Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/1/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als Berichterstatter bitte vorab und, wie ich hoffe, ohne Anrechnung auf die Redezeit drei kurze technische Bemerkungen machen: ({0}) Erstens. Wir alle hatten sicherlich besonderen Anforderungen bei der zeitlichen Abarbeitung der gestellten Änderungsanträge zu genügen. Soweit damit Zumutungen für viele von uns verbunden waren, bitten wir - die Koalitionsfraktionen schließe ich damit ein - um Verständnis. Zweitens. Das Gleiche gilt auch für die geringfügige Verspätung bei der Zuleitung der geänderten Vorlage und des Berichtes. Wir alle wissen und erfahren es immer wieder: Dort, wo Menschen arbeiten, werden auch Fehler gemacht. Auch die EDV verhindert das gelegentlich nicht. Präsident Wolfgang Thierse Drittens. Wir haben ein paar kleinere Übertragungsfehler im Bericht, nicht im Beschluss, die ich jetzt zu Protokoll gebe, um das gleich zu Beginn zu klären. Bei aller Bitte um Verständnis für kleinere Fehler, ({1}) darf ich Ihnen aber auch sagen, dass wir uns darüber freuen und dankbar anerkennen, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien, im Sekretariat des Innenausschusses und in den Fraktionen an dem Projekt mitgearbeitet haben. ({2}) Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir heute eine bedeutungsvolle Debatte führen und mit einer für die Geschichte unseres Landes wichtigen Entscheidung den Tagesordnungspunkt abschließen werden. ({3}) Wir stehen also in diesem Sinne des Begriffes historisch an einer Weichenstellung: Zum einen wurde das gestern deutlich, als uns der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, mit anerkennenden Worten zu unserer nach der Wiedervereinigung noch einmal gewandelten Rolle in der internationalen Völkergemeinschaft bedacht hat. Unser aller Kurzzeitgedächtnis sollte es vielleicht hergeben, sich daran zu erinnern, dass alle Abgeordneten dieses Hauses ihm dafür stehend mit Beifall gedankt haben. ({4}) Ich würde mir auch heute diese weltoffene und auf die Zukunft gerichtete Betrachtungsweise wünschen, nicht dagegen eine rückwärts gewandte Diskussion auf Bierzeltoder Stammtischniveau zu vorgerückter Stunde. ({5}) Historisch kann man diesen Tag, meine Damen und Herren, zum anderen aber auch deshalb nennen, weil wir das zweite große und wichtige innenpolitische Reformprojekt dieser Bundesregierung und der sie tragenden Mehrheitsfraktionen jedenfalls hier im Bundestag vollenden wollen und werden. Erstens. Ein von Grundsätzen polizeilicher Gefahrenabwehr bestimmtes Ausländerrecht nach der von manchem spitzzüngigen Kritiker aufgestellten Maxime: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, alles andere regelt das - alte - Ausländergesetz“ wird durch ein Aufenthaltsrecht ersetzt, das sich an den Aufenthaltszwecken und den Bedürfnissen der Menschen orientiert. ({6}) Zweitens. Nach jahrzehntelangen Unterlassungen haben wir nunmehr ein Jahrzehnt der Integration für die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unter uns leben und dieses Angebot brauchen, sowie für diejenigen, die zu uns kommen sollen, geplant. Drittens. Im Interesse unserer Wirtschaft und unserer Sozialversicherungssysteme wollen wir Arbeitsmigration organisieren und so steuern, dass sie entgegen mancher dumpfen Ängste, die bewusst geschürt werden, nicht einheimische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt verdrängt, sondern dass sie einen Beitrag für zusätzliche Arbeitsplätze und unser aller Wohlstand und Wohlfahrt leistet. ({7}) Viertens. Ohne dass es deswegen einen einzigen Flüchtling in Deutschland mehr geben wird, werden wir diejenigen, die wir als Verfolgte aus humanitären Gründen aufnehmen wollen und die bei uns bleiben müssen, mit einem Rechtsstatus versehen, der ihnen eine dauerhafte Perspektive und die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes durch eigene Arbeit ermöglicht. Dadurch werden die Sozialkassen gerade nicht zusätzlich belastet, wie es einige Politiker der CDU/CSU den Bürgerinnen und Bürgern weismachen wollen. Auch wenn die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion das nicht hören wollen und man sie vermutlich auch argumentativ nicht erreichen kann - wovon ich ausdrücklich Frau Kollegin Professor Süssmuth und die Kollegen Heiner Geißler und Christian SchwarzSchilling ausnehmen möchte -, will ich Sie gerne einmal daran erinnern: War es vor ein paar Monaten nicht noch befreiend, befreiend für uns alle wie auch für das gesellschaftliche Klima in diesem Land, als Sie im Windschatten der Süssmuth-Kommission alte, verstaubte, teilweise verknöcherte Dogmen zu Grabe getragen haben? ({8}) Waren wir uns nicht alle - nicht nur die politischen Parteien in diesem Land - einig, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist, dass es also nicht darum gehen kann, ob Zuwanderung stattfindet, sondern wie wir Zuwanderung gestalten? Ihr Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hat dagegen die Rolle rückwärts vollendet, indem er laut heutiger Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ plötzlich wieder ernsthaft bestritten hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Wir sind Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in dieser Debatte und in diesem Gesetzgebungsverfahren schon weit und immer wieder entgegengekommen. Das gilt für den ursprünglichen Gesetzentwurf von Bundesminister Otto Schily genauso wie für den Entwurf der Fraktionen. ({9}) - Ich freue mich genauso wie Sie darüber, dass der Bundesinnenminister eingetroffen ist. Wir begrüßen ihn herzlich. So habe ich Ihre Reaktion verstanden. ({10}) Wir haben - ich bitte, das besonders zu beachten - 16 der von Ihnen insgesamt gestellten 91 Änderungsanträge in unseren Änderungsantrag übernommen. ({11}) - Das ist nicht unglaublich; das ist so, Herr Kollege Merz. Das können Sie nachlesen. Oder Sie können sich bei den Kollegen aus dem Innenausschuss sachkundig machen. Wir haben dem Bundesrat in elf seiner Bedingungen zugestimmt. Wir haben uns in allen Punkten, die von der Landesregierung von Brandenburg vorgebracht wurden, auf diese zubewegt. Aber das alles hilft offenbar nichts. Wir könnten Ihnen, ohne ein einziges Wort daran zu ändern, das Konzept der CDU-Zuwanderungskommission unter dem saarländischen Ministerpräsidenten Müller mit dem Briefkopf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorlegen, und Sie würden dazu wahrscheinlich Nein sagen, bevor Sie es gelesen haben. ({12}) - Gerade Sie, Herr Glos, haben es fertig bekommen, den Gesetzentwurf und die Änderungsanträge von Rot-Grün hierzu als „Mogelpackung“ zu bezeichnen, und das zu einem Zeitpunkt, als Sie die Änderungsanträge noch gar nicht kennen konnten. ({13}) Ihre völlig gewandelte Haltung ist in der Sache durch nichts, aber auch gar nichts begründet, sondern ausschließlich der Tatsache zu verdanken, dass Ihr nunmehr gefundener Kanzlerkandidat Ihnen allen „Rechts schwenkt, marsch!“ befohlen hat. Es ficht ihn und womöglich auch Sie nicht an, wenn der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, davor gewarnt hat, das Gesetz an wahltaktischen Überlegungen scheitern zu lassen. Ähnlich haben sich heute der BDI-Präsident Rogowski geäußert, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock. Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky hat die von Ihnen verlangten Änderungen an dem Gesetz sogar als eine Schande bezeichnet und uns, ebenso wie der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, schon kräftig dafür kritisiert, dass wir etwa bei der Frage des Kindernachzugsalters ein Stück auf Sie zugegangen sind und uns auf eine Altersgrenze von 12 Jahren verständigt haben. Es ist uns außerordentlich schwer gefallen, das Gesetz an dieser Stelle im Bundesrat zustimmungsfähig zu machen; denn es gibt in der SPD - das wurde im letzten Jahr zweimal ganz klar so beschlossen - die Auffassung, dass das Kindernachzugsalter einheitlich 18 Jahre betragen müsse. Das entspricht unserem Familienbild. Wenn wir nun bei einer Altersgrenze von zwölf Jahren für Kinder vom zwölften bis zum 18. Lebensjahr Ausnahmen aus Gründen des Kindeswohls und besonderer familiärer Umstände zulassen wollen, dann erwarten wir eigentlich von allen Familienpolitikern - auch denen von der CDU/CSU; denn Sie halten die Familienpolitik doch sonst immer besonders hoch - ein ausdrückliches Lob dafür. ({14}) Wie wahltaktisch Ihre Position motiviert ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es sich nun wirklich nicht um Massen von allein zu ausländischen Familien nachreisenden Kindern handeln kann, sondern vielleicht und gerade einmal um einige Hundert bis maximal 2 000 pro Jahr und Jahrgang. ({15}) Sie müssen der staunenden Öffentlichkeit einmal erklären, warum Sie einerseits die aufgrund Ihrer schlechten Familienpolitik zurückgegangene Geburtenrate beklagen, andererseits aber vor ein paar Hundert Kindern panische Angst zu haben scheinen. ({16}) Das alles passt nicht zusammen. Sie haben sich damit, wie dargelegt, nicht nur hier im Deutschen Bundestag, sondern auch in der Gesellschaft von den Positionen der Arbeitgeber, der Gewerkschaften, der Kirchen und der Wohlfahrtsorganisationen isoliert, was Herrn Stoiber überhaupt nicht interessiert, wie er uns heute hat wissen lassen. Meine fleißigen Mitarbeiter haben angesichts der Bedeutung des heutigen Tages - sozusagen als Serviceleistung, vielleicht besonders für die CDU/CSU - einmal nachgeschaut, welche Tageslosung die Evangelische Kirche Deutschlands für den heutigen Tag ausgibt. Sie entstammt Psalm 25, Vers 16: „Wende dich zu mir und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend.“ Das wird für Sie künftig ein Stoßgebot oder auch eine schmerzhafte Selbsterkenntnis sein. ({17}) Ihr Kollege Heiner Geißler hat dies bereits erkannt und in einem dpa-Interwiev gestern unter anderem geäußert: Es ist eine Illusion, die in meiner Fraktion gepflegt wird, dass die Union nach einem Wahlsieg am 22. September ihr Zuwanderungskonzept wird durchsetzen können. Er warnte davor, das Ausländerthema zum Gegenstand des Wahlkampfs werden zu lassen. Eine solche Auseinandersetzung, so Heiner Geißler, wäre Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen. Die Union werde sich noch mit Wehmut an den Gesetzentwurf der rot-grünen Koalition erinnern. Recht hat der Mann. ({18}) Sie, die anderen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, sollten sich bis zur Abstimmung noch einmal überlegen, ob Sie sich wider bessere eigene Überzeugung zu Befehlsempfängern eines Kandidaten aus Bayern degradieren lassen. Vielen Dank. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

({0}) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es richtig ist, dass dies ein großes, vielleicht sogar das größte Reformwerk der rot-grünen Koalition in dieser Legislaturperiode ist, dann stelle ich mir die Frage, warum der Bundesinnenminister zu spät kommt - gut, das kann passieren -, und vor allem, warum der Herr Bundeskanzler, der uns gestern Abend noch von München aus kritisiert hat, heute Morgen nicht auf der Regierungsbank sitzt, wenn es um dieses große Reformwerk geht. ({1}) - Sie fangen schon an, Zwischenrufe zu machen, bevor ich hier den ersten Satz gesprochen habe. Auch das hat bei Ihnen Methode. ({2}) Ich will einen zweiten Sachverhalt beschreiben, der auffallend ist. In den letzten Tagen wurde immer gesagt, die rot-grüne Koalition sei uns mit ihrem Gesetzentwurf in den wesentlichen Dingen entgegengekommen; ({3}) es sei sozusagen überhaupt nicht mehr möglich, dass wir ihn ablehnten. Dann stelle ich doch einmal die Gegenfrage: Warum ist es das dritte Reformwerk dieser rot-grünen Koalition, bei dem nicht mit uns gesprochen wird, ({4}) bei dem der Herr Bundeskanzler aber zum dritten Mal die Minister aus den PDS-regierten Ländern im Kanzleramt empfängt, um über dieses Thema zu sprechen? ({5}) Dieser Sachverhalt ist doch nicht ohne Bedeutung. Der Herr Bundeskanzler behauptet ständig, die Koalitionen von SPD und PDS in den Ländern seien eine Sache der betreffenden Länder. In Wahrheit haben die PDS-Minister schon längst - so war es auch in dieser Woche wieder nachzulesen - an seinem Kabinettstisch Platz genommen. Diese Minister sind dabei, wenn es darum geht, rot-grüne Gesetze zu machen. Auch über diesen Tatbestand muss man reden. ({6}) Herr Kollege Veit, Sie haben - ich rechne damit, dass dies heute im Laufe des Tages noch mehrfach passiert; wahrscheinlich werden dies alle Redner der Koalition tun - die Kollegen Geißler, Süssmuth und SchwarzSchilling in den Zeugenstand gerufen. ({7}) Ich will Ihnen dazu sagen, dass uns nicht gefällt und ich mir gewünscht hätte, dass diesen Kollegen eine Ablehnung oder zumindest eine Enthaltung heute möglich gewesen wäre. Ich bedauere, dass sie sich so entscheiden. ({8}) Ich respektiere ihre Haltung trotzdem. Sie werden Ihrem Gesetzentwurf zustimmen, ohne dass es Repressionen in unserer Fraktion gegen sie gibt. ({9}) Herr Kollege Veit, ich habe noch sehr gut in Erinnerung, dass Sie am 16. November des letzten Jahres zu den Abgeordneten im Deutschen Bundestag gehörten, die anlässlich der Vertrauensfrage hier gesagt haben, sie hätten sich von der eigenen Bundesregierung erpresst gefühlt. ({10}) Aus Ihrer Fraktion hat es rund 30 Abgeordnete gegeben, die erklärt haben, sie hätten bei der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nur zugestimmt, damit die Koalition an der Macht bleibe; in der Sache seien sie aber anderer Auffassung gewesen. Ich will Ihnen einmal sagen: Das unterscheidet uns von Ihnen. ({11}) Jetzt einige Anmerkungen zum Verfahren in dieser Woche. Es hat eine zweistündige Diskussion über 140 Änderungsanträge im Innenausschuss des Bundestages gegeben. Dann haben Sie mithilfe der Geschäftsordnung ein Ende der Debatte herbeigeführt und haben alle unsere Änderungsanträge abgelehnt und Ihre eigenen durchgezogen. Sie sind noch nicht einmal in der Lage gewesen, die Fristen einzuhalten, die für die ordnungsgemäße Beratung eingehalten werden müssen. ({12}) Dieses Gesetz ist konzeptionell und handwerklich mangelhaft und verdient keine Zustimmung. ({13}) Ich will unsere Ablehnung auch in der Sache begründen. Wenn Sie uns gesagt hätten, wir wollen eine Beschleunigung der Asylverfahren erreichen, dann hätten wir zugestimmt. Wenn Sie uns gesagt hätten, dass es darum geht, verfolgten Frauen einen besseren Status zu geben - es gibt beispielsweise in Berlin Einrichtungen, in denen diese Frauen betreut werden -, die in ihren Herkunftsländern - zum Beispiel in Bosnien, auf dem Balkan oder anderswo - auf schlimme Weise verletzt und vergewaltigt worden sind, dann hätten Sie bei uns Zustimmung gefunden. ({14}) - Ich weiß, Herr Bundesinnenminister, dass Ihnen das nicht gefällt. Über diese Punkte des Gesetzentwurfes hätten wir gerne mit Ihnen reden können. ({15}) In Wahrheit bezweckt dieses Gesetz aber etwas ganz anderes. Hier geht es um einen Paradigmenwechsel bei der Einwanderung und der Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Es geht darum, dass eines der großen Projekte - insbesondere der grünen Partei - im Wahljahr realisiert wird, nämlich der Wechsel hin zu einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft. Dies lehnen wir ab. Das wird auch so bleiben. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Veit?

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich bitte um Nachsicht. Ich bin durch die Zurufe aus seiner Fraktion schon genug aufgehalten worden. ({0}) Ihre Zurufe beeindrucken mich zwar nicht. Aber ich muss sagen, dass unsere Redner damit systematisch gestört werden. Ich will noch zwei Sachverhalte ansprechen. Sie heben mit diesem Gesetz den Anwerbestopp auf, den es seit dem Jahre 1973 in Deutschland gibt. ({1}) Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt hat erklärt, dass bei einer Arbeitslosigkeit von 1,2 Prozent und bei einer Ausländerarbeitslosigkeit von 0,8 Prozent eine größere Zuwanderung nach Deutschland nicht akzeptiert werden könne. Heute heben Sie bei einer Arbeitslosigkeit von rund 10 Prozent und einer Ausländerarbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent diesen Anwerbestopp auf. Dies ist mit dem Anspruch, den Sie stellen, nämlich in Deutschland eine stärkere Integration und mehr Beschäftigung gerade von Ausländern zu ermöglichen, nicht zu vereinbaren. Sie lösen kein einziges Problem; Sie verschärfen die Probleme. ({2}) Sie sehen in diesem Gesetzentwurf eine Härtefallregelung vor, die in Zukunft jedem Innenminister bei der Aufnahme zusätzlicher Ausländer in die Bundesrepublik Deutschland in einem sehr großen Umfang, also praktisch ohne jede Limitierung, Ermessen einräumt. ({3}) Über die Härtefallregelung wird eine Begrenzung des Ausländerzuzuges nach Deutschland praktisch nicht mehr möglich sein. ({4}) Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Sie regeln den Familiennachzug neu, und zwar insbesondere für diejenigen, die in Deutschland gegenwärtig nur geduldet sind. Über deren Status kann man sprechen. Aber über den Nachzug der Familien derjenigen, die nur geduldet sind - das sind etwa 150 000 -, aber eigentlich ausreisen müssten, werden Sie eine wesentlich höhere Einwanderung nach Deutschland und damit auch in die sozialen Sicherungssysteme ermöglichen. ({5}) Dies lehnen wir ab. Denn die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland verkraften das nicht. ({6}) Sie sehen eine neue Regelung in Bezug auf den Kindesnachzug vor. Wir haben Ihnen, obwohl wir der Meinung waren, dass der Zeitraum bis zu einem Alter von sechs bis zehn Jahren der richtige Zeitraum für den Nachzug von Kindern ist, angeboten, sich mit uns auf einen Nachzug bis zum zwölften Lebensjahr zu einigen, wenn Sie gleichzeitig auf jede weitere Ausnahmeregelung verzichten. ({7}) Das haben Sie sofort abgelehnt. Sie sehen Ausnahmeregelungen vor, die den Nachzug von Kindern nach Deutschland bis zum 18. Lebensjahr zum Regelfall machen werden. Dies lehnen wir ab und dabei wird es auch bleiben. ({8}) Zum Schluss möchte ich, Herr Bundesinnenminister, feststellen: Wir haben hier häufig über die Integration geFriedrich Merz sprochen. Ich möchte daran erinnern, dass unsere Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, vor mehr als drei Jahren, im Januar 1999, im Deutschen Bundestag, der damals noch in Bonn war, ein umfassendes Konzept zur Integration der in Deutschland lebenden Ausländer vorgelegt hat. ({9}) Sie haben diesen Antrag auf Verbesserung der Integration der in Deutschland lebenden Ausländer sofort abgelehnt. Dass Sie Integration nicht wirklich wollen, sondern dass ein ganz anderes gesellschaftliches Leitbild hinter dem Gesetzentwurf steht, den wir heute verabschieden sollen, das will ich an einer einzigen Bestimmung dieses Gesetzentwurfes deutlich machen: Nach einem Aufenthalt von zwei Jahren in Deutschland gibt es gemäß der §§ 44 und 45 des Entwurfes eines neuen Aufenthaltsgesetzes - ich habe den Gesetzentwurf gestern Abend noch einmal sehr genau gelesen - für keinen in Deutschland lebenden Ausländer mehr die gesetzliche Verpflichtung zum Besuch von Integrationskursen. ({10}) Damit ist jeder Anspruch auf Integration in die deutsche Gesellschaft aufgegeben worden. Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. ({11}) Sie versuchen, uns mit Stellungnahmen des Präsidenten des DIHK, der Kirchen, der Arbeitgeberverbände, der Gewerkschaften und vielen anderen unter Druck zu setzen. ({12}) - Liebe Frau Beck, das schmerzt überhaupt nicht. Wir wissen, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung weltoffen, ausländerfreundlich und tolerant ist. ({13}) - Meine Damen und Herren, Ihre Zurufe nehme ich gerne auf. Die deutsche Bevölkerung hat in den letzten Jahrzehnten eine solche Aufnahmebereitschaft und Ausländerfreundlichkeit unter Beweis gestellt, wie dies in keinem anderen europäischen Land der Fall war. ({14}) Allein die Stadt Hamburg hat mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen als ganz Großbritannien. Sie sollten noch lauter dazwischenrufen, damit es jeder in Deutschland versteht. Das deutsche Volk ist ausländerfreundlich, tolerant und weltoffen. ({15}) Die Ausnahmen, die es gibt, zum Beispiel rechtsradikale Straftaten, die beschämen, belasten und beschweren uns alle. Aber so handelt nicht die deutsche Gesellschaft, das deutsche Volk. ({16}) Die Deutschen sind ausländerfreundlich. Herr Bundesinnenminister, lesen Sie einmal nach, was Stefan Dietrich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ heute schreibt. Er hat völlig Recht: Ein solches Gesetz verdient keine Zustimmung. Ein solches Gesetz verbessert die Integration nicht, sondern verschlechtert sie. Ein solches Gesetz eröffnet eine noch höhere Einwanderung in den Arbeitsmarkt. Das ist bei 4,3 Millionen Arbeitslosen zum jetzigen Zeitpunkt das völlig falsche Signal. Ein solches Gesetz eröffnet noch mehr Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme. Deswegen lehnen wir es ab. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deshalb brauchen wir endlich ein Zuwanderungsgesetz, das zugleich modern und humanitär ist und die Integration fördert. Ich möchte Sie alle noch einmal daran erinnern: Das war vor einem Jahr bei den Kirchen, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden Konsens. Es war auch in diesem Hause Konsens. Auch die Zuwanderungskommission der CDU, Herr Merz, unter Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten räumte mit der alten Lebenslüge auf, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Wir alle kennen die Ergebnisse der Süssmuth-Kommission, an der alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen beteiligt waren. ({0}) Ich möchte deshalb an dieser Stelle Frau Professor Dr. Rita Süssmuth noch einmal ganz ausdrücklich danken. Diese Kommission hat unter ihrer Leitung den Weg für einen parteiübergreifenden Konsens bereitet. ({1}) Wenn Sie nun, Herr Merz und meine Damen und Herren von der Union, heute diesen Gesetzentwurf ablehnen, dann ignorieren Sie nicht nur die Beschlüsse Ihrer eigenen Partei. Sie machen vielmehr Folgendes: Sie verlassen damit den Konsens, den wir vor einem Jahr in der Gesellschaft und in diesem Hohen Haus hatten. Sie stellen sich damit ins gesellschaftliche Abseits. ({2}) Es ist Folgendes passiert: Ihre Partei, Herr Merz, die CDU, ist mit dem Kanzlerkandidaten Stoiber endgültig auf CSU-Kurs eingeschwenkt, die als einzige Partei in diesem Land noch nie ein Zuwanderungsgesetz wollte. ({3}) Sie ignorieren die Forderungen der Wirtschaftsverbände. Sie stellen sich gegen die Kirchen. Kardinal Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, und Präses Kock, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, haben Sie gestern noch einmal ausdrücklich davor gewarnt, das Thema zu einer Sache der Stammtische zu machen. ({4}) Eine solche Auseinandersetzung ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen, wie Ihr Kollege Heiner Geißler gesagt hat. Recht hat er. Aber genau das tun Sie, wenn Sie heute dieses Gesetz ablehnen. Mit Stimmungsmache gegen die hier lebenden Migranten und Flüchtlinge wollen Sie im Wahlkampf auf Stimmenfang gehen. Sie stiften damit sozialen Unfrieden in dieser Gesellschaft. Das ist das Unverantwortliche an Ihrem Verhalten. ({5}) Es ist auch in der Sache unbegreiflich. Wir haben allein 18 Änderungsanträge von Ihnen aufgenommen. Wir haben elf zentrale Änderungsanträge des Bundesrates aufgegriffen. Wir sind Ihnen damit noch einmal ein wirklich großes Stück entgegengekommen. Ich kann Ihnen versichern: Das ist gerade uns Grünen nicht leicht gefallen. Aber wir haben gesagt: Im Interesse der Sache wollen wir uns auf Ihre Vorschläge zubewegen, weil es uns wirklich ein Anliegen ist, dass es noch in dieser Legislaturperiode ein Zuwanderungsgesetz gibt. ({6}) Jetzt komme ich zu den Einzelforderungen, Herr Merz: Sie und Ihre Partei haben gefordert, im Gesetz müsse das Ziel der Zuwanderungsbegrenzung stehen. Hier habe ich das Papier von Herrn Bosbach. Exakt diese Formulierung haben wir in das Gesetz übernommen. ({7}) Zum Thema Arbeitsmarkt. Sie haben gesagt, wir sollen den Bedarf nicht an der regionalen Lage des Arbeitsmarktes orientieren. Wir haben Ihre Forderung exakt in das Gesetz übernommen. ({8}) Herr Merz, Sie haben gesagt - das steht auch in diesem Papier -, Sie wollen schärfere Kriterien für die Niederlassung ausländischer Unternehmer. Ich habe Herrn Bosbach gestern Abend im ZDF zugehört: Sie fordern von einem ausländischen Unternehmen für die Niederlassung 1 Million Euro und die Schaffung von zehn Arbeitsplätzen. Auch diese Forderung haben wir exakt in das Gesetz übernommen. ({9}) Das sind Ihre drei Forderungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Herr Merz hat eben gesagt: Wir verabschieden uns von der Anwerbestoppverordnung. Ich muss wirklich sagen: Das ist eine völlig verstaubte Verordnung. Ihre Forderung, sie beizubehalten, ist abenteuerlich. Das wäre nämlich die Rückkehr in die Gastarbeiterära der 60er-Jahre. Genau die wollen wir hinter uns lassen. Wir wollen die Zuwanderung