eine verstärkte unabhängige staatliche Kontrolle; Bund und Länder dürfen die ihnen obliegenden Inspektionen nicht dem Sparprinzip opfern. Praktisch würde dies bedeuten, in allen Unternehmen ab einer bestimmten Größe die gesellschaftliche Gütekontrolle einzuführen, die vom Unternehmen zu bezahlen ist. Es kann nicht sein, dass in der Wirtschaft immense Gewinne privatisiert werden, während der Staat, also auch die Bundesländer, und damit letztlich der Steuerzahler für die Kontrollaufgaben aufkommt. Deshalb sieht die PDS in folgenden Punkten dringenden Handlungsbedarf: Erstens. Um die Rechte der Verbraucher zu stärken, bedarf es effizienter personeller und sachlicher Rahmenbedingungen für unabhängige Verbraucherarbeit. Für den Verbraucherschutz ist ein Kernhaushalt notwendig. Dieser muss gesetzlich verankert werden; denn angesichts steigender Anforderungen durch die Schuldrechtsmodernisierung, die Rentenreform, die Telekommunikation, die Euroumstellung usw. hört man immer wieder: zu wenig Personal, zu wenig Geld und zu wenig Sanktionsmöglichkeiten. Zweitens. Verbraucherorganisationen und Bürgerinitiativen müssen in allen relevanten politischen Gremien vertreten sein. ({3}) Wo auch immer Verbraucherrechte tangiert werden, sind die Verbraucher zu befragen und in die Entscheidungen einzubeziehen. Drittens. Bei der Liberalisierung und Privatisierung ganzer Marktsegmente wie Telekommunikation, E-Commerce, Gesundheitsdienstleistungen und -pflege sowie privater Altersvorsorge müssen Bund und Länder dafür Sorge tragen, dass Verbraucher am Markt gleiche Chancen erhalten. Neue Gesetze zur Anpassung an den EUMarkt, so beim E-Commerce und bei der Riester-Rente, sollen mehr Transparenz bei den Verbrauchern schaffen. Faktisch aber hat sich die Situation verkompliziert, weil die Verantwortung in den privaten Bereich verlagert worden ist. Viertens. Eine vorsorgende Verbraucherpolitik erfordert die Konzentration von Zuständigkeiten mit wirksamen Einfluss- und Kontrollrechten wie einem suspensiven Vetorecht in der Verwaltung und im Parlament. Weder ist die eindeutige Zuordnung der wesentlichen Zuständigkeiten mit der Reorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes abgeschlossen noch ist die vorgesehene Zielstellung mit zwei neuen Institutionen als die beste Lösung anzusehen. Fünftens. Die konsequente Durchsetzung des Verursacherprinzips im Produkt- und Umwelthaftungsrecht würde dazu beitragen, dass Reparatur- und Risikokosten nicht wie bisher sozialisiert werden, das heißt, dass letztlich nicht mehr der Steuerzahler dafür aufkommt. Sechstens. Im Verbraucherinformationsgesetz sind eine Produkt- und Prozesstransparenz, die Sammelklagebefugnis für Verbraucherverbände sowie der öffentliche Zugang zu staatlichen Prüfergebnissen zu verankern. Es ist auf keinen Fall nur auf den Lebensmittelsektor und auf die Auskunftspflicht von Behörden zu beschränken. Siebentens. Bei der Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik müssen Lebensmittelproduktion und -hygiene nicht nur gesundheitliche Risiken ausschließen, sondern auch die Belange der Umwelt und ethische Wertvorstellungen, insbesondere was die grüne Gentechnik betrifft, berücksichtigen. ({4}) Damit dem eingangs genannten Leitsatz der Koalition Rechnung getragen wird, muss der Schutz vor gesundheitlichen und sozialen Risiken sowie rechtlichen und wirtschaftlichen Nachteilen der Verbraucher Vorrang vor wirtschaftlichen Kapitalinteressen haben; denn sonst bleibt alles nur Makulatur. ({5}) Das kann weder die Regierung noch die Opposition wollen, noch wäre dies im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher. Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Kumpf von der SPD-Fraktion.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Kollegin Widmann-Mauz, es gibt im Schwäbischen ein Sprichwort ({0}) - dieses ist aber besonders wichtig -: Erst mit 40 wird der Schwabe gescheit. Bisher habe ich immer gedacht: Das gilt für die Männer. Ich habe aber festgestellt - Ihr Redebeitrag ist ein Beweis dafür -, dass das inzwischen auch für die Frauen gilt - leider. ({1}) Ich will in Erinnerung rufen - der Schwabe und auch die Schwäbin an sich sind manchmal sehr vergesslich -, dass das Jahr 2001 einen Wendepunkt in der Geschichte des Verbraucherschutzes darstellt. Der BSE-Skandal war der Höhepunkt einer Entwicklung. Da hilft kein Leugnen und kein Wegsehen. Weder die Musterknaben in Bayern noch die Musterknaben in Baden-Württemberg konnten sicher sein, dass BSE sie nicht erreicht. Sie mussten entdecken, dass sie nicht verschont geblieben sind. Als in Großbritannien vor allem bei Schafen und Rindern dann noch die Maul- und Klauenseuche ausbrach, strebte das Inferno einen vorläufigen Höhepunkt an. ({2}) Die abendlichen Bilder von den brennenden Scheiterhaufen haben das Vertrauen der Verbraucher in die Sicherheit und in die Qualität landwirtschaftlicher Produkte nachhaltig erschüttert und - auch bei uns - eine Schockwelle ausgelöst, die die gesamte Lebensmittelbranche, die Landwirtschaft, die Ernährungsindustrie und den Handel, in Aufruhr versetzte und die Verbraucherpolitik revolutionieren wird, zum Teil sogar schon revolutioniert hat. Ein solches Lob haben nicht wir uns ausgesprochen, sondern Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts in München. Hans-Werner Sinn hat uns attestiert, dass wir auf die BSE-Krise durch die Neustrukturierung des Ministeriums und durch die Schaffung neuer rechtlicher Grundlagen entschlossen reagiert haben, um die gläserne Produktion sicherzustellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, was entdecken wir denn da auf einmal? ({3}) Auf einmal erklären auch Sie, die Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind, ganz vollmundig, dass Verbraucherschutzpolitik fester Bestandteil der sozialverpflichteten marktwirtschaftlichen Ordnung ist. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich kann mir darüber nur verwundert die Augen reiben. Wo waren denn Ihre Konzepte? Wo war denn Ihre sozialverpflichtete marktwirtschaftliche Ordnung, Ihre entsprechende Verpflichtung in den letzten 16 Jahren, als Sie die politische Verantwortung getragen haben? ({4}) Fehlanzeige auf der ganzen Linie! ({5}) Wir, die rot-grüne Bundesregierung, haben Bewegung in die Verbraucherpolitik gebracht; wir haben den Reformstau aufgelöst. ({6}) Mit der Schaffung des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hat der Verbraucherschutz in Deutschland erstmals Kabinettsrang erhalten. ({7}) Die neue Stellung des Verbraucherschutzes wollen wir Schritt für Schritt, kontinuierlich festigen und ausbauen. ({8}) Die Verbraucherverbände bescheinigen uns, dass wir im Bereich der Lebensmittelsicherheit und der Agrarpolitik hoffnungsvolle Signale gesetzt haben. Durch die Modernisierung des Schuldrechts haben wir eine Verbesserung der Gewährleistungsrechte erreicht. Jetzt an die Adresse der FDP: Wenn Glühbirnen schnell verglimmen, wenn Anzüge schon nach geringer Benutzung durchgescheuert erscheinen, wenn Damenstrümpfe bei der ersten zaghaften Annäherung eine Laufmasche bekommen, wenn Kühlschränke rosten oder wenn das Gulasch in der Pfanne schrumpft, dann sind die entsprechenden Produkte Fälle versteckter Qualitätsmängel. ({9}) Frau Kopp, der liebe Markt regelt eben nicht alles. Es gilt leider noch immer wirklich oft: Mehr Schein als Sein. ({10}) Der Laschheitswettbewerb wird bedauerlicherweise gestärkt. Auch das in den letzten Jahren immer wässriger gewordene Obst, das aufgeblasene, geschmacklose Gemüse, das Fleisch der mit Hormoncocktails gefütterten Schweine, der labbrige Schinken, die holländischen Retortentomaten, die furnierten Pressspanmöbel oder die Sahne, die nach dem Schlagen zusammenfällt, finden leider ihre Märkte, also die Märkte der Güter mit Qualitätsmängeln. Es ist ganz verwunderlich oder auch nicht verwunderlich, dass gerade die Krise auf dem Lebensmittelmarkt dazu geführt hat, dass drei Wissenschaftler einen Nobelpreis erhalten haben, nämlich George Akerlof, Michael Spence und Joseph Stiglitz, die von dem Markt der Lemon-Güter, der sauren Zitronen, reden und mit ihren Beiträgen zur Theorie der asymmetrischen Information eine Begründung für den staatlichen Verbraucherschutz geliefert haben. ({11}) Alle hier im Hause beschwören den mündigen Bürger, den mündigen und aufgeklärten Verbraucher. Richtig, auch wir wollen dieses. Der Staat soll den Bürger nicht gängeln, der Bürger will den Staat nicht vor der Nase haben, er wünscht sich ihn an seiner Seite. Der Verbraucher und die Verbraucherin sind die Schlüsselfiguren für unsere Verbraucherpolitik. Aber in gleicher Weise - Herr Merz, hören Sie gut zu -, wie BSE und MKS aus den Schlagzeilen der Medien verschwunden sind, haben ungeachtet der BSE-Fälle der Rindfleischkonsum und die Preise fast wieder das Vorjahresniveau erreicht. ({12}) Also warum eigentlich das Angebot ändern, wenn die Nachfrage stimmt? So werden Sie fragen, und das fragen sich auch die Landwirte und der Handel. Es besteht doch gar keine Notwendigkeit zu einer Veränderung. Der Verbraucher ist an dieser Stelle widersprüchlich. Unsere Einschätzung und Bewertung ist: Veränderungen können sich auf Dauer nur dann durchsetzen, wenn der Verbraucher informiert und befähigt wird, seine Macht tatsächlich mit dem Einkaufskorb einzusetzen, und wenn er dies auch rational tut. Der Werbung kommt bei der Überwindung von Informationsdefiziten zweifelsohne eine wichtige Rolle zu, aber informative Werbung ist selten. Informative Werbung wird oft durch Imagewerbung ersetzt. Die Mittel für Imagewerbung wären aber oft besser eingesetzt, um Produkte insgesamt zu verbessern. Deswegen setzen wir auf Transparenz, Eigenverantwortung, Kontrolle und Nachhaltigkeit. Das sind Schlagworte, Frau Widmann-Mauz, die inzwischen auch die CDU abgeschrieben hat. Staatliche Verbraucherpolitik muss in erster Linie auf Aufklärung setzen. Nimmt die Lebensmittelaufsicht beispielsweise eine Salami vom Markt, so darf sie nach derzeitiger Rechtslage zwar über die Tatsache an sich informieren, aber nicht über den Namen des Produktes oder des Herstellers. Auch Informationen darüber, welche Firmen regelmäßig gegen das Lebensmittelrecht verstoßen, sind derzeit noch geheime Verschlusssache. Ein aufgeklärter Verbraucher und eine aufgeklärte Verbraucherin sind zunächst aber auf die umfassende Information angewiesen. Daher muss ein Verbraucherinformationsgesetz den öffentlichen Zugang zu staatlichen Prüfergebnissen und Bewertungen sicherstellen. ({13}) Dieses Ziel verfolgen wir mit unserem Verbraucherinformationsgesetz und mit dem Gesetz zur Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. Mit Geheimniskrämerei ist dann Schluss. Verbraucherinnen und Verbraucher erhalten bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen freien Zugang zu Produktinformationen, die den Behörden vorliegen. Das gilt für Bund, Länder und Gemeinden. Das gilt auch für Informationen über die Beschaffenheit oder die Herstellungsbedingungen und für Hinweise darauf, ob Produkte Allergene enthalten oder ob sonstige Untersuchungsergebnisse vorliegen. Freier Zugang zu Information heißt auch, dass die Behörden darüber hinaus das Recht erhalten, von sich aus über bestimmte Sachverhalte aktiv zu informieren. Auch beim Verstoß gegen verbraucherschützende Vorschriften werden die Behörden Ross und Reiter und schwarze Schafe benennen können. Das ist nicht nur im Sinne der Verbraucher; daran müssen auch die Unternehmen, die sich vorschriftsmäßig verhalten, die eine weiße Weste haben und sich von Machenschaften anderer abgrenzen wollen, ein Interesse haben. ({14}) Bei den Diskussionen im Bundesrat wurde aus BadenWürttemberg getönt, auf dieses Gesetz könne man verzichten, es gebe in Baden-Württemberg ja ein besseres. Weit gefehlt, liebe badischen und schwäbischen Kollegen. Unser Gesetz - es ist zwar in Hochdeutsch verfasst, aber man kann es ins Schwäbische übersetzen - ist besser, denn in dem baden-württembergischen Gesetz hat der Verbraucher keinen allgemeinen Anspruch auf Information. ({15}) Außerdem muss in Baden-Württemberg vor einer Veröffentlichung noch eine Hürde genommen werden: Es muss nachgewiesen werden, ob überhaupt ein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung besteht. Als Drittes muss noch darüber Beweis geführt werden, dass der Veröffentlichung keine betrieblichen Belange entgegenstehen. Diese Hürden und Stolpersteine gibt es bei unserem Verbraucherinformationsgesetz nicht. Wir reden nicht nur darüber, sondern wir handeln auch. Wir schaffen freien Zugang zur Information. ({16}) Eine Kritik, die wir ernst nehmen, kommt dagegen aus den Reihen der Verbraucherzentralen. Ihnen geht das Gesetz nicht weit genug. Auch Unternehmen sollten zur Information verpflichtet werden. Diese Forderung konnten wir in diesem ersten Schritt leider nicht realisieren, aber wir werden sie nicht aus den Augen verlieren. ({17}) - Das habe ich auch nicht behauptet. Es ist immer schon eine Binsenweisheit gewesen, dass man, um nach Peking oder auf den Gipfel eines Berges zu kommen, erst einmal unten beginnen und den ersten Schritt tun muss. Die Unternehmen können aber auch von sich aus beweisen, wie ernst sie die Verbraucherinteressen und die Qualität ihrer Produkte nehmen, indem sie sich eine Selbstverpflichtung auferlegen und entsprechende Veröffentlichungen von sich aus organisieren. ({18}) Dass die Unternehmen gut beraten sind, ihre Geheimniskrämerei aufzugeben, verdeutlicht ein Vorfall bei dem Zigarettenhersteller Philip Morris. Rauchen an sich ist schon nicht besonders gesund, aber die Bedingungen, unter denen Zigaretten hergestellt werden, lassen schon größte Bedenken aufkommen. Laut „taz“ vom 11. März soll Philip Morris wissentlich 40 Jahre lang Zigaretten mit defekten Filtern verkauft haben. Zu diesem Schluss kommen Autoren des Roswell Park Center Cancer Institute in Buffalo, die Forschungs- und Medizindatenbanken des Tabakherstellers durchforstet haben. ({19}) Alle Dokumente beinhalteten den Terminus Fall-out, mit dem plastikartige Fasern beschrieben wurden, die an der Schnittstelle des Filters entstehen und Krebs auslösen können. Die Autoren vermuten, dass der Defekt bei der Hochgeschwindigkeitsherstellung entstehe. Pro Sekunde werden nämlich 250 Zigaretten produziert. Das heißt, dass die Unternehmen nicht nur gehalten sind, über ihre Produkte an sich zu informieren, sondern auch darüber, welche gesundheitsschädigenden Wirkungen von der Herstellung ausgehen können. ({20}) Zum Schluss noch einmal zurück zu unseren Nobelpreisträgern und zur Frage, ob sich staatlicher Verbraucherschutz rechnet, legitim ist und ob er auch entsprechende Wirkungen zeigen kann. Stiglitz, einer der Preisträger und ehemaliger Chefökonom der Weltbank, hat schon früh in seinen Schriften darauf hingewiesen, dass sich informierte Verbraucher in einem Markt mit Qualitätsmängeln nicht nur selbst helfen, indem sie bessere Kaufentscheidungen treffen können, sondern sie darüber hinaus auch einen positiven externen Effekt auf andere Verbraucher ausüben. Durch ihre Kaufentscheidungen ermöglichen informierte Verbraucher anderen weniger informierten Verbrauchern, vom Preis auf die Qualität zu schließen. Dies, so der Ifo-Präsident Sinn, rechtfertigt massive staatliche Unterstützungen - hören Sie gut zu, Frau Kopp - für Institutionen, die Informationen über objektve Produkteigenschaften sammeln und verbreiten. Damit schließt sich nämlich der Kreis. Eine vorsorgende Verbraucherpolitik ist ein positiver Standortfaktor. ({21}) Wenn die Nachfrageseite gestärkt wird, der Verbraucher zu einem Verbündeten für Qualität auf dem Markt wird, dann können nachteilige Folgen des Wettbewerbs für die nationale Wirtschaft sowie für die sozialen, ökologischen und kulturellen Lebensbedingungen abgewehrt werden. Daran werden wir Schritt für Schritt arbeiten, bis wir an diesem Ziel angekommen sind. Danke schön. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Anlehnung an eine Fernsehsendung kann man nach dieser Regierungserklärung nur sagen: Was nun, Frau Künast? Was ist von Ihren flotten Sprüchen, die Sie vor einem Jahr machten, übrig geblieben? Die gestrige Tagespresse gibt Antworten darauf. In der „Berliner Zeitung“ steht: „Künasts Verbrauchergesetz wird abgespeckt“. Die „Welt“ schreibt: Künast setzt schärferen Verbraucherschutz nicht durch. Weiter heißt es: Dabei ist von der ursprünglichen Fassung offenbar nur noch wenig übrig geblieben. Frau Künast, Sie gehen zwar forsch und zum Teil mit Verleumdungen, so wie im „Greenpeace Magazin“ im vorigen Jahr geschehen, gegen die Bauern vor. Wenn aber das Kanzleramt die Industrie vor zu viel Informationspflicht schützt, dann geben Sie klein bei und sind plötzlich mit einer Selbstverpflichtung der Wirtschaft zufrieden. ({0}) Noch verheerender ist das Urteil in der „FAZ“. Dort heißt es gestern: Der Paradigmenwechsel im Künast-Ministerium ersetzt Wissenschaft durch Okkultismus. Treffender kann man die Agrarwende nicht beschreiben. ({1}) Dazu passt, dass der Wissenschaftliche Beirat im November 2001 - dies wurde von Kollegin Widmann-Mauz bereits angesprochen - geschlossen zurückgetreten ist. Sachverstand, Frau Ministerin, ist bei Ihnen nicht gefragt. Erwünscht ist bei Ihnen Hofberichterstattung, um der rotgrünen Argarwende zu huldigen. Die „FAZ“ schreibt weiter: Wissenschaftliche Argumente zählen nicht, das Sagen haben Ideologen. ({2}) Genau das beschreibt die Situation der deutschen Verbraucherschutzpolitik. Auch Ihre Wortwahl, Frau Ministerin, passt zu dem Artikel in der „FAZ“, in dem von Okkultismus die Rede ist. Im Frühjahr vorigen Jahres sprachen Sie vom magischen Sechseck der Agrarwende. Frau Ministerin, Magie hat mit Zauberei zu tun und Zauberei bedeutet, mit allen möglichen Tricks etwas vorzutäuschen. Sie, Frau Ministerin, täuschen mit Ihrer Politik die Verbraucher und gefährden die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft. Frau Künast, Ihre flotten Sprüche sind nur Schall und Rauch. ({3}) Das sehen auch die Wähler so. Die Kommunalwahl, die in Bayern stattgefunden hat, war die 19. Wahl in Folge, bei der die Grünen Stimmen verloren haben. ({4}) Die 20. - dann können Sie Jubiläum feiern - wird in Sachsen-Anhalt stattfinden. Am 22. September schließt sich dann mit der 21. Niederlage Ihr magisches Dreieck. ({5}) Erklären Sie bitte einmal den Verbrauchern - damit komme ich jetzt zu einer Sachaussage -, was das Fütterungsverbot von lebensmitteltauglichem tierischen Fett bei Kälbern in Deutschland mit dem Verbraucherschutz zu tun hat. Wenn die Verfütterung dieser Fette eine Gefahr für unsere Verbraucher darstellt, ist es doch unverantwortlich, wenn Kalbfleisch aus Belgien, Holland oder Frankreich bei uns verkauft werden darf. In diesen Ländern wird nämlich genau das gleiche tierische Fett verwendet. Was nun, Frau Künast? Verbieten Sie sofort den Import von Kalbfleisch nach Deutschland oder lassen Sie in Deutschland die Beimischung von tierischem Fett in Milchaustauschern wieder zu? ({6}) Wir lassen nicht zu, dass Sie sich bei diesem Thema durchmogeln. Mit der jetzigen Regelung vertreiben Sie die Kälbermast aus Deutschland. Ist es im Sinne des Tierschutzes und des Umweltschutzes, wenn Kälber aus Deutschland in das europäische Ausland transportiert werden und das Fleisch dieser Tiere von dort wenig später wieder in die deutschen Supermärkte gelangt? An dem Beispiel sieht man, wie weit Sie von der Realität entfernt sind. ({7}) Bauern, die ihren Beruf erlernt haben, werden gezwungen, einen Sachkundenachweis nach dem anderen zu erbringen. Wichtiger wäre es, wenn auch Minister, bevor sie ihr Amt antreten, einen Sachkundenachweis erbringen müssten. ({8}) Damit wäre uns einiges an verbraucher- und agrarpolitischer Zauberei in Deutschland erspart geblieben. Frau Verbraucherschutzministerin, wie ist es mit Inhaltsstoffen in Lebensmitteln, die in Deutschland verboten, in anderen EU-Ländern jedoch zugelassen sind? Wo ist Ihr Aufschrei, wenn Lebensmittel aus anderen EULändern mit bei uns verbotenen Inhaltsstoffen in Deutschland verkauft werden? Was nun, Frau Künast? Werden Sie die Importe solcher Lebensmittel im Interesse des Verbraucherschutzes verbieten oder ist weiterhin Schweigen im Walde? Ist es nicht eine Verhöhnung der deutschen Obst- und Gemüsebauern, wenn Obst und Gemüse aus anderen EU-Ländern hier in Deutschland verkauft werden darf, das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt ist, die in Deutschland verboten sind? Genau in der Woche, in der wir dieses Thema im Verbraucherausschuss behandelt haben, sind auf der Fraktionsebene im Reichstag Äpfel aus Italien verteilt worden. Was nun, Frau Künast? Sind diese Pflanzenschutzmittel eine Gefahr für die Verbraucher oder nicht? ({9}) Was ist mit den riesigen Tiermehlbeständen in der Europäischen Union? Es besteht doch die Gefahr, dass diese Bestände gehortet werden, bis die Europäische Union die Verfütterung von Tiermehl an Schweine und Geflügel wieder zulässt. Graefe zu Baringdorf hat davon bereits gesprochen. ({10}) Wann werden Sie im Ministerrat einen Beschluss durchsetzen, dass diese Altbestände schnellstens beseitigt werden müssen? Sonst müssen wir nach der Aufhebung des Fütterungsverbotes wieder fragen: Was nun, Frau Künast? ({11}) Die „FAZ“ wird dann eventuell schreiben, dass das Problem mit Okkultismus nicht zu lösen ist. Dazu sind Sachpolitik und Durchsetzungsvermögen in Brüssel gefordert. Beides vermissen Verbraucher und Erzeuger bei der deutschen Verbraucherschutzministerin. Nicht nur drei deutsche Tageszeitungen setzen sich, wie eingangs bemerkt - die Aufzählung hätte auch beliebig fortgesetzt werden können -, kritisch mit der Verbraucherschutzpolitik der rot-grünen Bundesregierung auseinander. Noch vernichtender ist das Urteil von ExAgrarminister Funke. In einer Pressemitteilung vom 23. Januar 2002 heißt es, er lasse kein gutes Haar an seiner Nachfolgerin. Er bilanziert, Frau Künasts ganzes Konzept sei unrealistisch. Es würden unberechtigterweise Ängste bei den Verbrauchern geschürt. Die deutsche Landwirtschaft verliere an Wertschöpfung und Arbeitsplätzen. Er meint auch, vieles könne er nur noch ironisch kommentieren. Ein vernichtendes Urteil von Herrn Funke. Doch wo er Recht hat, hat er Recht, auch wenn er der SPD angehört. ({12}) Selbst Peter Struck hat in Sachsen-Anhalt einige Forderungen der grünen Ministerin als abenteuerlich bezeichnet. In einem freien Markt in Europa werden dem Verbraucherschutz nationale Alleingänge nicht gerecht. Die CDU/CSU tritt dafür ein, den Verbraucherschutz europaweit gleichrangig zu verbessern. Dazu sind statt flotter Sprüche in Deutschland sachbezogene Verhandlungen in Brüssel notwendig. Auch für Importe aus Drittländern sind die gleichen Standards im Verbraucherschutz erforderlich, wie sie der deutschen Landwirtschaft abverlangt werden. ({13}) Wer sich nur auf Kosten einer Minderheit politisch profiliert - wie Sie das tun, Frau Ministerin -, vertreibt die Agrarproduktion aus Deutschland und erreicht damit nicht mehr, sondern weniger Verbraucherschutz. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein letzter Satz: Die CDU/ CSU will einen Verbraucherschutz, aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, mit den Bauern und nicht einen ideologisch ausgerichteten Verbraucherschutz gegen die Bauern. ({0}) Kein Berufsstand hat an einer verbraucherorientierten Lebensmittelerzeugung mehr Interesse als unsere Bauern selbst. Nur zufriedene Verbraucher bleiben auch zufriedene Kunden. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt von Bündnis 90/ Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Deß stellt hier die Frage, ({0}) was die Kälbermast mit dem Verbraucherschutz zu tun hat. Wer diese Frage nach dem BSE-Skandal noch stellt, der hat anscheinend überhaupt nicht verstanden, worum es beim Verbraucherschutz geht. ({1}) Ich habe in Ihrem ganzen Redebeitrag nur Polemik gehört, ({2}) aber keinen einzigen eigenständigen Vorschlag, ({3}) wie die Verbraucher in Zukunft besser geschützt werden sollen. Fakt ist: Sie haben den Verbraucherschutz als Politikfeld überhaupt noch nicht erobert. Fakt ist: Wir haben den Verbraucherschutz in einem Ministerium zusammengefasst und damit gestärkt. Fakt ist: Dies ist die erste Regierungserklärung im Deutschen Bundestag zum Thema Verbraucherschutz. ({4}) Fakt ist: Die Verbraucher haben in der Person von Renate Künast im Parlament und in der Regierung erstmalig eine Stimme. ({5}) Worum geht es? Es geht beim Verbraucherschutz im Prinzip um einen Dreiklang: Erstens. Die Verbraucher müssen die freie Wahl haben. Darauf komme ich noch zurück. Zweitens. Die Verbraucher müssen an Informationen herankommen können, um in ihrem Interesse sachkundig entscheiden zu können. ({6}) Drittens. Der Staat ist dafür verantwortlich, die Gesundheit der Verbraucher zu schützen und außerdem den Schutz vor Betrug zu gewährleisten. Das sind die drei Säulen des Verbraucherschutzes, für die sich Renate Künast zusammen mit dem Verbraucherschutzministerium verantwortlich fühlt. Herr Deß, ich kann nur sagen: Ich habe in die Sachkompetenz von Renate Künast als Verbraucherschutzministerin tausendmal mehr Vertrauen - wenn man sieht, wie beliebt Renate Künast ist, dann muss man sagen: auch die Bürger ({7}) als in Ihren ehemaligen Landwirtschaftsminister. Sie haben damals den Dicksten aus Ihrer Fraktion, der am engsten mit den Lobbyisten der Bauernschaft verbunden ist, zum Landwirtschaftsminister gemacht. ({8}) Spätestens seit der BSE-Krise konnte man sehen, dass er die Interessen der Verbraucher nicht vertreten hat. ({9}) Zum Verbraucherschutz gehört, dass die Verbraucher eine Wahl haben. ({10}) Wir haben die Liberalisierung bestimmter Märkte schon hinter uns. Wir können uns doch noch daran erinnern, wie befreit man sich gefühlt hat, als man den Telefondienstleister selbst wählen konnte. Dieser Wettbewerb hat zu weit gehenden Preisnachlässen bei den Telefontarifen geführt. Es gibt jetzt auch die Liberalisierung des Energiemarktes. Auf dem Papier haben wir zwar eine 100-prozentige Marktöffnung. Aber wenn man sich die Zahlen anschaut, wie groß die faktische Öffnung des Energiemarktes ist - ich habe die entsprechenden Zahlen aus einer Quelle der EU -, dann zeichnet sich folgendes Bild ab: Finnland 20 bis 30 Prozent, die Niederlande 10 bis 20 Prozent, Großbritannien 40 bis 50 Prozent. In Deutschland haben wir eine faktische Marktöffnung von nur 5 bis 10 Prozent. Das heißt, dass der Verbraucher in diesem Bereich immer noch nicht die freie Wahl bei den Stromlieferanten hat. Je kleiner der Kunde ist, umso mehr muss bei der Liberalisierung darauf geachtet werden, dass die Interessen des Verbrauchers berücksichtigt werden. Dass die Großindustrie bei der Liberalisierung ihre Interessen durchsetzen kann, ist einleuchtend. Sie tut das auch. Es ist aber überhaupt nicht gewährleistet, dass sich der einzelne Kunde durchsetzen kann. Dies im Auge zu haben gehört zum Verbraucherschutz dazu. ({11}) Auf der Tagesordnung steht noch die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes. Wir haben darauf gedrängt, dass hier nicht nur der Gasbereich berücksichtigt wird, sondern dass in diesem Zusammenhang auch über Strom geredet wird. Die Verbändevereinbarung muss endlich verrechtlicht werden, damit auch der einzelne Kunde in der Lage ist zu klagen. Wir wollen, dass das Kartellamt in seiner Funktion durch die Möglichkeit des Sofortvollzugs gestärkt wird. Im Zweifelsfall soll nicht erst der kleine Verbraucher den großen Stromkonzern verklagen, weil er dann drei, vier oder fünf Jahre warten und viel Geld ausgeben muss, um sein Recht zu bekommen. Wir wollen vielmehr, dass das Kartellamt eine Schutzfunktion hat und quasi eine Regulierungsbehörde in Deutschland darstellt, damit der Verbraucher schnell und zügig zu seinem Recht kommt. ({12}) Dazu gehört auch - Renate Künast und auch andere haben das bereits angesprochen -, dass man dafür sorgt, dass es auf diesen Märkten eine Vielfalt der Akteure gibt. Wenn es nämlich nur zwei oder drei Anbieter gibt, dann hat man keine freie Wahl. Die andere Seite ist also, für die Vielfalt der Akteure und damit für Wahlfreiheit zu sorgen. Deswegen sind Fusionen in diesen Märkten - Renate Künast hat es angesprochen - unter dem Aspekt der Verbraucherschutzinteressen durchaus kritisch zu betrachten. Wenn das Kartellamt zum Beispiel bei der Fusion von Eon und Ruhrgas sagt, hier entstehe ein marktbeherrschender Konzern im Gas- und Strombereich, dann ist unter dem Aspekt der Verbraucherschutzinteressen ein sehr kritischer Blick darauf zu werfen. ({13}) Im Übrigen habe ich gehört, dass Herr Rexrodt diese Fusion begrüßt. Zugleich ist er - das halte ich in diesem Zusammenhang für sehr interessant - im Vorstand einer PR-Agentur, die BP vertritt. BP hat aber ein Interesse an dieser Fusion. Die Liberalität scheint also dann aufzuhören, wenn der schnöde Mammon beginnt. ({14}) Wichtig ist Transparenz. Im Hinblick auf die Energiemärkte ist von Bedeutung, dass die Bürger wissen, woher ihr Strom kommt. Der Strom aus der Steckdose hat keine Farbe. Daher unterstützen wir die Europäische Union in ihren Bemühungen um den Aufbau eines Zertifizierungssystems, das die Voraussetzung dafür ist, dass man wählen kann, ob man Atomstrom, Strom aus erneuerbaren Energien, einen durchschnittlichen Strommix oder Strom aus der Region kauft. Auch dies ist Teil der Vertretung von Verbraucherinteressen. In diesem Zusammenhang muss ich einer meiner Vorrednerinnen leider widersprechen, die behauptet hat, dass wir die Energieberatung abgebaut hätten. ({15}) Das stimmt schlichtweg nicht. Im Jahr 2002 haben wir circa 15 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt, 6 Millionen DM mehr als im Jahre 2001. ({16}) Angesichts der knappen Haushaltskassen ist das eine beachtliche Steigerung der Förderung der Energieeinsparberatung; dies zeigt, dass wir ihr einen besonders wichtigen Stellenwert beimessen. ({17}) Dasselbe gilt für die Unterstützung der Verbraucherberatung insgesamt. Der Haushaltsansatz für den Dachverband lag im Jahr 2000 bei 8,5 Millionen Euro, im Jahr 2001 bei 9,3 Millionen Euro und im Jahr 2002 bei 11,5 Millionen Euro. Diese Stärkung der Verbraucherberatung zeigt, dass der Verbraucherschutz durch das Verbraucherschutzministerium in Parlament und Kabinett an Bedeutung gewonnen hat. Ich danke Ihnen. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der FDP-Fraktion.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel Ihrer Regierungserklärung „Auf dem Weg in eine verbraucherorientierte Marktwirtschaft“ macht wenig Sinn, Frau Künast. Eine Marktwirtschaft, die Angebot und Nachfrage in Einklang bringt, ist automatisch verbraucherorientiert. Marktwirtschaft beinhaltet bereits Verbraucherschutz. ({0}) Insofern kann ich heute Morgen nur staunen; denn man hat den Eindruck, das Thema Verbraucherschutz sei etwas ganz Neues. In Wirklichkeit ist es fast so alt wie Methusalem. Deshalb brauchen wir keine Worthülsen wie „verbraucherorientierte Marktwirtschaft“. Vielmehr brauchen wir ein schlüssiges Konzept für einen ganzheitlichen Verbraucherschutz. ({1}) Alles, was bislang an Vorschlägen aus dem Verbraucherschutzministerium bekannt geworden ist, zeigt, dass sich Verbraucherschutz nach den Vorstellungen von Frau Künast auf den Bereich der Lebensmittelsicherheit beschränkt. ({2}) Was ist denn diese so genannte Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes anderes als das bloße Durcheinanderwürfeln bereits bestehender nachgeordneter Einrichtungen des BMVEL? ({3}) Sehr geehrte Frau Künast, die Bürger haben sich mehr als das bloße Auswechseln irgendwelcher Türschilder erhofft: „Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit“ statt „Bundesamt für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin“. Und das soll eine Neuorganisation des Verbraucherschutzes sein? Wenn Ihnen nicht mehr einfällt, ist das ein politischer Offenbarungseid. ({4}) Sie hätten doch nur die Vorgaben des Von-Wedel-Berichtes umsetzen müssen. Aber nicht einmal dazu hat es gereicht. Im Gegenteil: Die Vorschläge der Bundesregierung stehen den in dem Von-Wedel-Gutachten erhobenen Forderungen zum Teil diametral entgegen. Deshalb haben sich auch die Wissenschaftler des BgVV in einem offenen Brief gegen Ihre Vorschläge für eine Neukonzeption des Verbraucherschutzes ausgesprochen. Wenn Sie sich schon den konstruktiven Vorschlägen der Opposition verschließen, sollten Sie zumindest auf Ihre Mitarbeiter hören, Frau Künast. ({5}) Wie wollen Sie die von Ihnen gewünschten strukturellen Änderungen umsetzen, wenn Sie für Ihre eigenen Mitarbeiter nur noch über offene Briefe zu erreichen sind? Wie kommt es, dass Sie trotz der Kompetenz Ihrer Mitarbeiter nicht in der Lage sind, ein schlüssiges Konzept für eine effiziente Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes vorzulegen? ({6}) Ihre bisherigen Vorschläge, verehrte Frau Künast, führen nicht zu einer Neuorganisation; sie stellen ein staatliches Bürokratieförderprogramm dar. ({7}) In vier Jahren der Regierungsverantwortung sind die Grünen zu regelrechten Ärmelschonerfetischisten geworden. Immer dann, wenn die Grünen an die Lösung eines Problems herangehen, steht am Ende ein neues Behördenungetüm. Das bringt nicht mehr Umwelt-, Gesundheitsoder gar Verbraucherschutz. Nach grüner Philosophie soll es wohl zeigen, dass man „etwas gemacht“ hat. Der Staat braucht nach vier Jahren grüner Bürokratiemast dringend eine Entschlackungs- und Abmagerungskur. ({8}) Die FDP ist da die geeignete Diätassistentin. Ein Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel mit sage und schreibe vier Einvernehmensbehörden führt zu einem definitiven Bürokratie-Overkill. Frau Künast wird in ihrer Bürokratieverliebtheit nur noch von ihrem grünen Kollegen Jürgen Trittin übertroffen. Jürgen Trittin, der Heilige Bürokratius in Person, Schutzpatron aller Bürokraten, ({9}) bringt es bei der Umsetzung der EU-Biozid-Richtlinie sogar auf sieben beteiligte Behörden. Das Fatale dabei ist, dass diese Bürokratieexzesse nicht ein Mehr an Verbraucherschutz bringen. Sie kosten vor allem Geld, und zwar das Geld der Verbraucher. Marktwirtschaft und Verbraucherschutz sind kein Widerspruch, Bürokratie und Verbraucherschutz aber sehr wohl. ({10}) Ein schlanker Staat ist für die FDP auch eine Form von praktiziertem Verbraucherschutz. Das Umweltbundesamt blockiert bereits heute die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Das Trauerspiel um die Zulassung von Plantomycin gegen den Feuerbrand im Obstbau hat eindrucksvoll die Ineffizienz des deutschen Zulassungssystems belegt. Dabei haben wir zurzeit nur zwei beteiligte Behörden. Sich vorzustellen, wie es erst mit vier Einvernehmensbehören sein wird, überlasse ich Ihrer Fantasie.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Sehn, kommen Sie bitte zum Schluss.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Anstatt, wie im Von-Wedel-Gutachten gefordert, eine klare Struktur aufzubauen, schafft Frau Künast ein regelrechtes Behörden- und Kompetenzwirrwarr. Das ist kein Verbraucherschutz, das ist eine institutionalisierte Form der Verbraucherverunsicherung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Sehn!

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. ({0}) Die Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes könnte ein Wendepunkt in der Verbraucherpolitik sein. Sie könnte ein Beleg dafür sein, wie die Politik Strukturen sinnvoll zusammenführt. Sie könnte damit zu einem Sinnbild eines schlanken, modernen Staates werden. Die Bundesregierung ist offensichtlich außerstande, diese Chance zu nutzen. Echter Verbraucherschutz ist deshalb, die Bürger unseres Landes vor dieser verbrauchten Regierung zu schützen. Danke. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Bleser von der CDU/CSU-Fraktion.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Umfrage hat ergeben, dass die meisten Menschen neben der Medizin die Ernährung als maßgebend für den Erhalt ihrer Gesundheit ansehen. Es ist also verständlich, dass Väter und Mütter höchst sensibel reagieren, wenn Lebensmittelskandale bekannt werden oder die Qualität von bestimmten Lebensmitteln in Zweifel gezogen wird. Die Lebensmittelskandale der letzten drei Jahre haben die Menschen misstrauisch und unsicher gemacht. Wir, die CDU/CSU, nehmen die Sorgen der Menschen, gerade wenn es um die Qualität unserer Nahrungsmittel geht, sehr ernst. Die Bundesregierung und Sie, Frau Künast, haben die Verängstigung hingegen genutzt, um eine Ihrer links-grünen Ideologie entsprechende Agrarwende zu begründen. ({0}) Der Bundeskanzler und Sie haben von „Masse statt Klasse“ gesprochen und die Abschaffung der Agrarfabriken gefordert. Die modern und nachhaltig produzierende Landwirtschaft haben Sie zu Ihrem Feindbild erklärt. Frau Künast, Sie sind jetzt 14 Monate im Amt. - Vielleicht hören Sie auch einmal zu. - Wir fragen Sie deshalb: Was haben Sie in dieser Zeit ganz konkret zur Verbesserung des Verbraucherschutzes umgesetzt? ({1}) Sind etwa irgendwo in Deutschland Agrarfabriken geschlossen worden? Mir jedenfalls ist nichts davon bekannt geworden. ({2}) Die gesetzlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit BSE zum Beispiel wurden noch zusammen mit uns von Ihrem Vorgänger eingeleitet. Sie haben sich auf Sprüche beschränkt, denen keine Taten gefolgt sind. Frau Künast, Sie waren einfach nur laut. ({3}) Obwohl Sie alle Zeit und alle Chancen hatten, die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen, haben Sie schon im Januar dieses Jahres bei der Abwehr gesundheitlicher Gefahren durch aus China importierte Shrimps kläglich versagt. ({4}) Einige Hundert Tonnen verseuchten Futters sind in die Nahrungsmittelkette gelangt, Frau Künast. Sie haben es bis heute nicht geschafft, die unterschiedlichen Vorgehensweisen der Bundesländer im Bereich der Lebensmittelüberwachung zu koordinieren. Bis heute kommen in Deutschland Lebensmittel ohne entsprechende Kennzeichnung im Wert von 37,3 Milliarden Euro auf den Markt, welche zu einem überwiegenden Teil zu Bedingungen erzeugt worden sind, die in Deutschland nicht genehmigt worden wären. So dürfen selbst in den EU-Staaten Pflanzenschutzmittel angewendet werden, die bei uns verboten sind. Aber Obst und Gemüse, die mit diesen Pflanzenschutzmitteln behandelt werden, sind dann, wenn sie aus anderen EU-Staaten kommen, bei uns verkehrsfähig, während entsprechend behandelte einheimische Produkte nicht abgesetzt werden dürfen. ({5}) Frau Ministerin, so geschickt wie Sie hat bisher noch kaum jemand die deutschen Verbraucher getäuscht. Anspruch und Handeln liegen bei Ihnen intergalaktisch weit auseinander. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, werden jetzt sicher einwenden, dass Sie doch immerhin das Biosiegel eingeführt haben, ein Siegel, das sich an den niedrigeren europäischen Standards orientiert. Damit haben Sie den deutschen Biobauern einen Bärendienst erwiesen, die bei ihrer Produktion viel strengere Kriterien anlegen. ({6}) Haben Sie das etwa mit Ihrem Spruch „Klasse statt Masse“ gemeint? Umgekehrt würde ein Schuh daraus. Im Übrigen hat mir auf eine Anfrage im September letzten Jahres Ihr Staatssekretär Dr. Thalheim ({7}) bestätigt, dass bei uns Produkte aus der ökologischen Landwirtschaft nicht der staatlichen Lebensmittelüberwachung unterliegen. Auch dies haben Sie bisher nicht geändert. ({8}) Vielleicht wird das jetzt anders. Sie wollen zwei neue Bundeseinrichtungen schaffen, ein Bundesinstitut für Risikobewertung und ein Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Dabei sollen Risikobewertung und Risikomanagement auch noch an unterschiedlichen Standorten getrennt wahrgenommen werden. Schon diese Konstruktion lässt erkennen, dass hierbei nichts Gescheites herauskommen kann. Denn nur wer das Risiko bewerten kann, kann auch die entsprechenden Empfehlungen für dessen Beseitigung erarbeiten. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern diese Meinung vertreten auch die Mitarbeiter des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, was in einem Brief an Sie, Frau Künast, vom Februar dieses Jahres deutlich wird. Im diesem Brief heißt es: Das geplante Bundesamt kann, wenn es die Bewertung nicht zu seiner Kernkompetenz zählen und auf das geplante Bundesinstitut angewiesen sein soll, seine eigenen Entscheidungen und Ratschläge kaum selbst verantworten. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({9}) Wir von der CDU fordern unabhängige wissenschaftliche Lenkungsausschüsse zum Beispiel für Lebensmittelsicherheit, Produktsicherheit oder zur Unterstützung einer nachhaltigen Pflanzenproduktion auf EU-Ebene mit nationaler Spiegelung. Die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse können dann Grundlage für politisches Handeln werden. Ihnen, Frau Künast, ist wissenschaftliche Unabhängigkeit allerdings ein Dorn im Auge. Den wissenschaftlichen Beirat in Ihrem Haus haben Sie deshalb mit Ihnen nahe stehenden Personen besetzt. ({10}) Sie scheuen eine wissenschaftliche Debatte, weil Sie um Ihr grün-ideologisches Weltbild fürchten. Wer glaubt, dass das Durcheinander damit ein Ende hat, irrt. Ganz im Gegenteil: Es kommt zu einer weiteren Steigerung. Sie haben gestern ein Verbraucherschutzgesetz durch das Kabinett gebracht; ({11}) vielmehr das, was davon noch übrig geblieben ist. Nun hören Sie zu: Darin heißt es unter anderem, dass Sie mit zusätzlichen Warn- und Auskunftspflichten den bewussten Einkauf nach ethischen Wertvorstellungen ermöglichen wollen. Wer sagt, was ethisch ist? Machen Sie das, Frau Künast, oder haben wir einen weiteren Ethikrat zu erwarten? ({12}) Ein gravierender Nachteil des Gesetzentwurfes ist aber auch - das muss hier immer wieder angesprochen werden -, dass er nur die heimischen Produzenten und Produkte und nicht die importierten Waren betrifft. Meine Damen und Herren, es gäbe durchaus die Möglichkeit, Verbraucherinformationen zu verbessern und gleichzeitig eine qualitätssteigernde Wirkung zu erzielen. Ich meine die große Palette von No-Name-Produkten, auch Eigenmarken großer Handelsunternehmen genannt. Insbesondere der Lebensmitteleinzelhandel kann in diesem Bereich keine Transparenz und Klarheit vom Acker über den Stall und den Hersteller bis zur Ladentheke für sich in Anspruch nehmen. Dazu, den leicht erkennbaren Namen des Herstellers auf der angebotenen Ware zu verlangen, hat dieser Regierung der Mut gefehlt. Wir werden dieses Thema aufgreifen. Beispielhaft geht hier der Deutsche Bauernverband vor. Mit der Einführung eines eigenen Qualitätssiegels will er, beim Schweinefleisch beginnend, Transparenz vom Stall bis zur Ladentheke herstellen. ({13}) Damit erreicht der Bauernverband etwas, was der Ministerin weder national noch auf EU-Ebene gelungen ist, nämlich den völligen Verzicht auf antibiotische Leistungsförderer in der Schweinemast als Voraussetzung für die Teilnahme an dem Qualitätszeichen „QS“ vorzuschreiben. Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Die rot-grüne Bundesregierung hinterlässt in der Verbraucherpolitik ein Chaos. ({14}) Die Lebensmittelproduzenten stellen wegen der Unklarheit der zukünftigen Linie der Ernährungs- und Verbraucherschutzpolitik Investitionen zurück. Das kostet Arbeitsplätze. Die Verbraucher sind verunsicherter als je zuvor. ({15}) Wir, die CDU/CSU, werden nach der Wahl ein neues Kapitel in der Verbraucherschutzpolitik aufschlagen. ({16}) Zusammen mit den Verbraucherschutzorganisationen und der Wirtschaft wollen wir die Position der Verbraucher am Markt weit über den Ernährungsbereich hinaus erheblich stärken. Die programmatischen Vorarbeiten hierzu sind bereits weitgehend abgeschlossen. ({17}) Danke schön.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Imhof.

Barbara Imhof (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gesundheitliche Verbraucherschutz, über den ich heute hier noch einmal kurz sprechen will, greift eigentlich in alle Bereiche des Verbraucherschutzes hinein. Logischerweise ist eine Abgrenzung manchmal sehr schwierig. Fest steht allerdings - ich hoffe, darin sind wir uns in diesem Hohen Hause alle einig -, dass die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger das kostbarste Gut ist; das gilt es zu bewahren. ({0}) - Ja, da dürfen Sie gerne klatschen. - Wir fangen damit bereits sehr weit im Vorfeld an, und zwar mit einer guten Informationspolitik und einem erheblich erweiterten Informationszugang für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die manchmal leider auch Patientinnen und Patienten sind. Man kann sich allerdings etwas wundern, wenn man sich manche Presseberichte der vergangenen Tage anschaut, die sich mit dem Verbraucherinformationsgesetz beschäftigen. Hier und da wird kräftig gemeckert. Das ist bei neuen Gesetzen ja nicht so ungewöhnlich. Den Unternehmern geht das Gesetz immer noch zu weit. Manchmal ist sogar von Existenzgefährdung die Rede. Ich möchte darauf hinweisen, dass es manche Hersteller in der Vergangenheit auch ganz gut ohne unsere Hilfe geschafft haben, sich in existenzgefährdende Absatzkrisen zu manövrieren. Ich denke dabei an die bereits vielfach zitierten Lebensmittelskandale - das kann man gar nicht oft genug sagen -: an Tiermehl in Futtermitteln, an Antibiotika wie Streptomycin in Bienenhonig, an verseuchte Shrimps - diese sind auch schon erwähnt worden -, an Salmonellen in Schokolade usw. Dabei kann einem der Appetit wirklich kräftig vergehen. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Manche Hersteller konnten sich in der Vergangenheit sicher fühlen - meiner Meinung nach viel zu sicher -, wenn es darum ging, gesundheitsbeeinträchtigende Mittel in den Lebensmittelkreislauf hineinzubringen. Wir aber haben uns zum Ziel gesetzt, dass sich die Menschen in unserem Land, die ja auch Kundinnen und Kunden sind, sicher fühlen, wenn sie Lebensmittel, Pflegeprodukte oder Medikamente kaufen und verbrauchen. Auf der anderen Seite bedrängen uns natürlich auch die schon zitierten Verbraucherorganisationen, denen unsere Maßnahmen zur Stärkung des Verbraucherschutzes nicht schnell und nicht weit genug gehen. Dafür haben wir Verständnis. Aber ich möchte genau an deren Adresse deutlich hervorheben, dass uns ihre Mitwirkung und ihre Stärkung ein ganz zentrales Anliegen sind. Frau Ministerin Künast und auch unsere verbraucherpolitische Sprecherin, Frau Teuchner, haben das vorhin sehr deutlich gesagt. Nach Jahren des Stillstands, des Auf-der-Stelle-Tretens und zum Teil auch des Wegschauens haben wir jetzt mit vielen kleinen Schritten in die richtige Richtung - auch kleine Schritte sind Schritte - bewiesen, dass wir uns auch beim gesundheitspolitischen Verbraucherschutz nicht auf Lippenbekenntnisse beschränken. Aber wir wissen natürlich auch, dass noch sehr viel Arbeit vor uns liegt. Wir sind wild entschlossen, sie in Angriff zu nehmen. ({1}) Die Verbraucher bei ihrem selbstständigen Handeln zu unterstützen und ihnen so viel Informationen wie möglich an die Hand zu geben, das zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Verbraucherpolitik. Wir wollen Vorsorge und Chancengleichheit beim Informationszugang ermöglichen. Durch das Verbraucherinformationsgesetz wird aber auch erreicht, dass den Behörden nicht mehr wie so oft in der Vergangenheit die Hände gebunden sind, wenn es um die Vermittlung und Weitergabe von Informationen geht. Sie müssen nun sogar von sich aus warnen, wenn sie Gesundheitsgefahren befürchten. Aber auch wenn keine Gefahr im Verzug ist, wenn es nur darum geht, dass auf dem Etikett einer Wurstkonserve steht, dass kein Rindfleisch darin enthalten ist, dies aber nicht den Tatsachen entspricht, können sie die Verbraucherinnen und Verbraucher von sich aus darüber informieren. Wir treffen damit Vorsorge vor möglichen gesundheitlichen Gefahren. Aber dieses Vorgehen schützt natürlich auch die verantwortungsvollen Erzeuger und Hersteller von Lebensmitteln. Wir können uns sicherlich noch alle gut daran erinnern - es ist noch nicht so lange her -, wie viele Landwirte durch den BSE-Skandal an den Rand ihrer Existenz gedrängt worden sind, weil die Verbraucher - dabei möchte ich mich persönlich einschließen - total verunsichert waren und allem und jedem misstraut haben. ({2}) Unser Verbraucherinformationsgesetz bietet eine gute Grundlage, um dieses Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Das wird - da bin ich ganz sicher - allen Seiten nutzen. ({3}) Dies wird auch an den Gesetzen deutlich, die wir auf den Weg gebracht haben und die ganz besonders den gesundheitlichen Verbraucherschutz in den Mittelpunkt gestellt und gestärkt haben, zum Beispiel das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz, das unter anderem die Pflegequalität, die Qualitätssicherung und die Kontrolle zum Ziel hat, und das Medizinproduktegesetz, in dem es unter anderem um die effiziente Überwachung von Medizinprodukten geht. Auch fördern wir - das will ich an dieser Stelle ebenfalls sagen - Modellvorhaben unabhängiger Einrichtungen, die sich die Beratung und die Aufklärung von Patientinnen und Patienten zum Ziel gesetzt haben. Gerade kranke Menschen, aber auch ihre Angehörigen sind oft verängstigt und verunsichert. Sie sind oft in einer Ausnahmesituation und glauben manchmal - das hängt mit alten Strukturen und der Angst vor den „Weißkitteln“ zusammen -, am kürzeren Hebel zu sitzen. Wir wollen, dass Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte und auch die Vertreter der Krankenkassen auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren. ({4}) Wir wollen Patientinnen und Patienten, die manchmal sehr weitgehende Entscheidungen für ihr Leben treffen müssen, in ihrer Verantwortung für sich selbst stärken und unterstützen. Wir wollen mündige Patientinnen und Patienten sowie mündige Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich denke, diesem Ziel sind wir heute ein ganz großes Stück näher gekommen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Heiderich.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Presselandschaft gestern war eindeutig, und zwar eindeutig vernichtend. Die Ankündigungsministerin Künast ist erneut um Längen hinter ihren großen Sprüchen zurückgeblieben. ({0}) Wenn Sie sich, Frau Ministerin, vorhin mit Dornröschen in Beziehung gebracht haben, muss ich Ihnen sagen: Sie kommen mir eher vor wie die Nina Hagen der Verbraucherpolitik: große Röhre, grelle Auftritte, doch wenn das Scheinwerferlicht aus und die Schminke ab ist, bleibt nur viel Ernüchterung und viel grau in grau. ({1}) Ihren Vorgänger im Amt muss ich nicht mehr zitieren, Albert Deß hat das vorhin zur Genüge getan. Sie, Frau Ministerin, haben am 8. Februar 2001 an dieser Stelle vollmundig erklärt: „Verbraucherschutz wird jetzt endlich unter einem Dach gebündelt“. Sie sind mit diesem großen Anspruch genauso gescheitert wie mit vielen anderen Ihrer vollmundigen Erklärungen. So hat Ihr Haus beispielsweise immer noch keine Zuständigkeiten für Trinkwasser oder für die Zulassung von Chemikalien, wie wir das gerade aktuell beim Biozid-Gesetz feststellen. Aber auch bei anderen Verbraucherschutzthemen - Sie haben sie vorhin aufgelistet - wie Strahlenschutz beim Mobilfunk oder Finanzdienstleistungen müssen Sie bei anderen Ministerien Anleihen nehmen, weil Sie selbst bei weitem noch nicht das an Zuständigkeiten haben, was Sie versprochen haben. Statt notwendiger Aufgabenbündelung haben Sie mit Ihrer neuen Organisationsstruktur an den Erfordernissen von Praxis und Wissenschaft vorbei gehandelt. Die Trennung in ein Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie ein Bundesinstitut für Risikobewertung verlängert die Entscheidungswege und schafft neue bürokratische Hürden. So nennen auch die Verbraucherverbände die von Ihnen durchgezogene Aufteilung kontraproduktiv. Dabei hatte das Von-Wedel-Gutachten gefordert, unnötige Schnittstellen und Doppelarbeit zu beseitigen. Zu einem ähnlich negativen Urteil wie die Verbraucherverbände kommt der Bundesverband für Tiergesundheit, wenn er zur bisherigen Praxis feststellt, dass gerade die Gesamtverantwortung, in der alle Zulassungsschritte von der Beurteilung der einzelnen Dossiers bis zur Erteilung des Zulassungsbescheides zusammengeführt wurden, zu einer erheblichen Steigerung der Effizienz bei Einhaltung höchster Zulassungsstandards geführt habe. Risikobewertung und Risikomanagement können - so meine ich - nur in enger gegenseitiger Abstimmung auf der Basis einer hohen Fachkenntnis erfolgreich durchgeführt werden. Jetzt - so sagt auch der Bundesverband werde der Verfahrensablauf weiter verlängert. Zusätzlicher Abstimmungsbedarf mit der europäischen Behörde werde notwendig und in der Folge würden die überwiegend mittelständischen national operierenden Unternehmen die Verlierer der Umstrukturierung sein. - So viel zu Ihrem neuen Weg in der Marktwirtschaft. Noch eine Stufe kritischer wird Ihre Festlegung gesehen, wonach künftig BBA, BfR, UBA und BVL als Einvernehmensbehörden fungieren müssen. Jede Bewertungsbehörde müsse also - so schreiben es die Fachleute wissenschaftliche Teilbereiche der anderen Bewertungsbehörden mit bearbeiten und damit Doppelarbeit leisten. Das Ganze führe letztlich zu einem Mammutverfahren, das konträr zu den Erkenntnissen des Von-Wedel-Gutachtens stehe. - So die Fachleute und die Wissenschaft, aber von denen halten Sie ja, wie vorhin zu hören war, relativ wenig. Insgesamt muss eine Abkoppelung von eigener Forschung - das ist eigentlich einleuchtend - auf Dauer ein Risikomanagement, das ja an der aktuellen wissenschaftlichen Entwicklung orientiert sein muss, zunehmend problematisch werden lassen. So schreibt auch das Von-Wedel-Gutachten konsequenterweise, dass eine valide wissenschaftliche Politikberatung durch eine Institution ohne eigene qualifizierte wissenschaftliche Arbeit nicht möglich sei. Der Kompetenzwirrwarr in Ihrem Hause ist also keineswegs behoben und Ihre großartige Ankündigung vom vergangenen Jahr wieder einmal nichts als heiße Luft. Lassen Sie mich an einem Beispiel ausführen, wie schlecht der Verbraucherschutz in Ihrem Hause noch immer funktioniert. Gerade gestern - das ist sicherlich auch für die Kollegen sehr interessant - habe ich ein Schreiben des hessischen Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaft und Forsten erhalten, in dem wieder einmal Ihre Untätigkeit angesprochen wird. Sie, verehrte Frau Ministerin, haben bereits am 10. September vergangenen Jahres vom hessischen Sozialministerium eine Mitteilung erhalten, dass bei Rückstandsproben von Honig CarbendazimRückstände festgestellt worden waren, und zwar interessanterweise auch bei zwei Ökohonig-Proben. ({2}) Das hessische Ministerium hatte danach Grenzwertüberschreitungen festgestellt und Ihr Haus gebeten, seine Rechtsauffassung zur lebensmittelrechtlichen Beurteilung der Rückstände umgehend mitzuteilen. Meine Damen und Herren, bis zum heutigen Tage liegt weder dem Land Hessen eine Beurteilung aus Ihrem Hause vor, noch gibt es von Ihnen eine Antwort darauf, ob bei der Zulassung Carbendazim-haltiger Mittel vor der bald wieder stattfindenden Rapsblüte Änderungen im Zulassungsverfahren erfolgen müssen. ({3}) Ich will das nicht problematisieren. Aber wenn eine Ministerin ständig die Worte „Verbraucherschutz“ und „Verbraucherinformation“ in der Öffentlichkeit herumtönt, muss wohl auch festgestellt werden: Wenn sie innerhalb von fünf Monaten nicht in der Lage ist, Ihrem Amtskollegen zu antworten, dann bleibt sie um Längen hinter Ihrem eigenen Anspruch zurück. ({4}) Solange Sie, Frau Ministerin, noch nicht einmal solche einfachen Vorgänge beherrschen, sollten Sie meiner Meinung nach den Begriff „vorsorgenden Verbraucherschutz“ zurückhaltender benutzen. Wie wollen Sie denn die Millionen Verbraucher in Deutschland informieren, wie Sie es mit Ihrem Gesetz angeblich vorhaben, wenn Sie selber innerhalb von fünf Monaten nicht in der Lage sind, Ihrem Ministerkollegen in Hessen eine Antwort zu geben? ({5}) Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Sie bei den Honigproben gerade in der letzten Zeit äußerst heftig reagiert, die Grenzwerte auf ein Zehntel zurückgefahren haben und damit auch - das ist schon häufiger hier ausgeführt worden - ein riesiges Problem für die Obstbauern in Deutschland geschaffen haben. Welch ein erneuter Widerspruch zwischen Ihren Worten und Ihrem Handeln! Ähnliche Widersprüche sind in Ihrem Hause beispielsweise hinsichtlich der Rückstände von Dicloran in Erdbeeren zu verzeichnen. Werden die Früchte aus anderen europäischen Ländern importiert, dann werden bis zu 100fach höhere Rückstände toleriert als bei entsprechender deutscher Ware. Das entspricht einem Verhältnis 1:100, Frau Ministerin. In Ihrer Rede auf der Grünen Woche am 12. Januar haben Sie verkündet: Mögliche Konflikte zwischen Verbraucherschutz bei Lebensmitteln und Liberalisierung des Welthandels dürfen nicht zu Lasten unserer Lebensmittelsicherheit und -qualität gehen, In den Fällen, die ich eben vorgetragen habe, handeln Sie aber ganz anders. Entweder sind die Grenzwerte in anderen europäischen Ländern gesundheitlich unbedenklich - dann müssen aber auch die deutschen Obstbauern nach diesen Grenzwerten produzieren dürfen - oder die Höchstwerte sind nicht hinnehmbar; dann müssen Sie dafür sorgen, dass der Import schleunigst verhindert wird. ({6}) Ansonsten ist all Ihr Gerede von den Rückstands-Höchstmengenverordnungen nichts anderes als politischer Aktionismus auf dem Rücken der heimischen Bauern und Verbraucher. ({7}) Frau Ministerin, ich zitiere zum Abschluss aus der „FAZ“ von gestern: Wissenschaftliche Argumente zählen nicht, das Sagen haben die Ideologen. Mit vielen Entscheidungen Ihres Hauses bestätigen Sie diese Aussage. Ich meine, es wird Zeit, dass der Verbraucher die Gelegenheit nutzt, sich von einer solchen Ideologie zu befreien. Schönen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/8520 soll an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse erweitert werden. Die entsprechende Drucksache liegt Ihnen vor. ({0}) Gibt es Widerspruch gegen die Erweiterung der Tagesordnung? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1}) Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse - Drucksache 14/8536 Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 4. Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördern und Fordern in Vermittlungsagenturen ({2}) - Drucksache 14/8365 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 2a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz - Drucksache 14/8010 ({3}) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz - Drucksache 14/7280 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5}) - Drucksache 14/8531 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({6}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fördern und Fordern - Sozialhilfe modern gestalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine Reintegration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt - Anreize für die Rückkehr in das Erwerbsleben erhöhen - zu dem Antrag der Abgeordneten Pia Maier, Dr. Barbara Höll, Dr. Klaus Grehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Die Sozialhilfe armutsfest gestalten - Drucksachen 14/7293, 14/59/82, 14/7298, 14/8531 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der Ministerpräsident des Landes Hessen, Roland Koch. Roland Koch, Ministerpräsident ({7}) ({8}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit einer ganzen Reihe von Monaten gibt es eine für jeden deutlich vernehmbare Diskussion über die Frage, wie wir mit Menschen, die seit langer Zeit arbeitslos sind und die Ansprüche an die staatlichen Sozialsysteme haben, umgehen sollen, damit möglichst viele von ihnen eine Chance haben, in Zukunft wieder ins Erwerbsleben zurückzufinden. Angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen - wir alle wissen, in Wahrheit sind es 6 Millionen, wenn man diejenigen, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind, hinzurechnet -, ({9}) bei 1,6 Millionen Sozialhilfeempfängern in der Bundesrepublik Deutschland, bei ständiger Zunahme der Zahl der Langzeitarbeitslosen, die weit über dem Durchschnitt anderer europäischer Staaten liegt, und angesichts der in den letzten vier Jahren ständig gestiegenen Zahl der Sozialhilfeempfänger, die länger als fünf Jahre Sozialhilfe beziehen, ist es in der Tat an der Zeit, die Politik der ruhigen Hand zu beenden und endlich etwas zu tun. ({10}) - Haben Sie wirklich keine besseren Argumente als den Hinweis auf die Geschichtsbücher? Versuchen Sie einmal die Zukunft zu gestalten! Ich dachte immer, die SPD wollte einen Beitrag zur Zukunft der Menschen leisten. ({11}) Wenn man nach fast vier Jahren, in denen man an der Regierung war, nichts anderes anzubieten hat als den Hinweis, dass andere vorher regiert haben, dann hat man vier Jahre lang zu wenig getan. Darüber müssen wir, bitte schön, diskutieren. ({12}) Wir haben inzwischen - das gilt jedenfalls für mein Bundesland, vielleicht sogar im besonderen Maße - in einer ganzen Reihe von Landkreisen und Regionen, aufbauend auf jeweils eigenen Ideen, Modellversuche durchgeführt und durchaus Erfolge bei der Etablierung von neuen Beratungssystemen an der Basis gehabt. Es gibt hier Vorreiter, die inzwischen glücklicherweise bundesweit eine Rolle spielen. Sie alle haben nur ein großes Problem: Sie können auf der Grundlage des Job-AQTIVGesetzes - Frau Staatssekretärin, Sie werden nachher sicherlich noch etwas dazu sagen - zwar ein paar theoretische Vorarbeiten leisten. Aber die Tatsache, dass Anträge auf Sozial- und Arbeitslosenhilfe in einem Büro bearbeitet werden, bedeutet noch lange nicht, dass in Zukunft nur noch ein Formblatt für eine Hilfemaßnahme ausgefüllt werden muss. Nein, es werden weiterhin zwei sein; denn die Zahl der Formblätter hat sich nicht reduziert, sie dürfen bestenfalls auf einem Schreibtisch ausgefüllt werden. Auch wenn ein Modell im Main-Taunus-Kreis oder im Main-Kinzig-Kreis oder sonst wo in Hessen erfolgreich ist, ist es verboten, es auf das ganze Bundesland auszudehnen; Ihre Versuchsklausel verhindert das. Wir sind über den Zeitpunkt hinaus, uns nur gegenseitig Vorschläge zu machen. Wir müssen zu handeln beginnen; denn die Zahlen entwickeln sich so. Darum geht es bei diesem Gesetzentwurf. ({13}) Ich bin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich dankbar dafür, dass sie dieses Thema ergänzend zu den Beratungen im Bundesrat auch hier zur Sprache bringt. Ich sehe, dass man im Bundesrat im Augenblick auf Zeit spielt, und es ist zu erwarten, dass sozialdemokratische Kollegen das möglicherweise auch hier tun. Dabei besteht, wenn ich eine Äußerung der Frau Staatssekretärin vor einiger Zeit in einer Zeitung richtig verstanden habe und wenn ich an die Reaktionen meines niedersächsischen Kollegen Gabriel denke, darüber, dass Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Arbeitslosen- und Sozialhilfe heute zusammengehören, überhaupt kein Streit. Irgendwann muss der Grundsatz „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ zur Geltung kommen. Dafür müssen wir jetzt eine Chance haben. ({14}) Der Gesetzentwurf bringt für unsere Tradition in der Bundesrepublik Deutschland möglicherweise an einem Punkt einen neuen Ansatz: Es soll möglich sein, eine Aufgabe, die zum Bereich der Sozialpolitik gehört, in den Bundesländern unterschiedlich zu lösen. In der Diskussion des letzten halben Jahres ist vielfach das Stichwort „Wisconsin-Modell“ gefallen. Dieses Modell ist nur eines von vielen, aber es ist immerhin eines, bei dem es gelungen ist, im ersten Jahr 60 Prozent und über einen längeren Zeitraum 90 Prozent derer, die dort Sozialhilfeempfänger waren, wieder in Arbeit zu vermitteln. Das ist doch ein Grund, zumindest einmal hinzuschauen. Ich habe immer nur gesagt: Lassen Sie uns die Marke von 50 Prozent der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger erreichen! Zumindest das müssten wir uns doch als Anspruch gegenseitig zumuten können. ({15}) Zur Wahrheit gehört auch: Das Gesetz, das in Wisconsin angewandt worden ist, wäre niemals nationales USamerikanisches Gesetz geworden, wenn erst alle nationalen Überlegungen - das gilt für einen Kontinent und auch für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland - angestellt worden wären und man erwogen, abgewogen, angehört, noch einmal diskutiert, geprüft, ausprobiert und wieder verworfen hätte. Im US-amerikanischen Recht gibt es aber die gute Möglichkeit, Ausnahmeregelungen für einzelne Staaten vorzusehen und ihnen zu erlauben, abweichend vom Bundesrecht etwas zu versuchen. Nur so ist es möglich gewesen, in Wisconsin, in Oregon, in Teilen von Kalifornien bestimmte Modelle auszuprobieren. ({16}) Die Erfolge, die ich genannt habe - 60 Prozent und 90 Prozent -, haben am Ende die Demokraten im amerikanischen Parlament, die ursprünglich skeptisch waren, dazu gebracht, dieses Modell zur Regierungsvorlage von Bill Clinton in der zweiten Amtsperiode zu machen. Die Häuser des amerikanischen Parlaments haben dann das, was vorher politisch streitig war, einstimmig beschlossen. Auch in den USA gäbe es diese Möglichkeit der Unterstützung bis zum heutigen Tage nicht, wenn sie nicht in einigen Regionen hätte ausprobiert werden können. Geben Sie uns in der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Föderalismus doch die Chance, Modelle nicht nur zu diskutieren, sondern in einem bestimmten Rahmen auch auszuprobieren, sodass es am Ende vergleichbare Zahlen und Daten gibt! ({17}) Dazu brauchen wir bundesrechtliche Rahmenbedingungen, die uns erlauben, einige Voraussetzungen zu schaffen. So müssen wir die rechtliche Möglichkeit haben, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe miteinander zu verzahnen. Wir müssen das, was derzeit im SGB III steht, und das, was im BSHG steht, zusammenführen. Wir müssen dafür sorgen, dass es eine Landeskompetenz dafür gibt, die kommunale Sozialhilfe hinzuzunehmen. ({18}) Es wird häufig darüber geredet, dass man viel Geld für Integrationsarbeit braucht. Wir geben mehr als 25 Milliarden Euro im Bereich der Arbeitsförderung aus. Dabei habe ich noch nicht einmal alle Sozialhilfezahlungen aus den Kommunen an Langzeitarbeitslose dazugerechnet. Es wird mehr Geld als in jedem anderen industriellen Staat der Erde dafür eingesetzt. Damit müssen wir effizienter arbeiten, als wir es zurzeit tun. Wir tun es nicht, weil jeder für sich arbeitet. ({19}) Vorher müssten wir einige Prinzipien klären. Das System in Deutschland, dass Sozialhilfeansprüche zunächst Ansprüche auf Geldzahlung sind, die gelegentlich durch Kooperation und Hilfepläne ergänzt werden, müssen wir verändern. Aus meiner Sicht ist Sozialhilfe ein Angebot der Solidargemeinschaft, der Gesellschaft an leistungsbereite Einzelne, sie darin zu unterstützen, den Weg zurück in normale wirtschaftliche Verhältnisse zu finden. Es ist eine zweiseitige Vereinbarung. Nur in Modellregionen - in dieser Situation sind Sie zurzeit - wird ein Hilfeplan durchgeführt, weil es nur dort möglich ist. Wir unterstellen - das kann man auf der Grundlage des Gesetzes tun -, dass es sich dabei um einen Verwaltungsakt handelt. Das ist die einzige Chance. Was geschieht dann? Es wird eine Klage des Betroffenen beim Verwaltungsgericht gegen den Hilfeplan geben, was eine zweijährige Aufschiebung bewirkt. Dies ist einer der Gründe, warum in den Sozialämtern von der Hilfeplanung unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzbarkeit sehr wenig Gebrauch gemacht werden kann. Das zeigen die Modellversuche. ({20}) Das muss so nicht sein. Man kann das ändern. Man muss dafür sorgen, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe etwa hinsichtlich der Betreuung von Kindern und des Angebots von Qualifikationen - zurzeit finanziert aus unterschiedlichen Haushaltstöpfen; dabei sind unterschiedliche Vorschriften hinsichtlich der Rechnungslegung und unterschiedlicher Haushaltsjahre zu beachten - zentral organisiert werden. Im Augenblick prasseln auf den einzelnen Beamten all diese Vorschriften, die für den einen Bereich wie für den anderen zutreffen, herab. Warum lösen Sie das nicht für fünf Jahre in irgendeinem Bundesland, beispielsweise in Hessen, auf? Warum überlassen Sie die Organisation nicht einer einzigen Institution? Lassen Sie uns prüfen, was passiert, wenn wir uns Ministerpräsident Roland Koch um die Sache kümmern können, weil wir uns nicht mehr um die Vorschriften kümmern müssen! ({21}) Ich möchte, dass jeder, der sich bei einer Institution meldet, die sich um Arbeits- und Sozialhilfe kümmert, weiß, dass es eine Art Leiter von Maßnahmen gibt: Am Anfang gibt es ein Angebot im ersten Arbeitsmarkt - prima -; dann ein Angebot im zweiten Arbeitsmarkt - besser als keines -; wenn beides nicht funktioniert, gibt es ein gezieltes Qualifizierungsprogramm, damit man eine Chance hat, über den zweiten Arbeitsmarkt in den ersten zu kommen; wenn das alles nicht funktioniert - das kann auch sein -, gibt es eine gemeinnützige Arbeit, bis wir eine andere Lösung finden; wenn auch das nicht funktioniert, gibt es den Bereich der therapeutisch betreuten Arbeit, um den Arbeitslosen in einen geregelten Tagesablauf einzubinden, um ihn auf Dauer wieder eingliedern zu können. Rechnen Sie doch einmal für die Länder, in denen Sie Wahlkreise haben, aus, wie viele Millionen wir zurzeit für Programme ausgeben, die das Ziel haben, Menschen mithilfe sozialpädagogischer Betreuung das Pünktlich-zurArbeit-Gehen beizubringen. Das muss nicht sein. Wir müssen eine anschlusslose Möglichkeit der Wiedereingliederung schaffen, damit jeder trotz Eintritt der Arbeitslosigkeit - in welcher Situation auch immer - im Kreislauf eines normalen Lebens bleibt. ({22}) Das ist durchaus ein erheblicher Anspruch an den Staat, an die Kommunen, die Länder - wir wären bereit, uns auch auf den Gebieten zu engagieren, auf denen wir zurzeit keine Zuständigkeit haben - und an den Bund. ({23}) Es ist wichtig, zunächst einmal festzustellen: Wir müssen in der Tat für jeden das Passende finden. Aus meiner Sicht besteht erst dann die Berechtigung, jeden, der nicht bereit ist, sich in diesen Prozess zu integrieren, zu fragen, ob er tatsächlich anspruchsberechtigt ist. ({24}) Wir müssen auch über die Sanktionsmöglichkeiten - wenn man sie so nennen möchte - diskutieren. Die heute vorhandenen Sanktionsmechanismen für Alleinstehende sind aus meiner Sicht nachhaltig wirksam. Wenn eine Sozialverwaltung die verwaltungsrechtlichen Vorschriften und einiges andere überwindet, reichen sie möglicherweise aus. Bei jemandem, der eine Familie mit zwei Kindern hat und der sagt, er sei nicht bereit, sich dem Hilfeplan zu unterwerfen oder eine Arbeit aufzunehmen, macht der maximale Betrag, der abgezogen werden kann, einen verschwindend geringen Teil der gesamten sozialen Subventionsleistungen aus, die über verschiedene Tranchen und verschiedene Institutionen ausgereicht werden; Stichworte: Sozialhilfe, Hilfe zum Lebensunterhalt, Hausbrandbeihilfe, Möglichkeiten der Erziehungsunterstützung bis hin zu Ausbildungsprogrammen. ({25}) Ich bin dafür - das werden wir in der nächsten Legislaturperiode durchsetzen -, dass wir mithilfe des Familiengeldes dafür sorgen, dass die Kinder aus der Sozialhilfe herauskommen. ({26}) Auf der anderen Seite bin ich auch dafür, dass wir dafür sorgen, dass jeder - unabhängig vom Familienstand weiß, dass Kooperation erforderlich ist, weil der Staat seinerseits entsprechende Angebote gemacht hat. Das Ärgerliche an dieser wie auch an vielen anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussionen dieser Tage ist, dass das eigentlich alle wissen. ({27}) Wenn Sie intensiv - unter sechs, acht oder zehn Augen mit den Beteiligten reden, stellen Sie fest, dass niemand sagt, ein solches Vorgehen sei falsch. Auch im Bundesrat und in Fachausschüssen wird bestenfalls die Vertagung auf die Zeit nach der Bundestagswahl beschlossen. Es wird nicht beschlossen, eine solche Initiative abzulehnen. In der Tat wäre es schwierig, dies zu begründen. Ich frage Sie: Warum wollen Sie wieder warten? Dankenswerterweise engagieren Sie sich politisch in dieser Debatte. Ich als Hesse mache Ihnen ein Angebot: Wenn das alles so unbrauchbar ist, lassen Sie mich doch hereinfallen. Lassen Sie es uns in Hessen machen, meine Damen und Herren. Dann zeigen wir Ihnen, ob es geht oder nicht. Hören Sie auf, nur theoretisch darüber zu reden. ({28}) Ich will Ihnen ein letztes Beispiel, den Grund nennen, warum wir glauben, uns mit einigem Selbstbewusstsein darum kümmern zu können. Wir haben in den vergangenen Jahren zusammen mit dem Landesarbeitsamt durch eine Umstellung der Arbeitsförderung ein Sonderprogramm des Coaching der Vermittlungsagentur für arbeitslose schwerbehinderte Arbeitnehmer in unserem Land eingeführt. ({29}) Wir haben 2001 in nur einem Jahr eine Reduzierung des Anteils derjenigen, die als Schwerbehinderte arbeitslos sind, von 22 Prozent erreicht. ({30}) Im Bundesgebiet ist es, wenn man nur die westdeutschen Länder nimmt, ein Rückgang von 6 Prozent. Wir sind sehr optimistisch, dass wir es schaffen können. Das bisher Erreichte ist eine Leistung des Landes zusammen mit der Hauptfürsorgestelle, dem Landesarbeitsamt und den Landkreisen. Wir haben im Vergleich aller Bundesländer den größten Rückgang bei den Langzeitarbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland. ({31}) Ministerpräsident Roland Koch Deshalb sage ich Ihnen: Gehen Sie doch das Risiko ein, mich und meine Regierung ausprobieren zu lassen, ob wir es schaffen. Wir wären bereit, zugunsten derjenigen in diesem Lande, die seit längerer Zeit auf Beschäftigung warten, das Risiko einzugehen. Vielen herzlichen Dank. ({32})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Geschäftsordnung erhält der Kollege Repnik das Wort.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Wir diskutieren derzeit über eines der größten Probleme, das die Bundesrepublik Deutschland berührt, nämlich über die Fragen, wie man die Arbeitslosigkeit verringern und den Abbau von Arbeitslosigkeit verbessern kann. Wir stellen fest, dass bei diesem für die Bundesrepublik Deutschland wichtigen Thema kein einziger Bundesminister auf der Regierungsbank sitzt, auch nicht der zuständige Bundesminister Riester. Wir beantragen hiermit, den Bundesminister Riester ins Plenum des Deutschen Bundestages zu zitieren. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ebenfalls zur Geschäftsordnung erhält die Abgeordnete Susanne Kastner das Wort.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001069, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Repnik, die zuständige Parlamentarische Staatssekretärin spricht in dieser Debatte noch. Sie können das der Rednerliste entnehmen. ({0}) - Das mag Ihnen nicht reichen. - Wir lehnen Ihren Antrag, den Bundesminister herbeizuzitieren, ab, weil wir glauben, es ist guter parlamentarischer Brauch, dass die Staatssekretärin in einer solchen Debatte spricht. ({1}) - Frau Präsidentin, dann beantrage ich eine Unterbrechung für eine Fraktionssitzung. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? ({0}) Nach einer Beratung unter den Geschäftsführern entscheide ich so, wie in diesem Haus immer entschieden wurde, dass nämlich der Antrag auf Unterbrechung, wenn er von einer großen Fraktion gestellt wird, anderen Anträgen vorgeht. ({1}) - Sie können sich dazu verhalten, wie Sie wollen. Aber das ist auch in der Vergangenheit immer Übung dieses Hauses gewesen. Ich habe mich darüber noch einmal informiert. ({2}) Ich unterbreche die Sitzung für zehn Minuten. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Im Rahmen der Geschäftsordnungsdebatte wurde der Antrag auf Erscheinen des Ministers gestellt. Da sich der Minister jetzt im Saal befindet, gehe ich davon aus, dass der Antrag in der Sache erledigt ist. ({0}) Dies ist auch die Meinung der Geschäftsführer. Wir können also bei gut gefülltem Haus in der Debatte fortfahren. Als Nächste hat das Wort die Abgeordnete Brigitte Lange.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der hessische Löwe hat gebrüllt ({0}) - warten Sie es ab! -; Sie sehen uns zutiefst erschreckt. ({1}) Ich kann nur sagen: Wegen dieser Rede hätte Walter Riester nicht kommen müssen. ({2}) Ich kann verstehen, dass Sie bekümmert sind, dass der Minister dem hessischen Ministerpräsidenten nicht sein Ohr geliehen hat. Aber warum sollte er auch? Er hat doch nichts Neues gesagt. ({3}) Der Atem, der ihm bei seiner Rede entwich, enthielt jede Menge heiße Luft. ({4}) Er ist nach vorne gestürmt und hat hier weit geöffnete Scheunentore eingerannt; ({5}) denn vieles von dem, was er aufgezählt hat, steht bereits im Gesetz und wird auch praktiziert. Dies hätte er auch in seinem Hessenland leicht erfahren können, wenn er nicht Ministerpräsident Roland Koch den Umweg über Wisconsin genommen hätte und dann Wisconsin-geblendet hier hereingestürmt wäre. ({6}) Sehr verehrter Herr Koch, es macht sich nie gut, wenn man die Sozial- und Arbeitsämter im eigenen Land - ich komme aus Hessen und kenne mich ein bisschen aus - so darstellt, als müsse der Ministerpräsident nach Berlin rasen, um eine Pressekonferenz zu geben und dort von Maßnahmen zu erzählen, die schon seit Jahren, schon vor seiner Regierungsübernahme und nachher auch trotz der Regierungsübernahme durch ihn, durchgeführt werden. ({7}) Sie haben hier eine Menge Dinge angeführt, zum Beispiel, dass es nicht möglich sei, einen Hilfeplan zu erstellen. Wo leben Sie denn? ({8}) - Doch, hat er. Ich habe es mir notiert. ({9}) Die Erstellung eines Hilfeplans ist ebenso möglich wie eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Arbeitsamt und Sozialamt, und zwar über die bestehenden Modelle - Hessen hat übrigens auch drei Modelle - hinaus. Man kann dies durchaus machen. Es läge auch in Ihrer Macht, die entsprechende Unterstützung zu leisten, ({10}) damit auch die restlichen 10 Prozent der Arbeits- und Sozialämter in Ihrem Land - 90 Prozent machen es nämlich - in die Lage versetzt werden, die Hilfen gebündelt anzubieten. ({11}) Herr Koch, Sie schlagen vor, einen individuellen Hilfeplan zu erstellen. Sie sagen sogar, dass die Mehrheit der Sozialhilfeempfänger ihre Situation überwinden und arbeiten will. Wenn Sie schon einen individuellen Hilfeplan vorschlagen, müssten Sie auch begreifen, was Sie auf der anderen Seite bei den Sanktionen verlangen. ({12}) Wenn man den Gedanken konsequent durchdringt, dass man zusammen mit dem Hilfeempfänger einen Plan entwickelt und mit ihm zusammen diese Schritte von Anfang an geht, stellt sich die Frage der Sanktionen völlig anders. ({13}) Sie haben angesprochen, dass die Sanktionen, also die Kürzung von Leistungen - in einem ersten Schritt um 25 Prozent und dann möglicherweise um bis zu 100 Prozent - vor allem bei Alleinstehenden angewandt werde, bei Familien jedoch wirkungslos sei. Das ist im Sinne des Sozialhilfegesetzes. Sie werden nicht ernsthaft erwarten können, dass ein Sachbearbeiter im Sozialamt einem Familienvater die Leistungen kürzt, wenn er ganz genau weiß, dass er damit die Kinder trifft. ({14}) Der Vater, der sich weigert, Arbeit aufzunehmen, der viele Probleme hat oder alkoholabhängig ist, wird zum Beispiel seinen Alkoholkonsum nicht einschränken, damit seine Kinder vernünftig leben können. ({15}) In solchen Fällen ist also eine individuelle Handhabung der Sanktionsmechanismen durchaus gerechtfertigt. Aber noch einmal: Wenn wir - wir haben es bereits in unseren Gesetzen berücksichtigt - von Anfang an konsequent, erfolgsorientiert und mit den anderen zusammen einen Hilfeplan erstellen, ist die Frage der Sanktionen nicht mehr in der Weise wichtig, wie Sie es immer wieder herausstellen. ({16}) Und ganz nebenbei: Sie sollten sich noch einmal von einem Sozialamtsleiter die richtigen Zahlen zu den Leistungsempfängern vorlegen lassen ({17}) und Sie sollten sich noch einmal darüber informieren lassen, wie viele von den Sozialhilfeempfängern wirklich erwerbsfähig und arbeitslos sind. ({18}) Das sind nämlich wesentlich weniger als Sie angedeutet haben. Von den geschätzten - es gibt bisher nur Schätzungen darüber - zwischen 600 000 und 800 000, die wirklich erwerbsfähig arbeitslos sind und vermittelt werden müssen, befindet sich nach den Angaben des Deutschen Städtetages ein Teil bereits in Maßnahmen. Wenn Sie tatsächlich meinen, von den 600 000 bis 800 000 wenigstens die Hälfte wieder in Arbeit bringen zu können, kann ich das nicht als ein wahnsinnig ehrgeiziges Ziel empfinden. Das ist wirklich herzlich wenig. Wir haben andere Vorstellungen. ({19}) - Ja, die braucht man auch. Hektik bewirkt überhaupt nichts. ({20}) - Wir können ganz ruhig sein und Sie können jetzt auch ganz ruhig zuhören. Eine zweite Bemerkung: Sie haben gesagt, dass sehr viele länger als fünf Jahre Sozialhilfe beziehen. ({21}) - Ja, der hat eine Tröstung nötig! ({22}) - Ich warte noch einen kleinen Moment. Herr Koch, die durchschnittliche Verweildauer von Leistungsempfängern in der Sozialhilfe liegt laut Bundesamt für Statistik bei zweieinhalb Jahren. Sie haben gesagt, dass Sie die Langzeitarbeitslosigkeit in Hessen abbauen. Das tun wir bundesweit; Sie können es nachvollziehen. ({23}) Dass Sie für die Behinderten etwas tun, ist in Ordnung; das wollten wir auch so. ({24}) Über diejenigen, die einen Lohn erhalten, der nur geringfügig höher als die Sozialhilfe ist, wird gesagt, dass sie deswegen nicht wieder ins Erwerbsleben zurückkehren. Ich sage Ihnen aber: Genau das stimmt nicht; denn die Familien, also bei der Gruppe, wo der Lohnabstand am geringsten ist, beziehen in der Regel weniger als ein Jahr - viele sogar nur ein halbes Jahr - Sozialhilfe. Das nur einmal zu den Zahlen. Wie gesagt, es lohnt sich, diese anzuschauen. Ich will jetzt auf das zu sprechen kommen, mit dem ich im Plenum heute eigentlich anfangen wollte. Es war bisher aber nett. ({25}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Fördern und Fordern - Sozialhilfe modern gestalten“ - so haben wir unseren Antrag, den wir heute verabschieden wollen, überschrieben. Wir brauchen eine Reform unseres 40 Jahre alten Sozialhilfegesetzes, das im Kern aktuell geblieben ist und nach wie vor gewährleistet, dass niemand unter dem menschenwürdig Lebensnotwendigen, dem soziokulturellen Existenzminimum, leben muss. Unsere sechs Eckpunkte benennen Weichenstellungen für eine umfassende Reform. Es geht also nicht um Puzzeleien an einzelnen Paragraphen, nicht um Reförmchen und schon gleich gar nicht um „Verschlimmbesserungen“, wie wir es aus der letzten Wahlperiode so gut kennen. Es geht vielmehr darum, das Sozialhilfegesetz den veränderten Anforderungen anzupassen. Es gibt eine veränderte Empfänger- und Ursachenstruktur. ({26}) Das erfordert, dass wir das im Grundsatz fabelhafte System auf seine problemgerechte Leistungsfähigkeit überprüfen, Schnittstellen zu den anderen sozialen Sicherungssystemen abklopfen und es wieder so fit machen, dass es seinem Auftrag gerecht werden kann, ({27}) nämlich Menschen aufzufangen und sie so schnell wie möglich wieder aus diesem System heraus zu fördern. Darauf lege ich Wert. An dieser Stelle sage ich auch: Geldleistungen allein ersetzen keine Ursachenbewältigung. Nicht alle Ursachen lassen sich durch Sozialhilfe lösen. Das alarmierende Problem von Kindern in der Sozialhilfe zum Beispiel muss außerhalb der Sozialhilfe geregelt werden. Wir sind dabei, Lösungen zu erarbeiten. ({28}) - Ihr Kandidat hat gesagt, dass das Geld, um das zu finanzieren, nicht vorhanden ist. An Ihrer Stelle wäre ich ganz ruhig. ({29})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Lange, ich muss Sie leider darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit vorbei ist. ({0})