modern gestalten. Das ist der Kern des Gesetzes. Deshalb werden wir daran natürlich nichts ändern. ({10}) Ich komme zur Senkung des Nachzugsalters. Sie haben darauf bestanden, dass wir das Nachzugsalter noch einmal absenken. Wir, die Grünen - die EU-Kommission im Übrigen auch -, fordern, dass wir es heraufsetzen. Wir haben uns darauf verständigt, es auf zwölf Jahre zu senken. Das ist aus unserer Sicht ein sehr weitreichendes Angebot, das bis an unsere Schmerzgrenze geht. Das sage ich Ihnen ganz offen. ({11}) Sie empören sich jetzt darüber, dass im Einzelfall auch ein Kind zwischen zwölf und 18 Jahren nachziehen kann, wenn es das Kindeswohl - das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen -, die familiäre Situation und die Integrationsperspektive - diese drei Voraussetzungen müssen vorliegen - erfordern. Ich möchte wissen, wie Sie das Ihrer Klientel vermitteln wollen. Das ist inhuman und familienfeindlich. Herr Sterzinsky hat zu Recht gesagt, dass Ihre Nachforderung bei diesem Punkt eine Schande für diese Gesellschaft ist. ({12}) Herr Merz, gerade haben Sie wieder gesagt, dass mit dieser neuen Vorschrift dem Kindernachzug Tür und Tor geöffnet würden. Auch heute gibt es im Gesetz bereits eine Ermessensvorschrift. Der kleine Unterschied besteht darin, dass das relevante Alter im heute geltenden Gesetz 16 Jahre ist. ({13}) - Natürlich ist es eine. - Sie haben weder im Bundestag noch im Bundesrat eine Mehrheit, um das Nachzugsalter zu senken. Wir machen Ihnen einen Vorschlag zur Senkung des Nachzugsalters. ({14}) Sie sind dagegen, weil es eine Ermessensvorschrift ist. Das versteht in der Gesellschaft niemand mehr. Jeder weiß, dass Sie dieses Gesetz einfach nicht wollen und deshalb Vorwände suchen, um es abzulehnen. ({15}) Kerstin Müller ({16}) Sie und Herr Innenminister Schönbohm - er ist anwesend - haben gefordert, dass sich der Bund stärker an den Integrationskosten beteiligen soll. Das machen wir, und zwar in einem Verhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel. Dies steht auch genauso in dem Papier von Herrn Bosbach. Nun sagen Sie, dass Ihnen das nicht reicht. Sie müssen einen Vorschlag machen, wie wir es finanzieren sollen. Seit Herr Stoiber aus Bayern Kanzlerkandidat ist, macht er ausschließlich Vorschläge, deren Realisierung etwas kostet, sagt aber nie, wie man sie finanzieren soll. Die Länder und wir haben diese finanziellen Spielräume nicht. ({17}) Ich komme zur Genfer Konvention. Wir haben in dem Gesetz noch einmal klargestellt, dass wir, wie es die Genfer Konvention vorsieht, die nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung anerkennen. Damit weiten wir die Zuwanderung nicht aus und wir schaffen auch keine neuen Asylgründe, wie Sie immer wieder demagogisch behaupten. Die Flüchtlinge erhalten ein gesichertes Aufenthaltsrecht, wie es auch in allen anderen europäischen Ländern üblich ist; mehr nicht. ({18}) Es geht dabei um schlimmste Menschenrechtsverletzungen. Es geht um die Genitalverstümmelungen an Frauen. Ich will Ihnen wirklich eines sagen: Hören Sie endlich auf, das Schicksal verfolgter Frauen für Ihre Agitation in dieser Gesellschaft zu missbrauchen! Die Frauen in Ihrer Partei sind doch auch dafür, dass wir dort etwas tun. ({19}) Wir machen Ihnen heute ein sehr weitreichendes und letztes Kompromissangebot. Wenn es Ihnen um die Sache ginge - das geht es Ihnen aber nicht -, müssten Sie heute zustimmen. Wir haben heute im Deutschen Bundestag die Chance auf einen wirklich historischen Kompromiss. Ich appelliere an die Sachorientierten und Vernünftigen in der Union: Opfern Sie einen Konsens in der Zuwanderung nicht einem kurzsichtigen wahltaktischen Kalkül! ({20}) Eines möchte ich hier noch einmal sagen, weil viele darüber geschrieben haben: Sie irren, wenn Sie glauben, dass man nach einer Wahlschlacht um die Zuwanderung - die wird es, wenn Sie es ablehnen, geben - in der folgenden Legislaturperiode wieder bei null anfangen könne. ({21}) Das glaube ich nicht. Wenn das Gesetz jetzt scheitert, dann ist die Chance auf ein Zuwanderungsgesetz in dieser Gesellschaft auf Jahre hinaus verspielt. Für das, was dann passiert, tragen Sie die Verantwortung. ({22}) Herr Schönbohm, zum Schluss möchte ich noch einmal an die Länder appellieren. Wir haben alle Forderungen, die Herr Ministerpräsident Stolpe in seiner Rede am 20. Dezember vor dem Bundesrat aufgezählt hat, in dem Gesetzentwurf berücksichtigt. Ich betone: alle. Ich gehe davon aus, dass Ministerpräsident Stolpe nicht einfach Reden hält, die er nicht mit Ihnen abgestimmt hat; denn Sie hier haben ja ein gutes Verhältnis zueinander. Ich möchte gerne, dass Sie dazu Stellung nehmen. Wir haben alle Forderungen aufgenommen. Deshalb appelliere ich an die Länder: Folgen Sie nicht dem Blockadekurs von Herrn Stoiber, nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr und stimmen Sie am 22. März diesem Gesetzentwurf zu, und zwar im Interesse der Flüchtlinge und Migranten und im Interesse des sozialen Friedens in diesem Land! Danke schön. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Merz hat gemeint, es handle sich hier um ein großes Reformprojekt von Bündnis 90/Die Grünen. Meine Beobachtung ist eine völlig andere. Es handelt sich hier um ein Reformprojekt, hinter dem wichtige gesellschaftliche Gruppen stehen: die Kirchen, wichtige Arbeitgeberverbände sowie die Gewerkschaften. Die FDP war es, die sich als erste Partei diesen Wunsch aus der Gesellschaft zu Eigen gemacht hat und einen Gesetzentwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt hat. ({0}) Wir haben unser Konzept aufgrund der verdienstvollen Darlegungen im Süssmuth-Bericht aktualisiert. Viele der uns wichtigen Punkte sind von Minister Schily im Regierungsentwurf übernommen worden. Wir begrüßen es auch, dass die lange Diskussion jetzt allmählich auf eine Entscheidung „zuwandert“. Es handelt sich um eine Entscheidung, die freilich endgültig nicht heute im Bundestag, sondern, wie wir alle wissen, erst im Bundesrat fallen wird. In dieser Situation werden wir uns trotz einer positiven Grundbewertung heute aus folgenden Gründen der Stimme enthalten: ({1}) Erstens. Das von der Bundesregierung und der Koalition in den letzten Tagen gewählte Verfahren, im letzten Augenblick umfangreiche Änderungsanträge zu präsentieren, kann im Interesse der Selbstachtung des Parlaments nicht akzeptiert werden. ({2}) Wenn der Minister zu spät kommt, ist das eine lässliche Sünde. Wenn Sie aber 58 Seiten Änderungsanträge so spät vorlegen, dass man in den eigenen Gremien nicht mehr korrekt darüber beraten kann, dann kann man einem solKerstin Müller ({3}) chen Verfahren nicht durch Zustimmung noch eine Sanktion erteilen. ({4}) Zweitens. Inhaltlich stellen wir in dem Gesetzentwurf, so wie er jetzt vorliegt, Licht und Schatten fest. Die Regelungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt entsprechen im Großen und Ganzen unseren Vorstellungen. Sie sind allerdings sehr bürokratisch ausgefallen. Drittens. Das Thema Integration wird in dem Gesetzentwurf eher stiefmütterlich behandelt. Es stellt sich nur als Einstieg dar, aber noch nicht als vollständiges Programm. Viertens. Die ausländerrechtlichen Teile dieses Gesetzentwurfes weisen - wie ich Ihnen im Einzelnen noch darstellen werde - große Lücken auf, sodass wir insgesamt zu einer zwiespältigen Bewertung des Inhalts kommen. Dennoch möchte ich Ihnen für das weitere Verfahren ankündigen, dass die heutige Stimmenenthaltung als wohlwollende Stimmenenthaltung der FDP zu charakterisieren ist. ({5}) Sie wissen alle, dass die Entscheidung in Wahrheit im Bundesrat fällt und Sie wissen auch, dass es dort entscheidend auf die Stimme des SPD/FDP-regierten Bundeslandes Rheinland-Pfalz ankommen wird. Deswegen sage ich dies hier sehr bewusst. Lassen Sie mich kurz zum Verfahren und dann detaillierter zum Inhalt des Gesetzentwurfes Stellung nehmen. Minister Schily, den wir an anderer Stelle und wegen anderer Themen zuletzt heftig und deutlich kritisiert haben, hat seit der Vorlage seines Gesetzentwurfs im August 2001 mit der FDP-Bundestagsfraktion faire, sachliche und absolut angemessene Beratungen geführt. Dies ist zwar eigentlich selbstverständlich, wird aber von uns dennoch ausdrücklich anerkannt. ({6}) Freilich galt dies nur bis zum Mittwoch der letzten Woche. Sie haben alle beobachtet, dass die Bundesregierung und die Koalition dann wieder in das alte Verhalten zurückgefallen sind, das wir schon beim Terrorismusbekämpfungsgesetz Schily II schmerzlich kennen lernen mussten. Wie in dem damaligen Gesetzgebungsverfahren haben Sie auch jetzt wieder in letzter Sekunde umfangreiche Änderungsanträge vorgelegt. Damals bei Schily II haben alle Oppositionsredner dieses Verfahren heftig kritisiert. Die Koalition hat daraufhin versprochen, ein solcher Vorgang werde sich nie mehr wiederholen, schon gar nicht bei einem so wichtigen Gesetz wie dem Zuwanderungsgesetz. Dieses Versprechen datiert vom Dezember; knapp zwei Monate später ist es bereits gebrochen worden. Meine Damen und Herren, Sie als Koalition ziehen sich jetzt auf das Argument zurück, es sei nicht so schlimm, wenn man Änderungsanträge erst relativ spät präsentiere, denn die Opposition wolle das Gesetz ja so oder so ablehnen. Sie wissen ganz genau, dass dieses Argument in Bezug auf die FDP nicht zutrifft. ({7}) Wir nehmen hier eine grundsätzliche Position ein. Wenn Mitwirkungsrechte der Opposition von der Mehrheit des Hauses zum zweiten Mal in derart massiver Weise missachtet werden, müssen Sie sich den alten Satz gefallen lassen, mit dem wir Sie charakterisieren: Bei Ihnen gilt das gebrochene Wort. So ist es. ({8}) Meine Damen und Herren, in der Sache selbst bleibt es jedoch dabei, dass die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, die wichtige Aufgabe der Integration und die Regelung humanitärer Verpflichtungen ein Gesamtkonzept erfordern. ({9}) Diese drei Teile werden in dem Gesetzentwurf der Koalition und der Bundesregierung freilich in unterschiedlicher Qualität abgehandelt. Im humanitären Bereich hat es in der Sachverständigenanhörung erhebliche Kritik an dem Gesetzentwurf gegeben. Diese Kritik haben sich SPD und Grüne nur zum Teil aufzugreifen getraut, weil sie der Meinung waren, wenn sie der Union im humanitären Bereich entgegenkämen, würden sie eine Zustimmung der CDU/CSU bekommen. Das war aber eine irrige Meinung, wie wir heute feststellen müssen. Deswegen bleiben in diesem Bereich aus unserer Sicht Lücken. Sie hatten nicht den Mut, alte Zöpfe abzuschneiden. Die FDP hat zum Beispiel seit langem einen verbesserten Zugang von Asylbewerbern zum Arbeitsmarkt gefordert. Wir halten es für richtig, dass hier geborene Kinder und hier aufgewachsene Jugendliche generell unter Ausweisungsschutz gestellt werden. ({10}) Die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention müssen endlich zurückgenommen werden. ({11}) All dies haben Sie sich nicht anzupacken getraut in der - ich sage es noch einmal - irrigen Meinung, Sie könnten die Union zu einer Zustimmung bewegen, was nicht geschieht. ({12}) - Ich kann eine Zwischenfrage nicht zulassen, wenn ich nicht gefragt werde.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Also eine Zwischenfrage des Kollegen Beck. Bitte sehr.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Stadler, nach dem, was Sie gesagt haben, sind wir uns in unseren politischen Vorstellungen inhaltlich sehr nah. Können Sie uns garantieren, dass die Länder Hessen, Baden-Württemberg, Hamburg und Rheinland-Pfalz, in denen die FDP mitregiert, auch mitstimmen werden, wenn wir als rot-grüne Koalition zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht gemeinsam mit der FDP-Fraktion, dahin gehend eine weitere Initiative ergreifen? In diesem Fall könnte sich die Koalition sicher vorstellen, Ihnen in einer weiteren Initiative an diesem Punkt entgegenzukommen. ({0})

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Beck, erstens: Zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt wird es eine rotgrüne Koalition gar nicht mehr geben, sodass sich diese Frage dann erübrigt. ({0}) Zweitens. Was einen nahen späteren Zeitpunkt betrifft, darf ich Sie darauf verweisen, dass ich hier ja nicht nur Teile unseres eigenen Zuwanderungskonzepts vorgetragen habe, sondern dass die FDP dem im Bundestag schon Taten hat folgen lassen, etwa mit einem Antrag des Kollegen Niebel zum Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber. ({1}) Wir wollen, dass im Interesse der Integration von Kindern die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen werden, die von der von Ihnen geführten Bundesregierung aufgestellt worden sind. Dazu haben wir schon Initiativen ergriffen. Im Übrigen spreche ich heute für die Bundestagsfraktion. Unsere Ländervertreter werden in der nächsten Woche - früher war es nicht möglich, weil Sie den endgültigen Gesetzentwurf so spät vorgelegt haben - ihre Haltung koordinieren. Dem greife ich natürlich nicht vor. ({2}) Meine Damen und Herren, im Bereich der humanitären Regelungen waren in der Öffentlichkeit zwei Themen besonders strittig. Ich möchte daher noch einmal feststellen, dass Personen, die von nicht staatlicher oder geschlechtsspezifischer Verfolgung betroffen sind, ohnehin nach der Genfer Flüchtlingskonvention schutzwürdig sind. Das, was im Gesetzentwurf klargestellt wird, begrüßen wir deswegen, weil damit der internationale Standard festgeschrieben wird. Es ist damit aber kein neuer Asylgrund verbunden. Das ist auch wichtig festzuhalten. ({3}) Ferner hat die Diskussion um das Nachzugsalter von Kindern eine große Rolle gespielt. Die FDP war der Meinung, dass man es bei der bisherigen Regelung hätte belassen können. Ich will versuchen, den entscheidenden Punkt der Diskussion herauszuarbeiten. Niemand in diesem Hause ist der Meinung, dass es das Günstigste ist, wenn Kinder im Ausland aufwachsen. Wir alle wollen doch im Interesse der Integration von Kindern, dass sie dort aufwachsen, wo sie vermutlich ihr gesamtes Leben verbringen werden. Aber es geht hier um einen grundrechtlichen Aspekt. Es geht auch darum, dass Eltern für ihre Kinder Entscheidungen zu treffen haben und dass dies durch Art. 6 des Grundgesetzes geschützt wird. Nicht alles, was gewünscht ist, kann den Eltern zwangsweise vom Staat aufoktroyiert werden. Das verkennt die Union in ihrer Argumentation. ({4}) Gleichwohl kann der gefundene Kompromiss über die Senkung des Nachzugsalters von Kindern auf zwölf Jahre bei einer gleichzeitigen Härtefallregelung noch akzeptiert werden, obwohl ich für die FDP-Fraktion feststelle, dass die gesamte Diskussion in beschämender Weise kleinlich geführt worden ist. ({5}) Ich komme damit zum Thema „Integrationsaufgabe des Staates“. Warum ist es denn nicht möglich gewesen, im Zuge dieses Gesetzgebungsverfahrens die fundamentale Bedeutung des Themas Integration mit einer Zweidrittelmehrheit im Hause deutlich zu machen, indem die Aufgabe der Integration als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen wird? Das wäre aus unserer Sicht ein richtiges Signal gewesen. Der Gesetzentwurf selber geht bei diesem Thema zwar in die richtige Richtung, aber ich greife zum Beispiel die Kritik des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche auf: Von einem Gesamtkonzept, das zwischen Bund und Ländern abgestimmt ist, kann noch keine Rede sein; da bleibt für den Gesetzgeber sowohl im Bundestag als auch in den Landtagen noch viel zu tun. Was Sie hier vorlegen, ist immerhin - aber auch nicht mehr - ein erster Einstieg. ({6}) Wenn bei diesem Thema auch Kostenfragen nebensächlich sein mögen, weil es schließlich um viel mehr geht, so muss doch festgestellt werden, dass es zumutbar ist, dass sich Migrantinnen und Migranten, wenn sie über ein entsprechendes Einkommen verfügen, in einer maßvollen Weise etwa an den Kosten für Sprachkurse beteiligen. ({7}) Umgekehrt ist es nicht zumutbar, dass der Bund wieder einmal eine Regelung erlässt und Verpflichtungen festschreibt und dann die Kommunen die Kosten tragen müssen. Dazu sind sie derzeit wirklich nicht in der Lage. ({8}) Im Übrigen müssen wir sehen, dass sich die Integrationspolitik nicht nur auf diejenigen beziehen darf, die nach diesem Gesetzentwurf neu nach Deutschland kommen werden, sondern die Aufgabe stellt sich auch für die Volker Beck ({9}) Ausländer, die sich bereits hier aufhalten, und - das sage ich ganz bewusst - auch in Bezug auf die Kinder und Jugendlichen aus Aussiedlerfamilien. ({10}) Meine Damen und Herren, damit komme ich zum Kern des gesamten Gesetzgebungsverfahrens: Was war der eigentliche Anlass? Es stellt sich sofort die Frage, wie jemand bei 4 Millionen Arbeitslosen auf die Idee kommen kann, eine - wenn auch maßvolle, begrenzte und gesteuerte - Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt zu erlauben. Meine Damen und Herren, ich stelle die Gegenfrage: Welches Recht haben wir, wenn 1 Million Arbeitsplätze, insbesondere Facharbeiterstellen im Mittelstand, aus dem einheimischen Arbeitsmarkt nicht besetzt werden können, Menschen, die bereit sind, nach Deutschland zu kommen und diese Arbeitsplätze einzunehmen, und Betrieben, die diese Arbeitskräfte dringend benötigen, zu verweigern, dass sie miteinander handelseinig werden, und damit zu verhindern, dass Arbeitsplätze besetzt werden? ({11}) Hier kann es nur zwei wirkliche Gegenargumente geben. Das erste Gegenargument wäre, dass damit eine Konkurrenz für Arbeitnehmer - seien es Deutsche, seien es Ausländer, die in Deutschland leben - geschaffen würde. Wer aber diese Befürchtung nährt - die in der Bevölkerung sehr wohl existiert -, der hat das Gesetz nicht gelesen; denn bei der Besetzung von Arbeitsplätzen gilt der Vorrang für Arbeitnehmer aus dem deutschen Arbeitsmarkt. ({12}) Das ist zwar bürokratisch und wird es unseren Betrieben erschweren, ihre Wachstumschancen wahrzunehmen; aber es ist notwendig, um genau dieser Befürchtung entgegenzutreten. Das zweite Gegenargument, das Sie vorbringen können, wäre, die Integrationskraft Deutschlands werde überfordert. Dies wird bei diesem Gesetz - so vorsichtig, wie es angelegt ist - mit Sicherheit nicht der Fall sein. Ich sage Ihnen eines, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Mit Ihrer Kritik an diesem Teil des Gesetzes - Sie kritisieren das Gesetz, weil es zu mehr Zuwanderung führt - verhalten Sie sich wie ein Patient, der zum Arzt geht, weil er an Bewegungsmangel leidet und sich daher nicht wohl fühlt. Der Arzt verschreibt ihm als Therapie eine Viertelstunde Jogging pro Tag. Diese Therapie lehnt der Patient mit der Begründung ab, dass das zu mehr Bewegung führe. Das ist Ihre Argumentation. ({13}) Die Diagnose lautet: Trotz hoher Arbeitslosigkeit können Arbeitsplätze nicht besetzt werden, was zum Verlust von Wachstum führt und weshalb keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Die Therapie lautet: Wir brauchen etwas mehr Bewegung, etwas mehr Öffnung auf diesem Sektor. Dazu sagen Sie, dies führe zu Zuwanderung. Genau das aber ist in diesem Teil gewollt, meine Damen und Herren. ({14}) Allerdings darf diese Therapie keine Ausrede dafür sein, nicht auch kausal zu therapieren. Wir wollen nicht nur Symptome bekämpfen, sondern wir wollen, dass endlich die Reformen im Bildungssektor angepackt werden, ({15}) damit die eigenen Nachwuchskräfte Chancen bekommen, sich beruflich zu qualifizieren. Wir wollen die Qualifizierung von hiesigen Arbeitslosen. Wir wollen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. All dies darf wegen des Zuwanderungsgesetzes nicht hintan gestellt werden. ({16}) Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass dieses Gesetz, bei dem wir uns heute aus den dargestellten Gründen der Stimme enthalten, bei wichtigen Teilen in die richtige Richtung geht. ({17}) Nach unserer Meinung ist die Diskussion im Bundesrat noch nicht abgeschlossen. Wir wünschen uns, dass am Ende des langen Diskussionsprozesses doch noch ein liberales, modernes Zuwanderungsgesetz zustande kommt. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Sätze vorab: Die PDS war und ist der Meinung, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Das bedeutet, wir brauchen ein Einwanderungsrecht und keine Blockaden. ({0}) Die Frage, über die heute abgestimmt wird, lautet: Kann man dem vorliegenden Gesetz zustimmen? Hier nehme ich das Ergebnis auch vorweg: Wir werden im Bundestag zu diesem Gesetz mehrheitlich Nein sagen. ({1}) Heute sollten wir uns noch einmal daran erinnern, dass die gegenwärtige Debatte über ein Einwanderungsgesetz mit Stichworten wie Doppelpass, Computer-Inder, Greencard und Leitkultur sowie mit einer Einsicht begann, die bis weit in die CDU/CSU hinein reichte: dass die Bundesrepublik längst ein Einwanderungsland ist. Was am Beginn der Debatte fehlte, war ein möglichst modernes Einwanderungsrecht, das die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte aufhebt, das sich an internationalen Standards orientiert und das humanen Ansprüchen genügt. Am Beginn dieser Debatte gelobten alle, natürlich die Lehren der 60er- und 70er-Jahre aus Ost und West aufzunehmen. Alle erklärten, es dürfe am Ende nicht wieder die böse und bittere Erkenntnis stehen: Wir wollten Arbeitskräfte, aber Menschen sind gekommen. Die erste zentrale Frage in der laufenden Einwanderungsdebatte heißt also: Gelingt mit diesem Gesetzeswerk ein Paradigmenwechsel? Schaffen wir ein Bürgerrecht, bei dem nicht die Verwertbarkeit, sondern das Menschsein im Vordergrund steht? ({2}) Die zweite Frage lautet: Sucht die Bundesrepublik Anschluss an internationale Normen oder verharrt sie in einem Zustand aus dem vorvorigen Jahrhundert? Die dritte Frage lautet: Werden mit diesem Gesetz willkürliche Regeln abgeschafft, die nicht deutsche Bürgerinnen und Bürger noch immer zu Menschen zweiter Klasse degradieren? Ich denke, das war und bleibt eine lohnende und überfällige Aufgabe. Heute wurde schon mehrfach die Süssmuth-Kommission zitiert. ({3}) Dort wurde Sachverstand aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Spektren gebündelt: Wissenschaftler, Kirchenleute, Gewerkschaftler, Bürgerrechtler, Sozialarbeiter, Rechtskundige und auch die Vertreterinnen und Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien fanden hier Gehör. Die PDS hat sich in diese Debatte eingebracht - nicht mit parteitaktischen Spielen und nicht mit K.o.-Forderungen, sondern - auch schon in der Anhörung der Süssmuth-Kommission - mit klaren Richtungen. Wir gehen davon aus, dass Asylbewerber eine humane Behandlung verdienen. Kinder und Familien haben ein Recht auf Zusammensein. Integration muss gewollt sein und dann auch bezahlt werden. Zuwanderer sind politisch gleichzustellen. Das waren die Grundsätze, mit denen wir in die Debatte gegangen sind. Das sind auch die Grundsätze, nach denen wir heute vorliegende Gesetzentwürfe beurteilen. Wenn ich mir das Ergebnis ansehe, kann ich nur Frau Kollegin Süssmuth zitieren. Sie meinte mit Blick auf das Werk der Koalition: Es sind noch wichtige Elemente vorhanden, aber weit zurückgenommen! Dieses Urteil spricht Bände. Die Formulierung, wir würden heute ein modernes Einwanderungsrecht verabschieden, ist nicht mehr als ein Selbstlob aus dem Hause Schily. ({4}) Der vorliegende Gesetzentwurf liegt weder im europäischen Trend, noch ist er auf der Höhe internationaler Konventionen; ich erinnere nur an die UN-Kinderrechtskonvention. Am Ende der dreijährigen Debatte steht also ein fragwürdiges Fragment. Die PDS hat sich durch ihren Antrag für eine menschenrechtlich orientierte Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik klar positioniert. Wir plädieren weiterhin für eine Einwanderungspolitik, die nicht nur die Interessen des Aufnahmelandes, sondern auch die Interessen der hierher Kommenden berücksichtigt. ({5}) Sie sollen nicht zum Spielball wirtschaftlicher und politischer Begehrlichkeiten werden. ({6}) Daraus folgt, dass wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir haben Änderungsanträge gestellt, die sich im Wesentlichen auf den humanitären und den Flüchtlingsbereich sowie die Asylpolitik konzentrieren. Wenn Sie sich den Vorschlägekatalog der Landtagsfraktionen der PDS aus Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, der den Koalitionspartnern schon vor vier Wochen zugeleitet wurde, ansehen, dann werden Sie sehen: Wir haben keine Illusionen. Wir wissen, dass es ein schwieriger Einstieg in eine entsprechende Einwanderungspolitik ist. Aber es sind verhandelbare Formulierungen. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden auf dem Weg zum Bundesrat nacharbeiten müssen, aber auch darüber hinaus. Ich denke zum Beispiel nur daran, dass die UN-Kinderrechtskonvention hinsichtlich der Asylmündigkeit bis zum Alter von 18 Jahren endlich eingeführt werden muss. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Michael Bürsch, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind noch rund 200 Tage bis zur Bundestagswahl. Das ist bei der heutigen Debatte zu spüren. Dennoch möchte ich Sie einladen, ein wenig innezuhalten, um in der Zuwanderungspolitik vielleicht doch gemeinsame Verantwortung zu erkennen und auch wahrzunehmen. Mein Thema - hier sollten Sie innehalten - ist die Integration. Ich bin überzeugt: Zuwanderung kann letztlich nur erfolgreich sein, wenn uns die Integration der Zuwanderer gelingt. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind weit über 30 Millionen Menschen aus dem Ausland zu uns gekommen. Jetzt müssen wir selbstkritisch feststellen: Bei der Zuwanderung dieser Menschen wurden die Erfordernisse der Integration zu wenig berücksichtigt. Die Einbeziehung der Ausländer in das politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben Deutschlands wird und muss deshalb eine Hauptaufgabe der gesamten Innenpolitik der nächsten Jahre sein, vielleicht sogar der gesamten Gesellschaftspolitik. ({0}) Der vorliegende Gesetzentwurf skizziert nur einen Rahmen - darauf hat Herr Stadler zu Recht hingewiesen -, der noch von Institutionen, Verbänden und Initiativen, auf deren Kompetenz wir bei der Integrationsberatung angewiesen sind, aber auch noch vom 15. Deutschen Bundestag ausgefüllt werden muss. Barbara John, langjährige Ausländerbeauftragte in Berlin, hat gesagt: „Integration ist eine Aufgabe von 100 Jahren und wir sind noch ziemlich am Anfang.“ Wir brauchen bei der Integration in der Tat einen sehr langen Atem. Aber es gibt in manchen Bereichen schon jetzt dringenden Handlungsbedarf, zum Beispiel bei jugendlichen Ausländern. Die PISA-Studie der OECD hat ein Schlaglicht auf die Notwendigkeit geworfen, gerade die Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher aus Familien mit Integrationshintergrund zu verbessern. Wir können es uns nach meiner Meinung nicht leisten, Schülerinnen und Schüler aus einem schwierigen Lernumfeld länger zu vernachlässigen. Letztlich verweigern wir dadurch soziale Chancen und blockieren leichtfertig Talente, die unser Land vorwärts bringen könnten. ({1}) Vor diesem Hintergrund müssen wir die Schulen als Lernorte des Zusammenlebens stärker fördern. Wir müssen aber auch die Familien bei ihren Integrationsbemühungen unterstützen. Das Zuwanderungsgesetz gibt bereits die richtige Richtung vor: Die Integrationskurse setzen konsequent bei den Sprachkenntnissen an. Ausländer, die dauerhaft in Deutschland leben, werden in Zukunft einen Rechtsanspruch auf die Teilnahme an einem Integrationskurs und damit die Möglichkeit zu einer fundierten Sprachförderung erhalten. An die Adresse von Herrn Merz möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache sowie Grundkenntnisse unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung werden in Zukunft auch Voraussetzung für den Erwerb einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung sein. Bei fehlenden oder mangelhaften Deutschkenntnissen und einem Aufenthalt von weniger als sechs Jahren besteht für den Ausländer sogar eine Teilnahmepflicht. Ein Wort zur Finanzierung - das ist schon angesprochen worden -: Bund und Länder sind sich einig, dass sie die Kosten der Sprachkurse übernehmen und den Kommunen bei der Integration - sie ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe - keine zusätzlichen Lasten aufbürden. Darauf muss hier und heute hingewiesen werden. ({2}) Es geht aber bei der Integration nicht nur um Geld. Ein Großteil der Integrationsleistungen wird schon bisher völlig unabhängig von staatlicher Steuerung und Unterstützung erbracht. Verbände, Initiativen oder auch einzelne engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger leisten hier eine großartige Arbeit, deren Wert nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dieses bürgerschaftliche Engagement gilt es zu fördern und weiter zu mobilisieren. Die Zivilgesellschaft kann und soll nicht Ausfallbürge für den Staat sein. Aber ohne zivilgesellschaftliches Engagement kann Integration nicht gelingen. ({3}) Einen viel versprechenden Weg in diese Richtung beschreitet der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Jochen Welt. Mit seiner Initiative „Integration und bürgerschaftliches Engagement bei Spätaussiedlern“ setzt er erfolgreich darauf, dass sich ehrenamtlich Tätige und vor allem Aussiedlerfamilien der ersten Generation als Integrationslotsen engagieren, ({4}) die neu ankommenden Spätaussiedlern Orientierungshilfe bieten, um sich in der neuen Lebensumgebung einzufinden. Dieses Modell könnte meiner Meinung nach bei der Integration anderer Zuwanderergruppen Schule machen: Engagierte Bürger können Zuwanderer auf ihrem Weg in unsere Gesellschaft begleiten und so deren soziale, kulturelle und berufliche Eingliederung erleichtern. Zu erwähnen ist auch, dass dem Sport eine überragend wichtige Rolle für die Integration zukommt. Tag für Tag leisten im Breitensport Hunderttausende in den Vereinen praktische Integrationsarbeit. Spitzensportler aus dem Ausland - selbst in der Fußballnationalmannschaft spielen aus dem Ausland stammende Sportler - sind wichtige Vorbilder für ausländische Jugendliche. Auch das ist ein Beitrag zur Integration. ({5}) Das Gesetz hat in der Öffentlichkeit viel Zustimmung gefunden. Es gibt keine gesellschaftliche Gruppe, die das Gesetzesvorhaben nicht im Wesentlichen unterstützt hat: Die Evangelische Kirche in Deutschland, die Deutsche Bischofskonferenz, die Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, Flüchtlingsorganisationen, Sozialwissenschaftler und Juristen sind sich einig - das kam auch in der Anhörung zum Ausdruck -, dass wir einen Entwurf vorlegen, der eine positive Aufnahme verdient. Ich setze noch immer auf das Projekt Aufklärung und Information. Wenn über das vorliegende Gesetz objektiv, in Ruhe und mit Sachlichkeit aufgeklärt und diskutiert wird, dann wird es nicht nur bei den Experten, sondern auch in der Bevölkerung eine breite Mehrheit für eine Zuwanderungspolitik nach diesem Zuschnitt geben. ({6}) Ich komme zum Schluss. Weil von der PISA-Studie immer wieder die Rede ist, möchte ich einen Beitrag zu einer Bildungsoffensive im Bundestag leisten. Von dem römischen Philosophen Seneca stammt die Erkenntnis: Die menschliche Gesellschaft gleicht einem Gewölbe, das zusammenstürzen müsste, wenn sich nicht die einzelnen Teile stützen würden. Herr Glos, mit dem Zuwanderungsgesetz und mit einem umfassenden Integrationskonzept können wir viel für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie zu! ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Trotz der freundlichen Aufforderung am Schluss wird es uns schwer fallen, diesem Gesetz zuzustimmen; denn der Inhalt und die Überschrift passen nicht zusammen. ({0}) Dieses Gesetz ist kein Gesetz zur Begrenzung der Zuwanderung. Wir befürchten, dass sich die Zuwanderung nach Deutschland aufgrund dieses Gesetzes ausweitet. ({1}) Wenn dieses Gesetz ein großer Erfolg, sozusagen ein großer Renner wäre, dann säße der Herr Bundeskanzler heute hier auf der Regierungsbank; denn er schmückt sich gerne mit Erfolgen. Wie wenig wichtig er das Gesetz nimmt, das das zentrale Reformwerk der Bundesregierung im gesellschaftspolitischen Bereich sein soll, zeigt die Tatsache, dass er heute nicht anwesend ist. ({2}) - Ich höre ganz genau zu. Ich möchte einige Widersprüche der Argumentation von Frau Müller offen legen. Wir haben mit Spannung zugehört, nachdem wir am Montagabend um 20.30 Uhr aufgefordert worden sind, n-tv oder Phoenix einzuschalten, um dort die neuen Vorschläge mitgeteilt zu bekommen. Es wurde versucht, darzustellen, dass es um etwas substanziell anderes gehe. Sie, Frau Müller, haben da gesagt - ich erinnere mich genau daran -, dass sich an der Substanz des Gesetzentwurfs nichts verändert hat. Das haben Sie in Richtung Ihrer eigenen Reihen gesagt, um die grünen Truppen zusammenzuhalten. Heute haben Sie ganz anders argumentiert. Sie behaupteten, der Gesetzentwurf habe sich total verändert und er sei jetzt in unserem Sinn. Ich frage Sie: Was gilt jetzt eigentlich? Gilt das, was Sie am Montagabend gesagt haben, oder das, was Sie hier gesagt haben? ({3}) Ich bin der Meinung, dass dieser zur Verabschiedung vorliegende Gesetzentwurf den Sorgen der Menschen in Deutschland nicht gerecht wird. Im Herbst 2000 ermittelte Emnid, dass 66 Prozent der Befragten die Zuwanderung nach Deutschland als zu stark empfinden und dass damit die Grenze der Belastbarkeit der Gesellschaft überschritten ist. 62 Prozent der jungen Menschen sind laut Shell-Studie der gleichen Meinung. Für 61 Prozent der Befragten muss das Ziel eines Zuwanderungsgesetzes sein, die Zuwanderung zu verringern; das hat Allensbach im Oktober 2001 ermittelt. Trotz intensiver Diskussionen und Beratungen Ihres Gesetzes sagen laut Emnid vom letzten Freitag 76 Prozent der Menschen, dass Ihr Gesetz zu mehr Zuwanderung führt. ({4}) Damit liegen Sie neben der Meinung der Mehrheit der Menschen bei uns im Land. Das wissen Sie. Deswegen scheuen Sie vor der Wahl eine Diskussion darüber und deswegen möchten Sie das jetzt möglichst rasch vom Tisch haben. ({5}) Es wird sich für Rot-Grün rächen, sich so kalt über die Sorgen der Mehrheit der Deutschen hinwegzusetzen. ({6}) Ich zitiere Georg Paul Hefty. Er hat in der „FAZ“ geschrieben: Schily hat sich in allen Einzelheiten in erster Linie nicht als Sachwalter der Bürger, sondern als der seiner Partei und ihres Koalitionspartners erwiesen. ({7}) Vom Inhalt und von der Ausgestaltung der einzelnen Zuwanderungstatbestände her ist der heute vorliegende Entwurf nach wie vor auf Erweiterung angelegt. Dahinter steckt, wie ich meine, ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel. Gesellschaftspolitisch sollen die Weichen offensichtlich auf die Umwandlung Deutschlands in ein multikulturelles Einwanderungsland, so wie es die Grünen schon immer gewollt haben, gestellt werden. Eine verantwortungsvolle Politik, so meinen wir, muss die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten auf ein sozial verträgliches Maß begrenzen. ({8}) Es fehlt mir auch die Diskussion darüber, dass die EUOsterweiterung vor der Tür steht und dass damit natürlich Freizügigkeit für viele zig Millionen Menschen in der Europäischen Union bestehen wird - auch ohne ein Zuwanderungsgesetz. ({9}) Wer verantwortungsvoll handeln will, der muss die Zuwanderung in unsere Sozialsysteme, vor allem auch durch den Missbrauch unseres Asylrechts, reduzieren. Eine verantwortungsvolle Regelung muss die so gewonnenen Spielräume ausschließlich für die Zuwanderung beruflich höher Qualifizierter nutzen. ({10}) Vor allem muss die Integration der rechtmäßig und dauerhaft hier lebenden ausländischen Mitbürger gefördert werden. Das ist in der Vergangenheit - ich gebe gern zu: auch während unserer Regierungszeit - zu wenig geschehen. ({11}) Wenn wir uns über das Zuwanderungsgesetz nicht einig werden - ich befürchte, dass eine Einigung in dieser Wahlperiode nicht mehr möglich ist -, ({12}) dann müssen wir versuchen, zumindest im Integrationsteil etwas hinzubekommen. Das wäre des Schweißes der Edlen wert. ({13}) Eine verantwortungsvolle Politik muss das Entstehen von Ausländerfeindlichkeit angehen, ({14}) indem die Ursachen bekämpft werden. ({15}) Die Union hat als Erste ein Konzept zur Steuerung und Begrenzung vorgelegt. Sie haben es nicht in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. Vorhin hat hier jemand gefragt: Was würden Sie machen, wenn wir Ihren Entwurf unter einer anderen Überschrift vorlegen würden? ({16}) Darauf antworte ich: Wir würden zustimmen. Aber was jetzt auf dem Tisch liegt, ist nicht unser Entwurf. ({17}) In dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird die Tatsache, dass keine andere westliche Industrienation einen so hohen Ausländeranteil hat wie Deutschland - 9 Prozent -, immer noch nicht richtig zur Kenntnis genommen. ({18}) Der EU-Durchschnitt liegt bei 5,5 Prozent. Frankreich hat einen Ausländeranteil von 6 Prozent und Großbritannien einen von 4 Prozent. Die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft und unseres Arbeitsmarktes ist erschöpft und teilweise stark überfordert. In vielen Großstädten beginnen sich Parallelgesellschaften zu entwickeln. Sie hören den Menschen im Münchner Hasenbergl oder im Berliner Wedding nicht mehr zu; ({19}) sonst würden Sie auch deren Gefühle kennen und berücksichtigen. ({20}) Wir als Politiker müssen lernen, auch auf das zu hören, was uns die Menschen sagen, die nicht in den elitären Diskussionszirkeln und Kommissionen dabei sind. ({21}) Schon heute beträgt der Ausländeranteil in München 22,6 Prozent, in Hamburg 16 Prozent und in Berlin beinahe 13 Prozent. Es gab eine Anhörung im Innenausschuss. Dabei haben Bevölkerungswissenschaftler ihre Studien vorgetragen. ({22}) - Man kann das auch nachlesen; man muss nicht überall dabei sein. Ich empfehle auch Ihnen: Lesen Sie viel! Dann lernen Sie etwas dazu. Bevor Sie lesen, hören Sie aber erst einmal zu. Ich sage Ihnen nämlich, was zum Beispiel der Bevölkerungswissenschaftler Birg in einem Gutachten für die Bayerische Staatsregierung dargestellt hat. ({23}) Demnach werden in vielen Großstädten in Deutschland ab 2010 die Zugewanderten die Hälfte der Bevölkerung unter 40 Jahren stellen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Professor Münz, Mitglied der so genannten Süssmuth-Kommission. Es war eigentlich keine Süssmuth-Kommission, sondern eine Regierungskommission. Es war auch nicht, wie vorhin dargestellt worden ist, eine Kommission aller Parteien. Das kann sie nicht sein, wenn Sie die Kommissionsmitglieder auswählen. ({24}) Ich will auch nur mit dem Märchen aufräumen, dass darüber immer wieder verbreitet wird: ({25}) Frau Süssmuth, vor deren persönlicher Arbeit ich Respekt habe, hat dort ausschließlich auf eigene Rechnung gehandelt. Auch das muss einmal festgestellt werden. ({26}) Herr Professor Münz, der Mitglied dieser so genannten Süssmuth-Kommission gewesen ist, geht also davon aus, dass bis zum Jahre 2050 in Städten wie München, Hamburg oder Frankfurt bei einem durchschnittlichen jährlichen Nettozuwachs von 200 000 Ausländern der Ausländeranteil auf über 45 Prozent ansteigen wird. Ich frage - das müssen wir beachten -: Wie wollen Sie angesichts dieser Entwicklung diese Menschen in unsere Gesellschaft ohne innere Konflikte integrieren? Eine Antwort darauf zu finden muss unsere Hauptaufgabe sein. ({27}) Sie reden von Zuwanderungsbegrenzung, tatsächlich wird sie ausgeweitet. ({28}) Ich versuche das noch einmal mit ein paar Fakten deutlich zu machen: 250 000 so genannten Geduldeten, also Personen, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet sind, geben Sie ein Daueraufenthaltsrecht, das auch noch - darum geht es - mit einem Nachzugsrecht für Familienangehörige verbunden ist. ({29}) Das führt natürlich zu einer starken zusätzlichen Zuwanderung. Alle Ausländer, die aus humanitären Gründen ein Bleiberecht in Deutschland haben, erhalten nach Ihrem Gesetz Zugang zum Arbeitsmarkt. Asylbewerber, bei denen überhaupt nicht klar ist, ob sie einen Anspruch auf Asyl haben, sollen ihre Familien nach Deutschland holen können. Ich habe das so präzise ausgedrückt, damit es auch die Leute draußen verstehen. Blicken wir einmal ein Stück in die Geschichte der sozialdemokratischen Partei zurück: Früher war die sozialdemokratische Partei noch eine Arbeitnehmerpartei, ({30}) heute ist sie in weiten Teilen eine Soziologenpartei geworden. ({31}) - Nun hören Sie doch bitte einmal zu, vielleicht lernen Sie etwas. - Bei 347 000 Arbeitslosen hat Willy Brandt 1973 den Anwerbestopp verkündet. ({32}) Bei 4,3 Millionen offiziell gemeldeten Arbeitslosen will Gerhard Schröder diesen Anwerbestopp aufheben. Das ist Tatsache. Ich habe durchaus Verständnis für den Ruf mancher Unternehmen nach ausländischen Arbeitskräften. Betriebswirtschaftlich macht das ganz klar Sinn. Jeder Nachfrager freut sich darüber, wenn das Angebot größer wird, weil dann der Preis sinkt. Wir aber lehnen Lohndumping für deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab. ({33}) Wir lehnen Lohndumping in Deutschland ab. Es muss natürlich bei dem alten Grundsatz bleiben, dass die Arbeit eher zu den Menschen durch weltweite Arbeitsteilung gebracht wird als die Menschen zur Arbeit. ({34}) Wir haben andere Entscheidungskriterien als die Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften zu berücksichtigen. Die sind den Mechanismen des Aktienmarktes verpflichtet, wir sind dem gesamtvolkswirtschaftlichen Interesse unseres Landes verpflichtet. Auch der Herr Bundeskanzler spricht ja von gesamtstaatlicher Verantwortung. Es kann natürlich sein, dass durch Zuwanderung der Gewinn einer Aktiengesellschaft erhöht werden kann. Eine Aktiengesellschaft, die aus ausländischen Arbeitnehmern Nutzen zieht, ist aber nicht dem Gemeinwohl verantwortlich. Die Integrationskosten bleiben nämlich bei der Gesellschaft hängen. Diese sind gewaltig hoch und nirgendwo wurden dafür Rückstellungen gebildet. ({35}) Wir schieben da einen Berg von Kosten vor uns her. Die Wirtschaft hat bisher keine Antwort auf dieses Problem gegeben. Wir hören deswegen zwar sehr genau zu, was die Wirtschaft sagt, ({36}) wir setzen diese Forderungen aber nicht im Verhältnis 1:1 um. Es wäre auch besser gewesen, wenn Sie zum Beispiel bei Ihrer Steuerpolitik nicht nur auf Punkt und Komma genau das umgesetzt hätten, was die großen Aktiengesellschaften gewollt haben; dann wären wir heute in einer anderen Situation. ({37}) Zwischen 1979 und 1999 hat sich die Zahl der Ausländer in Deutschland mehr als verdoppelt; das ist eine Tatsache. Gleichzeitig ist in diesen 20 Jahren die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ausländer unverändert geblieben. ({38}) Es hat also eine gewaltige Zuwanderung in unsere Sozialsysteme stattgefunden. Die Arbeitslosenquote der in Deutschland lebenden Ausländer ist doppelt so hoch wie der Durchschnitt. ({39}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie dauernd schreien. Wer schreit, hat Unrecht, habe ich einmal gelernt. - Die Quote ausländischer Sozialhilfeempfänger ist dreimal so hoch wie die Quote bezogen auf die gesamte Bevölkerung. Nur durch eine konsequente und wirksame Politik zur Begrenzung des Zuzugs aus Ländern, die nicht Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, lässt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Dies ist zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerlässlich. ({40}) Dieses Zitat stammt aus einem Beschluss der Bundesregierung vom 3. Februar 1982 unter Vorsitz von Helmut Schmidt. Er ist angeblich das Vorbild unseres jetzigen Bundeskanzlers. Da kann ich nur feststellen: Wie weit hat sich Bundeskanzler Gerhard Schröder von Helmut Schmidt entfernt! ({41}) Wir müssen - das sage ich auch der deutschen Wirtschaft - das in Deutschland vorhandene Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen. Es ist unmenschlich, dass man viele Erwerbstätige zwischen dem 55. und 64. Lebensjahr nach Hause schickt, statt sie auf neue Tätigkeiten umzuschulen, und gleichzeitig nach Menschen von außerhalb ruft. ({42}) Das mag das soziale Verständnis der Neosozialdemokraten sein, die jetzt an der Regierung sind und alles tun, um dem grünen Partner zu gefallen. Unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit ist das jedenfalls nicht. ({43}) Die Politik hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der deutsche Arbeitsmarkt wieder besser ausgeschöpft wird. Ich bin der Meinung - da gebe ich Bundeskanzler Schröder Recht -, dass wir die deutschen Begabungsreserven besser nutzen müssen. ({44}) Er hat gesagt - das können Sie im „Tagesspiegel“ vom 5. Februar 2002 nachlesen -: Eine Gesellschaft, die es nicht schaffe, Begabungsreserven bei sozial Schwächeren zu erschließen, sollte es lassen, über Einwanderung zu diskutieren. Dieser Satz stammt vom Bundeskanzler. Dem sollten Sie glauben. ({45}) Ich komme zum Schluss: Nach dem 22. September dieses Jahres werden wir die Gelegenheit haben, ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz auf den Weg zu bringen. ({46}) Dann werden wir, nicht zuletzt durch Ihren verfehlten Gesetzentwurf, andere Mehrheiten in diesem Haus haben. ({47}) Wir werden mit den Wählerinnen und Wählern über dieses Gesetz sprechen und ihnen Pro und Contra erklären. Wir haben keine Angst vor den Wählerinnen und Wähler. Sie müssen sie fürchten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({48})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Glos, ich bin Ihnen wirklich dankbar für Ihre Rede, weil Sie so klare Worte gefunden haben. ({0}) Sie haben gerade gesagt: bevor ein Ausländer nach Deutschland komme und hier einen Arbeitsplatz einnehme, sei es besser, die Arbeitsplätze würden ins Ausland verlagert. ({1}) Das heißt, Sie wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland schwächen. Sie wollen Betriebsteile ins Ausland verlegen und damit Arbeitsplätze in unserem Land gefährden. Rot-Grün sagt dagegen: Die Arbeitsplätze bleiben hier! Deshalb brauchen wir das Zuwanderungsgesetz. ({2}) Dieses Gesetz wahrt die Humanität. Es gestaltet die Zuwanderung aus arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Es verpflichtet zu Integration und regelt diese erstmals. Das ist auch gut so. Es räumt - das ist die Stärke dieses Gesetzes - mit ausländergesetzlichen Mythen auf. Es gestaltet die Problembereiche und verleugnet sie nicht länger. Der Anlass für diese Gesetzgebungsinitiative war ein parteiübergreifender Konsens über die Erkenntnis, dass wir in Deutschland Zuwanderung von hoch Qualifizierten, aber auch von anderen Gruppen, die wir genau definieren, brauchen. Diesen Konsens hatten wir noch im letzten Jahr. ({3}) Sie haben ihn aus billigen wahltaktischen Überlegungen aufgekündigt, zum Schaden unseres Landes. ({4}) Wir haben doch in der Debatte über die Greencard für IT-Fachleute gemerkt, dass man mit dem Anwerbestopp und der Anwerbestoppausnahmeverordnung nicht mehr weiterkommt. Wir müssen das Ganze positiv gestalten. Wir müssen definieren, wer aus welchen Gründen in unser Land kommen darf. Nur wenn das positiv definiert wird, kann man das verantwortungsvoll gestalten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte, gerne.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, Sie haben gerade gesagt, die Arbeitsplätze blieben hier und darum holten wir die Ausländer hierher.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