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen. Wir haben mit unseren vorgelegten sechs Eckpunkten die Weichen richtig gestellt. ({0}) Ihre Vorwürfe treffen uns nicht. Die Fachwelt hat unsere Reformziele bestätigt. Sie ist bereit, uns auf diesem Reformprozess zu begleiten. ({1}) Wir werden diese Reform weiterhin in Ruhe vorbereiten und sie in der nächsten Wahlperiode umsetzen. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nun zur ernsthaften Reformdebatte zurückkehren. ({0}) Die Fülle der Anträge, die heute für die Debatte zur Reform des einfachsten sozialen Netzes in Deutschland vorgelegt worden sind, zeigen, dass es in der Sozialhilfe und in der Arbeitslosenhilfe in der Tat einen hohen Reformbedarf gibt. Der Thematik, dieses System für die Zukunft zu reformieren, haben Sie sich jetzt durch den Jubel zu einer Rede, die sicherlich dem üblichen Niveau der Kollegin nicht angemessen ist, entzogen. Was Sie uns heute hier vorlegen - ich meine den zweiten Punkt, nicht das OFFENSIV-Gesetz und die entsprechende Initiative des Landes Hessen; darauf komme ich gleich -, ist ein Gesetzentwurf zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes. Das ist die Verlängerung der Verlängerung einer Übergangsregelung. ({1}) Die ganze Legislaturperiode haben Sie eine Sozialhilfereform angekündigt, die Sie nicht einmal in Ansätzen fertig gebracht haben. Der Antrag, den Sie heute vorlegen, ist so vage, dass er weit hinter dem zurückliegt, was heute schon vielerorts Praxis in den Sozialämtern und den Arbeitsämtern der Bundesrepublik Deutschland ist. ({2}) Das zeigt nicht nur die Dringlichkeit einer Reform. Es zeigt auch, wie notwendig es ist, sich über die Prämissen dieser Reform klar zu werden, und dass es Mut braucht, diese Reform anzugehen. Ich will ein paar der Prämissen darstellen. Wir alle wissen, dass es arbeitsfähige Hilfeempfänger gibt. Was wir brauchen, ist eine Sozialpolitik, die diese Menschen wieder in die Lage versetzt, den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. ({3}) Dazu ist unser gegenwärtiges Sozialhilferecht nicht wirklich geeignet. Durch die Tatsache, dass praktisch jeder Hinzuverdienst auf die Sozialhilfe angerechnet wird, ist kein wirklicher Ansatzpunkt vorhanden. ({4}) Das heißt, wenn man eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt schaffen will, muss man dafür sorgen, dass die Anrechnungsregelungen in der Sozialhilfe anders ausgestaltet werden. Nach unserem Vorschlag sollten 50 Prozent zunächst in der Hand des Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen verbleiben. Diese Anrechnungssätze sollten dann weiter hochgefahren werden. Nur so wird ein Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt geschaffen. ({5}) Zweiter Punkt: „Fördern und fordern“ nennen Sie es. Aber Sie ziehen nicht die Konsequenzen daraus. Wir sagen: keine Leistung ohne die Bereitschaft zur Gegenleistung. Nur dann können wir in der Tat dafür sorgen, dass diejenigen, die wirklich etwas leisten wollen, dazu kommen, während diejenigen, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind, diese auch bekommen. Das kann zum Beispiel infolge von Kindererziehung der Fall sein. Wir müssen aber auch durch eine andere Verwaltung, eine andere Organisation, direkte Ansprachemöglichkeiten für die Hilfeempfänger schaffen, damit sie stärker gefördert werden und zeigen können, was sie zeigen wollen. ({6}) Es muss dabei ein dritter Punkt sichergestellt sein - das ist genau der Punkt, um den sich die Koalition herumdrückt: Es muss Möglichkeiten für Sanktionen geben. ({7}) - Sie sagen, die Sanktionen gebe es heute schon. Es gibt die Möglichkeit einer teilweisen Kürzung, ({8}) die aber - das war die Erfahrung, die uns von den Sozialämtern mitgeteilt worden ist - nicht ausreicht, weil sie aufgefangen werden kann und deshalb nicht wirklich einen Anreiz bietet. An dieser Stelle, Herr Koch, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Das, was Sie in Ihrem OFFENSIV-Gesetz vorschlagen, ist bis auf einen Punkt heute schon möglich und wird in vielen Bereichen auch bereits praktiziert - leider nicht überall in Hessen. Es wird zum Teil in dem so genannten MoZArT-Modellversuch umgesetzt; ein sehr dekorativer Name für etwas sehr einfaches, nämlich die Zusammenarbeit von Sozialamt und Arbeitsamt. Aber längst nicht alle Möglichkeiten, die diese Modellprojekte bieten, werden ausgeschöpft. Umsetzbar ist das heute schon, und zwar nicht nur in den Modellprojekten. Ich würde mir wünschen, dass auch in Hessen sehr viel stärker davon Gebrauch gemacht wird. Es gibt nur einen Punkt, der nicht möglich ist, nämlich schärfere Sanktionen gegenüber denjenigen, die wirklich nicht den Willen haben mitzumachen. Wer nicht mitmachen kann, braucht unsere Hilfe und soll sie auch in Zukunft bekommen. Von dem, der nicht mitmachen will, müssen wir die Bereitschaft zur Gegenleistung verlangen. Wenn sie nicht vorhanden ist, muss es Sanktionsmöglichkeiten geben. ({9}) Letzter Punkt dazu: Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe müssen zusammengefasst werden. Das ist genau der Punkt, vor dem Sie zurückschrecken. ({10}) Wir haben dafür einen eigenen Antrag vorgelegt. Es ist die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass mehrere Formulare ausgefüllt werden müssen. Auch nach Ihrem Modell, Herr Koch, brauchen Sie noch zwei Formulare. Nur wenn Sie es so machen, wie wir es vorgeschlagen haben, nämlich eine einheitliche, transparente Leistung aus einer Hand verwirklichen, dann können Sie wirklich eine Vereinfachung ohne Schnittstellen haben. Eine solche Reform verdient den Namen Reform. Das, was hier vorgelegt worden ist, ist viel Schaum. Lassen Sie uns zur Ernsthaftigkeit zurückkehren; dann können wir vielleicht noch etwas machen. Danke. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier wirklich über einen ausgekochten Plan. ({0}) Ich denke, Sie hätten sich, bevor Sie das eingebracht haben - gerade als Parteien mit dem C in Ihren Parteinamen -, an einen Ausspruch des ehemaligen Ruhrbischofs Hengsbach erinnern sollen. Er hat Folgendes gesagt: Habe ich ohne wichtigen Grund durch eine Wortmeldung eine Sitzung verlängert und somit mich und andere von der Familie fern gehalten, lieber Gott, dann hilf mir, mein großes Maul zu halten, bis ich weiß, worüber ich rede. ({1}) Meine Damen und Herren, ich meine, dass man wirklich hätte nachdenken sollen, bevor man etwas fordert, was längst möglich ist. Herr Koch hat in seiner Rede vorhin selber deutlich gemacht, dass es - übrigens auch im Land Hessen - möglich ist, Experimente oder eigene Wege auf das gesamte Land auszuweiten. Sie haben das zum Beispiel bei den Behinderten auch getan - das haben Sie vorgetragen - und das ist auch gut so. Aber Sie wollen sich mit Ihren Vorschlägen bzw. mit dem so genannten OFFENSIV-Gesetz mit 30 Prozent der Mittel aus den Versicherungsleistungen für Arbeitslose für Job-Center in Hessen bedienen. Sie wollen 30 Prozent der Mittel von den Arbeitsämtern in die Job-Center umschichten. ({2}) Das ist es doch, was Sie für Hessen durchsetzen wollen. Ich kann Ihnen aber versichern, dass die Beschränkungen, die es auf Bundesebene gibt, gut sind. Wir wollen nicht, dass Sie in Hessen für sich allein entscheiden können, was mit den Mitteln der Versicherten gemacht wird. ({3}) Des Weiteren schlagen Sie vor, dass der hessische bzw. kochsche Weg einer Experimentierphase bis 2007 ausgedehnt werden soll. Wir haben vor - das ist Ihnen bekannt; es ist auch in dem zweiten Gesetzentwurf, den wir heute noch diskutieren werden, dargelegt -, in der nächsten Legislaturperiode, die im Herbst beginnt, vieles von dem, was heute schon vorbereitet und möglich ist umzusetzen, nämlich zum Beispiel die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in ein gemeinsames Angebot, ({4}) die Maßnahmen im Rahmen von MoZArT, was auch in Hessen bereits gemacht wird. Dabei handelt es sich um Maßnahmen, die bereits so weit fortgeschritten sind, dass wir am Beispiel von Best Practice die besten Lösungen für die gesamte Bundesrepublik Deutschland finden können. Dazu müssen wir nicht abwarten, bis Hessen 2007 seine Experimentierphase beendet hat. ({5}) Das OFFENSIV-Gesetz, das Sie einbringen, ist an einer Stelle offensiv. Es greift nämlich offensiv in die Debatte um Hängematten und Faulenzer ein. Das ist der Hintergrund. ({6}) Ich meine, dass wir die Diskussion so nicht mehr führen dürfen. Herr Koch hat diese Begriffe hier nicht benutzt; aber er hat sie zum Beispiel in seiner Pressemitteilung, in der er das OFFENSIV-Gesetz in Hessen vorgestellt hat,verwendet. Reden wir doch einmal über die Sanktionen. Sie wollen sie ausweiten und verschärfen. Das haben Sie hier wieder vorgetragen. Es gibt bereits Sanktionsmöglichkeiten. Man kann die Eckregelsätze bei den Sozialhilfeempfängern um 25 Prozent kürzen und bei mehrfachem Verstoß sogar die gesamte Sozialhilfe streichen. Das reicht Ihnen als Sanktionsmöglichkeiten offenbar nicht aus. Ich weiß nicht, wie weit Sie noch gehen wollen. ({7}) - Dass die FDP sagt, dass dies richtig ist, wundert uns nicht. Denn Sie wollen - das zeigen Ihre Debattenbeiträge - verlässliche und vernünftige Sozialhilfe, um die Leute in den Stand zu versetzen, sich flexibel auf den Arbeitsmärkten zu bewegen. Stattdessen wollen Sie bei den bestehenden Sanktionen noch nachlegen - hinsichtlich der Sozialhilfe habe ich das eben ausgeführt - und reden die beim Arbeitslosengeld und bei der Arbeitslosenhilfe bestehenden Sanktionsmöglichkeiten einfach klein. Dass die Arbeitslosen heutzutage so gut wie jeden Job annehmen müssen, ist Ihnen bekannt. Was sie jedoch brauchen, ist Hilfe, um in die Jobs hineinzukommen. Sie müssen qualifiziert werden und brauchen Angebote aus einer Hand. Dabei stehe ich ganz auf Ihrer Seite, Herr Koch. Aber solche Angebote sollten wir nicht erst nach 2007, sondern schon in der nächsten Legislaturperiode einführen. ({8}) Herr Koch, Sie haben von einem notwendigen Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik gesprochen. Richtig! Wir haben diesen notwendigen Paradigmenwechsel mit dem Job-AQTIV-Gesetz eingeleitet. Nur, unser Paradigmenwechsel ist anders als der kochsche; denn wir setzen auf die Integration in den ersten Arbeitsmarkt, und zwar mit einem Set von Maßnahmen, mit vernünftiger Beratung und mit Eingliederungsvereinbarungen. Die Integration muss im Vordergrund stehen. Die Menschen dürfen nicht erst langzeitarbeitslos sein, bevor ihnen geholfen wird. Es muss ihnen sofort geholfen werden. Der Gedanke der Integration muss, wie gesagt, im Vordergrund stehen. Ihr Paradigmenwechsel zielt auf etwas ganz anderes ab. In Ihrer damaligen Pressemitteilung - auch das haben Sie heute hier nicht so deutlich gesagt - ist zu lesen, dass jede Arbeit - ich betone: jede - würdiger sei als der Bezug von Transferleistungen. Herr Koch, das ist der Paradigmenwechsel, den Sie wollen. ({9}) - Frau Schwaetzer, ich glaube Ihnen, dass Sie das richtig finden. - Wenn wir über diesen Paradigmenwechsel diskutieren, müssen wir auch über die Arbeitslosen in den neuen Ländern reden - ich glaube, Herr Laumann von der CDU/CSU-Fraktion wird mich sicherlich darin unterstützen -, zum Beispiel über einen älteren Ingenieur, der arbeitslos geworden ist, oder über eine junge Frau, die nach der Erziehungsphase wieder in den Arbeitsmarkt hineinfinden muss. In diesen Fällen kann es doch nicht darum gehen, dass jede Arbeit angenommen werden muss. Solchen Menschen muss vielmehr eine Arbeit angeboten werden, die ihnen die Chance bietet, irgendwann auf dem ersten Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Daran müssen wir uns orientieren. ({10}) Was Sie in der jetzigen Debatte suggerieren - das ist das Gefährliche -, ist, dass Faulheit und Hängemattenmentalität die Ursache seien, die wir bekämpfen müssten. Nein, das ist nicht das Problem. ({11}) Sicherlich gibt es schwarze Schafe unter den Arbeitslosen. Aber die gibt es auch in anderen Bevölkerungsgruppen. Das ist aber bestimmt nicht der Punkt, an dem wir unsere Politikkonzepte ausrichten müssen. Das Problem sind vielmehr ({12}) der große Mangel an Arbeitsplätzen und das „Missmatch“, dass also die Qualifikationen der Bewerber und das Anforderungsprofil der Stellen nicht zusammenpassen. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen den Menschen mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen, gerade auch den jungen. Sie sind bereits sehr flexibel, und zwar so flexibel, dass es schon wieder zu einem Problem wird, wenn man sieht, wie viele junge Menschen aus den neuen Ländern abwandern. ({13}) Wir müssen sie mithilfe einer stabilen und verlässlichen Sozialpolitik in die Lage versetzen, die Anpassungsprozesse zu leisten, die der Arbeitsmarkt ihnen abverlangt. Man darf ihnen aber nicht das Arbeitslosengeld oder sogar die Sozialhilfe vollständig streichen. Das ist nicht unsere Vorstellung von Fördern und Fordern. ({14}) Wir brauchen die Betreuung aus einer Hand. Das sehe ich ganz genauso. Das ist richtig. Wir brauchen natürlich auch ein vernünftiges Verhältnis zwischen Fördern und Fordern. Die Eingliederungspläne, die wir auf den Weg gebracht haben und mit deren Hilfe die Arbeitslosen viel individueller beraten und vermittelt werden können, ermöglichen auch die Nutzung der vorhandenen Sanktionsmöglichkeiten. Sie werden heute häufig nicht angewandt. Aber es gibt sie. Eine Verschärfung der Sanktionen ist daher nun wirklich nicht notwendig. Frau Schwaetzer, Sie haben vorhin dazwischengerufen: Warum legen Sie nicht schon jetzt die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen? ({15}) Wir haben in den letzten dreieinhalb Jahren etwas gemacht, was Sie nie geschafft haben: Wir haben das Projekt „MoZArT“ aufgelegt. Es gibt in vielen Städten in diesem Land genau das, was Sie immer fordern. ({16}) Bedenken Sie aber: Man kann eine solch grundsätzliche Reform wie die jetzige, bei der es um viele Menschen und um viel Geld geht, nicht übers Knie brechen. Wir wollen keine Schnellschüsse; wir wollen tatsächlich helfen. ({17}) - Herr Niebel, das Nebelhorn ruft wieder. ({18}) Wir wollen eine Gemeindefinanzreform, ({19}) weil wir nicht, wie Herr Koch, wollen, dass sich die Kommunen aus der Arbeitslosenversicherung bedienen und dass die geplanten Reformprojekte - Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sowie die entsprechenden Betreuungsangebote aus einer Hand - die Kommunen zusätzlich finanziell belasten. Deswegen brauchen wir die Einbettung in eine Gemeindefinanzreform ({20}) und das - das gebe ich gerne zu - schaffen wir in den nächsten vier Monaten nicht mehr. ({21}) Wir werden das aber in der nächsten Legislaturperiode angehen. ({22}) - Doch, Herr Niebel, wir schon! Sie haben gerade dargestellt, was Sie wollen. Sie wollen das Modell Wisconsin. Die eine Hälfte, die Hilfe und bessere Betreuung betrifft, ist in Ordnung. Sie wollen aber auch die andere Hälfte und die ist nicht in Ordnung, weil sie nicht sozial verträglich ist, weil die Sozialhilfe für bestimmte Personengruppen irgendwann vollständig gestrichen wird. Das kann nicht sein. Sie reden über etwa 800 000 Sozialhilfeempfänger, die arbeitsfähig sind. Davon ist die Hälfte in Arbeit oder in Projekten. ({23}) Es bleiben also etwa 400 000 Sozialhilfeempfänger. Sie benutzen das - das werfe ich Ihnen vor -, um den Sozialabbau, den Abbau von Sozialhilfe und die gänzliche Streichung von Sozialhilfe wieder in die Diskussion zu bringen. Das ist eine vordergründige Debatte. Wir haben mit dem Job-AQTIV-Gesetz und mit dem Antrag „Fördern und fordern - Sozialhilfe modern gestalten“, den wir heute verabschieden werden, ({24}) den richtigen Weg eingeschlagen. Wir wollen das transparent machen. Wir wollen natürlich die Selbstverantwortung der Menschen, die ohne Arbeit sind, stärken. Wir wollen die Best-Practice-Beispiele aus dem MoZArTProjekt umsetzen. Das ist unser Antrag; das ist unsere Linie. Sie - das sage ich Ihnen noch einmal - wollen eine Faulenzerdebatte nach vorn bringen, ({25}) die Betroffenen nicht integrieren, sondern ihnen letztlich selbst die Schuld für die Arbeitslosigkeit geben. Diese unsoziale Debatte machen wir nicht mit. Danke schön. ({26})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Pia Maier.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hessen hat das OFFENSIV-Gesetz in den Bundesrat eingebracht und ist damit zum Glück gescheitert. Im Bundestag wird es als Unionsinitiative wohl ebenfalls scheitern. Ich hoffe nur, dass es nicht Gegenstand der nächsten Unterschriftenkampagne in Hessen wird. ({0}) Würde dieses Gesetz verabschiedet, entstünde wirklich ein skurriler Wettbewerb. Es gäbe einen Wettbewerb zwischen den Bundesländern darum, welches Land am schnellsten die schlechtesten Regelungen für Sozial- und Arbeitslosenhilfe erlassen kann, um die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger dann am effektivsten zu gängeln. Nur gut, dass Sie damit im Bundesrat gescheitert sind! Sie wollen für die Länder weit gehende Öffnungsklauseln für die Sozialleistungen einführen. Geöffnet wird aber nur nach unten. Das kann doch wirklich kein Ziel von Sozialpolitik sein. ({1}) Bisher sind die Regeln dafür, wann jemand Sozialleistungen erhält, in den wesentlichen Grundzügen im ganzen Bundesgebiet gleich. Die Regelsätze der Sozialhilfe unterscheiden sich in den alten und neuen Bundesländern kaum voneinander - mit Ausnahme der Mindestregelsätze in Bayern. Ich möchte gern ein Beispiel dafür anführen, was die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen vermutlich bewirken würden: In Wiesbaden beträgt der volle Regelsatzbedarf für eine Familie mit zwei Kindern zurzeit ungefähr 961 Euro - ohne Miete. Bei einer Leistungseinschränkung nach § 25 BSHG - das sind die Sanktionen, die Sie ausbauen wollen - gilt bundesweit, dass für die Verstöße des Vaters nicht die ganze Familie haften muss. Deswegen wird bei Fehlverhalten des Vaters nur sein Teil der Sozialhilfe gekürzt. Diese Sanktionen wollen Sie verschärfen. Es soll nicht mehr nur beim Bedarf des Vaters gekürzt werden, sondern die ganze Familie soll den Gürtel enger schnallen. Nehmen wir die Familie in Wiesbaden als Beispiel. Sie erhält 961 Euro Sozialhilfe. Der Vater weigert sich, eine Arbeit anzunehmen, die das Amt für zumutbar hält. In Hessen würde, wenn ich die vorgeschlagenen Regelungen richtig verstehe, die Sozialhilfe um wahrscheinlich bis zu 190 Euro gekürzt. Zöge diese Familie nur wenige Kilometer weiter nach Mainz, würden nur ungefähr 60 Euro abgezogen. In Hessen bekäme die Familie also 130 Euro weniger als in Rheinland-Pfalz. In der gleichen Situation müsste die gleiche Familie aufgrund unterschiedlichen Landesrechts mit deutlich unterschiedlichen Sozialleistungen auskommen, und das auf dem niedrigsten Lebensniveau. Dieses Beispiel steht für nur eine von mehreren Sanktionen, die Sie verschärfen wollen. Das OFFENSIV-Gesetz will gerade bei Familien, die von Sozialhilfe leben, sparen, um den Lohnabstand zu erhöhen. Das ist hessische Sozialpolitik, die von der PDS nicht mitgetragen wird. ({2}) Mit diesem Gesetz schüfen Sie deutlich unterschiedliche Lebensbedingungen für Hilfeempfänger und -empfängerinnen. Das geht weit über das hinaus, was in Modellversuchen bislang zugelassen wurde. Der grundgesetzlichen Pflicht zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen widerspricht das wirklich massiv. Außerdem würden Sie die angrenzenden Länder in Zugzwang bringen. Die Länder müssten versuchen, vergleichbare Regelungen zu schaffen, weil sonst womöglich alle Sozialhilfeempfänger von Wiesbaden nach Mainz - das würde Mainz wohl auch nicht wollen - zögen. Das darf kein Ziel einer ausgleichenden Politik sein. Mit dem OFFENSIV-Gesetz will man Arbeitslose schnell in Niedriglohnjobs bringen. Dafür breiten Sie hier das ganze Instrumentarium aus, mit dem Arbeitslose gegängelt werden können, damit sie Arbeit annehmen müssen: egal wie sie bezahlt wird, egal was man vorher gemacht hat oder welche Qualifikation man hat. Sie wollen auch, dass jemand, der 600 Euro Arbeitslosenhilfe bekommt, eine Arbeit für 500 Euro annehmen muss. Hauptsache, es wird gearbeitet, egal zu welchen Bedingungen! Dieser Ansatz ist viel zu kurzsichtig, erstens für die Niedriglöhner selbst. Wer für einen Hungerlohn - der Lohn reicht gerade noch so zum Leben - dauerhaft arbeitet, hat nicht mehr genug in der Tasche, wenn er dann von Krankengeld, Arbeitslosengeld oder Rente leben muss, die auf der Grundlage dieses Lohns berechnet wird. Zweitens. Gerade schlecht bezahlte Jobs werden als erste abgebaut, wenn ein Betrieb Mitarbeiter entlässt. Die Gefahr, gleich wieder arbeitslos zu sein, ist also enorm hoch. Drittens. Mit solchen Vorschlägen setzen Sie das gesamte Lohngefüge unter Druck. Wenn es immer mehr Leute gibt, die schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen, steigt der Druck auch auf diejenigen, die noch etwas mehr bekommen, auf Lohn zu verzichten. Die Lohndumpingspirale nach unten bekäme neuen Schwung. So haben Arbeitnehmer immer weniger Geld in der Tasche, das sie ausgeben können und mit dem die Nachfrage angeregt werden könnte. Das ist keine Politik mit Weitsicht für mehr Beschäftigung. ({3}) Auf die eigentlich spannenden Fragen geben Sie gar keine Antwort: Wo sollen die Leute denn eigentlich alle arbeiten? Wo sind denn die Stellen, die von den Arbeitslosen - mit entsprechendem Druck - angetreten werden könnten? In Hessen kommen auf derzeit 267 000 Arbeitsuchende ganze 37 000 gemeldete offene Stellen. Das Missverhältnis von sieben Bewerbern pro offener Stelle müssen Sie doch erst einmal umkehren, bevor Sie mit solchen Vorschlägen kommen. ({4}) Aber: So was kommt eben von so was. Die Hessische Landesregierung hat ihre Ideen in Wisconsin geklaut. ({5}) Dort herrscht nahezu Vollbeschäftigung. Programme die in Wisconsin bei Vollbeschäftigung funktionieren, lösen ganz andere Probleme als die, die wir hierzulande haben. Hier sind zu wenig Arbeitsplätze das Problem und nicht zu wenig Arbeitskräfte wie in Wisconsin. Die Orientierung auf Billigjobs schafft neue Probleme, die wir noch gar nicht in dem Ausmaß haben, wie sie in den USA schon bestehen: Die Zahl der Working Poor, also derer, die um leben zu können, mehrere Jobs brauchen, ist in den USA deutlich höher. Zum Glück haben wir solche Zustände noch nicht. ({6}) Wir haben ein höheres Maß an sozialer Sicherheit und ausgleichender Gerechtigkeit als die Vereinigten Staaten. So soll es auch bleiben. Wenn Sie die Arbeitslosigkeit wirklich abbauen wollen, dann müssen Sie Arbeitsplätze schaffen. Geben Sie den Kommunen zum Beispiel Geld für Investitionen! Offenbach hat schon lange kein Geld mehr im Stadtsäckel. Schaffen Sie doch eine Pauschale ohne Kofinanzierung, die die Stadt ausgeben kann! Einziges Kriterium: Auftragsvergabe an Betriebe, die Arbeitslose einstellen. Damit könnten Sie die Arbeitslosigkeit abbauen. ({7}) Wenn Sie die Arbeitslosigkeit dauerhaft abbauen wollen, dann sollten Sie besser die Nachfrage ankurbeln. Die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen, den Ärmeren noch weniger zu geben, hilft der Nachfrage nicht. Stattdessen sollte Tariftreue mit öffentlichen Aufträgen belohnt werden. Sie sollten die vorhandene Arbeit besser verteilen, statt Überstunden zu dulden und öffentliche Arbeitsplätze in den Bereichen einzurichten, die sich ohnehin für kein Unternehmen betriebswirtschaftlich rechnen. ({8}) Sie sollten die soziale Sicherheit stärken, statt sie weiterhin aufzulösen. Hier stehen sich wirklich zwei Prinzipien gegenüber: Soziale Unsicherheit oder soziale Sicherheit schaffen? Die Union und Ministerpräsident Koch wollen Unsicherheit und weniger soziale Leistungen. Sie wollen mehr Druck, damit schlechtere Arbeit angenommen wird, damit die Löhne sinken und die, die Arbeit zu vergeben haben, noch reicher werden. Die PDS stellt diesem Sozialabbau ein Konzept sozialer Sicherheit entgegen, verteidigt klare Ansprüche auf Sozialleistungen und das Recht auf ordentlich bezahlte Arbeit. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn, der untere Standards sichert, und ein Vergabegesetz gegen Billiganbieter. ({9}) Statt Abschaffung der Arbeitslosenhilfe schlagen wir die Einführung einer Grundsicherung vor. ({10}) Außerdem sollen die Kommunen besser von den Kosten der Arbeitslosigkeit entlastet und alle Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger in die Arbeitslosenversicherung geholt werden. Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Sätze zur Sozialhilfereform der Bundesregierung sagen, die wir heute auch mit verabschieden. Sie verlängern mit dieser Sozialhilfereform die Regelung, dass die Regelsätze analog zur Rente angepasst werden. Die Regelsätze sind mangels Steigerung in den letzten Jahren ohnehin schon zu niedrig. Nach der Rentenreform steigen jetzt die Renten noch geringer. Die BfA veröffentlichte gerade, dass die Renten in diesem Jahr mit der alten Regelung - vor der Riester-Reform um einen Prozentpunkt mehr gestiegen wären. Es wird Sie nicht wundern, dass die PDS dem nicht zustimmt, sondern eine Anpassung der Regelsätze nach Lebenshaltungskosten fordert, um eine schleichende Armut zu vermeiden. Herr Koch, Sie können sich sicher sein: Gegen das OFFENSIV-Gesetz werden wir offensiv vorgehen. Danke. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher. ({0})

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! In Deutschland gibt es schon seit längerem, nicht erst seitdem der Ministerpräsident aus Hessen sich in die Diskussion eingeschaltet hat, eine Diskussion darüber, wie der Grundsatz „Fördern und Fordern“ in den großen sozialen Sicherungssystemen umgesetzt werden soll. Diese Diskussion mit Vorschlägen von sehr unterschiedlicher Qualität spiegelt sich auch in den Anträgen wider, die wir heute beraten. Die Regierungskoalition legt konkrete Regelungen vor, die für die laufende Arbeit der Sozialämter wichtig sind, und einen Antrag, der zeigt, wie wir das große Projekt für die nächste Legislaturperiode angehen wollen, die Reform der Sozialhilfe und die Kodifizierung im Rahmen des Sozialgesetzbuches als XIII. Buch. ({0}) Diese Reform muss auch eine Neujustierung der Hilfe zur Arbeit im Rahmen der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe im System der Arbeitslosenversicherung bringen. Der Umfang allein dieses Projektes wird deutlich, wenn wir uns die finanziellen Größenordnungen vor Augen führen, Frau Dr. Schwaetzer. Daraus ersieht man auch, warum man das nicht hoppla hopp machen kann. ({1}) Die Arbeitslosenhilfe hatte 2000 ein Volumen von 12,78 Milliarden Euro, davon allein 3,84 Milliarden Euro für Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, finanziert aus den Steuermitteln des Bundes. 4,9 Milliarden Euro Hilfe zum Lebensunterhalt für erwerbsfähige Sozialhilfebezieher und ihre angehörigen Bedarfsgemeinschaften wurden von Ländern und Kommunen finanziert und 1,1 Milliarden Euro haben die Kommunen für Hilfe zur Arbeit ausgegeben. Diese Leistungen gehen an 1 460 000 Arbeitslosenhilfebezieher und circa 950 000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger und ihre Familien. Insgesamt brauchen rund 2,7 Millionen Menschen in unserem Land Sozialhilfe. Der Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung im vergangenen Jahr erstmals vorgelegt hat, sagt uns, wie es um die Lebenslage dieser Menschen bestellt ist. ({2}) Er zeigt, wie Menschen ökonomisch absteigen. Er beschreibt, welche sozialen Gruppen besonderem Risiko ausgesetzt sind. Es sind vor allen Dingen Frauen, Alleinerziehende, Familien mit mehreren Kindern und Zuwandererfamilien, die so in Not geraten, dass sie Hilfe zum Lebensunterhalt brauchen. Allein bei den Kindern unter 18 Jahren gibt es rund 1 Million Sozialhilfeempfänger. Ich glaube, wir sind uns alle darüber im Klaren, dass ein reiches Land wie die Bundesrepublik sich diesen Skandal nicht länger leisten kann. ({3}) Fehlende Arbeitsplätze, schlechte Qualifikation, geringes Erwerbseinkommen, Überschuldung, fehlende Kinderbetreuungsplätze - Herr Singhammer, vor allen Dingen in Bayern - gehören zu den wichtigsten Ursachen von Bedürftigkeit, hier speziell von Alleinerziehenden. ({4}) ({5}) Die Zahl der Menschen, die Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen bekommen, hat sich allein während der Regierungszeit von Helmut Kohl mehr als verdoppelt. Hinter dieser Zahl stehen nicht nur schwere menschliche Schicksale, sondern auch große finanzielle Belastungen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hat im Jahr 2000 insgesamt rund 9,5 Milliarden Euro gekostet. Die Erfahrungen der Praxis und die Analyse der Anforderungen, die an ein zukunftsfähiges System der Sozialhilfe gestellt werden, zeigen, dass wir eine grundlegende Reform brauchen. Die Bundesregierung, die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, aber auch die Kommunen und einige Länder haben hier schon erste Schritte unternommen. Wir haben in den drei Jahren, die wir jetzt an der Regierung sind, ein ganzes Bündel von Gesetzen auf den Weg gebracht, die wesentlich dazu beitragen, dass Menschen erst gar nicht sozialhilfebedürftig werden. ({6}) Ich nenne beispielsweise die steuerliche Entlastung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die Entlastung von Familien, die Verbesserung des Familienlastenausgleichs, ({7}) die Wohngeldreform, die Sie seit 1990 haben schleifen lassen, ({8}) die soziale Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung aus medizinischen Gründen, die Arbeitsmarktpolitik, das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Es zeigt sich auch ein Erfolg dieser Politik: Die Zahl der Sozialhilfebedürftigen ist seit 1998 um insgesamt 7 Prozent zurückgegangen. Die Sozialhilfe ist und bleibt für uns eine unverzichtbare Säule des Sozialstaates. Wir müssen sie stärken und auf neue Anforderungen ausrichten. ({9}) Unser Ziel ist es, den Menschen die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht, wenn eigene Mittel, familiäre Unterstützung und vorrangige Sozialleistungen immer noch nicht ausreichen und der Hilfesuchende sich aus eigener Kraft nicht helfen kann. Die Sozialhilfe soll auch in Zukunft nicht nur die materielle Existenz sichern, sondern auch die Teilhabe am sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermöglichen. Wir wollen das zum Beispiel durch die nationalen Aktionspläne gegen Armut und soziale Ausgrenzung erreichen, die wir gemäß Beschluss der EU in Lissabon im Jahr 2000 im Zweijahresturnus vorlegen werden. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Mascher, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Meckelburg.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte um Verzeihung, Frau Mascher, dass meine Frage ein bisschen Abstand zu dem hat, was Sie gerade gesagt haben. Es war etwas schwierig, Kontakt zum Präsidium zu bekommen. Eben haben Sie aufgelistet, was Sie in der Sozialpolitik alles gemacht haben und was nach Ihrer Aussage dazu geführt hat, dass es allen besser geht. Würden Sie mir für Ihr Haus und damit diese Bundesregierung bestätigen, dass in den Jahren 2000 und 2001, wo die Rentenanpassungen niedriger als die Inflationsrate lagen und die Sozialhilfesätze an diese gekoppelt waren, die Sozialhilfeempfänger immer weniger in den Taschen hatten, da die Inflation stärker als die Sozialhilfesätze gestiegen ist? ({0}) Können Sie mir das bestätigen?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Nein, das kann ich Ihnen nicht bestätigen. ({0}) Wir verstehen die Sozialhilfe als Hilfe zur Selbsthilfe mit dem Ziel, Menschen wieder zu befähigen, unabhängig von der Sozialhilfe zu leben. Das heißt vor allem, Menschen wieder ins Erwerbsleben zu integrieren. Wir stehen hier vor einer sehr komplexen Herausforderung und vor einer Aufgabe, die Sachkompetenz und sorgfältige Abstimmungen voraussetzt, aber auch soziales Gespür und soziale Intelligenz verlangt. Aus gegebenem Anlass appelliere ich nicht nur an die Kollegen der Opposition, sondern an uns alle, verantwortungsvoll mit dem Thema Sozialhilfe umzugehen und keine Illusionen zu nähren, dass man hopplahopp Armut beseitigen und Sozialhilfebezug verringern kann, aber auch keine Vorurteile zulasten der Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu befördern und das soziale Klima in unserem Land zu verschlechtern. Das haben insbesondere die Kinder von Sozialhilfeempfängern nicht verdient. ({1}) Ich finde es problematisch, wenn Herr Stoiber vorrechnet, wie viele neue Stellen sich bei Umsetzung seiner Vorschläge schaffen ließen, oder wenn Herr Koch Sündenböcke schafft, indem er suggeriert, dass sich das Problem der Sozialhilfe von allein löse, wenn man - erlauben Sie mir das Bild - die Daumenschrauben nur ein wenig anziehe. ({2}) Meine Damen und Herren, wir sprechen von Problemen, die mehrere Millionen Menschen betreffen, Menschen, die oft ganz unverschuldet in eine schwierige Lebenslage geraten sind. ({3}) Ich denke, wir alle sind uns einig, dass diese Menschen Respekt und gezielte Hilfe verdienen. Das ist jedenfalls der Anspruch, mit dem die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen an die Reform der Sozialhilfe herangehen. Wir haben das in dem Antrag „Fördern und Fordern Sozialhilfe modern gestalten“ im Einzelnen dargelegt. ({4}) - Frau Dr. Schwaetzer, ich vertraue auf Ihre Lesefähigkeit. - Wichtige Aspekte sind dabei: Erstens. Die eigentliche Notlage: Der Hilfebedürftige muss stärker in den Vordergrund gestellt werden. Vorrangiges Ziel der Leistung ist die Überwindung der Hilfebedürftigkeit bei Arbeitslosigkeit, Überschuldung und Wohnungslosigkeit. Die Bearbeitung von Familienproblemen und die Auflösung von Betreuungsdefiziten gelingen nur dann, wenn sich der Hilfesuchende aktiv beteiligt. Wir wollen die Hilfebedürftigen stärker in den Hilfeprozess einbeziehen. Sie sollen als Partner ernst genommen werden. Denn wir sind sicher, dass das ein erster wichtiger Schritt ist, um eine Notlage zu überwinden. Anreize und Sanktionen können den Prozess unterstützen, sind aber kein Selbstzweck. Zweitens. Geldleistungen der Sozialhilfe, also der Regelsatz, Unterkunftskosten und einmalige Leistungen, müssen nach wie vor als soziale Leitplanken zur Überwindung einer Notlage gesehen werden. Das bedeutet, sie müssen so ausgestaltet sein, dass keine soziale Ausgrenzung erfolgt, aber auch so, dass sie nicht dazu verleiten, sich darin einzurichten. Die Geldleistungen müssen, insbesondere im Bereich der einmaligen Leistungen, vereinfacht werden. Der Betroffene muss wissen, womit er wirtschaften kann, und soll nicht ständig als Bittsteller mit ungewissem Ausgang antreten müssen. Die Verwaltung muss von den komplizierten Einzelfallregelungen entlastet werden. Drittens. Diese tiefgreifende Umgestaltung der Sozialhilfe kann man nicht einfach von oben verordnen. Wir wollen deswegen all die Erfahrungen, die wir mit der Experimentierklausel, der Pauschalierung von Sozialhilfeleistungen und den verschiedenen Projekten im Bereich der Hilfe zur Arbeit gemacht haben, auswerten. Dabei wollen wir nicht bis zum Jahr 2007 warten. Dieses Datum wird ja in dem Gesetzentwurf, der in Hessen ausgebrütet worden ist, nahe gelegt. ({5}) Wir wollen den Grundsatz des Förderns und Forderns, den wir schon im Job-AQTIV-Gesetz umgesetzt haben, auch im Bereich der Sozialhilfe zur Geltung bringen. Aber man muss ganz klar sagen: Wir wollen keine Sanktionen, die zum Beispiel so weit gehen, dass Kinder vom Fehlverhalten ihrer Eltern betroffen werden. Das kann nicht unsere Politik sein. ({6}) Eines lässt die CDU/CSU in ihrem Antrag ganz locker beiseite, nämlich die Schlüsselfrage: Wie wird das alles finanziert? Was bedeutet das für die Finanzverfassung? Sich einfach an der Arbeitslosenversicherung anzudocken und sie zur Finanzierung anzuzapfen, das halte ich für kein seriöses Konzept. ({7}) Das Ziel der Bundesregierung ist eine umfassende Sozialhilfereform. Wir befinden uns auf gutem Kurs. Wir brauchen keine neuen Experimentierklauseln bis 2007. Wir brauchen auch keine Schnellschüsse. Die Vorarbeiten für die Reform werden vorangetrieben. Die von Peter Hartz geleitete Kommission wird zu organisatorischen Fragen sowie zu den Schnittstellen zwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Vorschläge erarbeiten. Die Kommission zur Gemeindefinanzreform wird die Fragen der Finanzverantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden klären. Wir werden die Erfahrungen mit den Experimentierklauseln und den MoZArT-Projekten sowie die Ergebnisse der Arbeit zum Beispiel der Bertelsmann Stiftung auswerten. ({8}) Wir werden sehr genau sehen, was in den Familien- sowie Kinder- und Jugendberichten zur Situation von Frauen und Alleinerziehenden steht. Wir werden eine Sozialhilfereform durchführen, die abgestimmt ist und die zwar keine Patentrezepte enthält, aber eine wirklich grundlegende Neuordnung dieses wichtigen Bereiches mit sich bringt. ({9}) Wir versprechen hier nicht, den Königsweg erfunden zu haben. Wir behaupten auch nicht wie Herr Koch oder Herr Stoiber, wir hätten den Stein der Weisen in der Tasche, ({10}) ohne ein Finanzierungskonzept zu haben. Wir wollen nicht fünf Jahre warten, ({11}) bis wir bundesweit das Ziel einer besseren Integration durch Erwerbsarbeit erreichen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir heute im Deutschen Bundestag erleben, ist schon sehr bezeichnend. Trotz des Höchststands der Arbeitslosenzahlen von 4,3 Millionen und trotz der Tatsache, dass wir heute das zentrale Thema der Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe diskutieren, glänzte der Bundesminister für Arbeit zunächst einmal durch Abwesenheit ({0}) und musste erst durch eine Initiative der Opposition dazu bewegt werden, sich gnädig dazu herabzulassen, endlich in diesem Hohen Hause zu erscheinen. Das passt zusammen: erst 1,2 Millionen Arbeitslose aus der Statistik herauswerfen und dann, wenn im Bundestag darüber debattiert wird, nicht da sein. ({1}) Stärker kann man seine Verachtung und Nichtachtung der Arbeitslosen in Deutschland nicht ausdrücken, als es Walter Riester hier tut. ({2}) Nachdem Sie nun endlich da sind, Herr Minister, wollen Sie nachher auch noch das Wort ergreifen. ({3}) Nach den vielen Absichtserklärungen, die wir nun gehört haben, erwarte ich von Ihnen, dass Sie hier klipp und klar sagen, wie Sie Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen wollen und das Hilfeinstrumentarium für Langzeitarbeitslose einheitlich so ausgestalten wollen, dass es tatsächlich Wirkung hat. Denn es ist doch merkwürdig: Bei der CDU/CSU, bei der FDP, ({4}) bei den Koalitionsfraktionen wird erklärt, sie wollten Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen. Aber es geschieht nichts. Auch heute geschieht nichts. Das ist das Faktum. ({5}) Es geschieht nur eines: Auf Antrag der Bundesregierung werden heute mehrere Übergangsfristen im Bundessozialhilfegesetz noch einmal bis zum Jahr 2004 verlängert, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, nichts zu tun. Das ist das, was heute beschlossen wird: ein Gesetz zum Nichtstun! ({6}) Sie haben angekündigt, eine Sozialhilfereform durchzuführen; daran darf ich Sie erinnern. Sie haben derzeit noch die Mehrheit im Deutschen Bundestag. Sie stellen derzeit die Bundesregierung. Sie könnten handeln! ({7}) Stattdessen legen Sie dem Deutschen Bundestag einen weiteren Antrag vor, in dem Sie erklären, was Sie alles gerne machen würden, wenn Sie auch in der nächsten Legislaturperiode wieder an die Regierung kommen könnten. Ich will Ihnen eines sagen: ({8}) Ihre Methode des Vertröstens, die Sie heute anwenden, und Ihre Ankündigungen sind deswegen Schall und Rauch, weil Sie, wenn Sie so weitermachen, nach dem 22. September gar keine Gelegenheit mehr haben werden, das, was Sie jetzt erzählen, in die Tat umzusetzen. ({9}) Mit dem Entwurf des OFFENSIV-Gesetzes liegt jetzt wenigstens ein konkreter Vorschlag vor, den Sie beschließen könnten, ({10}) um einen ersten Schritt zu unternehmen - ich betone: nicht, um alle Probleme zu beseitigen -, um Arbeitslosenund Sozialhilfe wirklich zusammenzuführen: ({11}) gemeinsame Job-Center und die gleichen Beratungs- und Hilfemöglichkeiten für alle Hilfebezieher, gleiche Zumutbarkeitsschranken für alle Langzeitarbeitslosen, gleiche Förderinstrumentarien, gleiche Möglichkeiten, bei Arbeitsaufnahme etwas hinzuzuverdienen und damit einen besseren Arbeitsanreiz zu haben als bisher, gleiche Möglichkeiten der Qualifizierung, gleiche Sanktionsmöglichkeiten, wenn Hilfe und Arbeitsgelegenheit trotz Angebot abgelehnt werden. Sie wissen ganz genau, dass in all Ihren schönen Modellversuchen, die Sie so sehr loben, eines bleibt: Die unterschiedlichen rechtlichen Regelungen des Sozialhilfegesetzes und des SGB III stehen nebeneinander. Wir machen ein Angebot zu einem ersten Schritt, beides wirklich zusammenzuführen. Dabei könnten Sie mitmachen. Aber Sie sagen: Nein, das vertagen wir. ({12}) Sie haben große Schreckensszenarien entworfen, die aber alle daneben liegen. Uns geht es um das Prinzip, dass der Arbeitslose einen Betreuer bekommt und dass er nur aus einem Geldtopf Förderung erhält. ({13}) Wir bieten den arbeitslosen Menschen, die eine Arbeit suchen, eine Eingliederungsvereinbarung an. ({14}) In diesem verbindlichen Vertrag zwischen Hilfebezieher und dem Amt sollen Rechte und der Anspruch auf Leistungen, aber auch entsprechende Gegenleistungen festgeschrieben werden. ({15}) - Ich muss so laut sprechen, weil ihr die Wahrheit nicht vertragen könnt und deshalb dazwischenruft. Das ist der Punkt. ({16}) Anstatt den richtigen Schritt zu gehen - dass man ihn gehen kann, beweist das OFFENSIV-Gesetz -, zählen Sie Ihre Bedenken auf, die schon seit Jahrzehnten vorgetragen werden. Der neue Chef der Bundesanstalt für Arbeit, der von Ihnen ins Amt gesetzte Florian Gerster, ({17}) hat in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ festgestellt: Deutschland ist zu langsam, zu bedenklich, zu schwerfällig, was die Flexibilisierung vonArbeitsverhältnissen in der ergänzenden Beschäftigung angeht. Wir ziehen mit unserem Gesetzentwurf daraus die Konsequenz. Aber Rot-Grün blockiert. ({18}) Sie von Rot-Grün haben zum Thema Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe einen Antrag der Belanglosigkeiten vorgelegt. In dem Titel Ihres Antrages sprechen Sie so schön von „Fördern und Fordern“. Sie haben sich in der Überschrift leider etwas geirrt. Der Titel müsste heißen: Vertagen und Vertrösten. ({19}) Das ist Ihre Antwort an die Menschen, die in Deutschland Arbeit suchen und die in Deutschland auch Arbeit finden könnten. Es ist nämlich offenkundig, dass in einem breiten Beschäftigungssegment gerade für diejenigen, die als Langzeitarbeitslose heute auf Arbeitslosen- und Sozialhilfe angewiesen sind, Beschäftigung aktiviert werden könnte, wenn man nur wollte. Aber derzeit gibt es diese Beschäftigung leider nicht in Form legaler, sondern vorwiegend in Form illegaler Arbeit. Ein Spitzenergebnis rot-grüner Politik ist: Deutschland ist Spitze bei der Schwarzarbeit. Die Schwarzarbeit in Deutschland hat mittlerweile einen Anteil von 16,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. ({20}) Damit liegt Deutschland im Vergleich der Industriestaaten auf Platz drei hinter Italien und Spanien. Die legale Wirtschaftstätigkeit in Deutschland schrumpft dank Ihrer Politik; die illegale Beschäftigung nimmt zu. Unser Angebot, den Niedriglohnsektor zu aktivieren, Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfebeziehern zu helfen, in Beschäftigung zu kommen und dafür eine zusätzliche staatliche Förderung zu erhalten, schafft die Voraussetzung, damit aus illegaler Arbeit legale Arbeit werden kann. Das ist übrigens nicht nur die Position der CDU/CSU, sondern auch die Position des von Ihnen ins Amt gehievten Herrn Gerster. Er erklärt in einem Interview mit dem „Spiegel“: Ich bin überzeugt, dass wir nach diesem Prinzip eine Vielzahl neuer Stellen etwa im Handel, in der Landwirtschaft oder der Gastronomie schaffen können - Jobs, die heute allenfalls schwarz gemacht werden. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, um mit gezielten staatlichen Zuschüssen das riesige Beschäftigungsfeld gering qualifizierter Tätigkeiten etwa in Privathaushalten zu erschließen. ({21}) Was Gerster kapiert hat, das fordern wir schon lange. Aber es wird von Rot-Grün bis zum heutigen Tag blockiert. ({22}) Zu Beginn dieser Legislaturperiode vor bald vier Jahren ist diese rot-grüne Regierung mit dem Motto angetreten, sie müsse einen angeblichen Reformstau auflösen. ({23}) Heute, vier Jahre später, müssen wir angesichts der dramatischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt feststellen, dass der Reformstau in Deutschland einen Namen hat. Der Name lautet Rot-Grün. ({24}) Peter Weiß ({25}) Deutschland ist mittlerweile, was Wirtschaft und Arbeitsmarkt anbelangt, in Europa auf einem Abstiegsplatz. Die Regierungsmannschaft ist konzeptionslos und bei Debatten gar nicht mehr anwesend, der Trainer am Ende seiner Ideen. Wir wollen, dass Deutschland im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger wieder um die Meisterschaft spielt. Dazu brauchen wir eine neue Mannschaft und einen neuen Trainer. Vertragsabschluss für die Neuen ist am 22. September. Vielen Dank. ({26})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Niebel von der FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die SPD wegen der Rede von Ministerpräsident Koch eine Sondersitzung ihrer Fraktion beantragt hatte, hatten Kollege Riesenhuber und ich gehofft, dass sie darüber nachdenkt, was sie in den letzten dreieinhalb Jahren aus ihrem Versprechen, eine Sozialhilfereform umzusetzen, gemacht hat, und anschließend hier im Plenum des Deutschen Bundestages feststellt, nur eine Verlängerung einer Verlängerung einer Übergangsregelung komme dem versprochenen Anspruch nicht wirklich nahe. ({0}) Leider haben wir uns geirrt. Das ist schade. Aber Sie haben noch 219 Tage lang Zeit, Ihr Versprechen zu erfüllen und die steuerfinanzierten Hilfesysteme so umzubauen, dass sie den betroffenen Menschen Zukunftschancen eröffnen. ({1}) Das von der Union vorgelegte OFFENSIV-Gesetz geht in die richtige Richtung, verfolgt aber in erster Linie nur das Ziel, noch einmal deutlich darauf hinzuweisen, dass Sie mit Ihrer totenstarren „ruhigen Hand“ dreieinhalb Jahre lang nichts getan haben. Es reicht nicht aus, sich damit herauszureden, dass andere vor Ihnen regiert hätten. Sie trugen dreieinhalb Jahre lang die Verantwortung und haben in dieser Zeit Ihre Versprechen nicht erfüllt. Dafür werden Ihnen die Wählerinnen und Wähler am 22. September die Quittung geben. ({2}) In der Bundesrepublik Deutschland gibt es zwei steuerfinanzierte Transferleistungssysteme, die für ein und denselben Lebenssachverhalt, nämlich die Unterstützung derer, die sich ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene Erwerbstätigkeit finanzieren können, gedacht sind und deren Verwaltung 3,5 Milliarden Euro kostet. Die für diese Doppelverwaltung benötigten Steuergelder sollten sinnvollerweise für die Unterstützung derjenigen Menschen ausgegeben werden, die in diesem Land Hilfe brauchen, weil sie nicht alleine für sich sorgen können. Allein der Umstand, dass sich das Drittel der Arbeitslosenhilfeempfänger, das ergänzende Leistungen zum Lebensunterhalt bezieht, in ihren wesentlichen wirtschaftlichen Verhältnissen vor zwei wildfremden Beamten quasi entkleiden muss - dies hat etwas mit der Würde der Menschen zu tun, die nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können -, lässt es als sinnvoll erscheinen, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzufassen. ({3}) Natürlich ist es sinnvoll, dass man versucht, all diejenigen, die aus der Versicherungsleistung herausgefallen und bei der steuerfinanzierten Bedürftigkeitsleistung - wie auch immer sie dann heißt - angekommen sind, einheitlich und umfassend zu betreuen. Selbstverständlich brauchen wir mittelfristig Job-Center, in denen staatliche und private Vermittler gemeinsam und in Konkurrenz zueinander Bildungsträger, Therapieangebote und im Zweifelsfall auch gemeinnützige Tätigkeiten anbieten. Diesen Weg verbauen Sie in dieser Legislaturperiode, statt die letzten 219 Tage Ihrer Regierungszeit zu nutzen, auf diesem Weg den ersten Schritt zu gehen. ({4}) Ein Fallmanager, der die Lebensumstände der Einzelnen genau kennt, der den zu betreuenden Personen Hilfestellungen geben kann, ist genau der Richtige, damit sie wieder in den Arbeitsprozess hineinkommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu der Faulenzerdebatte, die Sie uns hier unterstellen wollen, hat Ihr Bundeskanzler angestiftet. Das muss man ihm auch immer wieder sagen. Natürlich gibt es keine Leistung ohne die grundsätzliche Bereitschaft zur Gegenleistung. Wer aber nicht in der Lage ist, etwas leisten zu können, braucht unsere Hilfe. Dafür brauchen wir angesichts der heute knappen Haushaltsmittel jeden verfügbaren Euro. Damit diejenigen, die nichts leisten können, unsere Hilfe bekommen, müssen wir also all diejenigen sanktionieren, die nichts leisten wollen. ({5}) Wir müssen die Schwachen vor den Faulen schützen. Erlauben Sie mir ein Beispiel. Sie haben vielfach darauf hingewiesen, dass ich aus der Arbeitsvermittlung komme. Ich kann nur sagen: Man lernt aufgrund praktischer Erfahrungen. 1994 gab es im politischen Umfeld eine Diskussion, an die ich mich noch sehr genau erinnere; damals war ich noch Arbeitsvermittler. Es wurde darüber diskutiert, ob die Arbeitslosenhilfe nicht auf drei Jahre befristet werden sollte. ({6}) - Dies haben Sie schon in zwei Debatten gemacht, lieber Kollege, allerdings im Rahmen von Aktuellen Stunden, und dort konnten Sie keine Zwischenfrage stellen. Nun haben Sie die Gelegenheit, aufzustehen und eine Frage zu stellen. Dann bekommen Sie eine Antwort. Mit Ihren Beschimpfungen können Sie in Aktuellen Stunden fortfahren. Ich kann mich noch erinnern, wie viele Arbeitslosenhilfeempfänger, die bereits zwei, drei oder auch fünf Jahre - bis hin zu 16 Jahren - Arbeitslosenhilfe bezogen haben, Peter Weiß ({7}) plötzlich beim Arbeitsamt erschienen und außerordentlich glaubwürdig erklärten, wie dringend sie schon immer und gerade jetzt eine Arbeit suchen. Nach Ende der Diskussion über einer Befristung der Arbeitslosenhilfe hat man diese Arbeitslosenhilfebezieher nicht mehr gesehen. Mit anderen Worten: Es gibt natürlich einen großen Teil jener, die händeringend Arbeit suchen. Es gibt aber auch genügend andere, bei denen man hier und da nachhelfen muss, damit das System nicht so stark strapaziert wird, dass diejenigen, die wirklich Hilfe brauchen, nicht mehr versorgt werden können. Deswegen ist dies der richtige Ansatz. ({8}) Die FDP-Bundestagsfraktion hat einen Antrag eingebracht, der auch die Finanzierung gemeinsam mit den Kommunen regelt. Natürlich brauchen wir dafür eine Gemeindefinanzreform, Frau Dückert. Was dazu aber von Rot-Grün in dieser Legislaturperiode vorgelegt worden ist, war eine „gemeine“ Finanzreform. So wird das nicht funktionieren. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat jetzt der Bundesminister Walter Riester das Wort. Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Abgeordneter Weiß, ich weiß nicht genau, gegen wen oder für wen Sie sprachen. Als ich hierher kam, habe ich mich gefreut, dass der Plenarsaal aufgrund des kleinen Aufstands voll war; denn ich dachte, ich könnte zu dieser wichtigen Frage einmal vor allen im Parlament sprechen. ({1}) Ich sehe jetzt, dass Ihre Fraktion, Herr Niebel, hier noch nicht einmal mehr mit ihrem Anteil von 7 Prozent vertreten ist. So ernst also nehmen Sie dieses Thema. ({2}) Da wir gerade bei dem Stichwort „ernst“ sind: Herr Ministerpräsident Koch, als Sie das erste Mal Ihre Überlegung öffentlich geäußert haben, habe ich dies bereits gesagt: Ich teile Ihre Auffassung in vielen Punkten, nämlich dann, wenn sie sich auf die gut entwickelte Praxis bezieht, die es nicht zuletzt auch in Bereichen Ihres Landes gibt. Ich kenne die Praxis, die im Main-Kinzig-Kreis entwickelt worden ist, sehr genau. Dies ist zum Teil in das Job-AQTIV-Gesetz aufgenommen worden. Was ich allerdings nicht für richtig halte, ist, bis zum Jahr 2007 eine Experimentierklausel aufzunehmen, da die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Neugestaltung viel schneller vonstatten gehen müssen. Was ich ebenfalls nicht teile, ist die Auffassung, dass Sanktionsmöglichkeiten im Einzelfall sozusagen flächendeckend zwingend notwendig sind; denn dafür müssten wir ein entsprechendes Angebot an Arbeitsplätzen haben. Das will ich nicht, um es einmal deutlich zu sagen. ({3}) Mit einem solchen Anspruch kämen wir flächendeckend - dies ist nicht polemisch gemeint, ich will nur zum Nachdenken anregen - zu einem zweiten Arbeitsmarkt. Mein Ziel ist es, alles dafür zu tun, dass mit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe denjenigen, die arbeitsfähig sind, ein schneller Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ermöglicht wird. ({4}) An diesem Ziel müssen sich die Organisations- und Finanzstränge ausrichten. Dies bedeutet aber, dass wir parallel dazu eine Gemeindefinanzreform in Angriff nehmen. Noch in diesem Monat wird die Regierung die Zusammenführung dieser beiden Projekte vornehmen. Unser Ziel ist es, spätestens Ende 2004 die gesamte Reform abgeschlossen zu haben und sie mit den entsprechenden Schritten der Arbeitsmarktreform zu verbinden. Nun zu dem, was bereits geschehen ist. Meine Damen und Herren, über die Hälfte der Arbeits- und Sozialämter in Deutschland haben in den letzten drei Jahren enge Kooperationen entwickelt, die sie auch praktizieren. ({5}) Zum Teil sind sie über die Modellprojekte MoZArT entsprechend unterstützt worden. ({6}) Herr Ministerpräsident, gerade in den zwei am meisten entwickelten Teilen Ihres Landes, im Main-Kinzig-Kreis und in Wiesbaden, ist das der Fall. Genau das unterstützen wir. Genau das ist in der Praxis entwickelt worden. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich darf Sie vielleicht daran erinnern, dass Sie damals, als der unbequeme Schritt anstand, die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosenhilfeempfänger an den Zahlbeträgen auszurichten, alle samt und sonders dagegen gestimmt haben. ({7}) Bei dieser Frage darf man sich nicht in die Büsche schlagen. Deswegen bezweifle ich, dass Sie reformfähig sind. Dort, wo es unbequem wird, wo es über Spruchblasen hinausgeht, ducken Sie sich sofort. ({8}) Sie waren lange Jahre reformunfähig. 1997 war „Reformunfähigkeit“ das Wort des Jahres. Sie haben sich auch in Ihrer Oppositionszeit als reformunfähig erwiesen. ({9}) Weil ich das weiß, kann ich solche Kleinaufstände, wie ich sie vorhin erlebt habe, wo man auf einmal das Haus füllt und es schlagartig wieder verlässt, wenn es um die Diskussionen geht, leider nicht mehr ernst nehmen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Riester, fünf Minuten seichte Ankündigungsrhetorik ersetzen keine einzige Tat. ({0}) Davon haben die Menschen hier im Plenum und auch diejenigen, die uns sonst zusehen, zunehmend die Nase voll. Durch Ihre Regierungszeit zieht sich ein roter Faden: ({1}) Es begann mit dem Spruch, an den sich viele noch erinnern: Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser. ({2}) Heute, nach dreieinhalb Jahren, stellen wir - und nicht nur wir - fest: Es ist vieles, ja sogar nahezu alles schlechter geworden. ({3}) Die Menschen können dies auch sehr genau überprüfen. Das Einzige, was Konjunktur hat, ({4}) ist die Schwarzarbeit. Der Kollege hat schon darauf hingewiesen, dass sie mit 16,5 Prozent der regulären Wirtschaftsleistungen einen neuen traurigen Höchststand erreicht hat. Die Menschen suchen Auswege aus einem überbordenden Abgabenstaat. ({5}) Die Bilanz, die Sie jetzt vorweisen - das ist ein sehr ernstes Thema und diese muss man auch im Zusammenhang sehen -, ist deprimierend. ({6}) Die deutschen Sozialversicherungen sind in der Krise. Obwohl der Arbeitsmarkt allein aus demographischen Gründen jedes Jahr um 200 000 Menschen schrumpft, ist die Zahl der offiziell gemeldeten Arbeitslosen jetzt auf 4,3 Millionen angestiegen. ({7}) Die Krankenversicherung gerät aus den Fugen. Die Beiträge steigen und betragen im Durchschnitt nunmehr 14 Prozent. Die Pflegeversicherung wird von Ihnen Monat für Monat angezapft und Gelder der Versicherten werden in andere Systeme überführt. In der Rentenpolitik sind Sie trotz der Ökosteuer gescheitert. ({8}) Trotz Ökosteuer wird der Rentenbeitrag im nächsten Jahr auf 19,3 Prozent steigen. ({9}) Die Menschen zahlen doppelt: Ökosteuer und höhere Beiträge. ({10}) Über allem schwebt wie ein Wetterleuchten die heraufziehende demographische Katastrophe, die uns alle besorgt macht. Ihre Rezepte darauf sind Ankündigungen und Versprechungen, die Sie immer wieder kassieren. Die Lage ist so ernst, dass wir eine Neujustierung der Sozialversicherungssysteme und eine Generalrevision der Arbeitsmarktordnung brauchen. Das OFFENSIVGesetz, das von Hessen initiiert worden ist und das der hessische Ministerpräsident hier in einer überzeugenden Weise begründet und dargelegt hat, ({11}) haben wir gerne als Initiative übernommen, weil es genau diese Neujustierung beinhaltet. ({12}) - Herr Kollege, Sie brauchen sich nicht zu erregen, ich sage Ihnen schon, worum es geht. ({13}) Es geht nicht darum, Politik mit einer neuen Mitleidlosigkeit zu betreiben, sondern wir wollen vielmehr einen im guten Sinne verstandenen mitfühlenden Sozialstaat errichten. ({14}) Das bedeutet, dass diejenigen, die leistungsfähig sind, ihre Leistung für das Ganze einbringen müssen, und dass die Menschen, die nicht in der Lage sind, entsprechende Leistungen zu bringen, auch weiterhin mit unserer Hilfe und unserem Engagement rechnen können. Bundesminister Walter Riester Ich sage Ihnen ganz konkret, welche beiden Gruppen wir meinen. Zum einen meinen wir Familien mit Kindern, die es ganz besonders schwer haben. Frau Staatssekretärin, in einem stimme ich Ihnen zu: Es ist ein Skandal, dass noch immer eine so große Zahl von Kindern Sozialhilfe beziehen muss. Wir wollen dem mit dem Familiengeld ein Ende setzen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, man muss die Zwischenrufe verstehen können. Bei 30 Zwischenrufen gleichzeitig geht das nicht. - Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schemken?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollege Schemken, bitte

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es wäre ganz gut, wenn Sie jetzt einmal aufmerksam zuhören würden. Vielleicht frage ich ja in Ihrem Sinne. Herr Kollege Singhammer, wie bewerten Sie den Vorwurf, der bezüglich der Kinderbetreuung hier soeben gegenüber dem Land Bayern gemacht wurde? Ich gehe davon aus, dass Sie - bezogen auf die Metropole München dazu eine Auskunft geben können. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schemken, die Kollegin Mascher hat darauf hingewiesen und gemeint, sie müsse dem Freistaat Bayern einen besonderen Nachholbedarf in Sachen Kindergartenversorgung vorhalten. ({0}) Dies ist nicht richtig. Es gibt allerdings eine einzige Ausnahme: In der rot-grün regierten Landeshauptstadt München sind die Zahlen in Bayern am schlechtesten. Das ist eine Schande. ({1}) Ich darf den Gedanken von gerade aufgreifen, bei welchen Gruppen wir mehr tun müssen: Das sind zum einen die Familien und zum anderen die Menschen mit einem Handicap bzw. einer Behinderung. Das meine ich mit einem mitfühlenden Sozialstaat. Das heißt aber auch - das ist der vollständig richtige Ansatz -, dass Menschen, die gesund und tatkräftig sind und die keinenAnhang haben, mehr tun müssen und nicht mehr damit rechnen können, sich in einem sozialen Netz ohne eigenes Engagement längere Zeit aufhalten zu können. Das ist richtig und notwendig; dahinter stehen wir auch. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, soziale Ungerechtigkeit entsteht vor allem dann, wenn Leistungsunterschiede nicht beachtet werden, wenn also derjenige, der mehr tun kann, nicht gefordert wird und derjenige, der mehr Hilfe braucht, die entsprechende Hilfe nicht erhält. Das OFFENSIV-Gesetz ist genau das richtige Rezept gegen eine Entwicklung, die die Menschen in unserem Land immer mehr beklagen. ({3}) - Herr Kollege, das ist keine Mogelpackung, das ist ein konkreter Antrag, der umgesetzt wird, wenn wir mit Ihrer Hilfe die entsprechende Mehrheit erhalten und Sie nicht bloß die übliche Ankündigungsrhetorik verwenden, die Sie seit vielen Jahren hier praktizieren. ({4}) Ich komme jetzt zu einem wichtigen Punkt: Damit die Menschen aus dem Bereich der sozialen Fürsorge wieder heraus und auf eigene Füße kommen, ({5}) brauchen wir ein abgestimmtes System. Wir haben uns nicht mit Ankündigungen aufgehalten, sondern wir haben eine klare Konzeption vorgelegt. ({6}) Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Zunächst komme ich zum Geringverdienerbereich. Wir haben als Grenze 400 Euro vorgeschlagen. Ihr 630-DM-Gesetz war das größte Feuerwerk für mehr Schwarzarbeit in Deutschland in den letzten 20 Jahren. ({7}) Wir wollen die Menschen wieder in eine legale Beschäftigung zurückholen und wir wollen insbesondere den Einstieg in eine Beschäftigung erleichtern. Deshalb haben wir 400 Euro vorgeschlagen. Die Geringverdiener sollen keine zusätzlichen Abgaben zu entrichten haben und die Pauschalsteuer wird vom Arbeitgeber ganz unbürokratisch entrichtet. Der nächste Schritt ist das Einfädeln in die Beschäftigung, ohne gleich hohe Abgaben an die Sozialversicherung entrichten zu müssen, damit ein gleitender Übergang erreicht wird. Damit wird Schwarzarbeit vermieden und der Einstieg erleichtert. Unser Gesamtkonzept, das, was wir heute Vormittag besprochen haben, bedeutet für diejenigen, die in der Sozialhilfe sind, eine Hilfe, um wieder in Arbeit zu kommen. Dies geschieht nicht nur mit guten Worten, sondern vor allem auch mit Taten, wie wir sie festgelegt haben. Das ist ein geschlossenes Konzept. Hätten Sie das verwirklicht, dann stünden Sie nicht vor einem solchen Scherbenhaufen, wie das bei Ihnen der Fall ist. ({8}) Ich verspreche Ihnen an dieser Stelle: Wir werden es anders machen. Ich bin mir auch sicher: Wir werden es besser machen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Walter Hoffmann von der SPD-Fraktion das Wort.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Singhammer, ich hatte nicht den Eindruck, dass der hessische Ministerpräsident seine Position in einer überzeugenden Art und Weise dargelegt hat. ({0}) Das ist sicherlich eine subjektive Auffassung von Ihnen gewesen. Die anwesende Mehrheit dieses Hauses hat dies in der Tat nicht so gesehen. ({1}) Aber ich bekenne: Es ist bemerkenswert, dass er an dieser Diskussion heute teilnimmt. Es ist deshalb bemerkenswert, weil es mittlerweile verdeutlicht, wer in der immerhin zweitgrößten Bundestagsfraktion in der Sozialpolitik den Ton angibt. ({2}) Wenn ich Ihnen einen Ratschlag geben darf - normalerweise macht man das nicht -, ({3}) dann empfehle ich Ihnen schlicht und ergreifend: Entwickeln Sie eigenständige, selbstkritische Positionen! Lassen Sie sich nicht von Hessen an der Leine führen! ({4}) Wenn es nun so wäre, dass in der Diskussion qualitative Sprünge entstanden wären, dann hätte ich das akzeptiert. Aber wir alle haben mitbekommen, dass das in dieser Sache nicht geschehen ist. Vieles von dem, was wir heute diskutieren, ist Ausdruck von Aktionismus, der nicht durch die Sache selbst, sondern nur durch die Vorwahlkampfzeit und durch nichts anderes zu begründen ist. ({5}) Ihre Forderung, zum Beispiel Vermittlungsagenturen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger einzurichten, ({6}) ist im Kern völlig richtig. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln. ({7}) Die Grundidee der Zusammenfassung von Beratung, Betreuung, Vermittlung und Leistungsauszahlung in einer Hand kann nur von jedem unterstützt werden. Aber genau das machen wir auch. ({8}) Sie rennen mit Ihrer Forderung offene Türen ein. Es ist von mehreren Vorrednern bereits gesagt worden: Es gibt, unterstützt mit 15 Millionen Euro, auch in CDU/CSU-geführten Bundesländern bundesweit 30 Modellversuche. Dort wird eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Sozial- undArbeitsämtern erprobt. Genau dort gibt es gemeinsameAnlaufstellen, in denen Hilfebedürftige beider Systeme, von der Beantragung von Leistungen über die Erarbeitung von Eingliederungsplänen bis hin zur Vermittlung, im Grunde genommen von einer Stelle betreut werden. Das ist in der Sache richtig und sinnvoll. Deshalb sage ich noch einmal: Wir sollten diese Modellversuche -sie laufenzumgrößtenTeil imFrühjahrdieses Jahresaussinnvoll mit Kreativität und Fantasiereichtum auswerten und dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Ich will noch einmal das unterstreichen, was der Bundesarbeitsminister gerade gesagt hat. Ich warne sogar davor, Herr Koch, Ihren Antrag anzunehmen; denn die Datierung Ihres Antrages bis zum Jahre 2007 würde praktisch bedeuten, dass wir eine richtige Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe erst ab dem Jahre 2007 angehen könnten. Das dauert uns viel zu lange. So lange wollen wir nicht warten. Wir wollen dies bereits im Jahre 2003 nach der gewonnenen Bundestagswahl machen. ({9}) Es ist bereits - ich will das nicht wiederholen - auf viele Modellprojekte auch in Hessen hingewiesen worden. Ein Modellprojekt läuft im Main-Kinzig-Kreis. Sie alle kennen diese Projekte und wissen, dass sie gut laufen. Mit ihnen ist es gelungen, die Zahl der Sozialhilfeempfänger drastisch zu verringern. Das ist eine von uns allen anzuerkennende Leistung. ({10}) Es bleiben einige wirklich schwer zu verändernde Fakten. Fakt ist, dass wir die Zahl der Sozialhilfeempfänger nur zu einem bestimmten Prozentsatz verringern können, denn nur ein kleiner Teil von ihnen ist - ich glaube, das hat man mittlerweile verstanden - arbeitsfähig. ({11}) Zweiter Fakt ist: Alle Drohungen mit Kürzungen der Sozialhilfe laufen im Grunde genommen leer. Wir können bereits mit der bestehenden Rechtslage Kürzungen vornehmen. Die Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe, ist: Was will man eigentlich erreichen, wenn man das konkret weiß? Der dritte Punkt - man muss auch das klar und deutlich festhalten -: Das System und das Angebot von stärkerer Betreuung und Sanktionen auf beiden Seiten setzen voraus, dass eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen existiert. Ich denke, wir haben ein paar gute und richtige Schritte gemacht. Es ist das Job-AQTIV-Gesetz erwähnt worden, wir setzen im Moment das rheinland-pfälzische Niedriglohnmodell um. Das sind Schritte in die richtige Richtung, die wir weiter fortführen möchten. Es wird unser aller Aufgabe sein, in diesem Segment - im Dienstleistungssektor, im Niedriglohnbereich - verstärkt Arbeitsplätze zu schaffen, damit wir den Sozialhilfeempfängern und den Arbeitslosenhilfeempfängern etwas Konkretes anbieten können. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Alle Vorschläge zur Verbesserung der individuellen Beratung und Hilfe dürfen nicht die bestehenden Modellprojekte und Versuche ignorieren und quasi einen Neubeginn in der Diskussion fordern. Bundesweite Spezialregelungen sind nicht nur bezogen auf die einzelnen Länder verfassungsrechtlich unmöglich, sondern führen auch zu Flickenteppichen, die die Entwicklung einheitlicher Lebensverhältnisse in den Regionen massiv erschweren werden. Das wollen wir auf keinen Fall.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von daher bleiben der Vorwurf - Herr Koch, ich kann das nicht ändern - des Populismus und der Verdacht, dass, wie schon einmal, diesmal auf Kosten der Minderheit der Sozialhilfeempfänger aus Stimmungen Wählerstimmen gemacht werden sollen. Das ist nicht nur abgekocht, sondern im wahrsten Sinne des Wortes abgebrüht. ({0}) Wir werden uns dagegen ganz massiv wehren. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hoffmann, Ihre Redezeit ist weit überzogen. Kommen Sie bitte zum Schluss.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sollten also die bestehenden Handlungsmöglichkeiten mit den Experimentierklauseln nutzen und das Angebot des neuen Job-AQTIV-Gesetzes in der Praxis umsetzen, die Erfahrungen aus den 30 MoZArT-Projekten ebenfalls weiter entwickeln und die vorhandenen kommunalen Experimente umsetzen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit einer ruhigen Hand die Reform der Sozialhilfe in der nächsten Legislaturperiode angehen werden. Herr Singhammer, dann wird es uns gelingen, einen mitfühlenden Sozialstaat zu entwickeln. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Zum Tagesordnungspunkt 4: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/8365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zum Zusatzpunkt 2 a: Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwürfe zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundessozialhilfegesetz auf Drucksachen 14/8010 und 14/7280. Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/ 8531, die genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur Verlängerung von Übergangsregelungen im Bundesozialhilfegesetz in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen?- Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis angenommen. Zusatzpunkt 2 b: Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/ 8531 die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/7293 mit dem Titel: „Fördern und Fordern - Sozialhilfe modern gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/5982 mit dem Titel „Für eine Reintegration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt - Anreize für die Rückkehr in das Erwerbsleben erhöhen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8531 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7298 mit dem Titel „Die Walter Hoffmann ({0}) Sozialhilfe armutsfest gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der PDS- Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 k - es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfah- ren - sowie die Zusatzpunkte 3 a bis c auf: 20.a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium zum Schutz von Beobachtern internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens der mazedonischen Regierung vom 8. Februar 2002 und der Resolution Nr. 1371 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 26. September 2001 - Drucksache 14/8500 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes ({3}) - Drucksache 14/8448 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes und straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ({5}) - Drucksache 14/8447 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Innenausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft zur Finanzierung von Bundesverkehrswegen ({7}) - Drucksache 14/8449 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Ausschuss für Tourismus e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Grundstoffüberwachungsgesetzes - Drucksache 14/8387 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, Bonn - Drucksache 14/8465 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9}) Ausschuss für Kultur und Medien g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Auswärtigen Dienst ({10}) - Drucksache 14/8225 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({11}) Innenausschuss Rechtsausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Litauen vom 23. Februar 2001 und zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Slowenien vom 2. März 2001 ({12}) - Drucksache 14/8199 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Drucksache 14/8450 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Die Gewaltspirale im Nahen Osten beenden - Drucksache 14/8271 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({15}) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms k) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Übereinkommen über nukleare Sicherheit Bericht der Regierung der Bundesrepublik Deutschland für die Zweite Überprüfungsta- gung im April 2002 - Drucksache 14/7732 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank, Dirk Fischer ({16}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Verbesserung der Schifffahrtsverhältnisse im Donauabschnitt zwischen Straubing und Vilshofen - Drucksache 14/8484 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({18}), Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen - Drucksache 14/8497 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({19}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Dirk Fischer ({20}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Notwendigkeit des Saaleausbaus - Drucksache 14/8485 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Gesetzentwürfe auf Drucksache 14/8447 und Drucksache 14/8449 sollen zusätzlich an den Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 b, c und e bis m auf. Dabei handelt es sich um die Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 21 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung einer bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer - Drucksache 14/8211 ({22}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({23}) - Drucksache 14/8505 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Hansjürgen Doss Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/8505, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktion und der PDS-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 21 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Verträgen vom 15. September 1999 des Weltpostvereins - Drucksache 14/7977 ({24}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({25}) - Drucksache 14/8446 Berichterstattung: Abgeordneter Werner Schulz ({26}) Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/8446, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Tagesordnungspunkt 21 e: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Februar 2001 zur Ergänzung des Abkommens vom 5. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Lettland über den Luftverkehr - Drucksache 14/7419 ({27}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({28}) - Drucksache 14/8355 Berichterstattung: Abgeordneter Norbert Königshofen Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/8355, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 21 f: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Oktober 2000 zur Änderung und Ergänzung des Abkommens vom 18. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Bahrain über den Luftverkehr - Drucksache 14/7978 ({29}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({30}) - Drucksache 14/8356 Berichterstattung: Abgeordneter Norbert Königshofen Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/8356, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 21 g: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Juni 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kap Verde über den Luftverkehr - Drucksache 14/7976 ({31}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({32}) - Drucksache 14/8357 Berichterstattung: Abgeordneter Norbert Königshofen Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/8357, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 21 h: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes vom 20. Mai 1997 zur Revision des Übereinkommens vom 20. März 1958 über die Annahme einheitlicher Bedingungen für die Genehmigung der Ausrüstungsgegenstände und Teile von Kraftfahrzeugen und über die gegenseitige Anerkennung der Genehmigung - Drucksache 14/7245 ({33}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({34}) - Drucksache 14/8405 Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Heise Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/8405, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 21 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 362 zu Petitionen - Drucksache 14/8369 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 362 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Tagesordnungpunkt 21 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 363 zu Petitionen - Drucksache 14/8370 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 363 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 21 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 364 zu Petitionen - Drucksache 14/8371 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 364 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungpunkt 21 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 365 zu Petitionen - Drucksache 14/8372 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 365 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDPFraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 21 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 366 zu Petitionen - Drucksache 14/8373 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Sammelübersicht 366 ist einstimmig an- genommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e sowie die Zusatzpunkte 4 bis 7 auf: 5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf Bindig, Lilo Friedrich ({40}), Angelika Graf ({41}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christa Nickels, Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller ({42}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 58. Tagung der VN-Menschenrechtskommis- sion in Genf - Drucksache 14/8376 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({43}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Völkerrecht und im in- ternationalen Bereich - Drucksachen 14/7483, 14/8406 - Berichterstattung: Abgeordnete Heide Mattischeck Hermann Gröhe Sabine Leutheusser-Schnarrenberger c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf Bindig, Lilo Friedrich ({44}), Angelika Graf ({45}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Christa Nickels, Dr. Angelika Köster- Loßack, Cem Özdemir, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Weltweite Bekämpfung und Ächtung der Folter - Drucksache 14/8488 - d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({46}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Annette Widmann-Mauz, Monika Brudlewsky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Im Namen der „Ehre“ - Gewalt gegen Frauen weltweit ächten - Drucksachen 14/7457, 14/8404 Berichterstattung: Abgeordnete Angelika Graf ({47}) Christa Nickels Carsten Hübner e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sklaverei weltweit verhindern - Drucksache 14/8280 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({48}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Dr. Klaus Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Kinkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den Friedensprozess im Sudan in Gang setzen und nachhaltig fördern - Drucksache 14/8481 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({49}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Heiner Geißler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Lage der Menschen- und Minderheitenrechte in Vietnam - Drucksache 14/8483 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({50}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 6 Beratung des Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Hildebrecht Braun ({51}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine China-Resolution der Europäischen Union auf der 58. VN-Menschenrechtskommission - Drucksache 14/8486 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({52}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Konkrete Maßnahmen zur Stärkung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte ergreifen - Drucksache 14/8502 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({53}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heide Mattischeck von der SPD-Fraktion.

Heide Mattischeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001441, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist und bleibt eine wichtige Aufgabe - national wie auch international. Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat im vorletzten Jahr eine Anhörung zu diesem Thema durchgeführt. Diese Anhörung hat uns noch einmal wichtige Anregungen für unsere Arbeit im Ausschuss gegeben. Obwohl alle Vertragsstaaten mit der Unterzeichnung des Sozialpakts die Gleichrangigkeit dieser Rechte mit den bürgerlichen und politischen Rechten anerkannt haben, spielte der Sozialpakt zumindest in der westlichen Welt lange eine eher untergeordnete Rolle. Darüber hinaus geriet er in den ideologischen Ost-West-Streit. Während die Entwicklungsländer und bis zum Ende des Kalten Krieges auch der Ostblock dem Sozialpakt den Vorrang gaben, drängte der Westen vorrangig auf die Umsetzung des Zivilpakts. Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahre 1993 wurden die Unteilbarkeit und die Gleichrangigkeit beider Pakte noch einmal deutlich bestätigt. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind in der Regel nicht einklagbar. Die einzige Kontrollinstanz auf internationaler Ebene bildet das Berichtsverfahren vor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Gegenüber diesem Ausschuss berichtet auch die Bundesrepublik Deutschland regelmäßig über den Stand der nationalen Bemühungen bei der Umsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Die Themen in den vergangenen Berichten waren unter anderem das immer noch vorhandene wirtschaftliche Ost-West-Gefälle in unserem Land und zum Beispiel der Status Asylsuchender. Gerade hierzu haben wir nun bei der Novellierung des Ausländerrechts und im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes Initiativen ergriffen. Auch das in Stellungnahmen immer wieder kritisierte Informationsdefizit hinsichtlich der Armut in Deutschland ist mit dem im letzten Jahr vorgelegten Armutsbericht weitgehend beseitigt worden. Gelöst worden sind allerdings noch nicht alle Probleme in diesem Bereich. Trotzdem besteht auch bei uns weiterhin kein Grund, sich auf Lorbeeren auszuruhen, zumal man wohl kaum von Lorbeeren sprechen kann, wenn es um die Erfüllung elementarer und schon vor Jahrzehnten kodifizierter Rechte geht. SPD und Grüne fordern deshalb in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Empfehlungen des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nicht nur konstruktiv aufzugreifen, sondern auch publik zu machen, um damit das öffentliche Bewusstsein zu schärfen. Weitere wichtige Forderungen sind die immer wieder angemahnte frühzeitige und regelmäßige Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationen in die Vorbereitung der zukünftigen Berichte und eine bessere geschlechtsspezifische Differenzierung der Berichterstattung. ({0}) Um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte endlich wirkungsvoller durchsetzen zu können, muss es auch für den Sozialpakt ein individuelles Beschwerdeverfahren entsprechend der Regelung für den Zivilpakt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms geben. Das ist eine Forderung, die wir in unserem Antrag noch einmal aufgegriffen haben. Man muss sagen, dass sich gerade die deutsche Regierung dafür schon in der Vergangenheit immer wieder auch bei der MRK besonders stark gemacht hat. Nötig ist die Entwicklung und die Durchsetzung von Verhaltenskodizes für transnationale Unternehmen - das ist mir besonders wichtig -, die sich an den Konventionen der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation orientieren und die für Deutschland weitgehend selbstverständliche Praxis auch für andere Standorte umsetzen. Insgesamt muss es Ziel unserer Politik sein, die Wirksamkeit staatlicher Steuerungsinstrumente auch und gerade gegenüber der globalisierten Wirtschaft zu erhalten, um der völkerrechtlichen Verpflichtung zum Schutz und zur Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in vollem Umfang nachkommen zu können. An dieser Stelle möchte ich auf eine Forderung in unserem Antrag besonders hinweisen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass die OECDLeitsätze für multinationale Unternehmen umgesetzt werden und die deutsche nationale Kontaktstelle für die Leitsätze als interministerielle Struktur eingerichtet wird, in der die Sozialpartner und die Nichtregierungsorganisationen in allen wichtigen Fragen beteiligt werden. Ein weiterer Hinweis ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Weder die Weltbank noch der IWF, noch die WTO sind an die Menschenrechtspakte gebunden. Sie sind in den letzten Jahren zunehmend - nicht ganz zu Unrecht - in die Kritik geraten. Wir regen deshalb an, dass jene Vertragsstaaten, die zugleich Anteilseigner von IWF und Weltbank sind, in ihren so genannten Staatenberichten an den UN-Ausschuss für die WSK auch ihre Politik gegenüber den internationalen Finanzsituationen sowie ihre in den Gremien vertretenen Positionen darstellen. Ich denke, das ist eine ganz wichtige und umfassende Forderung, deren Umsetzung - das wissen wir alle - noch sehr lange dauern wird. Wenn wir dies aber nicht angehen, immer wieder darauf hinweisen und die Bundesregierung auffordern, weiterhin danach zu handeln, werden all die Probleme, die wir zurzeit auf der Welt haben, nicht gelöst werden können. Die 58. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die MRK, findet in diesem Jahr - wie wir alle wissen - in einer besonders angespannten Zeit statt. Die Zuspitzung der Konflikte um Kaschmir und in Palästina, die Fortdauer des Bürgerkrieges in Tschetschenien und eine Vielzahl anderer regionaler und lokaler Konflikte gehen allesamt mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen einher. Daraus leiten sich eine Reihe von Forderungen in unserem Antrag zur MRK ab. Die nationale, regionale und internationale Umsetzung der in Durban vereinbarten Maßnahmen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit muss organisiert werden. Die Unterzeichnung und Ratifizierung der VN-Konvention gegen transnationales organisiertes Verbrechen sowie das Zusatzprotokoll zur Vorbeugung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, müssen vorangebracht werden. ({1}) Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Handel mit Kindern sowie Kinderprostitution und Kinderpornographie muss unterzeichnet und ratifiziert werden. Die Auseinandersetzung um die weltweite Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe - damit haben wir uns hier sehr häufig zu Recht beschäftigt - muss weitergeführt werden. ({2}) Die Einhaltung der Menschenrechte und die Verfolgung begangener Menschenrechtsverletzungen an vielen Orten der Welt muss thematisiert und in den Blick der Öffentlichkeit gestellt werden, nicht zuletzt in Tschetschenien, in Tibet, in Xinjiang und in den kurdischen Gebieten der Türkei. Darauf müssen wir immer wieder hinweisen und sollten das vor dem Hintergrund aktueller Aktionen nicht vergessen. Mit besonderer Sorge verfolgen wir die Entwicklung der Menschenrechtssituation in einzelnen Staaten. Wenn ich diese nenne, heißt das nicht, dass es nicht auch in anderen Staaten der Welt Probleme gibt. Einheimische wie internationale Menschenrechtsorganisationen - das habe ich eben schon erwähnt - berichten aus Tschetschenien von schweren Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten. Es darf kein Krieg gegen die Bevölkerung geführt werden. Das Vorgehen der russischen Streitkräfte steht weiterhin nicht im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht. Die Türkei hat mit den Verfassungsänderungen im letzten Jahr sicher einen wichtigen Schritt hin zu einer eventuellen Mitgliedschaft in der EU getan. Die Menschenrechtslage ist aber nach wie vor mehr als unbefriedigend: Verletzung der Presse- und Meinungsfreiheit, Folter in den Gefängnissen, Beibehaltung der Todesstrafe usw. Wir begrüßen das Vorhaben der indonesischen Regierung, ein Menschenrechtsgericht zur Ahndung der Verbrechen in Osttimor einzusetzen. Aber zum Beispiel die gewaltsame Räumung eines Armenviertels in Jakarta durch die Polizei verletzt die Menschenrechte der Bevölkerung. Der Rechtsstaatdialog mit China ist zu begrüßen. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen in China ist jedoch lang: die exzessive Anwendung der Todesstrafe, die Administrativhaft zur Umerziehung durch Arbeit, das Verbot politischer Opposition, die Verfolgung religiöser Minderheiten und die noch zunehmende Unterdrückung der Tibeter und der Uiguren. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung unserer Anträge. Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung machen, die mir besonders am Herzen liegt. Wir haben seit dem 11. September viele Diskussionen um die Bekämpfung des Terrorismus geführt. Wir sind uns alle darin einig, dass dieser Terrorismus, vor allen Dingen aber seine Wurzeln und Ursachen, bekämpft werden müssen. Vieles von dem, was ich gesagt habe, trägt dazu bei bzw. kann dazu beitragen. Es geht bei der Terrorismusbekämpfung aber auch um die Einhaltung der Menschenrechte bei dem, was wir gegen den Terrorismus tun. Auch wenn Wut, Trauer und Schmerz über diese entsetzlichen Verbrechen vom 11. September manchmal individuell verständlich sind, dürfen die Reaktionen einer zivilisierten Gesellschaft nicht dazu führen, dass man bei der Bekämpfung des Terrorismus die Menschenrechte außer Kraft setzt - weder bei uns noch anderswo. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Brudlewsky von der CDU/CSU-Fraktion.

Monika Brudlewsky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000275, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den wichtigsten Themen im Parlament gehören unzweifelhaft die Menschenrechte - die der Bewohner im eigenen Land, aber auch die Rechte der Menschen in anderen Ländern der Welt. Der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages hatte seit Beginn dieser Legislaturperiode daher keinen Mangel an Arbeit. Es ist gut, dass die Menschenrechte im Bewusstsein der Menschen und auch im Bewusstsein der Politik immer fester verankert sind. In einer Reihe von Ministerien sind die Menschenrechte mit eigenen Arbeitsstäben in die alltägliche Arbeit integriert. Weiterhin finden bilaterale Gespräche mit anderen Staaten vonseiten unserer Regierung oder auch im Rahmen der EU und anderer internationaler Gremien heutzutage auch immer unter dem Gesichtspunkt der Achtung der Menschenrechte statt. Diese Einbeziehung der Menschenrechte auf allen Gebieten hat wesentlich dazu beigetragen, Anfragen zur Verbesserung der Menschenrechte weltweit schneller voranzubringen, als dies zu Zeiten des Kalten Krieges möglich war. Aber sogar heute unter rot-grüner Regierung hat man schnell lernen müssen, dass man aus politischer Rücksichtnahme, aus Gründen der Diplomatie in manchem Land die Menschenrechtsfrage behutsamer ansprechen muss, als man dies noch vor einigen Jahren zu Regierungszeiten von Helmut Kohl gefordert hat. Die zu dieser Debatte vorliegenden Anträge sind ein Querschnitt aus vielen einzelnen schicksalhaften Beispielen, die aus aller Welt an uns herangetragen und bei uns beraten wurden. Durch Berichte von mutigen Menschenrechtsvertretern oder durch Parlamentarierreisen erfuhren wir direkt vor Ort noch intensiver, als dies durch Medienberichte möglich ist, vom Leid vieler Millionen Kinder, Frauen und Männer in aller Welt. Vor allem das Schicksal der Kinder, die als schwächstes Glied aus allen Auseinandersetzungen hervorgehen, muss uns Ansporn genug sein zu handeln. Wer wie ich Hunderte von Kindern als Waisen, als Hungernde, als Krüppel, als Minenopfer, als Kindersoldaten gesehen hat oder sich an die vielen Kinder in den Flüchtlingslagern Afrikas erinnert, den lassen solche Bilder nicht mehr los. Es ist eigentlich mit dem normalen Menschenverstand nicht zu fassen, welche Grausamkeiten im Allgemeinen in der Welt heute noch systematisch verübt werden und was im Besonderen Frauen und Mädchen in nicht wenigen Ländern der Welt nach wie vor zugefügt wird. In den zurückliegenden Monaten ist ganz besonders die Situation von Frauen durch die jüngsten Ereignisse in Afghanistan in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Es war eigentlich beschämend, aber in gewisser Weise auch bezeichnend, den weltweiten Aufschrei der Öffentlichkeit bei der Sprengung der Buddhaskulpturen durch die Taliban zu hören, während es andererseits vorher das jahrelange Schweigen der Öffentlichkeit gegenüber der entsetzlichen und menschenverachtenden Lage insbesondere der Frauen in Afghanistan gab. ({0}) Hier hat ein Regime nicht nur die Hälfte seiner Bevölkerung demokratischer Grundrechte beraubt, sondern sie vielmehr ganz aus dem öffentlichen Leben verbannt und zu Leibeigenen des anderen Geschlechts gemacht. Das darf die Weltgemeinschaft nie mehr zulassen. Diejenigen, die zur Zeit der Talibanherrschaft und jetzt wieder in Afghanistan und auch in Pakistan vor Ort waren, können sicher noch viel detaillierter auf die momentane Lebenssituation dort eingehen. Ich möchte zu diesem Thema nur sagen: Es ist eine erfreuliche Tatsache, dass über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Im Namen der ‚Ehre’ - Schandemorde und Gewalt gegen Frauen weltweit ächten“ im Ausschuss Einigkeit bestand. Angesichts der verheerenden Gewalt von beiden Seiten im Nahen Osten kann man mit Spannung die Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen erwarten. Zum 58. Mal tritt dieses internationale Gremium in einigen Wochen in Genf zusammen. Im entsprechenden Antrag der Koalition werden zwar einige wichtige Fakten dargelegt, jedoch fehlt uns in diesem Antrag eine klarere Benennung bestimmter gravierender Menschenrechtsverletzungen, die uns, wenn überhaupt, zu schwammig formuliert sind. Gerade angesichts der Lage in Tschetschenien kann man sich unseres Erachtens nicht auf die Aussage beschränken, dass es dort Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten gibt, sondern man muss aufzeigen, dass hier seit Jahren, schon lange vor dem Geschehen am 11. September, unter dem Vorwand, Terroristen zu bekämpfen, Zivilisten grausam gefoltert und ermordet wurden und noch werden. ({1}) In den letzten Tagen war in einigen großen Zeitungen über das Wirken so genannter Todesschwadronen der russischen Armee und der berüchtigten Sondereinheiten des Innenministeriums zu lesen, die unter Duldung der russischen Regierung Hunderte tschetschenischer Männer verschleppen und brutalst zu Tode foltern. Bei allem Verständnis für die weltweite Antiterrorallianz, der sich auch Russland angeschlossen hat: Diese darf nicht als Feigenblatt und Vorwand für die Verfolgung und Unterdrückung eigener missliebiger Bevölkerungsgruppen dienen. ({2}) Dem muss die freie Welt, dem müssen wir entgegentreten und eine klare Trennung zwischen Terroristenbekämpfung und dem Tschetschenien-Problem einfordern. Ich hatte deshalb beim Putin-Besuch in Berlin und seiner Rede hier im Hohen Hause für mich persönlich die Konsequenz gezogen, nicht an dieser Plenarveranstaltung teilzunehmen, sondern stattdessen vor dem Brandenburger Tor zusammen mit der Gesellschaft für bedrohte Völker auf diese gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch die russische Regierung hinzuweisen. Wir müssen darauf aufmerksam machen, dass keine Medien in dieses Gebiet kommen, um über die wirklichen Schicksale der Betroffenen zu berichten. Wenn Berichte herausgelangen, dann nur, weil es immer wieder todesmutige Frauen und Männer wagen, die Wahrheit herauszutragen. Werden sie mit Film- oder Fotomaterial von den russischen Behörden gefasst, dann drohen ihnen langjährige Gefängnisstrafen, Folter oder sie verschwinden einfach für immer. Es genügt auch nicht festzustellen, dass die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt bleibt. Vielmehr muss die russische Regierung klar und deutlich aufgefordert werden, den Krieg gegen das tschetschenische Volk sofort zu beenden. ({3}) Es wäre auch dringend notwendig, eindringliche Forderungen nach einer internationalen Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien zu erheben. Auch China kommt in dem Koalitionsantrag verhältnismäßig gut weg. Schon der einleitende Passus „trotz ermutigender Zeichen“ lässt erst einmal Hoffnung aufkeimen, die aber dann schon wieder im Keim erstickt wird. Was sich jedoch in China, dem Land, in dem in sechs Jahren die sportliche Jugend der Welt zu den Olympischen Spielen zusammentreffen wird, wirklich abspielt, ist ein Trauerspiel und lässt noch lange nicht auf Verbesserung der Menschenrechtslage hoffen. Fast täglich bekommen wir Meldungen über die schwierige Menschenrechtslage in Tibet, über die Sanktionen gegen die Falun-Gong-Bewegung und die schwierige Lage der Christen im Land. Es darf nicht sein, dass der Welt bei den Olympischen Spielen nur jubelnde Parteikader zuwinken und die Opposition in dieser Zeit weggeschlossen wird und nach dem Olympiaereignis alles so weiter geht wie bisher. ({4}) Kolumbien, Simbabwe und der Sudan gehören meines Erachtens ebenfalls zwingend in die Reihe der Länder, in denen viele Opfer durch Menschenrechtsverletzungen zu beklagen sind; sie werden in dem Antrag aber leider nicht erwähnt. Trotz dieser Anmerkungen, die darauf hinweisen, dass uns dieser Antrag zu verhalten, zu vorsichtig ist, trotz unserer Bemängelungen werden wir den Antrag aber nicht ablehnen, sondern uns der Stimme enthalten. Einer Zustimmung zu dem vorliegenden Antrag der FDP „Sklaverei weltweit verhindern“, der zunächst noch an die Ausschüsse überwiesen wird und daher noch nicht zur Abstimmung kommt, steht unsererseits nichts im Wege. Ich merke, dass ich mich doch ein wenig lange ausgelassen habe, möchte aber noch sagen, dass es ein Glücksfall ist, dass die UN unseren ehemaligen Innenminister Gerhart Baum als Sonderbotschafter für die Region des Sudan eingesetzt hat und sich ein sehr positiver Dialog mit uns und vielen NGOs über den Sudan entwickelt hat, der der Region hoffentlich bald friedlichere Zeiten bringt. Abschließend möchte ich generell feststellen, dass im Ausschuss für Menschenrechte trotz der eben aufgezeigten Meinungsverschiedenheiten doch die Meinungen von Koalition und Opposition in Fragen der Menschenrechte häufig enger beieinander liegen, als dies in anderen Ausschüssen der Fall ist. Ich möchte bei dieser Gelegenheit ausdrücklich all meinen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss für das gute Miteinander bei der nicht immer leichten Arbeit für die Rechte der Menschen in aller Welt danken. Das schließt natürlich nicht aus, dass wir in Einzelfragen verschiedene Auffassungen haben und daher unterschiedlich abstimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt unsere Kollegin Christa Nickels vom Bündnis 90/Die Grünen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Die 58. Sitzung der ... MRK findet in diesem Jahr in einer besonders angespannten Zeit statt.“ Sie findet ziemlich genau ein halbes Jahr nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 statt, „die in vielen Staaten einen Politikwechsel bewirkt haben, in dem neue Allianzen sowie neue Schwerpunkte ... entstanden sind“. So lautet es im Antrag der Koalitionsfraktionen zur MRK, der heute auf der Tagesordnung steht. Allmählich werden die Strukturen dieser neuen Politikansätze, ihre Chancen und auch ihre großen Risiken, klarer erkennbar. Die neuen Herausforderungen in der Menschenrechtspolitik gewinnen an Schärfe. Wir als Angehörige der Nachkriegsgeneration - so erscheint mir das ziemlich oft - leben bis heute in dem Grundgefühl, dass die demokratische, rechtsstaatlich verfasste Zivilgesellschaft eine für alle Zeit garantierte Grundkonstante ist, die uns nie verloren gehen kann. Aber allmählich erkennen wir gerade vor dem Hintergrund der globalen Herausforderungen, dass sich jede Generation solcher Errungenschaften wie der Menschenrechte neu vergewissern, sie neu erkämpfen und sichern muss. ({0}) Angesichts dessen stelle ich mit großem Erstaunen und auch immer wieder mit Erschrecken fest, wie viele Wächter und Anwälte der Menschenrechte in der Stunde der Not die Menschenrechte offenbar als eine Schönwetterveranstaltung für blauäugige Gutmenschen, weltfremde Fantasten oder - das liest man wörtlich so - „verzärtelte Weicheier“ ansehen. Wer aber so argumentiert, liefert den Diktatoren und Menschenschindern in der Welt ungewollt eine Steilvorlage; das muss man ganz klar und deutlich sagen. Von daher gesehen wird gerade auch in der globalisiert zugespitzten Auseinandersetzung die Gefahr größer, dass der Antiterrorkampf mit menschenrechtlich fragwürdigen Mitteln geführt wird. Darum haben wir als Koalitionsfraktionen die Bundesregierung noch einmal aufgefordert - wir wissen, dass sie das auch tut -, auf der 58. MRK in Genf entschieden darauf zu bestehen, dass menschenrechtliche Standards im Antiterrorkampf eingehalten werden und dass die Verhältnismäßigkeit der Mittel auch in dieser Extremsituation gewahrt bleibt. Menschenrechtsrabatt im Antiterrorkampf darf es unter gar keinen Umständen geben, wenn man die Menschenrechte an sich nicht gefährden möchte. ({1}) Seit dem 11. September 2001 ist es nach meiner Einschätzung Methode geworden, islamistische Fundamentalisten einseitig als die eigentlichen Feinde der Menschenrechte zu betrachten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es Gründe dafür gibt, weshalb der Islamismus bereits seit den 70er-Jahren auf dem Vormarsch ist und weshalb sich islamistische Oppositionelle immer wieder kämpferisch für die Wiedereinführung der Scharia einsetzen. Die internationalen Menschenrechtspakte werden in vielen muslimischen Ländern nicht als Grundlage einer gemeinsamen und werteorientierten Politik begriffen, sondern lediglich - wie es auch seinen Niederschlag in der Kairoer Erklärung von 1990 findet - als Ausdruck westlicher Werte und westlichen Hegemoniestrebens. Das liegt auch mit daran, dass die betroffenen Länder sehr oft unter der Kolonialisierung und deren menschenrechtlich zweifelhaften, brutalen Methoden gelitten haben. Aber - das möchte ich hier genauso deutlich sagen ein interkultureller Dialog darf nicht weichspülerisch nur auf Harmonie aus sein. Vielmehr müssen wir auch die Unvereinbarkeit von Teilen dieser Kairoer Erklärung und der Scharia mit dem universellen Anspruch der internationalen Menschenrechtspakte auf die Tagesordnung setzen und intensiv darüber diskutieren, wenn wir die Menschenrechte als Magna Charta für eine sich globalisierende Welt weiter erhalten wollen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Darum ist der interkulturelle Dialog in der Auseinandersetzung keine Marginalie, sondern muss ins Zentrum gerückt werden. Ich finde es wichtig, dass wir neben diesen sehr klaren und deutlichen Differenzen auch daran anknüpfen, was uns allen unstrittig gemeinsam ist, zum Beispiel die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Wir müssen deutlich machen, dass die Menschenrechte aus schrecklichen, leidvollen Erfahrungen und auch aus einer Widerstandsbewegung gegen Unterdrückungsmaßnahmen geboren sind, aus Erfahrungen mit dem Totalitarismus und mit Religionskriegen, um nur zwei besonders drastische Beispiele zu nennen. Am Ende des 30-jährigen Krieges in Europa war ein Drittel der Bevölkerung tot. Ähnliche Leidenserfahrungen, die natürlich nicht direkt vergleichbar sind, gibt es auch in muslimischen Gesellschaften. Sie sind letztlich transkulturell. Es ist zentral, dass wir an diese transkulturellen Erfahrungen anknüpfen und sie als Grundlage dafür sehen, dass nur das Beharren auf den Menschenrechten wirtschaftliche, kulturelle und soziale Wohlfahrt ermöglicht und Freiheit sichert. Darum finde ich es auch sehr begrüßenswert, dass die Bundesregierung bei der Menschenrechtskommission eine Resolution zum Recht auf Wohnen einbringen wird. In diesem Punkt sind alle einer Meinung, aber er ist bei weitem noch nicht vollständig umgesetzt. Das ist eine richtige Herangehensweise, um nicht nur das Trennende, sondern auch das Gemeinsame zu beraten. Wichtig ist, dass wir in Bezug auf die Bekämpfung der Folter - das fordern wir in unserem Antifolterantrag, der Ergebnis einer Anhörung des Menschenrechtsausschusses ist, mit dem wir auch die weltweite Kampagne von Amnesty International gegen Folter unterstützen wollen - von der Menschenrechtskommission einfordern, dass sie einen Schwerpunkt auf dieses Thema setzt. Frau Brudlewsky hat es schon gesagt: Der Antrag hat eine ganz neue, schreckliche Aktualität, zum Beispiel vor dem Hintergrund der schrecklichen Entwicklungen in Tschetschenien. Wir haben gerade wieder neue Informationen darüber bekommen, in welch menschenverachtender Weise Menschen gequält, gefoltert, umgebracht werden oder verschwinden. Es kann unter keinen Umständen angehen, dass Russland aufgrund der Tatsache, dass es nun ein wichtiges Mitglied der Antiterrorkoalition ist, ein Menschenrechtsrabatt gegeben wird. Gerade unter Bündnispartnern gilt, dass Folter und grausame Behandlung abzuschaffen sind. Das ist mehr als eine Frage des politischen Willens. Wir müssen das unter allen Umständen durchsetzen. Wir müssen die Unkultur der Straflosigkeit gemeinsam bekämpfen. Für mich ist sehr erfreulich - da möchte ich auch auf meine Erfahrungen von über einem Jahr als Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses hinweisen -, dass der Menschenrechtsausschuss über alle verschiedenen, auch politischen, Auffassungen hinweg in den wesentlichen Fragen gemeinsam an einem Strang zieht, dass er sich nicht für irgendwelche partei- oder machttaktischen Spielchen operationalisieren lässt. Wir haben in den letzten Jahren, seit der Menschenrechtsausschuss ein Vollausschuss des Deutschen Bundestages ist, Maßstäbe für die absolut notwendige Kultur gesetzt, dass man in Fragen der Menschenrechte mit aller Energie über die Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam vorgeht. Ich möchte mich sehr dafür bedanken, dass das möglich ist und dass wir uns vor entscheidenden Sitzungen im Bundestag die nötige Zeit nehmen, diese Fragen zu debattieren. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt Sabine LeutheusserSchnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation der Menschenrechte, ihre Achtung und Durchsetzung sowie die Ahndung ihrer Verletzungen, ist kurz vor Beginn der 58. Konferenz der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen nicht gut. War es schon auf der letzten Tagung, der 57. Konferenz im vergangenen Jahr, äußerst schwierig, den bestehenden Standard der Menschenrechte zu verteidigen und wichtige Länderresolutionen überhaupt auf die Tagesordnung zu bringen, sind die Fronten in diesem Jahr noch stärker verhärtet. Seit den fürchterlichen Anschlägen vom 11. September letzten Jahres steht die Bekämpfung des internationalen Terrorismus im Mittelpunkt internationaler Politik. Die Beteiligung an der Terrorismusbekämpfung, die aktive Teilhabe an der Antiterrorallianz, zumindest ihre aktive Duldung, haben die Achtung der Menschenrechte in den Hintergrund treten lassen. In manchen Staaten wird der 11. September instrumentalisiert, um endlich, auch unter Inkaufnahme von Menschenrechtsverletzungen oder ihrer bewussten Begehung, gegen Minderheiten, die jetzt ausschließlich Terroristen zu sein scheinen, vorgehen zu können. Da kämpfen beispielsweise die Russen in Tschetschenien nunmehr auch oder ausschließlich gegen den Terrorismus, wobei sie sich nur sehr eingeschränkt in die Karten schauen lassen wollen und vor Repressionen nicht zurückschrecken. Nicht nur die Pressefreiheit ist in manchen Staaten ein Opfer des Terrorismus geworden, wie es der Beauftragte der OSZE für die Freiheit der Medien und die Pressefreiheit in unserem Ausschuss vor wenigen Tagen eindeutig und unmissverständlich feststellte. Die Voraussetzungen für die 58. Konferenz der Menschenrechtskommission sind also nicht besonders gut. Da die Vereinigten Staaten derzeit nicht Mitglied der Menschenrechtskommission sind - die Zeichen stehen aber gut, dass sich das bald ändern wird -, fehlt für die Thematisierung mancher wichtigen Anliegen die treibende Kraft. ({0}) Das erleben wir gerade auch in diesem Jahr am Beispiel der Befassung mit der Menschenrechtslage in der Volksrepublik China. Die Vereinigten Staaten waren, wenn auch mit einer gewissen selektiven Wahrnehmung, ({1}) die Akteure für die Einbringung einer Resolution, in der die Verletzung der Menschenrechte angesprochen wurde. Aber für diese Menschenrechtskonferenz ist auch nach den bisherigen Bewertungen durch Vertreter der Bundesregierung kaum damit zu rechnen, dass sich irgendetwas auf diesem Gebiet tun wird. Die Vereinigten Staaten können als Beobachter nicht die aktive Rolle spielen, die notwendig wäre. Innerhalb der EU wiederum scheint kein Konsens erreichbar zu sein. Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb, anknüpfend an die sich in den letzten Jahren wiederholenden Debatten, leider wieder einen Antrag einbringen müssen, um die Bundesregierung aufzufordern, sich mit der Unterstützung des gesamten Parlamentes dafür einzusetzen, dass es mithilfe der EU und auch anderer Partner in der MRK zu einer Befassung mit der Menschenrechtslage und der Verletzung der Menschenrechte in China kommt. ({2}) Das Thema sollte zumindest auf der Tagesordnung stehen. Wir sollten auch das Europäische Parlament, das schon Anfang Februar diesen Beschluss gefasst hat, für unsere Unterstützung heranziehen. Alle Parlamentarier sind sich einig, und es muss doch möglich sein, dass angesichts dieses Drucks die Regierenden mehr erreichen können. ({3}) Leider ist es nicht unbedingt die Sache des Bundeskanzlers, das Thema der Menschenrechtsverletzungen in China direkt anzusprechen. Wir erinnern uns noch alle daran, dass er sagte, er wolle sich nicht die Ritualisierung der Menschenrechte zu Eigen machen, wie es vorher angeblich der Fall war. Er wollte bei seinem letzten Besuch in China noch nicht einmal die Situation von vielen Häftlingen und Dissidenten ansprechen. Man kann vieles an der Politik der alten Regierung bis 1998 kritisieren. Aber die Menschenrechtsverletzungen waren immer ein unverzichtbarer Punkt in den Gesprächen mit der chinesischen Seite. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Sie sich in dieser Hinsicht uns gegenüber eingelassen haben. ({4}) Ich komme zu einem zweiten wichtigen Punkt. Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, sprechen in Ihrem Antrag zur 58. MRK-Konferenz die Situation in Indonesien kurz an. Heute startet das nationale Ad-hoc-Tribunal in Jakarta, um sich endlich, nachdem fast drei Jahre vergangen sind, mit den schwersten Menschenrechtsverletzungen, die es im Zuge des Referendums in Osttimor gab, zu befassen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Wir wissen alle: Das Schlimmste ist, wenn sich impunity, also Straflosigkeit, durchsetzt. Wenn es dadurch keine Konsequenzen geben würde, wäre es eine Ermutigung der Machthaber, fast schon eine Aufforderung, die Menschenrechte zu verletzen. ({5}) Es ist ein erster richtiger Schritt, der jetzt in Jakarta gegangen wird. Machen wir uns aber bitte nichts vor: Ob Menschenrechtsstandards eingehalten werden, ist äußerst zweifelhaft. Es wurden zu Recht Bedenken von Amnesty International und von Watch Indonesia an den ausgewählten Richtern und Staatsanwälten im Hinblick auf ihre Unabhängigkeit geäußert. Wer steht vor Gericht? Von den ursprünglich 30 Personen, die auf der Liste des damaligen Generalstaatsanwaltes Darusman standen, sind nur noch 18 übrig geblieben. Darunter befinden sich nicht mehr die oberen Ränge des Militärs. Wir dürfen angesichts der ersten Schritte in die richtige Richtung nicht zulassen, dass durch ein solches Verfahren die Standards von Menschenrechten langfristig weiter gesenkt werden. ({6}) Das nationale Ad-hoc-Tribunal darf nicht ein Beispiel dafür sein, wie man künftig Menschenrechtsverletzungen aufarbeitet. Leider ist meine Redezeit fast zu Ende. Aber ich möchte noch kurz bemerken, dass natürlich auch Indonesien auf der MRK behandelt werden muss. Es sollte versucht werden, die dortigen Probleme mithilfe einer Resolution zu verdeutlichen. Wir wissen, wie schwierig dies ist. Aber man muss sich diesem Unterfangen widmen. Lassen Sie mich noch ein Wort zum Sudan sagen. Wir haben zusammen mit der CDU/CSU einen Antrag eingebracht, der jetzt an die Ausschüsse überwiesen werden wird. Ich bitte darum, dass auch der Sudan auf die Tagesordnung der 58. MRK-Konferenz gesetzt wird, weil sich die Menschenrechtslage dort bisher nicht verbessert hat. ({7}) Es ist wichtig, dass es auf der Konferenz auch eine kritische Resolution zum Sudan geben wird. Verbessert hat sich lediglich, dass ein Sonderberichterstatter ins Land darf und dort Gespräche führen und auch in Gefängnisse gehen kann. Damit funktioniert endlich das Monitoring. Für diesen Sonderberichterstatter brauchen wir aber ein weiteres Mandat, damit er die jetzt begonnene Aufgabe fortsetzen kann. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund der knappen Redezeit beschränke ich mich heute auf die Anträge zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Um es gleich vorweg zu sagen: So sehr der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf die Gleichrangigkeit von bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten auf der einen Seite und von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten auf der anderen Seite abhebt, so sehr reproduziert er gleichzeitig die bisherige Abwehrhaltung der allermeisten Regierungen gegen eine juristisch verbriefte Garantie genau dieser WSK-Rechte. Dem Feststellungsteil kann ich in weiten Passagen ja zustimmen. Aber die Skepsis gegenüber den WSK-Rechten wird im Forderungsteil offenkundig, indem man buchstäblich mit der Lupe nach konkreten Forderungen suchen muss. Fast könnte man meinen, hier spricht die Bundesregierung selbst ({0}) - ich zitiere schon noch genug daraus -, wenn es etwa heißt, sie werde aufgefordert, „in dem Bemühen nicht nachzulassen“, „Empfehlungen ... nicht nur konstruktiv aufzugreifen, sondern auch publik zu machen“, „nach Möglichkeit ... vorzunehmen“, noch einmal „konstruktiv aufzugreifen“, „sich dafür einzusetzen, dass ... berücksichtigt“ wird, usw. Der beste Beleg für diese parlamentarische Bettvorlegerlyrik ist folgende Forderung: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ... die Prüfung, ob die Revidierte Europäische Sozialcharta ratifiziert werden kann, zügig fortzusetzen und Bedenken, die einer Ratifizierung entgegenstehen, in geeigneten Fällen durch eine Änderung des innerstaatlichen Rechts auszuräumen; dabei ist sicherzustellen, dass ein ausreichender Gestaltungspielraum für Gesetzgebung und Praxis erhalten bleibt; ... Wenn das, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Forderung sein soll, dann höchstens eine Aufforderung zur Arbeitsverweigerung. ({1}) Nur am Rande sei erwähnt, dass die Revidierte Europäische Sozialcharta bereits 1996 verabschiedet wurde, also vor sechs Jahren. Aber prüfen Sie nur zügig weiter; vielleicht lässt sich ja doch noch etwas ausräumen, und sei es die letzte Hoffnung auf konkrete Schritte. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Millionen Menschen auf der Welt werden die elementarsten Menschenrechte vorenthalten: Freiheit, Demokratie, der Schutz vor staatlicher Willkür. Dagegen muss man unmissverständlich Position beziehen, nicht zuletzt auf der Menschenrechtskommissionssitzung in Genf, besser noch durch eine kohärente Außenpolitik. Die Äußerungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder, nach dem 11. September erscheine das Vorgehen Russlands in Tschetschenien in einem anderen Licht, lassen da ebenso besorgt aufhorchen wie die RamboManieren und die Bündnispolitik des US-Präsidenten. Wer die Nordallianz in Afghanistan - ich rede bewusst nicht von Präsident Karsai und einigen wenigen anderen - in den Sattel der Macht hebt, sollte nicht vergessen, dass sich viele ihrer Vertreter in der Vergangenheit schlimmster Menschenrechts- und Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Ich denke hier etwa an General Dostum, den stellvertretenden Verteidigungsminister. ({3}) - Das wissen Sie doch genau. Das ist überhaupt nicht abenteuerlich; das sagt Ihnen jeder, der sich mit der Problematik auskennt. ({4}) Inwieweit sich diese Leute in Menschenrechtsfragen und insbesondere in Fragen der Rechte der Frau von den Taliban unterscheiden, wird sich erst noch herausstellen müssen. Wir konnten uns dies in Afghanistan jedenfalls in Teilen persönlich vor Augen führen lassen. Doch genau so, wie sich angesichts der Menschenrechtslage in Afghanistan oder in Tschetschenien, im Nahen Osten oder in Indonesien die Frage nach den elementarsten Bürger- und Freiheitsrechten stellt, drängt sich dort wie hier die Frage nach den WSK-Rechten auf. Man kann das nicht trennen; solche Probleme gibt es nicht nur in der so genannten Dritten Welt, sondern auch vor unserer eigenen Haustür. Eine Reihe von Fachleuten hat bereits konstatiert, Zustände wie in Städten der Dritten Welt hätten unsere Metropolen erreicht: französische Vorstädte, Vorstädte Hamburgs oder Stadtteile Berlins. Dies sind Orte, an denen sich Armut und soziale Ausgrenzung über Generationen fortsetzen, wo Bildung und Kultur aus der Reichweite vieler Menschen verschwunden sind, Orte, die Elend sind, die Elend produzieren und die Elend verstetigen. Wir müssen das nicht zügig prüfen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern Aufgabe von Politik ist es, das zu ändern - hier und in andern Teilen der Welt. ({5}) Wer die Idee der Globalisierung, wer kosmopolitisches Denken befürwortet, der muss einer sich globalisierenden Ökonomie eine sich globalisierende Gesellschaft mit sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen sowie bürgerlichen und politischen Rechten entgegensetzen, damit der einzelne Mensch nicht dazu verurteilt bleibt, Spielball übermächtiger Kräfte zu sein. ({6}) Die konsequente Forderung nach einen Individualbeschwerderecht auch bei Verstößen gegen den WSK-Pakt, die in Ihrem Antrag nur leicht anklingt, ist dafür ein erster wichtiger Schritt, wenn auch kein Allheilmittel. Es wäre ein Signal, dass die Gleichrangigkeit von politischen und WSK-Rechten strukturell ernst genommen wird. Die Bundesregierung sollte dabei eine Vorreiterrolle spielen. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wird dazu allerdings wenig beitragen. ({7}) Deshalb kann ich Sie nur dringend auffordern, sich bei den Ausschussberatungen mit unserem deutlich konkreteren WSK-Antrag intensiv auseinander zu setzen. Aus Zeitgründen nur noch einen Satz zu dem Antrag der CDU/CSU zu so genannten Ehrenmorden. Kollegin Brudlewsky hat eben in ihrer letzen Bundestagsrede darauf Bezug genommen und hat dargestellt, dass es hierzu große Einigkeit im Ausschuss gab. Mein jüngster Besuch mit dem Menschenrechtsausschuss in Pakistan hat mir die Dramatik dieser Problematik nochmals verdeutlicht. Wir werden dem Antrag selbstverständlich zustimmen. Ich finde es wichtig, Folgendes in diesem Zusammenhang hervorzuheben: Gewalt gegen Frauen, liebe Kollegen, ist vor allem ein Problem der Männer. ({8}) Die Frauen sind in allererster Hinsicht Opfer, die sich entweder selber wehren oder des rechtlichen wie gesellschaftlichen Schutzes bedürfen. Aber lösen können sie das Problem nicht. Das ist Aufgabe des männlichen Teils der Welt. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen heute zwei konkrete Anträge vor, die sich mit zwei Arten von Menschenrechtsverletzungen befassen. Ich möchte auf diese beiden Anträge, also auf den Antrag zum Thema der „Ehrenmorde“ an Frauen und auf den Antrag zum Thema Folter, eingehen. Vor knapp zwei Jahren lernte ich in der deutschen Botschaft in Islamabad Hian Jilani, eine Rechtsanwältin aus Lahore, kennen. Sie erzählte, wie 1999 eine 28-jährige Pakistanerin in ihrer Kanzlei erschossen wurde, weil sie sich von ihrem Mann scheiden lassen wollte. Die Mutter des Opfers hatte den Mörder mit in die Kanzlei gebracht. Nach dem Mord verließen beide in aller Seelenruhe die Kanzlei. Ein halbes Jahr später war trotz der Anstrengungen der Rechtsanwältin weder gegen den Mörder noch gegen die Mutter ermittelt oder gar Anklage erhoben worden. Der Vater der Ermordeten war weiterhin Vorsitzender der Handelskammer in Peshawar, obwohl er die Ermordung der Tochter öffentlich gutgeheißen hatte. Die Begründung für dieses Verbrechen war: Die Familienehre habe gewahrt werden müssen, weil die Tochter das Unvorstellbare verlangt hatte, nämlich die Scheidung. Die Rechtsanwältin musste um ihr Leben fürchten. Dies beschreibt einen ganz spektakulären Fall eines so genannten Ehrenmordes. Das Wort „Ehrenmorde“ sollte man dabei immer in Anführungszeichen setzen; ({0}) denn den Euphemismus sollte man sich in dem Fall sparen und besser von dem sprechen, was es wirklich ist, nämlich von „Schandemorden“. ({1}) Noch immer sterben Frauen an den Verletzungen, die ihnen zugefügt werden. Aber nicht immer sterben sie. Im Frauenhaus der Shanaz Bokhari in Rawalpindi habe ich vor ziemlich genau einem Jahr Frauen besucht, die auch mir, einer Frau gegenüber, das Tuch nicht vom Gesicht genommen haben, weil sie durch die Brandnarben so entstellt waren, dass sie sich geschämt haben, sich zu zeigen. Jede Bewegung, die diese Frauen gemacht haben, war wegen der Vernarbungen die schiere Folter. Frau Bokhari hat seit 1994 durch Recherchen an den Krankenhäusern in Islamabad und Rawalpindi mehrere Tausend solcher Fälle untersucht und erfasst und sich um die körperliche und seelische Rehabilitation dieser Frauen gekümmert. Sie hat auf Anregung der SPD-Bundestagsfraktion für ihre Arbeit erst kürzlich den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar erhalten. Ich bin glücklich, heute hier mitteilen zu können, dass es uns gelungen ist, eine dauerhaftere Förderung für ihr Frauenhaus zu finden. ({2}) Der Antrag, der uns heute vorliegt, beschreibt die Hintergründe dieser unglaublichen Menschenrechtsverletzungen. Diese Frauen, die wir damals gesehen haben, waren von ihren Vätern, Söhnen, Brüdern, Onkeln verstümmelt worden, um die vermeintlich beschädigte Familienehre wieder herzustellen. Dabei genügt für die Verletzung dieser Ehre oft eine unbewiesene Vermutung. Manchmal ist es nur ein Traum, den der Mann hatte. Oft sind aber selbst dies nur vorgeschobene Gründe. Oft ist es schlicht und einfach so, dass die Frau einer anderen, neuen Frau Platz machen muss. Diese Vorgehensweise ist Bestandteil einer gesellschaftsimmanenten alltäglichen Gewalt gegen Frauen, die in einer Reihe von Ländern, vorwiegend in Asien und dem Nahen Osten, praktiziert wird. Wie nimmt die nationale Politik dieser Länder diese Verbrechen wahr? In Jordanien kämpft das Königshaus gegen diese Praxis. Im 1999 aufgelösten pakistanischen Parlament haben allerdings lediglich vier von insgesamt 87 Abgeordneten einem Gesetzentwurf zum Schutz der Frauen vor Schandemorden zugestimmt. Auch die derzeitige Regierung unter General Musharraf nimmt zumindest meines Erachtens diese Menschenrechtsverletzungen zu wenig ernst. So hat die pakistanische Justizministerin vor wenigen Wochen in einem Gespräch, welches wir mit ihr führen konnten, zwar über schwierige Beweisführungen, fehlende finanzielle Unterstützung, Korruption und eine fehlende Kooperation mit den Provinzen geklagt, aber ein wirksames Konzept, eine konkrete Maßnahme gegen diese Dinge hat sie nicht vorlegen können. Die heutige Debatte macht deutlich, dass wir parteiübergreifend über solch entsetzliche Verbrechen und die Untätigkeit des Staates nicht einfach hinweggehen, sondern Druck auf die Länder machen wollen, in denen diese Praxis vorherrscht. Wir werden deshalb dem Antrag der CDU/CSU in der vom Ausschuss geänderten Form zustimmen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas sagen, was auch schon die Kolleginnen Brudlewsky und Christa Nickels erwähnt haben: Wir sind uns in diesem Ausschuss oft einig. Das hat etwas mit den Themenbereichen zu tun, mit denen wir uns beschäftigen. Ich glaube aber, dass es auch etwas damit zu tun hat, wie die Mitarbeiter die Vorlagen vorbesprechen, wie man versucht, aufeinander zuzugehen. ({3}) Ich möchte infolgedessen die Gelegenheit nutzen, auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein herzliches Dankeschön zu sagen. ({4}) Internationaler Druck ist auch bei der weltweiten Bekämpfung der Folter notwendig. Obwohl ihr Verbot in zahlreichen Konventionen verankert ist, ist die Folter in mindestens 70 Ländern der Welt immer noch eine weit verbreitete Praxis. Nach dem 11. September 2001 hat bei manchem die Akzeptanz der Folter sicherlich nicht gerade abgenommen. Gefoltert wird in diesen Ländern insbesondere in Polizeistationen in den ersten Stunden und Tagen der Haft und zur Erpressung von Geständnissen, aber auch in Gefängnissen. Das immerwährende Abspielen von Musik - von den Nazis gegenüber den Mitgliedern der Roten Kapelle angewandt - ist genauso Folter wie Vergewaltigung, Elektroschocks an Genitalien oder ein Baby vor den Augen der Mutter vor einen scharfen Hund zu legen. Dass dies Praxis ist, haben wir bei einer Reise in die Türkei erfahren. Folteropfer sind oft politisch und religiös Andersdenkende, Mitglieder von Minderheiten und sehr oft auch Frauen und Kinder. Folter bereitet nicht nur körperliche Schmerzen, sondern verwundet die Psyche des Opfers nachhaltig. Die Scham über die Erniedrigung in der Folter verschließt den Opfern oft den Mund. Erst lange Zeit nach den traumatisierenden Erlebnissen können viele Menschen darüber sprechen; manche können es nie. Man muss auch wissen, dass Folter die Persönlichkeit der Opfer grundlegend verändert. Aggressivität und Depressionen gehören zu klinisch feststellbaren Folgen. Dies bestätigt unter anderem das Zentrum für Folteropfer in Berlin, das wir sowohl vom Ausschuss als auch von der Fraktion her öfter besucht haben. Bei der Vernehmung von Folteropfern, zum Beispiel im Rahmen eines Asylverfahrens, muss deshalb sehr sensibel vorgegangen werden. Ich freue mich, dass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge seine Mitarbeiter diesbezüglich inzwischen intensiv schult. ({5}) Folter findet nicht nur in den Ländern des Südens statt. Es gibt aber eine Reihe von Ländern, in denen die Folter Angelika Graf ({6}) alltäglich ist. Ich nehme an, dass wir uns im Ausschuss bei der Beratung der heute eingebrachten Anträge zu Vietnam und zum Sudan auch mit diesem Themenbereich beschäftigen werden. Folter kann nicht mit der kulturellen Eigenart oder der Notwendigkeit von Geständnissen entschuldigt werden. Um Folter zu verhindern, müssen Folterer hart bestraft werden und dürfen nicht von Vorgesetzten gedeckt werden können. Hilfreich sind hierbei sicherlich Besuche von internationalen Delegationen in Polizeistationen und Gefängnissen, die eine gewisse Öffentlichkeit der Vorgänge herstellen können. Unabdingbar ist eine bessere Ausbildung des Personals der Polizei und in den Haftanstalten. Hierbei bietet die Bundesregierung bereits einer Reihe von Ländern ihre Hilfe an. Hilfe für die Opfer und Unterstützung für die örtlichen Hilfsorganisationen und kritischen Medien müssen hinzukommen. Ein wichtiges Fazit ist: Wer die Folter wirksam bekämpfen und den Folteropfern helfen will, muss an vielen Punkten der nationalen und internationalen Politik ansetzen. Eindimensionale Lösungen wird es hier nicht geben. Ich meine, der vorliegende Antrag fasst in sehr guter, um nicht zu sagen in hervorragender Weise - das sage ich nicht deshalb, weil der Antrag von uns kommt - die Ergebnisse einer Anhörung des Menschenrechtsausschusses vom 17. Oktober 2001 zusammen und formuliert daraus 18 diesbezügliche Forderungen an die Bundesregierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir würden uns freuen, wenn wir die vorhin beschriebene und beschworene Einmütigkeit auch in diesem Zusammenhang bei Ihnen finden könnten. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heiner Geißler von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man heute in die Tageszeitungen schaut und die Berichte über konkrete Menschenrechtsverletzungen liest, weiß man gar nicht so richtig, wo man anfangen soll. Weil es eine grundsätzliche Frage ist, will ich den Vorfall mit der nigerianischen Frau hier noch einmal zur Sprache bringen. Sie wurde vergewaltigt und soll jetzt in einem bestimmten Bundesstaat in Nigeria wegen Ehebruchs gesteinigt werden. Das sind keine Einzelexzesse von sexualneurotischen Mullahs, sondern es ist ein System zu erkennen. Wegen der Einführung der Scharia in Nigeria sind inzwischen 10 000 Christen geflüchtet. Wir müssen uns mit dieser Form des Islamismus auseinander setzen. Diese Barbarei religiös zu begründen, ist eine mindestens genauso schlimme Blasphemie wie Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Inquisitionen. ({0}) Diese barbarische und extreme Form des Islamismus ist genauso zu ächten wie die weltweite Folter. Man kann dies nicht damit begründen, dass es im Namen Allahs geschieht. Das ist ein Missbrauch des Namens Gottes. Das haben wir hier bei der letzten Debatte schon festgestellt. Die Anmaßung, Menschenrechte verletzen zu dürfen - wie es zum Beispiel die Singapur-Schule, Malaysia und andere tun -, auf eine eigene kulturelle Tradition zurückzuführen, ist nichts anderes als eine Irreführung und dient vielmehr ausschließlich der ideologischen Zementierung der eigenen Machtposition. Das gilt im Übrigen auch für Saudi-Arabien. ({1}) Ich will noch einen Punkt ansprechen, über den wir im Menschenrechtsausschuss schon ein paar Mal auch mit dem Innenminister geredet haben: In der „Süddeutschen Zeitung“ erscheint heute im NRW-Report ein Bericht über das Abschiebegefängnis in Neuss. Ich will zu dem Schicksal der kurdischen Frau, die nach 13 Jahren abgeschoben werden soll, nicht Stellung nehmen. Ihr Vater hat hier Asyl oder zumindest eine Duldung bekommen, weil er gefoltert wurde. Diese Sache ist bekannt. Aber diese Frau, die nach 13 Jahren abgeschoben werden soll, hat gesagt, dass sie kein Türkisch, sondern nur Deutsch könne. Mir ist etwas anderes aufgefallen. Die Betreuungsgruppe „efa“ kritisiert ausdrücklich, dass innerhalb dieses Gefängnisses in Neuss, in dem 72 Frauen auf die Abschiebung warten, weder eine Psychologin noch eine Übersetzerin für die oftmals traumatisierten Frauen tätig ist. Sie verurteilt, dass es Männer sind, die diese Insassinnen medizinisch betreuen. Wir alle miteinander waren uns nach langen Diskussionen darüber einig, dass gerade traumatisierte Frauen nicht wieder in die Hände von Männern fallen sollen, weil sie dann nach den Erfahrungen, die sie gemacht haben, einfach unfähig sind, Auskünfte zu geben. Frau Nickels, ich möchte vorschlagen, dass wir an den Innenminister von Nordrhein-Westfalen herantreten, damit er sich um dieses Gefängnis und die dortigen Verhältnisse kümmert. ({2}) Beim Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin habe ich mich darüber informiert, dass nach Möglichkeit vermieden werden soll, diese traumatisierten Frauen von Polizeiärzten überprüfen zu lassen. Zudem bleibt die Frage, ob sie dazu überhaupt in der Lage sind. Sie sind dafür auch gar nicht ausgebildet. Ich will etwas zur Folter sagen. Sie gehört ganz zweifelsfrei zur widerwärtigsten und perversesten Form der Intoleranz gegenüber Untergebenen und Gefangenen. Diese perverse Form der Intoleranz erlauben sich viele Staaten und sie wird auch von Behörden durchgeführt. Frau Graf hat die Zahlen genannt. Ich will sie nicht noch einmal vertiefen. Aber nach dem letzten Bericht von „amnesty“ - die Zahlen stammen aus dem Jahre 1999 - kam Angelika Graf ({3}) es in 125 Staaten zu Folter und Misshandlungen von Gefangenen. In 81 Staaten starben Menschen an der Folge systematischer Folter. Dazu gehören auch solche, mit denen Deutschland intensive Beziehungen pflegt. Ich will diese Staaten einmal nennen. Es sind China, die Türkei, Indonesien, der Irak, der Iran, Syrien, Birma, Algerien, Tunesien, Mexiko, Indien und leider auch Israel. Auch das muss man ehrlich sagen. ({4}) In den meisten Ländern gibt es sogar offizielle Foltermethoden, die im Polizeiunterricht gelehrt werden. Allein in Syrien sind es 36 offizielle Foltermethoden. Damit die Bundesregierung nicht glaubt, ich würde blauäugig die Philosophie vertreten, man solle die wirtschaftlichen Beziehungen zu Ländern abbrechen, in denen gefoltert wird, will ich hinzufügen: Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir dann mit drei Vierteln der Welt keine wirtschaftlichen Beziehungen mehr unterhalten könnten. Aber wir alle miteinander im Bundestag haben schon 1988 unsere eigene Regierung, aber auch die Unternehmer aufgefordert, dass sie in diesen Staaten bei ihren politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Verhandlungen und sonstigen Gesprächen gleichzeitig immer wieder die Frage der Menschenrechte ansprechen. ({5}) Ich finde, das muss bekräftigt werden. Wir sollten wirklich dafür sorgen, dass wir, bevor wir das Wort Euro in den Mund nehmen - so muss man ja jetzt sagen -, immer wieder die Menschenrechtsfragen ansprechen. Ich möchte den Minister ausdrücklich ermuntern, dies auch in der Zukunft fortzusetzen. ({6}) Das gilt auch Staaten gegenüber, mit denen wir traditionell oder aufgrund gemeinsamer Zukunftsperspektiven gute Beziehungen haben. Dürfen Geschäftsbeziehungen, Gewinne oder der Abschluss von Verträgen wirklich so die Hirne von Demokraten und Unternehmern verwirren, dass sie die Folterknechte nicht mehr sehen, die hinter ihren Geschäftspartnern stehen und grinsen? Kannibalen werden, wenn sie mit Messer und Gabel essen, nicht zu zivilisierten Menschen und haben vor allem nicht das Recht, im Namen derer zu sprechen, die sie gefressen haben, ({7}) so sagt der Satiriker und Lyriker Stanislaw Jerzy. Es geht aber jedem so. Jeder normale Bürger muss doch misstrauisch werden, wenn der Polizeihund mit dem Schwanz wedelt. Das müsste somit auch für jeden Geschäftsreisenden gelten. Was China anbelangt: Ich höre dauernd die Klagen wegen der Korruption. Auf dem letzten Volkskongress hat der Ministerpräsident laut darüber Klage geführt. Man kann die Korruption in China nicht so bekämpfen, wie es dort gemacht wird. Korruption kann man nur bekämpfen, wenn man eine unabhängige Staatsanwaltschaft und eine freie Presse hat. Überall auf der Welt werden die Korruptionsfälle nicht von den Regierungen aufgedeckt. Sie sind meistens darin verwickelt. Das ist doch klar: Es hat dann kein Mensch ein Interesse daran, dass es herauskommt. Korruptionsfälle werden in aller Regel nur durch Journalisten, durch die Presse, aufgedeckt. Wenn China mit der Korruption fertig werden will - es wäre sinvoll gewesen, wenn das der Inhalt dieses Antrages gewesen wäre -, dann muss es endlich die Presse- und Informationsfreiheit einführen. Das ist der beste Weg, um mit diesem Geschwür fertig zu werden. ({8}) Peter Weiss hat in seinem Drama „Die Ermittlung“ den Gesang von der Schaukel geschrieben; ein unglaubliches Gedicht. Er beschreibt darin die so genannte BogerSchaukel, die in den Konzentrationslagern der SS ein beliebtes Folterinstrument war, das insbesondere bei Juden ausprobiert wurde. Jetzt lese ich in dem letzten Bericht von Amnesty International, dass ausgerechnet in Israel die Folter wieder systematisch eingeführt wird. Was schlimmer ist, lieber Herr Fischer - ich muss das hier sagen und Sie werden sicherlich mit mir übereinstimmen -: Wir müssen auf etwas anderes aufpassen. Seit dem 11. September wird in den Vereinigten Staaten die Frage diskutiert, ob Menschenrechte nicht ein Luxusgut der Zivilisation seien, auf die man in Notzeiten schon einmal verzichten könnte. Jonathan Alter, ein berühmter Journalist, schreibt in „Newsweek“: Es wird Zeit, über die Folter nachzudenken. Das FBI verdiene eine Chance. - Heute steht in der „Zeit“, dass das nicht nur Spinnereien von Journalisten sind, sondern dass die Sache bereits realisiert wird. Die „Washington Post“ hat einen Fall recherchiert, wo ein Verdächtiger von den Philippinen nach Ägypten transportiert worden ist, weil man ihn nicht in den USA selber foltern will. Man bringt die Leute in befreundete Staaten, die dann sozusagen diese Sauarbeit für die Demokraten verrichten. Ein hoher Beamter hat der „Washington Post“ bestätigt, dass es Dutzende ähnlicher Fälle gibt. Wir müssen feststellen, dass niemals der Zweck die Mittel heiligen darf, vor allem nicht, wenn es sich bei den Mitteln um Mord oder Folter handelt. ({9}) Man kann natürlich viele Gründe anführen, auch vonseiten der Polizei. Es gäbe aber auf der Welt kein Halten mehr. Alle Staaten, die wir und andere westliche Demokratien mit Mühe und Not durch unsere Bemühungen dazu gebracht haben, den Weg des Rechts, auch des internationalen Rechts, zu gehen, würden doch in die unmenschlichen Praktiken zurückfallen. Der gesamte zivilisatorische Fortschritt, den wir erreicht haben, würde infrage gestellt. Folter in den USA - das ist unglaublich. In den Vereinigten Staaten sollte nicht die Folter eingeführt, sondern endlich die Todesstrafe abgeschafft werden. ({10}) Wir verlieren sonst jede moralische Position. Der amerikanische Justizminister, der zu den christlichen Fundamentalisten gehört, sollte vielleicht in seinem Amtszimmer ein Kreuz aufhängen und daran denken, dass dort jemand hängt, der systematisch zu Tode gefoltert worden ist. Das könnte auch ein Anlass sein, über den fundamentalistischen christlichen Standpunkt nachzudenken. Wenn die westlichen Demokratien mit der Folter beginnen, dann haben sie kein Recht mehr, die Verbrechen der Despoten und Tyrannen dieser Erde zu brandmarken und zu verfolgen. ({11}) Dann können wir die Bemühungen aufgeben, die Menschenrechte zum integralen Bestandteil der Außenpolitik zu machen. Das aber ist unser gemeinsames Ziel. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich - was sicherlich ungewöhnlich ist - mit einem Dank an den Ausschuss und an Sie, Frau Vorsitzende, beginnen, weil es sich gerade im Bereich der Menschenrechte als unglaublich hilfreich erweist, dass die Regierung immer wieder auf das Parlament und auch zunehmend auf das Europäische Parlament verweisen kann und dass dabei die Frage der Menschenrechte und das Selbstbewusstsein des Parlaments - dabei kommt dem Ausschuss eine ganz besondere Bedeutung zu - in den Gesprächen mit Regierungen, deren Menschenrechtsbilanz fragwürdig und manchmal sogar äußerst zweifelhaft und kritikwürdig ist, für uns von sehr großer Wichtigkeit sind. ({0}) Auch der Hinweis auf den Ratifikationsvorbehalt des Europäischen Parlaments bei Partnerschafts- und Assoziationsabkommen, die überaus hilfreich und nützlich sind, erweist sich in Menschenrechtsfragen immer als sehr hilfreich. Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Man muss aber auch sehen, dass der Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte einen elementaren Bestandteil unserer Außenpolitik darstellt. Dies gilt vor allen Dingen seit dem 11. September. Denn wenn wir im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bestehen wollen, dann müssen wir begreifen, dass es sich nicht nur um eine machtpolitische Auseinandersetzung, sondern vor allem auch um eine Werteauseinandersetzung handelt. ({1}) Es wäre einer der fatalsten Erfolge des islamistischen Terrorismus, wenn er uns dazu bringen würde, im Kampf gegen ihn unsere eigenen freiheitlichen und menschenrechtlichen Grundwerte infrage zu stellen. ({2}) Wenn wir uns auf die kommende Tagung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf, die in wenigen Tagen beginnen wird, vorbereiten, ist es sicherlich wichtig und richtig, dass wir uns dieses 11. Septembers und der Herausforderungen, vor denen wir stehen, bewusst werden. Aber ich betone noch einmal: Im Kampf gegen den Terrorismus wird es auch Bündnisse mit Regierungen geben müssen, deren eigene Menschenrechtsbilanz alles andere als zweifelsfrei ist. Aber für unsere eigene Haltung als Europäer und Deutsche muss klar sein, dass Demokraten, Menschenrechtsgruppen und Initiativen, die sich für Entrechtete und Unterdrückte einsetzen und sich auf die Charta der Vereinten Nationen und die internationalen Menschenrechtskonventionen berufen, die Freiheit - auch Meinungs- und Organisationsfreiheit - und Gerechtigkeit wollen und sich für soziale Rechte einsetzen, in uns immer einen unbestechlichen Anwalt haben werden. ({3}) Das gilt auch und gerade seit dem 11. September. Deswegen muss ich das, was Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, gesagt haben, zurückweisen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass bei allen Gesprächen, die der Bundeskanzler und ich in China führen, die Menschenrechtsagenda, die Lage der Christen und der Dissidenten in den Gefängnissen in der Volksrepublik China und die Demokratisierung immer zentrale Punkte darstellen. ({4}) Ich kann dem Kollegen Geißler in diesem Punkt nur zustimmen und ihm den Vollzug der Regierung melden. Bei dieser Bundesregierung mit mir als Außenminister rangieren Geschäfte in der Tat nicht vor den Menschenrechten. Ich denke, das muss ich hier nicht noch einmal nachdrücklich unterstreichen. ({5}) Es ist mir vorhin sehr schwer gefallen, ruhig zu bleiben, als sich die PDS bei den Menschenrechtsfragen zu Wort gemeldet hat. ({6}) - Ich sagte ja: Es ist mir schwer gefallen, ruhig zu bleiben. Kollege Hübner, Sie haben offenbar noch nicht erlebt, wie es ist, wenn ich richtig laut werde. Für meine Verhältnisse war ich vorhin noch oberruhig. ({7}) Ich möchte Ihnen Folgendes sagen - das wird gewiss auch der eine oder andere in Ihren Reihen so sehen -: Sie dürften sich an der Debatte über die Menschenrechte eigentlich nicht mehr beteiligen, wenn Sie sich von der Solidaritätskundgebung, die ein Teil Ihrer Partei vor dem Schöneberger Rathaus für Herrn Milosevic veranstaltet hat, nicht zweifelsfrei distanzieren, wobei distanzieren der falsche Begriff ist. ({8}) Ich frage mich, was Sie eigentlich mit solchen Leuten gemein haben. ({9}) - Eben! Dann müssen Sie aber auch die Konsequenzen ziehen, wenn Sie mit solchen Leuten nichts zu tun haben. Ich unterstelle Ihnen ja gar nicht, dass Sie mit solchen Leuten etwas gemein haben. Nur, es muss zweifelsfrei klar sein, dass es mit solchen Leuten wie Herrn Milosevic keine Solidarität geben darf. Sie müssen sich vielmehr im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten. Das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. ({10}) - Herr Hübner, bitte. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir haben das auf dem kurzen Dienstweg erledigt. Das ist zwischen Herrn Fischer und mir so üblich. Bitte, Herr Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Außenminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in den letzten Jahren weder im Fall Milosevic noch in anderen Fällen von Menschenrechtsverletzungen, die in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Politik beispielsweise sozialistischer Länder stehen, ein Blatt vor den Mund genommen habe, auch nicht in der Plenardebatte etwa über die Menschenrechtsverletzungen in China? Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass ich es für problematisch halte, dass Sie mir solche Dinge vorhalten, wenn ich mich zu Menschenrechtsproblemen in anderen Ländern zu Wort melde? Ich empfinde das als eine Retourkutsche, die weder dem Sachverhalt noch dem Redner angemessen ist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Hübner, Sie müssen stehen bleiben.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Meinetwegen kann er sich auch hinsetzen. Ich antworte ihm trotzdem. ({0}) Herr Kollege Hübner, Sie haben gerade ein hohes Maß an Sensibilität gezeigt, das Sie bei Ihrer Kritik an der Regierungskoalition vermissen ließen. Das möchte ich nicht weiter vertiefen. Aber ich kann mich noch sehr gut an Ihre Reden erinnern, die Sie während des Kosovo-Krieges gehalten haben. Auch das möchte ich nicht vertiefen. Damals konnte keine Rede davon sein, dass Sie kein Blatt vor den Mund genommen hätten. Sie haben ganz einfach geschwiegen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich fand es unerhört, dass es eine Veranstaltung unter der Überschrift „PDS - Solidarität mit Milosevic“ vor dem Schöneberger Rathaus gab. So etwas darf es nicht geben. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte. Ich würde mich freuen, wenn Sie das klarstellten. ({1}) Wir stehen vor einer wichtigen Konferenz. Ich denke, dass sich nun, nachdem Italien seine Kandidatur zurückgezogen hat, vier Länder aus der westlichen Gruppe, darunter Deutschland und die USA, um die vier freien Plätze in der VN-Menschenrechtskommission bewerben werden. Ich bin mir sicher, dass die USA wieder Mitglied dieser Kommission sein werden. Ich halte das unter allen Gesichtspunkten für sehr wichtig. Ich finde es auch richtig, dass wir in der westlichen Gruppe ein Rotationsverfahren einführen werden. Dann werden wir nicht länger von der Gnade höchst zweifelhafter Mitgliedsländer abhängig sein. Solche Mitgliedsländer dürfen nicht entscheiden, wer Mitglied der VN-Menschenrechtskommission werden kann und wer nicht. ({2}) Das heißt aber auch, dass die Bundesrepublik Deutschland, die von Anfang an Mitglied der VN-Menschenrechtskommission ist, beim nächsten Mal aussetzen wird. Ich kündige das bereits hier an. So ist es in der westlichen Gruppe abgesprochen worden, damit das Rotationsverfahren in Gang gesetzt werden kann. Noch ein Wort zu einzelnen Ländern: Die China-Resolution hat bisher leider noch keine Mehrheit gefunden, auch nicht beim letzten Mal. Die amerikanische Initiative hat im Verfahren keine Mehrheit gefunden, obwohl die Europäische Union entschlossen war, zuzustimmen. Ich sage Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, in diesem Zusammenhang: Es ist von überragender Bedeutung, dass die Europäer in Menschenrechtsfragen eine geschlossene Position einnehmen. Ich würde mir sicherlich in vielen Fragen eine härtere Gangart wünschen. Damit hätte ich auf der nationalen Ebene überhaupt kein Problem. Tatsache ist aber, dass wir einen europäischen Konsens brauchen. Dieser europäische Konsens ist gerade im Rahmen der Vereinten Nationen unverzichtbar und das gilt auch für die Menschenrechtskommission. Das ist anders als in früheren Jahren und anders als zu der Zeit, in der ich im ersten Jahr Außenminister war. Die Bedeutung einer geschlossenen europäischen Position nimmt zu. Wir werden uns dennoch darum bemühen, dass die Situation in Tschetschenien thematisiert wird. Selbst wenn es zur Situation in China keine Resolution geben wird, werde ich das - das kann ich Ihnen hier schon zusagen in der Rede thematisieren. Ich habe bisher in jedem Jahr in meiner Rede die entscheidenden Punkte benannt; das gilt auch für andere. ({3}) - Es ist typisch, dass der Zwischenruf „Auch von den USA?“ von Ihnen kommt, ({4}) und ich will Ihnen auch sagen, warum. Da unterscheide ich mich übrigens vom Kollegen Geißler, allerdings gar nicht so sehr in dem, was er in der Sache kritisiert hat, nämlich dass es in Rechtsstaaten und Demokratien zum Beispiel Folter nicht geben darf, ({5}) dass es dafür keinen Grund gibt, dass der Zweck die Mittel nicht heiligt. Ich erinnere mich aber daran, dass es in schwierigeren Zeiten bei uns diesbezüglich auch schon einmal einzelne andere Meinungen gegeben hat, nicht unbedingt von Personen aus dem politischen Spektrum, das mir nahe steht. Ich meine die 70er- und frühen 80er-Jahre; ich könnte auch Namen nennen. Ich unterstelle Ihnen da nichts. Die USA und Israel sind Rechtsstaaten und Demokratien, in denen wie bei uns zum Teil abwegige Positionen geäußert werden. Nur, sie sind Rechtsstaaten und das unterscheidet sie elementar von den anderen Fällen, die Sie genannt haben. Jeder dort kann bis zum obersten Gerichtshof gehen. Ich vertraue völlig auf die rechtsstaatliche Tradition dieser beiden Demokratien. Bei allem, was wir im Einzelfall bei uns und auch bei ihnen zu kritisieren haben, würde ich sie niemals in einem Atemzug mit Iran, mit Syrien und mit anderen Staaten nennen. Ich habe schwerste Bedenken, dies gleichzusetzen. ({6}) Demokratien und Rechtsstaaten sind nicht vor Fehlern und Irrtümern und auch nicht vor abwegigen Meinungen gefeit - das gilt für unsere eigene Demokratie ebenfalls -, aber sie haben ein Verfahren, das um Lichtjahre besser ist, gerade weil sie Rechtsstaaten sind: Es gibt den Individualschutz für jede einzelne Bürgerin und für jeden einzelnen Bürger. Deswegen finde ich, dass der Zwischenruf „Auch von den USA?“ in diesem Zusammenhang schlicht und einfach an der Sache vorbeigeht. Meine Damen und Herren, wir werden die schwierigen Länderresolutionen auf der Konferenz diskutieren. Wir werden uns auch bemühen, die Fragen, die Sie angesprochen haben, zum Beispiel Folter, zu thematisieren. Ich glaube, dass die Frage der Vereinbarkeit der Scharia mit den Konventionen das zentrale Thema im Dialog mit dem Islam ist. ({7}) Ich habe mir erlaubt, das auch in dieser Offenheit auf der Istanbuler Konferenz anzusprechen. Die Tagung der Menschenrechtskommission wird in einem sehr, sehr schwierigen Umfeld stattfinden. Wir werden auf der Grundlage unserer bisherigen Position, nämlich dass die Menschenrechte integraler Bestandteil unserer Grundwerte und damit auch unserer Politik sind, wie in den vergangenen Jahren auch dort klar Stellung beziehen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Herr Kollege Geißler das Wort.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Fischer, ich bin völlig ungeeignet, vom Bundesaußenminister als Kritiker der USA charakterisiert zu werden. Selbstverständlich sind Israel und die Vereinigten Staaten Demokratien. Umso höhere Ansprüche - das ist das Problem müssen sie an sich selber stellen. ({0}) Ich will das einmal von der Geschichte her betrachten, auch wenn Vergleiche da immer gefährlich sind. Ich erwähne die Gefangenen auf Guantanamo. Einem Muslim den Bart abzuschneiden ({1}) und ihn kahl zu scheren ist ungefähr genauso schlimm, wie wenn man einem Juden das Käppi zerfetzt. Wir haben in früheren Zeiten ähnliche Bilder gesehen. Wenn ferner Präsident Bush das Wort „Kreuzzug“ in den Mund nimmt, dann ist das für viele Muslime genauso schlimm wie das Wort „Holocaust“ für Juden. Damit werden die Vereinigten Staaten und wir mit ihnen eines Stückes unserer moralischen Autorität beraubt. Ich bringe hier eine Sorge zum Ausdruck, wenn ich darauf hinweise, dass solche Gedanken in unseren rechtsstaatlichen Demokratien geäußert und von Verwaltungen möglicherweise sogar aufgenommen werden. Aus Solidarität zu den Vereinigten Staaten müssen wir in der Lage sein, so etwas zu kritisieren. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Erwiderung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Kollege Geißler, es war nicht meine Absicht, Ihnen vorzuschreiben, was Sie zu kritisieren und was Sie nicht zu kritisieren haben. Wo kämen wir denn da hin? Hier, im Bundestag, muss alles kritisiert werden können. Gestatten Sie mir allerdings, darauf hinzuweisen, dass ich schlicht und einfach in der Reihung ein Problem gesehen habe. Für mich besteht in der Tat ein Unterschied. Demokratien haben einen höheren Standard zu halten; insofern ist an sie, auch an uns selbst, ein höherer Maßstab anzulegen. Wir müssen einfach sehen: Diese Debatte steht im Zusammenhang mit dem furchtbaren Terroranschlag vom 11. September. Sie wurde in den USA selbst - das muss man auch sehen - auf das Schärfste zurückgewiesen. Das ist nicht die Entscheidungsgrundlage. Ich hätte mir von Anfang an gewünscht, dass in Guantanamo bis zur Klärung des Rechtsstatus die entsprechende Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen gilt. Darauf haben die Europäer, die Europäische Union, aber auch die Bundesregierung hingewiesen. Es ist dann zu einer entsprechenden Entscheidung gekommen. Aber eines bitte ich Sie, zu bedenken: Wir müssen Acht geben, dass wir uns begrifflich nicht völlig vergaloppieren. Kreuzzüge sind das eine. Bei der Einnahme Jerusalems 1099 durch das erste Kreuzfahrerheer wurde die gesamte muslimische und jüdische Bevölkerung abgeschlachtet alle. Ich würde das aber nicht mit dem Holocaust gleichsetzen. Insofern rate ich in diesem Zusammenhang - man hat es mit, wie ich finde, einmaligen Menschheitsverbrechen zu tun - zu einer sehr präzisen Wortwahl; denn sonst bekommen wir eine Debatte, die meines Erachtens in eine Sackgasse führt. Das kann nicht im Interesse des gemeinsamen Einsatzes für die Menschenrechte sein. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Moosbauer.

Christoph Moosbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Außenminister hat mir leider Redezeit weggenommen. Ich werde prüfen, ob das eine Verletzung meiner politischen Rechte ist. ({0}) Ich unterstütze die Bundesregierung in ihrem Bemühen, die Menschenrechte zum Kern der Außenpolitik zu machen und dementsprechend zu berücksichtigen, natürlich weiterhin. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, hat an dieser Stelle, vor dem Bundestag, kürzlich noch einmal betont, dass es die gemeinsame Anstrengung der Staatengemeinschaft sein muss, einen nachhaltigen Frieden zu schaffen. Er hat damit auch darauf hingewiesen, dass es nicht nur darauf ankommt, Konflikte in der Welt zu beenden, sondern vor allen Dingen darauf, Demokratie und Menschenrechte dauerhaft zu wahren. Daher ist es auch unsere Aufgabe, den zivilen Frieden täglich aufs Neue zu wahren sowie für die Demokratie und die Menschenrechte auch in unserem Land zu kämpfen. ({1}) Freiheit und Demokratie zu erringen ist für viele Länder erst ein Anfang. Demokratie bewährt sich vor allen Dingen im Umgang mit den Menschenrechten. ({2}) In vielen Teilen der Erde bleiben vielen Menschen rudimentäre Menschenrechte tagtäglich versagt. Die Kolleginnen und Kollegen haben auf Tschetschenien, auf Palästina, auf Tibet, auf den Sudan und auf viele andere Orte dieser Welt hingewiesen. Aber auch in Gesellschaften, die Demokratie und Freiheit errungen haben, werden jeden Tag bürgerliche, politische und auch soziale Rechte verletzt. Daher ist die im Sozialpakt festgeschriebene Berichtspflicht der Staaten keine lästige Fleißaufgabe, sondern eine wichtige Instanz bei der Umsetzung der im Pakt festgehaltenen Rechte. Durch den uns vorliegenden Antrag zur „Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Völkerrecht und im internationalen Bereich“ soll gerade dieses Instrument gestärkt werden. In ihm wird die Bundesregierung aufgefordert, bei der Erstellung ihres Berichts auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen einzubinden, die gegenüber Verletzungen der im Sozialpakt niedergelegten Rechte oft sensibler sind. Außerdem soll in Zukunft der Bericht publik gemacht und auch öffentlich diskutiert werden. Das schafft nicht nur zusätzliche Transparenz, sondern stärkt auch das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Rechte in der Öffentlichkeit. Nur wenn dieses Bewusstsein geschärft wird, können die Menschenrechte dauerhaft verteidigt werden. Die Berichtspflicht und die im Antrag vorgesehene Stärkung des Instruments als gering abzutun, wie es oft getan wird, ist daher falsch. Zusätzlich müssen wir aber engagiert auf ein Zusatzprotokoll zum Sozialpakt hinarbeiten, das die Möglichkeit von praktikablen Individual- und auch Kollektivbeschwerden ermöglicht, wie es etwa beim Zivilpakt der Fall ist. Erst wenn betroffene Menschen ihre Rechte auch wirksam einklagen können, ist der Wesensbestand der Menschenrechte gesichert. ({3}) Auch das steht im Antrag, im Übrigen nicht im Konjunktiv, wie der Kollege Hübner sagte. Ich will es einmal zitieren: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, ... für ein Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt einzutreten ... Wollte man es noch stärker formulieren, hätte man nur sagen können, man müsse die Bundesregierung zwingen, dass das passiert. Das können wir natürlich nicht. Ich danke dem Menschenrechtsausschuss für seine Arbeit und ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen für die vielen Anträge, die jetzt vorliegen. Wenn wir es wirklich schaffen, die Menschenrechte zum Kernbestandteil der Außenpolitik zu machen, dann haben wir hier im Parlament gute Arbeit geleistet. Vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „58. Tagung der VN-Menschenrechtskommission in Genf“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/8376? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung aller anderen Fraktionen angenommen worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/8406 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen „Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Völkerrecht und im internationalen Bereich“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von FDP und PDS angenommen worden. Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen zur weltweiten Bekämpfung und Ächtung der Folter, Drucksache 14/8488. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/8404 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Im Namen der ‚Ehre‘ - Gewalt gegen Frauen weltweit ächten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 5 e sowie Zusatzpunkte 4 bis 7: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/8280, 14/8481, 14/8483, 14/8486 und 14/8502 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Dr. Gerhard Friedrich ({0}), Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Maßnahmen der Bundesregierung für eine nationale Bildungsoffensive zur mittel- und langfristigen Behebung des Fachkräftemangels im IT-Bereich - Drucksachen 14/4172, 14/6943 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Norbert Hauser.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist in eine Schieflage geraten. Wir haben auf der einen Seite 4,3 Millionen Arbeitslose zu beklagen. Hinzu kommen noch einmal etwa 1,7 Millionen Personen in Arbeitsförderungsmaßnahmen. Auf der anderen Seite beklagen wir einen gewaltigen Fachkräftemangel. In der Zukunft wird es darauf ankommen, diesen gordischen Knoten in der Bildungs-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zu durchschlagen. Auch in der IT-Branche gibt es einen Fachkräftemangel. Im letzten Jahr waren etwa 75 000 Stellen - so hat man errechnet - unbesetzt. Die Schätzungen differierten zwischen 50 000 und 150 000 Stellen. Demgegenüber gab es fast 70 000 Ingenieure und Naturwissenschaftler, die eine Stelle suchten, und 32 200 EDV-Fachleute, die arbeitslos waren. Dies ist eine enorme Verschleuderung von Humankapital, die sich eigentlich kein Staat leisten kann. ({0}) Die Bundesregierung hat bis heute auf diese Probleme keine geeignete Antwort gefunden. Es gibt eine Reihe von Programmen; das ist durchaus löblich. Es fehlt aber ein Gesamtkonzept, und zwar nicht nur für den IT-Bereich. Weil dies fehlt, greift die Bundesregierung immer wieder zu Ersatzlösungen. ({1}) So stellt es auch eine Ersatzlösung dar, wenn sie meint, sie könnte diese Probleme mit einem neuen Zuwanderungsrecht bekämpfen. Dabei vergisst sie aber, dass wir es, wie eben gerade angesprochen, mit Millionen von Arbeitslosen, Umschülern und Menschen in ABM zu tun haben. Diese Menschen dürfen wir nicht links liegen lassen. ({2}) Wir müssen uns darum kümmern, dass diese Menschen in Arbeit kommen. Wir glauben, dass hier ein großes Potenzial vorhanden ist, aus dem sich auch Fachkräfte schöpfen lassen. Die Zuwanderung - das räume ich durchaus ein - mag in dem einen oder anderen Fall eine Lösung darstellen, sie beseitigt aber eben nicht das Grundproblem. Es sind - darauf hat die Bundesregierung gestern hingewiesen etwa 11 000 Greencards erteilt worden. Etwa 8 000 bis 9 000 Arbeitnehmer von diesen 11 000, die in den Genuss einer Greencard gekommen sind, haben die Möglichkeit ergriffen und ihre Arbeitsverhältnisse tatsächlich angetreten. Dies, meine Damen und Herren, ist doch angesichts der Größe des Problems nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. ({3}) - Sie haben offensichtlich nicht zugehört, Herr Kollege. Sie müssten gelegentlich das Lesen unterlassen. Hier handelt es sich lediglich um einen Tropfen auf den heißen Stein. ({4}) Die Greencardlösung hat deutlich gemacht, dass es möglich ist, Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Sie wissen ganz genau, dass wir das vorliegende Zuwanderungsgesetz nicht benötigen, um die Probleme im Spitzen- und Fachkräftebereich zu lösen. ({5}) Hier gibt es durchaus untergesetzliche Möglichkeiten, zum Beispiel auf dem Verordnungswege, um dieses Problem zu lösen. ({6}) - Ich wäre den Anwesenden auf der Regierungsbank dankbar, ihre Zwischenrufe, wenn sie denn schon welche machen, so vernehmlich zu machen, dass man sie auch versteht. Ich bin aber gerne bereit, Ihnen die entsprechenden Paragraphen zu nennen. Denken Sie an § 9 Nr. 9 der Arbeitsgenehmigungsverordnung. Schauen Sie dort hinein; dann sehen Sie, dass es heute schon möglich ist, diesem Fachkräftemangel zu begegnen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Darf ich Sie kurz unterbrechen? Die Regierungsbank darf keine Zwischenrufe machen.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darauf wollte ich mit meiner Äußerung aufmerksam machen, Frau Präsidentin. ({0}) Sie bringen ja immer wieder die Begründung, dass die Wirtschaft Zuwanderung verlange, weil sie der Ansicht sei, der Fachkräftemangel lasse sich nur über Zuwanderung lösen. Schauen Sie sich einmal die Umfrage an, die der Deutsche Industrie- und Handelskammertag Ende vergangenen Jahres vorgelegt hat. Es wurden 21 000 Unternehmen befragt; von diesen haben 12 Prozent angegeben, dass sie ausländische Arbeitskräfte anzuwerben gedenken. Auf die Frage, warum denn dieser Prozentsatz so gering sei, nämlich nur 12 Prozent, wurde die Antwort gegeben, dass zum einen die Kosten für die Suche ausländischer Arbeitskräfte zu hoch seien, zum anderen die Integration in den hiesigen Arbeitsprozess zu schwierig sei und schließlich unabdingbar für den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik die Beherrschung der deutschen Sprache sei. Dies sei eben bei diesen Menschen weitestgehend nicht der Fall. Wir brauchen also Lösungen vor Ort für die jetzt Arbeit suchenden Menschen. Zuwanderung wird uns dabei nicht besonders weiterhelfen. ({1}) Wir wollen den Fachkräftemangel in Deutschland durch Maßnahmen auf den Gebieten der Schul- und Hochschulbildung, der dualen Berufsausbildung und der Weiterbildung beseitigen. Bereits Jungen wie Mädchen muss der Umgang mit Technik zur Normalität werden. Schülerinnen und Schüler sind für naturwissenschaftliche und technische Fächer zu begeistern. Die Fehler der Vergangenheit, in der Technik und Fortschritt oft verteufelt wurden, dürfen sich nicht wiederholen. Aber man darf natürlich auch die weiterführenden Schulen nicht vernachlässigen. Wie man es richtig macht, zeigt uns zum Beispiel - man höre und staune - der Freistaat Bayern. ({2}) - Ich kann Ihre Begeisterung nachvollziehen. - Dort wird die IT-Ausbildung bereits in der Mittelstufe - hören Sie gut zu! - begonnen und gehört damit zum Basisunterricht. ({3}) An den bayerischen Gymnasien nehmen mehr als 29 000 Schüler des Wahlpflichtbereichs Mathematik im neunten und zehnten Schuljahr an Informatikkursen teil. Hinzu kommen mehr als 22 000 Schüler, die Informatik als Wahlkurs belegen. Das heißt, 46 Prozent eines Jahrgangs haben ausgezeichnete Computerkenntnisse. Das ist ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. ({4}) Wir beklagen immer wieder zu lange Studienzeiten, ohne wirklich Gravierendes dagegen zu unternehmen. Stellen Sie sich einmal eine Verkürzung der Studienzeit um nur ein Jahr vor. Das brächte dem Arbeitsmarkt in einem Zeitraum von fünf Jahren 40 000 zusätzliche Akademiker. Das ist das Doppelte von dem, was Sie mit der Greencard erreichen wollten, und ein Vielfaches von dem, was Sie tatsächlich mit der Greencard erreicht haben. Gerade im Akademikerbereich werden wir auf einen erheblichen Fachkräftemangel zusteuern, wenn wir nicht rechtzeitig reagieren. Von 1998 bis 2010 werden insgesamt etwa 1,3 Millionen Akademiker aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Der Bedarf für diesen Zeitraum wird auf etwa 1,1 Millionen Akademiker geschätzt. Das heißt, wir brauchen jährlich mindestens 200 000 Hochschulabsolventen. Laut Kultusministerkonferenz erlangen in den nächsten Jahren jeweils circa 350 000 junge Leute die Hochschulreife; aber nur etwa zwei Drittel dieser jungen Menschen nehmen ihre Chance zum Studium wahr. Das heißt, mehr als 150 000 junge Menschen streben zwar einen qualifizierten Schulabschluss an, wollen aber danach keine Hochschule besuchen. Auch hier ist ein enormes Potenzial, das es auszuschöpfen gilt. 30 Prozent der jungen Menschen mit Hochschulreife absolvieren zunächst einmal eine herkömmliche duale Berufsausbildung. Offensichtlich bietet ein Hochschulstudium in ihren Augen keine ausreichende Basis für eine berufliche Zukunft. Sie beklagen mangelnden Praxisbezug. Norbert Hauser ({5}) Dieser Praxisbezug muss hergestellt werden. Eine Lösung in diesem Fall heißt: duale Studiengänge. Sie entsprechen dieser Anforderung. Sie wecken die Bereitschaft zum Studium und haben den unschätzbaren Vorteil, dass sie die Dauer von acht Jahren für eine duale Erstausbildung plus Studium auf einen Zeitraum von fünf Jahren verkürzen. Das heißt also, die jungen Menschen stehen dem Arbeitsmarkt drei Jahre früher zur Verfügung. Dies ist ein gigantisches Potenzial zur Behebung des Fachkräftemangels. ({6}) Deutschland muss sich international ausrichten, wenn es im Wettbewerb bestehen will. Dazu gehört, dass der Wissenschaftsstandort Deutschland Werbung in eigener Sache macht. ({7}) Hochschulen sind bei der Gründung von Offshoreeinrichtungen zu unterstützen. Studenten, die ihren ersten Abschluss im Ausland machen, um dann ihre Studien in Deutschland fortzusetzen, gehören zu unserer Zielgruppe. ({8}) Der Wettbewerbsbeitrag der Bundesregierung lautet: Mittelkürzung für deutsche Kulturarbeit im Ausland. ({9}) Deutsche Schulen werden geschlossen, Goethe-Institute werden geschlossen, der Deutschen Welle werden die Mittel gekürzt. Das ist kein Kampf um die besten Köpfe, ({10}) das ist Resignation. Wir brauchen keinen Rückzug, wir brauchen eine Offensive. ({11}) Ein Letztes: Wettbewerb funktioniert nur, wenn es genügend Freiheit für die Bildungsträger gibt. Unser Bildungssystem erstickt an bürokratischen Vorgaben und einengenden Gesetzen. Die Bildungsanbieter in Deutschland sind besser, als einige in diesem Hause es vermuten. Geben wir ihnen die Chance, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Unser Antrag ist ein erster Schritt in diese Richtung. Haben Sie den Mut und stimmen Sie zu, damit der Fachkräftemangel wirksam bekämpft werden kann. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt im Hause sicherlich Einigkeit darüber, dass die Bildung ein Schlüsselfaktor bei der Bewältigung des strukturellen Wandels von der Industriegesellschaft zur Informationsund Wissensgesellschaft darstellt und dass wir davon ausgehen müssen, dass dieser Wandel mit steigenden Tätigkeitsniveaus und Arbeitsplatzanforderungen verbunden ist und deshalb zu einem höheren Bedarf an qualifizierten Fachkräften führt. Aus diesem Grund steht das Thema Fachkräftemangel auf der Tagesordnung aller hoch entwickelten Industriestaaten. Wir alle müssen uns fragen, inwieweit wir dieser Situation durch geeignete Maßnahmen Rechnung tragen. Sie wissen, dass der Fachkräftemangel bei der Regierungsübernahme ein sehr brisantes Problem der IT-Branche war. Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien bezeichnete den Mangel an IT-Fachkräften seinerzeit als die entscheidende Wachstumsbremse der deutschen Informationswirtschaft. Damals konnte man von Ausbildungsplätzen und Ausbildern in größerem Umfang noch nicht reden. Die Absolventenzahlen im Fach Informatik stürzten ab und der IT-Weiterbildungsmarkt war von Wildwuchs geprägt. Die Regierung hat umgehend gehandelt. Sie kann deutliche, auch international beachtete Erfolge vorweisen. Um das einmal klar zu sagen: Mit Ihrer Großen Anfrage hinkten Sie schon im Jahr 2000 den Entscheidungen der Bundesregierung hinterher. ({0}) Mit dem Entschließungsantrag bemühen Sie sich nun krampfhaft, den Abstand zwischen den Entscheidungen und dem Handeln der Regierung und den Forderungen der Opposition nicht zu groß werden zu lassen. Bereits im Sommer 1999 haben wir im Bündnis für Arbeit zusammen mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften die Offensive gegen den Fachkräftemangel im IT-Bereich gestartet. Mit dem darauf aufbauenden Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs vom März 2000 - das war vor Ihrer Großen Anfrage - hat diese Bundesregierung parallel zur Greencardinitiative eine Bildungsoffensive gestartet, die ein Bündel von Maßnahmen umfasst ({1}) und alle Bildungsebenen - duale Berufsausbildung, Weiterbildung und Studium - einschließt. Ihre Rede, lieber Kollege Hauser, ist ein sehr vordergründiger Versuch in einem Wahljahr, das Thema ZuwanNorbert Hauser ({2}) derung aus innenpolitischen Profilierungsgründen gegen die notwendigen Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung, die diese Bundesregierung längst durchführt, auszuspielen. ({3}) Wenn Sie wirklich ein Interesse daran haben, dass hoch qualifizierte Fachkräfte aus aller Welt, wie Sie in Ihrem Text immerhin noch verbalisieren, nach Deutschland kommen, dann müssen Sie sich sehr gut überlegen, ob Sie mit Ihrer Position des Ausspielens der notwendigen Interessen unserer jungen Menschen und der schon in Arbeit Befindlichen gegen das Thema Zuwanderung wirklich einen Beitrag zu dem angemessenen Umgang auch dieser Gesellschaft mit den Talenten, die aus aller Welt zu uns kommen sollen, leisten. ({4}) Ich denke, dass wir heute eine positive Bilanz ziehen können. Wir hatten uns vorgenommen, bis zum Jahre 2002 die Ausbildungsplätze im IT-Bereich und im Bereich der Medienberufe auf 40 000 zu erhöhen. Ende 2001 gab es über 70 000 Ausbildungsplätze im Vergleich zu 14 000 im Jahr 1998. ({5}) Sie verschweigen aus sehr vordergründigen wahltaktischen Gründen sehr gerne, dass wir die IT-Weiterbildungsmaßnahmen von Erwerbslosen in den Jahren 2000 und 2001 auf jeweils 46 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer pro Jahr ausgeweitet haben. ({6}) Das bedeutet, dass wir in diesem Bereich zusätzlich über 10 000 Erwerbslose pro Jahr ausgebildet haben. Gemeinsam mit den Ländern haben wir schon im Jahr 2000 das Programm zur Weiterentwicklung des Informatikstudiums gestartet, das mit Mitteln in Höhe von 50 Millionen Euro bis zum Jahre 2004 dazu beiträgt, die Studienkapazitäten zu erweitern und die Studienstrukturen sowie die Praxisorientierung zu verbessern. Lassen Sie uns über die Zahlen reden! 1997 gab es 11 000 Studienplätze. Jetzt sind es 27 000 Studienplätze. ({7}) Ist das kein Erfolg dieser Regierung? ({8}) Sie sollten sich an dieser Stelle sehr gut überlegen, ob Sie Ihre sehr vordergründige Kampagne, die auf einer Beschreibung der Situation basiert, die vielleicht für 1998 angebracht gewesen wäre, fortsetzen wollen, mit der die Greencard gegen die Ausbildung von Inländern ausgespielt werden soll. ({9}) Ich sage ganz deutlich: Diese Regierung hat von Anfang an ein integriertes Konzept der Förderung der Bildung im beruflichen Bereich, im akademischen Studium sowie im Bereich der Aus- und Weiterbildung gestartet, was dazu führt, dass wir erstmals seit der langen Zeit der Untätigkeit, die Ihre Regierung an den Tag gelegt hat, die Begabungsreserven für einen zukunftsträchtigen Bereich umfassend ausschöpfen. ({10}) Alle Prognosen weisen gegenwärtig darauf hin, dass wir die Talsohle bei den Informatikabsolventen längst durchschritten haben. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet in den nächsten Jahren mit sukzessiv steigenden Absolventenzahlen auf circa 15 000 bis 2005. Das bedeutet, dass es gegenüber dem Durchschnitt Mitte der 90er-Jahre mehr als eine Verdoppelung geben wird. Die Studierenden gibt es bereits. Die Greencard ist ein Erfolg. Es kam nicht darauf an, möglichst viele Menschen nach Deutschland zu holen. Es kam vielmehr darauf an, dass Fachkräfte, die bei uns gebraucht werden, nach Deutschland kommen. ({11}) Wenn wir durch unsere Ausbildungsanstrengungen dazu beigetragen haben, dass es nicht 20 000 oder 25 000, sondern nur 11 000 Menschen sind, die nach Deutschland gekommen sind, weil wir aus wachsenden Ressourcen junger qualifizierter und weiterqualifizierter Arbeitskräfte schöpfen können, dann ist das etwas, worüber ich mich nicht beklagen kann. Ich will einen weiteren Punkt nennen. Unser Bundesministerium hat in der letzten Woche im Rahmen eines internationalen Kongresses die wesentlichen Eckpunkte unserer Reform der IT-Weiterbildung vorgestellt, die international hohe Anerkennung und Nachfrage erfährt. Die Reform setzt Qualifikationsstandards für 29 marktgängige Spezialistenprofile in diesem Bereich. Sie wurde gemeinsam mit Gewerkschaften, Verbänden und Unternehmen entwickelt. Wir wollen damit die Voraussetzung schaffen, praxisnahe Qualifizierungen in einem Unternehmen mit der wissenschaftlichen Ausbildung an einer Hochschule zu kombinieren. Sie könnten dies heute uneingeschränkt begrüßen und uns dafür loben, ({12}) dass wir gemeinsam mit der Wirtschaft und mit allen Verbänden diese strategische Weichenstellung für ein qualifiziertes IT-Weiterbildungssystem in Deutschland geschaffen haben. Wir sind auch europaweit eines der ersten Länder, das die Vereinbarungen zum European Credit Transfer System in diesem Bereich für die IT-Weiterbildung umsetzt. Ich schließe mit einer letzten Bemerkung: Sie sind spät mit Ihren Anträgen und mit Ihren Vorschlägen. Um das am Beispiel Offshore-Gründungen deutlich zu machen: Sie stellen dieses Thema heute in Ihrem Entschließungsantrag erstmals zur Debatte. Wir handeln aber bereits. Sie wissen, dass eine Reihe von deutschen Universitäten in dieser Richtung von uns unterstützt werden und erste Initiativen in vielen Ländern der Welt starten. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Glück, mit Ihren Forderungen an das heranzukommen, was diese Regierung schon längst umsetzt. Danke schön. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Catenhusen, ich bin gern bereit, Sie zu loben. ({0}) Aber so dramatisch gut, wie Sie es darstellen, ist es natürlich auch nicht. Wenn Sie hier mit Zahlen operieren, die auf das Jahr 1998 zurückverweisen, dann dürfen Sie nicht vergessen, dass diese Berufe in jenem Jahr neu eingeführt worden sind. ({1}) Angesichts dessen ist es kaum möglich, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon das heutige Mengenniveau erreicht hatten. Trotzdem ist die FDP-Fraktion bereit und willens, anzuerkennen, dass die Bundesregierung reagiert hat. ({2}) Sie haben in Ihrer Antwort auf das 100-Millionen-Sonderprogramm zur Weiterentwicklung des Informatikstudiums verwiesen. Das ist ein ordentliches Programm. Des Weiteren haben Sie auf Tausende von Teilnehmern an Weiterbildungs- und Qualifikationsmaßnahmen der BA und auf das Internet für Arbeitslose, Frauen und Umschüler verwiesen. Herr Catenhusen, hier ist es mit dem Loben nicht getan, hier fehlt uns die Erfolgskontrolle. Dies betrifft insbesondere die BA. Es liegen keine verlässlichen Zahlen darüber vor, ob diese Schulungen auch zu Einstellungen führen. Wenn Sie keine Erfolgskontrolle haben, können Sie im Hinblick auf die Qualität auch nicht nachregeln. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass die Diskussion über die Bundesanstalt für Arbeit endlich angefangen hat und die Effizienz dieser Anstalt auf dem Prüfstand steht. Dies gilt insbesondere für eine ganze Generation von IT-Fachkräften zwischen 45 und 55 Jahren, auf die Herr Hauser eben schon hingewiesen hat. Sie stehen ohne Chance auf einen Job auf der Straße. Ende 2001 - lassen Sie sich diese Zahl einmal durch den Kopf gehen - waren es immerhin 34 000 arbeitslose IT-Kräfte. Ich frage mich natürlich, was die Bundesregierung im Hinblick auf diese Leute macht. Hier muss deutlich effizienter und erfolgsorientierter gefördert werden. Die 11 000 Greencards, die Sie, Herr Catenhusen, eben angeführt haben, sind im Vergleich dazu wahrlich nur ein laues Lüftchen. ({4}) Im Schulbereich sind wir vorangekommen; das sehen wir genauso. Fast alle Schulen verfügen inzwischen über einen Internetzugang, eine wachsende Anzahl auch über moderne Computer. Ich betone allerdings, Herr Catenhusen, dass wir vorangekommen sind; denn ein Großteil dieses Fortschritts ist nicht zuletzt auf das beispielhafte Engagement von Eltern und Sponsoren und weniger auf das segensreiche Wirken der Bundesregierung zurückzuführen. ({5}) Aber auch dieses Engagement reicht nicht, was die Bundesregierung selbst zugibt. Sie sagt nämlich in ihrer Antwort auf die Große Anfrage, bis 2005 könnten ungefähr 350 000 IT-Fachkräfte gewonnen bzw. ausgebildet werden. Der Technologiebericht des Wirtschaftsministers stellt aber schon für 2002 einen Bedarf von 350 000 ITFachkräften fest. Das ergibt eine Lücke von drei Jahren, Herr Catenhusen. Mit Ausbildung ist dies nicht zu schaffen; wir brauchen - hier widerspreche ich Ihnen sehr energisch, Herr Hauser - auch qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland. ({6}) Dieser Punkt stört uns übrigens an dem Antrag der CDU/CSU. ({7}) Es ist erneut der Versuch, das Thema Zuwanderung in etwas hineinzumischen, bei dem wir uns alle einig sind. Wir wissen doch, dass wir qualifizierte Kräfte aus dem Ausland brauchen, und sollten dies nicht dergestalt in eine Debatte hineinbringen, dass wir plötzlich die Leute mit Stammtischargumenten aufhetzen, um Wahlkampfpunkte zu machen. ({8}) Wir werden heute den Entschließungsantrag an den Ausschuss überweisen. Ich kann sagen, dass uns vieles an ihm gefällt. Die Maßnahmen, die Sie zur Integration ausländischer Studenten angeführt haben, liegen auf unserer Linie. Das gilt auch für die Quoten, in deren Rahmen die Hochschulen selbst aussuchen dürfen. Wir sind uns mit Ihnen, aber auch mit Herrn Catenhusen einig, dass es an der Zeit ist, die Geschwindigkeit im Ausbildungsbereich zu erhöhen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir im Ausschuss Ihrem Antrag folgen, warten aber zunächst die Debatte ab. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Thema der heutigen Debatte stößt man natürlich auf den Begriff der Greencard; dies ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Seit knapp zwei Jahren können Computerexperten und -expertinnen aus Nicht-EU-Ländern aufgrund der Greencardregelung bei uns arbeiten. ({0}) Über 10 000 Arbeitserlaubnisse wurden bereits ausgestellt. 88 Prozent davon gingen - das erwähne ich nur am Rande - an Männer. Was gab es nicht alles an Befürchtungen, insbesondere von konservativer Seite: Ganze Zuwanderungswellen könnte diese Greencard auslösen, vergleichbar mit der Einwanderung in den 50er- und 60er-Jahren. Heute wissen wir mehr. Die Greencard war sicherlich notwendig; sie ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der ITMarkt ist sehr komplex und erfordert spezifische Qualifikationen sowie ständige Weiterbildung, bringt aber leider auch häufig wechselnde Arbeitgeber und Einsatzorte mit sich. Hierdurch sowie durch die vielen Weiterbildungsmaßnahmen, die leider viel zu häufig am Markt vorbei gehen, lässt sich das scheinbar unverständliche Verhältnis von bis zu 30 000 arbeitslosen EDV-Fachleuten auf der einen und einem hohen Fachkräftebedarf auf der anderen Seite erklären. Die Überprüfung der Qualifizierungsmaßnahmen von Arbeitslosen ist also auch für den IT-Bereich dringend erforderlich. Gerade gestern war ich auf der Cebit und habe mich dort von der guten Zukunftsfähigkeit des IT-Marktes rund um die neuen Technologien überzeugen können. Die Bundesregierung ist sich dieser Bedeutung vollkommen bewusst und hat zahlreiche Maßnahmen getroffen, um diesen innovativen, aber auch schwierigen Arbeitsmarkt für alle zu öffnen: für Arbeitslose aus anderen Bereichen wie für Spezialisten und Spezialistinnen aus dem Ausland. Wegen der guten Zukunftsaussichten dieser Jobs ist es besonders wichtig, Mädchen und Frauen frühzeitig für diese Bereiche zu interessieren. So hat sich die Bundesregierung vorgenommen, den Anteil der Frauen bei den Studienanfängern in Informatikstudiengängen bis zum Jahr 2005 von jetzt 17 Prozent auf 40 Prozent zu steigern. ({1}) Das kann uns auch gelingen. Schon jetzt zeigt sich ein wachsendes Interesse junger Frauen an den neuen Technologien, an einem naturwissenschaftlichen oder technischen Studium. ({2}) Während Ende 1997 rund 11 000 junge Frauen ein Studium in den Bereichen Ingenieurwissenschaften, Informatik und Elektrotechnik aufnahmen, waren es im Wintersemester 1999/2000 bereits fast 15 000. Diese Entwicklung ist mehr als erfreulich und wird durch das 100-MillionenSofortprogramm der Bundesregierung zur Verbesserung des Informatikstudiums weiter anhalten. Die wesentlichen Ursachen des heutigen Fachkräftemangels liegen in der Bildungspolitik der 90er-Jahre. ({3}) Die Weichen wurden nicht rechtzeitig gestellt, um die technologischen und bildungspolitischen Herausforderungen, die durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien entstanden sind, frühzeitig zu erkennen. ({4}) Was Helmut Kohl und Co jahrelang ausgesessen haben, kann man nicht innerhalb kürzester Zeit zum Galoppieren bringen. Doch Rot-Grün ist hier auf einem sehr guten Weg. Jetzt wird gesurft und gehandelt. ({5}) - Das tue ich leider nicht, muss ich gestehen. Wichtig sind - das wurde von Herrn Catenhusen bereits angesprochen - zum einen die Offensive zum Abbau des Fachkräftemangels im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und das Sofortprogramm der Bundesregierung zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs in Deutschland. Außerdem werden bis zum Jahr 2004 für die Entwicklung von Lehr- und Lernsoftware für Schulen, Hochschulen und Berufsbildung circa 650 Millionen DM von der Bundesregierung bereitgestellt. ({6}) Die Anzahl der Computer und der Internetanschlüsse wurde in den letzten Monaten massiv gesteigert. Gerade deshalb ist die Integration der neuen Medien in Schule und Universität nach wie vor eine ganz zentrale bildungspolitische Aufgabe. ({7}) Mir persönlich liegt in diesem Zusammenhang besonders die Förderung von Mädchen und jungen Frauen am Herzen. Gestern auf der Cebit fühlte ich mich noch immer allein unter Männern. ({8}) Dies muss sich nach und nach ändern. ({9}) Auch hier sind wir mit Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung auf einem guten Weg. Stellvertretend möchte ich in diesem Zusammenhang zwei Projekte erwähnen: Sachsen-Anhalt veranstaltet für Mädchen technische Sommerakademien und unterstützt Patenschaften mit Hochschulen und Fachhochschulen. In Thüringen gibt es ähnliche Initiativen, die von der Koordinierungsstelle „Wissenschaft und Technik für Schülerinnen“ begleitet werden. ({10}) Die Aufgeschlossenheit von Mädchen für naturwissenschaftliche Themen, insbesondere für die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, sollen Projekte wie „girls@D21“ oder „Idee-IT“ wecken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch viel zu tun, um unsere Gesellschaft für die Herausforderungen der Informationsgesellschaft fit zu machen. ({11}) Die kurzfristige Gewinnung von IT-Fachkräften oder auch die erfreuliche Mitteilung, dass alle deutschen Schulen mittlerweile am Netz sind, reichen bei weitem nicht aus. Wir brauchen eine Bildungspolitik, die flexibel mit der Berufsausbildung umgeht und nicht in starren Strukturen verharrt. ({12}) Wir wollen eine Informationsgesellschaft ohne Barrieren aufbauen, in der sich junge Frauen genauso selbstständig bewegen wie netzbegeisterte Seniorinnen und Senioren. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Große Anfragen dienen einerseits der Bundesregierung, ihre Taten der Vergangenheit lobend zu erwähnen, und andererseits der Opposition, diese kritisch zu hinterfragen und meistens etwas schwarz zu malen. Ich möchte zunächst einmal einige lobende Worte aussprechen: Den Trend, dass Deutschland Schlusslicht im IT-Geschehen zu werden drohte, hat diese Bundesregierung zumindest gestoppt. ({0}) Während der Kohl-Regierung ist eher nichts passiert und wir haben den Anschluss völlig verpasst. ({1}) Inzwischen sind wir bei einem international vergleichbaren Standard angelangt. Es ist sehr erfreulich, dass inzwischen fast alle Schulen über einen Internetzugang verfügen. Gleichfalls geht die Ausstattung mit Computern in einem großen Tempo voran. Dennoch - das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage - wird häufig auf die Privatwirtschaft gesetzt. ({2}) Dies gefällt mir nicht unbedingt, wenngleich auch ich nicht verhehlen will, dass Sponsoring in diesem Bereich ein Weg sein kann. Ich denke aber, dass auch die Bundesregierung Verantwortung trägt und man sich nicht nur auf das Sponsoring verlassen darf. Zudem wird natürlich hier versucht, auf Bildungsinhalte Einfluss zu nehmen. ({3}) Die Bildungsinhalte sollten doch unabhängig festgelegt werden. ({4}) Ein zweiter Aspekt ist, dass zum Beispiel die Telekom ganz großzügig ungefähr 33 000 Schulen mit Internetzugängen ausgestattet hat ({5}) - insoweit prima -, die Folgekosten aber häufig auf die Schulen bzw. Kommunen umgelegt werden. In Brandenburg mussten PCs bereits wieder vom Netz genommen werden, weil man sich die Folgekosten nicht leisten kann. Der Internetzugang ist also nicht alles. Die Hard- und Software gehören dazu. Hinzu kommen die so genannten Fachkräfte. Lehrerinnen und Lehrer befinden sich auch heute noch häufig in der Situation, dass ihnen die Schülerinnen und Schüler zeigen, wie man mit dem PC umzugehen hat, und nicht umgekehrt. Auch diesem Trend gilt es etwas entgegenzusetzen. ({6}) Ich glaube - das ist ein Aspekt, den ich hier noch einbringen möchte -, dass Medienbildung nicht in erster Linie Spezialistenausbildung, sondern Allgemeinbildung ist. Häufig wird betont, dass für Naturwissenschaften, Mathematik und Biologie mehr getan werden muss. Inzwischen ist aber die gesamte Content-Ebene, sind also die Inhalte genauso wichtig. Dazu gehört der Englischunterricht genauso wie der Deutschunterricht. Der Schwerpunkt darf nicht immer nur auf die naturwissenschaftlichen Fächer gelegt werden. Ich halte eine breit gefächerte, gute Allgemeinbildung für die eigentliche Grundlage für einen guten Umgang mit den Herausforderungen in der IT-Branche. ({7}) Eine gute Allgemeinbildung ist Grundlage für den Umgang mit den Medien. Deswegen hoffe ich, dass wir statt des Trends zur Spezialisierung den Weg hin zu einer sozial gerechten, allgemeinen Schulausbildung, zu einer allgemeinen Medienbildung in der Bundesrepublik finden. Dies ist neben der Lösung des Zuwanderungsproblems die beste Voraussetzung dafür, um den Herausforderungen einer zunehmenden IT-Entwicklung gerecht werden zu können. Danke. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich mit einer Bemerkung zum Kollegen Mayer beginnen, der vorhin, als es darum ging, dass mehr IT-Experten im Lande beschäftigt werden sollen, den goldigen Zwischenruf gemacht hat, dass es auch vorher schon möglich gewesen sei. Lieber Kollege Mayer, sobald ein IT-Experte in Deutschland sein Informatikstudium abgeschlossen hatte, ist er aus unserem Land rausgeflogen. Am nächsten Tag musste er Deutschland verlassen, weil er hier nur Gast war. Das haben Sie uns hinterlassen. Erzählen Sie hier also bitte nicht einen solchen Unsinn! ({0}) Gelegentlich bin ich zwar dankbar dafür, dass die Opposition Anträge stellt. Aber sie sollten schon ein wenig mit der Realität in diesem Lande zu tun haben. Lieber Herr Kollege Hauser, ich weiß nicht, ob Sie den vorgelegten Antrag als Ihr politisches Testament verstehen und ob es Ihre letzte Rede war; denn eigentlich müsste einen dieser Antrag ob der Gehaltlosigkeit ratlos machen ({1}) oder verzweifeln lassen. Sie nehmen Ihren eigenen Antrag nicht ernst. Ich will auf diesen einmal eingehen. Sie sagen heute, wir müssten uns um die Behebung des Fachkräftemangels im IT-Bereich kümmern. Ich kann Ihnen nur sagen: Prima, das hätten Sie eventuell vor zwei Jahren sagen können, als Sie nach der Cebit-Äußerung des Kanzlers Ihre unsägliche Kampagne „Kinder statt Inder“ gestartet haben. Sie wissen ganz genau, dass das auf der Cebit auf den Weg Gebrachte im Grunde genommen die Grundlage dessen ist, was wir heute miteinander diskutieren können. Hier sind Sie zu spät gekommen. Jetzt müssen Sie sich einig werden, was Sie wollen. Sie sagen uns, dass mit der Greencard - ich zitiere aus Ihrem Antrag - eine wirkliche Lösung des Problems nicht erreicht werde. Umgekehrt sagte gestern Ihr Kanzlerkandidat - nach langem Würgen gefunden -, dass im Falle eines Wahlsieges bei der Bundestagswahl am Greencard-Konzept festgehalten werden solle. Ich weiß gar nicht, warum Sie die Wahl gewinnen wollen. Mal ganz davon abgesehen, dass man bei Ihnen keinen eigenständigen Punkt erkennen kann. Wenn Sie die Wahl gewinnen wollen, um das fortzusetzen, was diese Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, ist ein Wahlsieg Ihrerseits völlig überflüssig. Dies ist er im Übrigen aber ohnehin. ({2}) - Sie müssen die Realitäten mal ein bisschen zur Kenntnis nehmen! Nun stellen Sie eine Vielzahl von wunderbaren Forderungen bezüglich der studentischen und wissenschaftlichen Kräfte in Deutschland auf. Was tun Sie aber? Frau Kollegin Flach, genau die Punkte, die Sie in Ihrem eigenen Antrag fordern, wollen die Union und - wenn ich Herrn Westerwelle richtig verstehe - auch Herr Westerwelle aus rein parteipolitischen und taktischen Gründen vor der Bundestagswahl im Bundesrat scheitern lassen. Das ist etwas, was nicht zusammenpasst. ({3}) Man kann natürlich fragen, woran es liegt. Ich sage es Ihnen: Wir führen im Moment eine Kampagne durch und Sie geraten unter Druck. Wir haben die Hochschulen und die deutschen Wissenschaftseinrichtungen darauf aufmerksam gemacht, dass Sie die dringend notwendige Internationalisierung im deutschen Wissenschaftsbereich und in der deutschen Hochschullandschaft verhindern wollen, weil Sie einige rechtsradikale bayerische Stammtische mobilisieren wollen und sich nicht für die Zukunftsprobleme in diesem Land interessieren. Das ist Folge dessen, was Sie tun. ({4}) Jetzt hätte ich mich beinahe aufgeregt; aber so ist es eben. Ich komme nun auf das zurück, was wir geleistet haben. Sie verkürzen das immer ein wenig auf die Greencard-Debatte. Es gibt noch einige andere Dinge; WolfMichael Catenhusen hat darauf hingewiesen. Zu Ihrer Zeit waren 15 Prozent der Schulen am Netz, bei uns sind es heute alle allgemein bildenden Schulen. ({5}) - Fragen Sie doch einmal, was das mit der Bundesregierung zu tun hat und wer die Initiative D21 gemeinsam mit der Regierung und der Wirtschaft auf den Weg gebracht hat. Das sollten Sie einmal nachschauen. ({6}) Kollege Mayer sagte, dass Bayern ein Vorbild sei. Wie sah es denn an den bayerischen Berufsschulen aus, bevor die Bundesregierung das Zukunftsinvestitionsprogramm für Berufsschulen auf den Weg gebracht hat? ({7}) Es gab doch ganze Landkreise, in denen keine IT-Fachklassen eingerichtet werden konnten, weil die armen Menschen keine Computer hatten. ({8}) So war der Sachverhalt. Dann haben wir mit 125 Millionen Euro - das sind 250 Millionen DM - dafür gesorgt, dass auch in Bayern an den Berufsschulen IT-Fachklassen eingerichtet werden konnten. ({9}) - Sie können hier noch so toben; das ist die Wahrheit über den Freistaat Bayern. Herr Kollege Repnik, in Baden-Württemberg war es im Übrigen ähnlich. Das Land hat groß getönt, dass es die Mittel, die der Bund gibt, verdoppeln wolle. Keinen Pfennig hat der Ministerpräsident, der vor der Wahl verkündet hat, dafür sorgen zu wollen, dass alle Schüler kostenlos an die Computer können, zur Verfügung gestellt. ({10}) - Herr Repnik, toben Sie nicht rum, stellen Sie eine Zwischenfrage! Es ist Ihnen unbequem, dass Sie mit der Wahrheit, die aber nicht Ihre Wahrheit ist, konfrontiert werden. ({11}) Kommen wir zurück zum Zuwanderungsgesetz und zur Verbesserung der Situation ausländischer Studierender, die wir in Deutschland haben wollen. Wir werden entsprechende Maßnahmen ergreifen. Was fordern Sie? Sie fordern die Bundesregierung auf, die Aufenthaltserlaubnis ausländischer Studierender nach erfolgreichem Abschluss in Deutschland gegebenenfalls bis zu einem halben Jahr für die Suche nach einem angemessenen Arbeitsplatz zu verlängern. Dem kann ich nur zustimmen. Das ist prima. Wir stellen uns übrigens ein Jahr und nicht nur ein halbes Jahr vor. Genau das, was im Zuwanderungsgesetz steht, ist Ihre Forderung im heutigen Antrag. Stimmen Sie dem zu, was wir auf den Weg gebracht haben! Hören Sie auf, die Stammtische zu mobilisieren! ({12}) Ein weiterer Punkt: Sie fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit der Exportwirtschaft im Ausland um hoch qualifizierte Kräfte zu werben. Auch dies ist einer der Schwerpunkte des modernen Zuwanderungsgesetzes. Aber was ist heute passiert? Heute Morgen war Herr Koch hier und hat uns mit seinen Ausführungen die Zeit gestohlen. Herr Koch ist es, der im Moment Unterschriften gegen das sammeln will, was Sie in Ihrem Antrag selbst fordern. Da das Wort „Heuchelei“ von der Frau Präsidentin wahrscheinlich gerügt würde, möchte ich von einer heuchlerischen Politik sprechen, die Sie hier betreiben. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich will Ihre Lebhaftigkeit nicht durch eine Rüge unterbrechen.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen. Wir müssen etwas tun. ({0}) Wir müssen in der Tat die Attraktivität unserer Hochschulen für ausländische Studierende und Lehrende verbessern. Hören Sie auf - das ist wirklich eine ernsthafte Bitte an Sie -, ({1}) das, was Sie selbst als richtig erkennen, durch stoibersche und kochsche Winkelzüge zu ersetzen! Das nimmt Ihnen im Land niemand ab. Im Grunde schadet es dem Standort Deutschland in unglaublicher Weise. Sie haben die Chance, im Bund und in den Ländern, in denen Sie zusammen mit der FDP noch regieren, Ihren eigenen Antrag ernst zu nehmen. Sie können im Bundesrat dem, was Sie hier fordern, zustimmen. Dazu fordere ich Sie auf. Ansonsten kann ich nur sagen: Vielen Dank für die Steilvorlage durch Ihre Große Anfrage. Es ist wirklich gelungen, Ihre Versäumnisse aufzuzeigen und unsere Erfolge darzulegen. ({2}) Verabschieden Sie sich von Ihrer nicht mehr in die Zeit passenden Politik! Stimmen Sie dem, was wir auf den Weg gebracht haben, zu, um hier Ihren Beitrag zu leisten! Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/8492 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Haushaltsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht zum Aktionsprogramm der Bundesregierung Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts - Drucksache 14/8456 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Herr Staatsminister Hans Martin Bury.

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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ein bayerischer Ministerpräsident diese Woche über die Cebit marschiert und erklärt: „Den Aufschwung sehe ich hier noch nicht“, dann ahne ich, woher Ihre Schlusslichtdebatte kommt: Die Schlusslichter sieht, wer hinterherfährt. ({0}) Deutschland aber startet in das Rennen um die Märkte von morgen aus der Poleposition. Wir in Deutschland haben mit 56 Millionen Mobilfunknutzern, 31 Millionen Internetzugängen und einer weltweit herausragenden Telekommunikationsinfrastruktur eine ausgezeichnete Startposition für die Nutzung mobiler Dienste und Anwendungen. Jeder fünfte ISDN-Anschluss weltweit liegt in einem deutschen Haushalt oder Unternehmen; bei der Ausstattung mit breitbandigen DSL-Anschlüssen haben wir im letzten Jahr sogar die Vereinigten Staaten überholt. Wir haben in unserem Land eine neue Offenheit und Begeisterungsfähigkeit für die Chancen neuer Technologien und die wachsende Bereitschaft, Zukunft gemeinsam zu gestalten. Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm, dessen Fortschrittsbericht wir heute debattieren, den Startschuss gegeben. Wir sind nicht mehr das Deutschland in den Zeiten der Kohl-Ära, das drohte, den Anschluss zu verpassen. Wir sind heute in Europa Marktführer im E-Commerce. Nur in den USA gibt es mehr elektronische B2B-Marktplätze als bei uns. Die Domain „.de“ ist weltweit das am meisten verbreitete Länderkürzel. Bereits zwei Drittel der deutschen Betriebe verfügen über eine Webseite, 20 Prozent ermöglichen ihren Kunden die Onlinebestellung über das Internet. Die Bundesregierung hat sich an die Spitze der Bewegung gesetzt. Bundeskanzler Gerhard Schröder ist Vorsitzender des Beirats der Initiative D 21, in der Unternehmer und Politik gemeinsam daran arbeiten, optimale Bedingungen für den Wandel im Informationszeitalter zu entwickeln. Die Initiative D 21 entspricht dem Leitbild eines aktivierenden Staates und ist für mich ein Musterbeispiel für Public Private Partnership: gemeinsam Ziele zu definieren, konkrete Umsetzungsschritte zu vereinbaren und sie zu erreichen. Denken Sie etwa an das Aktionsprogramm zur Beseitigung des Fachkräftemangels oder an die Initiative „Schulen ans Netz“. ({1}) Als wir die Regierung übernahmen, war zwar das papierlose Büro dort schon erfunden. ({2}) Doch ein ambitioniertes E-Government-Programm haben erst wir aufgelegt. Bis 2005 wollen wir alle internetfähigen Dienstleistungen der Bundesverwaltung online bereitstellen; denn die Daten sollen laufen, nicht die Bürger. ({3}) E-Government hat zudem einen Link zu E-Democracy. Wir nutzen die Möglichkeiten des Internets für mehr Transparenz und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen. So haben wir beispielsweise über Internetforen nicht nur Interessenverbände, sondern die gesamte interessierte Öffentlichkeit an der Erarbeitung einer Strategie für nachhaltige Entwicklung beteiligt. Heute Mittag hat der Bundeskanzler live im Chat mit der Internet-Community diskutiert. Wir werden auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft darauf achten, dass es nicht zu einer von manchen befürchteten Spaltung unserer Gesellschaft in Vernetzte und Unvernetzte oder in User und Loser kommt; denn der Zugang zu und die Beherrschung der neuen Medien entscheidet mehr und mehr über die Chancen im Erwerbsleben und über gesellschaftliche Teilhabe. Teilhabe an den Chancen ist deshalb der rote Faden unserer Politik, ob beim Anschluss aller Schulen - die 15 Prozent im Jahr 1998 wurden in der vorangegangenen Debatte mehrfach erwähnt -, bei der Ausstattung der Bibliotheken oder bei der Integration in Schulunterricht und Weiterbildung, der Netzanbindung aller Hochschulen mit Hochgeschwindigkeitszugängen und bei gezielten Förderprogrammen für Seniorinnen und Senioren, für Behinderte oder für Kinder im Rahmen der Kampagne „Internet für alle“. Vor uns liegen faszinierende Möglichkeiten. Denken Sie an die Telematik, das Gesundheitswesen oder den Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Bildungssektor. Wer die Chancen sieht, wird auch die Risiken beherrschen und die Herausforderungen bestehen. Eine Herausforderung liegt darin, die besten Köpfe zu gewinnen, ihre Ideen in Deutschland zu verwirklichen und damit zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu schaffen. Mit der Greencard ist uns das schon sehr gut gelungen. Jeder Inhaber einer Greencard hat im Schnitt zwei bis drei zusätzliche Arbeitsplätze im Lande geschaffen. Mit einer vernünftigen Steuerung von Zuwanderung lassen sich also Wachstumspotenziale erschließen. Man kann aber auch wie die Union die Augen vor der Realität verschließen. Dann, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Union, ist man irgendwann „world wide weg“. ({4}) Wir werden auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft weiter vorangehen. Sie mögen dann weiterhin beklagen, dass Sie nur die Schlusslichter sehen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Heinz Riesenhuber. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bury, Sie haben uns in einer eindrucksvollen Weise dargestellt, wie glanzvoll die Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren gearbeitet hat ({0}) und wie trüb die Kohl-Ära gewesen ist. ({1}) Es ist schon eine faszinierende Debatte. Was ist in der Kohl-Ära passiert? In dieser Ära ist Folgendes passiert: Wir haben die Normen und Standards in Europa aufgebaut, von denen heute unsere Überlegenheit in Bezug auf das Mobilfunknetz und ISDN herrührt. ({2}) Wir haben 26 Länder auf eine Schmalband-ISDNNorm gebracht. Wir haben GSM aufgebaut und damit Mobilfunklizenzen erst möglich gemacht. Wir haben einheitliche Infrastukturen in Europa geschaffen. Wir haben den Telekommunikationsmarkt liberalisiert. Wir haben die Märkte geöffnet. ({3}) Wir haben die Ausschreibung der Mobilfunklizenzen durchgeführt. Dies alles ist der Ausgangspunkt, von dem Sie leben. Herr Bury, Sie sagen, Sie haben die Quote der Internetanschlüsse in den Schulen von 15 auf 80 oder 90 Prozent gebracht. Das ist großartig. Das Entscheidende war aber, mit dieser Aktion überhaupt zu beginnen. Dass Sie jetzt weiter sind - Gott sei Dank. Ein Zwerg auf den Schultern des Riesen schaut weiter als dieser, sagte Sir Isaac Newton. ({4}) Wir wünschen Ihnen weiterhin einen glanzvollen Weitblick, der uns alle beglücken wird. ({5}) Was in diesen Jahren geschehen ist, ist beglückend. Wenn ich allerdings Ihre Pressemeldungen lese, gibt es schon Momente der Nachdenklichkeit. Das eine ist, dass Sie so tun, als ob die Bundesregierung in Weisheit und Güte gehandelt hätte. ({6}) Das ist aber ein Missverständnis. Das Gute ist, dass diese Technik aus den Märkten, den Unternehmen und der Wissenschaft kommt und nichts ist, was der Staat in seiner Weisheit und Güte zu organisieren hätte. Was die Wirtschaft vom Staat verlangt, sind faire Wettbewerbsbedingungen in den Märkten, der Schutz des geistigen Eigentums und die Integrität der Kontrakte. Alles, was sich an Problemen abzeichnet, lässt sich unter diesen drei Prämissen aufführen. Der Staat erbringt dabei - ich kann das nur wieder in Erinnerung rufen - eine gute Leistung dann, wenn er nicht stört. Was wir in diesen Jahren erreicht haben, haben Sie hoch gepriesen. Wir haben in der Tat ein flächendeckendes Telefonfestnetz, 40 Millionen Fernsehgeräte - wenn man nur die angemeldeten Geräte rechnet ({7}) und weit über 50 Millionen Handys. Die gesamte Infrastruktur ist vorhanden. Dies alles ist erfreulich und ist etwas, was wir Ihnen gern als Teil der Grundlage, auf der Sie fortfahren können, hinterlassen haben. ({8}) Über Ihre Pressemeldung schreiben Sie als Überschrift: „Deutschland jetzt Spitze in der Informationsgesellschaft“. ({9}) Wenn man so etwas schreibt, muss man sich überlegen, ob das nicht eine große Versuchung bedeutet, sich auf dem auszuruhen, was man hat. Es ist auch reizvoll, andere Meinungen zu lesen. Herr Eierhoff ist Vorstand von Bertelsmann. In einer anderen Eigenschaft ist er Vorsitzender der Kommission für Telekommunikation und Multimedia des BDI. Eine ganze Reihe von klugen Leuten ist in dieser Kommison. Was saStaatsminister Hans Martin Bury gen sie zu der Frage: Deutschland ist Spitze. Der Anteil der Internetnutzer beträgt in den USA und in Skandinavien über 55 Prozent, ({10}) in Großbritannien und in den Niederlanden mehr als 45 Prozent, in Deutschland 37 Prozent. ({11}) Das ist nicht ausgesprochen Spitze, aber immerhin. Bei den Pro-Kopf-Ausgaben für Information und Telekommunikation liegen hinter uns also nur noch Irland, Spanien, Portugal und Griechenland. Die Internetangebote des Staates sind eine interessante Sache. Sie sprachen von Ihren glanzvollen Leistungen im E-Government. In den Internetangeboten liegen nach einer Untersuchung - ich meine, sie stammt von Accenture - nur Belgien und Italien hinter uns in Europa. So glanzvoll scheint die Leitfunktion des Staates hier nicht zu sein. Wenn Sie so tun, als hätten Sie alles erreicht, dann haben wir die Befürchtung, dass sich die Bundesregierung entspannt zurücklehnt. Ich sage nur: Wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht und sich auf sie setzt, trägt sie am falschen Körperteil. ({12}) Insofern ist das, was wir hier vortragen, keine unfreundliche Kritik an dem, was Sie tun. Wir geben vielmehr einen brüderlichen Rat, ganz im Sinne der „admonitio fraterna“, von der Luther spricht, um den Irrenden auf den rechten Weg zu geleiten. Der BDI hat Wünsche angemeldet. Natürlich ist die Nutzung des Internets an den Schulen eine prächtige Sache. Es wird sicherlich ein Problem sein, die Infrastruktur auch in Zukunft auf dem neuesten Stand zu halten. Entscheidend ist aber die Frage, wie die Lehrer mit den neuen Technologien umgehen. ({13}) In Deutschland sind 63 Prozent der Lehrer nicht im Umgang mit Computern und Internet ausgebildet. Nur 29 Prozent der Lehrer in Deutschland nutzen Computer und Internet im Unterricht. Im EG-Durchschnitt sind es aber 36 Prozent. Nur noch in Spanien, Portugal und Griechenland setzen die Lehrer die neuen Technologien im Unterricht seltener ein als in Deutschland. Alle anderen Länder liegen beim Einsatz von Computern und Internet im Unterricht vor uns. Ich sage das nicht, um Sie zu ärgern, Herr Bury. Auch ich möchte lieber einen glücklichen Staatsminister sehen. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie wissen, dass hier noch etwas getan werden muss. ({14}) - Er hat schon drei Viertel der Regierungszeit überstanden. Ich bin sicher, dass er auch noch das letzte Viertel überstehen wird. Dann werden wir wieder die Sache mit Ruhe und Gelassenheit auf den Weg bringen. ({15}) Wir möchten auf eine Reihe von Fragen weiterführende Antworten haben. Das Problem der Vereinheitlichung der Mehrwertsteuersätze in Europa ist ordentlich gelöst worden. Aber nun muss auch die OECD ein Konzept entwickeln, das verhindert, dass die Unternehmen in Nicht-EG-Staaten abwandern, um die dortigen Vorteile zu nutzen, und dann den Firmen im EG-Markt Konkurrenz machen. Ich würde gerne wissen, ob die Bundesregierung daran denkt, Rundfunkgebühren auf multimediafähigen PCs zu erheben. ({16}) Das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Sie wollen des Weiteren den elektronischen Gesundheitspass einführen. ({17}) Ich kann dazu nur feststellen: Hier gibt es bisher keine großen Fortschritte, auch nicht in der Frage des Datenschutzes. Sie sprechen von der elektronischen Signatur. Dies ist in der Tat eine wichtige Sache. Wir haben schon damals - ich freue mich über Ihren Beifall - die elektronische Signatur eingeführt, als sie nur noch in Utah manche werden sicherlich wissen, dass dies ein Bundesstaat in den USA ist - genutzt wurde. ({18}) Es ist aber jetzt entscheidend, dass die elektronische Signatur in der Praxis so eingesetzt wird, dass sie in allen Geschäften so einfach wie eine handschriftliche Unterschrift genutzt werden kann. Wir haben zweifellos eine ganze Menge erreicht. Das ist erfreulich. Aber es gibt eine Fülle von einzelnen Fragen, die noch beantwortet werden müssen. Ich sehe am Blinken des roten Lichts auf meinem Pult, dass mich die Präsidentin ermahnt, zum Schluss zu kommen. In der Pressemeldung der Bundesregierung, die sicherlich lehrreich ist, ist zu lesen: Erstmals hat die Bundesregierung konkrete und messbare Ziele zur Gestaltung des Wegs in die Informationsgesellschaft gesetzt. Wenn man weiterliest und versucht herauszufinden, welche konkreten Maßnahmen in der Zukunft geplant sind, dann stellt man fest, dass sich ein Viertel des Textes nur mit Perspektiven beschäftigt. Man findet so gut wie keine einzige Zahl. Es ist lediglich zu lesen, dass bis 2005 der Anteil der Internetnutzer auf 70 Prozent gesteigert werden soll. Das ist zwar erfreulich. Aber das entspricht lediglich den gängigen Prognosen. Man erfährt in der Pressemitteilung der Bundesregierung des Weiteren, dass es den ehrgeizigen Plan gibt, den Anteil der mittelständischen Betriebe, in denen das Internet rundum genutzt wird, von 15 Prozent auf 20 Prozent zu steigern. Auch das entspricht lediglich der gängigen Prognose. Im Übrigen ist das nichts, was der Bundesregierung anheim gegeben wäre. Ich stelle also fest: Die „Perspektiven“ des Berichts enthalten keine konkreten Zahlen und Ziele. Dann sollten Sie aber auch nicht so tun, als ob Sie die Gestalter der ITWelt wären. Sie sind es mitnichten. Wenn Sie es aber schon nicht sind, dann sollten Sie wenigstens die Entwicklung des IT-Bereichs nicht behindern. ({19}) Das, was jetzt läuft, kann nicht planifikatorisch erfasst werden. Insofern ist es weise, dass Sie keine konkreten Zahlen nennen. Aber dann sollten Sie nicht ankündigen, dass Sie sich „konkrete und messbare Ziele“ gesetzt hätten. Das, was jetzt heranwächst, ist die Wissensgesellschaft. Dies bedeutet nicht nur das Zusammenwachsen von Computer, Telefon und Fernsehen. Nein, in einer solchen Gesellschaft wächst das Wissen. Sie erwächst aus Wissen. Eine solche Gesellschaft versteht es, mit Wissen verantwortlich umzugehen und Zukunft zu gestalten, ohne dabei Rohstoffe zu verbrauchen. Dies zu stützen, Dynamik und Unternehmungsgeist freizusetzen, dem Einzelnen die Lust daran zu geben, Zukunft zu gestalten, die neuen Märkte nicht mit Fragen der Fondsbesteuerung, über die wir, Frau Staatssekretärin, herzliche Gespräche führen, zu bedrängen, die Leute nicht mit Vorschriften für die Business Angels zu entmutigen, sondern Dynamik zu begründen und zu erweitern, Schwung und Lebensfreude der Unternehmer zu erreichen, das ist eine der hohen Aufgaben der Bundesregierung. Ich bin zuversichtlich, dass Sie die nächsten Monate, die Sie das Land noch regieren, in diesem Geist für unsere gemeinsame Zukunft in diesem schönen Land konstruktiv nutzen. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Staatssekretärin Margareta Wolf.

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Riesenhuber, es ist durchaus legitim, glaube ich, dass wir uns glanzvoll darstellen. Wir freuen uns selbstverständlich darüber, dass Sie die Ergebnisse unserer Politik durchaus als positiv dargestellt haben. Vielleicht wissen Sie, dass ich eine Anhängerin von Gelassenheit bin, verehrter Herr Kollege, aber ich habe doch den Eindruck - dabei will ich gar nicht großartig den Blick zurück wagen -, dass man vor vier oder fünf Jahren mehr hätte tun können, was die Präsentation der Bundesregierung im Internet angeht. Gegen Ende der letzten Legislaturperiode habe ich irgendwo einmal gelesen - daran kann ich mich noch erinnern -, dass das Rüttgers-Ministerium einen Internetauftritt hat. Daraufhin habe ich das Internet auf alle Ministerien hin durchgeguckt. Kein Ministerium hatte einen Internetauftritt. Das Rüttgers-Ministerium hatte auch noch keinen, weil das noch nicht freigeschaltet war. Wir haben jetzt Open Source in allen Ministerien. Das ist durchaus ein Erfolg, denke ich, der sich sehen lassen kann. ({0}) Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Wir haben den großen Sprung vom Mittelfeld in die Spitzengruppe geschafft und davon haben wir alle etwas. Herr Riesenhuber, weil Sie in unserem Fortschrittsbericht Zahlen vermisst haben, möchte ich Sie jetzt mit einigen Zahlen behelligen. Die Zahl der Internetnutzerinnen und -nutzer hat sich von Ende des Jahres 1998 bis heute verdoppelt. Inzwischen sind fast die Hälfte der Internetnutzer Frauen. Die Zahl der Mobilfunknutzerinnen und -nutzer ist erheblich gestiegen und liegt heute mit 56 Millionen über der Zahl der Festnetzanschlüsse. Die IuK-Branche ist - das ist gemeinsame Meinung in diesem Haus - die Wachstumsbranche unserer Wirtschaft mit 800 000 neuen Arbeitsplätzen. Ich fände es schon schön, wenn einmal konzediert würde, dass das Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ - so etwas hat es vorher noch nicht gegeben -, das von meinem Haus erarbeitet worden ist, die Grundlage für diesen Erfolg geschaffen hat. Lassen Sie mich dazu einige Schwerpunkte hervorheben: Wir haben durch gezielte Informations-, Demonstrations- und Aufklärungskampagnen im Rahmen der Initiative „Internet für alle“ Bevölkerungsgruppen angesprochen, die mit diesem Medium vorher überhaupt noch nicht in Berührung gekommen waren. Es waren vor allem Seniorinnen und Senioren, aber auch Frauen, die durch diese Demonstrationskampagnen für das Internet begeistert werden konnten. Wir haben den Mittelstand davon in Kenntnis gesetzt, was dieses Medium für ihn bedeuten kann. Das haben wir durch 24 regionale Kompetenzzentren gemacht. Mit dem Handwerk zusammen haben wir ein Internetportal aufgebaut. Ich bin froh und glücklich darüber, dass heute mehr als zwei Drittel der deutschen Betriebe mit einer eigenen Website im Internet präsent sind. Jeder zweite Betrieb nutzt das Internet heute für Onlinebeschaffung - auch das ist, glaube ich, ein Resultat der intensiven Kampagne, die wir in Sachen E-Commerce durchgeführt haben -; das ist ein Wettbewerbsfaktor, der die kleinen und mittleren Unternehmen zukunftsfähig macht. Das Gesetz zum elektronischen Geschäftsverkehr und das Gesetz zur digitalen Signatur sind angesprochen worden. Das sind ganz wichtige Gesetze, gerade auch unter datenschutz- und verbraucherschutzrechtlichen Gesichtspunkten. Wir haben damit die Sicherheit im Netz erheblich ausgebaut und somit auch die Akzeptanz dieses Mediums erhöht. Wir haben Gründerwettbewerbe und Internetpreise ausgeschrieben. Ich glaube, das waren für neue Arbeitsplätze, für Unternehmensgründungen und für Innovationen in diesem Bereich durchaus wichtige Motoren. 10 000 qualifizierte Arbeitsplätze wurden geschaffen. Gerade in der letzten Zeit haben wir vermehrt Frauen mit dieDr. Heinz Riesenhuber sen Preisen ausgezeichnet. Wir werden dies hoffentlich auch weiterhin tun. Selbstverständlich konnten wir das alles nur durch die intensive Zusammenarbeit mit der Wirtschaft erreichen. In der Initiative D21 - Herr Bury hat es angesprochen - wurde ein ganz wichtiger Rahmen für die entscheidenden Schritte gesetzt. Ich habe mich vorhin über die Einlassungen von Herrn Hauser, was die Verzahnung zwischen Greencard und Zuwanderungsgesetz angeht, ziemlich geärgert. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass 80 Prozent der Greencard für kleine und mittlere Unternehmen infrage kommen. Jetzt zu sagen, die Greencard sei nicht angenommen worden, weil die infrage kommenden Personen zu teuer seien, führte zu einer Stimmung, die wir in unserem Land nicht zulassen sollten. Ich möchte Sie wirklich auffordern, dieses Thema nicht zum Wahlkampfthema zu machen. ({1}) - Ja, aber man weiß nicht, was morgen wieder kommt. ({2}) Diese Kakophonie ist wirklich allgegenwärtig. Ich möchte jetzt auf den Fortschrittsbericht zu sprechen kommen. Weil wir natürlich nicht stehen bleiben, sondern weitergehen, und weil wir wissen, dass sich die Entwicklung immer mehr beschleunigt, haben wir uns neue, konkrete Ziele gesetzt: Die Internetnutzerquote soll - das wurde schon angesprochen - bis 2005 auf 70 Prozent steigen. Unser Ziel ist auch, dass sich breitbandige Internetanschlüsse bis 2005 als dominierende Zugangstechnologie etablieren. Ein weiteres Ziel ist es, den Anteil der mittelständischen Unternehmen mit umfassenden E-Business-Strategien von heute 12 Prozent auf 20 Prozent im Jahre 2005 zu steigern. Das BMI hat die E-Government-Initiative BundOnline 2005 auf den Weg gebracht, durch die bis 2005 über 350 Dienstleistungen der Bundesverwaltung online bereitgestellt werden sollen. Das spart nicht nur Kosten, sondern es ist auch bürgerfreundlich und ein Beitrag zum Bürokratieabbau. Lassen Sie mich aus Sicht des Bundeswirtschaftsministeriums einige künftige politische Schwerpunkte nennen, mit denen wir die Informationsgesellschaft voranbringen wollen: Erstens. Die zentrale Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Informationsgesellschaft ist die Verfügbarkeit von komplexen multimedialen Anwendungen. Für die Bundesregierung hat deshalb der Ausbau der Infrastruktur für Breitbandkommunikation hohe Priorität. Wir werden unsere marktöffnende Telekommunikations- und Wettbewerbspolitik fortsetzen. Zweitens. Wir werden den Übergang zum mobilen Internet sowie die Konvergenz von Informations- und Kommunikationstechnik und neuen Medien zielgerichtet fördern. Drittens. Die Bundesregierung will die Chancen für E-Government und E-Democracy nutzen, und zwar nicht nur im Rahmen der bereits genannten Initiative „BundOnline 2005“, sondern auch - das ist sehr wichtig - auf kommunaler Ebene. Dort arbeiten wir mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund und mit dem Deutschen Landkreistag zusammen. Es gibt in den Kommunen - ich verweise auf die E-Mail-Adresse MEDIA@Komm - bereits sehr erfolgreiche Projekte. Das sind alles Projekte, die zu einer bürgernahen Verwaltung und zu einem vermehrten Abbau von Bürokratie führen. Von daher weisen sie, wie ich finde, in die richtige Richtung. Viertens. Im Bereich der IT-Sicherheit kommt es darauf an, den flächendeckenden Einsatz der digitalen Signatur voranzutreiben und den Mittelstand von dem entscheidenden Wettbewerbsfaktor IT-Sicherheit noch mehr zu überzeugen. ({3}) Auf europäischer Ebene werden wir die Schwerpunkte unserer IT-Politik aktiv in den neuen Aktionsplan „eEurope 2005“ einbringen. Die Bekämpfung der digitalen Spaltung zwischen armen und reichen Ländern wird damit - das ist wichtig - wirklich zum politischen Schwerpunkt. Wir werden uns in diesem Sinne in den einschlägigen Gremien der G 8 und der Vereinten Nationen engagieren. Lassen Sie mich abschließend noch auf die Cebit hinweisen. Die dort vertretenen 8 000 Unternehmen aus aller Welt illustrieren auf beeindruckende Weise - das sollte uns alle herzlich begeistern, Herr Kollege Riesenhuber das Entwicklungstempo in dieser Branche und die Vielfalt der Informationsgesellschaft. Das große Interesse an der Cebit verdeutlicht die enormen ökonomischen Chancen, die in der IuK-Technologie gerade für unsere Volkswirtschaft liegen. Ich hoffe, dass wir weiter an diesem Ziel arbeiten. Herr Riesenhuber, ich empfehle Ihnen dringend die Lektüre des Berichtes. Er ist gerade aus der Druckerei gekommen und ich schicke ihn Ihnen noch heute zu. ({4}) - Nein. Danke schön. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich möchte eine kurze Ermahnung loswerden: Wenn in einer Debatte drei Mitglieder der Bundesregierung reden und alle ihre Redezeit überziehen, wird es wirklich schwierig. Ich bin nach der Geschäftsordnung gehalten, Sie nicht zu stoppen, aber ich bitte darum, das bei den nächsten Reden doch zu bedenken. Wir sind gerade informiert worden, dass wir eine Abstimmung dazwischenschieben. Ich unterbreche deshalb jetzt die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt. Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer weiteren Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Genehmigung zum Vollzug eines gerichtlichen DurchsuchungsParl. Staatssekretärin Margareta Wolf und Beschlagnahmebeschlusses erweitert werden. Es handelt sich um eine Ergänzung zu der bereits heute Morgen beschlossenen Angelegenheit. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe somit Zusatzpunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse - Drucksache 14/8550 Wir kommen sofort zu Abstimmung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig, mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen worden. Jetzt machen wir in der Debatte zum Tagesordnungspunkt 7 weiter. Das Wort hat der Abgeordnete Rainer Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Innovationen und Arbeitsplätzen in der Informationsgesellschaft ist in meinen Augen ein guter Sachstandsbericht und eine gute Grundlage für die weiteren politischen Diskussionen ({0}) und für die Weiterentwicklung unserer Informationsgesellschaft. Man soll auch einmal die Wahrheit sagen. ({1}) Meine Damen und Herren, auch wenn die Börse zurzeit die Werte des Neuen Marktes und insbesondere die New-Economy-Werte abstraft und sich bei vielen Unternehmen dieser Branche früher vorhandene Blütenträume nicht realisieren lassen, wage ich die Prognose, dass die New Economy erst am Anfang einer grandiosen wirtschaftlichen Entwicklung steht. Da ist es nur natürlich, dass sich gerade in der Anfangsphase solch umwälzender wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen die Spreu vom Weizen trennt. Langfristig wird sich die IT-Revolution, also die Verknüpfung von Computereinsatz und Netzwerkstrukturen, durchsetzen und einen hohen Anteil an der Steigerung unseres Bruttosozialprodukts haben, ({2}) weil die damit verbundenen Innovationen zu höherem gesamtwirtschaftlichem Wachstum führen. Die Steigerung der Produktivität wird auch international zur Verbesserung unserer Wettbewerbsfähigkeit führen. ({3}) Noch nie konnten wir in solch einem Umfang wie heute Information in Wissen transformieren. Aufgabe der Politik wird es sein, diese Entwicklung zu einer umfassenden Informationsgesellschaft zu begleiten und zu unterstützen. Vieles ist in der Vergangenheit - häufig, Herr Tauss, Gott sei Dank auch partei- und fraktionsübergreifend - beschlossen worden. So haben Sie zum Beispiel beim Telekommunikationsgesetz mitgewirkt. Das ist eine Entwicklung, die durchaus positiv zu beurteilen ist. Wir sollten auch in Zukunft durch Wettbewerb im Telekommunikationssektor für Innovation und preiswerte Angebote, zum Beispiel im Internet, sorgen. Das Telekommunikationsgesetz ist dabei eine gute Grundlage. Die Politik und insbesondere das Bundesministerium für Wirtschaft - das ist gerade in enge Gespräche eingebunden; es wäre doch ganz nett, wenn Sie zuhören und die Diskussion begleiten würden -, das eine gewisse Verantwortung auch für die Regulierungsbehörde trägt, sorgen eben zurzeit nicht dafür, dass private Anbieter und Telekom gleiche Startchancen haben. ({4}) Natürlich will ein Ex-Monopolist seine wirtschaftlich starke Position am Markt nutzen. Dafür hat jeder Verständnis. Aufgabe der Regulierungsbehörde ist es jedoch, für fairen Wettbewerb zu sorgen. Dazu sollte auch das Wirtschaftsministerium beitragen; denn es hat die Fachaufsicht über diese Regulierungsbehörde. ({5}) Vermisst habe ich in dem an und für sich guten Bericht der Bundesregierung jedoch eine Antwort auf die Frage, wie gerade der Wettbewerb durch die Förderung von jungen innovativen Unternehmen gestärkt werden könnte, zum Beispiel durch Zurverfügungstellung von Venture Capital, und zwar nicht nur von staatlichen Institutionen wie der KfW, sondern auch von privaten Gesellschaften. Genauso wichtig sind die rechtlichen Rahmenbedingungen im Urheberrecht. Die EU-Richtlinie zur Harmonisierung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft gibt den Rahmen vor, wie ein Schutz von Werken und eine angemessene Vergütung bei Werknutzung auch im digitalen Umfeld gewährleistet werden können. Diese Richtlinie muss zügig umgesetzt werden. Von besonderer Bedeutung ist die zukünftige Regelung des Rechts der privaten Vervielfältigung urheberrechtlich geschützter Werke. ({6}) Wir haben uns ausdrücklich für die Förderung von DRMSystemen ausgesprochen. Obwohl die Bundesregierung immer wieder betont, welche Bedeutung sie der Informationstechnik beimisst, hat sie den von ihr seit langem angekündigten Entwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie, die ich gerade erwähnt habe, bis heute nicht vorgelegt. Interessanterweise ist auch kein Vertreter des Bundesjustizministeriums heute anwesend; das scheint es nicht übermäßig zu interessieren. ({7}) - Das hoffe ich sehr. Vielen Dank für diese Vorlage, Herr Heil. - Während sich alle Beteiligten einig sind, dass es sich bei dieser Reform des Urheberrechtsgesetzes um ein für die Urheber und die IT-Wirtschaft gleichermaßen zenVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer trales Thema handelt, verhindert die Bundesregierung auf diese Weise die notwendige Diskussion ({8}) und hemmt durch ihre Untätigkeit die Etablierung von Systemen zu digitalem Rechtemanagement. Das können Sie nicht bestreiten, Herr Tauss. ({9}) Alles in allem kann man sagen, dass wir gerade auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnologie am Anfang einer rasanten Entwicklung stehen. Aufgabe der Politik ist es, die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen, damit diese Kommunikationstechnologie nicht durch zu große Regulierung behindert, sondern gefördert wird. Wir sollten davon Abstand nehmen, diese Märkte immer nur zu regulieren. ({10}) Wir sollten nur das tun, was unbedingt notwendig ist, denn gerade auf diesem Gebiet gilt, dass Freiheit und Deregulierung für Innovation sorgen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Bierstedt.

Wolfgang Bierstedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002629, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man hatte die Absicht anzukündigen, dass ich hier meine erste Rede halte. Das stimmt für diesen Deutschen Bundestag, ich hatte allerdings schon Gelegenheit, mich im letzten Deutschen Bundestag zu äußern. Aus diesem Grunde muss ich auf diese Ehre verzichten. ({0}) Gestatten Sie mir zu Beginn eine kurze Bemerkung, Frau Staatssekretärin Wolf. Sie haben vorhin in Ihren Ausführungen darauf verwiesen, dass der Mittelstand generell von der IT-Sicherheit überzeugt werden müsste. Ich glaube, da kommt ein etwas falscher Zungenschlag in die Debatte. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass gerade der Mittelstand an der IT-Sicherheit kostengünstig partizipieren kann. Diesen Ansatz sollten wir gemeinsam wählen. Es ist mir wichtig, das einzufügen. Ich kann der positiven Tendenz in der vorliegenden Unterrichtung durch die Bundesregierung zustimmen. Seit dem Regierungswechsel gab es in diesem Politikfeld tatsächlich einen auch außerhalb des Parlamentes wahrnehmbaren Fortschritt zu verzeichnen. ({1}) Gestatten Sie mir diese Bemerkung trotz meiner erst seit drei Wochen wieder bestehenden Zugehörigkeit zu diesem Hohen Hause. ({2}) - Genauso ist es, Herr Kollege Tauss, Jörg. - Nach Jahren einer mehrheitlichen Fokussierung auf die reine Technikausstattung bleibt zu hoffen, dass Sie, meine Damen und Herren von der Koalition - auch du, Jörg -, Ihre Zuwendung zu den mehr inhaltlichen Themenkreisen und Lösungsansätzen auch finanziell weiterhin umsetzen können und dass Sie im Diskurs mit den in diesem Sinne positiv Betroffenen bleiben. Ihre Bilanz wäre zumindest aus meiner Sicht deutlich besser ausgefallen, ({3}) wenn Sie neben den in der Wirtschaft geschaffenen Arbeitsplätzen auch noch darauf hätten verweisen können, dass Sie mit den Ländern und Kommunen Mittel und Wege gefunden hätten, wie man zum Beispiel die vielen ABM-Stellen oder auch das ehrenamtliche Engagement im außerschulischen Bereich - ich meine in den Computerkabinetten oder in den Internetcafés - in ordentlich dotierte und feste Arbeitsplätze umwandeln kann. Wenn wir uns wirklich auf dem Weg in die Informationsgesellschaft befinden - was auch immer dies heißen mag -, dann gehört doch wohl auch dieser Bereich unverzichtbar und gleichberechtigt dazu. Wertevermittlung im fakultativen Bereich, das Lehren und Lernen, mit Daten und Inhalten umzugehen, muss institutionalisiert werden. Ich möchte mich noch kurz zu dem Bereich E-Government in Ihrer Unterrichtung äußern: Lobenswerte Ansätze und Ergebnisse sind allemal vorhanden. Aber die mehrheitliche Kommunikation der öffentlichen Verwaltung mit dem Bürger und der Bürgerin, mit der Wirtschaft und innerhalb der Verwaltungen oder die Kommunikation mit der örtlichen Legislative findet doch wohl unterhalb der Bundesebene statt. Dort ist das Geld bekanntlich knapp. Jeder für die Selbstbefassung - in diesem Status befinden sich immer noch viele Verwaltungen im Zuge der Findung von E-Government-Lösungen - ausgegebene Euro fehlt der Verwaltung für ihre eigentliche Dienstleistungswahrnehmung. Natürlich sollen und können E-Government-Lösungen den Dienstleistungscharakter erhöhen und den Aufwand der Selbstverwaltung minimieren. Dazu benötigen, wie Modellprojekte zeigen, die Verwaltungen nicht unerhebliche Mittel im investiven Bereich. Darüber hinaus sind sie mit ihrer derzeitigen personellen Ausstattung schlichtweg überfordert. Auch die Folgekosten für die erhöhten Qualifikationsanforderungen und die Wissenserfordernisse sind schwerlich aufzubringen. Noch eine Schlussbemerkung: E-Government-Lösungen sind, strategisch eingesetzt, ein hervorragendes Navigationsmittel in der Kommunikation mit der Verwaltung. Allerdings ändern sie nichts am eigentlichen Grundübel unserer Verwaltungsvielfalt. Mir wurde neulich vorgerechnet, dass ein privater Häuslebauer alles in allem mit 187 Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften leben muss. Er oder sie wird sich mittels E-Government-Lösungen sicherlich leichter zurechtfinden. ({4}) Ob er oder sie sich dabei glücklicher fühlt und ob es insgesamt preiswerter wird, wage ich dennoch zu bezweifeln. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Geübt ist geübt: Sie haben Ihre Redezeit auf die Sekunde genau eingehalten. Das Wort hat als Nächstes der Abgeordnete Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Riesenhuber, ich habe Ihnen sehr begeistert zugehört. Ihre rhetorischen Fähigkeiten sind nicht zu schlagen. Aber beinahe hätten Sie gesagt - Sie haben es wohl vergessen -, Helmut Kohl habe das Internet erfunden. ({0}) Diesen Eindruck hatte ich, als Sie darauf hingewiesen haben, was alles Tolles Sie gemacht haben und dass wir das fortsetzen würden. So ist es nicht, Herr Riesenhuber; auch Sie wissen das. Bis 1998 hatten wir eine Administration, die in diesem Bereich kaum ansprechbar war. ({1}) Ich will nicht die Frage der Rohrpost bemühen oder noch einmal darauf eingehen, dass der frühere Bundeskanzler Kohl die Datenhighways eher dem Verkehrsministerium zugeordnet hat. So war das doch, Herr Kollege. Sie waren übrigens einer der wenigen, der sich in der früheren Regierung tatsächlich darum bemüht hat, in diesem Bereich ein Ansprechpartner zu sein. ({2}) Das möchte ich Ihnen gerne zugestehen. Seit 1998 haben wir eine Bundesregierung, die in diesem Bereich so etwas wie einen Masterplan aufgestellt hat. Das ist das Aktionsprogramm, dessen Zwischenbilanz wir heute ziehen. Es gibt technische Innovationen, die den Lauf der Weltgeschichte entscheidend verändert haben. Die Erfindung des Buchdrucks, der Dampfmaschine, des Telefons oder des Automobils - das muss ich als Niedersachse, aus der Nähe von Wolfsburg kommend, immer wieder feststellen - sind solche Innovationen. Aber auch heute können wir feststellen, dass die neuen Medien, speziell das Internet, eine Technologie sind, die unsere Art zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften, massiv verändert. Wir haben eine Bundesregierung, die die Chancen und Aufgaben erkannt und genutzt hat, die wirtschaftlichen Potenziale, die diesem Bereich innewohnen, für unser Land zu erschließen. 1999 haben wir das Programm „Innovationen und Arbeitsplätze für die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ auf den Weg gebracht. Es umfasst klare Zielvereinbarungen und konkrete Maßnahmen, die in enger Abstimmung zwischen Politik und Wirtschaft, dem, was man „Community“ nennt, umgesetzt worden sind. In der heutigen Debatte ziehen wir Bilanz. Um es vorwegzunehmen: Ich glaube, dass der Begriff „Fortschrittsbericht“, mit dem diese Bilanz übertitelt ist, sehr treffend ist, da dieser Bericht eine Erfolgsstory beschreibt, die wir seit 1998 in diesem Bereich geschrieben haben. ({3}) Ich möchte die Erfolge im Einzelnen darstellen, weil vorhin von Herrn Riesenhuber angemahnt wurde, konkret den Zusammenhang herzustellen zwischen einer Entwicklung, die sich Ihrer Meinung nach ganz automatisch vollzieht, und den Maßnahmen, die wir durchgeführt haben und die sicherlich in vielen Bereich dazu geführt haben, dass Effekte, die schon vorhanden waren, verstärkt wurden und so das Vorankommen befördert haben. Der erste Erfolg ist, dass sich die Zahl der Internetnutzer in unserer Regierungszeit von 14 Millionen auf über 30 Millionen verdoppelt hat. Natürlich, Herr Riesenhuber, wäre eine Steigerung auch zu erwarten gewesen, wenn wir nicht regiert hätten. Das will ich gar nicht bestreiten. Es ist aber auch wichtig, in der Politik den richtigen Hintergrund dafür zu schaffen: Die Kosten sind gesunken. Das hängt damit zusammen - da sind wir uns sicherlich einig -, dass wir eine wettbewerbsorientierte Telekommunikationspolitik machen. Ebenso spielt eine Rolle, dass wir für die Akzeptanz des Internets in dieser Gesellschaft werben. Das hat diese Bundesregierung in einer vielfältigen Art und Weise getan. Wir haben zweitens bis Herbst 2001 alle Schulen ans Netz angeschlossen. ({4}) Auch das war eine Initiative, die mit der Politik dieser Bundesregierung zusammenhängt. Ich sage hier, im Gegensatz zu einigen anderen, nicht, wir hätten das Internet erfunden. Das ist Quatsch. Aber ohne die Initiative des Bundeskanzlers und der Bundesregierung, ohne die Zusammenarbeit mit D21 wäre es nicht gelungen, alle Schulen ans Netz zu bringen. Auch das ist eine ganz erhebliche Leistung. Drittens hat sich die Zahl der Mobilfunknutzer seit dem Jahr 2000 in Deutschland mehr als verdoppelt. Inzwischen übersteigt die Zahl dieser Anschlüsse sogar schon die Zahl der Festnetzanschlüsse.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riesenhuber?

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne doch.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frau Präsidentin hatte sich einen Moment entspannt, deshalb muss ich drei Sätze zurückgehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich werde gleich abgelöst.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Heil, würden Sie mir darin zustimmen, dass bei der Frage, wie weit die Liberalisierung der Kommunikationsmärkte, die Sie angesprochen haben, vorangeschritten ist, die Liberalisierung der Ortsnetze eine entscheidende Rolle spielt? Wie sehen Sie Ihre Möglichkeiten, die Bundesregierung zu unterstützen, diese so zu liberalisieren, dass wir auch dadurch konkurrenzfähige Internetangebote zu entsprechend niedrigen Preisen bekommen, deren Senkung um etwa 30 Prozent bis jetzt nur durch einige große Firmen erzwungen worden ist, während wir bei den Ferngesprächen eine Senkung von über 90 Prozent haben?

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Riesenhuber, ich erinnere daran, dass wir - nicht ich persönlich; damals war ich noch nicht in diesem Haus - die Liberalisierung im Deutschen Bundestag gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Der Kollege Bury, der jetzt Staatsminister ist, war damals maßgeblich daran beteiligt, auch andere, zum Beispiel Arne Börnsen. Ich erinnere daran, dass die Regulierungsbehörde eine Institution ist, die sich um Wettbewerb verdient gemacht hat. Ich weiß, dass wir im Ortsnetzbereich eine Diskussion über die so genannte Bottleneck-Problematik haben. Ich weiß aber auch, dass es falsch wäre, wenn wir als Staat hier kräftig regulierend eingreifen würden. ({0}) - Nein, es geht um Regulierung, um Wettbewerb durchzusetzen. Das ist doch der Hintergrund Ihrer Frage. Dafür haben wir die Regulierungsbehörde, die in diesem Bereich als unabhängige Behörde tätig ist ({1}) und dafür sorgt, dass wir Schritt für Schritt vorankommen. Insofern glaube ich, dass wir auf einem guten Weg sind. Wenn wir uns in der Analyse einig sind, dass wir in diesem Bereich nur mit Wettbewerb vorankommen, dann haben wir etwas gemeinsam. Ich glaube, dass wir die Erfolge auf diesem Gebiet nicht kleiner reden sollten, als sie sind. ({2}) Tatsache ist doch, dass wir in diesem Bereich die Kosten durch den Wettbewerb ganz kräftig gesenkt haben. Im Übrigen wurden auch im Ortsnetzbereich die Kosten gesenkt. Es gibt technische Lösungen - das wissen Sie auch -, die die so genannte Flaschenhalsproblematik im Ortsnetzbereich lösen könnten. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Anwendung Wireless Local Loop. ({3}) Die technische Entwicklung schreitet voran. Dafür tun wir eine ganze Menge. Viertens möchte ich sagen, dass die Branche der Informations- und Kommunikationstechnologien - wir führen hier eine wirtschaftspolitische Debatte - mit über 800 000 Beschäftigten und einem Anteil von 8 Prozent am Bruttoinlandsprodukt mittlerweile zu einem der führenden Wirtschaftszweige in unserem Land geworden ist. ({4}) Herr Kollege Riesenhuber, ich will Ihnen verdeutlichen, wieso die Bundesregierung und wir der Überzeugung sind, dass die Aussage, dass Deutschland in Europa eine Spitzenposition erreicht hat, nicht eine euphemistische Wendung ist, sondern einen realen Zahlenhintergrund hat. In Deutschland verzeichnet der elektronische Handel einen Umsatz von 25 Milliarden Euro. Damit steht unser Land auf Platz eins in Europa. Darauf können wir ruhig einmal stolz sein. ({5}) Im Übrigen sollten wir deutlich machen - Herr Kollege Funke, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das angesprochen haben -, dass wir das Gerede, wir würden von einem Extrem der New Economy, nämlich von der absolut blinden Euphorie von der Art eines Goldrausches vor anderthalb Jahren, in das andere Extrem, nämlich die absolute Verdrossenheit in diesem Bereich, fallen, nicht zulassen dürfen. Die Cebit, die in diesen Tagen stattfindet, ist in dieser Beziehung eine sehr erfolgreiche Veranstaltung, weil sie deutlich macht, dass jetzt die Spreu vom Weizen getrennt wird und dass Unternehmen, die wertschöpfend tätig sind, nach vorne kommen. Der Branchenverband Bitkom hat vorhergesagt, dass wir für das Jahr 2002 insgesamt damit rechnen können, dass der Umsatz dieser Branche auf die beträchtliche Summe von über 143 Milliarden Euro steigt. Auch das hat etwas damit zu tun, dass ein Rahmen gesetzt wurde. Lassen Sie mich die zentralen Maßnahmen nennen, die wir auf den Weg gebracht haben, um den Ordnungsrahmen voranzubringen. Auch dazu haben Sie, Herr Riesenhuber, vorhin zwar vieles erzählt, aber nicht in der richtigen Reihenfolge. Richtig ist, dass Sie ein Signaturgesetz gemacht haben. Richtig ist aber auch, dass wir eine Novelle des Gesetzes zur digitalen Signatur in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht und beschlossen haben. ({6}) Damit haben wir erreicht, dass wir in Deutschland eine Sicherheitsinfrastruktur haben, die dazu führen kann, dass die elektronische Signatur zu einem vollständigen Ersatz der handschriftlichen Unterschrift wird. Dass wir gemeinsam dafür werben und diese Möglichkeit populär machen, ist gar keine Frage. Ich werbe auch dafür, den Menschen klar zu machen, dass es diese einfache Möglichkeit mit einem hohen Sicherheitspotenzial gibt. Die zweite Maßnahme, die ich nennen möchte, ist das E-Commerce-Gesetz, das wir im Bundestag verabschiedet haben. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen, Frau Kollegin Wöhrl - Sie sprechen ja nach mir -, sagen, dass wir das Rabattgesetz und die Zugabeverordnung abgeschafft haben. ({7}) Damit haben wir auch für den Handel faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen. Ich kann mich daran erinnern, dass die Abstimmung ein bisschen chaotisch war. Die CDU/CSU-Fraktion hat zum Teil dagegen gestimmt und hat sich zum Teil enthalten. Sie wollten die Entwicklung verzögern. Wir haben aber dieses Wettbewerbshindernis tatsächlich beseitigt. Ich will zum Schluss Folgendes deutlich machen: Wettbewerbsorientierte Telekommunikationspolitik muss eine Politik sein, in der der Staat - Stichwort „Bund Online 2005“ - als Vorbild auftritt. Es handelt sich um eine Politik, die dafür sorgt - das war Gegenstand der vorherigen Debatte -, dass wir in diesem Bereich die Qualifikation verbessern. Dass die Zahl der Ausbildungsplätze kräftig gestiegen ist und dass sich die Zahl der Studenten im IT-Bereich seit 1998 verdoppelt hat, sind Punkte, die deutlich machen, dass wir in Deutschland auf einem guten Weg sind. Es ist, wie gesagt, eine Zwischenbilanz. Wir haben Ziele bis zum Jahre 2005. Ich bin der festen Überzeugung, dass es diese Bundesregierung ist, die im Jahre 2005 - Herr Kollege Riesenhuber, ich weiß nicht, ob Sie dann dem Parlament noch angehören werden - einen entsprechenden Bericht vorlegen wird, der zeigt, wie erfolgreich dieses Programm am Ende war. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun gebe ich der Kollegin Dagmar Wöhrl das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben im Zeitalter der Kommunikationsrevolution. Wir wissen, dass sich die neuen Kommunikationstechnologien so rasant wie nie zuvor entwickeln, dass das Internet die neue Basistechnologie darstellt, dass eine breite Internetnutzung für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und für neue Arbeitsplätze entscheidend ist und dass das Internet die Effizienz der internationalen Arbeitsteilung in einem bisher nicht gekannten Ausmaß steigert. Deutschland ist ein rohstoffarmes Hochlohnland. Angesichts dessen dürfen wir natürlich nicht nachlassen, die Nutzung der Informationstechnologien, vor allem des Internets, zu fördern. In diesem Punkt sind wir in diesem Hause sicherlich einer Meinung. Wir wissen auch, dass mit der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes von 1997 unter der alten Regierung die besten Voraussetzungen für die Entwicklung des IuK-Sektors in Deutschland geschaffen wurden. ({0}) Damals haben wir uns an die Regel gehalten, dass durchschlagende Erfolge beim Wandel zur Informationsgesellschaft nur erzielt werden, wenn man das Tempo und die Richtung vorgibt. Das heißt, die Schnellen fressen die Langsamen. Diese Erfahrung haben alle modernen Unternehmen gemacht; sie hat für die gesamte Volkswirtschaft Gültigkeit. Deshalb ist die Politik gefordert, hier die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die für Investoren verlässlich sind, die Innovationen nicht hemmen, sondern anregen, und die vor allem international wettbewerbsfähig sind. Hier müssen wir auf breiter Front zu einer steuerlichen Entlastung kommen; ({1}) denn nur so können wir künftig im boomenden Informations- und Kommunikationssektor verlorenen Boden wieder gutmachen. ({2}) Es ist doch offenkundig, meine Damen und Herren, dass Aktienoptionen kein normales Einkommen darstellen. Sie sind mit Risiken behaftet. Deswegen müssen wir endlich dazu übergehen, die Stock Options so zu besteuern, dass junge und innovative Technologieunternehmen in Deutschland nicht schlechter gestellt werden als bei unseren europäischen Nachbarn. ({3}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland verfügt, wie wir alle wissen, über ein großes Potenzial ausgewiesener Fachleute und innovativer Unternehmen. Dennoch haben wir im IuK-Sektor Nachholbedarf. ({4}) Deswegen brauchen wir endlich eine umfassende, breit angelegte Offensive zur Informationsgesellschaft. Meine Damen und Herren von der Regierung und der Koalition, hier gebe ich Ihnen einen guten Rat: Machen Sie es sich einfach und schauen Sie nach Bayern. Dann wissen Sie ganz genau, wie man eine Zukunftsoffensive angeht. ({5}) Nicht umsonst sind in Bayern 30 Prozent aller InternetStart-ups beheimatet. Das Aktionsprogramm der Bundesregierung erweckt nur vordergründig den Anschein, dass sie hier aktiv handelte. Im Wesentlichen ist es nur eine Bündelung von Aktionen, die bereits vor zwei Jahren von der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft“ vorgeschlagen wurden. ({6}) - Sie haben das doch nur gebündelt und nichts Neues auf den Weg gebracht. - Außerdem ist Ihr Aktionsprogramm alles andere als ehrgeizig. Wenn Sie nur die Vision haben, dass Deutschland eine europaweite Spitzenposition haben solle, dann sind Sie wirklich bescheiden. ({7}) Deutschland darf sich bei den neuen Medien und Diensten nicht mit der Europaliga begnügen. ({8}) Wir müssen Visionen und Ziele haben und weltweit an der Spitze mitspielen wollen. Es reicht nicht aus, zu sagen, wir wollten in Europa nach vorn. ({9}) Hier ist auch ein breiter Zugang zum Internet besonders wichtig. Die neuesten Erhebungen in Deutschland sind aber nicht sehr positiv. Vielmehr zeigen Sie, dass die digitale Spaltung in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Die Kluft zwischen denjenigen, die selbstverständlich und kompetent mit dem PC umgehen können, und denjenigen, die das Internet nicht nutzen, ist groß. Die Umfragen zeigen, dass diese Kluft künftig noch größer sein wird. In dem Gestrüpp von unkoordinierten Programmen und Aktionen hat es die Bundesregierung nicht geschafft, die Zahl der Internetnutzer in allen Alters- , Bildungs- und Einkommensschichten zu steigern. ({10}) Sie müssen die Spaltung, die zwischen Usern und Losern besteht, nun endlich wirkungsvoll bekämpfen und Chancengleichheit beim Zugang zum Netz schaffen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Wöhrl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich lasse heute keine Zwischenfrage zu. - Es gibt in Deutschland noch zu viele digitale Analphabeten. Diese Menschen dürfen wir zukünftig nicht vom gesellschaftlich-politischen Leben ausschließen. Sie stellen sich hier hin und rühmen sich, dass die Situation der Schulen bei der Ausstattung mit Computern und Internetzugängen verbessert worden sei. Das hilft nicht viel; denn Sie haben vergessen, für die Wartung und die Pflege dieser Computer zu sorgen. Warum sagen Sie das nicht? ({0}) Sie haben in Ihrem Programm „Schulen ans Netz“ versäumt, die Folgekosten zu berücksichtigen. Sprechen Sie einmal mit den Schulträgern vor Ort, denen in den nächsten Jahren erhebliche Ausgaben ins Haus stehen werden, bei denen sie nicht wissen, wie sie sie aufbringen sollen. Sie haben hier eklatante Versäumnisse zu verantworten. Ihre Zwischenrufe zeigen, dass ich mit meinen Aussagen den Nerv getroffen habe. Es wäre viel sinnvoller, wenn Sie endlich zu einem effizienten E-Government kommen würden, und zwar zu einem E-Government, das mehr ist als der „elektronische Amtsschimmel“, meine Damen und Herren von der Koalition. Es gibt eine neue Studie der Unternehmensberatung Accenture. Sie hat die Entwicklung des E-Government in 22 Ländern untersucht. Wo landen wir? Deutschland liegt nicht im vorderen Bereich - ausnahmsweise auch nicht auf den letzten Plätzen -, sondern auf Platz 15. Die Analyse, die hinsichtlich der Positionierung Deutschlands abgegeben wird, ist niederschmetternd. Es ist zu lesen, dass es keine Zukunftsvision für das E-Government und keine politische Koordinierung der verschiedenen Strategien gebe. ({1}) Daran kann man sehen, dass die Bundesregierung bei diesem Thema vollständig verschlafen hat. Sie verliert sich in einer Reihe von unkoordinierten Einzelprojekten. ({2}) Man könnte bei dem, was Sie hier auf den Weg gebracht haben, von einem „virtuellen Flickenteppich“ sprechen. Es kommt aber nicht auf die Anzahl von Aktionen, Projekten und Programmen an, sondern es ist, gerade bei unserer dezentralen Verwaltungsstruktur, wichtig - das wissen Sie -, zu einer Vernetzung und einer Koordinierung zu kommen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Bilanz Ihres Aktionsprogramms zeigt deutlich, dass Sie trotz aller High-Tech-Rhetorik, die Sie an den Tag legen, die eigentlichen Probleme des Standortes Deutschland, wenn überhaupt, nur tröpfchenweise angehen. Und wenn eine Lösung greift, dann nur in Ländern, in denen die CDU oder die CSU regiert. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin Wöhrl, zum Schluss hätte ich analog zu dem, was Sie davor gesagt haben, gesagt, Herr Stoiber habe das Internet erfunden, wenn Herr Kohl das nicht schon gewesen ist. Da müssen Sie sich einigen. Ich will kurz zwei Punkte ansprechen, die mich geärgert haben, weil sie sachlich nicht stimmen. Erstens. Sie haben gesagt, in unserer Regierungszeit habe sich die Zahl der Internetnutzer nicht nennenswert erhöht. Halten Sie eine Steigerung von 14 Millionen auf über 30 Millionen Internetnutzer, also mehr als eine Verdopplung innerhalb von drei Jahren, nicht für nennenswert? Zweitens. Auch Sie haben das Problem der digitalen Spaltung, der Teilung in Angeschlossene und Ausgeschlossene, angesprochen. Als wir hier in diesem Parlament einen Antrag dazu vorgelegt haben, da haben wir von Ihrer Fraktion nicht nur keine Zustimmung bekommen, sondern Ihr Kollege von Klaeden hat darüber hinaus dazwischengerufen, das sei Klassenkampf. Was denn nun? Wir tun etwas gegen die digitale Spaltung in dieser Gesellschaft, und zwar mit ganz konkreten Maßnahmen, beispielsweise mit denen, die wir eben diskutiert haben. Sie ignorieren das. Zusammengefasst muss ich sagen, Frau Kollegin Wöhrl, dass ich sehr enttäuscht bin, wenn versucht wird, so billig zu sagen, dass in Bayern alles klasse sei und im Bund tue man gar nichts. Ich bitte Sie, etwas genauer in das Programm hineinzusehen. Das ist nicht nur ein Sammelsurium von Maßnahmen, sondern es ist ein zusammenhängender Masterplan für die Informationsgesellschaft in Deutschland. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erbitte jetzt Ihre Aufmerksamkeit für den nächsten Redner, den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele haben Ihren krampfhaften Versuch, Frau Wöhrl, ({0}) hier zum Beispiel die verwegene These vorzutragen, dass wir im Bereich der Internetnutzung in den letzten Jahren gar nicht vorangekommen seien, mit einem gewissen Amüsement verfolgt. Aber wir befinden uns ja in einem Wahljahr und nach 22 Jahren versucht wieder einmal ein bayerischer Ministerpräsident, republikweit Renommee zu gewinnen. Die Zahl der Internetnutzer hat sich jedoch seit 1998 auf 30 Millionen gesteigert und damit mehr als verdoppelt. ({1}) Die Beteiligung von Frauen am Internet ist von 30 Prozent um 15 Prozent auf heute schon über 45 Prozent gestiegen. Auch die Generationsblockade der älteren Generation besteht weitgehend nicht mehr. Auch für über 50-, 60- oder 70-Jährige ist die Internetnutzung kein Thema mehr. Meine Mutter beispielsweise ist 79 Jahre alt, arbeitet am PC und hat auch einen Internetanschluss. ({2}) Dazu kann ich Ihnen, Frau Wöhrl, nur sagen: Das Gespenst, das Sie beschreiben, ist Ihre eigene Wahrnehmung, eine Wahrnehmung, die jemand hat, wenn man aus Bayern mit Sendungsbewusstsein in den Rest der Republik hinausgeht. Also jedem das Seine. ({3}) Wir halten daran fest: Das Aktionsprogramm ist die strategische Grundlage einer Innovationspartnerschaft auf dem Gebiet der Informationsgesellschaft. Was wir brauchten und die alte Regierung nicht zustande gebracht hat, war eine strategische Verständigung zwischen Regierung, der informationstechnischen Industrie, der Wirtschaft insgesamt und der Wissenschaft: In welche Richtung soll denn eigentlich die Entwicklung in der Informationsgesellschaft gehen? Deshalb haben Sie, Herr Riesenhuber, völlig Recht: Diese Bilanz ist eine gemeinsame Erfolgsbilanz von Regierung, Wirtschaft und Wissenschaft sowie Bund, Ländern und Gemeinden, die ihren Teil dazu beigetragen haben. Aber dies ist der Weg, den wir für die Informationsgesellschaft gestalten. ({4}) Sie möchten bitte nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die europäischen Regierungschefs mit der LissabonErklärung genau den gleichen Weg beschritten haben. Sie haben dort einen Masterplan bis zum Jahre 2010 vereinbart, mit dem die europäischen Regierungen und die Europäische Kommission gemeinsam den USA bei der Entwicklung und Gestaltung der Informationsgesellschaft ebenbürtig werden wollen. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel. Wenn wir darüber reden, mit den USA konkurrenzfähig zu werden, kann man als bayerische Politikerin vielleicht noch darüber nachdenken, ob das nur eine nationale Aufgabe ist. Wir jedenfalls sind schon längst einen Schritt weiter. ({5}) Mit Tony Blair, Jospin und vielen anderen Regierungschefs in Europa haben wir eine gemeinsame Perspektive entwickelt. Ich denke, wir sind an einer Stelle auch sehr ehrgeizig: Wir wollen in Deutschland und auch weltweit eine Vorreiterrolle spielen, ein breitbandiger Internetzugang soll die dominierende Zugangstechnologie zum Internet werden. Ich denke, in der Kombination von Ausbau von DSL, der rechtzeitigen und breiten Nutzung von UMTS und unserer Kabelinfrastruktur haben wir die Chance, in den nächsten Jahren eine weltweite Spitzenstellung anzustreben und zu erreichen. Wir haben auf diesem Gebiet ehrgeizige Ziele. Dass dieser Bereich zur Chefsache in der Politik geworden ist, ist das, was wir brauchen. Eines ist auch deutlich geworden: Wir haben seit 1998 die Forschungsmittel für Bildung, Forschung und Entwicklung im Bereich Informationstechnik um fast 40 Prozent ({6}) von 550 Millionen Euro im Jahr 1998 auf 766 Millionen Euro im Jahre 2002 gesteigert. Damit stoßen wir die Weiterentwicklung sowohl der Basistechnologien für das Internet als auch eine stärkere Softwareentwicklung an, die gerade für die mittelständische Industrie von besonderer Bedeutung ist. Ich weise nur darauf hin, dass wir gerade im schulischen Bereich von der Symbolpolitik von „Schulen ans Netz“ von 1998 weggekommen sind. ({7}) Wir haben die Innovationspartnerschaft zwischen öffentlichem und privatem Sektor, um diese Anschlüsse zu realisieren, gestärkt. Jede Schule ans Internet! Wir wissen, dass dies Folgeaufgaben und Folgekosten hat. Jeder muss hier seine Verantwortung tragen. Wir als Bund haben, ohne dass dies unsere ureigene Aufgabe war, eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Wir haben geholfen, die ITAusstattung in den Berufschulen für die berufliche Bildung zu verbessern. Wir haben Internetecken und -cafés in öffentlichen Bibliotheken und Einrichtungen geschaffen. Eines muss man aber auch deutlich sagen: Natürlich stehen die Länder in der Verantwortung, bei der Lehrerausbildung weiterzukommen. Viele Länder haben in den letzten zwei Jahren mit den notwendigen Schritten begonnen. Das Tragen der Folgekosten ist eine gemeinsame Aufgabe. Das kann der Bund nicht für die Länder und Gemeinden erledigen. Ich lache mich ja kaputt, wenn Frau Wöhrl der Meinung ist, wir sollten die Aufgaben an der Basis und ein notwendiges, kostengünstiges Management von IT-Systemen in den Schulen finanzieren. ({8}) Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ich glaube auch nicht, dass das ganz ernst gemeint war. Ich denke, dass es darauf ankommt, dass der Bund die Initiativen startet, mit denen wir in der Innovationspartnerschaft Schwerpunkte setzen können. Lassen Sie mich das abschließend an zwei Beispielen verdeutlichen. Der Blick richtet sich auf den Kontent, den Inhalt. Wie können wir im Bildungssystem eine qualitativ hochwertige Ausbildung unter Nutzung der neuen Technologien gewährleisten? Dazu haben wir zwei Maßnahmen ergriffen, mit denen wir international Vorbild sind: Mit mehreren 100 Millionen Euro fördern wir die Entwicklung qualifizierter Bildungssoftware für alle Einrichtungen des Bildungssystems, von den Schulen über die Hochschulen bis hin zur beruflichen Aus- und allgemeinen Weiterbildung. Das ist unser erster Beitrag. Der zweite Beitrag ist die Einführung multimedialgestützter Studiengänge in den verschiedensten Bereichen des deutschen Hochschulsystems auf breite Ebene. Meine Damen und Herren, das sind Flaggschiffprojekte, mit denen wir Bildung und Beschäftigung nach vorne bringen. Ich denke, die Bilanz dieser Debatte zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. In den Zwischentönen - auch der Beiträge der Opposition - ist deutlich geworden, dass Sie gerne möchten, dass es noch schneller und besser geht, dass die Richtung aber stimmt. Danke schön. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8456 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Tauss, Harald Friese, Ludwig Stiegler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Cem Özdemir, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN E-Demokratie: Onlinewahlen und weitere Partizipationspotenziale der neuen Medien nutzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({2}), Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Voraussetzungen für die Durchführung von Onlinewahlen - Drucksachen 14/8098, 14/6318, 14/8466 Berichterstattung: Abgeordnete Harald Friese Grietje Bettin Dr. Max Stadler Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Harald Friese für die SPD-Fraktion das Wort.

Harald Friese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst eine Anmerkung Richtung CDU/CSU-Fraktion. Sehr geehrte Kollegin Bonitz, wir bedauern es wirklich, dass wir keine Einigung über einen gemeinsamen Antrag erzielt haben. Ich sage Ihnen, dass es der Sache gut getan hätte, einen gemeinsamen Antrag zu stellen. Worum geht es? Es geht hier heute um eine Positionsbestimmung des Deutschen Bundestages, welche Konsequenzen wir aus neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und aus dem veränderten Kommunikationsverhalten der Menschen ziehen. Daraus leiten sich folgende Fragen ab: Verändern sich die Formen politischer Kommunikation und hat dies Auswirkungen auf die Teilnahme der Menschen an der politischen Diskussion? Weil dies Fragen sind, die alle Fraktionen und alle Parteien gleichermaßen betreffen, haben wir Ihnen einen gemeinsamen Antrag geradezu auf einem silbernen Tablett angeboten. Sie haben sich aber verweigert, ({0}) weil in dem Antrag folgender Satz enthalten ist - ich zitiere -: Denkbar sind darüber hinaus mittelfristig die Ermöglichung der elektronischen Stimmabgabe bei Volksabstimmungen ... Das hat bei Ihnen geradezu panische Reflexe und Angstzustände ausgelöst, weil sie befürchten, dass damit eine mittelbare Zustimmung zum Instrument einer Volksabstimmung verbunden sei. ({1}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich muss Sie wirklich fragen: Wie viel Angst haben Sie eigentlich vor dem Volk? ({2}) Wir werden Ihren Antrag ablehnen und ich sage Ihnen auch, warum: Sie springen viel zu kurz. Sie können nicht die von Ihnen zu Recht beklagte Tatsache, dass es immer mehr Nichtwähler gibt, verändern, indem Sie ein neues Wahlverfahren einführen. Das ist zu kurz gesprungen. Die politische Teilhabe ist kein technisches Problem. Die Ursachen, warum Menschen nicht mehr zur Wahl gehen, sind ganz andere. ({3}) Das hat etwas mit Parteien- und Politikverdrossenheit sowie der fehlenden Transparenz politischer Entscheidungen zu tun. ({4}) Es hat absolut nichts mit der Frage zu tun, ob uns neben der Urnen- und der Briefwahl noch ein drittes Wahlverfahren zur Verfügung steht. Politische Teilnahme ist mehr, als online wählen zu dürfen und die Teilnahme an neuen Kommunikationsformen. ({5}) Wir wollen die Chancen ausloten, die sich durch eine veränderte Gesellschaft ergeben. Wir nehmen auch zur Kenntnis, dass junge Menschen andere Formen der Kommunikation haben und diese praktizieren. Wir wissen, dass das Internet für mehr Informationen und deshalb auch für mehr Transparenz sorgen kann. Damit haben wir die Voraussetzungen für politisches Interesse, politische Diskussionen und politische Teilhabe definiert. Das hat etwas mit Informationen, Transparenz und auch Glaubwürdigkeit zu tun. Deshalb ist es für uns wichtig - das werden wir heute ausdrücklich beschließen -, dass das E-DemokratieProjekt des Deutschen Bundestages fortgesetzt und schnell abgeschlossen wird, mit dem Modelle der elektronischen Demokratie erprobt werden. Wir wollen, dass das E-Government-Programm des Programms „BundOnline 2005“ zügig umgesetzt und verwirklicht wird. Im Rahmen dieses Programms sollen auch schon Testwahlen in anderen gesellschaftlichen Bereichen online praktiziert und durchgeführt werden. Aber eines muss ich dazu sagen: Bundestags- oder Landtagswahlen haben eine andere Bedeutung als andere Wahlen; denn in den Wahlen konkretisiert und konstituiert sich die Demokratie. Deshalb müssen bei Bundestagsund Landtagswahlen bestimmte Bedingungen unabdingbar erfüllt sein. Das sind nämlich die Wahlgrundsätze: unmittelbar, frei, gleich, allgemein und geheim. ({6}) Eines darf aber nicht infrage gestellt werden: Bei Onlinewahlen muss ganz klar identifiziert werden können, ob tatsächlich der Wahlberechtigte wählt. Die Geheimhaltung muss sichergestellt sein. Die Geheimhaltung muss auch nach Abschluss des Wahlvorganges sichergestellt sein, weil die Geheimhaltung der Wahl nicht nur ein Recht des Bürgers - das ist es auch -, sondern auch eine Verpflichtung ist, über die nicht disponiert werden kann. Auch müssen wir sicherstellen, dass die Wahldaten gegen Angriffe von außen geschützt sind. Es kann vorkommen, dass man eine Wahl wiederholen muss. Deshalb bitte ich Sie: Mäkeln Sie doch nicht am Innenminister herum, wie Sie das in der ersten Beratung Ihres Antrages gemacht haben. Wir sind dankbar, dass unser Innenminister keinen Schnellschuss macht, ({7}) sondern in seinem Hause eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, um genau diese Fragen zu prüfen, zum Beispiel ob die Geheimhaltung und die Identifizierung sichergestellt sind. ({8}) Sie verweisen darauf, dass bei der Briefwahl die Geheimhaltung nicht sichergestellt sei, meine Damen und Herren Kollegen von der CDU/CSU. ({9}) Sie können doch nicht anhand der Tatsache, dass bei der Briefwahl die Geheimhaltung nicht sichergestellt ist, ableiten, dass wir ein drittes Wahlverfahren einführen, bei dem die Geheimhaltung ebenfalls nicht sichergestellt ist. Die Bedeutung der Briefwahl wird zurückgehen; denn das Bundesinnenministerium plant, dass bis zum Jahre 2006 alle Wahllokale in Deutschland miteinander vernetzt sind, sodass ich an jedem Ort, an dem ich mich befinde, wählen kann, und damit der Grund für Briefwahl, nämlich Abwesenheit vom Wohnort, nicht mehr vorliegt. ({10}) Dies scheint mir im Augenblick wichtiger als manches andere zu sein. Dies ist ein erster Schritt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen und die Gefahr der mangelnden Geheimhaltung bei der Briefwahl zu verringern. ({11}) Wir sind offen für Innovationen und Veränderungen. ({12}) Wir wollen die Chancen neuer Kommunikationsformen nutzen. Wir werden aber auch sorgfältig prüfen, ob die Bedingungen, die ich formuliert habe, erfüllt werden. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Sylvia Bonitz.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die CeBIT hat gerade wieder ihre Tore geöffnet und zeigt uns, wie mobile Kommunikation Welten verbindet. In rund sechs Monaten ist Bundestagswahl. Sie zeigt uns, was die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimmabgabe verbinden: einen Sonntagsspaziergang, vielleicht schlechtes Wetter, eine muffige Wahlkabine sowie Stift und Wahlzettel. Im günstigsten Falle hat das Wahlvolk in Vorausahnung des wahlsonntäglichen Schmuddelwetters oder aufgrund ernsthafter Verhinderungsgründe von seinem Recht auf Briefwahl Gebrauch gemacht. Während unser Wahlbürger zwar von seinem Heim-PC aus online shoppen, online banken und online chatten darf, so darf er eines nicht: online wählen. In den letzten Jahren hat die Zahl der Internetnutzer weltweit stark zugenommen. Auch bei uns in Deutschland nutzen inzwischen 30 Millionen Menschen das Internet zur Unterhaltung, zur Kommunikation oder zur Informationsbeschaffung. Immer mehr bundesdeutsche Haushalte sind mit PCs ausgestattet. So gewinnt angesichts einer stetig wachsenden Zahl von Internetnutzern die Möglichkeit der Onlinestimmabgabe zunehmend an Bedeutung. Die mittels Internet abgegebene Wählerstimme könnte damit die herkömmliche Stimmabgabe im Wahllokal oder per Briefwahl um ein attraktives, zeitgemäßes Angebot ergänzen. Der Weg dorthin scheint mit dieser Bundesregierung sehr steinig zu werden. ({0}) Erst im Februar wurde bekannt, dass frühestens 2006 - Herr Friese, Sie haben es gesagt - die Wahllokale miteinander vernetzt werden und dann Onlinewahlen vor Ort möglich sein sollen. Dies ist zwar ein erster richtiger Schritt, dennoch sind echte Onlinewahlen nach den Vorstellungen der Bundesregierung frühestens 2010 geplant. Es fällt auf, dass neben plakativen Ankündigungen, Deutschland befinde sich auf dem Wege zu Onlinewahlen, konkrete Schritte in diese Richtung bislang nicht erkennbar sind. Zwar erwähnt die Regierungskoalition in ihrem Antrag eine Arbeitsgruppe im Bundesinnenministerium, die sich mit der Vorbereitung für die Durchführung von Onlinewahlen beschäftigt, ({1}) doch leider ist die Informationspolitik über den Fortgang dieser Aktivitäten spärlich. Es hat den Anschein, als ob man bis auf kleinere Erfolge nicht recht vorankäme. Worum geht es nun in unserem Unionsantrag? Um bei der Realisierung endlich voranzukommen, fordern wir die Bundesregierung auf, einen Bericht über die gesetzlichen, sicherheitstechnischen und verwaltungsrelevanten Erfordernisse für Onlinewahlen sowie die Maßnahmen zu ihrer Realisierung vorzulegen. Gleichzeitig wird die Bundesregierung aufgefordert darzulegen, unter welcher zeitlichen Perspektive und mit welchem technischen, personellen sowie finanziellen Aufwand erste Onlinewahlen auf den unterschiedlichen Ebenen durchgeführt werden können. Die Bundesregierung soll geeignete Projekte zur Erprobung von Onlinewahlen entwickeln und dabei die Erfahrungen aus den Ländern oder anderen gesellschaftlichen Bereichen heranziehen. Eine ganz entscheidende Voraussetzung - Sie haben das auch erwähnt, Herr Kollege Friese - kommt dabei der Entwicklung eines sicheren und manipulationsfreien Wahlsystems zu, um die Vertraulichkeit der Wahlentscheidung zu gewährleisten. Das Vertrauen der Bürger in die Sicherheit einer solchen Wahlalternative ist schließlich die Grundvoraussetzung für ihre allgemeine Akzeptanz. ({2}) Onlinewahlen können letztlich nur durchgeführt werden, wenn die grundgesetzlichen Anforderungen des Art. 38 an allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen erfüllt sind. ({3}) So müssen gewährleistet sein: erstens die eindeutige Feststellung der Wahlberechtigung, zweitens die dauerhafte Geheimhaltung der abgegebenen Wahlentscheidung, drittens die gebotene Einmaligkeit der Stimmabgabe und Stimmzählung und viertens die Nachprüfbarkeit der Wahlergebnisse. Vor allem aber muss der gesamte Wahlvorgang sicher vor Manipulationen geschützt werden. Hackerattacken zur Fälschung von Wahlergebnissen dürfen keine Chance haben. ({4}) Die Bundesregierung soll diese Bedingungen in Modellprojekten testen und letztlich die Funktionalität dieser Wahlalternative sicherstellen. Ist all dies gewährleistet, wird auch die Bevölkerung das Angebot von Onlinewahlen gewiss annehmen. Um jedoch keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sage ich an dieser Stelle deutlich: Es geht uns bei dem Begriff der Onlinewahl um die Schaffung einer zusätzlichen Möglichkeit der Stimmabgabe neben Urnenund Briefwahl. Von einem vollständigen Ersatz der bisherigen Wahlmöglichkeiten kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Rede sein. Was spricht eigentlich dagegen, das Wahlrecht mit der Einführung einer zeitgemäßen zusätzlichen Stimmabgabemöglichkeit zukunftsgewandt fortzuentwickeln und zu ergänzen? Schließlich wurde auch die Briefwahl erst einige Jahre nach dem Entstehen der Bundesrepublik zugelassen. Erst seit 1957 dürfen Wählerstimmen per Briefwahl abgegeben werden. Dabei ist die Briefwahlmöglichkeit seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nur als Ausnahme genehmigt worden. Sie sollte auf diejenigen beschränkt sein, die am Wahltag aus einem gesundheitlichen oder anderen trifftigen Grund nicht im Wahllokal erscheinen können. Aus dieser Ausnahme hat sich allerdings in den letzten Jahren eine stetig gestiegene Zahl von Briefwählern entwickelt. So betrug der Anteil der Briefwahlstimmen bei der Bundestagswahl 1998 allein 16 Prozent. In München wurde sogar jede vierte Stimme per Briefwahl abgegeben. Was läge also näher, als angesichts einer stetig wachsenden Zahl von Internetnutzern demnächst auch die Möglichkeit der Stimmabgabe mittels dieses elektronischen Mediums zuzulassen? Sie wäre in vielen Fällen bequemer, weil die sonst erforderliche Anforderung von Briefwahlunterlagen entfällt. Um aber den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, gilt weiterhin der Grundsatz, dass der Wähler sein Kreuz in der Wahlkabine zu machen hat. Wenngleich dieser Grundsatz zunehmend unterlaufen wird, so bleibt doch festzustellen: Eine komplette Wahl per Internet widerspräche wohl zumindest derzeit auch unserer Wahlkultur. Einige kritisieren gar, eine Stimmabgabe per Mausklick tangiere die Würde des Wahlaktes. Da unser Anliegen fraktionsübergreifend grundsätzlich begrüßt wird, bedaure ich es umso mehr, dass SPD und Grüne unserem Antrag vermutlich die Zustimmung verweigern werden. ({5}) Schade, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ein Problem damit haben, dass eine gute Idee von Ihrem politischen Mitbewerber formuliert wurde. ({6}) Ihr nachgeschobener Koalitionsantrag ist - wie so oft - mit rot-grünen Verbalblähungen angereichert, die sich in einer Selbstbeweihräucherung der Regierungsarbeit verlieren. So frage ich mich, warum Sie es nötig haben, das Projekt „BundOnline 2005“ als E-GovernmentInitiative der Bundesregierung immer wieder in den Himmel zu loben. Selbst Bundesinnenminister Otto Schily ist sich für einen Gastbeitrag in der gestrigen Ausgabe der „Welt“ nicht zu schade. ({7}) Hat der Minister derzeit nicht Wichtigeres zu tun? Vielleicht sollte er zum Beispiel erst einmal sein eigenes Haus in den Griff bekommen. Vielleicht würde das den Überblick über die etwas unübersichtliche Nachrichtenlage von der V-Mann-Front beim NPD-Verbotsverfahren erleichtern. ({8}) Hier gilt das Motto: Die Hütte brennt, sein Laden pennt und der Minister Texte schreibt, damit er im Gedächtnis bleibt. ({9}) Wer solche Prioritäten setzt, sollte Mitarbeitern dankbar sein, die einen nicht mit wichtigen Informationen belästigen. Im Übrigen - das sei auch erwähnt - ist das Projekt „Bund online 2005“ bei einem internationalen Vergleich schon in der ersten Runde durchgefallen, wie der „Spiegel“ in seiner jüngsten Ausgabe meldet. Peinlich ist auch, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, den Entwurf für ein Informationsfreiheitsgesetz in Ihrem Antrag erwähnen. Dieser Entwurf des Innenministeriums ist aber noch nicht einmal im Bundeskabinett verabschiedet, geschweige denn in den Bundestag eingebracht worden. ({10}) Eine wahre Zumutung findet sich allerdings an einer anderen Stelle in Ihrem Antrag wieder. Darin heißt es: Denkbar ist darüber hinaus mittelfristig die Ermöglichung der elektronischen Stimmabgabe bei Volksabstimmungen oder aber die Ermöglichung der elektronischen Einreichung von Petitionen. ({11}) Was wir von der Union auf keinen Fall wollen, ist die schleichende Einführung von Volksabstimmungen über den elektronischen Umweg. ({12}) Onlinewahlen sind eine dritte, ergänzende Möglichkeit der Stimmabgabe neben Urnenwahl und Briefwahl. ({13}) Es ist zu billig, wenn Sie versuchen, Onlinewahlen mit dem Volksentscheid zu verknüpfen, nur weil Sie Angst haben, keine parlamentarische Mehrheit für die Einführung von Plebisziten zusammenzubekommen. Für uns sind dies zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich appelliere daher an Sie: Trennen Sie die Einführung von Onlinewahlen sauber von dem Thema Volksentscheid. Befreien Sie Ihren Antrag von falschen Lobgesängen auf regierungseigene Projekte, die noch nicht einmal die Kinderkrankheiten überwunden haben. Reden Sie der Bevölkerung nicht ein, dass Sie mit Ihrem Antrag - wie Sie schreiben - der Politikverdrossenheit und der Intransparenz politischer Entscheidungsprozesse begegnen wollen, solange Sie den Korruptionsskandal in der SPD noch nicht einmal ansatzweise aufgeklärt haben. ({14}) Ich sage das ohne Häme und Schadenfreude. Denn was der SPD-Filz in Nordrhein-Westfalen angerichtet hat, schadet der Politik insgesamt. Befreien Sie Ihren Antrag von diesem überflüssigen Ballast und konzentrieren Sie sich auf unser gemeinsames Kernanliegen: die zukunftsgewandte Option, eine zusätzliche Onlinestimmabgabe zügig einzuführen. Wir stimmen doch in diesem wichtigen Punkt überein. Also könnte unser Antrag heute eine breite Mehrheit in diesem Hause finden. Es ist noch viel zu tun, um die Sicherheit solcher elektronisch gestützter Wahlverfahren gewährleisten zu können. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, einen entsprechenden Bericht vorzulegen. Erst muss die Bundesregierung ihre Hausaufgaben machen. Dann können wir - hoffentlich bald - auch per Mausklick wählen. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort der Kollegin Grietje Bettin für Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich Folgendes vor: Es ist Bundestagswahl und niemand geht hin. Dieses Schreckensszenario ist nicht so unwahrscheinlich; denn Politik- und Wahlverdrossenheit schlagen insbesondere bei Wahlen auf unterer Ebene immer stärker zu Buche. Doch zukünftig ist auch Folgendes vorstellbar: Es ist Bundestagswahl, niemand geht hin und es wird trotzdem gewählt, und zwar per Mausklick am Computer. Für viele ist wohl auch Letzteres ein Schreckensszenario nach dem Motto: Die neuen Medien dominieren ohnehin schon immer mehr unseren Alltag. Nun soll auch noch die gute alte Wahlurne durch einen schnöden PC ersetzt werden? Meine Antwortet lautet: Nein, wir brauchen Vielfalt. Es ist Bundestagswahl und viele machen mit - so muss einer der Slogans lauten -, und zwar in der Wahlkabine, per Briefwahl oder in Zukunft zusätzlich per Mausklick. Rot-Grün ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass Onlinewahlen zukünftig ein wichtiges Mitbestimmungsinstrument sein müssen und auch sein werden. Allerdings darf sich das Thema elektronische Mitbestimmung keinesfalls nur auf das Thema Onlinewahlen beschränken. Der Fantasie im Hinblick auf elektronische Mitbestimmung sind nach Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen erst einmal keine Grenzen gesetzt. Sofort fallen mir Volksabstimmungen und Petitionen als sinnvolle Möglichkeiten der elektronischen Mitbestimmung ein. Aber auch die Virtualisierung der Sitzungen von Parlamentsausschüssen halte ich grundsätzlich für sinnvoll. Bündnis 90/Die Grünen befindet sich in Sachen elektronischer Partizipation zweifellos in einer Vorreiterrolle. Am kommenden Samstag veranstalten die Grünen in Schleswig-Holstein - das ist mein Landesverband - einen virtuellen Parteitag. Unter „www.gruener-parteitag.de“ können ab Samstag Menschen mit und ohne Parteibuch der Grünen über Anträge mitdiskutieren und selber Vorschläge einbringen. ({0}) Wir sind gespannt, direkt zu erfahren, was die Menschen von uns erwarten und welche politischen Bereiche sie von uns stärker als bisher beachtet sehen wollen. Wir wollen mit diesem Parteitag nicht nur ein junges Publikum ansprechen. Wir wollen uns vielmehr generell allen politisch interessierten Menschen im Land öffnen. Wir probieren mit diesem virtuellen Parteitag neue Wege der politischen Kommunikation aus. ({1}) Kritische Stimmen bleiben nicht aus und werden von uns selbstverständlich ernst genommen. Doch von einer „elektronischen Diktatur“ - so hat es eine große Regionalzeitung in Schleswig-Holstein formuliert - kann nun wirklich keine Rede sein. Wir wollen mit dem geplanten virtuellen Parteitag keineswegs die gesamte politische Kommunikation inklusive der wichtigen Gespräche in der Lobby in das Netz verlegen. Wir wollen den Bürgerinnen und Bürgern vielmehr eine zusätzliche Möglichkeit bieten, sich in die Politik einzumischen und einzubringen. ({2}) Wenn es uns nicht gelingt, mithilfe der elektronischen Demokratie für mehr Mitbestimmung zu sorgen, dann haben wir etwas falsch gemacht. E-Demokratie heißt nicht Computerdemokratie, sondern mehr Demokratie. ({3}) Doch wir haben noch einen langen Weg zurückzulegen, bevor bedeutende Wahlen über das Netz durchgeführt werden können. Geeignete Verfahren müssen erst gründlich erprobt und evaluiert werden. Hier sind wir in Deutschland mit Unterstützung der Bundesregierung auf einem sehr guten Weg. ({4}) Es gibt im Bundesgebiet bereits mehrere vorzeigbare Pilotprojekte. So schrieben vor kurzem 234 Wählerinnen und Wähler in Marburg ein Stück Internetgeschichte, als sie als erste Wahlberechtigte überhaupt bei einer Landratswahl ihre Stimme online abgeben durften. Doch nicht nur die technische Funktionsfähigkeit von Onlinewahlen, sondern auch die breite Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger über das elektronische Wahlverfahren muss gewährleistet sein, um für die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung zu sorgen. ({5}) Ohne die umfassende Vermittlung von Medienkompetenz wird es uns nicht gelingen, die neuen Medien so einzusetzen, dass sie für alle und nicht nur für eine computerisierte Minderheit da sind. Die Bundesregierung ist mit ihrem Schritt-für-SchrittProgramm in Sachen Onlinewahlen sicherlich auf einem guten Weg. Als ersten Schritt sollen sich die Bürgerinnen und Bürger in den Wahllokalen an die elektronische Stimmabgabe per PC und dann, in nicht allzu ferner Zukunft, auch an die Stimmabgabe per heimischen PC gewöhnen, die, wie gesagt, nur eine Möglichkeit von vielen darstellt. Das langfristige Ziel ist, Kommunalwahlen, aber auch Landtags- und Bundestagswahlen über das Netz abzuwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger stärker in die Politik einmischen, egal, ob online oder offline. Hauptsache, wir haben ein offenes Ohr für ihre Belange. Und dabei können uns die neuen Medien sehr hilfreich sein. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. SchmidtJortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! So wie Griechenland Inbegriff der Demokratie ist und England oder Großbritannien - so müssen wir wohl besser sagen - Inbegriff des Parlamentarismus ist, soll Deutschland jetzt offensichtlich Inbegriff der elektronischen Wahl werden. Ich hoffe, dass wir da den Mund nicht zu voll nehmen und die Erwartungen nicht zu hoch setzen; denn es ist uns ja noch nicht einmal gelungen - dieser Seitenhieb sei schon gestattet -, in diesem Haus die elektronische Abstimmung einzuführen. ({0}) Liebe Grietje, Sie haben gesagt, dass Sie einen virtuellen Parteitag veranstalten. Ich hoffe, dass der nicht so schief geht wie der in Baden-Württemberg, bei dem man nicht einmal die Wahlberechtigungen richtig hinbekam. ({1}) Aller Anfang ist schwer, aber wir sollten das Thema in der Tat angehen. Das Internet hat in den letzten Jahren eine gigantische Entwicklung genommen. Lieber Herr Tauss, verehrte Frau Wöhrl - sie ist leider nicht mehr hier -, ich vermute einmal, dass der Siegeszug des Internets auch ganz unabhängig von irgendwelchen grandiosen Politiken, welcher Farbe auch immer, zustande gekommen wäre. ({2}) Ich jedenfalls habe mir meinen PC nicht auf Initiative der Regierungspolitik hin zugelegt. Heute besteht die Möglichkeit, an nahezu jedem Ort der Welt über eine Unmenge an Informationen zu verfügen, sich Meinungen zu bilden und auch Meinungen auszutauschen. Das Internet ist deshalb zu einem politischen Faktor geworden und es gilt, die darin liegenden Möglichkeiten auszuschöpfen. Lassen Sie mich das an einigen Aspekten verdeutlichen, wenngleich die meisten hier schon angeklungen sind. Bei der letzten Bundestagswahl haben circa 8 Millionen Bürgerinnen und Bürger - das sind immerhin rund 16 Prozent der Wähler - von der Möglichkeit der Briefwahl Gebrauch gemacht. Das heißt, die dezentrale Stimmabgabe nimmt zu. Auch die mit der Freizügigkeit einhergehende Mobilität der Bevölkerung lässt sich ins Feld führen. Man möchte für die Wahl unabhängig von seinem Wohnort sein, sich möglicherweise auch mit dem PC in die Natur begeben können. Viele Bürger beklagen mit Recht die häufig gegebene Nichtdurchschaubarkeit politischer Vorgänge. Ziel muss es also sein, wieder mehr Bürger für die Politik zu interessieren, indem Transparenz bzw. Information über das Geschehen verschafft wird. Das kann - darüber gibt es im Haus auch keinerlei Dissense - durch Internetnutzung erreicht werden. ({3}) Meine Damen und Herren, das Potenzial, das in der Möglichkeit der Onlinewahl liegt, sollte daher nicht unterschätzt werden. Die FDP unterstützt deshalb die Bemühungen, in diesem Bereich zu technischen, sozialen und juristischen Lösungen zu gelangen. ({4}) Dass wir vorhandene Bedenken ernst nehmen, ist keine Frage. Jeder Mann und jede Frau hat schon benannt, wo die Bedenken liegen, nämlich bei der Anwendung der Wahlrechtskriterien des Art. 38 des Grundgesetzes, was die Bundestagswahl betrifft. Insbesondere der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl würde verletzt, wenn man Bürger, die sich mit der neuen Technologie nicht anfreunden wollen, ausschlösse oder wenn man diejenigen ausschlösse, die keinen PC haben. Das ist aber nicht geplant. Um es kurz zu machen: Im Hinblick darauf, dass die Wahl geheim und unmittelbar sein muss, sind natürlich auch noch Probleme zu lösen. Die FDP stimmt der Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu. ({5}) - Der Antrag ist nicht schlecht; sonst würden wir nicht zustimmen. Zum Schluss will ich noch etwas zur Erheiterung des Hauses zum Besten geben. Gerade wir Liberale können der Perspektive der Onlinewahl offenbar zuversichtlich entgegensehen; denn, wie mir berichtet wurde, hat bei einer vor einiger Zeit durchgeführten virtuellen Wahl zum Internetkanzler die liberale Kandidatin Malta mit 28,72 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von immerhin 82,6 Prozent enorm erfolgreich abgeschnitten. Das werten wir einmal als gutes Omen. Besten Dank. ({6}) - Nach oben ist die Skala offen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDS-Fraktion spricht die Kollegin Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schmidt-Jortzig, ein sozialistischer Kandidat hat bei einer solchen Abstimmung sogar einmal gewonnen. Ich hoffe, das bedrückt Sie jetzt nicht sehr. Das war im vergangenen Jahr. ({0}) Hier ist zum Ausdruck gebracht worden, dass die fehlenden Onlinewahlen weder an der Politikverdrossenheit noch an der Tatsache, dass viele Menschen zurzeit nicht mehr zur Wahl gehen, schuld sind; vielmehr hat das Desinteresse an demokratischen Verfahren natürlich andere Gründe. Einer dieser Gründe ist vielleicht, dass sich dieses Haus auf einen gemeinsamen Antrag, zu Onlinewahlen zu kommen, nicht einigen konnte. Ich finde das sehr schade, weil ein solches Vorhaben nicht gegen irgendjemand gerichtet ist, sondern uns allen dient. ({1}) Auch ich finde die Aussicht, Abstimmungen per Internet durchzuführen, sehr verlockend. Ich glaube, gerade für Menschen mit eingeschränkter Mobilität ist das eine gute Alternative zu den bisher bestehenden Möglichkeiten. Wahlen müssen frei sein. Das heißt, sie müssen anonym sein und ohne Druck erfolgen. Im Wahllokal kann man das kontrollieren. Auch bei der Briefwahl kann man das einigermaßen kontrollieren. Wird im großen Maßstab am PC abgestimmt, lässt sich immer weniger kontrollieren, inwiefern eine Wahl frei erfolgte. Nur ein Beispiel: Hat eine Ehefrau, die den PC ihres Mannes nutzt, oder haben Jugendliche, die am heimischen PC ihre Stimme abgeben - ich denke an Wahlen, an denen man ab dem 16. Lebensjahr teilnehmen darf -, wirklich ohne Druck abgestimmt oder wurde Einfluss genommen? Diesen Aspekt muss man natürlich beachten. Er spricht letztlich aber nicht gegen die Durchführung von Onlinewahlen. Wichtiger sind für mich jedoch die von Kollege Friese schon angesprochenen technischen Fragen, was Geheimhaltung etc. betrifft. Wir müssen einerseits die Authentizität feststellen und andererseits eine hundertprozentige Geheimhaltung der Wahlentscheidung gewährleisten. Es muss bei den Onlinewahlen natürlich Datensicherheit geben. Kollege Tauss, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze: TKÜV, Cybercrime-Konvention ({2}) - nein, natürlich nicht -; ich könnte es weiter ausführen. Es gibt Begehrlichkeiten des Bundesinnenministeriums bezüglich der Überwachung von Verbindungsdaten. Das alles sind Entwicklungen, die den Datenverkehr durchsichtiger machen und die Anonymität zerstören. Das kann dazu führen, dass wir letztlich keine Onlinewahlen erleben werden. Kollege Tauss - ich habe gerade zum Ausdruck gebracht, dass ich Sie schätze -, ich möchte Sie kurz zitieren, wenn Sie erlauben: Die Überwachungswut im Internet übersteigt schon jetzt alles, was wir aus der Offlinewelt kennen. Wohl wahr, Kollege Tauss. ({3}) Ich hoffe, dass wir beide gemeinsam etwas dagegen tun. Onlinewahlen dürfen kein Feigenblatt werden und eine Sicherheit im Netz vortäuschen, die so nicht gegeben ist. Die in den USA erneut aufgeflammten Diskussionen zu dem Thema Kryptographie zeigen auch, wohin die Entwicklung geht. Ich hoffe, dass die Bundesrepublik unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass sie für Kryptographie ist. Wir warten noch darauf, dass aus einem Bericht Schlussfolgerungen gezogen werden. Das E-Demokratie-Projekt muss weitergeführt werden. Ich finde, das ist eine sehr gute Initiative der Bundesregierung. Man kann sich auf einen gemeinsamen Antrag offensichtlich nicht einigen, weil es unterschiedliche Herangehensweisen an demokratische Verfahren gibt. Ich halte die Möglichkeit von Volksabstimmungen über das Internet wirklich für eine hervorragende Ergänzung. Ich weiß überhaupt nicht, was dagegen spricht, es sei denn, man hat Angst, kontrolliert zu werden. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner spricht nunmehr der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der guten Ordnung halber auf Folgendes aufmerksam machen: Die Tatsache, dass wir hier nicht elektronisch abstimmen können, geht auf einen damaligen Mehrheitsbeschluss von CDU/CSU und FDP zurück. ({0}) Ich sage das nur, damit es hier keine Missverständnisse gibt. Wir hatten damals keine Mehrheit in diesem Hause. Hier sind noch nicht einmal entsprechende Kanäle gelegt worden. Heute würde das Legen dieser Kanäle sehr viel Geld kosten. Das ist eigentlich schade. Liebe Kollegin Bonitz, Sie wissen, Sie schätze ich auch sehr - nachdem wir uns heute hier alle schätzen, Kollegin Marquardt, Kollegin Bettin. Ich glaube, bei diesem Thema haben wir zum Teil wirklich Berührungspunkte über Fraktionen hinweg; das sollte man schon sagen. Weil ich glaube, dass wir heute schon an einer Stelle sind, wo wir möglicherweise auch über die Zukunft von Parlament und Parlamentarismus reden, Kollegin Bonitz, will ich für die Chronisten, die später einmal gucken, wie das anno 2002 war, festhalten, dass ich es war - das sei in aller Bescheidenheit angemerkt -, der das Thema Onlinewahl in der letzten Legislaturperiode in den Abschlussbericht der Enquete-Kommission hineingeschrieben hat. ({1}) Damals haben wir heftige Diskussion mit Ihrer Seite darüber geführt. Dies nur zur historischen Redlichkeit. Aber wenn wir uns heute weitgehend einig sind, ist das doch ganz prima. Ich gebe Ihnen, Kollegin Marquardt, und allen anderen völlig Recht, die hier gesagt haben, bevor wir über elektronisches Wählen reden, müssen wir natürlich zunächst einmal darüber reden, dass die Netze sicher sein müssen und dass der Staat nichts tun darf, um Netze unsicher zu machen. Wir müssen über die Möglichkeit von Anonymisierungs- und Pseudonymisierungsverfahren reden. Das sage ich jetzt auch als Forschungspolitiker. Das Thema ist außerordentlich spannend und könnte einen großen Schub für die IT-Industrie und für die Softwareindustrie in Deutschland auslösen. Das ist überhaupt keine Frage. ({2}) Ich kann Ihrem Antrag, Kollegin Bonitz, heute nicht zustimmen, weil ich die Reduzierung auf das Thema Onlinewahlen für problematisch halte, so interessant es ist. Gerade unter diesem Gesichtspunkt haben wir es damals übrigens in den Abschlussbericht der Enquete-Kommission hineingeschrieben.Wir haben gesagt: Sichere Wahlen im Internet würden voraussetzen, dass wir ein sicheres Internet haben. Ein sicheres Internet wäre übrigens auch Voraussetzung für viele weitere tolle positive Entwicklungen in Geschäftsprozessen. Da haben wir uns einen Schub erhofft. Man stelle sich vor, bis in die letzte Kommune und in das letzte Wahlamt hinein würde über die Frage diskutiert: Wie können wir verhindern, dass die SPD der CDU/CSU 1 Million Stimmen abnimmt? Das werden wir schon wegen Ihres Kanzlerkandidaten tun; das ist keine Frage. Aber es sollte ja nicht elektronisch manipulierbar sein - natürlich auch nicht anders herum, das will ich Ihnen natürlich zugestehen. Wenn wir über diese Dinge reden, reden wir über mehr. Selbstverständlich ist elektronisches Wählen spannend. In geschlossenen Netzen könnten wir es heute schon tun. Deswegen schlagen wir vor, elektronische Wahlen beispielsweise bei Wahlen nach dem Betriebsverfassungsgesetz und bei den Wahlen zu den Sozialversicherungsträgern zu ermöglichen. Niemand würde uns daran hindern, das in diesen Bereichen auszuprobieren. Ich warne aber davor - das tun auch alle Informatiker -, bei der höchsten Wahl, die wir in diesem Lande haben, bei der Bundestagswahl mit elektronischen Wahlen zu beginnen. Kollegin Bonitz, Sie sollten es deshalb auch nicht zum Gegenstand von Angriffen auf die Bundesregierung machen. Wir sollten in geschlossenen Netzen Erfahrungen sammeln, zum Beispiel in Betrieben, bei Studentenparlamenten, bei der Testwahl für Schülerinnen und Schüler, und uns langsam vortasten. Gerade bei der Frage der ITSicherheit ist ein Zeitraum von zehn Jahren nicht zu lang. Darüber habe ich auch mit den führenden IT-Experten in unserem Lande gesprochen, die vor einem Schnellschuss gewarnt haben. Diese Warnungen sollten wir beachten. ({3}) Wir reden über mehr als über elektronisches Wählen per Mausklick. Ihr Antrag greift einfach zu kurz; der Kollege Friese hat schon darauf hingewiesen. Bertolt Brecht sprach in seiner Rundfunktheorie einmal von der großartigen Möglichkeit, dass es auch für politische Kommunikation ganz andere Chancen gäbe, wenn man einen Kommunikationsapparat hätte, der nicht nur empfängt, sondern es einem auch ermöglicht, selbst zu senden. Das war in den 30er-Jahren eine tolle Vision. Aus diesem Grunde wollen wir eben nicht nur darüber reden, die Leute alle vier Jahre einen Mausklick machen zu lassen, sondern wir wollen darüber reden, ob das mehr Partizipation in vielen Bereichen mit sich bringen kann. Sie haben Angst vor dem Volk, weil Sie sich gegen Volksabstimmungen wenden. ({4}) Das zentrale demokratietheoretische Problem auf der konservativen Seite des Hauses ist, dass Sie Angst vor dem Volk haben, weil Sie befürchten, es würde Ihnen möglicherweise an ein paar Punkten nicht mehr folgen. ({5}) Da werden Sie über Ihren Schatten springen müssen und Sie werden das auch tun. Jede Demokratie lebt von aktiver Teilnahme. Die Chance der neuen Medien ist selbstverständlich nicht, dass sie automatisch zu mehr Demokratie führen. Aber wenn wir ein Mehr an Demokratie wollen, dann geben uns das Internet und die neuen technischen Möglichkeiten eine herausragende Chance, Bürgerinnen und Bürger auch an den Prozessen hier im Parlament stärker zu beteiligen. Das wollen mit unserem E-Demokratie-Projekt ausprobieren. Das ist ein ganz schwieriger Prozess bis hin zu den Fragen, welche Software eingesetzt wird und wie sicher kommuniziert werden kann. Das sind alles keine profanen Probleme. Wir müssen dazu stehen, dass wir eine solche Beteiligung von außen tatsächlich haben wollen. Es gibt drei positive Möglichkeiten: Wir müssen den Menschen vereinfachte nutzerorientierte Zugänge zu relevanten Informationen geben. Wir müssen komplizierte politische Verfahren bürgernah nachvollziehbar darstellen. Wir haben die Chance, in einen dauernden direkten Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern zu treten. Das ist die Zielsetzung, die wir mit all dem verbinden. Auch dieses Parlament hat gute Chancen, hierzu in den nächsten Jahren Beiträge zu leisten. Mit aller Deutlichkeit sage ich mit Blick auf die Regierungsbank: Selbstverständlich kann ich mir vorstellen, dass wir die Möglichkeiten auch nutzen werden, um Regierungshandeln - dabei ist es egal, wer gerade regiert; wir werden noch lange regieren - für uns als Parlamentarier transparenter zu machen, sodass wir früher in Erfahrung bringen können, was die Ministerien machen. Hier bietet sich eine hervorragende Chance, zusätzlichen Sachverstand für das Parlament zu mobilisieren. Die Akzeptanz und die Legitimation politischer und parlamentarischer Prozesse können wir, Herr Präsident - Sie erinnern mich ja schon an die Zeit -, mithilfe der Technik, wenn wir es wollen, erhöhen. Die Technik richtet es nicht von alleine. Ein Mehr an Demokratie können wir aber, wenn wir es denn wollen, mithilfe der Technik realisieren. ({6}) Ich würde mich freuen, wenn Sie alle unserem Antrag zustimmen. Die FDP hat ja bereits ein positives Beispiel gegeben, indem Herr Schmidt-Jortzig ein zustimmendes Votum signalisierte. Vielen Dank dafür. Vielleicht springen auch die anderen über ihren Schatten. Springen Sie nicht zu kurz! Haben Sie Mut! Stimmen Sie dem Antrag von Rot-Grün zu! ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/8466. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8098 mit dem Titel: „E-Demokratie: Onlinewahlen und weitere Partizipationspotenziale der neuen Medien nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der PDS-Fraktion mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6318 mit dem Titel: „Voraussetzungen für die Durchführung von Onlinewahlen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistik über die Beherbergung im Reiseverkehr ({0}) - Drucksache 14/6392 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus ({2}) - Drucksache 14/8475 Berichterstattung: Abgeordnete Brunhilde Irber Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie Sie wissen, verdient die Tourismusbranche als eine Branche, die in Deutschland immerhin rund 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, rund 3 Millionen Menschen beschäftigt und 105 000 Ausbildungsplätze bereitstellt, die besondere Aufmerksamkeit der Bundesregierung. Es ist uns durch ein vielfältiges Engagement gelungen, die Bedeutung der Tourismuswirtschaft als Wirtschaftsfaktor in der Öffentlichkeit zu verankern und ihr mehr Anerkennung zu verschaffen. Auch die Novellierung des Beherbergungsstatistikgesetzes ist ein Weg in die richtige Richtung. Letztlich misst doch das Instrument Statistik Leistungen und stellt sie für die Öffentlichkeit vergleichbar dar. Es ist mit Sicherheit richtig, dass man auf der einen Seite möglichst viel wissen will, um feinsteuern zu können; auf der anderen Seite besteht immer die Sorge, dass die zusätzlich belastet werden, die in der Praxis tätig sind. Wir haben gemeinsam versucht, einen goldenen Mittelweg zu finden, um sowohl dem einen wie auch dem anderen Anliegen Rechnung tragen zu können. ({0}) Mit der Beschlussempfehlung des Tourismusausschusses zum Gesetzentwurf der Bundesregierung haben wir einen für alle Beteiligten, wie ich denke, tragfähigen Kompromiss gefunden. Dafür bedanke ich mich auch von dieser Stelle aus. Gleichzeitig ist erreicht worden, dass wir den europäischen Vorgaben Rechnung getragen haben, zum Beispiel den Informationsanforderungen der EG-Tourismusstatistik-Richtlinie, die somit von Deutschland erfüllt werden kann. Mit der Aufnahme der Pflicht der Erfassung der Zimmerauslastung in den Gesetzentwurf wird darüber hinaus einer langjährigen Forderung der Tourismuswirtschaft entsprochen. Saldiert können wir sagen: Trotz der Erfassung zusätzlicher Zahlen wird es beim Aufwand eine Nettoeinsparung geben. Damit ist ein Ziel, das wir uns gesetzt haben, erreicht. ({1}) Es ist auch wichtig, dass nicht vergessen worden ist, insbesondere den Bereich der Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen mitzuberücksichtigen. Dies ist ebenfalls ein Wunsch der Länder und der Tourismusverbände und wird von der Bundesregierung in vollem Umfange mitgetragen. Ich glaube, dass damit die bisherige Transparenz beibehalten werden kann, die wir uns alle wünschen und die insbesondere in jenen Ländern und Regionen Bedeutung hat, in denen Kurgäste die überwiegende Anzahl von Touristen ausmachen, sodass für Unternehmer in der Tourismusbranche Investitionsentscheidungen erleichtert werden. ({2}) Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetzentwurf in Verbindung mit der Beschlussempfehlung Ihre Zustimmung zu geben. ({3}) Ich glaube, dass das im Zusammenhang mit der Internationalen Tourismusbörse, die bekanntlich am Sonnabend in Berlin eröffnet wird, sehr gut ist. Dies ist ein Signal, das deutlich macht, Herr Hinsken, dass die Politik auch einmal zusammenstehen kann, wenn es darum geht, die Sache voranzubringen. ({4}) Insoweit ist das sicherlich auch für die FDP- und die CDU/CSU-Opposition ein wichtiges Anliegen. ({5}) Die Bundesregierung hat im Hinblick auf den Tourismus zahlreiche wichtige Schritte getan: Die Steuerreform wirkt. Die Konsolidierung des Haushaltes, die Entbürokratisierung, die Aufgabe von Rabattgesetz und Zugabenverordnung, die Investitionsförderung, die wir im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ auf einem hohen Niveau haben festsetzen können, und auch die Zuwendung für die DZT sind einige von vielen Punkten, die die Bundesregierung zugunsten des Tourismus aufgelegt hat. Lassen Sie mich abschließend auf Folgendes hinweisen: Wer sich die Zahlen des deutschen Tourismus in den vergangenen Jahren anschaut, der wird feststellen können, dass der Tourismus tatsächlich eine Wachstumsbranche in Deutschland ist. ({6}) Ich möchte einmal die Zahlen nennen: Wir hatten 1997 287,2 Millionen Übernachtungen in Deutschland. Es sind jetzt 326,6 Millionen. Betrachtet man die Zahlen nach Bundesländern aufgefächert, so sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass es insbesondere in den neuen Bundesländern gelungen ist, ({7}) in diesem wichtigen Bereich fast durchweg erfreuliche Akzente zu setzen. ({8}) - Es ist immer alles besser zu machen. Würde diese Möglichkeit in unserem Leben nicht bestehen, wären wir nicht mehr perspektivisch genug ausgerichtet. In Berlin - ich fange einmal mit meinem Bundesland an - stieg die Zahl der Übernachtungen von 8,3 Millionen auf 11,3 Millionen, in Mecklenburg-Vorpommern von 13,3 Millionen auf 19,8 Millionen. Das zeigt, dass dort viel in Bewegung ist, ({9}) dass in den Tourismus investiert wird und dass es auch in den neuen Bundesländern attraktive Angebote gibt. Ich nenne hier - damit niemand sagt, ich wäre parteipolitisch einäugig - genauso gern die südlichen neuen Bundesländer Thüringen und Sachsen, die auf diesem Gebiet ebenfalls große Erfolge zu verzeichnen haben. ({10}) Ich möchte abschließend sagen: Wir werden auf dieser Linie fortfahren. Wir laden Sie alle ein, weiter mitzuhelfen, den Tourismus in Deutschland zu unterstützen und zu fördern sowie Deutschland im Blick auf den Tourismus weiter attraktiv zu gestalten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Klaus Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einleitend freue ich mich, dass wir unsere Kollegin Brunhilde Irber weiter in den Reihen der Tourismuspolitiker des Deutschen Bundestages begrüßen dürfen. Mein Dank gilt daher Landrat Christian Bernreiter von der CSU mit seinem überragenden Wahlergebnis von 59,2 Prozent bei den Landratswahlen im Kreis Deggendorf. ({0}) Er hat dafür gesorgt, dass die SPD-Bundestagsfraktion nach dem Ausscheiden von Staatssekretär Mosdorf nicht noch mehr von ihrem tourismuspolitischen Sachverstand verliert. Ein gutes Beispiel für mangelnden tourismuspolitischen Sachverstand ist die von Rot-Grün geplante Änderung des Beherbergungsstatistikgesetzes, über die wir heute debattieren. Von dem ursprünglichen Regierungsentwurf ist durch die vehementen Proteste der Tourismusbranche und der Opposition kaum noch etwas übrig geblieben. Erst im Bundesrat wurde der Irrweg Ihres Gesetzentwurfes auch von SPD-geführten Bundesländern beendet und wurden die Hauptforderungen der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion eingearbeitet. Insofern kann ich Ihnen für unsere Fraktion hier und heute mitteilen, dass wir dem Gesetzentwurf zustimmen. ({1}) Zur Verdeutlichung: Es war die rot-grüne Bundesregierung, die die Übernachtungen in Kurkliniken aus der statistischen Erfassung streichen wollte. Eine verantwortliche und langfristige Tourismus- und Infrastrukturpolitik der deutschen Heilbäder und Kurorte fordern und gleichzeitig den Kommunen kein verlässliches Zahlenmaterial als Planungsgrundlage zur Verfügung zu stellen, das ist rot-grüner Sachverstand pur. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die nur noch Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben mit mehr als zwölf Betten statistisch erfassen wollte. Derzeit liegt die Grenze bei acht Gästebetten. Den effizienten Einsatz von Steuermitteln bei der Planung von Infrastrukturmaßnahmen wie bei Verkehrswegen, Wasser- und Abfallentsorgung fordern und gleichzeitig Bund, Länder und Kommunen die Planungsgrundlagen dafür entziehen - Sachverstand à la Rot-Grün. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die die Festlegung der Abschneidegrenze mit einem Verweis auf das Gaststättengesetz regeln wollte. Für diese Verbindung von Gaststättengesetz und Beherbergungsstatistikgesetz gab es keine sachliche Begründung. Änderungen im Gaststättengesetz hätten damit Veränderungen in der Tourismusstatistik zur Folge haben können. Auch hier zeigt sich die Vorstellung von rot-grünem Sachverstand. In der nächsten Legislaturperiode sollte grundsätzlich überlegt werden, ob tourismusrelevante Einzelgesetze in einem eigenen Tourismusgesetz zusammengefasst werden können, ({2}) um etwas mehr Klarheit für die Branche zu schaffen, eine alte Forderung auch unseres Ausschussvorsitzenden Ernst Hinsken. ({3}) Leider wurde die Forderung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zumindest einmal im Jahr die Betriebe mit weniger als acht Betten statistisch zu erfassen, nicht erfüllt. Für eine strategische und nachhaltige Tourismuspolitik wären aber gerade diese Zahlen von unschätzbarer Bedeutung. Gott sei Dank haben wir im Osten Deutschlands ein Projekt, das uns nähere Auskunft über die Bedeutung dieses touristischen Graumarktes gibt. ({4}) Das Sparkassen-Tourismusbarometer, das jährlich durch den Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverband und einige Agenturen mit neuen Themen fortgeschrieben wird, gibt den Ländern und Kommunen nunmehr seit vielen Jahren Ratschläge für eine positive Entwicklung des Tourismus zwischen Fichtelberg und Rügen. ({5}) Am kommenden Montag wird im Rahmen der ITB dieser bisher noch nicht durch die Statistik erfasste Graumarkt im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. ({6}) Vorab schrieb die „Fremdenverkehrswirtschaft“ am 7. März dieses Jahres: „Während das offizielle Übernachtungsvolumen für 2001 insgesamt 57,5 Millionen Übernachtungen in den neuen Bundesländern umfasst, liegt das ‚wahre‘ Marktvolumen mit 159,1 Millionen Übernachtungen mehr als zweieinhalb Mal so hoch. Zu diesem Volumen tragen Aufenthalte in Privatzimmern und Ferienwohnungen, der Sofatourismus - private Verwandtenund Bekanntenbesuche -, das Dauercamping und die Übernachtung in Freizeitwohnsitzen bei - ein bislang in dieser Höhe völlig unbekannter und daher auch im touristischen Marketing weitgehend vernachlässigter Markt.“ Wie Sie sehen, werden riesige Wirtschaftspotenziale und erbrachte Leistungen von unserem bisherigen Statistiksystem leider einfach ausgeblendet. Die CDU/CSUBundestagsfraktion sieht daher durchaus weitere Verbesserungsmöglichkeiten im Statistikgesetz. Denn das Sparkassen-Tourismusbarometer belegt, dass man auch ohne zusätzliche Bürokratie, ohne zusätzliche Kosten für die Betriebe und bei gleichzeitiger Wahrung des Datenschutzes zeitnahe Daten über die touristische Lage der Öffentlichkeit sowie politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern zur Verfügung stellen kann. - Wie Sie sehen: Die Statistik ist nicht alles, aber ohne Statistik ist alles nichts. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich die heutige Debatte für einen Ausblick auf die ITB, die größte Tourismusmesse der Welt, nutzen, die übermorgen hier in Berlin beginnt. Die ITB ist unzweifelhaft ein Seismograph für die bevorstehende Saison. Der Deutschlandtourismus wird wahrscheinlich von der gestiegenen Nachfrage nach erdgebundenen Verkehrsmitteln profitieren. ({7}) Damit ist die große Chance verbunden, neuen Zielgruppen die hohe Qualität des deutschen Tourismusangebotes zu präsentieren. ({8}) Im Gegensatz zu allgemein rückläufigen Gästezahlen haben viele Regionen in Deutschland in den letzten Monaten noch Gäste hinzugewinnen können. Es freut mich besonders, dass dies auch für sächsische Tourismus- und Feriengebiete zutrifft. ({9}) Die Absage einiger großer Reiseveranstalter und Fluggesellschaften bzw. deren deutlich reduzierter Messeauftritt auf der ITB zeigt die Kurzsichtigkeit dieser Unternehmen, die die erstbeste Gelegenheit nutzen, sich vom wichtigen internationalen Messestandort Berlin zu verabschieden ein falsches Zeichen zur falschen Zeit. ({10}) Abschließend möchte ich in der heutigen Debatte eine Bilanz der rot-grünen Tourismuspolitik ziehen. Die Bundesregierung hätte in den vergangenen Jahren die Chancen der Branche für mehr Arbeitsplätze beherzter nutzen können und müssen. ({11}) Offensichtlich gehört die große Liebe unseres Wirtschaftsministers Dr. Müller aber wohl vor allem der Energiewirtschaft. ({12}) - Davon habe ich bisher leider sehr wenig mitbekommen, Herr Kubatschka. ({13}) Sein Interesse für die mittelständisch geprägte Tourismusbranche als Jobmaschine und Leitökonomie des 21. Jahrhunderts hält sich dagegen leider in Grenzen. Das Einzige, was unter Wirtschaftsminister Dr. Müller gewachsen ist, ist die Schwarzarbeit. Hierzu nur eine Zahl: In diesem Jahr wird mit einem Volumen von 350 Milliarden Euro gerechnet. ({14}) Wir werden diese politische Einstellung zu den Millionen von fleißigen und engagierten Mitarbeitern, Unternehmern und Existenzgründern ab dem 22. September wieder zur Herzenssache einer von uns geführten Bundesregierung unter Kanzler Edmund Stoiber machen. ({15}) Im Gegensatz zu Minister Müller hat der scheidende Staatssekretär Siegmar Mosdorf die Initiativen der Opposition zu würdigen gewusst und viele unserer Ideen übernommen. Erinnert sei hier nur an das „Jahr des Tourismus in Deutschland 2001“, die Bemühungen, das SparkassenTourismusbarometer auf das ganze Bundesgebiet auszuweiten, und die Entwicklung der deutschen Nationalparke zu einer eigenständigen Premiummarke. An dieser Stelle hoffe ich, dass uns der neue Staatssekretär, Herr Staffelt, ebenfalls seine Unterstützung im Ausschuss zusagt und seine Punkte entsprechend setzen wird. ({16}) Der Deutschen Zentrale für Tourismus als Fenster Deutschlands in vielen Staaten der Erde möchte ich für unsere Fraktion ein herzliches Dankeschön sagen. Wir wollen nach dem 22. September 2002 die DZT deutlich stärken. Hier sehe ich keine Alternative. ({17}) Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht außer Acht lassen: Tourismuspolitik ist die beste und nachhaltigste, vielleicht auch kostengünstigste Außen- und Entwicklungspolitik. Deutschland ist Reiseweltmeister und leistet damit direkt und indirekt auch einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung vieler Länder unserer Erde. Eine Debatte zur Mittelstands- und Tourismuspolitik, bei der das Thema Rahmenbedingungen nicht angesprochen wird, ist wie ein Blinder, der über die Farben spricht. ({18}) Als ostdeutscher Abgeordneter möchte ich hier die Betrachtung besonders auf die Situation in den neuen Bundesländern lenken. Seit 1999 sinkt in Ostdeutschland die Kaufkraft stetig. Die Arbeitslosigkeit war seit 1990 noch nie so hoch wie unter Kanzler Schröder. ({19}) Die Investitionsquote in den neuen Ländern geht seit Jahren zurück. Dafür wächst die Zahl der Unternehmenspleiten auch im Tourismus auf ein neues Rekordniveau, wie heute „Die Welt“ schreibt. ({20}) In diesen Zusammenhang passt ein Kommentar über den Ostparteitag der SPD aus der „Freien Presse“ in Chemnitz von heute - ich zitiere -: Auf dem SPD-Ost-Parteitag in Magdeburg hat Schröder vollmundig den A-72-Bau zwischen Chemnitz und Leipzig versprochen. Kurz darauf ruderten Mitarbeiter im Bundesverkehrsministerium bereits wieder zurück. Ihr Motto: So war das alles nicht gemeint. Kein Wunder, dass Sachsens Wirtschaftsminister Schommer nun eine verbindliche Zusage verlangt. Und zwar vor dem Wahltag. ({21}) Meine Damen und Herren, die Halbwertszeit von Kanzlerversprechen liegt bei Gerhard Schröder mittlerweile nur noch bei Stunden. So sieht es also aus, wenn ein SPD-Bundeskanzler den Aufbau Ost zur Chefsache macht. Die rotgrüne Bundesregierung ist besonders in den ostdeutschen Ländern ein Risikofaktor mit erheblicher Standortgefährdung. Zusätzlich lässt sich die Sozialdemokratie zur Erhaltung ihrer Macht mehr und mehr auf die Bündnisse mit der PDS ein. ({22}) - Hören Sie doch einmal zu! ({23}) Überall, wo diese Bündnisse bestehen, sackt die Wirtschaft in den Keller. Insofern stellt sich für mich die Frage, warum der Genosse der Bosse und selbsterklärte Wirtschaftskanzler Gerhard Schröder nun sogar auf Bundesebene versteckte Bündnisangebote an die PDS aussendet. ({24}) Anscheinend regiert bei Rot-Grün nur noch die Panik. Die Angst vor dem Machtverlust geht um. ({25}) Diese Politik hat uns auch im EU-Vergleich die rote Laterne eingebracht. Deutschland ist in den wichtigsten wirtschaftlichen Kennzahlen erstmals Schlusslicht in Europa. Weltwirtschaftliche Krisen gab es auch schon vor dem 11. September 2001 und auch zu Zeiten einer CDU/ CSU-geführten Bundesregierung. Der entscheidende Unterschied dabei ist: Unter Bundeskanzler Helmut Kohl ({26}) waren wir selbst in der Krise noch die Lokomotive innerhalb Europas. ({27})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brähmig, ich muss Sie jetzt ein wenig bremsen. Ihre Redezeit ist nämlich abgelaufen.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin. - Heute, unter Gerhard Schröder, sind wir nur noch der Bremsklotz. Kollege Hinsken hat diese Situation vor zwei Wochen von diesem Platz aus sehr anschaulich dokumentiert. Das Tohuwabohu auf der Regierungsbank verdeutlichte, wie dünnhäutig die rot-grüne Bundesregierung geworden ist.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brähmig, sehr geduldig bin ich heute nicht.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Frau Präsidentin. Die Bundesregierung inszeniert bei jeder sich bietenden Gelegenheit angebliche Erfolge mit riesigen Show-Effekten. Wir werden sie aber nicht aus dieser Schlusslichtdebatte herauslassen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt haben Sie selbst das Stichwort Schlusslicht gegeben. Das rote Licht leuchtet schon eine Weile.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erlauben Sie mir noch einen letzten Satz. ({0}) Die letzten vier Jahre waren für Deutschland insgesamt und für die Tourismuspolitik im Besonderen vier verlorene Jahre. Der Mittelstand und die Wähler werden am 22. September Rot-Grün die Quittung präsentieren. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Opposition hier ein ganz schrecklich schwarzes Falschbild malt: Der Tourismus in unserem Land entwickelt sich gut, und zwar auch deswegen, weil Sie in der Opposition sitzen. ({0}) Weltweit zählt nämlich Deutschland neben den USA, Spanien, Frankreich und Italien nach wie vor zu den attraktivsten Urlaubszielen. (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt hat der Schröder auch noch die Alpen und die Ostsee gemacht! Die Entwicklung der Gästeübernachtungen in Deutschland war auch im Jahre 2001 positiv. Die Hotels, Pensionen und anderen Beherbungsbetriebe mit neun oder mehr Betten in Deutschland begrüßten im Jahr 2001 insgesamt 16,9 Millionen ausländische Gäste. Bevorzugte Reiseziele der ausländischen Touristen waren die deutschen Großstädte. Ganz anders ist das Reiseverhalten der deutschen Touristen, die es stärker in die stillen ländlichen Regionen mit schöner Natur und in kleinere Gemeinden zieht. Es ist gut, dass wir solche Zahlen und Verhaltenstrends kennen. Wir kennen sie, weil es eine Statistik gibt. Zugegeben, Gerippe sind nicht sonderlich malerisch, das Wortungetüm Beherbergungsstatistikgesetz auch nicht. Aber ohne eine solche Stütze wäre vieles schlechter, auch wenn sich uns der Charme des Ganzen erst auf den zweiten Blick erschließt. ({1}) - Euch erschließt er sich überhaupt nicht. Mit dem vorliegenden Gesetz wurde die Beherbergungsstatistik an zahlreiche gesetzliche, wirtschaftliche und europarechtliche Anforderungen angepasst. Das begrüßen wir alle, wie wir auch schon von Ihnen gehört haben. Ich gehe hier nur auf wenige Details ein: Erstmals werden jetzt die angebotenen Gästezimmer und nicht nur die Gäste und die Zahl ihrer Übernachtungen erfasst. Dieser auf den ersten Blick kleine Fakt hat eine große Wirkung. Die Branche erhält so einen viel genaueren Überblick über das bestehende Angebot und kann gegebenenfalls gezielt die Bedarfslücken füllen. Das neue Beherbergungsstatistikgesetz sieht auch vor, das Erhebungsprogramm zu straffen. Bund und Länder werden durch diese Neuerung Kosten sparen. Das ist, wie sicherlich auch Sie zugeben werden, eine gute Sache. Nicht alles ist von uns geändert worden. Wenn sich Altes bewährt hat, kann man es belassen. Dazu sage ich nur, dass die vorgesehene Streichung der Kur- und Rehaeinrichtungen aus der Beherbergungsstatistik wieder zurückgenommen worden ist. Als Ärztin war ich immer dafür, dass diese Daten erhoben werden; denn das Kur- und Bäderwesen stellt ein unverzichtbares Potenzial der Tourismuswirtschaft dar. Die in diesem Bereich getätigten Übernachtungen sind ohne Zweifel dem touristischen Verbrauch zuzuordnen, da sich Kur- und Rehateilnehmer vor Ort wie Touristen verhalten; ({2}) nur werden sie in diesem Fall Patient, Kurgast und Wellnesstourist genannt. Sie kaufen ein, gehen manchmal zum Essen aus und statten gelegentlich, mit oder ohne Kurschatten, dem Kino, dem Theater oder der freien Natur einen Besuch ab. Der Deutsche Heilbäderverband bezeichnet diese Gäste deshalb zu Recht als „Säule für die lokale und die regionale Tourismuswirtschaft“. Abschließend möchte ich die Gründe nennen, die mich zu der Überzeugung bringen, dass zukünftige Statistiken über die Beherbergung, aber auch über die anderen Indikatoren der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung des Tourismus in unserem Land einen positiven Trend aufzeigen werden, und zwar dank Rot-Grün und unserem Sachverstand, Herr Brähmig. Mit unserem Tourismusförderprogramm haben wir unter anderem die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Betreiber von Einrichtungen ihre Anlagen mit moderner Technologie ausstatten können und dass damit ein gewichtiger Beitrag zum Umweltschutz sowie für ein verbessertes Investitionsklima und so auch für den Arbeitsmarkt geschaffen wird. Die Bundesregierung stellt dafür Gelder in speziellen Förderprogrammen bereit. Mit der erfolgreichen Einführung der Umweltdachmarke Viabono kann sich der Kunde nun zuverlässig darüber informieren, ob sein Hotel umweltschonend geführt wird, die Küche Produkte aus der Region anbietet und ob er auch ohne Auto an sein Reiseziel kommen kann. Immer mehr Touristen - die meisten kommen, wie ich eben schon sagte, aus Deutschland; aber wir werben dafür, dass auch Ausländer hierhin kommen - entscheiden sich für Ferien in unseren Großschutzgebieten, also in Nationalparken, Biosphärenreservaten und Naturparken. Diese sind Qualitätsmarken für ganze Regionen. Daraus ergeben sich große Chancen auch für den Tourismus. Die von uns auf den Weg gebrachte Imagekampagne für Deutschlands Nationalparke kam also genau zur richtigen Zeit. Mit dem neuen Bundesnaturschutzgesetz haben wir ein modernes Naturschutzrecht geschaffen, das die Bewahrung unseres nationalen Naturerbes auf eine deutlich verbesserte Grundlage stellt, das Landschaftserleben für die Menschen deutlich verbessert und damit dem Tourismus dient, der auf den Erhalt dieser Landschaft angewiesen ist. Wir müssen die Menschen für das Land Deutschland begeistern. Veränderungen führen wir auch im Bereich der Mobilität und des Verkehrs herbei, indem wir die Förderung umweltschonender Verkehrsträger gewährleisten, was wiederum eine Entlastung für die Umwelt bedeutet. Hier ist auch die deutlich verbesserte Kooperation mit der Deutschen Bahn AG zu nennen, die zum Jahr des Tourismus schon gut war und die auch jetzt zum Internationalen Jahr des Ökotourismus ihren Beitrag leistet. Wir als Rot-Grün haben uns nicht nur viel für den Deutschlandtourismus vorgenommen, sondern die Bilanz kann sich schon jetzt sehen lassen. In den nächsten Monaten werden von uns weitere Initiativen in den Bundestag eingebracht werden. Ich hoffe, dass Sie auch diesen dann zustimmen werden. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher für die Fraktion der FDP.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir uns über das Beherbungsstatistikgesetz unterhalten. ({0}) Das wurde bisher fast vergessen. Ich möchte zunächst betonen, dass ich es für gut halte, dass wir dieses Gesetz heute wahrscheinlich mit großem Konsens verabschieden werden. ({1}) Das ist ein Zeichen dafür, dass es in diesem Hause durchaus möglich ist, inhaltliche, sachlich gerechtfertigte Dinge im Konsens zu regeln, nachdem man sich zusammengerauft hat. In diesem Gesetzentwurf von Rot-Grün waren Dinge strittig. Wenn keine Änderungen vorgenommen worden wären, hätten wir mit Sicherheit nicht zugestimmt. Es sollte der Kur- und Rehabereich aus der Tourismusstatistik herausgenommen werden. Das hätte - ich denke da zum Beispiel an mein Heimatland Baden-Württemberg - für Tourismusländer fatale Folgen gehabt; denn gerade im Zuge der Gesundheitsreform haben sich die Kur- und Rehaorte umgestellt. Für sie spielt heute Tourismus die größte Rolle. Wenn dieser Bereich herausgenommen worden wäre, hätte das von der Förderung bis zu vielen anderen Dingen Konsequenzen gehabt, die äußert kontraproduktiv gewesen wären. ({2}) Wir als Opposition haben das von Anfang an angemahnt. Wir, CDU/CSU und FDP, haben gemeinsam immer gesagt, dass wir so nicht zustimmen werden. Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir sind der Regierung und den Regierungsfraktionen weit entgegengekommen, indem wir ihnen immer Zeit gegeben haben, Kompromisse zu finden. Wir hätten dies auch publikumswirksam nach außen verkaufen können. Wir haben dies nicht getan, sondern haben im Sinne einer Lösung, die uns in der Sache weiterbringt, versucht, einen gemeinsamen Weg zu finden. Ich bin froh, dass die Regierung dann auf diesen Weg eingeschwenkt ist und wir heute einen Gesetzentwurf vorliegen haben, mit dem wir alle leben können und der auch zur vollsten Zufriedenheit aller Beteiligten ist. ({3}) Ich möchte auch ein wenig über den Inhalt reden. Hinsichtlich der Bettenstatistik begrüße ich es sehr - das ist wichtig -, dass die Abschneidegrenze von acht Betten bei der statistischen Erfassung bleibt. Wir reden alle in Sonntagsreden darüber, Bürokratie abzubauen. Sobald es aber konkret wird, sind wir ganz schnell bereit, neue Regelungen einzuführen. Deshalb habe ich mich immer dagegen gewehrt, noch eine zusätzliche Statistik zu schaffen. Wir können jetzt gleichzeitig mit der Prüfung einer Möglichkeit der Erfassung statistisch sicherer Daten bei kleineren Betrieben prüfen, wie man an anderer Stelle Statistiken einsparen kann. Ich glaube, dass dies der richtige Weg ist. Das begrüße ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich. ({4}) Von den Vorrednern wurde viel zum Deutschlandtourismus gesagt. Ich denke, wir alle hier in diesem Hause sind uns darüber einig, dass der Tourismus ein Wirtschaftsfaktor für die Bundesrepublik ist, der weit wichtiger ist, als dies in der Öffentlichkeit und leider manchmal auch in diesem Hohen Hause wahrgenommen wird. Deshalb ist es richtig, dass wir gemeinsam versuchen, weitere Maßnahmen zu treffen. Ich appelliere aber auch an die Regierungsfraktionen, diesen Weg weiter zu beschreiten und Dinge, die richtig sind, aber von der Opposition kommen, nicht nur deshalb abzublocken, weil sie von der Opposition kommen. Ich würde mich freuen, wenn wir bei der Frage der Ausschilderung von touristischen Attraktionen an Autobahnen weiterkämen. Ich denke aber, wir kommen hier weiter. ({5}) Ich freue mich aber auch auf die nachfolgende Debatte. Wir haben jetzt in einem wichtigen Punkt Konsens erzielt. Ich hoffe immer noch, dass wir auch nachher bei der Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung Konsens erzielen. ({6}) Gehen Sie noch einmal in sich. Wir werden darüber noch einmal inhaltlich diskutieren. Aber es bleibt noch Zeit für Sie, um nachzudenken. Wenn nicht, machen Sie doch wie heute Morgen eine kurze Fraktionssitzung und beschließen Sie das. Dann kämen wir heute zu zwei Einigungen. Darüber wären alle am Tourismus Beteiligten sehr froh. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Einen solchen Werbeblock schon für die nächste Debatte haben wir auch nicht alle Tage. Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosel Neuhäuser für die PDS-Fraktion.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brähmig, in zehn Minuten lässt sich viel sagen. ({0}) Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass Sie ein wenig mehr Inhalt rübergebracht hätten. ({1}) - Das war eine Wahlkampfrede, aber sie verhallt irgendwo. Wir haben 1998 den TAB-Bericht diskutiert. Die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP hatten die Grundlage für diesen Bericht geschaffen. Damals haben wir festgestellt, dass es in der Bundesrepublik Deutschland eine unterschiedliche Datenlage gibt, diese auch kritisiert und die Bundesregierung aufgefordert, dies zu ändern. Ich denke, die vorliegenden Gesetzentwürfe, die wir heute zu beschließen haben, tragen im Wesentlichen dazu bei, diese Unterschiedlichkeit zu beseitigen und die statistische Erfassung zu vereinfachen. Der Tourismus als Wirtschaftsfaktor findet in der wissenschaftlichen Literatur, in Veröffentlichungen und in Debatten von Politik und der Tourismusbranche selber eine breite Resonanz und wird gern für die Darstellung eines positiven Images benutzt. Wir haben dies auch vorhin bei der Rede des Staatssekretärs Staffelt gehört. Man findet zum Beispiel Zahlen zum Beitrag der Tourismuswirtschaft zum Bruttoinlandprodukt, zur Wertschöpfung, zur Beschäftigungs- und Ausbildungssituation, zur Umsatzentwicklung, zu Übernachtungszahlen usw. Aber genau diese Daten sind wenig transparent und nicht immer tragfähig, weil sie sehr unterschiedlich „gehändelt“ werden. Sowohl die amtliche Statistik als auch die wissenschaftliche Forschung liefern voneinander abweichende bzw. schwer vergleichbare Zahlen. Deshalb sagen Experten immer wieder, dass Prognosen und perspektivische Betrachtungen für die Zukunft des Tourismus mit Vorsicht zu benutzen sind. Wenn die Datenlage so widersprüchlich war und ist, dann lässt sich in der Politik nur unzureichend über die Bedeutung des Tourismus in der Wirtschaft kommunizieren, lassen sich wirtschaftliche Risiken ebenso wie Wachstumspotenziale nur unzureichend darstellen und sind angemessene Instrumente und Maßnahmen schwierig zu wählen. Ich möchte ein Beispiel dafür, wie es mit der Datenlage insgesamt aussieht, nennen. Es geht um den Bereich der Kinder- und Jugendreisebranche. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugenderholungszentren, das Deutsche Jugendherbergswerk, das Kolping Familienwerk, die Naturfreundejugend und das Reisenetz gründeten 1998 den runden Tisch der Unterkünfte. Sie bewirtschaften insgesamt 1 130 Beherbungsstätten mit 102 000 Betten für junge Gäste mit jährlich etwa 13 Millionen Übernachtungen. Die Datenbank über Kinder- und Jugendunterkünfte erfasst aber nur knapp 5 000 Häuser. Wo finden wir diesen wichtigen Bereich als Wirtschaftsfaktor wieder? Wer schmückt sich mit diesen Zahlen? Hier sehe ich unter anderem eine mögliche neue Herausforderung für das Tourismusbarometer des Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, um diese unbefriedigende Situation zu beheben, war es an der Zeit, Verbesserungen der amtlichen Statistik und eine fundierte ökonomische Grundlagenforschung im Bereich des Tourismus zu unterstützen. Die wirtschaftliche Bedeutung und die Perspektiven des Tourismus können so stärker in den Blickpunkt wirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer Betrachtungen gerückt werden. Es wäre geradezu absurd, der Tourismusbranche die Basis für eine qualifizierte Branchenbeobachtung zu beschneiden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Neuhäuser, jetzt muss ich Sie aber ermahnen. ({0})

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. - Nein, ich habe keine sieben Seiten mehr. Die Beherbungsstatistik ist Grundlage für tourismuspolitische Entscheidungen, für infrastrukturelle Planungen und für Maßnahmen der Tourismuswerbung und der Marktforschung. Deshalb werden wir diesen zwei Gesetzentwürfen zustimmen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber für die SPD-Fraktion. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich unserem bisherigen Parlamentarischen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Mosdorf namens der SPD-Fraktion für seine Arbeit sehr herzlich danken. Ich bin überzeugt, dass dies mit unserem neuen Staatssekretär, Herrn Ditmar Staffelt, genauso sein wird. ({0}) Ich weiß, dass er die Interessen der Tourismusbranche und der Tourismuspolitik im Wirtschaftsausschuss bereits vehement vertreten hat. Herr Staatssekretär, ich freue mich, dass Sie bereits heute hier zu diesem Thema geredet haben. Manche Tage erhellen einen wirklich und man weiß, woran man ist. So hat mir auch die geschmacklose BeRosel Neuhäuser merkung des Kollegen Brähmig zu meiner Wahlniederlage in Bayern gezeigt, woran ich mit ihm bin. Ich weiß jetzt, was für ein Mensch Sie sind. Die weitere Zusammenarbeit werde ich entsprechend gestalten. ({1}) - Herr Hinsken, auch Ihre heuchlerische Einlassung möchte ich nicht weiter werten. ({2}) Ich möchte jetzt zum eigentlichen Thema kommen, da das nicht das Thema der Auseinandersetzung ist. Es geht vielmehr um das Beherbergungsstatistikgesetz, dessen Novellierung wir heute beschließen. Das Beherbergungsstatistikgesetz hat für die Betriebe in der Analyse der Konjunktur einen unschätzbaren Wert. Es ist ein unverzichtbares Hilfsmittel für Investitionen im Gastgewerbe und genießt eine hohe Priorität bei der heimischen Wirtschaft. Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums für die in diesem Zusammenhang geleistete Arbeit und auch für die Arbeit, die durch die Entschließung noch entstehen wird, bedanken. ({3}) Die Novelle wird allen Interessen gerecht werden: Erstens hat sie erreicht, dass die Statistik in Bezug auf die Harmonisierung der Europäischen Union angepasst wird. Zweitens ist ein 20-jähriges Ringen der Hotelbranche um eine Erfassung der Auslastung der Zimmer jetzt endlich erfolgreich. Herr Brähmig, Sie und Ihre Fraktion hätten 16 Jahre lang Gelegenheit gehabt, diesen Wunsch der Branche zu erfüllen, in der Statistik die Zimmerauslastung und nicht nur die Bettenauslastung zu erfassen. ({4}) Dies haben Sie nicht getan. Dies ist jetzt ein Erfolg der rot-grünen Bundesregierung und zeigt, wie mittelstandsfreundlich wir sind. ({5}) Sie reden zwar immer, aber handeln nicht. ({6}) Sie bluffen nur und ergehen sich in Larmoyanz. Ihre Rede wäre vielleicht vor dem Kreisverband Pirna, aber nicht vor dem Deutschen Bundestag passend gewesen. ({7}) Drittens bleiben die Vorsorge- und Rehaeinrichtungen in der statistischen Erfassung. Für diese Betriebe entstehen durch die Berichtspflicht keine nennenswerten Belastungen. Auch darum ging es natürlich. Im Kur- und Bäderwesen sind im Jahr 2000 2 Millionen Patienten versorgt worden. Dies entspricht einer Zahl von 51,6 Millionen Übernachtungen. Für diese Übernachtungen erhalten die Gemeinden die Schlüsselzuweisungen in den Bundesländern, die diese nach der Beherbergungsstatistik vergeben. Das ist für die Kommunen äußerst wichtig. Zusätzlich erhalten die Gemeinden dafür die Kurtaxe. Durch die Streichung aus dem Gesetz wären vermutlich die Zahlungen der Kurtaxe, die die Kranken- und Rentenversicherungsträger für die Kurgäste abführen, eingestellt worden. Ich glaube, es ist ein riesiger Erfolg, dass wir das verhindert haben. ({8}) Ich möchte mich ausdrücklich bei dem Kollegen Burgbacher für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. ({9}) - Herr Hinsken, auch hier gilt das strucksche Gesetz, dass kein Gesetzentwurf das Parlament so verlässt, wie er hereingekommen ist. ({10}) Ansonsten wäre das Parlament überflüssig, wenn nur die Beschlüsse der Regierung umgesetzt würden. ({11}) Vorlagen zu beraten ist unsere Aufgabe. Diese haben wir mit und nicht gegen die Regierung erfolgreich gelöst. ({12}) Jetzt komme ich zu einem anderen Erfolg. Wir haben im Jahr 2000 bei den Patientenzahlen Zuwächse um 6,8 Prozent gehabt. Zum Vergleich: 1997, als Sie an der Regierung waren, gab es einen Rückgang um 17,8 Prozent. 1998 haben wir mit einem Zuwachs von 10,8 Prozent, 1999 von 9,7 Prozent aufgeholt. ({13}) Bei der Beschäftigung gab es im Jahr 2000 einen Zuwachs um 4,1 Prozent. Ich glaube, dass man auch noch einen weiteren Aspekt hinzufügen kann, dass nämlich auch die Umsätze im Gastgewerbe wieder gestiegen sind und zwar um 0,9 Prozent. ({14}) - Wenn ich mehr Redezeit hätte, könnte ich darauf noch eingehen. Aber ein wichtiger Punkt, der in dieser Novelle enthalten ist, ist der, dass künftig auch eine Erhebung für Betriebe unter acht Betten einmal jährlich stichprobenartig gemacht werden soll. ({15}) Nach unserer Meinung soll dies bei den prädikatisierten Orten in Deutschland geschehen. ({16}) Leider habe ich kaum noch Redezeit, sonst könnte ich noch auf einen anderen Punkt eingehen. ({17}) Die Statistik ist im Ganzen auch billiger geworden. Das ist ein nicht unwesentlicher Aspekt, da wir einen Haushalt haben, bei dem wir jeden Euro dreimal umdrehen müssen. Diesen Schuldenberg, der der Grund dafür ist, dass wir jetzt so sparen müssen, haben Sie uns nach 16 Jahren Regierung hinterlassen. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie haben sicherlich schon das Blinklicht gesehen, was das Ende Ihrer Redezeit bedeutet. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldigung, Frau Präsidentin, für die Überziehung. - Ich möchte jetzt zum Schluss kommen. Lassen Sie mich noch einen Dank an den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband aussprechen. Er hat auf die zehnjährige Totalerhebung der Gaststätten und die sechsjährige Kapazitätserhebung verzichtet. Dies hat zu einer Erleichterung geführt. ({0}) Auf die übrigen Erfolge unserer Politik kann ich jetzt leider nicht eingehen. Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass wir im Jahr 2000 ein Rekordjahr im Deutschlandtourismus hatten und im Jahr 2001 trotz des 11. September eine Zunahme bei den Übernachtungen von 1 Prozent hatten. ({1}) - Das hat auch etwas mit unserer guten Politik zu tun. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 14/6392 zur Neuordnung der Statistik über die Beherbergung im Reiseverkehr. Der Ausschuss für Tourismus empfielt unter Buchstabe a) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8475, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden. ({0}) - Es ist nicht meine Aufgabe, das zu kommentieren. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Tourismus un- ter Buchstabe b) seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Entschließung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Entschließung ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9, der bereits von dem Kollegen Burgbacher angekündigt worden ist, auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Bartholomäus Kalb, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages - Drucksache 14/4938 ({1}) ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes ({3}) - Drucksache 14/5233 ({4}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({5}) - Drucksache 14/6216 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Ernst Burgbacher b) Berichte des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksachen 14/6217, 14/8427 Berichterstattung: Abgeordnete Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Günter Rexrodt Dr. Christa Luft Hans Jochen Henke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Erster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Horst Schild.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hinsken, wir kommen in der Sache schon voran. Bislang haben wir das Thema immer zu viel späterer Stunde diskutiert. Aber die Hartnäckigkeit, mit der die Antragsteller ihr Anliegen vertreten, ist durchaus beeindruckend. ({0}) Ich verhehle nicht, dass für eine Modifizierung der Trinkgeldbesteuerung auch in unserer Fraktion und dort insbesondere bei den Tourismuspolitikern durchaus Sympathie besteht. ({1}) - Moment. Wenn der Gesetzgeber das geltende Recht bei der Besteuerung von Trinkgeldern modifizieren will, sollte er sich zunächst mit den rechtlichen Fragen eines solchen Vorhabens gründlich befassen. Das ist bislang bei den Antragstellern nicht erfolgt. Der Gesetzgeber ist in seinem politischen Wollen an das Gleichheitsgebot des Art. 3 des Grundgesetzes und an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden. Er ist insofern gehalten, die daraus folgenden Steuerprinzipien auch bei gesetzgeberischen Vorhaben zu beachten. Das Anliegen, das einem sehr am Herzen liegt, allein reicht nicht aus. Ich will versuchen, Ihnen das an einem Beispiel der steuerlichen Behandlung der Trinkgelder zu verdeutlichen. Nach § 3 Ziffer 51 des Einkommensteuergesetzes beträgt der gegenwärtige Freibetrag für Trinkgelder 1 224 Euro. Die Dimension dieses Freibetrages wird am besten anhand eines Beispiels verdeutlicht: Nimmt man eine Beschäftigte, die jährlich 24 000 Euro verdient - das ist in der Branche schon ein relativ hohes Einkommen - und zusätzlich 5 Prozent Trinkgeld bekommt, dann ergibt sich ein Trinkgeld von 1 200 Euro, das völlig steuerfrei bleibt. ({2}) - Das ist in Ordnung. Das ist die gegenwärtige Rechtslage. Man kann durchaus die Auffassung vertreten, dass das angemessen und ausreichend ist. Lassen Sie mich einige Gesichtspunkte zur Steuersystematik vortragen, mit denen Sie sich oder wir uns auseinander setzen müssen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - das ist nicht neu - sind Trinkgelder Arbeitslohn und zu versteuerndes Einkommen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Moment, Frau Präsidentin. Deshalb reicht es nicht, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, das sei nicht mehr zeitgemäß, Herr Burgbacher. Das ist eine Kategorie, mit der wir im Steuerrecht nichts anfangen können. ({0}) Bitte schön, Herr Hinsken.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich gehe davon aus, dass Sie die Frage zulassen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schild, können Sie mir sagen, wie viel Geld der Staat durch die Trinkgeldsteuer im vergangenen Jahr bzw. in den vergangenen Jahren jeweils eingenommen hat? ({0}) Pflichten Sie in dem Fall nicht dem Bundeswirtschaftsminister Müller bei, der gesagt hat: „Wenn man schon nicht weiß, wie viel Geld damit eingenommen wird, kann sie wieder abgeschafft werden“?

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, ich versuche gerade, deutlich zu machen, dass es bei solchen Fragen um Gleichbehandlung, Verfassungsgrundsätze und die Steuersystematik geht. ({0}) Ob es um Einnahmen in Höhe von 3 Millionen oder 30 Millionen Euro geht, ist nicht die entscheidende Frage. ({1}) Entscheidend ist, dass jede steuerliche Regelung auf den Prüfstand der Verfassungsmäßigkeit gestellt werden muss. ({2}) Vizepräsidentin Petra Bläss Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir es zuerst beurteilen. Dann können wir immer noch über die steuerlichen Auswirkungen reden. Herr Kollege Hinsken, ich fahre jetzt fort. ({3}) - Das Problem ist doch, dass Sie von einer völlig verengten Sicht ausgehen, wenn Sie die Frage in den Mittelpunkt stellen, ob damit Steuerausfälle in Höhe von 3 Millionen oder 30 Millionen Euro verbunden sind. ({4}) Ich möchte auf Folgendes aufmerksam machen: Das Einkommensteuerrecht muss die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und der gleichmäßigen Besteuerung aller Steuerpflichtigen erfüllen. Das ist Ihnen doch bekannt, Herr Kollege Hinsken und Herr Kollege Michelbach. Der Gesetzgeber kann doch nicht willkürlich handeln. ({5}) Er hat diese Prinzipien zu beachten. Dazu darf ich aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs zur Frage der Trinkgeldbesteuerung aus dem Jahr 1999 zitieren: Würden ... freiwillige Trinkgelder von der Besteuerung völlig freigestellt, so würde dies andererseits den Anspruch auf Gleichbehandlung derjenigen Arbeitnehmer berühren, die bei gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ihren Arbeitslohn in vollem Umfang zu versteuern haben. Das hat der Bundesfinanzhof unter ausdrücklicher Würdigung des Vorschlags von Professor Bareis ausgeführt. Das ist eine Kernaussage des Bundesfinanzhofs zur Besteuerung von Trinkgeldern, die wir bei jeder Änderung des Steuerrechts zu berücksichtigen haben. Das Argument - das bringt die FDP in ihrem Antrag vor -, eine völlige Nichtbesteuerung von Trinkgeldern sei gerechtfertigt, weil ein ungleichmäßiger Vollzug der Besteuerung durch die Finanzämter erfolge, trifft zumindest nach Auffassung des Bundesfinanzhofs nicht zu. Trotzdem werden wir die Bundesregierung bitten, eine Bestandsaufnahme durchzuführen, in der die Praxis der Finanzverwaltungen in den einzelnen Ländern aufgelistet und vergleichbar gemacht wird. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für einen solchen Nachweis. Der Bundesfinanzhof hat festgestellt, dass der Nachweis, dass es zu einer ungleichmäßigen steuerlichen Behandlung komme, von den Klägern nicht erbracht werden konnte. Wir werden die Bundesregierung bitten und hoffentlich bald einen Bericht bekommen, der es uns erlaubt, zur Frage der steuerlichen Behandlung in den einzelnen Bundesländern etwas mehr zu sagen. Nach der Rechtsprechung wendet die Finanzverwaltung - jedenfalls nach den bisherigen Erkenntnissen - im Zweifelsfall maßvolle Schätzgrößen bei der Trinkgeldbesteuerung an. Ein wichtiger Punkt ist weiterhin, dass in der Steuerpolitik das Postulat der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei sinkenden Steuersätzen verwirklicht wird. Darin waren wir uns alle einig. Das steht in der Begründung eines jeden Gesetzentwurfes. Das heißt, es soll keine Ausnahmetatbestände geben und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung soll gewährleistet sein. Es sind schließlich die Ausnahmen von der Steuerregel, die unser Steuersystem ständiger Kritik aussetzen. Wir - das gilt sicherlich nicht nur für die Finanzpolitiker - sollten darauf achten, dass unser Steuerrecht nicht durch weitere Ausnahmen unüberschaubar wird und zu einer ungleichmäßigen Steuerbelastung führt, die dann wiederum auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts steht. ({6}) Das haben wir in der Vergangenheit ja mehrmals erleben dürfen, zuletzt bei der Frage der steuerlichen Behandlung der Alterseinkünfte. Es waren ja nicht gesetzgeberische Maßnahmen der jetzigen Koalition, die Anlass für das Urteil waren. Mir drängt sich auch die Vermutung auf, dass sowohl CDU/CSU als auch FDP die Folgewirkung ihrer Vorschläge nicht hinreichend im Blick haben. Schon die Bareis-Kommission hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Missbrauch durch Umwandlung von Lohnbestandteilen in Trinkgelder im Falle ihrer Steuerfreiheit unterbunden werden muss. Zumindest darauf müsste man sich verständigen. Es würde ansonsten zwangsläufig ein Anreiz für Arbeitgeber bestehen, den regulären Lohn mit Hinweis auf steuer- und sozialabgabenfreie Trinkgelder zu senken. ({7}) Das würde die Position der Arbeitnehmer gegenüber der der Arbeitgeber schwächen. Schon gegenwärtig - auch das gilt es zu bedenken - liegt der im Gastronomiebereich gezahlte Tariflohn mit Hinweis auf anfallende Trinkgelder unter dem für vergleichbare Tätigkeiten. Zumindest ist das nach meiner Erkenntnis bei Tarifverträgen in Baden-Württemberg - das dürfte kein Einzelfall sein - der Fall. Wir können auch ins Ausland schauen: Wer in die USA reist, wird feststellen, dass er böse angeschaut wird, wenn er weniger als 25 Prozent des Rechnungsbetrags als Trinkgeld gibt. Das liegt daran, dass dort aufgrund entsprechender Regelungen Kellner sowie anderes Bedienungs- und Servicepersonal fast ausschließlich von den Trinkgeldeinnahmen leben müssen. Das wollen wir jedenfalls nicht. Wie Sie wissen, knüpfen die Sozialabgaben an die steuerliche Qualifizierung der Einnahmen an. Fehlende Sozialversicherungsabgaben können sich auch nachteilig für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auswirken. Denken Sie nur an die Altersvorsorge! Es hat Folgen für die Alterseinkünfte, wenn 4 Prozent und mehr des Einkommens nicht sozialversicherungspflichtig sind. Sie sollten also nicht immer beklagen, wir trügen zur ständigen Senkung des Niveaus der gesetzlichen Rente bei. Sie müssen sich schon fragen lassen, ob sich bei der Umsetzung Ihrer Vorstellungen nicht ein GerechtigkeitsHorst Schild problem hinsichtlich der anderen Steuerpflichtigen ergibt. Ich habe das ja bereits bei dem Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung ausgeführt. Man kann das aber auch ganz konkret darstellen - ich hebe dabei auf das Verfassungsgebot der steuerlichen Gleichbehandlung ab -: Warum sollen Arbeitnehmer Trinkgelder gar nicht oder, wie es die CDU/CSU vorschlägt, erst ab 2 100 Euro versteuern, während Freiberufler freiwillig gegebene Zuzahlungen oder Trinkgelder vom ersten Euro an versteuern müssen? Das mag in der Praxis nicht so bedeutend sein. Wenn man das aber einer rechtlichen Überprüfung unterziehen würde, dann würde man sicherlich feststellen, dass das ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz ist. ({8}) - Das ist ein anderes Problem. Aber daran können Sie die Folgewirkung Ihrer Vorschläge sehen. In der Diskussion über die in Ihren Anträgen erhobene Forderung, den Freibetrag für Trinkgelder anzuheben bzw. sie steuerlich ganz freizustellen, hat der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels darauf hingewiesen, dass das auch für die Arbeitnehmerrabatte gelten müsse. Hier geht es nicht mehr um 3 Milliarden oder 4 Milliarden Euro, sondern um ganz andere Dimensionen. ({9}) - Es ist in unserer Fraktion bisweilen möglich, dass man anderer Auffassung als der Kanzler ist. ({10}) Der Kanzler wird allerdings das letzte Wort haben. Darauf können Sie sich verlassen. Ich möchte noch auf einen anderen Sachverhalt hinweisen. Sie sprechen - das gilt insbesondere für den Antrag der FDP-Fraktion - von Schenkungen. Bekommt ein Arbeitnehmer aber ein Geschenk von einem Dritten, dann handelt es sich nach unserem gegenwärtigen Einkommensteuerrecht um Einnahmen, die nach § 8 des Einkommensteuergesetzes zu versteuern sind. Eine Zuwendung, die einem Arbeitnehmer - es spielt keine Rolle, ob vom Arbeitgeber oder von einem Dritten - gewährt wird und deren Wert die Grenze von 50 Euro monatlich überschreitet, muss in vollem Umfang versteuert werden. Auch das berührt den Gleichheitsgrundsatz. Ich sage ja nicht, dass man das nicht ändern kann. Aber man muss es wenigstens bedenken. Ich frage insbesondere die Kollegen von der FDP-Fraktion: Sieht so eine gerechte Besteuerung aus? - Ich denke, hier müssen Sie sich noch ein bisschen mehr einfallen lassen. Nicht zuletzt müssen wir auch bedenken, dass neben den Steuereinnahmen zwangsläufig auch die Einnahmen der Sozialversicherungen zurückgehen werden. Ich habe das vorhin im Zusammenhang mit der Rente deutlich zu machen versucht. Auf die Fragen, die ich hier aufgeworfen habe, geben Ihre Anträge keine Antwort. Deshalb werden wir ablehnen müssen. All die Fragen, die ich formuliert habe, werden die Koalitionsfraktionen sorgfältig prüfen. Vom Ergebnis dieser Prüfung - in diesem Prozess sind wir bereits - werden wir unsere weitere Haltung abhängig machen. ({11}) Weil ich noch einige Sekunden Redezeit habe, sei mir noch ein Wort ganz zum Schluss erlaubt: Sie haben in dieser Frage 16 Jahre nichts getan. ({12}) Da wird uns sicherlich zugestanden werden, dass wir noch ein paar Tage benötigen, um diese Prüfung zum Abschluss zu bringen. Ich danke Ihnen. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Schild, wir besprechen das Thema nicht zuletzt deshalb, weil bei jeder Gelegenheit, wenn mehr als drei Kellner oder Hoteliers zusammenstehen, irgendeiner von den Sozis aufspringt und sagt: Wir schaffen die Trinkgeldbesteuerung ab. Nur, wenn es darauf ankommt, das hier im Bundestag umzusetzen, geschieht nichts. Da klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. ({0}) Auf die steuersystematischen Gesichtspunkte, die Sie angeführt haben, werde ich gleich eingehen, Herr Schild. Vorab möchte ich eine Würdigung der Situation vornehmen. Wir haben heute drei Varianten zur Auswahl. Nach der ersten Variante, die Herr Burgbacher gleich begründen wird, soll - das ist der Kern - ein neuer Ausnahmetatbestand in unserem ohnehin schon komplizierten Steuerrecht geschaffen werden. SPD und Grüne legen wie in den meisten Politikbereichen die Nullvariante vor und sagen: Ruhige Hand! Wir machen gar nichts. Es besteht kein Handlungsbedarf. ({1}) Die CDU/CSU als die große bürgerliche Kraft in der Mitte der Gesellschaft ({2}) legt wie immer einen vernünftigen Vorschlag vor. ({3}) Zunächst zu den geschätzten Kollegen von der FDP. Auch wir von der CDU/CSU wollen nicht, dass das Trinkgeld, das wir jemandem, weil er uns gut bedient hat, weil er uns eine hervorragende Serviceleistung geboten hat, zukommen lassen, eben in Anerkennung dieser persönlichen Leistung, in den klammen Kassen von Eichel landet. Wir wollen eine Dienstleistungskultur in Deutschland. Wir wollen die Wachstums- und Beschäftigungschancen, die im Tourismussektor, einem der wenigen noch wachsenden Wirtschaftszweige, vorhanden sind, für unsere Volkswirtschaft nutzen. ({4}) Wir wollen gegenüber den dort Beschäftigten, die uns mitten in der Nacht, an Sonn- und Feiertagen, wann immer wir den Service haben wollen, bedienen, diese besondere Wertschätzung zum Ausdruck bringen können, ohne das Gefühl haben zu müssen: Das landet letztlich doch bei Eichel im Sack. ({5}) Aber wir müssen natürlich die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - Herr Schild, insofern gehe ich auf Ihren Beitrag ein - in Betracht ziehen. Zu nennen sind die Problembereiche „Gleichheit der Belastung“ und „Gleichheit der Belastungswirkung“. Es gibt auch in anderen Wirtschaftsbereichen vielfach variable Gehaltsbestandteile, die leistungsbezogen gewährt werden. Damit ist das Trinkgeld natürlich vergleichbar. So empfindet es auch der einzelne Trinkgeldempfänger. Weil er eine Leistung besonders gut erbracht hat, bekommt er mehr für diese Leistung. Genau so wird es wahrgenommen. Insofern ist die Einteilung des BFH, dass das ein Gehaltsbestandteil ist, nicht so einfach von der Hand zu weisen. Ihre einfache Lösung - mit Verlaub, liebe Kollegen von der FDP - ist eben nur vermeintlich einfach. Sie lädt zum Gestaltungsmissbrauch ein. ({6}) Deshalb können wir sie im Rahmen unserer Einkommensteuersystematik nicht abbilden. Wir haben einen synthetischen Einkommensteuerbegriff. Dabei wird alles, was in einer Wirtschaftsperiode zufließt, sei es aus unselbstständiger Arbeit, sei es aus Vermietung und Verpachtung, seien es Zinseinnahmen aus Vermögen, zusammengefasst. Dann werden die Werbungskosten, die man aufwenden muss, um dieses Einkommen zu erzielen, abgezogen und es wird noch die persönliche Situation berücksichtigt. So kommen wir zu dem Einkommen, das die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit widerspiegelt, und das ist die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer. Daran haben wir immer festgehalten. Deshalb ist unsere Antwort die richtige. Nach zwölf Jahren - 1990 erfolgte die letzte Anpassung - muss der Freibetrag wieder kräftig angehoben werden, damit das, was wir mit der Einführung dieses Freibetrags erreichen wollten, ökonomisch auch noch bewirkt wird. ({7}) Liebe Kollegen von der SPD und von den Grünen, wenn man in einem Bereich einen Freibetrag einführt, so geschieht dies, weil man erkannt hat, dass es zur Vermeidung übermäßigen Verwaltungsaufwands im Verhältnis zur Ergiebigkeit der betreffenden Steuereinnahmen klug ist, Bagatellfälle unter den Tisch fallen zu lassen. Wenn man diese Richtung einmal eingeschlagen hat, dann muss man logischerweise auch den nächsten Schritt gehen: Wenn sich Inflation und Gehaltsentwicklung fortentwickelt haben, dann muss man die Freibeträge periodisch anpassen. Das haben wir bei den Übungsleiterpauschalen und in anderen Bereichen gemacht. Das muss man auch auf diesem Gebiet machen. Wir schlagen konkret vor, den Freibetrag von 2 400 DM auf 4 200 DM, also um 75 Prozent, zu erhöhen. Nach zwölf Jahren des Stillstands ist das keine übermäßige Steigerung. Wir würden damit den überwiegenden Teil der Trinkgeldeinnahmen steuerfrei stellen, ohne dass - diese Bremse wäre nach wie vor vorhanden - die Möglichkeit zum Gestaltungsmissbrauch gegeben ist. Damit würde zugleich den Finanzbehörden das Signal gegeben, dass der Gesetzgeber nicht der Auffassung ist, angesichts der knappen Ressourcen der Finanzbehörden müsse sozusagen mit Hochdruck darauf geachtet werden, ob auch die letzte Trinkgeldmark richtig deklariert ist. Stattdessen vertreten wir die Auffassung: Wir wollen, dass das, was durch Trinkgelder durchschnittlich verdient wird, steuerfrei bleibt. ({8}) Wir können auf diese Art und Weise eingeübte, relativ einfache Handhabungen in der betrieblichen Praxis fortsetzen, seien es Tronc- oder Verteilungssysteme mit Punkten, über die auch diejenigen, die nicht direkt an der Kundenfront, sondern in der Küche, am Empfang oder wo auch immer ihren Dienst tun, an der Gesamtleistung, die das Haus erbringt, beteiligt werden. Unser Vorschlag ist also schlüssig. Er hat eine innere Logik. Er bewegt sich im Rahmen unseres synthetischen Einkommensteuerbegriffes. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir sind uns einig, dass die Bürger bei uns zu viel Steuern und zu viel Abgaben zahlen. ({9}) Dieses Problem gehen wir gemeinsam an. Unsere Lösung lautet: dreimal 40 Prozent. Wenn wir ab September an der Regierung sind, dann werden wir mit Ihnen vereinbaren, das Ziel zu erreichen, ({10}) dass der Staat niemandem in diesem Land mehr als 40 Prozent Steuern abnimmt, dass der Gesamtsozialversicherungsbeitrag und dass die Staatsquote unter 40 Prozent fallen. Das müssen wir in Deutschland erreichen. ({11}) Zur Tourismuspolitik von SPD und Grünen passt nur eine Überschrift: Versprochen - gebrochen! ({12}) Dasselbe gilt für alles, was Sie im wirtschafts-, finanz und steuerpolitischen Bereich vorgelegt haben. Im Mai 1998 - Frau Kastner, Sie haben das damals verantwortet - wurden die tourismuspolitischen Grundsätze der SPD aufgestellt. In dem entsprechenden Papier steht zum Thema Maßnahmen - ohne irgendeinen Vorbehalt - die schlichte Forderung nach der Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Dieses Versprechen haben Sie den Bürgern gegeben. Warum erfüllen Sie dieses Versprechen denn jetzt, wo Sie die Mehrheit haben, nicht? ({13}) Versprochen - gebrochen! Anfang 1999 sagte Bundesminister Müller bei der ITB-Eröffnung - dies ist ein anderer Bereich, über den wir auch schon diskutiert haben -, er werde sich nachhaltig dafür einsetzen, dass die Umsatzsteuerbelastung im Hotelleriebereich reduziert wird. Nichts ist geschehen. Versprochen - gebrochen! Noch am 5. Februar dieses Jahres hat Bundesminister Müller auf einer Veranstaltung des Tourismusverbandes Ostbayern in Plattling die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung gefordert. Mein Kollege Hinsken verfolgt alles, was im touristischen Bereich passiert, sehr aufmerksam und er ist der beste Sachwalter für Tourismus in Deutschland überhaupt. ({14}) Er hat diese Aussage des Bundesministers nicht auf sich beruhen lassen, sondern gleich Müllers Kollegen Eichel gefragt, wie es mit diesem Vorhaben stehe. Auf Hinskens Frage an das Haus Eichels, ob man die Auffassung Müllers teile, hat Herr Diller gesagt: Herr Müller begegnet diesem Ansinnen mit Sympathie; aber an der Haltung des Bundesfinanzministers ändert sich nichts. ({15}) Wir können uns doch einen Wirtschaftsminister sparen, der das, was er vorhat, nicht durchsetzen kann. Zumindest sollte er sich nicht öffentlich äußern; denn das, was er ankündigt, wird sowieso nicht umgesetzt. ({16}) Wir sind schon heute gespannt, welches neue Versprechen Bundesminister Müller am nächsten Samstag bei der Eröffnung der diesjährigen ITB geben wird. Später wird es gebrochen. Wir sind sicher, dass es wieder so kommen wird. Der Fisch fängt bekanntlich am Kopf an zu stinken. Das lässt sich auch durch einschlägige Zitate von Bundeskanzler Schröder belegen. Im März 1999 sagte er beim Bundesverband der deutschen Tourismuswirtschaft zur Trinkgeldbesteuerung: Darum werde ich mich persönlich kümmern. ({17}) Das ist die schlimmste Drohung, die in diesem Land für irgendeinen Politikbereich ausgesprochen werden kann. ({18}) Die Bürger wissen schon Bescheid: Der Bundeskanzler liebt die Inszenierung im grellen Scheinwerferlicht. Der Bundeskanzler liebt es, dem jeweiligen Publikum mit schmeichelnden Worten zu gefallen, ({19}) und der Bundeskanzler liebt markige Worte wie „Chefsache“, „Machtwort“, „mich selbst kümmern“. Aber wenn es an die Umsetzung geht und die Fernsehscheinwerfer ausgeschaltet sind, sucht der Bundeskanzler schon wieder nach der Schlagzeile für die nächste Tageszeitung. Die Menschen bleiben mit ihren Problemen zurück. Versprochen - gebrochen, so auch beim Kanzler. ({20}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün, Sie können sich nicht mehr so leicht wie wir, die CDU und CSU, auf steuersystematische Gründe berufen. Sie haben die Steuersystematik verlassen. Es gibt in unserer Einkommensbesteuerung den synthetischen Einkommensbegriff doch nicht mehr; ({21}) denn Sie haben die Mindestbesteuerung eingeführt, die Einschränkung bei der Verlustverrechnung vorgenommen und das Vollanrechnungsverfahren aufgegeben. All das waren Angriffe auf den Einkommensbegriff, der der Einkommensbesteuerung zugrunde lag. Insofern können Sie diesen Vorwand heute nicht mehr vorbringen, wenn Sie gegenüber den Interessengruppen und Ihren Wählern begründen wollen, warum Sie Ihre Wahlversprechen nicht einlösen. Sie haben mit Ihrer Steuerreform die großen Kapitalgesellschaften entlastet. Das hat zunächst ein Kursstrohfeuer an den Börsen entfacht, aber von den Entlassungen in Hunderter- und Tausenderpäckchen bei denen, die Sie so einseitig durch die Freistellung von Veräußerungserlösen entlastet haben, lesen wir noch immer. Für den Mittelstand in diesem Land gab es Steine statt Brot. Das wirkt sich heute aus. ({22}) Ich muss zum Schluss kommen. ({23}) Ansonsten würde ich Ihnen all das aufzählen, was Sie sonst noch verbrochen haben. Teilzeitrecht: Jetzt kann man sagen, dass man nur noch halbtags arbeiten will, und ein halbes Jahr später verlangen, wieder ganztags arbeiten zu können. Betriebsverfassungsrecht: Funktionärswirtschaft statt Sozialpartnerschaft. 630-Mark-Jobs: Damit haben Sie den Arbeitsmarkt zugeriegelt. ({24})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Willsch, für die Aufzählung bleibt jetzt wirklich keine Zeit mehr.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden am 22. September die Mehrheit in diesem Land erringen und dann eine Politik für Wachstum und Beschäftigung in diesem Land machen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Willsch, Ihre Rede war so, dass Sie dafür von uns nicht einmal Trinkgeld bekommen hätten. ({0}) Sie verdient die übliche Qualitätsmarke: Hokuspokus, Simsalabim. Es ist einfach nicht zu glauben, was Sie gesagt haben. ({1}) Ich komme aus dem Osten und weiß aufgrund Ihrer Regierungszeit genau, was „Versprochen - gebrochen“ heißt. ({2}) Zurück zum Thema. Ich denke, auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es so: Seit man mit dem Euro zahlt, gibt man entweder gar kein Trinkgeld oder einfach zu viel. ({3}) Ohne weiter darüber nachzudenken, runden wir die ungenauen Beträge auf. Oder haben Sie den Kellner schon einmal gebeten, von 36,80 Euro auf 39,50 Euro herauszugeben? ({4}) Nein, man sagt dann: 40 Euro. ({5}) - Sie können ja nicht einmal zuhören. Wie wollen Sie dann Beträge berechnen? ({6}) Damit habe ich ein wesentliches Problem geschildert, das im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht. Nicht einmal wir, die Gäste, wissen gleich, wie viel Geld wir für guten Service drauflegen sollen. ({7}) Wie aber nun können es die Finanzämter genau wissen? Wir wissen, dass sie es nicht können. Und wenn man etwas nicht genau weiß, versucht man es mit Schätzungen. Damit schafft man aber ein neues Problem. Bei der Schätzung des Trinkgeldes muss nämlich eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden: die finanzielle Leistungsfähigkeit der Kunden, die Höhe der Rechnung, ({8}) die Art des Betriebes, die wirtschaftliche Rahmenlage und - nicht zu vergessen - die typischen Eigenheiten der Gäste, die standortspezifisch sind. Zusätzlich erschwert wird diese Schätzung dadurch, dass in Deutschland im Gegensatz zu sehr vielen anderen Ländern kein fester Prozentsatz für Trinkgelder gilt. Diese Faktoren sind kaum objektiv zu ermitteln, diese Daten kann kein Finanzamt verlässlich erheben und bewerten. ({9}) Es fehlen aber auch belastbare Angaben über die Höhe des Steueraufkommens aus der Trinkgeldbesteuerung. Rein steuersystematisch betrachtet ist eine Trinkgeldsteuer zweifelsfrei im Grundsatz richtig. Darüber haben wir jetzt und auch schon zu früheren Terminen hier sehr ausführlich gesprochen. Trinkgelder stellen eben Einkommen dar wie andere Entlohnungen auch. Es ist sicherlich nicht unproblematisch, wenn Einkommen in Form von Trinkgeldern steuerfrei gestellt wird, Einkommen in anderer Form dagegen voll versteuert werden muss. Das Gerechtigkeitsgefühl wird hier sicherlich verletzt. Doch das Gerechtigkeitsgefühl kann auch durch die Praxis der Erhebung der Trinkgeldsteuer verletzt werden. Die Finanzämter haben im Umgang mit der Dienstleistungsgesellschaft scheinbar schlechte Erfahrungen gemacht, denn einem Taxifahrer, einer Friseurin oder anderen Angestellten des Dienstleistungssektors trauen sie nicht zu, einen ebenso freundlichen Service wie die angesprochenen Kellner zu bieten. Man vermutet deshalb, sie erhalten weniger Trinkgeld. Die Finanzämter gehen davon aus, dass bei solchen Berufen der Freibetrag nicht erreicht wird. Wenn der Steuerpflichtige, der Trinkgelder bezieht, in seiner Steuererklärung keine Angaben zur Höhe des Trinkgeldes macht, muss das Finanzamt davon ausgehen, dass es unterhalb des Freibetrages liegt. Während die MitKlaus-Peter Willsch arbeiter des Finanzamtes das den Friseurinnen glauben, versuchen sie bei Kellnern den Gegenbeweis anzutreten. Das ist relativ erfolglos, denn es gibt für die eingenommenen Trinkgelder keine Aufzeichnungspflicht. Deswegen existieren die bereits angesprochenen Schätzungen. Ein komplizierter Fakt jagt hier den anderen: Fehlende objektive Maßstäbe bei der vorgenommenen Schätzung der Trinkgelder durch das Finanzamt wiegen finanzielle Nachteile, die durch den erheblichen Verwaltungsaufwand entstehen, nicht auf. Steuergesetze aber müssen zumindest als Nebenzweck die Erzielung von Einnahmen voraussetzen. Zur Verwaltungsvereinfachung wurde 1954 ein Freibetrag eingeführt, der dann im Jahre 1990 auf 2 400 DM - das sind 1 224 Euro, wie schon gesagt - verdoppelt wurde. Eine lohnende Verwaltungsvereinfachung ist dadurch aber keinesfalls eingetreten. Die Abhängigkeit von den richtigen Angaben der Arbeitnehmer konnte durch diese Regelung nicht aufgehoben werden. Denn selbst wenn Angaben des Schuldners vorliegen, müssen die Behörden prüfen, ob er denn die Wahrheit spricht. ({10}) Zudem nehmen die pflichtbewussten Männer und Frauen von den Finanzbehörden und -gerichten selbst dann Schätzungen vor, wenn ihnen keine Angaben vorliegen. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten geht davon aus, dass im Hotel- und Gaststättengewerbe rund 100 000 Personen Trinkgeld beziehen. Die Einnahmen von etwa 90 Prozent der Beschäftigten bleiben unterhalb der festgesetzten Grenze. Die eingenommenen Steuern können dann aber nur Peanuts sein, die durch hohe Verwaltungskosten für Überprüfungen und Schätzungen dahinschmelzen dürften. Ich denke, Verwaltungseffizienz buchstabiert man anders. All dies führt zu Überlegungen, wie das Problem gelöst werden kann. Die von CDU/CSU und FDP vorgelegten Vorschläge lehnen wir ab. Kollege Schild hat hierzu Hinreichendes und Ausreichendes gesagt. Die Tourismuspolitiker der Koalition sind sich aber darin einig, dass weiter an einer Lösung gearbeitet werden muss. Sie können sich sicher sein, dass wir das auch tun. Danke schön. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne, damit wir wissen, über was wir reden, eine Passage zitieren: Eine Form der Anerkennung für die Beschäftigten im Gastgewerbe stellt das Trinkgeld dar, mit dem Gäste ihre Zufriedenheit ausdrücken. Die Besteuerung des Trinkgelds als Arbeitslohn verkennt den persönlichen Charakter dieser Anerkennung und ist daher abzuschaffen. ({0}) Dieses Zitat stammt nicht aus FDP-Papieren, sondern aus den tourismuspolitischen Leitlinien der SPD, Frau Kastner, von 1998. ({1}) Wir geben Ihnen jetzt die Gelegenheit, Ihr Wahlversprechen einzulösen. Sie müssen heute nur zustimmen und die Wähler sind mit Ihnen zufrieden. ({2}) Lieber Herr Schild, niemand versteht, dass Sie nicht zustimmen wollen. Wir haben auch im Finanzausschuss die Argumente ausgetauscht. Ihre Einwände sind ja alle berechtigt, aber bei der Diskussion sind die Gegenargumente immer schwächer geworden. Wie lässt es sich denn rechtfertigen, dass in Hotellerie und Gastronomie massiv kontrolliert wird, in allen anderen Bereichen aber nicht? Das widerspricht der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und kann deshalb so nicht aufrechterhalten werden. ({3}) Wir sprechen von steuersystematischen Überlegungen. Da habe ich nun wirklich Schwierigkeiten mit einem Argument, das, so glaube ich, auch von Ihnen, lieber Herr Willsch, kam und das so nicht gelten kann. Es ist ja richtig: Es gibt höchstrichterliche Urteile, gemäß denen Trinkgeld versteuert werden muss. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sind der Gesetzgeber. ({4}) Wenn es solche Urteile gibt, wir aber anderer Ansicht sind, dann ändern wir doch das Gesetz! Genau das wollen wir tun. Wer soll es denn sonst tun? Deshalb legen wir heute einen solchen Gesetzentwurf vor. ({5}) Auch Sie wissen ganz genau, dass für besonders guten Service Trinkgeld gegeben wird. Ich möchte das klarstellen: Wenn ich schlecht bedient werde, gebe ich kein Trinkgeld. Wenn ich gut bedient werde, gebe ich Trinkgeld. Aber dann möchte ich nicht, dass es in der Tasche von Herrn Eichel oder Herrn Diller landet. Es soll bei dem bleiben, dem ich es gebe. ({6}) Wir müssen endlich bereit sein umzudenken. Wir gehen bisher nach der Devise vor: Wer nett serviert, wird abkassiert. Wir wollen Leistung belohnen. Deshalb müssen wir die Steuern insgesamt senken. Wir müssen in diesem Zusammenhang das Steuersystem vereinfachen und vorher muss die Trinkgeldsteuer abgeschafft werden. ({7}) Es lohnt sich übrigens, einen Blick in die Nachbarländer zu werfen. Herr Diller, die Bundesregierung hatte mir vor zwei Jahren auf eine diesbezügliche Anfrage geantwortet, dass in fast allen Ländern der Europäischen Union Trinkgeld besteuert wird. Jetzt besagte eine neue Antwort der Bundesregierung, dass es nur zwei Länder gibt, von denen das bekannt ist. Alle Länder um uns herum besteuern Trinkgeld faktisch nicht. Das muss man einmal wahrnehmen. ({8}) Jetzt, verehrter Herr Schild, noch einmal zu Ihren Argumenten: Sie haben die Bareis-Kommission von 1994 und, so glaube ich, auch Professor Kirchhoff angesprochen. Von beiden Seiten wird die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung vorgeschlagen. ({9}) Professor Kirchhoff schlägt in seinem Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes vor - ich habe es dabei und kann es Ihnen vorlegen -, auf die Trinkgeldbesteuerung zu verzichten. Das ist Kirchhoff im Original. ({10}) Er sagt eindeutig, dass trotz der weiteren Verbreiterung der Bemessungsgrundlage die Trinkgeldbesteuerung weg muss. ({11}) - Nein, ich zeige es Ihnen nachher. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie wollen einen halben Schritt gehen, indem Sie sagen: Wir setzen den Freibetrag hoch. Lieber Herr Willsch, ich muss Sie jetzt auf Folgendes hinweisen: Mehrere Kollegen aus Ihrem Ausschuss sagen öffentlich ebenfalls, dass die Trinkgeldbesteuerung weg muss. Der bayerische Wirtschaftsminister Wiesheu hat öffentlich gefordert, die Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen. Deshalb fordere ich Sie auf, nicht einen halben Schritt zu gehen, sondern mit uns zu springen und mitzumachen. ({12}) Hätten Sie dies bereits früher getan, dann wären wir in dieser Frage vielleicht einen Schritt weiter. Es geht noch um etwas anderes. Es geht darum, dass viele Tausende Menschen in unserem Land abends und am Wochenende arbeiten. Wir verlangen von ihnen einerseits, dass sie freundlich sind, und haben andererseits die Motivationsbremse Trinkgeldbesteuerung. Schaffen wir sie doch ab! Sorgen wir für mehr Servicequalität in Deutschland! Sorgen wir dafür, dass sich Lächeln in Deutschland wieder lohnt! ({13}) Ich appelliere jetzt wirklich an alle in diesem Hohen Hause. Der Kanzler hat es versprochen. ({14}) Herr Wiesheu hat es versprochen. Die SPD hat es versprochen. Wirtschaftsminister Müller hat es vor zwei Monaten öffentlich versprochen. ({15}) Vor diesem Hintergrund kann es doch nicht sein, dass Sie heute die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung wieder ablehnen. Das würde kein Mensch verstehen. Sorgen Sie dafür, dass sich Lächeln wieder lohnt! Wenn Sie es heute nicht tun, dann wird Ihnen im September vielleicht das Lachen vergehen. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die PDS-Fraktion.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn wir heute schon zum vierten Mal über die Frage der Trinkgeldbesteuerung diskutieren, werden wir das Problem wiederum nicht lösen. Denn wo kein Wille ist, ist auch kein Weg. ({0}) Trinkgelder sind für viele Beschäftigte, insbesondere in der Gastronomie und im Friseurwesen, nach wie vor lebensnotwendig, da ihre Löhne so niedrig sind, dass sie kaum zum Leben reichen. Eine entsprechende Sozialabgabenpflicht durch den Arbeitgeber wäre eigentlich eher notwendig als eine Besteuerung. ({1}) Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit oder im Alter ist aufgrund der niedrigen Löhne nicht gegeben und der Gang zum Sozialamt gegenwärtig fast unvermeidlich. Steuersystematisch ist es sicher richtig, dass eigentlich jede Mark Einkommen besteuert werden muss. Es gibt viele Bereiche, in denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen ähnlich niedrigen Lohn wie die Beschäftigten in der Gastronomie haben und alles besteuert wird. Aber - das wissen Sie doch alle - gerade im Gastronomiebereich arbeiten immer mehr, inzwischen die Hälfte der Beschäftigten, auf Teilzeitbasis. Im Vergleich zum produzierenden Gewerbe werden relativ viele Lehrstellen angeboten. Das ist positiv. Doch die Mehrheit der jungen Leute suchen nach der Ausbildung ihr Glück in anderen Bereichen, weil die Löhne so niedrig und die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Hinzu kommt, dass eine tatsächliche Gleichstellung nicht sichergestellt werden kann, da die Höhe der Trinkgelder entweder freiwillig angegeben werden muss oder das Finanzamt diese auf der Grundlage der Umsätze schätzt. Letzteres ist gerade gegenwärtig sehr problematisch. Nach der Euroumstellung hat man zwar in manchen Gaststätten das Gefühl, in den Speisekarten sei die D-Mark durch den Euro ersetzt worden und der Preis - und damit auch der Umsatz - habe sich verdoppelt. Das Trinkgeld ist damit nicht automatisch gestiegen. Im Gegenteil - da können Sie einmal Kellner, Taxifahrer oder Ihre Friseurin fragen -, es wird gegenwärtig sehr viel weniger Trinkgeld gegeben als noch vor einem halben Jahr. Von dem Verwaltungsaufwand in den Finanzämtern will ich hier gar nicht reden. Wesentlich mehr Steuern könnten wir zum Beispiel durch zeitnahe Betriebsprüfungen einnehmen, aber dafür fehlen uns ja bekanntlich die Leute. Wesentlich mehr Steuereinnahmen könnten wir auch haben, hätten wir nicht diese verunglückte Reform zur Einkommens- und Unternehmensbesteuerung. ({2}) Gewinne aus dem Verkauf von Beteiligungen bleiben steuerfrei, nur bei den Niedriglohnempfängerinnen und -empfängern sind wir steuersystematisch konsequent. Den Kleinen beißen eben die Hunde. Die Erhöhung der Freibeträge, wie die CDU/CSU sie fordert, ist eine Nachbesserung, die für die Betroffenen eine gewisse Verbesserung bedeuten würde. Nur wird das Problem dadurch nicht generell gelöst und wir haben es in der nächsten Legislaturperiode wieder auf der Tagesordnung. Die PDS-Fraktion unterstützt den Vorschlag der FDP, die Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist endlich einmal ein konsequenter Schritt. Ich bedanke mich. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages auf Drucksache 14/4938 ({0}). Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6216, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDPund der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Einkommensteuergesetzes auf Drucksache 14/5233. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6216, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der PDS-Fraktion und einige Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistungen - Drucksachen 14/4378, 14/8378 Berichterstattung: Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Weißbuch Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft KOM ({4}) 370 endg.; Ratsdok. 11932/01 - Drucksachen 14/7409 Nr. 2.38, 14/8480 Berichterstattung: Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Karin Rehbock-Zureich.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Wachstumsprognosen hinsichtlich des Verkehrs sind eindeutig: Bis 2015 nimmt der Personenverkehr in Deutschland um 20 Prozent zu, der Güterverkehr nimmt um 64 Prozent zu. Die enormen Folgen dieser Zunahme liegen auf der Hand. Uns allen ist klar: Allein auf der Straße lässt sich diese Herausforderung nicht bewältigen. Dazu benötigen wir ein integriertes Verkehrssystem, das alle Verkehrsträger nach ihren Stärken einsetzt. Die Schiene wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt nicht nur für die Situation in der Bundesrepublik, sondern dies gilt auch EU-weit. Das Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft“ resultiert aus der zentralen Erkenntnis, dass die Steuerung der Entwicklungen im Verkehrsbereich notwendig und das Zusammenspiel aller Verkehrsträger unerlässlich ist, da nur so die Mobilitätsbedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger und auch der Wirtschaft dauerhaft gesichert werden können. ({0}) Die zentralen Rahmenbedingungen müssen erfüllt werden. Hier geht das Weißbuch in die richtige Richtung. Es bietet gute Ansätze und ist eine wichtige Basis für eine europaweit ökonomisch und ökologisch dauerhaft tragbare Mobilität. Langfristziele sind die Entkopplung von Verkehrs- und Wirtschaftswachstum und das Erreichen ausgewogener Verkehrsträgeranteile. Nur so ist dem prognostizierten Zuwachs zu begegnen. Vorgeschlagene Maßnahmen sind die Einflussnahme auf die Preise des Straßenverkehrs, Begleitmaßnahmen zur Effizienzsteigerung anderer Verkehrsträger und gezielte Investitionen in transeuropäische Verkehrsnetze. Dies ist wirtschaftlich sinnvoll und verkehrspolitisch notwendig. ({1}) Selbstverständlich gibt es auch Themen, die in diesem Weißbuch aus unserer Sicht nicht ausführlich genug behandelt wurden. Hier sind es besonders die Maßnahmen, die dazu beitragen, Klimaschutzziele wie die Verringerung des Schadstoffausstoßes und der Lärmemissionen zu erreichen. Hier sind weitere Anstrengungen notwendig, gerade im Hinblick auf die Erreichung der Klimaschutzziele, die im Kioto-Protokoll vorgesehen sind. In den Beratungen auf europäischer Ebene zur Umsetzung der Weißbuch-Vorschläge muss die Bundesregierung vor allen Dingen folgende Akzente setzen: Da ist zum einen die Stärkung der Wettbewerbsposition der Schiene sowie der See- und Binnenschifffahrt und zum anderen die Beschleunigung der Marktöffnung im Bereich des Schienenverkehrs, und zwar im Personen- wie im Güterverkehr. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung der Interoperabilität. Hier legen wir besonderen Wert auf die Verbesserung der grenzüberschreitenden Verkehre; denn dies ist der Markt der Zukunft. ({2}) Auch hinsichtlich der Stärkung der Intermodalität des Verkehrssystems haben die Bundesregierung und die SPD-Fraktion zusammen mit den Grünen, unserem Koalitionspartner, wichtige Weichenstellungen für die Zukunft schon beschlossen und zum Beispiel die Mittel für die Kombiverkehre im Haushalt verstärkt, um so ein deutliches Zeichen zu setzen. Das Fördervolumen lag 2001 bei 150 Millionen DM bzw. 75 Millionen Euro. Die kontinuierliche Erhöhung dieser Mittel seit Regierungsübernahme spiegelt den politischen Willen wider, die Potenziale des Kombiverkehrs und die Verlagerung der Güterverkehre auf die Schiene zu unterstützen. ({3}) Ein ganz wichtiges Vorhaben, das Sie über Jahrzehnte in den Schubladen liegen ließen, ist die Stärkung des Verursacherprinzips bei der Anlastung der Infrastrukturkosten. Wir werden schrittweise von einer Haushaltsfinanzierung zu einer Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur übergehen. Des Weiteren wird auf der Tagesordnung der EU die Erhöhung der Verkehrssicherheit und die Reduzierung der negativen Umweltwirkungen des Verkehrs stehen. Dass eine Reduzierung der Schadstoff- und Lärmemissionen von besonderer Wichtigkeit ist, liegt auf der Hand. Wir halten es aber auch für wichtig, die faire Anlastung aller vom Verkehr verursachten Kosten auf EU-Ebene zu erörtern. Dazu gehört auch das Thema Mineralöl- und KfzBesteuerung. ({4}) Bei diesem Thema gibt es noch große Defizite auf EUEbene, was eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im Straßengüterverkehr angeht. Dabei wird ein Schwerpunkt der zukünftigen Verkehrspolitik auf der Entwicklung einheitlicher Rechtsvorschriften im Hinblick auf die Kraftstoffbesteuerung und die Nutzerentgelte liegen müssen. Im Arbeits- und Sozialrecht haben wir bereits Fortschritte erzielt. Wir haben die Kontrollen verbessert und mit dem EU-Führerschein die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse die Normalität im Transportbereich werden. ({5}) Vergleichbare Wettbewerbsbedingungen kann es nur bei fairem Wettbewerb in ganz Europa geben. Um die Ungleichgewichte in Europa zu vermindern, muss der Subventionswettlauf beendet und Subventionsabbau betrieben werden. Gerade mit der Einführung der LKW-Maut gehen wir den ersten Schritt hin zu einer Nutzerfinanzierung der Straßenverkehrsinfrastruktur. Es erscheint in diesem Zusammenhang geboten, die Entlastungsmaßnahmen für das Verkehrsgewerbe auf die Tagesordnung zu setzen, denn vom Grundsatz her schafft eine LKW-Maut kein Ungleichgewicht und keine Verzerrungen im Transportmarkt, da die Maut für alle LKWs auf deutschen Autobahnen gilt, egal, aus welchem Land sie kommen. Die Transportwirtschaft leidet heute noch unter der konzeptionslosen Liberalisierung vergangener Jahre. Leider sind gerade unter Ihrer Regierung die Märkte auf EUEbene liberalisiert worden, ohne dass zur gleichen Zeit eine Harmonisierung erfolgt wäre. Vielmehr ist zu Ihrer Regierungszeit die Harmonisierung der Liberalisierung hinterhergerannt. ({6}) Wir haben damit begonnen, diese Defizite aufzuarbeiten. Bis 2003 sollen nach unserem Willen die Subventionen im Mineralölsteuerbereich auslaufen. Auch haben wir dafür gesorgt, dass es bei der EU-Osterweiterung im Sinne des heimischen Gewerbes zu ausreichenden Übergangsfristen kommen wird. Die Maut für schwere LKWs auf deutschen Straßen, die seit Jahren auf der Tagesordnung stehen könnte, um hier zu einem gerechteren Wettbewerb unter den Verkehrsträgern zu kommen, wird im Vermittlungsverfahren von Ihnen leider behindert. Von Ihnen wird nach dem Motto „Zurück in die Steinzeit“ aus rein taktischen ÜberKarin Rehbock-Zureich legungen heraus ein wichtiges Infrastrukturprojekt verhindert - dieses Projekt geht weg von der Haushaltsfinanzierung und hin zu einer Nutzerfinanzierung, um europaweit eine Chancengleichheit der Verkehrsträger herzustellen -, und zwar zum Schaden aller Verkehrsträger. ({7}) Dieses Verhalten geht auch zulasten eines Infrastrukturprojektes, bei dem wir durch die Einführung einer LKW-Maut Marktführer sein könnten, nämlich bei der Entwicklung eines über Satellit gesteuerten neuen Systems. Hier könnten wir die Vorreiterrolle in Europa spielen. Dies muss Ihnen bewusst sein, wenn Sie diese Verhinderungspolitik hier weiter betreiben. ({8}) Wir haben mit der LKW-Maut, deren Einnahmen in das Gesamtsystem der Verkehrsinfrastruktur zurückfließen sollen, ein Projekt auf die Tagesordnung gebracht, das den integrativen Ansatz dieses Verkehrssystems deutlich macht. Es macht darüber hinaus deutlich, dass wir eine Chancengleichheit für alle Verkehrsträger erreichen wollen und dass wir dies europaweit angehen müssen. Mit den Harmonisierungsschritten, die hierfür nötig sind, machen wir einen großen Schritt in Richtung Mobilität. Ich fordere Sie dazu auf, dass Sie dem Grundsatz dieses Weißbuches, das für die Zukunft des Wettbewerbs aller Verkehrsträger in Europa eine neue Dimension darstellt, zustimmen und dass die Harmonisierungsansätze, die im Weißbuch aufgezeigt werden, von Ihnen mitgetragen werden. Lassen Sie uns gemeinsam diesen wichtigen Schritt tun! Ich denke, in diesem Hause sind alle der Meinung, dass dieses Weißbuch eine Grundlage für die Gestaltung zukünftiger Mobilität darstellt, die wir alle unterstützen müssen. Manches ist selbstverständlich auch aus unserer Sicht noch verbesserungswürdig. Die Bundesregierung hat von uns den Auftrag, diese Änderungsvorschläge aufzugreifen und durchzusetzen. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Wir haben unsererseits einen Antrag vorgelegt, der alle Punkte aufgreift. Wir bitten Sie, diesem Antrag zuzustimmen. Vielen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dirk Fischer.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich kann die Bundesregierung nur dazu auffordern, die Interessen der deutschen Verkehrswirtschaft und unserer Betriebe in Bezug auf die Arbeitsplätze bei kommenden Ratstagungen der EU-Verkehrsminister verstärkt vorzutragen; denn die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen für das Verkehrsgewerbe muss weiterhin als vordringliches Ziel der europäischen Verkehrspolitik definiert werden. Natürlich haben Sie, Frau Kollegin Rehbock-Zureich, Recht, wenn Sie sagen, dass der Grundsatz „erst Harmonisierung, dann Liberalisierung“ nicht verwirklicht wurde, sondern dass Mitte der 80er-Jahre die Liberalisierung an die erste Stelle gerückt ist und dadurch Harmonisierungsdefizite geblieben sind. ({0}) Daraus folgt, dass wir um so hartnäckiger einfordern müssen, dass diese Defizite abgebaut werden, weil in einem europäischen Binnenmarkt Wettbewerb nur unter gleichen Bedingungen funktioniert. ({1}) Ich darf feststellen, dass wir immer noch keine fairen Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Verkehrsgewerbe haben. Die Wettbewerbsverzerrungen bei den verkehrsspezifischen Gebühren und Abgaben, bei den technischen Regelungen und den Sozialvorschriften, insbesondere bei ihrem Vollzug, müssen abgebaut werden. Denn aus dem unterschiedlichen Vollzug entstehen permanent weitere Wettbewerbsverzerrungen. Unser Land ist sicherlich bei der Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht am EU-treuesten. Deswegen müssen wir auch verlangen, dass die Kommission den gleichmäßigen Vollzug des Gemeinschaftsrechts im Auge behält. Ohne Harmonisierung stehen viele mittelständische Unternehmen der Transportwirtschaft in unserem Lande vor dem Aus oder der Ausflaggung. Beides kostet Steueraufkommen, beides kostet Arbeitsplätze und verschärft die Arbeitsmarktsituation in unserem Land. ({2}) Natürlich müssen Sie sich immer wieder dazu bekennen, dass Sie in dieser Legislaturperiode, in der Sie in diesem Hause die Mehrheit haben, die Situation durch eine einseitige Steuer- und Abgabenpolitik erheblich verschärft haben und dass Sie eben nicht - eingepasst in die europäische Entwicklung - gehandelt haben, sondern dass Sie unser Gewerbe noch dramatisch höher einseitig belastet haben, während andere Länder - Frankreich, Belgien, Italien ({3}) und insbesondere die Niederlande als ein Hauptwettbewerber auf der Straße - ihrem Gewerbe gezielt durch Entlastung geholfen haben. Während dort also das Gewerbe entlastet worden ist, ist es bei uns dramatisch mehr belastet worden. Nun wollen Sie mit Ihrem Mautgesetz ohne einen ausreichenden Harmonisierungsbeitrag voll zuschlagen. Hier soll unserem Gewerbe, das seinen Umsatz überwiegend auf unserem Markt generiert, ohne nennenswerte Harmonisierung eine achtfach höhere Gebührenbelastung aufgebrummt werden. ({4}) Frau Rehbock-Zureich, ich sage noch einmal: Es geht hier nicht um das Ob; es geht hier nicht um den Grundsatz. Auch wir haben in unserer Regierungszeit die Umstellung einer zeitbezogenen Euro-Vignette auf eine streckenbezogene, nutzungsabhängige Gebühr vorbereitet. ({5}) Es geht vielmehr um das Wie. Es geht hier nicht um Taktik, sondern um die Existenz deutscher Unternehmen und um die Arbeitsplätze deutscher Arbeitnehmer. ({6}) Bezüglich der Umstellung der Haushaltsfinanzierung auf die Nutzerfinanzierung kostet es verdammt viel Glaubwürdigkeit, wenn diejenigen, die bezahlen müssen, nachweisen, dass ein erheblicher Anteil des Aufkommens nicht in die Verbesserung der Infrastruktur geht, sondern im Haushalt verschwindet. Es ist nahezu das Doppelte dessen, was heute schon über die Euro-Vignette im Haushalt verschwindet. Das und nichts anderes ist der Kernpunkt unseres Konflikts. ({7}) Wir sind Ihnen - um das deutlich zu sagen - in unserer Kompromissbereitschaft in zwei Punkten erheblich entgegengekommen: Zum einen werden wir bis zu einem gewissen Grad eine Quersubventionierung anderer Verkehrsträger und ihrer Infrastruktur akzeptieren, wenn es um die Erreichung eines Gesamtkompromisses geht. ({8}) Zum anderen sind wir im Hinblick auf die blauen Briefe, die diese Bundesregierung aus Brüssel bekommt, und im Hinblick auf die nahezu unhaltbaren Zusagen, die bis zum Jahre 2004 gemacht worden sind, sogar bereit, hinzunehmen, dass der Status quo im Haushalt nicht angetastet wird. Aber alles, was darüber hinausgeht, muss zusätzlich als Harmonisierungsbeitrag erbracht werden. Es muss für das Gewerbe zumindest einen geringen flankierenden Schutz geben. ({9}) Das ist der Punkt, um den wir streiten, nicht aber um den Grundsatz. ({10}) Es gibt auf europäischer Ebene dringenden Handlungsbedarf, da die Kommission mit ihrem Weißbuch nur die Wettbewerbsregulierung und weniger die Wettbewerbsharmonisierung beabsichtigt. Ich glaube, dass die rot-grüne Regierungskoalition Unrecht hat; ({11}) denn das Weißbuch stimmt in wichtigen Punkten eben nicht mit den verkehrspolitischen Zielsetzungen des Deutschen Bundestages überein. Der Deutsche Bundestag ist gegenüber Brüssel, gegenüber der Kommission, geradezu verpflichtet, diese Nichtübereinstimmungen herauszuarbeiten. Stetiges Verkehrswachstum bedingt einen großen Infrastrukturausbaubedarf. Die EU-Kommission sieht aber vornehmlich Infrastrukturinvestitionen zugunsten der Schiene vor. Ich halte das für einigermaßen weltfremd. Wenn ich mir Ihren Verkehrsbericht anschaue und die Zuwächse im Straßengüter- und Straßenpersonenverkehr, die dort aufgezeigt und prognostiziert werden, zugrunde lege, muss ich sagen, dass ich dieses für einigermaßen weltfremd halte. Es ist keine realistische Perspektive für die anderen Verkehrsträger. ({12}) Richtigerweise stellt die Kommission fest, dass das Fehlen leistungsfähiger Verkehrsinfrastrukturnetze weitgehend unterschätzt wird. Mit Sicherheit hat sie damit aber auch unsere Bundesregierung gemeint, die dieses in eklatanter Weise tut. Es ist doch ein Widerspruch, wenn Sie in der Investitionspolitik nur einseitige Schwerpunkte setzen, die überhaupt nicht umsetzbar sind. Meine Damen und Herren, bei der Revitalisierung der Eisenbahnen will Europa die Trennung von Netz und Betrieb als Ziel der Schienenverkehrspolitik verwirklichen. Das steht ausdrücklich in der EU-Verordnung 1107/70 neu, der so genannten Infrastrukturrichtlinie. ({13}) Damit sollen Wettbewerb, Wachstum, ein geringerer öffentlicher Zuschussbedarf und Privatisierung möglich und monopolistische Strukturen aufgebrochen werden. Die Grundvoraussetzung dafür ist die Unabhängigkeit des Netzes; ({14}) denn für die Schaffung weiterer Kapazitäten ist dies unerlässlich. Ich kann nur eines sagen: Frau Rehbock-Zureich, dieses mickrige und unzureichende Task-Force-Ergebnis ist, gemessen an dem, was Herr Minister Bodewig in Stuttgart auf dem Parteitag der Grünen gesagt hat - diesem haben Sie zugejubelt -, in Wahrheit Bodewig hoch minus Drei. ({15}) Eines ist doch ganz klar - das sagt Ihnen jeder Sachverständige und Sie können auch die Kommission fragen -: Dirk Fischer ({16}) Mit diesem Ergebnis erfüllt Deutschland die EU-Richtlinie nicht. ({17}) Es besteht ein weiterer Handlungsbedarf. Unserem mittelständischen Verkehrsgewerbe dürfen keine weiteren Sonderlasten aufgebürdet werden, weil ein fortbestehender und immer höherer Zuschussbedarf unseres monopolistischen Eisenbahnunternehmens den Wettbewerb verhindert. Wenn wir uns die finanziellen Ergebnisse der Bahnreform bis heute anschauen, erkennen wir, dass diese Aussage sehr zutreffend ist. Sie können die Handlungsverweigerung auf einem Felde nicht durch ein überbordendes Belasten der mittelständischen Verkehrsunternehmen ausgleichen. Das ist eine Politik, die nach meiner Auffassung voll daneben geht. ({18}) Zum Bau der transeuropäischen Netze ist zu bemerken, dass in den Randregionen deutlich wird, dass die Nachbarländer ihre Baumaßnahmen bis an die Grenze vorangetrieben haben. Die nicht sehr finanzstarke Tschechische Republik hat eine entsprechende Autobahnverbindung gebaut. In Deutschland gibt es auf der A 6 nach wie vor erhebliche Defizite. ({19}) Das ist die Wirklichkeit. Dort werden die Projekte vorangetrieben, während in Deutschland zu viel diskutiert und zu wenig getan wird. ({20}) Deutschland darf sich nicht mit wohlklingenden Ankündigungen zufrieden geben, sondern muss auch die konkreten Maßnahmen umsetzen. Wenn der Bundesverkehrsminister dem Deutschen Bundestag bei der Debatte über das Weißbuch der EUKommission - das ist sozusagen die Magna Charta der europäischen Verkehrspolitik - die Ehre seiner Anwesenheit gegeben hätte - das hätte ich für erforderlich gehalten -, würde ich ihm jetzt zurufen: Herr Minister Bodewig, die Bauleistung muss hoch- und die Propagandaleistung muss heruntergefahren werden. Das wäre allemal besser, als permanent umgekehrt zu handeln. ({21}) Lassen Sie mich ein Wort zu unserem Antrag „Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistungen“ sagen; ich komme damit auf den Ausgangspunkt meiner Rede zurück. Auch hier im Hause ist es unbestritten, dass es gravierende Harmonisierungsdefizite bei den Wettbewerbsbedingungen im Bereich der Transportwirtschaft, nämlich beim Straßengüterverkehr und bei der Binnenschifffahrt, gibt. Die Beseitigung dieser Defizite im europäischen Güterverkehrsmarkt ist Ziel der zukunftsorientierten Verkehrspolitik meiner Fraktion.Wir wollen die europäische Marktordnung weiter ausbauen. Wir wollen weiterhin dafür sorgen, dass faire Wettbewerbsbedingungen auch für unsere deutschen Unternehmen entstehen. Die Harmonisierung ist Voraussetzung für die Marktöffnung. Die EU-Kommission muss daher zügig ein Weißbuch über die noch fortbestehenden Regelungs- und Vollzugsdefizite zur Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen für die Verkehrsdienstleistungen im europäischen Binnenmarkt - quasi wissenschaftlich genau - erarbeiten. Daraus ergibt sich auch Regelungsbedarf im Hinblick auf den Beitritt der Staaten aus Mittel- und Osteuropa und die damit verbundene Erweiterung des Verkehrsmarktes; denn eine Erweiterung in dieser Situation führt zu weiteren Marktverwerfungen. Das Weißbuch soll als Grundlage dienen, einen Maßnahmenkatalog zu erstellen, der einen zügigen Abbau dieser Defizite bewirkt und damit faire Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer gewährleistet. Es reicht nicht aus, schöne Ziele zu definieren, sondern es müssen konkrete und konsequente Maßnahmen ergriffen werden. ({22}) Ich sage deutlich: Wer das Weißbuch ablehnt, will die Wahrheit verschleiern und nicht zum Handeln gezwungen werden. Einen SPD-Antrag, in dem dies von der Europäischen Kommission gefordert wird, habe ich bisher noch nicht gelesen. Wir sind im Interesse unserer deutschen Firmen und ihrer Arbeitnehmer zum Handeln verpflichtet. Deswegen müssen wir Druck auf Europa machen, endlich die Wahrheit auf den Tisch zu legen. Dann fällt, auf Deutsch gesagt, der politische Handlungskatalog unten heraus. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Fischer, nach Ihrer Rede habe ich folgenden Eindruck: Erstens: Sie haben das Ergebnis der Task Force nicht verstanden. ({0}) Zweitens: Sie haben das vorliegende Weißbuch der EU nicht verstanden. Drittens - das ist Ihr Hauptproblem -: Sie haben offenbar die Verkehrsprobleme, vor denen ein Land mitten in einem sich erweiternden Europa heute und in den nächsten Jahren steht, nicht begriffen. Ihre Forderung heißt: Weiter so wie bisher! Steckt immer mehr Geld in den Straßenbau! Baut einfach die dritte und vierte LKW-Spur, um die Warteschlangen der LKW, die praktisch rollende Lagerhallen sind, zu vermeiden. So lösen wir die Probleme. - Das kann es wirklich nicht sein. Dirk Fischer ({1}) Ich hatte gedacht, Sie hätten im Laufe der Legislaturperiode ein bisschen mehr von den Problemen begriffen. ({2}) - Die Probleme muss man doch endlich ernst nehmen. Ich nenne Ihnen jetzt die Zahlen der EU, die für ein Land in der Mitte Europas besonders gravierend sind: Allein bis 2010 werden wir einen Zuwachs von 38 Prozent im Personen- und von 24 Prozent im Güterverkehr haben. Wenn diese Zahlen zutreffen, dann müssen wir von diesem „Weiter so!“ im Straßenausbau wegkommen. Denn: Erstens. Die Straßen sind schon sehr verstopft. Zweitens. Wir können nicht - wir haben über den drohenden blauen Brief schon diskutiert - ständig weiter Geld in den Straßenausbau stecken. Das geht nicht. Dass dies auch ökologisch unverträglich ist, sollten Sie inzwischen gelernt haben. ({3}) Demgegenüber ist gerade das EU-Weißbuch für die europäische Verkehrspolitik bis 2010 ein sehr guter Handlungsrahmen, um eine verträgliche Mobilität national und in Europa zu gewährleisten. Es ist auch eine Bestätigung für die Politik, die Rot-Grün in diesen vier Jahren begonnen und umgesetzt hat und auch weiterhin betreiben wird. Von daher gibt die EU mit ihrem Weißbuch die entscheidende Unterstützung für unsere Strategie. Unsere Strategie ist: Die jahrzehntelange einseitige Bevorzugung der Anteile für den Verkehrsträger Straße muss endlich zurückgefahren werden. Dafür muss der Ausbau des umweltfreundlichen Schienenverkehrs und der Binnenschifffahrt dort, wo sie umweltverträglich ist, gefördert werden. All dies muss in ein richtiges Gleichgewicht gebracht werden. Es muss umgesteuert werden, um die Straßen, insbesondere unsere überfrachteten Autobahnen, endlich zu entlasten. Dieses Ziel werden wir in Kooperation mit der EU weiterhin verfolgen. ({4}) Ich muss ganz klar sagen: Die LKW-Maut, die in Grundzügen auch von Ihnen unterstützt wird, ist ein ganz zentraler Baustein. Ich sage es noch einmal - meine Kollegin Karin Rehbock-Zureich hat es eben schon gesagt -: Es geht nicht, dass Sie jetzt einfach Forderungen stellen, man solle jetzt über so viel Harmonisierung all das wegkompensieren, was die LKW-Maut eigentlich bringt, damit wir endlich ein Stück weit von der Steuerfinanzierung zur Nutzerfinanzierung kommen. Das ist das Erste, was wirklich sehr wichtig ist. Wir können keine Harmonisierung machen, die das Ganze letztlich wieder aufkommensneutral macht. Ich bin gespannt, was Sie, Herr Kollege Friedrich dazu sagen. Wir haben es erlebt, wie Sie in der Arbeitsgruppe zum Vermittlungsausschuss die Verhandlungen blockiert haben. Ich sage als Zweites - es ist sehr wichtig, sich das klar zu machen -: Die Probleme des Verkehrsgewerbes liegen nicht so sehr in diesem Bereich, sondern im Sozialdumping, der Konkurrenz von Billigstfahrpreisen in einem ruinösen Wettbewerb um niedrige Löhne und um niedrigste Steuerabgaben, indem man den Standort des Unternehmens ins Ausland verlagert. Von daher besteht das Problem - Sie hatten das vorhin zugegeben - , dass wir während Ihrer Regierungszeit nicht nur in Deutschland, sondern europaweit ein Zuviel an Liberalisierung hatten, das zu einem ruinösen Wettbewerb geführt hat. An diesen Schrauben muss gedreht werden. Die LKW-Maut ist ein sinnvolles Instrument, gerade um mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit zwischen den ausländischen Fahrzeugen, die durch unser Land fahren, und unseren eigenen zu bekommen. Das wird auch vom Verkehrsgewerbe längst anerkannt. Von daher heißt unsere Formel: Ein Stück weit Harmonisierung, Ausgleich und Kompensation über die Mineralölsteuer und ansonsten eine LKWMaut, die als Lenkungsinstrument wirklich greift. Als Drittes ist besonders wichtig, dass die Maut anteilig auf Straße, Schiene und naturverträgliche Binnenschifffahrt gelenkt wird und dass wir damit Schritt für Schritt in ein integriertes Verkehrskonzept umsteuern und ein Verhältnis im Verkehr erreichen, das die Straße entlastet und der Schiene das abverlangt, was sie wirklich leisten kann. Daran arbeiten wir systematisch weiter, auch die nächsten vier Jahre in Kooperation mit Europa. Dann sind wir ein Stück weiter. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich in dieser Wahlperiode alles richtig verstanden habe, dann hat die Bundesregierung unter Führung von SPD und Grünen dem deutschen Gewerbe im Januar 2001 versprochen, mit der Umstellung der Maut von der Zeitbezogenheit auf die Streckenbezogenheit würde es eine Harmonisierung auf größtmöglichem europäischen Niveau geben. ({0}) Frau Rehbock-Zureich, Sie sagen, wir hätten eine Harmonisierungslast hinterlassen. Wenn man zugrunde legt, was Sie im Januar 2001 dem Gewerbe versprochen haben, und sich dann anhand der vorgelegten Zahlen anschaut, was Sie mit der Maut dem Gewerbe zur Verfügung stellen, kann man sagen: Offensichtlich ist der Harmonisierungsbereich, den Sie akzeptieren, in der Größenordnung von 260 Millionen Euro zu sehen. Mehr sind Sie nicht bereit, dem Gewerbe zur Verfügung zu stellen, und dies bei einer Gesamtbelastung des deutschen Gewerbes durch die Maut von immerhin 2,6 Milliarden Euro. Das ist ungefähr ein Verhältnis von 10 zu 1. Wenn das alles zutrifft, sollten Sie sich fragen lassen, wem Sie eigentlich Vorwürfe machen. Zu einem Zeitpunkt, wo Sie angeblich Harmonisierungsdefizite festellen, beschließen Sie die Ökosteuer. Sie beläuft sich mittlerweile auf 24 Pfennig plus 4 Pfennig Umsatzsteuer. Sie beschließen eine Maut, die das deutsche Gewerbe nicht entlastet, sondern belastet. Das alles geschieht vor dem Hintergrund der zu erwartenden EU-Osterweiterung. Dann, Frau Kollegin Rehbock-Zureich, hilft Ihnen auch keine noch so lange Übergangsfrist. ({1}) Wenn sie nämlich in einer vorgegebenen Zeit nicht in der Lage sind, national die Kosten zu senken, dann können Sie sich die Übergangsfrist sparen. Sie verlängern eigentlich nur das Problem, aber Sie lösen es nicht. Das ist das eigentliche Defizit. Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie im Ausschuss ein Weißbuch auf Antrag der Kollegen der Unionsfraktion ablehnen, in dem Europa aufgefordert wird, Defizite in der Harmonisierung einmal deutlich zu machen. Denn dann weiß man, wo man ansetzen muss. Es nützt doch nichts, im Wege einer Selbstfindungsgruppe nach dem Motto „Gut, dass wir darüber geredet haben“ in jedem Weißbuch der EU erneut festzustellen, dass zwar aufgezeigt worden ist, was zu tun ist, dass aber der Rat - oder wer auch immer - das nicht verstanden hat. Es nützt dem deutschen Gewerbe nichts und es nützt erst recht nichts, auf nationaler Ebene dauernd neue Kosten für das deutsche Gewerbe zu erfinden, die andere umgehen. Wenn ich mich recht erinnere, dann ist das, was im Jahr 2000 von allen schon genannten Ländern dem jeweiligen Gewerbe eingeräumt worden ist, mit Zustimmung der Bundesregierung erfolgt, ohne dass deswegen Widerspruch eingelegt worden ist. Es nützt dem deutschen Gewerbe auch nichts, wenn Sie jetzt sagen, das läuft zum Jahresende aus. Die Spritpreise steigen mittlerweile wieder an. Die Rohölpreise steigen ebenfalls. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Sie werden sich wundern, was andere Länder - Italiener, Belgier, Franzosen oder Niederländer - noch alles erfinden, um aus diesem Versprechen wieder herauszukommen. Wir kommen zum Thema Bahn. Das ist offensichtlich die allein selig machende Lösung. Im Jahr 2001 ist groß getönt worden, die Bahn habe einen Güterzuwachs in Höhe von 1,5 bis 2 Prozent erzielt. Das galt als Leistung von Herrn Mehdorn. Wir haben erwidert, das liege ausschließlich an der Wirtschaftsentwicklung insgesamt. Jetzt liegt die Statistik für das Jahr 2001 vor: minus 2 Prozent. Das ist dann offensichtlich auch die Leistung der Bahn. Denn wenn der Zuwachs die Leistung der Bahn ist, dann gilt das auch für ein Minus. Deswegen verstehe ich nicht, dass Sie uns dauernd erzählen wollen, mit Ihrer Politik würden Sie Probleme im Hinblick auf den Gütermarkt lösen. Nein, es bleibt dabei: Wir müssen endlich Wettbewerb auf der Schiene darstellen. ({2}) Wir müssen echte Leistungsfähigkeit auf der Schiene schaffen, sonst wird das Ganze nichts. Selbst die Bahn gibt zu: 15 Cent Maut pro Kilometer auf der Autobahn bringen eine Güterverlagerung von der Straße auf die Schiene von bestenfalls 1 Prozent. Wenn das Ihre Lösung ist, dann stehen Sie sehr schnell im Wald. Deswegen wird es Zeit, dass ab September wieder eine andere Verkehrspolitik stattfindet. In diesem Sinne unterstützen wir den Antrag der Unionsfraktion und werden Ihre Anträge ablehnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wohl immer so, dass man einem umfangreichen Weißbuch wie dem vorliegenden alles oder fast alles - viele Fakten, Vorteile und eine ganze Reihe liebenswerter Vorhaben für alle Fraktionen entnehmen kann. Das hat auch Vorteile. Ich würde zum Beispiel das in dem Weißbuch vorgesehene notwendige Vorhaben erwähnen, die Zahl von jährlich 40 000 Straßenverkehrstoten in Europa zu halbieren. Ich meine, dass das Wichtigste, das man zum Weißbuch feststellen kann, der folgende Widerspruch ist. Einerseits wird in der Gesamtorientierung zu Recht festgestellt, dass eine Verlagerung auf Schiene und Wasser, und zwar eine Rückführung der Anteile von Straße und Luft auf das Niveau von 1998 zugunsten von mehr Anteilen von Schiene und Wasser, notwendig ist. ({0}) Gleichzeitig wird aber allseits festgestellt, dass man weiter Flughäfen und Straßen bauen und Engpässe beseitigen müsse. Ich meine, wir machen dabei auf EUEbene den gleichen Fehler wie auf bundesdeutscher Ebene, indem man eine parallele Förderung aller Verkehrsträger vornimmt. Aber auf dem derzeitigen hohem Niveau wird man keine wirkliche Wende in diesem Bereich erreichen. Was stattdessen notwendig wäre, sind zwei Dinge. Erstens sollten wir das Thema Transportintensität untersuchen, nämlich die Tatsache, dass für eine Ware der gleichen Qualität von Jahr zu Jahr - ein Glas Wasser, ein Mikrofon, ein Auto oder ein Fahrrad - mehr Transportkilometer anfallen und immer weitere Wege zurückgelegt werden, ohne dadurch in irgendeiner Weise einen wirtschaftlichen Vorteil zu haben. Zweitens müssen wir über die individuelle Mobilität diskutieren, bei der nicht über mehr Kilometerfraß mehr Genuss herauskommen muss. Zum Beispiel bietet Ryanair an, für 10, 20 oder 30 Euro europaweit überall hinfliegen zu können. Selbstverständlich wird dann jede Art von Tourismus im eigenen Land bzw. im Nahbereich nicht mehr realisierbar sein. Interessant ist, dass keiner meiner Vorredner - ich kann das beurteilen; denn ich bin der letzte Redner in dieser Debatte - darauf hingewiesen hat, dass auf Seite 11 des Weißbuches eine grundlegende Strategie zur Entkopplung von Verkehrswachstum und Wirtschaftswachstum gefordert wird. ({1}) Horst Friedrich ({2}) - Kollege Friedrich, eine solche Entkopplung findet nicht im Verkehrs-, sondern nur im Energiebereich statt. Die Industrie verbraucht nämlich trotz Wirtschaftswachstums immer weniger Energie. Aber im Verkehrsbereich geht man noch immer davon aus, dass der Verkehr im gleichen Maße wie die Wirtschaft wachsen muss. Das hat beispielsweise schon die Kollegin Rehbock-Zureich gleich zu Beginn ihrer Rede deutlich gemacht. Sie sprach davon, dass das Wirtschaftswachstum irgendwie auf die Verkehrsträger verschoben werden müsse. Ich glaube, dass es nicht verschoben werden muss. Nach meiner Auffassung ist es möglich, das ökonomische System so zu gestalten, dass es Wirtschaftswachstum ohne Zunahme des Verkehrs gibt. Das müsste das Ziel sowohl auf bundesdeutscher Ebene als auch auf EU-Ebene sein. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Zusatzpunkt 8: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/8378 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei Verkehrsdienstleistungen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4378 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Stimmenthaltung der PDS angenommen. Zusatzpunkt 9: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/8480 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über das Weißbuch „Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis der genannten Unterrichtung, eine von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vorgeschlagene Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Stimmverhältnissen wie zuvor angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis der genannten Unterrichtung, eine von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Ich rufe die Zusatzpunkte 10 und 11 auf: ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung über den Versatz von Abfällen unter Tage und zur Änderung von Vorschriften zum Abfallverzeichnis - Drucksachen 14/8197, 14/8321 Nr. 2.1, 14/8523 Berichterstattung: Abgeordnete Rainer Brinkmann ({1}) Werner Wittlich Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu der Ver- ordnung der Bundesregierung Verordnung über die Entsorgung von Altholz - Drucksachen 14/8198, 14/8321 Nr. 2.2, 14/8522 - Berichterstattung: Abgeordnete Rainer Brinkmann Frank Obermeier Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter Ich eröffne die Aussprache und schließe sie gleich wie- der; denn alle Reden sind zu Protokoll gegeben, und zwar die der Kolleginnen Hustedt, Homburger, Bulling- Schröter und Altmann sowie der Kollegen Brinkmann, Wittlich und Obermeier.1) Zusatzpunkt 10: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung über den Versatz von Abfällen unter Tage und zur Änderung von Vorschriften zum Ab- fallverzeichnis, Drucksache 14/8523. Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8197 zu- zustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS ange- nommen. Zusatzpunkt 11: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung über die Entsorgung von Altholz, Drucksache 14/8522. Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/8198 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- haltung von FDP und PDS angenommen. 1) Anlage 2 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Singhammer, Horst Günther ({3}), Ulrich Adam und weiterer Abgeordneter Dokumentation der freigelegten russischen Graffiti-Inschriften im Reichstagsgebäude in historisch gerechtfertigtem Umfang - Drucksache 14/6761 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Johannes Singhammer das Wort.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kein anderes Gebäude in Deutschland trägt ein so hohes Maß an Geschichtlichkeit wie der Sitz des Deutschen Bundestages, der Reichstag. Dieser Antrag will zu einer Balance, zu einem inneren Gleichgewicht dieses Gebäudes mit seinen historischen Häutungen und der erfolgreich praktizierten demokratischen Bundesrepublik Deutschland beitragen. Um jedes Missverständnis von vornherein auszuschließen: Es geht nicht darum, die Eroberung des Reichstags durch die Rote Armee und damit das tatsächliche, aber auch symbolhafte Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zu verdrängen, zu verwischen oder gar die Geschichte umzuschreiben. Niemand von den Unterzeichnern beabsichtigt Derartiges. Der jetzige Zustand kann aber nicht überzeugen. Auf mehr als 100 Metern Seitenlänge in mehreren Etagen des Reichstags erscheinen Graffiti der sowjetischen Soldaten. An keiner Stelle des Gebäudes werden die in kyrillischer Schrift angebrachten Signaturen übersetzt. ({0}) An keiner Stelle erfolgt eine Erklärung des historischen Zusammenhangs. Zu 90 Prozent enthalten die Graffiti Namen, in den wenigsten Fällen Inhalte. Eine erhebliche Anzahl der Originalgraffiti wurde beseitigt. Das Selektionskriterium war vermutlich ein obszöner oder verletzender Inhalt. Jedenfalls ist bereits eine Auswahl getroffen worden. Unser Antrag hat zum Ziel, dass die Graffiti an einem Ort konzentriert erhalten bleiben, dass sie übersetzt werden und dass den Besuchern der historische Hintergrund des Reichstags erklärt wird. Wir wollen darüber hinaus eine Debatte dazu anstoßen, wie sich die erfolgreichste Demokratie Deutschlands, die Bundesrepublik und ihr Parlament, in dieses Gebäude in einer lebendigen Weise einbringen kann. Die Eroberung des Reichstagsgebäudes und der Sieg über den Nationalsozialismus waren zugleich Ausgangspunkt zunächst eines demokratischen Experiments, mittlerweile einer fest verankerten erfolgreichen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Umzug des Deutschen Bundestags im Jahr 1999 von Bonn nach Berlin in den Reichstag begann keine neue Zeitrechnung; sie begann schon wesentlich früher, nämlich spätestens 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik. Seither haben Generationen von Parlamentariern eine erfolgreiche, fest gegründete demokratische Staatsform ausgebaut. Darauf können wir stolz sein. ({1}) Aber kaum etwas im Gebäude des Reichstags erinnert daran. Während die Parlamente unserer europäischen Nachbarn oder auch die Parlamente in Übersee Repräsentanten und Grundlagen ihrer Demokratie eindrucksvoll darstellen, findet Erinnerung im Sinne von Realpräsenz als Vergegenwärtigung unserer demokratischen Geschichte in diesem Parlamentsgebäude kaum oder nur ungenügend statt. Nirgendwo erscheint der Text des Grundgesetzes, weder im Original noch dem Inhalt nach, als Grundlage unserer parlamentarischen Verfasstheit. ({2}) Nirgendwo wird auf die tragende Struktur der Bundesrepublik, die Bundesländer, hingewiesen. Jeglicher Hinweis auf die Länder fehlt. 100 Meter Graffiti, aber kein einziges Wappen eines Bundeslandes an den Wänden des Reichstags, das führt zu einer ungewollten Verdrängung der Bundesstaatlichkeit. Nirgendwo wird auf die Präsidentinnen und Präsidenten dieses Hohen Hauses hingewiesen. Jede Erwähnung der Persönlichkeiten, die den Parlamentarismus nach 1945 geprägt haben, fehlt, während in Bonn vor dem Umzug - viele werden sich daran noch erinnern -, die Gemälde der Präsidenten, beispielsweise im Vizepräsidentenbereich des Plenarsaalbaus, zu sehen waren. Damit entfernt sich der Bundestag von einer Tradition, die andere angesehene Parlamente pflegen. Selbstverständlich hängen im Capitol in Washington, der Hauptstadt der Vereinigten Staaten, die Bilder der bisherigen Speakers. Natürlich können beispielsweise in Österreich die Porträts aller Präsidenten im Empfangssalon betrachtet werden. Ähnliches gilt für andere demokratische Länder. Die Kanzler der deutschen Nachkriegsdemokratie, wie Konrad Adenauer oder Willy Brandt, sind im Reichstag nicht existent. Das Reichstagsgebäude in seiner jetzigen Form ist das Ergebnis des Wunders der deutschen Einheit. Warum weist beispielsweise nichts auf diese glückliche Wendung der deutschen Geschichte hin? ({3}) Warum wird der Einigungsvertrag bzw. der Zwei-plusVier-Vertrag an keiner Stelle gezeigt? ({4}) Präsident Wolfgang Thierse Die Verengung der Geschichtlichkeit auf 100 Meter nicht erklärte Graffitidarstellung verspielt eine Chance. Wir alle wissen, dass sich Deutschland mit seiner Geschichte schwer tut und Gedenktage in unserem Land vielfach als Freizeit verstanden werden. Viele beklagen den Mangel an positiver Geschichtlichkeit. Nutzen wir deshalb die Chance, unsere erfolgreiche Demokratie an dem Ort darzustellen, wo sie sich täglich ereignet! Graffiti allein sind zu wenig für dieses Haus. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Singhammer, was Sie soeben gemacht haben, war sehr geschickt: Erst stellen Sie einen Antrag, mit dem Sie dazu auffordern, etwas zu entfernen, und dann sprechen Sie über etwas, was Ihrer Meinung nach hinzugefügt werden soll. ({0}) Das ist vielleicht dialektisch. Ihr Antrag ist - das gilt auch für seine Begründung - sehr kurz. Es ist wie früher bei den Aufsätzen: Man sollte über den Elefanten schreiben und hat sich nur auf das Schreiben über die Schlange vorbereitet. Das Reichstagsgebäude ist kein Haus der Geschichte; aber es ist ein Haus mit Geschichte. ({1}) Dies sichtbar gemacht zu haben ist jedenfalls für mich das Großartige an der heutigen architektonischen Gestaltung. ({2}) Dort, wo es möglich war, wurde nicht geglättet, wurde nicht verputzt, wurde nicht geweißt, sondern es wurden Stolpersteine gelassen, Brüche in unserer Geschichte symbolisiert. Das zeigt sich an den abgeschlagenen Ornamenten, die wir in den Gängen sehen, an geschliffenen und ungeschliffenen Steinblöcken in den Wänden und natürlich in den restaurierten Inschriften sowjetischer Soldaten, von denen die Reichstagsruine voll war, und zwar überall und nicht nur in diesem begrenzten Teil. Sie erinnern an die schrecklichen Folgen der Naziherrschaft und an das befreiende Ende dieser Diktatur und des Krieges. Daran ändert übrigens nichts, dass der Reichstag - trotz Reichstagsbrand - fälschlicherweise als Symbol für Nazideutschland in Anspruch genommen wurde. Diese Graffiti sind authentische Zeitzeugnisse, die, im ursprünglichen Sinne des Begriffes „Denkmal“, Denkmalcharakter besitzen. Es sind keine von der Obrigkeit verordneten, sehr häufig ästhetisch verquasten Siegeroder Heldenmonumente, sondern sie sind - gestatten Sie mir, dass ich das so sage - Ausdruck des Triumphs und des Leids der kleinen Leute. ({3}) Da stehen nämlich Namen. Ihnen sind die Namen der einfachen Leute zu wenig. Sie brauchen Bilder von Präsidenten. Das macht den Unterschied aus. Meine Damen und Herren, diese authentischen Zeitzeugnisse wollen Sie zumindest in großen Teilen weißen, unsichtbar machen, Sie wollen die Wände sauber waschen. ({4}) Dies, meine Damen und Herren von CDU/CSU, wird und kann man nicht als schlichten Reinigungsvorgang interpretieren, sondern als einen bedenklichen Umgang mit den Schattenseiten unserer deutschen Geschichte. ({5}) Nun sagen Sie, Sie wollen die Graffiti nur noch, aber eben doch, an einem Ort belassen - ich habe den Antrag nämlich gelesen - und sie auf einen „gerechtfertigten Umfang“ reduzieren. Letzteres ist übrigens meines Erachtens bereits geleistet. Ich glaube nicht, dass dies den Wünschen aller entspricht. ({6}) Von einem, der schon früher gegen die Graffiti wetterte, diesen Antrag aber erstaunlicherweise nicht unterzeichnet hat - vielleicht, weil ihm der Antrag nicht weit genug geht? -, von Herrn Zeitlmann, liegt ein Zitat vor, von dem ich wohl vergebens hoffe, dass es falsch ist. ({7}) - Hören Sie ruhig einmal zu! - Den Erhalt der Graffiti bezeichnete er als „Kotau vor den Siegermächten“. Nun überlasse ich Ihnen die Bewertung dieser Aussage angesichts der Schrecknisse zwischen 1933 und 1945. ({8}) Dieses Zitat sollte man vielleicht neben den Inschriften anbringen, vielleicht in Sütterlin, damit Jugendliche es nicht lesen können. ({9}) Zumindest macht diese Aussage deutlich, dass es viele gibt - sicher nicht alle Unterzeichner dieses Antrages -, denen es nicht um mehr oder weniger Inschriften geht, sondern um die Inschriften selbst. Nun hat es in der Tat vor Jahren die Überlegung gegeben, die Zahl der Graffiti zu reduzieren. Schon allein ein Argument sollte uns überzeugen, diese Diskussion nicht wieder aufzunehmen, nämlich die Antwort auf die Frage, wie die Besucher des Reichstagsgebäudes auf die Graffiti und auch auf ihre Anzahl reagieren. Ich bin Berliner und habe oft die Möglichkeit, auch in sitzungsfreien Wochen mit Besuchern durch dieses Haus gehen. Ich mache oft von dieser Möglichkeit Gebrauch. Meine Damen und Herren, ob Sie mir das nun glauben oder nicht: Ich habe noch keinen Besucher gehabt, der die Graffiti, auch im derzeitigen Umfang, infrage stellte. ({10}) Im Gegenteil, mein Hinweis, dass einige Kollegen diese Graffiti verringern wollen, lässt immer nur den Zeigefinger an die Stirn schnellen. Ich habe mich auch beim Besucherdienst erkundigt. Der Besucherdienst kommt zu demselben Ergebnis. Ich mache auch immer deutlich, wer diese Graffiti reduzieren will. Ich sage, dass es lediglich Abgeordnete von CDU und CSU mit einem etwas fremdgehenden Liberalen sind und dass die Sozialdemokraten, die den Initiatoren zunächst auf den Leim gegangen sind, sich schnell wieder von diesem Antrag distanziert haben. ({11}) Dass man das deutlich macht, gehört dazu. Meine Damen und Herren, noch ein letzter Hinweis. Es ist Ihnen vielleicht nicht bewusst oder Sie wollen es nicht wahrhaben: Diese Graffiti bieten spannende Diskussionsanstöße, vor allen Dingen bei Gesprächen mit Jugendlichen. ({12}) Wenn die Graffiti an einem anderen Ort zu finden wären, wäre die Aufmerksamkeit noch viel stärker. Wissen Sie, was die Besucher des Reichstagsgebäudes, die die Möglichkeit hatten, auf diese Etage zu kommen, sagen, wenn Sie sie fragen, was eigentlich das Interessanteste an diesem Reichstag ist? Sie nennen zwei Sachen: die Kuppel und die Graffiti. ({13}) - Dies darf man einmal sagen. - Das sind die Antworten, die Sie hören. Meine Damen und Herren, das Schöne und Beruhigende an diesem Antrag ist, dass er in diesem Haus niemals eine Mehrheit finden wird. Ich bedanke mich. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag ist sicherlich berechtigt. Es lohnt sich sicherlich, über diesen Antrag zu diskutieren. Aber ich bin anderer Meinung. Ich bin deshalb anderer Meinung, weil wir uns in der Baukommission und im Kunstbeirat - in beiden bin ich Mitglied sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigt haben. Als wir darüber in der Baukommission das erste Mal vom Architekten informiert und wir gefragt wurden, wie wir damit umgehen wollen, habe ich nicht erlebt, dass jemand massiv dagegen gesprochen hat. Man hat das eine Argument gegen das andere abgewogen und überlegt, in welchem Umfang man die Graffiti belassen solle. Aber die Tatsache, dass ein Zeitzeugnis erhalten bleiben soll, war nie umstritten. ({0}) Jetzt ist es eine Frage des politischen Instinkts und der politischen Bewertung, wie man diese Debatte führt. Es lohnt sich nicht, wie ich finde, hier eine Schärfe hineinzubringen. Wir können hier mit ebenso großer Gelassenheit diskutieren, wie wir über das Kunstwerk von Hans Haacke und über andere Dinge diskutiert haben. Wir sollten alles vermeiden, was hier eine Schärfe hineinbringen könnte. Viele Leute würden das nicht verstehen, auch ich nicht. ({1}) Ich hielte das für kontraproduktiv. Die Ausführungen von Herrn Singhammer waren mehr als dürftig. Er sagte, dass er nicht zufrieden mit den Hinweisen auf Historie und unseren föderativen Staat, mit denen der Reichstag bisher ausgestattet ist, ist. Darüber kann man diskutieren und auch unterschiedlicher Meinung sein. Wenn er aber Inschriften, die nicht wir angebracht haben, die nicht auf unsere Initiative zurückgehen, sondern bezüglich derer wir nur die Entscheidung getroffen haben, sie zu belassen, reduzieren und auf das dokumentarisch Notwendige zurückführen will, muss er sich schon fragen lassen, was der tiefere Gehalt seiner Argumente ist. ({2}) Zwar kann man darüber streiten, was dokumentarisch notwendig ist; die Diskussion darüber - darauf bin ich stolz - haben wir aber in den Gremien des Bundestages, in denen diese Fragen behandelt worden sind, in einer ruhigen und sachlichen Art geführt. ({3}) Ich bin stolz darauf, dass wir Größe gezeigt haben und nicht eine kleinkarierte Diskussion darüber geführt haben, ob jetzt hier ein Meter zu viel oder dort ein Meter zu wenig erhalten bleiben soll, sondern die Dinge einfach so hingenommen haben. Natürlich haben wir die Denkmalpflege herangezogen und mit dem russischen Botschafter darüber gesprochen, was seiner Meinung nach richtig und notwendig ist. ({4}) Wir haben uns dabei auf einen Umfang geeinigt, der akzeptabel ist und auch akzeptiert worden ist. Eckhardt Barthel ({5}) Auch ich, lieber Kollege von der SPD-Fraktion, habe noch nie jemanden getroffen, der beim Rundgang mit mir durch den Reichstag an den Graffitis Kritik geübt hätte. Die Besucher waren hochinteressiert und gespannt auf das, was man ihnen in diesem Zusammenhang erzählt hat. Viele, vor allen Dingen die jungen Leute, auf die es uns ganz besonders ankommt, können sich das alles gar nicht mehr so richtig vorstellen. ({6}) Über Kunst kann man streiten. Hier wollen wir aber keine Veränderung. Hier akzeptieren wir den Status quo nicht nur, sondern treten offensiv für seine Bewahrung ein, weil wir wissen, dass darin ein Selbstverständnis zum Ausdruck kommt, das uns zu unserer eigenen Größe gereicht. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Heinrich, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie gesagt haben, man dürfe hier keine Schärfe hineinbringen. Ich war wirklich drauf und dran, sehr ironisch und scharf zu reden. Ich will jetzt einen Gang zurückschalten; Sie haben nämlich völlig Recht: Solch ein Antrag hat keine Aussicht auf Erfolg. Ich habe mich natürlich gefragt, was die Antragsteller umtreibt: Ist es nur Reinlichkeitswahn, wie ihn die Deutschen oft haben? ({0}) Sind Ihnen vielleicht die Wände zu beschmutzt? Ich bin aber zu dem Schluss gekommen, dass es das allein nicht sein kann. Dann habe ich mir gesagt: Vielleicht kommt es ihnen doch auf den Inhalt an: dass nämlich Siegesinschriften von Sowjetsoldaten als Zeichen der Schmach bzw. Schande vorhanden sind. ({1}) Jetzt spreche ich nach Herrn Heinrich - wie gesagt, ich bin ganz milde - und sage: Man kann Geschichte ja Gott sei Dank nicht umschreiben. ({2}) - Ich nehme alles zurück. - Politiker pflegen Geschichte permanent zu ihren eigenen Gunsten umzuschreiben. Regime schreiben sie sowieso um. ({3}) Man kann zwar vorübergehend einiges versuchen, aber de facto kann man vieles nicht fälschen. Als Nächstes habe ich mich gefragt: Wollen die Antragsteller die Geschichte einhegen? Wollen sie sie musealisieren - das wurde ja sehr deutlich - und an einem Ort verstecken, an dem man den sowjetischen Kilroys möglichst überhaupt nicht begegnet? Das war doch offensichtlich das Ziel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb sage ich Ihnen: Wir tagen hier im „Deutschen Bundestag im Reichstag“. ({4}) So lautet die komplizierte und offizielle Bezeichnung. ({5}) - Darin zeigt sich die Schwierigkeit deutscher Geschichte, Frau Lengsfeld. Der Deutsche Bundestag hat diese Geschichte mit vollem Bewusstsein angenommen, als er seinen Sitz hier im Reichstag, so wie er zum damaligen Zeitpunkt war, eingenommen hat. ({6}) Er möchte diese Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen - mit den Kilroys wie auch mit der schönen, transparenten Kuppel - annehmen. Mit jeder russischen oder sonstigen Parlamentariergruppe - ich treffe viele aus dem Bereich der GUS-Staaten - gehe ich durch die Korridore. Die Menschen sind bewegt und dankbar dafür, dass wir diese Inschriften erhalten haben. Sie finden in den Ortsangaben der Inschriften ihre Landsleute wieder. Ich möchte Ihnen, obwohl ich kein Russisch sprechen kann, sagen, was dort geschrieben steht - denn so viel Kyrillisch habe ich mir angeeignet -: „Moskau-Berlin“ oder „Kaukasus-Sotschi-Warschau-Berlin-Elbe“. Die Ukrainer finden Kiew und Odessa. Selbst die vier Soldaten, die aus dem fernen sibirischen Osten von der pazifischen Küste her kamen, schrieben ihre Namen unter „Chabarowsk-Moskau-Berlin“. An einer Stelle gibt es auch eine Inschrift in georgischer Sprache. Diese haben Sie vielleicht noch nicht entdeckt. ({7}) Ich weiß nicht, ob Sie diese dann besonders hegen wollen. ({8}) Alle Inschriften, die ich zitiere, stehen an ganz verschiedenen Stellen. Sie können gar nicht alle zusammenbringen. Es gibt auch eine amerikanische Inschrift in lateinischen Lettern, die da lautet: „E. Kenedy“. Dahinter steht geschrieben: „13. May 1945“. Dies zeigt: Es gibt doch einige Amerikaner, die sich mit den Russen verbrüdert und hier ebenfalls unterschrieben haben. Deshalb möchte ich einen russischen Kollegen zitieren, der mir Folgendes gesagt hat: Wenn wir in Moskau doch erst so weit wären, dass wir auch in der Duma die Orte des Gulag an die Wand schreiben könnten! Deshalb sollten Sie begreifen, dass Sie auf diese Inschriften stolz sein müssten. Vielleicht zeigt dies eine solche Äußerung. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den meisten der Besucher, von denen ich gesprochen habe, gehe ich auch in die Lobby der Plenarebene, in den Raum mit den Büchern zum Gedenken an unsere von den Nazis umgebrachten oder in das Exil vertriebenen Kollegen aus der Weimarer Zeit. Die russischen oder ukrainischen Besucher blättern in den Büchern. Dort finden sie die Namen unserer ehemaligen Kollegen aus der KPD, der USPD, der SPD, dem Zentrum und - wenn Sie sie sich selbst angesehen haben, wissen Sie es - selbst aus dem ChristlichSozialen Volksdienst und der DNVP. Sie beeindruckt die Breite des Widerstands gegen die Nazidiktatur. Sie verstehen, dass die ersten Opfer der Nazidiktatur die deutschen Politiker selbst und ihre Parteien waren. Aber nur, wer sich auch der Soldaten erinnert, die aus den Weiten Russlands hierher gekommen sind, um den Faschismus zu besiegen, hat das Recht, an die eigenen Opfer zu erinnern. Bewusst bleiben muss uns beides: die schmachvollen und die ehrenhaften Seiten der deutsche Geschichte. ({10}) Deshalb denken Sie noch einmal gründlich nach. Werfen Sie Ihren Antrag in den Papierkorb! Im Papierkorb landet er, wie ich das Plenum und Herrn Heinrich verstanden habe, so oder so. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte eindeutig festhalten, sehr verehrter Herr Präsident, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen: Für die Neugestaltung des geschichtsträchtigen Reichstages steht der Name Sir Norman Foster, für das Parlament in der Zeit des Umbaus der Name Rita Süssmuth, der damaligen Präsidentin des Deutschen Bundestages; ihr zur Seite stand die Baukommission. ({0}) Die Neugestaltung ist in einem demokratischen Prozess vollzogen worden. Darunter fallen auch die Graffiti. Bei den Umbauarbeiten des Reichstagsgebäudes für den Deutschen Bundestag wurden kyrillische Inschriften freigelegt, die 1945 nach der Eroberung des Gebäudes von sowjetischen Soldaten angebracht wurden. Diese Beschriftungen wurden durch die Bundesbaugesellschaft Berlin mbH dokumentiert und mithilfe der russischen Botschaft übersetzt. Von der damaligen Präsidentin des Deutschen Bundestages und dem Botschafter der Russischen Föderation wurde im April 1996 gemeinsam eine Auswahl der Inschriften definiert, die restauriert und erhalten werden sollten. Unabhängig hiervon hat der Denkmalpfleger des Landes Berlin, Professor Engel, zusammen mit dem Büro Sir Norman Foster in einem größeren Umfang erhaltenswerte Inschriften festgelegt. Grobes Kriterium hierbei war, nur Flächen zu berücksichtigen, die zu mehr als 50 Prozent mit Inschriften versehen waren. Die Inschriften wurden mit hohem finanziellen Aufwand fachgerecht restauriert. Sie müssen erhalten bleiben. Bei jedem Rundgang mit Besuchergruppen bin jedenfalls ich beeindruckt, dass Architekt und Baukommission die Inschriften sowjetischer Soldaten in gemeinsamer Entscheidung erhalten haben, mit denen die Soldaten in den ersten Stunden des Kriegsendes die Wände des zerstörten Reichstages spontan zu einer Kapitulationsurkunde gemacht haben. Eine Inschrift drückt das in zwei Worten aus: Woina kaputt - der Krieg ist zu Ende. Kürzer kann der Sieg über den deutschen Hitlerfaschismus nicht definiert werden. ({1}) Jeder Name ist doch ein bleibendes Lebenszeichen für Tausende Gefallene der Roten Armee, die noch wenige Tage zuvor auf den Seelower Höhen in der letzten Schlacht um Berlin ihr Leben lassen mussten. Laut Antrag sollen aber nun diese Namen, weil sie nur nichts sagende Wiederholungen ohne weitere Hinweise seien, auf einen „historisch gerechtfertigten Umfang“ reduziert werden. Gerade diese Reduzierung würde dem architektonischen Konzept, das sich gerade auch der Geschichte des Reichstages verpflichtet weiß, widersprechen. ({2}) Foster bekennt: Die Graffiti von 1945 traten aus der deutschen Geschichte hervor, die die Soldaten der siegreichen Sowjetarmee nach der Eroberung Berlins an die Wände gekritzelt hatten. Diese Inschriften bewegten mich sehr - jede einzelne davon ein lange der Vergessenheit anheim gefallener Hinweis auf leidvolle persönliche Erfahrungen. ... Ich begann zu begreifen, dass keine noch so gelungene Ausstellung die Spuren der Vergangenheit eindrucksvoller bezeugen kann als dieses Bauwerk. Ich fände es sehr bedauerlich, wenn die Enkel der Befreier von Berlin zum Beispiel in Moskau, Kiew und Nowgorod in der Zeitung lesen müssten, dass die Namen der Helden von damals dem deutschen Volk heute historisch ungerechtfertigt zu viel Platz wegnehmen. Ich hoffe, dass solche Artikel nie geschrieben werden können. Deshalb bitte ich Sie, mit mir alles zu tun, diese Antikriegsautogramme zu erhalten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Fink, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Fraktion setzt sich ausdrücklich dafür ein, dass die Schriftzüge denkmalgeschützt bleiben und damit die Befreiung vom Hitlerfaschismus dokumentiert wird. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Horst Kubatschka für die Fraktion der SPD.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute einen Gruppenantrag und keinen Fraktionsantrag; diesen Hinweis halte ich für wichtig. Sonst müssten wir uns nämlich über die außenpolitische Wirkung dieses Antrages unterhalten. In der Russischen Föderation hat man für diesen Antrag wenig Verständnis. ({0}) Hören Sie auf den russischen Botschafter, dann wüssten Sie es. - Da es aber ein Gruppenantrag ist, ist für mich der außenpolitische Aspekt nicht so wichtig. Ich möchte den Antrag aus geschichtlicher und denkmalpflegerischer Sicht betrachten. Geschichte und Denkmalpflege sind Politik, mit Geschichte und Denkmalpflege wird Politik gemacht. ({1}) Norman Fosters faszinierende Bauidee bestand darin, das noch vorhandene Vergangene sichtbar zu lassen und das Neue klar erkennbar zu machen. Alte und neue Bausubstanz grenzen sich klar ab, sie stoßen aufeinander und wenden sich zu etwas Neuem. Die Spuren der deutschen Geschichte sind klar erkennbar. Dazu gehören auch die Graffiti. Die Verringerung ihrer Zahl, die der Antrag fordert, würde der Bauidee zuwiderlaufen. Die Bauidee ist sowohl außen wie im Inneren durchgehalten. Die Kuppel halte ich für eine Glücksidee. Es freut mich immer wieder, dass sie zu einer touristischen Attraktion in Berlin wurde. Die Menschen stehen Schlange, um in die Kuppel zu gelangen. ({2}) Die Kuppel ist aber viel mehr als nur eine touristische Attraktion. Über den Besuch der Kuppel ergreifen die Bürgerinnen und Bürger Besitz von ihrem Parlament - ich betone: ihrem Parlament -: Es entsteht Identifizierung mit der Demokratie. Die Menschen erleben den Ort, an dem Demokratie umgesetzt wird. Diese Möglichkeit wird von vielen Menschen wahrgenommen. Bedauerlicherweise, aber notwendigerweise ist das Innere des Bundestages nicht so leicht zugänglich. Deswegen führe ich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger durch diesen Teil des Hauses. Dies machen alle Abgeordneten dieses Hauses. Beim Rundgang stoßen wir natürlich auf die Graffiti. Ich erzähle, dass an 17 Stellen nahezu 200 Graffiti erhalten geblieben sind. Ich erzähle aber auch, dass sehr wohl auch Graffiti entfernt wurden: Deutschfeindliche Parolen sind - übrigens in Zusammenarbeit mit der russischen Botschaft - beseitigt worden. Ich berichte weiter, dass es für die sowjetischen Soldaten in Berlin fast eine Pflichtaufgabe war, sich in den Ruinen des Reichstages zu verewigen. Sicher schwang bei dieser Handlung auch die Freude mit, den Krieg überlebt zu haben. Es herrschte aber auch Trauer über die durch die Deutschen zerstörte Heimat und über die gefallenen Kameraden. Sicher war aber auch Stolz dabei, zusammen mit den Amerikanern, Briten und Franzosen sowie den anderen Alliierten Deutschland vom Faschismus befreit zu haben. All dies ist nachvollziehbar und hat sich in Form der Graffiti erhalten. Damit sind diese ein Teil der deutschen Geschichte an einem markanten Ort. ({3}) Die Graffiti waren durch den Wiederaufbau des Reichstages hinter Verkleidungen verschwunden. Sie waren aus dem geschichtlichen Gedächtnis getilgt. Beim Umbau wurden sie wieder entdeckt und erhalten. Der Reichstag ist ein geschichtlicher Ort und ein Symbol für das wiedervereinigte Deutschland. Er ist aber auch ein Symbol für den schmerzhaften Weg Deutschlands zur Demokratie, für den langen Weg nach Westen. Wir müssen auch die bitteren Seiten der deutschen Geschichte aushalten. Geschichte ist nicht teilbar. Ich weiß, dass Geschichte interpretierbar ist. Jede Generation schreibt ihre Geschichte - deswegen mein leichter Protest, Herr Kollege Lippelt, bei Ihren Ausführungen. Aus diesem Grunde müssen sichtbare Zeichen bleiben. Die vorhandenen Graffiti als Teil unserer Geschichte müssen erhalten bleiben. Dieses geschichtliche Gedächtnis darf nicht geschmälert werden. Wenn wir die Zahl der Graffiti reduzieren, wie es der Antrag will, engen wir auch unser Gedächtnis ein. Die Graffiti sollen möglichst unsichtbar gemacht werden, um so aus dem geschichtlichen Gedächtnis verdrängt zu werden. ({4}) Es wäre ein erneutes Vergessen wie nach dem Wiederaufbau des Reichstages. Diesen Akt des Vergessens dürfen wir nicht zulassen. Eine Vielzahl von Graffiti sind Namen. Sie müssen erhalten bleiben, denn sie repräsentieren Einzelschicksale, es ist Geschichte von unten. ({5}) Es sind diejenigen, die den Krieg erleiden mussten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch einmal auf die Besucher zurück, die wir alle durch den Reichstag führen. Den meisten Besuchern müssen wir die Graffiti erklären, denn die kyrillische Schrift kann kaum jemand lesen. Dies trifft natürlich vor allem für Besucherinnen und Besucher aus den alten Bundesländern zu. In diesem Zusammenhang weise ich auch immer auf den Gruppenantrag der Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU hin. ({6}) - Ihr „Sehr gut!“ werden Sie jetzt vielleicht überdenken. Ich habe dieselben Erfahrungen wie zwei meiner Vorredner gemacht und muss Ihnen sagen: Ob alt, ob jung, ob Frau, ob Mann, niemand hat für diesen Antrag Verständnis. Die Mehrheit dieses Hauses hat für diesen Antrag auch kein Verständnis. Deswegen lehnen wir ihn ab. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Vera Lengsfeld für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang stelle ich allen Anwesenden die Frage, an welcher Stelle sich die SS-Runen befinden und ob Sie auch der Meinung sind, dass die SS-Runen zur notwendigen Dokumentation gehören, weil sie Teil unseres Selbstverständnisses sind? ({0}) - Wieso? Diese Runen existieren und man muss sich mit ihnen auseinander setzen. ({1}) - Ach ja, auch das ist Geschichte? So, so. ({2}) Ein demokratischer Staat muss der eigenen Geschichte gedenken und er muss das symbolisch an Orten der politischen Macht tun, vor allen Dingen in Parlamenten. Er muss dies erst recht hier im Reichstagsgebäude tun, da dieser Ort selbst ein Nationalsymbol ist. Aber es kommt gerade in einem demokratischen Parlament darauf an, welcher Geschichte man sich politisch erinnert; denn an dieser Erinnerung zeigt sich, welche Auffassung man von seinem Staat hat. Jedes Erinnern im politischen Raum ist Geschichtspolitik. An unserem Erinnern werden wir erkannt. Aber nicht jede Spur der Geschichte ist gleichbedeutend und nicht jede Spur der Geschichte hat etwas mit der demokratischen Tradition der Bundesrepublik Deutschland und ihres Parlaments zu tun. ({3}) Der Kaiser mochte das Reichstagsgebäude nicht; er nannte es Reichsaffenhaus und verbannte es aus der damaligen Mitte Berlins vor das Brandenburger Tor. Bis zuletzt widersetzte er sich der Inschrift auf dem Westportal, „Dem Deutschen Volke“. Die Nazis mochten das Haus noch weniger. Niemals war der Reichstag Symbol nationalsozialistischer Politik. Die Inschriften sowjetischer Soldaten im Reichstagsgebäude erinnern an die Eroberung Berlins durch die Rote Armee. Sie zu bewerten ist dem Gemeinschaftswerk der Versöhnung, Verständigung und dem Vertrauen zwischen Deutschen und Russen keineswegs abträglich, wie behauptet wird, im Gegenteil. Zwar hat die Rote Armee einen Teil Deutschlands unzweifelhaft vom Nationalsozialismus befreit, nicht aber vom Totalitarismus. Zu unserer Geschichte gehört eben auch, dass der nationalsozialistischen Diktatur in einem Teil Deutschlands die real-sozialistische Diktatur folgte. ({4}) - Aber sicher hat die Rote Armee etwas mit der real-sozialistischen Diktatur der DDR zu tun; denn die DDR hätte ohne die Rote Armee gar nicht existieren können. Ich bitte Sie, Herr Kollege! ({5}) Die sowjetischen Soldaten haben im Mai 1945 kommunistische Siegesbekundungen, Verwünschungen oder einfach nur Namenszüge hinterlassen; Letztere machen 95 Prozent aller über den Reichstag verteilten Reste sowjetischer Geschichte aus. Nach meiner Auffassung müssen sie in diesem Umfang nicht dokumentiert bleiben. ({6}) - Was dokumentieren sie denn? Es war alles andere als eine Armee eines freiheitlich-demokratischen Landes, die den Reichstag eroberte. Die Inschriften zeugen zum Teil von der totalitären Geschichte der Sowjetunion. ({7}) - Natürlich, der kleine Soldat hat das an die Wände geschrieben. Wenn der kleine Soldat eine Huldigung Stalins an die Wände geschrieben hat, dann kann er natürlich etwas dafür, meine Damen und Herren. Das Andenken an die gefallenen sowjetischen Soldaten soll nach unserem Antrag an einer dafür eigens eingerichteten Gedenkstelle im Reichstagsgebäude bewahrt werden. Wir sollten daneben aber nicht vergessen, dass der zerbombte Reichstag während des Endkampfes um Berlin Notspital und Schutzkeller für schwangere Frauen war. Wir sollten nicht vergessen, dass sich die Kämpfe um Berlin und die Eroberung des Osten Deutschlands unter ungeheuren Verbrechen vollzogen. Es ist im Sinne der Antragsteller deshalb zureichend, einen ausgewählten Platz nebst Gedenktafel und Übersetzungen diesen Tatsachen zur Verfügung zu stellen. Dieses Gebäude repräsentiert unsere Demokratie. Das Parlament hat vor allen Dingen der demokratischen Tradition in Deutschland zu gedenken. Wir müssen symbolisch an unsere freiheitlichen Traditionen erinnern: ({8}) an die Ausrufung der Republik durch Scheidemann, die Gott sei Dank wirkungsvoller war als die Ausrufung der sozialistischen Republik, oder an den Widerstand gegen die sowjetische Blockade. Als die Sowjets 1948 gegen den ganzen westlichen Teil der Stadt die Blockade errichteten, versammelten sich 350 000 Deutsche vor dem Reichstag. Ernst Reuter machte ihnen Mut und appellierte an alle Völker der Welt, den Blick auf das freie Berlin zu richten. Wir müssen nicht zuletzt - das sage ich auch mit großem Ernst - an das legendäre Konzert an Pfingsten 1986 vor dem Reichstag erinnern, das Unter den Linden zu den ersten Rufen „Die Mauer muss weg“ führte. Das sind die demokratischen Traditionen der Bundesrepublik Deutschland, die wir in den Mittelpunkt stellen sollten. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6761 an den Ausschuss für Kultur und Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Wolfgang Bierstedt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurAufhebung des Magnetschwebebahnplanungsgesetzes - Drucksache 14/8300 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Wolfgang Bierstedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Keine Entscheidung über den Bau einer Magnetschwebebahn-Strecke in der Bundesrepublik Deutschland ohne Einstellung der entsprechenden Bundesmittel in den Bundeshaushalt - Drucksache 14/8296 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der PDS fünf Minuten Redezeit erhalten soll. Ich höre auch hier keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die PDSFraktion ist der Kollege Dr. Winfried Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Es gab in den Jahren 1998 und 1999 zwei verkehrspolitische Duftmarken der neuen Regierung, und zwar zum einen den Baustopp für die Strecke Nürnberg-Erfurt und zum anderen das Aus für die Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin. Als der Baustopp für die Strecke Nürnberg-Erfurt diskutiert wurde, haben wir darauf hingewiesen, dass, wenn man nur einen Baustopp verhängen und stattdessen keine alternativen Maßnahmen realisieren würde, im Osten zu Recht gesagt werde, dass das einseitig eine Maßnahme gegen den Osten sei, und dass Druck ausgeübt werde, den Baustopp wieder aufzuheben. Genau das ist passiert; Bundeskanzler Schröder hat das vor einigen Tagen gesagt. Es bleibt der Transrapid. Ich glaube, dass an diesem Beispiel das Desaster der Verkehrspolitik von SPD und Grünen noch deutlicher wird. In den ersten acht Jahren nach der Wende haben wir uns bei der Fahrzeit auf der Strecke Hamburg-Berlin langsam an die Fahrzeit von 1934 herangetastet. Wir haben dann erlebt, dass die Fahrzeit vier Jahre lang gleich geblieben ist, und zwar bei zwei Stunden und acht Minuten. Es wurde vier Jahre lang, also während einer ganzen Legislaturperiode, keine Verbesserung auf dieser Strecke erzielt. Die Technik des Transrapid wird als brillant angesehen. Im September 2000 wurde ein Knebelvertrag zwischen dem damaligen Verkehrsminister Klimmt und dem Transrapid-Konsortium geschlossen, wonach bis zum 30. Juni dieses Jahres eine Willenserklärung zum Bau einer oder mehrerer Transrapid-Strecken in Deutschland vorliegen müsse und dass anderenfalls pro Jahr 35 Millionen DM für die Optimierung dieser Technik bezahlt werden müssten. Pünktlich haben wir jetzt eine Machbarkeitsstudie für zwei Projekte vorliegen, einmal für die Strecke zwischen München und München-Flughafen und zweitens für die Strecke zwischen Dortmund und Düsseldorf. Die Situation in München möchte ich nur kurz streifen. SPD und Grüne vor Ort in München sagen Nein zu dem Projekt, aber Stoiber sagt Ja. Damit ist die absurde Situation eingetreten, dass eine Art Stoiber/Schröder-Schnellbahn gebaut werden kann, aber das gegen den Willen der Stadtregierung in München. Im Ruhrgebiet - dort liegt die Strecke Dortmund-Düsseldorf, die am relevantesten sein dürfte und die wahrscheinlich versucht werden wird zu bauen - ist die Situation noch burlesker und noch grotesker. Hierzu möchte ich drei Aspekte nennen. Erstens. Bisher ist in allen Parteien, in denen es Transrapid-Befürworter gab, immer gesagt worden, dass die Transrapid-Technik eine Technik für Höchstgeschwindigkeit im erdgebundenen Verkehr sei. Bei der Strecke Dortmund-Düsseldorf soll jetzt eine bereits existierende und funktionierende Hauptverkehrsader genommen und parallel dazu eine Transrapid-Strecke gebaut werden. Die Höchstgeschwindigkeitsbahn wäre dann praktisch eine Turbostraßenbahn. Dies wäre eine völlige Veränderung und Entwertung der eigentlichen Technik. Zweitens. Wir erleben bei dieser Strecke - ähnlich wie damals bei der Strecke Hamburg-Berlin - eine unheimliche Schönrechnerei in Bezug auf Fahrzeit, Bauzeit, Kosten und die Fahrgastzahl. Wenn man dies als Milchmädchenrechnung bezeichnen würde, wäre dies eine Beleidigung aller Milchmädchen. ({0}) Um nur einen Aspekt zu nennen: Die Rechnung in der Machbarkeitsstudie sieht so aus: Die Fahrt mit diesem Zug zwischen Dortmund und Düsseldorf ist ein Premiumangebot. Gleichzeitig müssen, um zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen, die Pendler in den Hauptverkehrszeiten zu 30 Prozent stehen; und dies im Premiumangebot, welches mehr kostet als die normale Bahn. An diesem Beispiel wird klar, wie hier schöngerechnet wird. Ich glaube, dass der Kollege Königshofen nachher auch darauf eingehen wird, wie mit dieser Schönrechnerei der Bock zum Gärtner gemacht wird. Ein weiteres Beispiel für Schönrechnerei ist, dass den Instituten, die die Machbarkeitsstudie gemacht haben, gesagt wurde, sie bekämen weiteres Geld beim Bau der Strecke, wenn sie die Strecke machbar rechnen würden. Drittens. Ich glaube, dass das Argument dafür, warum man eine Turbostraßenbahn baut, Sinn macht. Es macht Sinn, weil die Transrapid-Technik auf der Strecke bis zum Jahre 2001 mit 2,5 Milliarden DM subventioniert wurde. Zudem sollen die Baukosten zu 70 oder 80 Prozent subventioniert werden. Darüber hinaus wird aber jetzt gesagt: Wenn wir dies zu einer Nahverkehrstrecke machen, können wir Regionalisierungsgelder nehmen. Wenn alle Fahrten zu 60 Prozent vom Bund subventioniert werden und auch noch Regionalisierungsgelder hineinfließen, macht die Strecke Sinn. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Strecke absolut unsinnig ist, weil hier eine Hochgeschwindigkeitstechnik im regionalen Nahverkehr eingesetzt werden soll. Wir erleben, wie sich jetzt überall vor Ort Widerstand erhebt. Ich glaube nicht, dass sich die Situation so wie in München entwickeln wird, wo das Projekt einfach eine tote Angelegenheit bleiben wird. Vielmehr wird bereits jetzt in Düsseldorf und Essen Nein zu dieser Strecke gesagt. In Duisburg und Mülheim haben SPD und Grüne mit nur einer Stimme Mehrheit die Strecke momentan noch verteidigt. Wahrscheinlich werden aber auch diese Städte entlang der geplanten Strecke kippen. Die PDS hat einen Gesetzentwurf und einen Antrag vorgelegt. Zu unserem Antrag möchte ich sagen: Alle Parteien sollten sich - das wäre das Mindeste - darauf einigen, dass nicht noch einmal das Modell Scharping angewandt wird, damit nicht noch einmal nach Karlsruhe gegangen werden muss, weil Bundesmittel für ein - in meinen Augen, nicht in Ihren - unsinniges Projekt versprochen werden, wofür nirgendwo im Haushalt Bundesmittel eingestellt sind. Diese Versprechen dürfen nicht gemacht werden. Die bisher von den Regierungsparteien gemachten diesbezüglichen Versprechen sollten zurückgenommen werden. Danke schön. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Weis für die SPD-Fraktion.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach meinen Zählungen ist es in dieser Legislaturperiode ungefähr die achte Debatte zum Transrapid. Angesichts der leeren Ränge ist die Frage, warum wir heute Abend darüber miteinander debattieren, tatsächlich berechtigt. Wir haben dieses Thema auch im Fachausschuss schon ausgiebig besprochen. Aber wenn es gewünscht wird, stelle ich die Geschichte des Transrapid noch einmal dar. ({0}) Wir haben uns nach langem Überlegen aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen entschlossen, den Transrapid zwischen Hamburg und Berlin nicht zu bauen und damit endlich eine Hängepartie zu beenden. Wir haben aber hier im Deutschen Bundestag überlegt, wie wir das Knowhow der Schwebebahntechnik für Deutschland erhalten und sichern können. Zu diesem Sicherungskonzept gehört unsere Entscheidung - die auf industriepolitischen Erwägungen beruht - die Anwendung in Schanghai zu unterstützen. Bei einer Rückschau auf die Beiträge der PDS in den vergangenen Debatten und auch bei Betrachtung der heutigen Vorlagen der PDS drängt sich mir nur ein Eindruck auf: dass die PDS offensichtlich ein neurotisches Verhältnis zur Magnetschwebebahntechnik hat. ({1}) Mir als Ingenieur ist ein solch grundsätzlich ablehnendes Verhältnis zu einer an sich ganz attraktiven Verkehrstechnik rätselhaft. Man mag zu den Projekten Metrorapid im Ruhrgebiet oder Flughafenanbindung an München stehen, wie man will. Tatsache ist aber doch, dass mit der Magnetschwebebahntechnik eine Verkehrstechnik zur Verfügung steht, die die Möglichkeit bietet, schneller und bei Geschwindigkeiten bis zu 250 km/h sogar leiser als mit herkömmlichen öffentlichen Verkehrsmitteln ein Ziel zu erreichen. Wir können auch davon ausgehen, dass die Umweltbelastungen zumindest nicht höher sein werden als bei herkömmlicher Schienentechnik. Nur ein Narr könnte erwarten, dass ein neues Verkehrsmittel, das in Ballungsräumen Mobilität für viele Tausende von Menschen sichern soll, mit keinerlei Eingriffen in Natur, Landschaft oder Städtebau verbunden sein würde. Wer das annimmt, könnte Verkehrsplanungen schlechthin beenden. Irgendwie scheint mir die PDS diesen Punkt erreicht zu haben. ({2}) In ihrem Antrag nimmt die PDS Bezug auf die beiden Magnetschwebebahnprojekte in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Es wurde schon kurz dargestellt, wie es zu diesen Projekten kam, wie das Auswahlverfahren aussah und wie sich schließlich herauskristallisierte, dass die beiden Projekte in Nordrhein-Westfalen und Bayern die aussichtsreichsten aus der Liste der von den Bundesländern vorgelegten Projekte sind. Die Machbarkeitsstudien wurden im Februar übergeben. Dann fiel auch die Entscheidung, die ausgewählten Projekte entsprechend den bereits genannten industriepolitischen Erwägungen und den Zusagen zu bezuschussen. Meine Fraktion steht zu diesen Zusagen. Innerhalb des Rahmens, den wir bezüglich der beiden Schwebebahnprojekte in Nordrhein-Westfalen und Bayern mit den Zuschüssen setzen wollten, herrscht nunmehr Klarheit und Planungssicherheit. Ich möchte hier mit zwei Irrtümern aufräumen. Als Erstes gibt es eine Reihe von Kritikern, die jetzt lamentieren, dass der Bund bei den Projekten in NordrheinWestfalen und Bayern zu hohe Risiken übernehmen würde. Richtig ist, dass es sich weder beim Metrorapid noch bei der Flughafenanbindung an München um ein Bundesprojekt handelt. Bei beiden Strecken handelt es sich stattdessen um regionale Verkehrsprojekte. Die Verantwortung für die Realisierung liegt in vollem Umfang bei den beiden Bundesländern. ({3}) - Aus industriepolitischen Gründen wollen wir diese Projekte bezuschussen. Wie gesagt, das tun wir mit dem Rest der Summe, die für die Strecke Hamburg-Berlin zur Verfügung stand. Dabei handelt es sich um einen gedeckelten Betrag, den wir später nicht erhöhen werden. Diese Bezuschussung stellt auch keine Projektbeteiligung dar. ({4}) Der Bund wird keine weiteren Risiken übernehmen, weder für den Bau noch für den Betrieb. ({5}) Zweitens. Es ist auch ein Irrtum, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgendeine Notwendigkeit bestünde, für eine haushaltsrechtliche Absicherung der beiden regionalen Projekte im Bundeshaushalt zu sorgen. Richtig ist dagegen, dass die Länder am Zuge sind. Es ist deren Aufgabe, ein schlüssiges Finanzierungskonzept vorzulegen und den Eigenanteil der beiden Länder verbindlich darzustellen. Wir wissen, dass beide Länder konkrete Vorstellungen haben und sich zu diesen auch äußern werden. Es erscheint mir wichtig, dass an dieser Stelle auch auf die unterschiedliche Verantwortlichkeit zwischen den föderalen Ebenen hingewiesen wird. Die PDS unterstellt uns mit ihrem Antrag, wir würden mit dem Haushaltsrecht nicht sorgfältig umgehen. Ich weise das mit Entschiedenheit zurück. ({6}) Ebenso weise ich die Unterstellung in dem Gesetzentwurf der PDS zurück, beim Magnetschwebebahnplanungsgesetz handele es sich um ein Bürgerknebelungsgesetz. ({7}) Die Begründung der PDS zu ihrem Gesetzentwurf ist einfach haarsträubend, so als hätten wir hier chinesische Verhältnisse. Dann wird auch noch das „Handelsblatt“ als Kronzeuge für die Notwendigkeit des PDS-Vorstoßes herangezogen. Das alles ist schon ziemlich abenteuerlich und wohl nur mit dem bereits eingangs erwähnten neurotischen Verhältnis der PDS zur Magnetschwebetechnik zu erklären. Meine letzte Anmerkung: Jedes große industriepolitische Projekt ist natürlich nicht frei von Risiken. Wenn es nun zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen gelingt, diese völlig neue Verkehrstechnologie mit ihrem hohen Entwicklungspotenzial darzustellen, dann hat das nicht nur für Nordrhein-Westfalen, sondern auch für den Industriestandort Deutschland eine Bedeutung. Das ist genau der Hintergrund dafür, warum wir als SPD-Bundestagsfraktion an unserer Zusage zur Gewährung eines Zuschusses für diese Projekte festhalten. Danke. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Vielen Dank, Herr Kollege Weis, dass Sie Ihre Redezeit nicht ausgeschöpft haben. Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Dirk Fischer.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Aufhebung des Magnetschwebebahnplanungsgesetzes soll wohl heute das vollenden, was die Bundesregierung mit ihrer Zerstörung des Schienenprojektes Hamburg-Berlin begonnen hat. Eine hochmoderne und umweltfreundliche Technologie soll in Deutschland lebendig begraben werden. ({0}) Der Antrag lässt sich nur mit einer Fundamentalopposition gegenüber der Magnetschwebebahntechnologie erklären. Deswegen ist eine inhaltliche Auseinandersetzung wahrscheinlich nicht mehr möglich. Technologische MoReinhard Weis ({1}) dernisierungsimpulse sowie Impulse für den Arbeitsmarkt würden im Keim erstickt werden. Die technologische Poleposition bei dem spurgeführten Hochgeschwindigkeitsverkehr in Europa würde verschenkt werden. Dass die Magnetschwebebahntechnologie europäische Distanzen in den spurgeführten Verkehrssystemen schrumpfen lassen würde, wird einfach ignoriert. Befänden wir uns nicht im Wahljahr, wäre die Zahl derer, die den Transrapid lieber tot als lebendig sähen, deutlich höher. Die Grünen könnten sich aus ideologischer Verblendung weiterhin grundsätzlich gegen jede Art von Highspeed positionieren. Auch die SPD müsste nicht aus wahltaktischem Kalkül den Metrorapid in NRW und die Flughafenanbindung München - ohne jeden Kabinettsentscheid und ohne jede Bundestagsbefassung mit qualifizierten Unterlagen - durchpeitschen. Wir hätten hierzu noch Fragen zu stellen. Während für 292 Kilometer zwischen Hamburg und Berlin auf völlig neuer Trasse ein Betrag von 6,1 Milliarden DM und kein Pfennig mehr als nicht mehr finanzierbar galt, sind jetzt für 79 Kilometer zwischen Düsseldorf und Dortmund auf vorhandener Bahntrasse 2,6 Milliarden Euro für die Infrastruktur nicht zu viel. Während es bei der Strecke Hamburg-Berlin unabdingbar war, keinen Parallelverkehr zu akzeptieren, ist bei der Strecke Dortmund-Düsseldorf mittlerweile jede Menge Parallelverkehr unschädlich. Auf großen Werbetafeln in NRW wird verkündet: Für die Fußball-WM 2006 muss alles fertig sein. Uns will man erklären, dass für ein Ereignis von zwei oder drei Wochen, in denen vielleicht zwei Spiele in Dortmund und, wenn es hoch kommt, noch zwei in Düsseldorf stattfinden, ein solches Investment argumentativ begründbar ist. ({2}) Hierzu erklärt die Industrie, dass dies bis 2006 niemals fertig werden kann, weil Planungsgrundlagen fehlen. Bei der Strecke Hamburg-Berlin war ein halbes Jahr Probebetrieb eingeplant, um nur jedes Verkehrs- oder Sicherheitsrisiko auszuschalten. Ich sage der Industrie: Clement und Schwanhold werden euch den schwarzen Peter schon früh genug zuschieben; da könnt ihr ganz sicher sein. Es gibt also Fragen über Fragen, die noch zu stellen wären. Der Löwenanteil der von Bodewig versprochenen Bundesmittel hat eine Höhe von 2,3 Milliarden Euro. Der Steuerzahler gibt durch unsere Entscheidung fast 5 Milliarden DM aus. ({3}) Herr Kollege Weis, bei aller persönlichen Wertschätzung für Sie: Es ist wirklich ein Stück aus dem Tollhaus, dass Sie hier erklären, das sei kein Bundesprojekt. ({4}) Der Steuerzahler hat einen höheren Anspruch an die Ausübung der Verantwortung des Deutschen Bundestages im Umgang mit seinen schwer verdienten Steuermitteln. Das kann ich wohl behaupten. ({5}) 1,75 Milliarden Euro fließen - das ist für uns natürlich nicht nachvollziehbar; es gibt überhaupt keine Unterlagen, warum das so ist - nach Nordrhein-Westfalen, wo sich SPD-Ministerpräsident Clement dank dieser Wahlkampfhilfe als erfolgreicher Hightechförderer feiern lassen kann. Der Verdacht, dass Parteipolitik der sachlichen Bewertung vorgezogen wurde, liegt nahe. Außerdem ist Bodewigs Ankündigung eine unverbindliche Absichtserklärung und keine verlässliche Finanzierungsgrundlage. Eine Finanzierungszusage kann in dieser Legislaturperiode in haushaltsrechtlich unbedenklicher Weise nur durch einen Nachtragshaushalt erfolgen; denn im Bundeshaushalt 2002 sind weder Barmittel noch Verpflichtungsermächtigungen eingestellt. Bei der Vorstellung der Machbarkeitsstudien ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit gesagt worden. ({6}) In der „Frankfurter Rundschau“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist diese Unwahrheit an die lesende Bevölkerung weitergegeben worden, weil Sie nicht selber geprüft haben. Es verstößt gegen die elementaren Mitwirkungsrechte des Parlamentes, wenn eine unverbindliche Zusage von Bundesmitteln von der nordrhein-westfälischen Landesregierung als ausreichende Planungsgrundlage bezeichnet wird, um im weiteren Verfahren die Maßnahme zu planen und auszuführen. Schon die Bestellung der Militärflugzeuge A400M führte zur Abgabe einer uneingeschränkten Unterwerfungserklärung vor dem Bundesverfassungsgericht. Wie oft soll dieser Vorgang noch passieren? ({7}) Die permanente Verletzung des parlamentarischen Haushaltsrechtes hätten wir uns einmal in unserer Regierungszeit erlauben sollen. CDU/CSU und FDP haben das Budgetrecht des Deutschen Bundestages immer ernst genommen. Der Fachausschuss für Verkehr hat einen Anspruch auf Beteiligung und Information. Sie haben durchgesetzt, dass wir bei Transrapidprojekten drei große Hearings durchgeführt haben. Die Vorgängerregierung hat beratungsfähige Unterlagen paketweise geliefert. Es hat Parlamentsbeschlüsse gegeben. SPD und die Grünen, die sich gelegentlich als Erfinder der Demokratie darstellen, sollten sich - ich sage es in aller Härte und Deutlichkeit - dafür schämen, wie hier das Parlament abgefertigt wird. ({8}) Es passt ins Bild, dass Herr Bodewig über das Land zieht, Presseerklärungen abgibt und Konferenzen durchführt sowie Geld verteilt, aber nicht hier sitzt, wo es darum geht, uns zu erläutern, warum er was zugesagt hat. ({9}) Wir verlangen eine Kabinettsentscheidung. Diese Unterlage muss dann dem Deutschen Bundestag zur Entscheidung vorgelegt werden, die Fachausschüsse müssen Dirk Fischer ({10}) damit befasst werden. Ihnen gegenüber muss der Nachweis des verkehrlichen Nutzens und der Wirtschaftlichkeit erbracht werden. Es muss klargestellt werden, zulasten welcher Bereiche der Bundesanteil von 2,3 Milliarden Euro im Verkehrsetat gewonnen werden soll.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Sie müssen nun bitte zum Schluss kommen.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. Es muss deutlich gemacht werden, was Sie mit „andere Bundesmittel“ für Transrapidstrecken meinen und woher Sie diese nehmen wollen. Ich kann nur eines sagen: Dieses Material muss dem Parlament umgehend geliefert werden. Wir können uns mit dem bisherigen Verfahren nicht abspeisen lassen. Wenn Sie das nicht tun, werden wir Grund haben, nach dem 22. September beim Transrapid eine seriösere Politik zu machen, als es von dieser Regierung mit Spiegelfechtereien geschieht. ({0}).

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie gesagt, wir reden zum wiederholten Mal über das Lieblingsspielzeug einiger Herren. Ich glaube, es geht nicht nur darum, dass einige ein neurotisches Verhältnis zum Transrapid haben. Andere haben offenbar ein so erotisches Verhältnis, dass sie das immer wieder hier ausleben müssen. Ich weiß auch nicht, warum das sein muss, egal, ob es von der linken oder von der rechten Seite kommt. ({0}) Ich will mich auf den Punkt konzentrieren, der sowohl von Herrn Kollegen Fischer angesprochen wurde als auch im Antrag der PDS vorkommt, nämlich die Behauptung, es werde das Haushaltsrecht verletzt. Das ist nicht der Fall. ({1}) - Nein, Sie kennen offenbar das Haushaltsrecht nicht, Herr Kollege Fischer. Von daher sollten Sie an dieser Stelle etwas üben.Wir haben sehr wohl genau darauf geachtet. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das sagen die Richtigen! Das ist nur noch peinlich! - Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Fragen Sie mal die Kollegin Altmann, was sie früher verlangt hat! - Ich würde es Ihnen gerne sagen. Es gibt keinerlei haushaltsrechtlich verbindliche Zusagen über den Einsatz von Bundesmitteln für den Bau der Magnetschwebebahn. Das Haushaltsrecht des Deutschen Bundestages ist und bleibt an dieser Stelle korrekt gewahrt. Darauf hat sowohl der Minister als auch wir als Haushälter sehr genau geachtet. Von daher sollten Sie Ihren Adrenalinspiegel ein Stück weit heruntergehen lassen. Das Zweite ist, - der Kollege Weis hat darauf hingewiesen -, dass die Projekte, um die es jetzt geht, Ländersache sind. ({2}) - Sie sollten sich mit dem Vorgang wirklich einmal beschäftigen und nicht immer nur Reden halten über Dinge, über die Sie sich offenbar nicht ausreichend informiert haben. Der Bund hat sich bei der Beendigung des Projektes Hamburg-Berlin - das auf Initiative der Deutschen Bahn AG nicht verwirklicht wurde, weil ihr die Finanzierung zu aufwendig war - verpflichtet, dass er, wenn in Deutschland neue Strecken gebaut werden, bereit ist, die restlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. ({3}) Jetzt sind die Machbarkeitsstudien von NordrheinWestfalen und München vorgelegt worden. Auf dieser Grundlage hat sich der Bund bereit erklärt, ({4}) - als Absichtserklärung; es wäre gut, wenn Sie zuhören würden -, dafür die verfügbare oder kalkulatorische Restsumme bis zu 2,3 Milliarden Euro bereitzustellen. Aber die Projekte sind und bleiben in voller Finanzverantwortung der beiden Länder. ({5}) - Es gibt noch keine gesetzliche Basis für diese Finanzierung. ({6}) Es wäre gut, wenn Sie das endlich kapieren würden. Vielleicht sollten Sie sich den Vertrag einmal durchlesen. Ich habe Ihnen eben schon erklärt, dass ein Vertrag gemacht worden ist. Wenn Sie Fragen haben, dann melden Sie sich zu einer Frage, statt mir die Redezeit zu nehmen. ({7}) Dirk Fischer ({8}) - Offenbar können Sie solche Verträge nicht lesen, sonst wüssten Sie es besser. Kurzum, die Projekte liegen hinsichtlich der Finanzierung und Wirtschaftlichkeit in der Verantwortung der Länder ({9}) und müssen von ihnen hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit, ihrer konkreten Machbarkeit, des Planfeststellungsverfahrens und des gesamten Verfahrens erst einmal auf den Weg gebracht werden. Erst auf dieser Grundlage wird im Haushalt - das wird selbstverständlich erst in der nächsten Legislaturperiode der Fall sein - darüber befunden, ({10}) inwieweit die Mittel für diese Projekte ausbezahlt werden können. Ich beende jetzt meine Rede, weil die Kollegen offenbar nicht das Interesse haben, sich so weit darüber zu informieren, dass sie wissen, was Sache ist. ({11}) Es tut mir wirklich Leid. Ich hatte von den Mitgliedern des Verkehrsausschusses erwartet, dass sie sich die Mühe machen, sich die Verträge anzusehen, ({12}) und zur Kenntnis nehmen, was Herr Bodewig als Absichtserklärung abgegeben hat, wobei er aber das Limit sehr deutlich angesprochen hat. ({13}) - Meine Güte! Es tut mir Leid, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({14}) Da der Kollege Fischer in Sachen Transrapid offenbar doch sehr dumm ist und nicht einmal zuhören kann, tut es mir Leid. ({15}) Lassen wir das für heute einfach so stehen! ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ring frei für den Kollegen Horst Friedrich von der FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nicht unbedingt ringen, aber es war schon ein Lehrstück der Parlamentsgeschichte. Ausgerechnet Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, wagen es, dem Deutschen Bundestag eine Lehrstunde im Haushaltsrecht zu geben. Das ist doch der Höhepunkt der Frechheit. Was Sie persönlich mit dem A400M und der Haushaltssituation jeden Tag aufs Neue abliefern, müsste Sie eigentlich dazu bringen, sich zu dem Thema Haushaltsrecht und der Beachtung des Parlaments etwas devoter zu verhalten. ({0}) Das ist schon ein starkes Stück. Zu den Anträgen der PDS-Fraktion: Dass Sie, Herr Kollege Wolf, diese Anträge stellen, überrascht mich nicht. Auch das Ergebnis überrascht mich nicht; denn es ist wenigstens konsequent. Was hat sich gegenüber der Diskussion über die Strecke Hamburg-Berlin bei den beiden in den Blick genommenen Strecken - der MetrorapidStrecke und der Strecke München Hauptbahnhof bis zum Münchner Flughafen - geändert? Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die uns damals vorgeworfen haben, alle unsere Gutachten mit verkehrswirtschaftlicher Grundlage seien Schall und Rauch, Hausnummern, unseriös und Ähnliches mehr, machen nun das Gleiche. ({1}) Für die Strecke Hamburg-Berlin wurde alles infrage gestellt. Nun hören wir zu unserer großen Überraschung: Das ist kein Bundesprojekt. Aber auf welcher Berechnungsgrundlage sind im Haushalt noch 5 Milliarden DM aufgeführt? Wie werden die denn ausgegeben? Wenn ich es bisher richtig begriffen habe, ist der Bund im Verkehrswegebau nur für die Sachen zuständig, die auch Bundesangelegenheiten sind. Im Gegensatz zu uns, die wir bei der Strecke Hamburg-Berlin die 6,1 Milliarden DM tatsächlich in den Haushalt eingestellt hatten - auch aufgeteilt in der Finanzierung -, ergibt sich bei Ihnen bestenfalls aus einer Fußnote im Haushalt, dass man gegebenenfalls beabsichtige, die restlichen Mittel, die noch nicht bei der Strecke Hamburg-Berlin - der Schienenstrecke - für die Vorfinanzierung der Verwirklichung des Eisenbahnkreuzungsgesetzes ausgegeben worden sind, irgendwann für den Bau des Transrapids auf den beiden Strecken zur Verfügung zu stellen. Nun haben wir erlebt, wie virtuelles Geld verteilt wird, das noch gar nicht in den Haushalt eingestellt worden ist. Plötzlich prescht die nordrhein-westfälische Staatskanzlei vor und erklärt, die Verteilung der Gelder für die Magnetschwebebahnstrecken in NRW und Bayern stehe schon lange fest: 75 Prozent der Gelder würden an NRW und 25 Prozent an Bayern gehen. Das war natürlich ein Fehler. Das haben Sie auch erkannt und deshalb schnell erklärt, alles sei noch offen. Nach Vorlage der Gutachten werden die Gelder - überraschenderweise - exakt nach dem angekündigten Schlüssel verteilt. Komisch, darüber regt sich kein Mensch mehr auf. Die Begründung für diesen Verteilungsschlüssel ist sehr pfiffig: Herr Clement erklärt öffentlich, NRW müsse einen höheren Zuschuss aus der Bundeskasse bekommen, weil die geplante Strecke in NRW nicht so rentabel sein werde wie die in Bayern. Das ist natürlich die Krönung und endlich das Eingeständnis, dass der Ministerpräsident des Landes NRW, der als großer Reformer, Erneuerer und Modernisierer angetreten war, eigentlich mit leeren Händen dasteht. Weil Herr Clement jetzt händeringend ein Prestigeprojekt braucht, wird der Transrapid als Metrorapid missbraucht, ohne dass klare Finanzierungsgrundlagen vorhanden sind. ({2}) Ihre Berechnungsgrundlagen für die heutigen Magnetschwebebahnstrecken sind schlechter als unsere für die Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin, die Sie damals vehement kritisiert haben. Was mussten wir uns nicht alles von Frau Staatssekretärin Gila Altmann anhören, die damals verkehrspolitische Sprecherin der Grünen war! Bisher habe ich von ihr zu den Berechnungsgrundlagen für die Strecken in NRW und Bayern kein einziges Wort gehört. Dazu kann man nur sagen: Mein lieber Mann, Grüne, wie weit ist es mit euch gekommen! ({3}) Es kommt aber noch schlimmer. Das Ganze wird sogar noch als der große Durchbruch verkauft nach dem Motto: Die Technik war ja gut, wir müssen sie nur umsetzen. Dazu kann ich nur sagen, liebe Kollegen von Rot-Grün: Setzt sie endlich um! Schafft eine Finanzierungsgrundlage für diese seriöse Technik, damit der Transrapid nicht nur in Schanghai, sondern auch bei uns gebaut werden kann. Das, was Sie bisher abgeliefert haben, ist eine Frechheit und keine Unterstützung für eine moderne Technik! ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das letzte Wort in dieser Debatte hat der Kollege Norbert Königshofen für die CDU/CSU. ({0})

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der „Spiegel“ schreibt am 4. März 2002: Es gehört zu den größeren Momenten im Leben eines Verkehrsministers, wenn man mal eben so 2,3 Milliarden Euro für ein Zukunftsprojekt unters Volk bringen darf. Das Problem dabei ist nur das: Er hat dieses Geld nicht. Es ist nicht da, jedenfalls nicht im Bundeshaushalt 2002. Es gibt auch keine Verpflichtungsermächtigung; denn ein entsprechender Antrag der Union wurde ja bekanntlich bei den Haushaltsberatungen im letzten November abgelehnt. Es gibt - darauf ist bereits hingewiesen worden auch keine Beratungen und keine Anhörungen im Verkehrsausschuss und keine Entscheidungen. Dennoch verteilt Herr Bodewig - darauf wurde schon hingewiesen fiktives Geld, und zwar 1,45 Milliarden Euro an NRW und 0,55 Milliarden Euro an Bayern. Wir brauchen aber eine seriöse Beratung; denn es stellen sich ja eine Menge Fragen. Frau Eichstädt-Bohlig, es gibt zwar keine Verträge oder dergleichen. Aber wir haben etwas Interessantes zur Machbarkeitsstudie über die Metrorapid-Strecke in NRW gefunden. Uns liegt eine „Gemeinsame Erklärung des Verkehrsministeriums in NRW und des Konzerns Deutsche Bahn AG“ vom 11. Juli 2001, unterschrieben von Clement und Mehdorn, vor. Darin wird festgehalten, dass im Rahmen der notwendigen Vergabeverfahren der Know-howVorsprung der an der Machbarkeitsstudie beteiligten Firmen angemessen zu berücksichtigen sei. Im Klartext: Wird aufgrund der Machbarkeitsstudie der Metrorapid gebaut, haben die Verfasser der Studie gute Chancen, ein riesiges Stück vom Planungskuchen zu bekommen. Damit wir wissen, worüber wir reden: Es geht dabei um Gesamtplanungskosten in Höhe von 334 Millionen Euro! ({0}) Da verwundert es nicht, dass sich die entscheidenden Eckdaten innerhalb eines Wochenendes verändern. Investitionskosten: rund 500 Millionen Euro weniger; das sind 14 Prozent weniger. Betriebskosten: rund 11,5 Millionen Euro pro Jahr weniger; das sind 18,5 Prozent weniger. Die Fahrgastprognose wird von 25 Millionen auf 34,5 Millionen Fahrgäste heraufgesetzt; das sind sage und schreibe 40 Prozent mehr. Da kann man schon fragen: Warum so bescheiden? Man hätte ja auch noch mehr hineinschreiben können. ({1}) Auf dieser Grundlage vergibt nun der Herr Bodewig Geld! Woher das restliche Geld kommen soll - der Metrorapid in Nordrhein-Westfalen kostet 3,2 Milliarden Euro -, weiß niemand. ({2}) Es wird gesagt: Wir bekommen günstige Kredite. - Wie die aber getilgt werden sollen und wie die Zinszahlungen finanziert werden sollen, sagt niemand. Nur ein Beispiel: Für einen Kredit von 1 Milliarde Euro fallen Kreditkosten in Höhe von 75 bis 80 Millionen Euro pro Jahr an. Wenn man die Betriebskosten von 50 Millionen Euro dazunimmt, dann kommt man auf 130 Millionen Euro. Die fährt der Metrorapid nie ein. Auch der verkehrliche Nutzen ist sehr umstritten. Die Gewerkschaft Transnet schreibt am 25. Februar 2002 in ihrem „Un-Machbarkeitspapier“, dass der Metrorapid zu vermehrt gebrochenem Verkehr, zu erhöhten Fahrpreisen und zu Arbeitsplatzverlusten führt, und kommt zu dem Schluss: Der Metrorapid ist verkehrspolitisch überflüssig, Horst Friedrich ({3}) der Nutzen ist nicht absehbar und die Kosten sind nicht kalkulierbar. All das hätten wir gern geprüft, aber Vorlagen haben wir nicht. Vielleicht kann Herr Großmann seinem Minister einmal sagen, dass es für ihn - als ehemaliger Gewerkschaftssekretär hat er ja eigentlich guten Kontakt zu seinen Kollegen - ganz gut wäre, auf seine Kollegen von Transnet zu hören. Wie notiert doch der „Spiegel“ unter dem Titel „Kurtchens Mondfahrt“ - ich zitiere -: So ist das immer bei ihm. - Gemeint ist Minister Bodewig. Was er auch anpackt, irgendetwas funktioniert nie. Irgendetwas kommt immer dazwischen. Irgendetwas ist nie ganz zu Ende gedacht. ({4}) Ich schließe mich an und sage: So ist es auch hier. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Mir bleibt jetzt nur noch, die Aussprache zu schließen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/8300 und 14/8296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Alle sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. März 2002, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.