So pauschal habe ich das nicht gesagt.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie wollen Sie das mit dem Tatbestand in Einklang bringen, dass wir zum Beispiel im Land Niedersachsen bei den dort lebenden Ausländern eine Arbeitslosigkeit von 27 Prozent haben und dass wir im Gegensatz dazu bei den in BadenWürttemberg lebenden Ausländern nur eine Arbeitslosigkeit von 13 Prozent haben, was immer noch entschieden zu viel ist? Welchen Sinn soll Ihre Regelung eigentlich machen? Wenn Sie das Problem, die Menschen in Arbeit zu bringen, in den Ländern, in denen Rot-Grün regiert, so schlecht gelöst haben - ich könnte auch die Zahl für Nordrhein-Westfalen nennen -, wie wollen Sie es dann lösen, wenn Sie noch mehr Menschen hierher holen? ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Schauerte, für diese Frage; denn das möchte ich Ihnen gerne erklären. Die Situation der relativ hohen Arbeitslosigkeit bei Migranten ist unter dem gegenwärtig geltenden Ausländergesetz entstanden. ({0}) Darin haben wir nicht präzise gesteuert, wer zu uns kommen soll und wie die Qualifikationsmerkmale aussehen sollen. Außerdem haben wir einen Fehler in Bezug auf die Gastarbeiter gemacht. Wir haben die Leute hierher geholt, ({1}) aber nicht beachtet, dass sich der Arbeitsmarkt in Deutschland umstrukturiert. Wir haben sehr gering qualifizierte Leute ins Land geholt und sie nicht weiter qualifiziert. ({2}) Wir haben auch nichts aktiv für ihre Integration getan. Das sind die Fehler der Vergangenheit, mit denen dieses Gesetz aufräumt. ({3}) Herr Schauerte, ich will Ihnen noch einmal darstellen, was wir in diesem Gesetz regeln. Wir öffnen verschiedene Türen, über die Zuwanderung möglich wird, ({4}) einmal für hoch Qualifizierte. In diesem Fall sind unsere Anforderungen sehr hoch: Hochschulstudium, Einkommen usw. ({5}) Das sind die Leute, in Bezug auf die Konsens besteht, dass wir sie brauchen; das haben noch nicht einmal Sie infrage gestellt. - Bleiben Sie bitte stehen, Herr Schauerte, ich bin mit der Antwort auf Ihre Frage noch nicht fertig. ({6}) Wir regeln darüber hinaus die Zuwanderung von Selbstständigen, die hier Arbeitsplätze schaffen, und wir regeln ein Auswahlverfahren, in dem Bundestag und Bundesrat gemeinsam beschließen, wie viele Menschen nach Deutschland kommen sollen und nach welchen Kriterien, nach unserem Bedarf definiert, wir sie aufnehmen wollen. Indem wir definieren, wer kommen soll, werden wir die Situation beenden, die in Ihrer Regierungszeit unter Ihrem Ausländergesetz entstanden ist. Da können Sie gewiss sein. ({7}) Dass Sie den Leuten etwas vormachen, zeigen Ihre eigenen Landesregierungen. In Bayern und Hessen regieren meines Wissens Unionsparteien. ({8}) Dort wirbt die Union unqualifizierte Arbeitskräfte aus Osteuropa an, nämlich Haushaltshilfen für Haushalte, in denen pflegebedürftige Menschen leben. ({9}) Sie können mir doch nicht erzählen, dass es in Deutschland keine Menschen gibt, die diese Arbeitsplätze besetzen könnten! Offensichtlich gelingt es auch Ihren Landesregierungen nicht, die Arbeitskräfte in Deutschland dorthin zu bringen, wo Bedarf besteht. Deshalb machen Sie den Leuten doch nichts vor und behaupten Sie nicht, es gäbe keine Probleme, die einer dringenden Lösung bedürften! ({10}) Sie machen eine unverantwortliche Politik, die von Kardinal Sterzinsky zu Recht das Prädikat „eine Schande“ bekommen hat. ({11}) Sie machen eine Politik, bei der Sie die wahren Bedürfnisse, die wahre Situation und den wahren Gehalt des Gesetzes leugnen. Herr Glos, in diesem Zusammenhang zurück zu Ihrer Rede. Sie haben eine Emnid-Umfrage zitiert. Ich finde, dass man Politik aus Verantwortung und nicht auf der Grundlage von Umfragen machen muss und dass man sie den Wählern erklären muss. ({12}) Aber das mag dahingestellt sein. Sie haben diese Umfrage aber auch noch falsch zitiert. Sie haben nämlich behauptet, dass 70 Prozent der Bevölkerung keine weitere Zuwanderung haben wollen. Aber die Umfrage ergab auch, dass 74 Prozent der Bevölkerung die Zuwanderung lediglich durch ein Gesetz gesteuert haben wollen. Genau das tun wir heute mit diesem Gesetz. ({13}) Sie haben in der Debatte zunächst gesagt, Sie wollen die Zuwanderung begrenzen. Genau das tun wir in § 1 des Zuwanderungsgesetzes. Es stand ohnehin schon in den §§ 18 bis 20 dieses Gesetzes, wie die Zuwanderung gesteuert und begrenzt wird. Wer nämlich Zuwanderung steuern will, muss sie notwendigerweise begrenzen. Alles andere wäre Unsinn. Herr Bosbach hat nun aber am Dienstag auf seiner Pressekonferenz die Hosen heruntergelassen. ({14}) Es geht ihm nicht um eine Begrenzung der Zuwanderung, sondern um eine Reduzierung. Sie wollen in der Tat ein Zuwanderungsabschaffungsgesetz und behaupten gegenüber der Bevölkerung, dass das möglich und sinnvoll sei. Wir müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass wir in den letzten Jahren eine jährliche Abwanderung aus Deutschland von über 500 000 Ausländern und Deutschen hatten. Um den Stand der Bevölkerung zu halten oder wieder zu erreichen, brauchen wir mindestens eine entsprechende Zuwanderung. Meine Damen und Herren von der Union, wir haben 18 Änderungsanträge aus Ihrem 16-Punkte-Papier übernommen. ({15}) - In Ihren 16 Punkten sind in Wirklichkeit 91 Änderungsanträge enthalten. Auch das ist eine Mogelpackung Ihrerseits. Wir haben zusätzlich noch die vier Änderungswünsche aus Brandenburg übernommen. - Wir haben das Alter für den Kindernachzug auf 12 Jahre abgesenkt. Wir haben bei den Verfolgungsgründen deutlich gemacht, dass sie keine Ausweitung über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus bedeuten. Ich möchte an dieser Stelle den UNHCR zitieren, der unsere Auffassung bestätigt. Der UNHCR-Repräsentant in Deutschland attestiert dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf, dass die nun gefundene Regelung für den Schutz vor nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung die völkerrechtlichen Standards auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt. ({16}) Wer unter dieses Abkommen fällt, ist genau definiert. ({17}) Es kann deshalb in Zukunft mit größerer Trennschärfe und Genauigkeit in Deutschland festgestellt werden, wer den vollen Schutz der GFK verdient. ({18}) Wollen Sie wirklich hinter die völkerrechtlichen Standards beim Flüchtlingsschutz zurückfallen? Was Sie hier vortragen, ist doch wirklich absurd. ({19}) Wir sind Ihnen in § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes bei den Integrationskosten entgegengekommen. Deswegen müsste Ihnen eine Zustimmung möglich sein. Uns ist es wirklich sehr schwer gefallen, diesem Entgegenkommen zuzustimmen. Unser Koalitionspartner weiß, wie wir mit uns und untereinander gerungen haben. Eine Zustimmung ist uns aber deshalb möglich gewesen, weil an einigen Stellen des Gesetzes Korrekturen und - das soll nicht unter den Tisch fallen - Verbesserungen erreicht wurden. Wir werden ab dem 1. Januar 2003 - Marieluise Beck wird das besonders freuen - keine Ausländerbeauftragte mehr haben, sondern eine Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration mit einer gestärkten Position. Das ist für uns ein wichtiger Punkt. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Beck, Sie müssen zum Ende kommen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine letzte Bemerkung: Wir werden eine Härtefallregelung bekommen - das ist ein Wunsch der Länder, von Baden-Württemberg genauso wie von Niedersachen oder Nordrhein-Westfalen -, die es ermöglicht, jenseits des starren Rechtes im Einzelfall humanitär begründete Entscheidungen zu fällen, die dann noch einmal von den Ausländerämtern überprüft und berücksichtigt werden können. ({0}) Auch das kann kein Grund für Ihre Ablehnung sein; denn Sie selbst haben im Saarland, in Baden-Württemberg und überall dort, wo Sie regieren, diese Regelung gefordert. Wenn Sie sachlich entscheiden, dann müssen Sie zustimmen. Wenn Sie allerdings nur Wahlkampf auf dem Rücken von Ausländern und Flüchtlingen machen wollen, Volker Beck ({1}) dann werden wir Sie natürlich nicht überzeugen können. In diesem Fall würde kein Argument bei Ihnen Gehör finden. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bereits darauf verwiesen worden: Diese Debatte wird seit langem geführt. Mein Eindruck ist, dass sie ihre beste Zeit zu dem Zeitpunkt hatte, als sie das Parlament noch nicht erreicht hatte. Man versteht doch angesichts der Art und Weise der jetzigen Debatte die Welt nicht mehr: Die CDU/CSU bekämpft das Großkapital und die Grünen geben die Wirtschaftslobby; aber eigentlich geht es um Menschenrechte. ({0}) In der Süssmuth-Kommission, auf die hier schon hingewiesen wurde, waren in der Tat noch Meinungen gefragt. Wir waren nahe an der Schaffung eines gesellschaftlichen Konsenses dahin gehend, Deutschland als Einwanderungsland zu verstehen. Denn es geht in der Tat um die Beantwortung der Frage: Wollen wir eine offene Gesellschaft oder wollen wir Abschottung? ({1}) Dann hat die CDU/CSU die in dieser Debatte bekannte Haltung eingenommen und sich verweigert. Daraufhin hat Bundesinnenminister Otto Schily Hand und Helm angelegt. ({2}) Herausgekommen ist das, was uns jetzt vorliegt. Im Regierungsentwurf ist aus unserer Sicht der entscheidende Ansatz der Kommission, Einwanderung als positiv zu bewerten, nicht aufgenommen worden. Ich will hier den gewiss unverdächtigen Kollegen Norbert Blüm zitieren, der es, wie ich finde, auf einen markanten Punkt gebracht und gesagt hat: Wir wollen hier nur die Qualifizierten aus den Entwicklungsländern absahnen. Er nannte das dann im Übrigen „neokapitalistisch“. Stellen Sie sich einmal vor, wie Sie reagieren würden, wenn ich so etwas sagen würde! ({3}) Die PDS-Fraktion hat im Dezember des vergangenen Jahres den damals vorliegenden Gesetzentwurf abgelehnt. Wir hatten dafür gute Gründe. Danach haben Sie ihn ausschließlich in Richtung CDU/CSU verändert. Herr Bundesinnenminister, Ihre Bemühungen waren vergeblich. Wie viel Zeit haben Sie mit der Union verbracht! Ich hoffe, dass Sie sich zumindest vornehmen, diese Zeit irgendwie nachzuarbeiten. Es wird Sie also nicht verwundern, dass die PDS-Fraktion heute angesichts einer solchen Richtungsveränderung mehrheitlich Nein sagt. Eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen werden sich allerdings enthalten. Frau Müller, Sie haben beschrieben, wie sehr Sie sich bemüht haben und wie tief Sie sich vor der Union verbeugt haben, um deren Zustimmung zu erreichen. Es hat Ihnen, wie Sie heute feststellen, nichts genützt. Nun möchte ich Sie fragen: Warum bleiben Sie dann immer noch in dieser Verbeugungshaltung? Was wollen Sie da unten? Kommen Sie hoch und machen Sie ein kühneres Einwanderungsgesetz als das, das jetzt vorliegt! ({4}) Natürlich muss man sich an dieser Stelle fragen, was die Union angesichts der Aufforderungen seitens der Kirchen und der Verbände zu ihrer Haltung treibt. ({5}) Eines ist völlig klar: Es geht Ihnen um Stimmen rechts von der Mitte, um Stimmungsmache und nicht um Aufklärung. Die Rede des Kollegen Glos hat das deutlich gemacht. ({6}) Die Behandlung des Gesetzentwurfes nahm einen seltsamen Gang. Ein Mitglied des Kabinetts, der Bundesinnenminister, hat sich im Hinblick auf das Parlament regelrecht zu einer Selektion entschlossen, indem er nur mit bestimmten Fraktionen verhandelt hat. Ich möchte nicht sagen, dass wir auf solche Treffen besonders scharf wären. ({7}) Aus dem Innenausschuss ist mir berichtet worden, dass Begegnungen mit dem Bundesinnenminister nicht vergnügungsteuerpflichtig sind. Aber hinnehmen darf ein Parlament ein solches Verhalten auch nicht - und das durchaus nicht nur im Interesse einer kleinen Fraktion, sondern auch im Interesse der Koalitionsfraktionen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bürsch?

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, natürlich.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben zu Recht auf das Recht des Parlamentes verwiesen. Ist Ihnen bekannt, dass die Berichterstatter der SPD mehrere Gespräche mit Berichterstattern bzw. Mitgliedern Ihrer Fraktion über das Zuwanderungsgesetz geführt und mehrere Stunden damit verbracht haben, die jeweiligen Überlegungen zu vergleichen, und dass die SPD-Fraktion auch Ihre Vorstellungen zur Kenntnis genommen hat? ({0}) Volker Beck ({1})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, selbstverständlich ist mir das bekannt. Auch der Inhalt und das Ergebnis dieser Gespräche, mit dem ich nicht zufrieden bin, sind mir bekannt. Ich muss Sie aber damit konfrontieren, dass in der Öffentlichkeit nur die Selektion des Bundesinnenministers im Hinblick auf das Parlament wahrgenommen worden ist, während die Tatsache, dass Sie auf der Fachebene Gespräche auch mit der PDS geführt haben, die Öffentlichkeit nicht in diesem Maße erreicht hat. Deshalb kann dies hier durchaus noch einmal angesprochen werden. Die Kritikpunkte und Vorschläge der PDS blieben leider weitgehend unbeachtet. Ich sage das nicht deswegen, weil wir uns hier eine Sonderkompetenz zumuteten, sondern deswegen, weil es aus Menschenrechtsorganisationen, Verbänden und Kirchen sehr wohl entsprechende Erwartungen gibt. Wir meinen, dass Flüchtlingsrechte nicht hinreichend verbessert wurden und auch die Integration als zweiseitiger Prozess mit dem jetzt vorliegenden Gesetz in der Tat nicht ausreichend gestärkt wird. Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass Sie die Kompromisssuche vorwiegend in Richtung Union gestaltet haben. Das ist auch heute deutlich geworden. Aber wir haben Sie bereits im Dezember des letzten Jahres bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes darauf hingewiesen, dass weder die SPD noch die Union im Bundesrat eine Mehrheit hat. Nun haben sich einige Sorgen gemacht, die PDS könnte mit der CDU verwechselt werden, ({0}) wenn sie wie diese den Gesetzentwurf ablehnt. Nun wissen Sie von mir, dass ich mich ausdrücklich um eine Entkrampfung des Verhältnisses von Union und PDS bemühe. Aber eines will ich nun doch sagen: Eine Verwechslungsgefahr zwischen Sozialisten und Unionsvertretern gibt es wohl in der Tat nicht. ({1}) - Ich danke Ihnen für die Zustimmung, Herr Kollege. Deutschland braucht ein modernes Zuwanderungsrecht. Dazu hätten Sie in der Koalition die Chance gehabt. Ich denke, Sie haben diese Chance immer noch. Sie sollten sich nicht auf diese generelle Ablehnung versteifen, bis zur Entscheidung im Bundesrat jegliche Vermittlung zu verweigern. Sie haben ein noch einfacheres Mittel, Ihren Gesetzentwurf zu verbessern: Nehmen Sie doch einfach die heute vorgelegten Änderungsanträge der PDS an. Schon steigern Sie den Grad unserer Zufriedenheit erheblich. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Sebastian Edathy, SPD-Fraktion, das Wort.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, zu Beginn meiner Rede aus einem Plenarprotokoll zu zitieren. Das Zitat lautet: Meine Herren, bei uns ist man im Gegensatz zu anderen Ländern, die froh sind, wenn sie in jeder Beziehung tüchtige Ausländer als Bürger erwerben können, von einem außerordentlichen Misstrauen gegen die Aufnahme von Ausländern beherrscht und legt dieser Frage ganz kolossale Wichtigkeit bei. Dieser Satz ist in diesem Gebäude gesagt und von Stenografen mitgeschrieben worden. Er stammt von dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Otto Landsberg aus einer Reichstagsdebatte vom 27. Februar 1912. Wer am Tag dieser Debatte geboren worden ist, in der von diesem außerordentlichen Misstrauen gegen Ausländer die Rede war, der konnte vorgestern seinen 90. Geburtstag feiern. Wir als Parlamentarier tragen Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft in diesem Land und in dieser Gesellschaft. Wenn ich von Zukunft spreche, Herr Glos und Herr Merz, dann meine ich nicht die verbleibenden Monate bis zur nächsten Wahl, sondern denke, dass wir uns bei Zukunftsfragen daran orientieren müssen, wie dieses Land in 10, 20, 30 oder 40 Jahren aussehen soll. Daran müssen wir unsere Entscheidungen messen und ausrichten. ({0}) Menschen in Deutschland werden irgendwann in einigen Jahrzehnten, wenn der 14. Bundestag längst Geschichte ist, die heutige Debatte möglicherweise nachlesen. Sie werden sich dann die Frage stellen, inwieweit sich die demokratische Elite dieses Landes - ich betone: demokratische Elite - als fähig erwiesen hat, auch schwierige Fragen mit Vernunft und Augenmaß zu behandeln. Herr Glos, den Finger in den Mund zu stecken und dann in den Wind zu halten, das ist kein Politik-Ersatz. ({1}) Kein Politik-Ersatz, sondern verantwortungslos ist auch, Ängste zu missbrauchen. Wir als Demokraten haben die Aufgabe, Ängste ernst zu nehmen, zu hinterfragen und mit den Bürgern zu sprechen. Wir haben nicht die Aufgabe, Ängste zu instrumentalisieren und Wasser auf Mühlen der Feinde der Demokratie zu lenken, wie Sie das hier zumindest angedeutet haben. ({2}) Das Thema Zuwanderung ist ein schwieriges Thema in Deutschland, ({3}) vor allem deshalb, weil es über Jahrzehnte tabuisiert worden ist. Der Umgang mit dem, was man als fremd empfindet, ist nie leicht. ({4}) Er berührt nicht zuletzt das eigene Selbstverständnis. Wo es an einem stabilen, aufgeklärten und demokratischen Selbstverständnis fehlt, wird der Umgang mit dem Fremden oder vermeintlich Fremden oft irrational. Weil ich glaube, dass dies eine historische Stunde ist, will ich deutlich sagen, dass die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland mit der Perversion, Fremdes zum Feind und zum Objekt von Vernichtung zu erklären, die notwendige Entwicklung einer Debatte in Deutschland unterbrochen hat, die Otto Landsberg hier vor 90 Jahren mit angestoßen hat und der wir uns durch einen sachlichen Umgang mit dieser schwierigen Frage wieder nähern müssen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das auch anders geht, ist mir unter anderem in einem Gespräch mit einer niederländischen Parlamentskollegin deutlich geworden. Ich fand es sehr bemerkenswert, dass sie die Menschen, die in die Niederlande kommen und dort eine dauerhafte Bleibeperspektive haben, nicht als Fremde, sondern als Neulinge bezeichnet hat. Man muss sich das einmal vor Augen führen. Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, den wir uns - auch in anderen Fällen könnten wir uns an unseren niederländischen Nachbarn orientieren - zu Eigen machen sollten. Die Zuwanderung nach Deutschland, und damit verbunden die Frage der Integration von Zuwanderern, ist ein so stark ideologisch geprägtes Themenfeld wie kaum ein anderes. Über Jahrzehnte hinweg hat die politische Rechte dieses Landes behauptet - heute ist das in den Reden von Herrn Glos und Herrn Merz wieder deutlich geworden -, dass jeder Zuwanderer eine potenzielle Bedrohung für die Stabilität unserer Gesellschaft sei. ({6}) Umgekehrt haben manche, die sich als politisch links verstanden haben oder verstehen, bisweilen den Eindruck erweckt, als sei jeder Zuwanderer potenziell ein besserer Deutscher als die Deutschen. Beides sind fantasiebehaftete Bilder, die lange Zeit den Blick auf die Realität verstellt haben. ({7}) In dem einen Fall geschah das in Form von Angstfantasien und in dem anderen Fall in Form von Wunschfantasien. Wenn es richtig ist, dass gute Politik die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen muss, dann sollten wir uns dem Thema Zuwanderung so nähern, wie es Bundespräsident Johannes Rau in seiner Berliner Rede im Jahre 2000 auf den Punkt gebracht hat, als er formulierte: „ohne Angst und ohne Träumerei“. Dieses Motto sollte uns bei der Entscheidungsfindung heute und in Zukunft leiten. Jeder zehnte Bewohner dieses Landes besitzt nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen haben in Deutschland eine neue oder zumindest eine zweite Heimat gefunden. Es gibt in diesem Land 800 000 Ehen zwischen deutschen und ausländischen Partnern. ({8}) Wenn man es herunterrechnet, kommt man auf 2 500 pro Wahlkreis. Herr Glos, ich nehme an, dass das auch für die bayerischen Wahlkreise gilt. ({9}) Zuwanderung ist Realität. Wir haben uns aber viel zu lange den Luxus geleistet, diese Realität nicht zur Kenntnis zu nehmen. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf historisch wichtig und bedeutsam. Es steht dort, dass er von der Bundesregierung und von Rot-Grün erstellt wurde. Vom Inhalt her ist er jedoch im Grunde ein Allparteiengesetzentwurf. Jede politische Farbe außer dunkelschwarz und braun ist in diesem Gesetzentwurf enthalten. Er ist ein ernsthaftes Angebot für einen Konsens, dem wir uns gemeinsam nicht verweigern sollten. ({10}) Es geht um drei Dinge: Erstens geht es darum, das Ausländerrecht so verständlich zu machen, dass es auch für jemanden, der kein Fachanwalt ist, nachvollziehbar wird. Zweitens geht es darum, dass die Menschen, die mit einer dauerhaften Bleibeperspektive nach Deutschland kommen, bessere Integrationsbedingungen vorfinden. Drittens geht es darum, dass wir die Verantwortung für die Erfüllung humanitärer Pflichten übernehmen und Zuwanderung auch unter wohlverstandenen eigenen Interessen organisieren. Herr Glos, wenn es für einen Ausländer leichter ist, Fußballprofi bei Bayern München zu werden, als Abteilungsleiter in einem Münchener Unternehmen, dann sollte das auch der Bayerischen Staatskanzlei zu denken geben. ({11}) Als wir vor zwei Jahren mit der sachlichen Debatte begonnen haben, haben die Beteiligten die Lippen gespitzt. Ich habe die Hoffnung, dass alle nun auch bereit sind zu pfeifen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben wir hier dem UNO-Generalsekretär stehend Beifall gezollt, als er zu Recht auf die gewachsene internationale Verflechtung der Politik und auf die Tatsache, dass das Maß an wechselseitiger Abhängigkeit auf diesem Erdball zugenommen hat, hinwies. Deshalb können Sie von der Union sich heute doch nicht hier hinstellen und Deutschland zur Osterinsel erklären. ({12}) Es stellt sich nicht nur die Frage, in welchem Land Sie leben, sondern auch, auf welchem Planeten. ({13}) Es geht darum, die Chancen bei der Zuwanderung zu nutzen und die Risiken zu minimieren. Genau das tun wir. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich hoffe, dass Sie sich dem möglichen und greifbar nahen Konsens im Interesse unseres Landes nicht verweigern. Die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die Sozialverbände und die Kirchen sagen begründet und zu Recht, dass dieses Land gerade beim Umgang mit Zuwanderern keine Politik der geballten Faust, sondern eine Politik der ausgestreckten Hand braucht. Das Angebot dazu liegt heute vor. ({14}) Ich komme zum Schluss meines Beitrages. Ich habe gelesen, dass die Kollegen Blüm, Geißler, SchwarzSchilling und Süssmuth die Nein-Sagerei der Opposition nicht mitmachen wollen. Ich sage eindeutig: Nein sagen ist keine Kultur, auch keine Leitkultur, sondern eine Unkultur, der Sie sich heute nicht verschreiben sollten. Übrigens sind die genannten Kollegen von der Union einmal Grund für mich gewesen, Sozialdemokrat zu werden. Umso erfreuter bin ich, dass diese gestandenen Leute - ich glaube, es ist das halbe Kabinett des Jahres 1985, von der FDP einmal abgesehen - mit der Koalition stimmen wollen. An dieser Stelle ein ganz besonderer Dank an Frau Süssmuth, die sich in der Kommission viel Arbeit gemacht hat; Sie sollten das nicht kleinreden. ({15}) Wir sollten vermeiden, für das Linsengericht eines vermeintlichen - ich betone: vermeintlichen - parteitaktischen Vorteils den Eindruck zu erwecken, wir würden ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl in Deutschland die Politik einstellen. ({16}) Wir müssen auch bei schwierigen Fragen sachliche, vernünftige und angemessene Antworten geben. Eine Antwort auf ein ganz, ganz wichtiges Themenfeld haben Regierung und Koalition vorgelegt. Stimmen Sie bitte zu! Es gibt keinen Grund, nicht zuzustimmen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie auch immer diese Debatte ausgeht, man kann eines mit Gewißheit sagen: Wir werden in diesem Land weiter Zuwanderung haben. Ob Unionsbürger, Familienangehörige, Flüchtlinge oder Arbeitskräfte; ein Land in der Mitte Europas, das Teil einer wachsenden europäischen Gemeinschaft ist, wird weiterhin Zu- und Abwanderung haben. Die eigentliche Aufgabe ist es, diese Zu- und Abwanderung zu gestalten. ({0}) Wenn Sie in dieser Debatte vonseiten der Union die Ängste der Bevölkerung schüren wollen und den Eindruck zu erwecken versuchen, dieser Gesetzentwurf würde ein deutliches Mehr an Zuwanderung bringen, dann sagen Sie schlicht die Unwahrheit. ({1}) In dieser Debatte wird auch der Migrationsbericht der Ausländerbeauftragten vorgelegt. Nehmen Sie bitte einige wenige Zahlen, die sehr wichtig sind, wahr: Im Jahr 1990 - also zu Zeiten der Kohl-Regierung - hatten wir über 1,2 Millionen Zuwanderer in diesem Land. Es sind auch Menschen gegangen, und zwar sehr viele. Geblieben sind damals etwa 500 000. Im Jahre 1991 - also noch vor den Kriegen auf dem Balkan - sind 1,2 Millionen Menschen zugewandert. Lassen wir die Balkankriege außen vor - sie haben die Situation stark verändert -, so müssen wir feststellen: Wir haben 1998 800 000 Zuzüge, 1999 870 000 und im Jahre 2000 840 000 gehabt, also deutlich weniger als zu Beginn der 90er-Jahre unter der Kohl-Regierung. Wir hatten dabei in etwa immer die gleiche Zahl an Abwanderungen. Im letzten Jahr sind 86 000 Ausländer mehr, als gekommen waren, in Deutschland geblieben. Das ist bei einer Bevölkerungsgröße von 82 Millionen Menschen, die in diesem Land leben, wahrlich keine Zahl, die uns beunruhigen sollte. Der neu vorliegende Gesetzentwurf gestaltet vieles von dem, was es bereits an alten Zuwanderungstatbeständen gab und geben muss. Familien muss man zusammenführen, Unionsbürger muss man kommen lassen und Flüchtlingen muss man Schutz gewähren. Der neue Gesetzentwurf gestaltet diese Tatbestände neu und übersichtlicher. Es geht nicht um ein Mehr an Zuwanderung, wie Sie fälschlicherweise behaupten. Sie versuchen unverantwortlicherweise, in der Bevölkerung Ängste zu schüren, es würden jetzt mehr Ausländer als vorher kommen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Beck, Sie haben gerade bei Ihrem Vergleich zwischen Anfang und Ende der 90er-Jahre die Jahre 1990 und 1991 genannt und die Zuzugszahlen von damals in Relation zu den Zahlen Ende der 90er-Jahre gesetzt. Ist es richtig, dass in den Jahren 1990 und 1991 noch das alte Asylrecht galt und nicht das neue, das seit dem 1. Juli 1993 gilt? Ist es richtig, dass der wesentliche Teil des Zuzugs auf den enormen Anstieg der Asylbewerberzahlen Anfang der 90er-Jahre zurückzuführen ist, dass wir im Jahre 1992 438 000 Asylbewerber hatten und dass die Zahlen der Jahre 1990 und 1991 wesentlich niedriger gewesen wären, wenn sich die SPD nicht viele Jahre geweigert hätte, das Asylrecht so zu reformieren, wie es im Interesse des Landes dringend notwendig gewesen wäre? ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Kollege Bosbach, wenn Sie mir genau zugehört hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass ich genau die Jahre, in denen auf dem Balkan die vier Kriege getobt haben, ausgelassen habe. ({0}) In dieser Zeit hat es in der Tat eine deutlich erhöhte Zuwanderung gegeben. ({1}) Diese erhöhte Zuwanderung hätte es mit oder ohne Asylkompromiss gegeben; denn wenn Krieg vor der Haustür ist, kommen die Menschen und suchen Schutz - egal, welche Gesetze Sie machen. ({2}) Wir hatten allerdings in den Jahren der Kohl-Regierung eine hohe Zahl von Zuzügen durch die Spätaussiedlerzuwanderung. Das war politisch gewollt und wurde von uns auch mit getragen. Wir haben versucht, diese Zuwanderung zu gestalten. Aber man muss einfach sagen: Die hohe Zahl von Zuzügen in dieses Land war politisch gewollt und ist auch eine große Herausforderung für dieses Land gewesen. ({3}) Was passiert nun mit dem neuen Gesetz? Es wird in der Tat ein Türchen neu geöffnet; das ist die Arbeitszuwanderung. Die ist bisher verschämt mit der Anwerbestoppausnahmeverordnung geregelt, bei der nicht einmal das Parlament die Möglichkeit hat mitzubestimmen. Sie wird in dem neuen Gesetz so geregelt, wie es sich für ein ordentliches Gesetz gehört. Die Zahl der Zuwanderer wird sich durch dieses neue gesetzliche Türchen vermutlich in einer Größenordnung von vielleicht plus oder minus 10 000 Menschen verändern. Alles andere im Gesetzentwurf ist übersichtlichere Gestaltung, Modernisierung und Öffnung für ausländische Studenten, die wir hier im Land ausbilden und die endlich bleiben können sollen, statt in die USA geschickt zu werden. Es ist Angleichung unseres Flüchtlingsrechts an den Standard der Genfer Flüchtlingskonvention und damit an Europa. Es ist Angleichung an ein modernes europäisches Aufenthaltsrecht, weil wir als Europäische Union zusammenwachsen. Wenn Sie sich dem verstellen, dann verstellen Sie sich tatsächlich der Aufgabe, endlich das Faktum, dass es Zuund Abwanderung in diesem Land immer geben wird, zu akzeptieren, weil wir nicht zurück können in das Mittelalter. ({4}) Wir müssen diese Tatsache gestalten. Das tut dieses Gesetz, weil es Einwanderung endlich als Faktum anerkennt, weil es die Integrationspolitik der Einwanderung an die Seite stellt, was Sie versäumt haben. An diesen Versäumnissen haben die Städte und Gemeinden bis heute zu tragen. Das alles wird hier in einem Paket vorgelegt. Wenn Sie sich dem verweigern, wollen Sie offensichtlich nur Obstruktion, dann wollen Sie offensichtlich mit diesen Gefühlen in der Bevölkerung spielen. Ich weiß, dass man an dieses Gefühl, es seien zu viele Ausländer im Land, andocken kann, wenn man ordentlich auf die Tonne haut. Aber ich sage Ihnen noch einmal: Es ist unverantwortlich, weil sämtliche sachlichen Debatten, die wir im vergangenen Sommer alle gemeinsam in diesem Haus geführt haben, von Tag zu Tag mehr verschüttet werden und eine politische Regression stattfindet, die dieses Hauses nicht würdig ist. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Christa Riemann-Hanewinkel, SPD-Fraktion.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute neben dem Zuwanderungsgesetz auch den Sechsten Familienbericht. ({0}) Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie den Sechsten Familienbericht, der in Ihrer Zeit von Ihrer damaligen Ministerin Nolte in Auftrag gegeben worden ist, gelesen hätten, würden Sie heute hier anders reden. Dann würden Sie nämlich die Fakten, die in diesem Familienbericht stehen, nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch dementsprechend handeln. Das würde bedeuten, dass Sie dem heute vorliegenden Kompromiss uneingeschränkt hätten zustimmen müssen. Im Gegenteil: Sie hätten mit Ihrem so genannten christlichen Familienverständnis eigentlich noch geradezu Verbesserungen von der Koalition erzwingen müssen. Aber Sie haben genau das Gegenteil getan. ({1}) Der Sechste Familienbericht hat sich die Aufgabe gestellt, die Leistungen, Belastungen und HerausforderunWolfgang Bosbach gen Familien ausländischer Herkunft in Deutschland genau zu untersuchen. Der Bericht räumt vor allen Dingen mit Vorurteilen auf, die vonseiten der Union im vergangenen Jahrzehnt gepflegt worden sind und auch heute noch gepflegt werden. Ich nenne nur zwei Vorurteile. Ein Vorurteil lautet: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Das sagen Sie ja heute noch. Dieser Bericht macht aber deutlich, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist, dass Sie es aber versäumt haben, mit entsprechenden Regularien und Gesetzen - zum Beispiel einem Zuwanderungsgesetz - auf dieses Faktum zu reagieren. Wir aber tun das heute. ({2}) Der Familienbericht räumt auch mit einem zweiten Vorurteil auf. Dieses Vorurteil lautet, dass es sich bei denjenigen, die nach Deutschland kommen, um einzelne Personen handelt bzw. dass, wenn es Familien sind, diese dann nur die deutschen Kassen und den deutschen Steuerzahler belasten würden. Erstens ist Migration in Deutschland, nach Deutschland und auch durch Deutschland hindurch nicht ein Phänomen von Einzelpersonen, sondern von Familien. Migration ist ein Familienprojekt. Das stellt nicht nur der Sechste Familienbericht fest, sondern auch die unabhängige Kommission „Zuwanderung“. Aber Sie haben ja bereits deutlich gemacht, dass Sie dieser Kommission keinen Wert beimessen. Sie hätten es vermutlich am liebsten gesehen, wenn die Mitglieder Ihrer Partei dort nichts zu sagen gehabt hätten. Trotzdem kommen Sie alle und auch die deutsche Öffentlichkeit nicht daran vorbei, dass in dem Bericht der Zuwanderungskommission Daten und Fakten genannt sind, die wir für unser Einwanderungsgesetz genutzt haben. Ich möchte jetzt auf das eingehen, was vor allem Familien und Frauen betrifft. Wenn Migration ein Familienprojekt ist, das nicht innerhalb einer Generation abgeschlossen ist, sondern mehrere Generationen umfasst, dann bedeutet das, dass Familien ausländischer Herkunft langfristige Perspektiven haben müssen. Wenn in Zukunft Familien, die einwandern wollen, von vornherein wissen, welche Bedingungen in Deutschland auf sie warten, dann können sie ihre Zukunft nicht nur entsprechend planen, sondern auch gestalten und wissen, was auf sie zukommt. Ein nächster Punkt ist, dass in beiden Berichten deutlich festgestellt wurde, dass - bisher jedenfalls - die Familien ausländischer Herkunft in Deutschland und nicht etwa die Bundesrepublik Deutschland den größten Beitrag zur Integration geleistet haben. Auch damit wird mit unserem Zuwanderungsgesetz Schluss gemacht. Familien, die zuwandern wollen, wissen nicht nur, worauf sie sich einlassen, sondern haben nun auch ein Recht auf Integration, wie es in diesem Maße vorher nicht der Fall war. Denn das bisherige Ausländergesetz sah keine Integrationsmaßnahmen vor. Ein weiterer Punkt: Das Zuwanderungsgesetz ist ein großer Erfolg für Frauen, denn sie werden bei geschlechtsspezifischer Verfolgung berücksichtigt, und zwar im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Als Vorsitzende des Ausschusses für Familien, Senioren, Frauen und Jugend bin ich sehr enttäuscht darüber, dass die Kolleginnen der CDU/CSU-Fraktion genau an dieser Stelle unserem Gesetz nicht zustimmen, weil das eine Forderung ist, die sie an anderer Stelle immer wieder erhoben haben und immer noch erheben. ({3}) All denen, die behaupten, Deutschland würde von Frauen, die aus geschlechtsspezifischen Gründen verfolgt werden und hierher kommen, geradezu überschwemmt, ist entgegenzuhalten, dass maximal 1 000 Frauen jährlich in Deutschland Zuflucht suchen. Nicht nur unser Grundgesetz, sondern auch unsere Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten, gebietet es, diesen Frauen Aufenthalt zu gewähren. ({4}) Ein zweites frauenpolitisches Anliegen war es, dass Frauen im Auswahlverfahren nicht benachteiligt werden. Ginge es nämlich nur um schulische und berufliche Qualifikation sowie um die Berufserfahrung des Zuwanderungsbewerbers, dann dürften in Zukunft nur noch Männer nach Deutschland einwandern. Umgekehrt gilt, dass es Frauen, die einwandern wollen, in Zukunft nicht zum Nachteil gereichen darf, wenn sie Kinder erzogen oder Familienangehörige gepflegt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass es gelungen ist, im Bundesministerium der Justiz eine Mitarbeiterin zu finden, die sich in der Lage sah, dieses Zuwanderungsgesetz geschlechtsneutral bzw. an den Stellen, an denen es einfach notwendig war, geschlechtsspezifisch zu formulieren. Gender Mainstreaming gilt eben auch bei Gesetzestexten. Es wäre mehr als peinlich gewesen, wenn ein neues Gesetz nur „mit Schlips und Kragen“ in das Bundesgesetzblatt gekommen wäre. Daher sage ich von dieser Stelle aus schon jetzt ein herzliches Dankeschön an diese Mitarbeiterin im Bundesjustizministerium. Frauen als Flüchtlinge oder Einwanderinnen werden sich in Zukunft auch hiervon deutlich angesprochen fühlen. Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Christa Lörcher.

Christa Lörcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001363, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Fragen um Zuwanderung und Integration sind für unser Land von grundsätzlicher Bedeutung“; sie „bedürfen einer umfassenden Regelung“. So die Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 11. Juni letzten Jahres. Die „Frankfurter Rundschau“ stellt in einem Kommentar vom 26. Januar dieses Jahres unter der Überschrift „Austaktiert“ fest: Die gemeinsame Anfangssilbe hatte einst für eine enge Verbindung gestanden. Zuwanderung hat mit Zukunft zu tun. Mit dieser Einsicht hatte vor einem Jahr eine überfällige Debatte begonnen. Nicht ob, sondern wie wir Einwanderung organisieren, ist eine Schlüsselfrage unserer Gesellschaft. Darüber, nur zur Erinnerung, herrschte schon einmal Konsens. Diesen Konsens hätte es seit vielen Jahren geben können. In der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ wird jetzt in der dritten Legislaturperiode in der Arbeitsgruppe Migration/Integration über Daten, Anforderungen und Empfehlungen diskutiert und verhandelt. Anfang 1998 waren wir in vielem weiter als heute; dann kam der damalige Wahlkampf. Politik darf nicht nur bis zur nächsten oder übernächsten Wahl planen, schon gar nicht bei einem solchen Thema. Wir müssen weit darüber hinaus denken und Vorschläge machen. Das hat die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ getan; dafür meinen herzlichen Dank. Bei der Diskussion um ein Zuwanderungsgesetz wird von vielen betont, dass Begrenzung der Zuwanderung besonders wichtig ist. Der Wanderungssaldo der ausländischen Bevölkerung - das haben wir heute schon von Frau Beck gehört - war in den 90er-Jahren sehr unterschiedlich. In den Jahren 1997 und 1998 war er sogar negativ; in dieser Zeit gab es also mehr Wegzüge als Zuzüge. Charakteristisch für Deutschland sind sowohl Zuzüge als auch Wegzüge in hoher Zahl. Unser Land ist ein Einwanderungsland und ein Auswanderungsland. Von 1950 bis 2000 kamen über 30 Millionen Menschen in unser Land; diese Zahl wurde schon genannt. Nicht gesagt wurde, dass in dieser Zeit über 20 Millionen Menschen aus unserem Land ausgewandert sind. Hätten wir diese Wanderungen nicht gehabt, wären wir nicht nur weniger, sondern unsere Gesellschaft wäre im Durchschnitt auch älter. Löst Migration die Probleme alternder Gesellschaften? Sicher nicht. Aber Migration kann den Alterungsprozess einer Gesellschaft abmildern oder verlangsamen. Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat in einem Gutachten im Auftrag des Landes Bayern geschrieben: Aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums in den geographisch benachbarten Regionen Europas ist in Zukunft mit einem noch verstärkten Zuwanderungsdruck nach Deutschland zu rechnen. Will er damit Ängste schüren oder weiß er es nicht anders? Die neuesten Daten des Europarats, veröffentlicht vor zwei Monaten, stellen fest, dass es von den 43 Mitgliedstaaten des Europarates gerade noch zwei Länder gibt, die ein natürliches Bevölkerungswachstum haben. Das ist die Türkei mit 2,5 Geburten pro Frau und Island mit rund 2,1. Viele andere Länder liegen weit darunter, so auch Deutschland. Andere Bevölkerungswissenschaftler wie Dieter Oberndörfer betonen, dass beides nötig ist, Migration und mehr Kinder. Das heißt, Familienpolitik muss so gut sein, dass Kinder kein Armutsrisiko sind und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Dazu ist einiges gemacht worden; vieles wird sicher noch nötig sein. Der Sechste Familienbericht ist schon zitiert worden. Er besagt, dass Familien ausländischer Herkunft ein „integraler Bestandteil“ der Bundesrepublik sind. Ferner wird darauf hingewiesen, dass das Nachzugsalter 16 Jahre - der Meinung ist auch die Europäische Kommission kritisiert werden muss und es bei 18 Jahren liegen müsste. Um wie viele Kinder geht es eigentlich? Auch das ist schon gesagt worden: Es geht um eine kleine Zahl; die „Zeit“ spricht von 8 600 im Jahr. Ich frage: Können wir nicht froh sein, wenn diese Kinder zu uns kommen wollen? Der vorliegende Gesetzentwurf und die Änderungen erfüllen sicher nicht alle unsere Wünsche. Es sind viele Kompromisse gemacht worden, sowohl bei der Migration aus humanitären Gründen als auch bei der arbeitsmarktbedingten Zuwanderung. Manches fehlt völlig, zum Beispiel Regelungen für die Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Die Menschenrechte gelten für alle, auch und besonders für sie. Niemand sollte bestraft werden, der ihnen bei der gesundheitlichen Versorgung oder bei der Bildung ihrer Kinder hilft. Trotz der Kompromisse und Unzulänglichkeiten ist es sinnvoll und nötig, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen und in Bundestag und Bundesrat zu verabschieden. So schreibt Stefan Vesper - ich zitiere noch einmal aus dem Informationsdienst des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom Dezember des letzten Jahres -: Deshalb ist es jetzt an der Zeit, zu handeln und ein Gesetz zu beschließen, das insbesondere den Anstoß gibt und auch die finanziellen Voraussetzungen dafür schafft, dass die Integration von Ausländern wirklich gelingt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist weit überschritten.

Christa Lörcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001363, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Dazu gehört für das ZdK auch, die Familie als Einheit zu sehen und das Nachzugsalter für Kinder entsprechend hoch anzusetzen. Danke. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Leyla Onur für die SPD-Fraktion.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir schwer, Frau Präsidentin, Sie ein wenig zu korrigieren, aber an dieser Stelle und zu dieser Stunde tue ich das ganz bewusst. Mein Vorname wird anders ausgesprochen, als Sie es getan haben. Es ist ein türkischer Name und man darf ihn ruhig türkisch aussprechen. Vielleicht passt diese Anmerkung ganz gut in diese Debatte. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Vielen Dank für den Hinweis, Frau Kollegin. Ich entschuldige mich bei Ihnen, Frau Kollegin. Ich habe gedacht, ich lerne das nie; aber jetzt habe ich es begriffen. Wunderbar.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte um Nachsicht. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir heute Morgen natürlich die Rede des Kollegen Merz angehört. Mir ist klar geworden, dass der Kollege Merz spielend mit einer halben Minute Redezeit ausgekommen wäre, wenn er nur das gesagt hätte, was er eigentlich hat sagen wollen. ({0}) Er hätte einfach nur sagen müssen: Wir wollen kein Zuwanderungssteuerungsgesetz; wir wollen mit diesem Thema Wahlkampf machen, Wahlkampf auf dem Rücken der Migranten und Migrantinnen in diesem Land. ({1}) Genau das ist die Quintessenz Ihrer vollmundigen, langatmigen Rede. ({2}) Der verehrte Kollege Glos hat das noch ergänzt, hat aber im Grunde nichts anderes gesagt als: Wir, die CDU/CSU, wollen kein Zuwanderungssteuerungsgesetz; ({3}) wir wollen Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen machen. - Das war nämlich die Aussage. Auch die ständig wiederholte Behauptung - heute von Herrn Glos, aber auch von Herrn Beckstein, nachzulesen in der gestrigen Ausgabe der, glaube ich, „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ -, dieses Zuwanderungssteuerungsgesetz würde zu einer Ausweitung der Zuwanderung führen, ({4}) Zigtausende würden pro Jahr nach hierher zusätzlich zuwandern, ist und bleibt eine Lüge. Sie wissen das. ({5}) Das ist ja das Infame. Indem Sie diese Lüge ständig wiederholen, schüren Sie Ängste in der Bevölkerung. Genau das wollen Sie. Sie wollen im Grunde den Deutschen, insbesondere denjenigen, die Arbeit suchen, sagen: Schaut euch das an! Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen wollen Arbeitsmigranten auf eure Kosten in das Land holen; ihr seid arbeitslos und trotzdem werden Ausländer angeworben! Mit dieser von Ihnen immer wieder öffentlich geäußerten Behauptung schüren Sie Angst und erzeugen Sie Misstrauen. Im Gegenteil ist wahr: ({6}) Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen wichtigen und richtigen Schritt getan, der längst notwendig war. Wir haben uns von der Regelung zum Anwerbestopp verabschiedet. Diese war 1973 durchaus richtig und angemessen. Aber damals - ich möchte es freundlich formulieren - standen aufgrund von Zeitnot und Zwängen noch nicht solche klaren, transparenten und für jeden verständlichen Regelungen wie die unseres jetzigen Gesetzentwurfs zur Verfügung. In den §§ 18, 19 und 20 wird anstelle eines Anwerbestopps und einer Anwerbestoppausnahmeverordnung klar, transparent und für jeden Mann und jede Frau verständlich geregelt, unter welchen Bedingungen in Zukunft Arbeitsmigration stattfinden kann, und zwar im Hinblick auf die Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Es geht um unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Angesichts dessen sagen nicht nur böse Zungen: Ihr wollt ja nur diejenigen, die ihr braucht. - In der Tat haben wir mit den §§ 18, 19 und 20 Regelungen geschaffen, die sicherstellen, dass nur diejenigen zuwandern, die wir brauchen. Diese Regeln sind aber so klar und verständlich, dass sie auch von denjenigen verstanden werden, die beabsichtigen, zu uns zu kommen. Wir brauchen - ich weiß natürlich nicht genau, wann das sein wird - die Zuwanderung von ganz bestimmten Arbeitskräften. Wir brauchen bald - das haben wir in § 19 geregelt - die Zuwanderung von Höchstqualifizierten. Aber selbst bei dieser Gruppe wird genauestens geprüft werden, wie viele wann einwandern dürfen; denn - das muss ich an dieser Stelle deutlich sagen - für uns steht an erster Stelle, die Menschen, die schon in Deutschland leben, also die Inländer, für die Arbeitsplätze fit zu machen - hier ist sicherlich die Wirtschaft als Erste gefordert; aber selbstverständlich ist auch die Arbeitsmarktpolitik gefordert -, die zurzeit angeblich nicht zu besetzen sind. ({7}) Das hat absoluten Vorrang. Erst wenn in dieser Hinsicht alles unternommen worden ist, wird die Zuwanderung von Höchstqualifizierten aus dem Ausland zugelassen werden. ({8}) Im Rahmen eines Auswahlverfahrens werden - das wird wahrscheinlich erst sehr viel später der Fall sein andere Einwanderer eine Niederlassungserlaubnis nur erhalten, wenn wir sie brauchen. Wann genau das sein wird, wissen weder Sie, Herr Glos, noch ich. Niemand kann das verbindlich vorhersagen. Wenn wir aber tatsächlich Spitzen- und Fachkräfte brauchen werden, dann werden wir sie im Rahmen eines geregelten Verfahrens - ich sage das ganz bewusst; man kann auch „zulassen“ sagen - anwerben. Das ist wichtig für diese Gesellschaft und für die Zukunft Deutschlands. Deshalb werden wir dem vorliegenden Gesetzentwurf heute zustimmen. Wenn Sie ihm nicht zustimmen, dann schaden Sie Deutschland. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nach der Rede der Kollegin Leyla Onur erteile ich nun das Wort dem Bundesinnenminister Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! ({0}) Wir haben eine historische Chance, ein Problem, das sich über Jahrzehnte aufgestaut hat, einer vernünftigen Lösung zuzuführen. Wir dürfen diese historische Chance nicht versäumen; denn sie wird so schnell nicht wiederkommen. ({1}) Hinter uns liegt eine kurvenreiche Strecke. Wir sind jetzt in der Zielgeraden. Herr Kollege Stadler, ich habe Verständnis dafür, dass Sie mit dem Endspurt vielleicht nicht so ganz einverstanden sind. Wenn ich noch in der Opposition wäre, dann hätte vielleicht auch ich eine kritische Bemerkung gemacht. ({2}) Ich bitte Sie einfach um Verständnis dafür, dass dieser Endspurt unter den Bedingungen, unter denen dieses Gesetzgebungswerk zustande gekommen ist, nicht vermeidbar war. Ich hätte das gerne vermieden. ({3}) Ich habe mir über zwei Jahre wahrlich große Mühe gegeben, diejenigen Überlegungen, die in allen politischen Lagern entstanden und die durchaus positiv einzuschätzen sind, so zusammenzubringen, dass daraus ein modernes, flexibles und den humanitären Prinzipien gerecht werdendes Zuwanderungsgesetz entstehen kann. Ich möchte mich an dieser Stelle besonders bei Frau Professor Süssmuth für ihre herausragende Arbeit bedanken, die hierbei eine wichtige Unterstützung war. ({4}) Ich habe keine Mühe gescheut: Ich habe Ministerpräsidenten und Ministern die Schönheiten bayerischer Klöster gezeigt. Ich habe ihnen auch eine gute bayerische Brotzeit serviert. Ich habe manchmal meine Stimmbänder überbeansprucht, wofür ich mich nachträglich entschuldige. ({5}) Ich habe sogar die Vermutung gehabt, in der Opposition seien Persönlichkeiten, die mit dem nationalen Liedgut besonders vertraut seien und das Lied „Das Wandern ist des Müllers Lust“ kennten. Aber leider habe ich mich getäuscht: Weder der saarländische Ministerpräsident noch Herr Glos haben meine Erwartungen erfüllt. Nur die Vorsitzende der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen tut dies. ({6}) Die Unlustgefühle, die Sie verbreiten wollen, sind bei diesem Thema kein guter Ratgeber. Wir haben uns von folgenden Überlegungen leiten lassen - ich will sie aufzählen -: Die Begrenzung der Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahmefähigkeit und der Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland muss das Ziel des Gesetzes sein. Die Wahrnehmung der humanitären Verpflichtungen Deutschlands muss das Ziel des Gesetzes sein. Die Steuerung der Zuwanderung unter Berücksichtigung der nationalen Interessen, also auch der arbeitsmarktpolitischen Interessen, muss das Ziel des Gesetzes sein. Die Ausgestaltung der Zuwanderung unter Beachtung des Integrationszieles muss das Ziel des Gesetzes sein. - Das alles schlägt sich in § 1 dieses Gesetzentwurfes nieder. Es stimmt mit dem überein, was im Papier der von Ministerpräsident Müller geleiteten Kommission formuliert worden ist. ({7}) Wir haben uns ferner an folgendem Grundsatz orientiert: ... wenn trotz erhöhter Ausbildungsleistungen der Betriebe und verstärkter Umschulungs- und Qualifizierungsanstrengungen der Arbeitsverwaltung freie Arbeitsplätze nicht besetzt werden können, dann muss dies negative Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes haben. Eine gesteuerte Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte liegt daher durchaus im Interesse unserer Volkswirtschaft und damit des gesamten Landes. Ich habe erwartet, dass Sie Beifall zollen; denn ich habe wortwörtlich aus dem Bericht der Müller-Kommission vorgetragen. ({8}) Aber Sie können es nicht mehr hören. Gerade zur Sicherung wissenschaftlicher Spitzenleistungen, hoher Innovationskraft und wirtschaftlicher Dynamik muss Deutschland offen sein für ausländische Fachkräfte, Unternehmer und Wissenschaftler. Weltoffenheit ist Voraussetzung für herausLeyla Onur ragende Leistungen in allen Bereichen, nicht nur im Sport. Das war wiederum ein Originalzitat aus dem Papier der Müller-Kommission, dessen Inhalt durch unser Gesetz verwirklicht werden kann. Sie verweigern sich. ({9}) Wer „die Besten“ gewinnen will, muss sie - und ihre Familien - ich betone: und ihre Familien mit offenen Armen und ohne Ressentiments aufnehmen und ihnen in der Bundesrepublik eine dauerhafte, attraktive Arbeits-, aber auch Lebensperspektive bieten. ({10}) Meine Damen und Herren, wie wahr! Wiederum Originalzitat aus dem Bericht der Müller-Kommission. Wir haben es realisiert. ({11}) Zuwanderung aus legitimen nationalen Interessen und Zuwanderung aus humanitären Gründen müssen in einer vernünftigen Balance gehalten werden. Auch das haben wir geregelt. Ein letzter Satz aus dem Bericht der Müller-Kommission. ({12}) - Ich könnte auch alles vorlesen, Herr Zeitlmann; Sie haben es wahrscheinlich nie gelesen. ({13}) Sie leiden ohnehin an Leseschwäche. Sie sind ein Beweis für die Ergebnisse der PISA-Studie, Herr Zeitlmann, und das ist traurig. ({14}) Noch ein Satz also: Die Frage lautet nicht: - Originalzitat aus dem Bericht der Müller-Kommission; hören Sie mal gut zu! Zuwanderung - ja oder nein, sondern: Zuwanderung weitgehend ungeregelt wie bisher oder geregelt und begrenzt. Das ist die Alternative. Sie entscheiden sich für die ungeregelte Zuwanderung, ({15}) für den Massenzustrom an einer Stelle, an der wir es gar nicht wollen, ({16}) und gegen die wirtschaftlichen Interessen. Wir entscheiden uns für Zuwanderungsregelung, ({17}) Begrenzung und Zulassung von Zuwanderung da, wo es für unser Land entscheidend ist. ({18}) Meine Damen und Herren, alles, was Sie vortragen, erweist sich als Ausflüchte und Vorwände. ({19}) Sie verschanzen sich hinter Ihren Vorurteilen. Sie haben eine panische Angst vor dem Konsens. ({20}) Sie sind auf der Flucht vor der Verantwortung. Sie beweisen Ihre Technikfeindlichkeit dadurch, dass Sie nicht einmal in der Lage sind, die Bretter vor Ihren Köpfen abzumontieren. ({21}) Sie manipulieren die Zahlen. Sie - Herr Merz an allererster Stelle - verfälschen tagtäglich den Inhalt des Gesetzes. ({22}) Sie behaupten, Sie könnten dem Gesetz nicht zustimmen. Die Wahrheit ist eher: Sie wollen dem Gesetz partout nicht zustimmen ({23}) oder - noch etwas genauer gesagt; gehen wir der Sache einmal auf den Grund ({24}) Sie dürfen nicht wollen. ({25}) Sie dürfen nicht wollen, weil sich der Kandidat Stoiber auf die Rolle des Grantlers und Nörglers festgelegt hat ({26}) und sich mit Händen und Füßen gegen einen vernünftigen Kompromiss sträubt. ({27}) Mit Sträuber-Stoiber können Sie aber nicht beweisen, dass man Ihnen guten Gewissens eine Regierungsbeteiligung anvertrauen darf. ({28}) Wer sich einer verantwortlichen Politik verweigert, wer blockiert und der Vernunft den Weg zu versperren versucht, hat kein Vertrauen verdient. ({29}) Die einst so stolze CDU/CSU-Fraktion bietet heute wirklich ein trostloses, ein klägliches Bild. ({30}) Was Sie veranstalten, ist keine Opposition, sondern reine Obstruktion. ({31}) Sie wollen starrsinnig auf niemanden hören, nicht auf Dieter Hundt von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, nicht auf den Bundesverband der Deutschen Industrie, nicht auf die Gewerkschaften, nicht auf den DGB-Vorsitzenden Schulte, nicht auf den Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Herrn Braun, ({32}) nicht auf Herrn Philipp vom Zentralverband des Deutschen Handwerks, nicht auf den UNO-Flüchtlingskommissar, nicht auf die Vernünftigen in Ihren Reihen, nicht auf das Deutsche Rote Kreuz, nicht auf den Deutschen Städtetag, nicht auf den Deutschen Städte- und Gemeindebund ({33}) und nicht auf die Mehrheit des Volkes, die - schauen Sie auf die heutige Umfrage! - ein vernünftiges Zuwanderungssteuerungsgesetz will. ({34}) Stattdessen versuchen Sie, Herr Glos, sich hier mit einem klassenkämpferischen Pathos als Spät-68er aufzuführen. ({35}) Dabei haben Sie aber zu erkennen gegeben, dass Ihnen jeglicher wirtschaftliche Sachverstand inzwischen abhanden gekommen ist. ({36}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie wollen auf niemanden hören. ({37}) Aber überhaupt nicht mehr verstehen kann ich, dass Sie auch nicht mehr auf die Kirchen hören, ({38}) die Sie eindringlich mahnen, sich dem Zuwanderungsgesetz nicht in den Weg zu stellen. Die Worte von Kardinal Lehmann und von Präses Kock verhallen und beeindrucken Sie nicht. ({39}) Man braucht Sie nur anzuschauen, um festzustellen, dass Sie das überhaupt nicht mehr beeindruckt, was einer der herausragenden Kardinäle unseres Landes, Kardinal Lehmann, und was Präses Kock sagen. ({40}) Sie müssen es sich gefallen lassen, dass Kardinal Sterzinsky Ihre Anträge als Schande brandmarkt. ({41}) Wenn Sie noch eine Spur von Ehrgefühl hätten, dann würden Sie sich dafür schämen, dass ein Kardinal die Anträge der CDU/CSU, die früher einmal stolz das „C“ im Namensschild führte, als Schande bezeichnet. ({42}) Warum können Sie denn die hoffentlich noch vorhandenen Restbestände wirtschaftlicher Kompetenz und humanitärer Verantwortung nicht mobilisieren? ({43}) Versuchen Sie doch einmal, diese Dinge, wenn Sie sie verlegt haben, wieder aufzustöbern. Dann geht Ihnen vielleicht das Licht auf, dass Sie auf einen schlammigen Holzweg geraten sind. Kommen Sie zurück auf den geraden Weg der Vernunft und der Verantwortlichkeit, damit der Weg frei wird für die Reform des Zuwanderungsrechtes, die den wohlverstandenen Interessen unseres Volkes entspricht: den wirtschaftlichen, aber auch den sozialen. Stimmen Sie zu, damit die Wirtschaft agieren kann, damit Arbeitsplätze entstehen können, damit traumatisierte Menschen nicht von Tag zu Tag oder Monat zu Monat in Angst leben müssen, damit Frauen, die verfolgt werden und hier Schutz suchen, einen vernünftigen Aufenthaltsstatus bekommen und damit wir alle noch in den Spiegel schauen können, wenn wir uns fragen, ob wir die humanitären Prinzipien gewahrt haben. Ich glaube, das wäre an der Zeit. ({44}) Die Zeichen der Zeit, meine Damen und Herren, gebieten, dass wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das zwar unter Schmerzen zustande gekommen ist - das ist sicherlich nicht zu bestreiten -, ({45}) das aber zugleich die Möglichkeiten bietet, Zuwanderung in Zukunft so zu gestalten, dass die Menschenrechte gewahrt werden und die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes positiv beeinflusst wird. ({46}) Ich bitte Sie alle noch einmal, in sich zu gehen, ({47}) und Sie von der CDU/CSU, Ihre Entscheidung zu überdenken und dem Gesetz zuzustimmen. ({48})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Schily, Sie müssen hier gar nicht so herumbrüllen. Wir sind hier nicht in Ihrem Ministerium, wir sind hier im Deutschen Bundestag. ({0}) Wer gute Argumente hat, muss nicht holzen, der kann mit der Kraft der Argumente überzeugen. ({1}) Tatsache ist: Dieser Innenminister ändert auch in puncto Zuwanderung seine Meinung schneller, als sich ein Propeller drehen kann, und beschimpft heute jene, die das sagen, was er selber noch bis vor kurzem als richtig und wahr verkündet hat. ({2}) 18. November 1998, Originalton Schily: Die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten. Auch ein Zuwanderungsgesetz kann daran nichts ändern; denn die darin festzulegende Quote müsste auf null gesetzt werden. ({3}) „Süddeutsche Zeitung“, 7. Januar 1999: Frage: Die Wirtschaft sagt, dass sie Zuwanderer benötigt. Schily: Wenn mir Siemens sagt „Wir brauchen so und so viele“, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein Zuwanderungsgesetz. Das gehe schon mit dem geltenden Ausländergesetz. ({4}) „Die Zeit“: Frage: Ist es nicht anachronistisch, dass bis heute nur die Opfer staatlicher Verfolgung Asyl erhalten? Schily: Wenn das Leben dieser Menschen daheim konkret bedroht ist, schicken wir sie nicht zurück. Die Sache droht sonst auszuufern. Wo wollen Sie die Grenze für nicht staatliche Verfolgung ziehen? ({5}) Die Menschen in diesem Lande erwarten, dass der Innenminister diejenigen, die das zitieren, was er früher selber als richtig erkannt hat, nicht beschimpft; sie erwarten vielmehr einen standhaften und prinzipienfesten Innenminister. Den können sie haben, aber erst nach dem 22. September. In dieser Wahlperiode bekommen sie einen solchen nicht mehr. ({6}) Frau Kollegin Onur, das mit der Lüge würde ich mir sehr gut überlegen. ({7}) In der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf heißt es: Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatz zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine übergeordnete ausländerpolitische einseitige Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp. Sie heben mit diesem Gesetz den seit 1973 geltenden Anwerbestopp auf. Die Begrenzung der Zuwanderung soll nicht länger im öffentlichen Interesse liegen. Sie behaupten, als Ergebnis würde das die Zuwanderung nicht erhöhen. Das ist die glatte Unwahrheit. Die Menschen wissen das. ({8}) Herr Kollege Veit, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, wir würden um des Prinzips willen, um der Opposition willen Nein sagen, und behaupten, selbst wenn wir Ihre 16 Kernforderungen übernähmen, würden wir Nein sagen. Ich mache Ihnen das Angebot: Nehmen Sie unsere 16 KernBundesminister Otto Schily forderungen an und wir werden sofort zustimmen! Sie wollen das aber nicht. ({9}) Sie haben gesagt, wir hätten auf die Kollegen in unserer Fraktion, die anderer Meinung sind, Druck ausgeübt, was nicht gut sei. Das war auch von Kollege Özdemir gestern in der Sendung „Berlin Mitte“ zu hören. Wir hätten uns gefreut, wenn Rita Süssmuth, Heiner Geißler und Christian Schwarz-Schilling mit der Fraktion gestimmt hätten. Wir respektieren aber, dass sie eine andere Auffassung haben. Der Fraktionsvorsitzende hat in der Sitzung am Dienstag ausdrücklich darum gebeten, dass auf die Kollegen keinerlei Druck ausgeübt werde. ({10}) Ich komme nun zu etwas, was infam ist. Sie, Herr Kollege Veit, haben am 16. November im Deutschen Bundestag - es ging in der Debatte um den Afghanistan-Einsatz und die Beteiligung beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus - gesagt: ({11}) Das war eine Gewissensentscheidung. Wir standen in einem Konflikt, den wir nicht gewollt haben, sondern der uns leider aufgezwungen worden ist. Darunter ist der Zwischenruf von Herrn van Essen zu lesen: „Also doch Erpressung!“ ({12}) Frau Kollegin Müller, Sie haben hier mit gespielter Empörung gesagt, Sie könnten uns gar nicht verstehen; die Koalition sei uns so weit entgegengekommen, dass wir eigentlich zustimmen müssten, ein sachlich begründetes Argument für unsere Ablehnung gebe es nicht. Sie selber haben als Damendoppel mit der Vorsitzenden Roth nach der Pressekonferenz mit dem Bundeskanzler gesagt, das Gesetz sei im Kern unverändert. Genau so ist es! ({13}) Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht. Aber wenn Sie sich in der Sache nicht substanziell bewegt haben, können Sie von uns nicht verlangen, dass wir zustimmen. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller?

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bosbach, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich auf dieser Pressekonferenz - ich weiß noch sehr genau, was ich dort gesagt habe - wie auch heute im Deutschen Bundestag sehr deutlich dargestellt habe, in welchen Punkten wir Ihnen entgegengekommen sind und dass das Gesetz in der Substanz natürlich bei seiner modernen und humanitären Ausrichtung bleibt. ({0}) - Da brauchen Sie gar nicht zu lachen. Ich habe nicht gesagt - das hat er gerade behauptet -, das Gesetz sei unverändert geblieben. Könnten Sie daher bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir Veränderungen vorgenommen haben, etwa indem wir das Nachzugsalter abgesenkt haben und indem wir im Bereich der Zuwanderung die Begrenzung ins Gesetz geschrieben haben? Könnten Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir Ihre Anträge - etwa, es dürfe keine Orientierung am regionalen Arbeitsmarkt geben und Selbstständige dürften sich nur unter bestimmten Bedingungen niederlassen - aufgenommen haben? Aber natürlich werden wir nicht im Kern aus einem Zuwanderungsgesetz ein Auswanderungsgesetz machen, wie manche Anträge von Ihnen es nahe legen. Nur das habe ich gesagt. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? ({1})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Müller, ich danke Ihnen für die lange Frage, weil sie mir die Möglichkeit gibt, ohne Anrechnung auf die Redezeit lange zu antworten. ({0}) Richtig, Sie haben in der Pressekonferenz gesagt, Sie hätten sich auf die Union zubewegt, allerdings nicht von der Stelle weg; im Kern bleibt alles so, wie es ist. ({1}) Ich sage Ihnen noch einmal: Da haben Sie Recht. Beispiel Begrenzung. Wir haben gesagt, es genügt nicht, einen Paragraphen voranzustellen, in dem zur Begründung der Behauptung, die Zuwanderung würde nicht ausgeweitet, die Überschrift wiederholt wird, wenn sich aus der Addition der übrigen Vorschriften unzweideutig ergibt, dass im Gesetz das Gegenteil geregelt sein wird. Das ist der Grund. Es genügt nicht, in einem Paragraphen das Gegenteil von dem zu behaupten, was in der Folge im Gesetz steht. ({2}) Zweites Beispiel: Kindernachzugsalter. Das geltende Recht sieht 16 Jahre vor, die nicht bei Beherrschung der deutschen Sprache gelten. Der ursprüngliche Gesetzentwurf hatte die Altersgrenze auf 14 Jahre reduziert, aber auch die Sprachanforderung auf nur noch „ausreichende deutsche Sprachkenntnisse“ gesenkt. Jetzt haben Sie sich scheinbar auf die Union zubewegt, indem Sie zwar das Nachzugsalter auf zwölf Jahre reduziert haben, aber gleichzeitig nur noch das Regelbeispiel „Kenntnisse der deutschen Sprache“ aufgenommen, ({3}) mit der Folge, dass in der ausländerrechtlichen Praxis nicht die Senkung des Nachzugsalters, sondern die Heraufsetzung auf 18 Jahre die Folge sein wird. Das ist der Grund. ({4}) - Herr Kollege, Sie sagen, das sei familienfeindlich. Sie haben offensichtlich eine völlig falsche Vorstellung davon, was dem Wohle der Familie und insbesondere der Kinder dient. Es geht nicht um das Zuzugsalter, es geht um das Nachzugsalter, es geht um das Lebensschicksal derjenigen ausländischen Kinder, die von ihren Eltern, in der Regel zur Vermeidung von Verwestlichung, ins Herkunftsland zurückgeschickt werden, um dort erzogen zu werden und zur Schule zu gehen. Wenn Sie glauben, dass das dem Kindeswohl dienen würde, haben wir in dieser Hinsicht eine völlig unterschiedliche Vorstellung. ({5}) Sie preisen es als humanitäre Errungenschaft, wenn die Eltern in Deutschland und ihre kleinen Kinder in der Türkei leben. ({6}) Wir sagen, die Kinder sollen mit ihren Eltern gemeinsam in Deutschland leben; sie sollen hier die deutsche Sprache lernen, weil das dem Wohl der Kinder dient, nicht die Erziehung in einem anderen Land. ({7}) - Nein, ich lasse keine weiteren Zwischenfragen zu.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Redner lässt keine weiteren Zwischenfragen zu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch bemerken: Es ist auch sinnvoll, dass jetzt keine Zwischenfragen mehr zugelassen werden. ({0}) - Ich will das als Präsidentin begründen: Es dient dem Ablauf der Debatte; schließlich warten schon alle auf die Abstimmung. Bitte sehr, Herr Bosbach, Sie haben das Wort.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Müller, es ist nicht richtig, dass Sie die regionale Betrachtung des Arbeitsmarktes aufgegeben haben. Das ist gerade der Unterschied zwischen uns - wir sind entschieden anderer Auffassung -: Sie sind der Meinung, dass nur der regionale Arbeitsmarkt betrachtet werden müsste, um zu entscheiden, ob wir einen Zuwanderungsbedarf haben oder nicht. ({0}) Wir sagen: Angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen - Tendenz steigend - und knapp 2 Millionen Menschen auf dem zweiten Arbeitsmarkt müssen wir bundesweit zunächst einmal die Arbeitslosen in Brot und Arbeit bringen, bevor wir weitere Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland organisieren. ({1}) Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie sich mit dieser Vorschrift nicht auf die Wirtschaft und auch nicht auf den DGB berufen können. Sowohl die Arbeitgeberverbände als auch der Deutsche Gewerkschaftsbund ({2}) lehnen diese Vorschrift ausdrücklich ab. ({3}) Hinsichtlich Ihres Hinweises auf die Aussage von Kardinal Sterzinsky ({4}) und die Meinung der Kirche sage ich: Diejenigen, die hier herumpöbeln, wären glaubwürdiger, wenn sie auch beim Schutz des ungeborenen Lebens auf die Kirche hören würden. Aber dann haben Sie mit der Kirche gar nichts am Hut. ({5}) Sie sagen, Deutschland müsse sich endlich dazu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein, wir müssten unsere Grenzen weiter öffnen, die Menschen würden mobiler und die Grenzen verlören an Bedeutung. Es geht doch nicht um die Frage, ob wir Zuwanderung haben werden. Wir haben bereits Zuwanderung und wir werden sie auch in Zukunft haben. 31 Millionen Menschen sind nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gekommen; 22 Millionen Menschen haben unser Land verlassen. ({6}) Nach der Wiedervereinigung sind 12 Millionen Menschen in unser Land gekommen; 10 Millionen Menschen haben unser Land verlassen. Selbst die Vereinigten Staaten von Amerika hatten nicht eine so hohe Zuwanderung wie die Bundesrepublik Deutschland. Warum loben Sie denn nicht endlich einmal die gewaltige Integrationsleistung, die wir in den letzten Jahrzehnten erbracht haben? ({7}) Warum stellen Sie unser Land immer in eine bestimmte Ecke? Es geht doch nur um die Frage - darum dreht sich der politische Streit -, ob wir über den ohnehin hohen Zuwanderungsdruck hinaus noch mehr Zuwanderung nach Deutschland sowohl aus humanitären Gründen als auch aus Gründen, die mit dem deutschen Arbeitsmarkt zu tun haben, zulassen sollen. ({8}) Die Zahl der Menschen, die wir jedes Jahr in unsere Gesellschaft integrieren müssen, liegt in der Größenordnung der Einwohnerzahl von Städten wie Nürnberg oder Dortmund. Es gibt doch unübersehbare Integrationsprobleme in vielen Teilen unseres Landes. Glauben Sie denn ernsthaft, wir könnten diese Probleme mit mehr Zuwanderung lösen? Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung. Wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration. ({9}) Sie sagen der deutschen Wirtschaft, dass Sie ihren Wünschen nach mehr ausländischen Arbeitnehmern Rechnung tragen würden - und erweitern die Bleiberechte aus humanitären Gründen. ({10}) Sie erweitern den Familiennachzug. Sie heben den Anwerbestopp auf und wollen die Zuwanderung aus demographischen Gründen. Trotzdem sagen Sie, dass alles dies im Ergebnis nicht zu mehr Zuwanderung führen würde. Das glauben wir Ihnen nicht und das glaubt Ihnen auch die Bevölkerung nicht. ({11}) Sie können Politik gegen die Opposition machen; Sie haben die Mehrheit. Sie können auch, wie das jetzt bei diesem Gesetz der Fall ist, gegen eine breite Mehrheit in der Bevölkerung Politik machen. - Das geht zwar meistens nicht lange gut; ({12}) aber man kann es ja einmal versuchen. - Aber Sie können doch nicht gegen die Realität, wie sie sich in den Zahlen widerspiegelt, Politik machen. ({13}) Ich warne davor, die Menschen in unserem Land - 76 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr Zuwanderung, 72 Prozent der Wähler der Grünen wollen nicht mehr Zuwanderung, 73 Prozent der Wähler der SPD wollen nicht mehr Zuwanderung ({14}) in eine rechte Ecke zu stellen. ({15}) Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Wir wissen schon, dass wir unter Druck stehen; das ist hier angesprochen worden. Natürlich, auch wir sehen im Fernsehen und lesen in der Presse, dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen sollen. 76 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr Zuwanderung. Vermutlich sind jedoch 76 Prozent aller Kommentatoren der Auffassung, dass die Bevölkerung falsch liegt. ({16}) Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung. ({17}) Mich würde einmal interessieren, ob all die Kommentatoren und Redakteure, die für mehr Zuwanderung nach Deutschland plädieren, ({18}) in Stadtvierteln mit überwiegend ausländischer Bevölkerung wohnen. Die Probleme werden doch je nach Umfeld ganz unterschiedlich wahrgenommen. ({19}) Sie unterstellen uns, wir würden über dieses Thema nicht ausführlich und sachlich, sondern unter wahltaktischen Gesichtspunkten sprechen. Wenn wir uns in Deutschland entschließen würden, nicht mehr über das Thema Zuwanderung zu sprechen, begingen wir einen kapitalen Fehler, weil wir dieses Thema den Rechtsradikalen überlassen würden. Genau das sollten wir nicht tun. ({20}) Sie können von uns nicht verlangen, dass wir einem Gesetzentwurf zustimmen, der nicht den Interessen des Landes dient und der die Probleme auf dem Arbeitsmarkt und die der Integration nicht löst, sondern verschärft. ({21}) Es ist nicht nur das Recht der Opposition, zu einer solchen Politik Nein zu sagen; es ist unsere Pflicht. ({22})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Herr Bundeskanzler hat darum gebeten, das Wort zu erhalten. Ich weise darauf hin, dass die Debatte damit wieder eröffnet wird. Im Anschluss daran ist für die CDU/CSU eine Redezeit von fünf Minuten und für die drei kleineren Fraktionen eine Redezeit von je drei Minuten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Debatte wieder eröffnet. Der Herr Bundeskanzler hat das Wort. Gerhard Schröder, Bundeskanzler ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nur wenige Bemerkungen zu dem machen, worum es mir und uns gegangen ist, als wir einen Kompromissvorschlag gemacht haben, der es nach meiner Auffassung - ich denke, dies ist nicht nur meine Auffassung - erlauben sollte, dass dieser Gesetzentwurf, der heute beschlossen werden wird, seine Wirksamkeit erlangt. ({1}) Um seine Wirksamkeit zu erlangen, ({2}) brauchen wir nicht nur die Mehrheit des Deutschen Bundestages. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Bundeskanzler, einen Augenblick bitte! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gehört zum parlamentarischen Brauch, dass man dem Redner auch in einer solch heftigen Debatte bis zum Schluss zuhört. Darum bitte ich jetzt alle Beteiligten hier im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich bitte auch darum, dass alle ihre Plätze wieder einnehmen. Vielleicht haben Sie noch nicht bemerkt, dass wir uns noch nicht in der Abstimmung befinden. Gleich wird Frau Merkel sprechen, anschließend kommt noch jeweils ein Vertreter der anderen Fraktionen zu Wort. Die Debatte geht also weiter. Ich bitte um ein bisschen Disziplin! Der Bundeskanzler hat jetzt das Wort.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Ich wollte deutlich machen, verehrte Frau Präsidentin, dass dieser Gesetzentwurf, der heute beschlossen wird, auch eine Mehrheit im Bundesrat braucht, um seine Wirksamkeit zu erlangen. Ich möchte Ihnen gerne sagen, dass wir die Kompromisse, die wir gemacht haben und die ganz unbestreitbar sind, nicht nur deswegen gemacht haben, um Ihnen im Bundestag, sondern natürlich auch, um den Landesregierungen im Bundesrat die Zustimmung zu ermöglichen. ({0}) Ich möchte gerne deutlich machen, dass wir mit diesem Gesetzentwurf nicht die Hoffnung verbinden - ich jedenfalls nicht, Herr Bosbach -, dass damit die Debatte über Zuwanderung beendet sei, egal ob im Wahlkampf oder außerhalb des Wahlkampfes. Diese Debatte kann man nicht mit einem Gesetz beenden. Das liegt doch auf der Hand. Die Diskussion über die Fragen, die unser Volk und damit uns angehen, wird also weitergehen. Ich hoffe, dass sie in einer sachlichen Atmosphäre geführt werden kann. ({1}) Wer seine Angst darüber zum Ausdruck bringt, wir wollten eine Diskussion beenden, die dann von Rechtsradikalen weitergeführt werden könnte, dem muss ich sagen: Diese Angst ist unberechtigt. Die Demokraten in diesem Land werden diese Debatte miteinander führen. Ich hoffe, sie führen sie sachlich. ({2}) Zweite Bemerkung: Der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, stellt eine sorgfältige Balance zwischen dem, was für unser Land wirtschaftlich geboten ist, und dem, was wir humanitär um unser selbst willen realisieren müssen, dar. Diese Balance kommt zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, dass wir es für richtig halten, dass Frauen - auch wenn sie nicht staatlich verfolgt sind -, die Angst haben, verstümmelt zu werden, die um Leib und Leben fürchten müssen, wie wir das in Afghanistan und anderswo erlebt haben, bei uns Zuflucht finden können. Wer wollte dem ernsthaft widersprechen? ({3}) Das, was in diesem Gesetzentwurf geregelt wird, geht ausdrücklich nicht über jene Grundsätze hinaus, die in der Genfer Flüchtlingskonvention niedergeschrieben sind. ({4}) Deshalb bitte ich Sie, zu akzeptieren, dass dies zwar unserer humanitären Verpflichtung genügt, ihr aber nur dann gerecht wird, wenn wir eine solche Fassung des Gesetzentwurfes verabschieden und miteinander dafür sorgen, dass dieser Gesetzentwurf Wirklichkeit wird. ({5}) Zum wirtschaftlich Gebotenen gehört auch, der Forderung nach mehr Internationalität in unserer Gesellschaft - auch um unserer wirtschaftlichen Entwicklung willen ebenso gerecht zu werden wie den Vorrang aufrechtzuerhalten, dass es auf dem Arbeitsmarkt natürlich zuerst um diejenigen geht, die bei uns als Deutsche Arbeit suchen. Aber der Gesetzentwurf stellt genau diese Balance her. Deswegen ist er zustimmungsfähig und - so hoffe ich wird Gesetz werden. ({6}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Wir stehen nicht vor der Alternative, ob wir Zuwanderung bekommen oder nicht. Wir haben sie doch in den ganzen Jahrzehnten gehabt. Die Alternative, die sich uns bietet, lautet: Wollen wir mit einem Gesetz Zuwanderung sinnvoll begrenzen, unsere ökonomischen Interessen wahren und unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen? Oder wollen wir es weiter so laufen lassen, wie es bisher gelaufen ist? ({7}) Ich denke, wer Verantwortung für Deutschland wahrnehmen will oder wahrnimmt, der muss ein Interesse daran haben, dass wir den Prozess, den wir - ob wir ihn nun wahrnehmen wollen oder nicht - in der Wirklichkeit haben, endlich sinnvoll steuern. Dazu gehört natürlich auch, dass wir ihn begrenzen können. Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Ich habe die herzliche Bitte, dass in den folgenden Wochen bis zur Bundesratsentscheidung weiterhin über die Inhalte des Gesetzes geredet wird. Es darf aber nicht dazu kommen - ich will dies jedenfalls nicht -, dass der Bundesrat als ein Ort missbraucht wird ({8}) - nun warten Sie doch erst einmal ab! -, an dem ein Zweikampf zwischen dem Kandidaten und dem Bundeskanzler stattfindet; darum geht es nicht. ({9}) Nach dem, was geschrieben wurde - ich habe es mir angeschaut -, mache ich mir Sorgen, dass in den nächsten Tagen und Wochen nicht mehr über das Gesetz, sondern nur noch über die Frage, wer bei der Abstimmung im Bundesrat gewinnt oder nicht, geredet wird. Das würde dem Gesetz nicht gerecht werden. ({10}) All denjenigen, die davor Angst haben, sage ich: Ich glaube nicht, dass die Bundestagswahl am 22. September durch die Entscheidung im Bundesrat - unabhängig davon, welche Landesregierung zustimmt oder nicht - in der einen oder anderen Weise vorentschieden wird. Mir liegt daran, aus dieser personalisierten Auseinandersetzung herauszukommen. ({11}) - Es mag ja sein, dass das bei Ihnen nicht der Fall ist. Verstehen Sie aber bitte, dass mir etwas an dem Gesetz liegt. ({12}) Sie müssen sich im Übrigen keine Sorgen machen. Diese Form der Auseinandersetzung - auch eine sehr personalisierte - wird es geben. Davor haben wir nicht die geringste Angst. Seien Sie sich dessen ganz sicher. ({13}) Ich fände es aber falsch, wenn die Wirksamkeit dieses Gesetzes, das ich in des Wortes wahrster Bedeutung für notwendig halte, davon abhinge, wer bei der Abstimmung im Bundesrat als Person gewinnt. Das möchte ich vermeiden. Meine Damen und Herren, deshalb bitte ich darum und appelliere an Sie, heute diesem notwendigen Gesetz zuzustimmen und alles dafür zu tun, dass in den nächsten Tagen und Wochen über die Inhalte geredet und die Auseinandersetzung in der zweiten Kammer nicht für andere Zwecke missbraucht wird. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile der Kollegin Dr. Angela Merkel das Wort.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Recht: Dies ist eine wichtige Debatte. Dieses Thema bewegt uns alle in unserer globalen Welt gleichermaßen. Weil es in Deutschland einen Regelungsbedarf gibt, hat sich die Union in den vergangenen Monaten und Jahren intensiv mit diesem Thema beschäftigt. ({0}) Im Übrigen haben wir dies als erste Partei getan. ({1}) - Darüber brauchen wir jetzt keinen Streit zu führen; wir haben es getan. - Wir haben für die Integration der heute bei uns lebenden ausländischen Bürgerinnen und Bürger - dies halte ich für den Frieden in unserer Gesellschaft für zentral - als erste ein vollständiges Konzept vorgelegt. ({2}) Herr Bundeskanzler, Sie werden mir zustimmen, dass wir uns bei der Integration der bei uns lebenden Bürgerinnen und Bürger nicht in einer Balance befinden. Friedrich Merz hat heute morgen darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosigkeit bei den ausländischen Jugendlichen doppelt so hoch ist wie die Arbeitslosigkeit bei denen, die deutscher Herkunft sind. Das muss uns umtreiben und darauf muss dieser Gesetzentwurf zuallererst eine Antwort geben. Diese Antwort gibt er nach unserer Meinung nicht. ({3}) Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, zeichnet sich - so weit noch richtigerweise - dadurch aus, dass er zwei Gruppen von Zuwanderung berücksichtigt, und zwar zum einen die humanitären Fälle und zum anderen die Fälle des Arbeitsmarktes. Bei den humanitären Fällen haben wir uns genauso wie Sie weiter zum Art. 16 des Grundgesetzes verpflichtet und wir verpflichten uns ebenso wie Sie, die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten, wie das alle Länder dieser Welt, die vernünftig sind, tun. ({4}) - Herr Stiegler, Sie haben in den letzten Wochen wirklich genug herumgeschrien. ({5}) Es wird aber niemand bestreiten, dass Sie in einer relativ künstlichen Formulierung im Gesetzentwurf nicht von der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention reden, sondern „in Anwendung der ...“ sagen und dann die Sachverhalte erweitern. Das ist der Punkt, über den wir streiten. ({6}) Herr Bundeskanzler, wenn Sie heute Morgen schon hätten anwesend sein können, ({7}) dann hätten Sie gehört, dass Friedrich Merz ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass in Fragen von Einzelfällen humanitärer Schicksale, die es in unserem Lande in der Tat gibt, mit uns darüber zu reden ist, wie wir diese Fälle lösen können. ({8}) Es geht aber nicht mit generalistischen Klauseln. Das will ich ausdrücklich sagen. ({9}) Es stellt sich die Frage - das ist das eigentlich Neue und die interessante Situation, der wir uns alle in den vergangenen Jahren nicht geöffnet hatten -: Gibt es die Notwendigkeit der Zuwanderung aus eigenen deutschen Interessen und nicht nur aus Gründen der Humanität, denen wir uns verpflichtet fühlen? ({10}) Diese Frage haben wir gemeinsam mit Ja beantwortet, wir haben sie aber insofern unterschiedlich beantwortet, als es um unsere Interessen geht. ({11}) Ich sage Ihnen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland seit 1972 eine Entwicklung haben, dass sich die Zahlen der ausländischen Bürgerinnen und Bürger, die bei uns leben, mehr als verdoppelt haben, während die Zahl derer, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, geringer ist als 1972. ({12}) Das heißt, es hat eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme gegeben und nicht in den Arbeitsmarkt. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden. Es muss gesteuert werden. Deshalb sagen wir: Es muss eine richtige Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland geben. ({13}) Herr Bundeskanzler, es ist doch unstrittig, dass wir bei Fachpersonal - Ingenieuren oder Technikern - durchaus Bedarf haben ({14}) und dass wir mehr Studenten brauchen. Auf diesem Feld haben Sie mit Ihrer Greencard einen relativ lockeren Vorschlag gemacht, bei dem eine Sache sehr interessant war. Es hat sich nämlich gezeigt, dass von 20 000 möglichen Informatikern gerade mal 5 000 gekommen sind, weil die Arbeitsbedingungen in Deutschland so sind, dass kein Interesse besteht, hier zu arbeiten. Das ist das Problem, das uns umtreiben muss. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in der Schlussphase dieser Debatte bitte ich um ein bisschen Disziplin. - Frau Kollegin Merkel, Sie haben das Wort. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist doch, dass die 20 000 Plätze für Informatiker gar nicht ausgeschöpft sind ({0}) und inzwischen wegen der Konjunkturlage mehr Informatiker entlassen worden sind, als überhaupt zu uns gekommen sind. ({1}) Wir müssen deswegen doch gar nicht schreien, sondern wir sollten lieber versuchen, die Bedingungen an unseren Hochschulen und die Bedingungen für die Forschung zu verbessern. Das können wir an anderer Stelle machen. ({2}) Meine Damen und Herren, was Sie jetzt bei der Arbeitsmarktzuwanderung machen, das ist eine unspezifische Regelung, die nach unserer Meinung eben gerade nicht sicherstellt, dass die Steuerung der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt wirklich stattfindet. Wir haben die Sorge, die Befürchtung und auch die sichere Erkenntnis, dass hier wieder eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme stattfinden wird. Das ist der Grund dafür, dass wir Nein sagen. ({3}) Da Sie uns vielleicht nicht sofort glauben, muss ich Sie einfach noch einmal an das erinnern, was die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund Ihnen noch in die Ausschussberatungen hinein geschickt hat, nämlich dass der geplante § 39 des Aufenthaltsgesetzes geändert werden muss. Es heißt wörtlich: Die Vorschrift sieht in ihrer derzeitigen Fassung vor, dass die örtlichen Arbeitsämter jeweils nach Ermessen ihr eigenes Zuwanderungsprogramm festlegen können. ({4}) Aufgrund wechselnder regionaler und politischer Interessenlagen werden auf diese Weise unvorhersehbaren und willkürlichen Entscheidungen Tür und Tor geöffnet. ({5}) Das haben sie nicht im Januar geschrieben, sondern das haben sie jetzt aufgrund der Veränderung geschrieben. ({6}) Sie haben nichts weiter geändert, als dass Sie das Benehmen mit den Landesarbeitsämtern, die übrigens der Bundeskanzler abschaffen will, herstellen. Sonst haben Sie nichts geändert und Sie haben die Bedingungen des DGB und der BDA nicht erfüllt. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie möchten, dass die weitere Diskussion sachlich geführt wird. Wir sind an dieser sachlichen Diskussion interessiert. ({7}) Sie haben gesagt, Sie möchten nicht, dass der Bundesrat missbraucht wird. Genau daran sind auch wir interessiert. ({8}) Es gibt für den Bundesrat ganz einfache Verfahrensvorschriften: Koalitionsregierungen haben Verträge abgeschlossen, nach denen werden die Entscheidungen gefunden. Insofern sehe ich der Debatte sehr gelassen und sehr ruhig entgegen. ({9}) Herr Bundeskanzler, wenn Sie Interesse an einer Lösung haben, was Sie hier noch einmal dargestellt haben, dann wundert mich allerdings, dass Sie hier Vorschläge eingebracht haben und als Erstes haben erklären lassen: Den Vermittlungsausschuss wird die Bundesregierung aber auf gar keinen Fall anrufen. Was hat das mit einer sachlichen Diskussion zu tun, Herr Bundeskanzler? ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Merkel, bei aller Großzügigkeit, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb, Herr Bundeskanzler, kann ich Ihnen nur sagen: An uns soll es nicht liegen. ({0}) Falls Ihr Redebeitrag zum Ende der heutigen Debatte den Sinn und den Zweck hatte, noch einmal deutlich zu machen, dass weder Druck ausgeübt noch eine unsachliche Diskussion geführt werden soll und Sie, so wie wir, keine Angst vor dem Austauschen unterschiedlicher Argumente haben, ({1}) weil immer es um die Interessenlage der Bundesrepublik Deutschland geht, dann machen wir dabei gerne mit. ({2}) Wir haben in der Bevölkerung viel Verständnis für unsere Position; dessen bin ich mir ganz sicher. Herzlichen Dank. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Cem Özdemir für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Merkel, wissen Sie, was das Sympathische an Ihrer Rede war? - Man merkte bei jedem Satz: Sie hätten ja eigentlich gewollt. ({0}) Wenn ich mich hier umsehe, sehe ich viele Kollegen, die ich in sieben Jahren im Bundestag kennen gelernt habe und von denen ich genau weiß, dass sie es besser wissen. Sie haben sich den Gesetzentwurf angeschaut und wissen, dass vieles von dem, was hier gesagt wurde, nicht mit dem übereinstimmt, was in dem Entwurf steht. Sie würden gerne zustimmen, dürfen es aber aus Gründen, die uns allen bekannt sind, nicht. Ich bedaure Sie sehr dafür. ({1}) Meine Damen und Herren, am 1. Januar 2000 trat ein bedeutendes Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Das ist bekanntlich das Staatsangehörigkeitsrecht. Damals wurde das Geburtsrecht in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt. ({2}) Wir sind damit ein europäisches Land geworden, weil wir eine wichtige Sache durchgeführt haben. ({3}) - Mit Unterstützung von Ihnen. Freuen Sie sich, dass Sie auf der richtigen Seite standen. - Damals stand die CDU/CSU auf der falschen Seite. Ich weiß, dass es viele von Ihnen bereuen. Heute sind Sie aber dabei, denselben Fehler noch einmal zu machen. ({4}) Sie stehen auf der falschen Seite. Sie verhindern ein Gesetz, das die Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Unternehmer, Kirchen und alle vernünftigen Kräfte in der Gesellschaft - darunter auch viele Christdemokraten - wollen. Helfen Sie mit, dass ein Gesetz, das dazu beiträgt, dass künftig alle, die zu uns kommen, Deutsch lernen, verabschiedet wird. Was haben Sie dagegen, dass Migrantinnen und Migranten künftig Deutsch lernen, wenn sie zu uns kommen? ({5}) Helfen Sie mit, dass dieses Gesetz durchgesetzt wird. Die Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer und die Schülerinnen und Schüler wollen es. Ich verstehe nicht, was man dagegen haben kann. Aber eines ist ein bisschen unfair. Wenn man während seiner Regierungszeit etwas nicht durchgeführt hat, das dann andere machen - auch wenn es vielleicht zu wenig ist, weil nicht mehr Mittel zur Verfügung stehen -, und man dann sagt, das reiche nicht, erscheint mir das ein bisschen wohlfeil. Sie hätten es besser machen können, haben das aber nicht getan. ({6}) Wir beginnen damit. Helfen und unterstützen Sie uns! Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir später mehr Geld haben und mehr für die Sprachkurse tun können. Aber nichts tun ist nicht mehr als zu wenig tun. Nichts tun ist immer weniger, meine Damen und Herren. ({7}) Ich habe leider nur wenig Zeit. ({8}) Aber ich möchte noch auf eines hinweisen. Je weiter wir in den Wahlkampf kommen, desto stärker wird das Argument vertreten: Die Ausländer sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen und beziehen häufiger Sozialhilfe. Professor Birg, der Bevölkerungswissenschaftler aus Bielefeld, wird in diesem Zusammenhang gern zitiert. Aber an eines sollten Sie sich erinnern, meine Damen und Herren. Ich meine das ernst. Als die Anwerbeabkommen geschlossen worden sind, haben nicht die Grünen regiert - uns gab es damals noch nicht -, auch die SPD nicht. Sie haben regiert, als die Anwerbeabkommen geschlossen worden sind, aufgrund deren beispielsweise meine Eltern in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Damals wurden Leute in der Schwerindustrie, im Bergbau, unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Diese Leute sind bewusst ausgesucht worden, weil sie ungelernte Arbeitskräfte waren. Weil nicht in sie investiert wurde und weil sie nicht aus- und weitergebildet wurden, sind sie heute teilweise stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Daraus kann man ihnen aber keinen Vorwurf machen, ({9}) weil wir damals keine Konzepte für Integration hatten und man ihnen nicht Deutsch beigebracht hat. Das kann man ihnen heute nicht zum Vorwurf machen. ({10}) Was wir mit dem Gesetz wollen, ist, aus den Fehlern zu lernen und künftig bei der Einwanderung einen Fahrplan zur Integration vom ersten Tag der Einreise an zur Verfügung zu stellen. Helfen Sie uns mit, damit durchgesetzt wird, worauf alle in der Gesellschaft warten! Herzlichen Dank. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die PDS-Fraktion erteile ich dem Kollegen Roland Claus das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben sich unerwartet entschlossen, eine Ansprache an die Fraktion der CDU/CSU zu halten und dafür das Plenum des Bundestags zu wählen. Ich erkläre mir das ein wenig damit, dass Sie möglicherweise die harsche Rede Ihres Bundesinnenministers dazu veranlasst hat, der hier in einer Weise mit der Union umgegangen ist, wie es von ihm auch nicht anders zu erwarten war. Insofern habe ich ein gewisses Verständnis für Ihr Verhalten, Herr Bundeskanzler. Aber wir haben auch eines gemerkt. Die Union beeindruckt es offenbar relativ wenig, wenn man ihr nach dem Mund redet. Von Frau Merkels Rede ist nur eine einzige Botschaft übrig geblieben, ({0}) nämlich dass Humanität und Menschenrechte nur dann gewünscht sind, wenn es uns in den Kram passt. ({1}) Mit dieser Überlegung passt es nicht zusammen, dass Sie sich immer als Lehrmeister in Sachen Humanität und Menschenrechte aufspielen. Die CDU/CSU hat natürlich Recht, wenn sie auf das Kleingedruckte in diesem Gesetz verweist und sagt, es gebe viele Ausgestaltungsmöglichkeiten. In der vor uns liegenden öffentlichen Debatte und erst recht in den bevorstehenden Wahlkämpfen geht es natürlich nicht um das Kleingedruckte, sondern darum, wie die Dinge vereinfacht und vergröbert interpretiert werden. Hier wünsche ich mir noch immer, dass wir als Parlament nicht für Verklärung und Stimmungsmache, sondern für Aufklärung in diesem Lande sorgen. Diese Hoffnung gebe ich auch nicht auf. ({2}) Allerdings ist es nicht damit getan, dass Herr Merz erklärt, die Probleme der Arbeitslosigkeit seien mit Zuwanderung nicht zu lösen. Dass das so ist, ist völlig klar. Aber es in dieser Verknüpfung zu bringen, bedeutet, die Sorgen und Nöte von Arbeitslosen gegenüber den Sorgen und Nöten von Zuflucht Suchenden auszuspielen. ({3}) Da Sie, Frau Merkel, hier den Platz 1 für sich reklamiert haben, sage ich Ihnen: Die CDU/CSU nimmt den Platz 1 nur auf den Feldern Realitätsverdrängung, Abschottungsabsicht und Stimmungsmache ein. Das ist leider Ihre Bilanz. ({4}) Meine Damen und Herren, die PDS hat sich mit eigenen Vorschlägen in die Diskussion um ein modernes Einwanderungsrecht eingebracht. Das, worüber wir heute abzustimmen haben, stellt uns nicht zufrieden; das haben wir deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber auch hier sehen wir natürlich Möglichkeiten für Nachbesserungen, die auf den Weg gebracht werden können. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als vorläufig Letzte in der Aussprache hat die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat auch gezeigt, dass es einen guten Politiker auszeichnet, in seiner Grundüberzeugung im Hinblick auf grundlegende Fragen unserer Gesellschaft konsistent und konsequent zu sein. Meinungsäußerungen allein aufgrund momentaner Anzeichen, Zahlen und Entwicklungen gefährden hingegen sehr schnell die eigene Glaubwürdigkeit. ({0}) Die FDP hat sich schon vor vielen Jahren und als erste Fraktion in dieser Legislaturperiode so ernsthaft mit der Frage der gesteuerten Zuwanderung befasst, dass sie einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der lange nicht intensiv beraten wurde, weil es keine überzeugenden Alternativen dazu gegeben hat, heute aber ebenfalls zur Abstimmung steht. ({1}) Wir haben uns also nicht vorzuwerfen, an dieser Debatte nicht konstruktiv teilzunehmen. Im Gegenteil, wir sind Mitgestalter dieser Debatte. ({2}) Wir sind davon überzeugt, dass Zuwanderung nach Deutschland stattfindet, in welchen Bahnen auch immer, nicht aber in Bahnen, die auch von der Politik gesteuert werden. ({3}) Wir wollen ein Zuwanderungsgesetz, damit Zuwanderung auf einen konkreten Arbeitsplatz hin und eben nicht in Sozialsysteme hinein stattfindet. ({4}) Deshalb vertritt die FDP auch die Überzeugung, dass sich Asyl Suchende und Migrantinnen und Migranten in ihrem Bemühen, nach Deutschland zu kommen, gegenseitig ausschließen. Es gibt keinen Wechsel untereinander; für Asyl Suchende gilt das Asylrecht. Hier ist es gut, dass es bei einer Kategorie von Flüchtlingen, die nicht als Asylbewerber zu uns kommen, eine klare Beschreibung ihres Status geben wird. ({5}) Nur darum geht es bei den Regelungen im Hinblick auf nicht staatliche Verfolgung und auf Menschen, die aus geschlechtsspezifischen Gründen verfolgt werden. Hier wird kein neuer Zugang eröffnet, sondern hier geht es um die Statusregelung. Der Status wird so geändert, dass er der Situation dieser Menschen entspricht. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns steht jetzt eine wichtige Abstimmung bevor. Damit dürfen aber der Diskussionsprozess und das Bemühen um Vermittlung nicht beendet sein. Jeder, der an einer Regelung zu einer gesteuerten und gegebenenfalls auch begrenzten ZuwandeRoland Claus rung interessiert ist, muss auch nach der Abstimmung heute im Bundestag diese Bemühungen fortsetzen. Deshalb darf auch niemand sagen: Mit uns wird es kein Vermittlungsverfahren und kein Voranbringen der Beratungen geben. ({7}) Die FDP enthält sich bei dieser Abstimmung, weil wir Licht und Schatten sehen. Wir haben aber eine positive Grundüberzeugung in Bezug auf dieses Vorhaben und stimmen mit seiner grundlegenden Richtung überein. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Es liegen persönliche schriftliche Erklärungen zur Abstimmung der Kollegen Dr. Norbert Blüm, Dr. Heiner Geißler, Dr. Christian Schwarz-Schilling und der Kolleginnen Professor Süssmuth und Ulla Jelpke vor.1) Wir kommen nun zur Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwürfe eines Zuwanderungsgesetzes, Drucksachen 14/7987, 14/8046 und 14/7387. Der Innenausschuss empfiehlt un- ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8395, die genannten Gesetzentwürfe als Zuwande- rungsgesetz in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8407 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS? - Wer stimmt dagegen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS und mit den Stimmen des restlichen Hauses abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung mit den von den Berichterstattern übermit- telten Korrekturen zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Es wird namentliche Abstim- mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab- stimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? Ich frage noch einmal: Ist noch ein Mitglied des Hau- ses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli- chen Abstimmung wird später bekannt gegeben.2) Wir kommen nun zu einer Reihe von einfachen Ab- stimmungen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 14/8396. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent- schließungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt. Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländer- gesetzes auf Drucksache 14/8009. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 auf Drucksache 14/8395, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt. Da- mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den von der Fraktion der FDP ein- gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Zu- wanderung auf Drucksache 14/3679. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 auf Drucksache 14/8395, den Ge- setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts- ordnung die weitere Beratung. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 4 auf Druck- sache 14/8395, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/6641 mit dem Titel „Umfassendes Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung sowie zur Förderung der Integration jetzt vorlegen“ ab- zulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU ange- nommen. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 5 auf Druck- sache 14/8395, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/3697 mit dem Titel „Berliner Rede des Bundespräsidenten umsetzen - Zuwanderung nach Deutschland verbindlich regeln“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU ange- nommen. Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Nr. 6 auf Drucksache 14/8395, den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7810 mit dem Titel „Einwande- rung und Flüchtlingsschutz menschenrechtlich gestalten“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des In- nenausschusses auf Drucksache 14/3721 zu dem Antrag 1) Anlagen 2 bis 4 2) Seite 22061 C der Fraktion der FDP mit dem Titel „Zuwanderung steuern, Aus- und Weiterbildung intensivieren, Arbeitserlaubnisrecht entrümpeln“. Der Innenausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3023 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7720 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Zusatzpunkt 8: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familien, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 14/8393 zur Unterrichtung durch die Bundesregierung - Sechster Familienbericht mit dem Thema „Familien ausländischer Herkunft in Deutschland“ - sowie zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu diesem Bericht. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 14/4357 den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6169 zum Sechsten Familienbericht anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag zu den Vorhaben der Bundesregierung zur Bewältigung der aktuellen politischen Herausforderungen - Drucksache 14/8281 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sieben Minuten erhalten soll. - Das ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle für die FDP.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler ist nicht hier. ({0}) Er drückt sich vor der heutigen Debatte. ({1}) Menschlich kann ich das nachvollziehen; denn wer lässt sich schon gern den Spiegel vorhalten, um darin nur Pleiten, Pech und Pannen zu entdecken. ({2}) Politisch aber kann ich das nicht verstehen. Ein Bundeskanzler muss sich der ihm übertragenen Verantwortung für die Politik des Landes stellen. ({3}) Sie aber laufen weg. Ihre Politik ist auch zum Weglaufen. Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie auf: Machen Sie Ihrem Schweigen ein Ende! Treten Sie vor die gewählten Vertreter des deutschen Volkes und nehmen Sie Stellung zu den Problemen, die die Menschen bewegen! ({4}) Wir wollen eine Regierung, die die Probleme nicht verschleppt, sondern ihre Arbeit macht. ({5}) Geben Sie deshalb so schnell wie möglich eine Regierungserklärung zu den Ungereimtheiten, Nachlässigkeiten und Verfehlungen, die diese Regierung zu verantworten hat, ab! ({6}) Worum geht es dabei? Es geht darum, dass Deutschland angesichts eines Berges selbst verursachter, ungelöster Probleme nicht nur im Ausland immer mehr an Reputation verliert. Vor allem im Inland leiden die Menschen unter falschen politischen Weichenstellungen, schlampiger Vorbereitung von Maßnahmen und dem Vor-sichHerschieben ungelöster Probleme. Eine klare Linie, geschweige denn Grundsätze des politischen Handelns sind nicht erkennbar. Stattdessen erleben wir eine Politik der Orientierungslosigkeit, der Beliebigkeit und des „Fettnäpfchenhüpfens“. Man könnte fast meinen - hier schließt sich der Kreis -: So chaotisch, wie die Regierungszeit des Kanzlers begonnen hat, so endet sie auch. Ich kann es Ihnen leider nicht ersparen, einige dieser ungelösten Probleme zu nennen. Dabei rede ich nicht von dem Fischmehlskandal oder der wirren Verbraucherpolitik der Frau Künast. ({7}) Ich will mich heute auch nicht darauf einlassen, die Skandalchronik von Herrn Trittin aufzuzeigen. Er wird inzwischen vom Bundeskanzler und seinen Kabinettskollegen offensichtlich versteckt, damit er mit seinen Verbalattacken und inhaltlichen Fehlzündungen nicht noch mehr Schaden anrichtet. ({8}) Bezeichnend ist, dass Trittin jetzt, wo er nicht mehr sichtbar ist, auf der Beliebtheitsskala an anderen Kabinettsmitgliedern vorbeizieht. Einen Tag nachdem sich die D-Mark als Zahlungsmittel in Deutschland verabschiedet hat, möchte ich über die Stabilität des Euros reden. Die Bundesregierung hat dieser Stabilität in unerträglicher Art und Weise Schaden zugefügt. ({9}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Die Vorgänge rund um den blauen Brief haben nicht nur den europäischen Stabilitätspakt ausgehöhlt, sondern können auch zu einem nachhaltigen Verlust des Vertrauens in die europäischen Währung beitragen. Politik soll zwar Ängste nehmen, nicht aber die Angst vor dem blauen Brief in Europa. Die Bundesregierung hat statt eines blauen Briefes ein blaues Auge davongetragen. ({10}) Sie hat mit ihrem Vorgehen in Brüssel das Fundament der jungen europäischen Währung beschädigt. Es ist ein völliges Rätsel, wie der Finanzminister seine Zusage, die Neuverschuldung bis 2004 nahe null zu führen, einhalten will. Es bleibt auch die spannende Frage, wie Hans Eichel in diesem Jahr unterhalb des Defizitkriteriums bleiben will; denn weder wird die Konjunktur anspringen noch sind nachhaltige Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialversicherung geplant. Die verzweifelten Rufe nach einem nationalen Stabilitätspakt zeigen, dass Sie von Grün-Rot mit Ihrem Latein am Ende sind. ({11}) Auch der Bundeskanzler tut nichts, um den Euro zu stärken; im Gegenteil: Mit seinen Beschimpfungen gegenüber der Europäischen Kommission hat er nicht nur die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspakts zusätzlich beschädigt, sondern auch der europäischen Integration insgesamt einen Tort angetan. Leider ist hier ein kurzfristiges nationales Interesse, nämlich die bevorstehende Bundestagswahl im Herbst, über die langfristigen europäischen Interessen gestellt worden. Bleiben wir kurz bei dem Problem des Finanzministers. Da steht immer noch die Umsatzsteuerbegünstigung der Deutschen Post durch den Finanzminister in Höhe von mehr als 900 Millionen Euro im Raum. Das Vorgehen mag legal gewesen sein; aber es ist nicht legitim. Wie soll der Wettbewerb und wie sollen Konkurrenten da eine Chance haben? ({12}) Das zeigt übrigens sehr deutlich, wie wichtig Privatisierung ist. Man muss das Unfugpotenzial reduzieren. Politischen Kräften wie Grün-Rot muss man die Instrumente, das Spielzeug, aus der Hand nehmen; damit wird nur Unfug gemacht. ({13}) Leider weigert sich Herr Eichel bis zum heutigen Tage auch, den notwendigen Nachtragshaushalt vorzulegen. Dabei steht fest: Das ist die einzige Möglichkeit, die Finanzierung aller 73 Transportflugzeuge A400M bis Ende März 2002 zu sichern und seriös auf die wirtschaftliche Situation zu reagieren. Dann zum Kapitel Metrorapid. Da haben wir ein dilettantisches Projektmanagement des Verkehrsministers erlebt. Mein Kollege Friedrich hat zu Recht gesagt, dass Herr Bodewig bei dieser Leistung in jedem mittelständischen Unternehmen vor die Tür gesetzt worden wäre. ({14}) Zudem ist die Finanzierung völlig unklar. Die Gegner des Transrapid, insbesondere in den Reihen des grünen Koalitionspartners, formieren sich. Hier ist die Gefahr, dass wieder eine Zukunftstechnik abgewürgt wird. Die Pannenbilanz lässt sich beliebig fortsetzen. So fallen einem beim Namen Riester nur Skandale ein: Vermittlungsskandal, EQUAL-Skandal, Entlassung im nahen Umfeld des Ministers, 4,3 Millionen Arbeitslose, Senkung der Schwankungsreserve der Rentenversicherung bei gleichzeitig steigendem Bundeszuschuss. Hinzu kommt: Schlampig vorbereitete Vorlagen für das Verfassungsgericht führen zu einer unerträglichen Verletzung des Informationsrechts des Deutschen Bundestages und haben der NPD unnötig eine Bühne in Deutschland verschafft. ({15}) Der Stillstand der Gesundheitspolitik führt zu explodierenden Beitragssätzen und steigenden Defiziten und gefährdet Arbeitsplätze. Die Beschaffungsvorlagen für die von der Bundeswehr dringend benötigten Transportflugzeuge wurden trotz Einmütigkeit in der Sache so schlampig vorbereitet, dass zur Klärung nur der Gang nach Karlsruhe geblieben ist. So geht es weiter. Unsere Große Anfrage zur Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb wird 270 Tage lang nicht beantwortet. Der Bundestagspräsident muss das Ministerium ermahnen, eine Antwort zu geben. Sie muten uns aber zu, 140 Änderungsanträge zum Zuwanderungsentwurf in Stunden zu studieren, zu analysieren und zu entscheiden. ({16}) Was ist das für ein Verständnis vom Parlament? Wir sind nicht das Notariat für Unfug der Regierung, sondern die Vertreter des Volkes, das frei gewählte Parlament, das es verdient, Respekt zu erfahren. ({17}) Motto dieser Regierung ist: Ich ignoriere das lästige Parlament einfach und hülle mich in Schweigen. Gerhard Schröder, sonst bei jedem PR-trächtigen Thema sofort im gleißenden Scheinwerferlicht präsent, ist jetzt hinter einem dicken Vorhang des Schweigens. Kein Regierungsmitglied ist anwesend, kein Minister, kein Kanzler - völlig typisch! Wahrscheinlich sind sie Kaffee trinken, Erdbeertorte essen oder so etwas.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir sind hier im Parlament. Hier stellen wir Anträge. Der Respekt vor dem Parlament würde es gebieten, dass die Bundesregierung zumindest einen Minister oder einen Vertreter des Bundeskanzleramts herschickt. Die leere Regierungsbank steht für eine leere Politik. ({0}) Ich schließe mit Folgendem, Frau Präsidentin: Nach dem Grundgesetz hat der Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz. Die Richtlinienkompetenz bedeutet auch eine Richtlinienverpflichtung. ({1}) Der Bundeskanzler hat die Pflicht, die Richtlinien seiner Politik im Parlament darzulegen. Deshalb unsere Forderung nach einer Regierungserklärung. Es kann nicht so sein: Wenn es unangenehm ist, taucht er weg, schickt eine Ansichtskarte, isst Erdbeertorte, lässt die Vorhänge runter; wenn es schön ist, dann ist er vorn und dann kennt er nicht die Ressortverantwortung. ({2}) Wenn es schwierig wird, sind die Minister zuständig und der Kanzler verflüchtigt sich. Wir brauchen keinen Sonnenschein-Kanzler. Er muss sich der Verantwortung stellen. ({3}) Das gebietet der Respekt vor dem Parlament. Wir sind nicht die Idioten der Nation, sondern haben Anspruch darauf, dass die Regierung das Parlament ernst nimmt. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich komme noch einmal zurück zu Tagesordnungspunkt 18 a und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimung über den Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen in der Ausschussfassung bekannt, Drucksachen 14/7987, 14/8046, 14/7387, 14/8395 und 14/8414: Abgegebene Stimmen 587. Mit Ja haben gestimmt 321, mit Nein haben gestimmt 225, Enthaltungen 41. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 586; davon ja: 320 nein: 225 enthalten: 41 Ja SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({0}) Klaus Barthel ({1}) Ingrid Becker-Inglau Dr. Axel Berg Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({2}) Kurt Bodewig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Rainer Brinkmann ({3}) Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann Karl Diller Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({6}) Harald Friese Anke Fuchs ({7}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({8}) Dieter Grasedieck Kerstin Griese Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Alfred Hartenbach Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({9}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({10}) Walter Hoffmann ({11}) Iris Hoffmann ({12}) Frank Hofmann ({13}) Ingrid Holzhüter Eike Hovermann Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Volker Jung ({14}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({15}) Detlev von Larcher Christine Lehder Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({16}) Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({17}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Ulrike Mascher Christoph Matschie Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Vizepräsidentin Anke Fuchs Ulrike Merten Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({18}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Michael Müller ({19}) Jutta Müller ({20}) Christian Müller ({21}) Andrea Nahles Volker Neumann ({22}) Gerhard Neumann ({23}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Dr. Eckhart Pick Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Christel RiemannHanewinckel Reinhold Robbe René Röspel Michael Roth ({24}) Birgit Roth ({25}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({26}) Ulla Schmidt ({27}) Silvia Schmidt ({28}) Dagmar Schmidt ({29}) Wilhelm Schmidt ({30}) Dr. Frank Schmidt ({31}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({32}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Karsten Schönfeld Ottmar Schreiner Gisela Schröter Richard Schuhmann ({33}) Brigitte Schulte ({34}) Reinhard Schultz ({35}) Volkmar Schultz ({36}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Dr. Ditmar Staffelt Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Reinhold Strobl ({37}) Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Simone Violka Ute Vogt ({38}) Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({39}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({40}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Jürgen Wieczorek ({41}) Dieter Wiefelspütz Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer ({42}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({43}) Waltraud Wolff ({44}) Heidemarie Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Dr. Heiner Geißler Dr. Christian SchwarzSchilling Dr. Rita Süssmuth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gila Altmann ({45}) Marieluise Beck ({46}) Volker Beck ({47}) Angelika Beer Grietje Bettin Annelie Buntenbach Ekin Deligöz Amke Dietert-Scheuer Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({48}) Katrin Göring-Eckardt Rita Grießhaber Winfried Hermann Antje Hermenau Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Angelika Köster-Loßack Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Kerstin Müller ({49}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Simone Probst Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({50}) Werner Schulz ({51}) Christian Simmert Christian Sterzing Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Dr. Antje Vollmer Dr. Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm ({52}) Margareta Wolf ({53}) FDP Dr. Helmut Haussmann Fraktionslose Abgeordnete Nein CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl Dr. Maria Böhmer Sylvia Bonitz Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({54}) Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Klaus Bühler ({55}) Hartmut Büttner ({56}) Dankward Buwitt Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({57}) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Renate Diemers Thomas Dörflinger Dr. Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({58}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({59}) Axel E. Fischer ({60}) Klaus Francke Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({61}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Horst Günther ({62}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({63}) Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt für die SPD-Fraktion.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schöne Botschaft in diesem Moment lautet eigentlich: Das Zuwanderungsgesetz ist in diesem Haus gegen die Interessen und gegen die Polemik auf der rechten Seite durchgebracht worden. ({0}) Daran schließt sich das an, was hier auf Antrag der FDP gemäß der Tagesordnung zu behandeln ist und was übrigens an diesem Freitagmittag den der CDU/CSU zustehenden Debattenplatz eingenommen hat, das heißt also, was jedenVizepräsidentin Anke Fuchs Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({1}) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Hans Jochen Henke Ernst Hinsken Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Josef Hollerith Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Irmgard Karwatzki Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Thomas Kossendey Rudolf Kraus Dr. Martina Krogmann Werner Kuhn Dr. Karl A. Lamers ({2}) Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Dr. Paul Laufs Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({3}) Eduard Lintner Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({4}) Dr. Michael Luther Erich Maaß ({5}) Erwin Marschewski ({6}) Dr. Martin Mayer ({7}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({8}) Elmar Müller ({9}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({10}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({11}) Katherina Reiche Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Anita Schäfer Dr. Wolfgang Schäuble Heinz Schemken Dr. Gerhard Scheu Norbert Schindler Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({12}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({13}) Andreas Schmidt ({14}) Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Gerhard Schulz Diethard Schütze ({15}) Clemens Schwalbe Heinz Seiffert Werner Siemann Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Thomas Strobl ({16}) Michael Stübgen Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Peter Weiß ({17}) Gerald Weiß ({18}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({19}) Hans-Otto Wilhelm ({20}) Klaus-Peter Willsch Bernd Wilz Willy Wimmer ({21}) Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer Wolfgang Zöller PDS Monika Balt Petra Bläss Eva Bulling-Schröter Heidemarie Ehlert Dr. Heinrich Fink Dr. Klaus Grehn Uwe Hiksch Carsten Hübner Ulla Jelpke Sabine Jünger Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Heidemarie Lüth Pia Maier Angela Marquardt Kersten Naumann Rosel Neuhäuser Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Gustav-Adolf Schur Dr. Ilja Seifert Enthalten FDP Ina Albowitz Hildebrecht Braun ({22}) Ernst Burgbacher Jörg van Essen Ulrike Flach Paul K. Friedhoff Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({23}) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Ulrich Heinrich Walter Hirche Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({24}) Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Carl-Ludwig Thiele Jürgen Türk PDS Wolfgang Bierstedt Wolfgang Gehrcke Dr. Bärbel Grygier Gerhard Jüttemann Dr. Christa Luft Manfred Müller ({25}) Christine Ostrowski falls platzmäßig die Unterstützung der großen Oppositionsfraktion findet. Gemessen an der Beteiligung hier im Plenum - oh Wunder - nimmt diese Debatte aber wahrlich nicht diesen Platz ein: Hier treiben sich gerade einmal sieben Figuren herum, vom Fraktionsvorsitzenden, von Frau Merkel und anderen ist überhaupt nichts zu sehen. Wir wollten die Debatte nicht; aber Sie haben sie erzwungen. ({26}) - Ich weise ja nur auf die Schwäche in Ihren eigenen Reihen hin. Da nützt auch das Zwischenrufen überhaupt nichts. ({27}) Ich will gleichzeitig auf die Lächerlichkeit dieser Debatte hinweisen, die von der FDP verlangt wurde. Daran wird deutlich, dass wir uns längst im Wahlkampf befinden. Das haben wir vorhin bei der Zuwanderung leider schon feststellen müssen. Wir stellen das an dieser Stelle bei diesem Tagesordnungspunkt mit noch größerer Deutlichkeit fest. ({28}) Im Übrigen - auch das möchte ich noch einmal sagen steht das eigentlich in diametralem Gegensatz zu dem, was die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer der Opposition dieses Hauses in den letzten Tagen gemacht haben. Sie haben sich immer darüber beschwert, dass wir Regierungserklärungen abgeben. Sie haben daran herumgemäkelt, dass wir Debatten mit Regierungserklärungen von jeweils 20 Minuten des jeweiligen Regierungsmitgliedes festgelegt haben. Nun, da Sie auf einmal eine Debatte haben wollen, wir sie aber ablehnen, sind Sie auch nicht zufrieden. Irgendwo passt das alles nicht zusammen. ({29}) Wenn man dieses allerdings unter dem Aspekt Wahlkampf betrachtet, passt es zusammen. Ich will darauf hinweisen - das ist doch wohl völlig klar -, dass die Abgabe einer Regierungserklärung im Ermessen und in der Entscheidungsgewalt einer Regierung liegt. Nun wollen wir sie nicht - das ist völlig klar -, darum ist es auch in Ordnung, wenn auf der Regierungsbank kein Vertreter der Bundesregierung anwesend ist, ({30}) weil damit auch zum Ausdruck kommt, was man dort von diesem Antrag der FDP-Fraktion hält, nämlich überhaupt nichts. ({31}) Ich will Ihnen im Übrigen auch sagen, dass Ihre Absicht, die Sie mit diesem Antrag zum Ausdruck bringen, überhaupt nicht der Geschäftsordnung des Bundestages, der Verfassung und anderen Bestimmungen entspricht. Bleiben Sie also ganz ruhig! Übrigens haben Sie 1997 - ich will nur einmal dieses eine Jahr herausgreifen - als damalige Regierungskoalition, als die PDS solche Anträge gestellt hat, diese auch abgelehnt. Lange Rede, kurzer Sinn: ({32}) Damit werden Sie sich abfinden müssen. Es ist aber gut, dass Sie es noch einmal zur Sprache gebracht haben, dann können wir auf diese Weise die gleichen Entscheidungen treffen und Ihr Begehren ablehnen. Ich will darüber hinaus eines nicht verhehlen: Wir befinden uns nicht nur in Wahlkampfzeiten, sondern auch in einer Zeit, in der Politik dramatisiert und skandalisiert wird. Diese Feststellung beziehe ich auf uns alle, vor allen Dingen aber auch auf eine Gruppe dieser Gesellschaft, nämlich die Journalisten und Medienvertreter, die ich bitte, gut zu überlegen, was da erzeugt wird. Das sage ich nicht einseitig aus Regierungssicht; auch die Opposition hat ja monatelang unter solcher Dramatisierung und Skandalisierung von Politik gelitten. ({33}) Wir sollten das Aufblasen und Hochziehen von unbedeutenden Themen, das meistens solchen überhaupt nicht angemessen ist, unter dem Aspekt des Verfalls politischer Kultur zumindest einmal untereinander diskutieren. Das sollten wir aber nicht hier tun. Ich finde, eine solche Diskussion sollte an anderer Stelle geführt werden. Meiner Meinung nach sollten Sie aber, wenn Sie hier schon einen solchen Antrag stellen, dieses Thema an dieser Stelle zumindest als Stichwort ansprechen und probIematisieren. ({34}) Wir als Regierungsfraktionen müssten, wenn Sie auf diese Weise versuchen, das Haus zu strapazieren, ({35}) - warten Sie ab, Herr Heinrich; ich komme darauf noch zu sprechen -, eigentlich den Antrag stellen, darüber zu diskutieren, ob es nicht sinnvoll wäre, als Gegenstück zur Regierungserklärung eine Oppositionserklärung zu verlangen. ({36}) Dann könnten wir Ihnen viel deutlicher, vielleicht in ähnlich unsinniger Weise, wie gerade vom Kollegen Brüderle geschehen, vorhalten, welch dummes Zeug, welchen Unsinn Sie in den letzten Wochen und Monaten von sich gegeben haben, und könnten zeigen, dass Sie überhaupt nicht in der Lage sind, Oppositionspolitik stringent durchzuführen. ({37}) Wilhelm Schmidt ({38}) Wo bleiben denn Ihre Gegenentwürfe? Wo bleibt denn eine durchgehende und vor allen Dingen auch sinnvolle Finanzpolitik in diesem Hause? Eine solche ist überhaupt nicht erkennbar. Passt denn das, was die Opposition, insbesondere Herr Stoiber, von sich gibt, in ein Konzept? Es ist nicht erkennbar, dass Sie überhaupt ein Konzept haben. Die Heuchelei, die Ihre Rederinnen und Redner vorhin bei der Debatte über Zuwanderung, bei einem so wichtigen und dringend zu regelnden Thema, das Ernsthaftigkeit erfordert, an den Tag gelegt haben, ist ohne Beispiel geblieben. Das, was von Ihnen vorgesehen ist, hat aber offensichtlich noch nicht einmal großes Interesse bei allen Oppositionsfraktionen geweckt. Sonst wären sicherlich mehr und wichtigere Abgeordnete anwesend. Sie wollen dadurch doch auch nur von Ihren eigenen Schwächen ablenken, die Sie zweifellos in vielen Bereichen haben. ({39}) Die feindliche Übernahme der CDU durch die CSU, die in den Reihen Ihrer Oppositionspartei und -fraktion stattgefunden hat, spricht Bände. Von daher lassen wir das nicht gelten. ({40}) Ich erkläre für die SPD-Bundestagsfraktion, dass das ein unsinniger Antrag ist, der völlig an der Sache vorbeigeht. Solche Anträge hatten auch in den vergangenen Jahren, wenn Sie oder andere Bemühungen in diesem Bereich gezeigt haben, keine Substanz. Wir verlangen deswegen sofortige Abstimmung, damit Ausschüsse später über einen solchen Unsinn nicht weiter beraten werden müssen. Vielen Dank. ({41})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zur Geschäftsordnung hat der Kollege Koppelin das Wort.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Bundestagsfraktion war ein einziges Beispiel für die Arroganz der Macht. ({0}) Herr Kollege Schmidt, es ist eine Zumutung, wenn Sie sagen, dass die Bundesregierung nicht da sei, um zu dokumentieren, was sie vom Antrag der FDP halte. Das ist respektlos gegenüber diesem Parlament. Genau das hat der Kollege Brüderle gesagt. ({1}) Sie haben eben eine andere Auffassung dargestellt; das müssen Sie auch. Aber im Stillen wissen Sie, dass die FDP Recht hat. Dem, was Sie hier eben beantragt haben, nämlich die sofortige Abstimmung, kontern wir: Wir beantragen die Herbeirufung des Bundeskanzlers. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das war ein Antrag zur Geschäftsordnung. - Herr Grund, bitte sehr.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Auch meine Fraktion findet, dass dieses Haus etwas Besseres verdient als das Gesülze des Abgeordneten Schmidt. Wir schließen uns dem Antrag der FDP an. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Schmidt, bitte.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Rede war kein Gesülze. Aber das müssen Sie und vor allen Dingen die Präsidentin bewerten. Ich finde, dass Sie völlig übertreiben, wenn Sie an dieser Stelle und zu dieser Stunde den Bundeskanzler herbeizitieren wollen. Das ist schon deswegen nicht angemessen, weil in Ihren eigenen Reihen die Spitzenkräfte nicht anwesend sind. Sie nehmen Ihren Antrag offensichtlich selber nicht ganz ernst. Das ist eine völlig unangemessene Forderung. Wir werden diesen Antrag ablehnen. Aber ich bitte, die Sitzung des Bundestages zu unterbrechen, damit wir das klären können. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat die Kollegin Lemke für Bündnis 90/Die Grünen.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

An die Kollegen von der FDP gewandt möchte ich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erklären, dass das, was Sie hier am Freitagnachmittag im Parlament abliefern, ein Schauspiel ist, das mit den parlamentarischen Gepflogenheiten überhaupt nichts zu tun hat. Herr Kollege, Sie wissen, dass Vertreter der Bundesregierung auf der Regierungsbank anwesend waren und die Debatte von dort verfolgt haben. ({0}) - Nein, Herr Koppelin, es ist kein Skandal, dass die Regierungsvertreter angesichts dessen, was Sie hier abgeliefert haben, die Regierungsbank verlassen haben. Sie instrumentalisieren das Parlament zum wiederholten Male für den Wahlkampf. Sie haben einen Antrag eingereicht, zu dem Sie vonseiten der Koalitionsfraktionen signalisiert bekommen haben, dass wir dem so, wie es im Parlament normalerweise im Zusammenhang mit Regierungserklärungen gehandhabt wird, nicht nachkommen wollen, dass wir diesem Verfahren nicht zustimmen wollen. Dass Sie dann, nachdem von unserer Seite klar war, wie mit Wilhelm Schmidt ({1}) diesem Antrag verfahren wird, am Freitagnachmittag ein solches Verfahren in Gang setzen, obwohl mehrere Regierungsvertreter den Beginn der Debatte auf der Regierungsbank verfolgt haben, ({2}) finde ich unparlamentarisch und ich werfe Ihnen vor, dass Sie das Ganze für den Wahlkampf instrumentalisieren. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich lasse nun über den Antrag abstimmen. Wer dem Antrag auf Herbeirufung des Bundeskanzlers zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Das Präsidium ist sich einig, dass Letzteres die Mehrheit war. Wenn Sie das anzweifeln, gibt es einen Hammelsprung. Aus der einhelligen Sicht des Präsidiums ist der Antrag abgelehnt. Wir fahren in der Beratung fort. Das Wort hat der Kollege Peter Rauen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schmidt, ich empfand es eben als eine Unverschämtheit, wie Sie den Antrag der FDP vor dem Hintergrund der geringen Anwesenheit meiner Fraktion qualifizieren wollten. Wir stehen hinter diesem Antrag. ({0}) Herr Schmidt, Sie können mit den Kolleginnen und Kollegen hier nicht so umgehen. Sie wissen, dass die vorherige Debatte zwei Stunden länger gedauert hat und dass viele ihre Heimfahrt planen. Sie verteidigen die Regierung, die überhaupt nicht vertreten ist, wollen aber uns einen Vorwurf machen, weil wir zahlenmäßig nicht so vertreten sind, wie wir inhaltlich hinter dem Antrag stehen. Es verwundert, dass die Regierungsbank fast gänzlich leer ist, und zwar seit Beginn der Debatte. Denn im Kern stellt der FDP-Antrag die Frage, wie diese Regierung mit dem Parlament und den Rechten des Parlaments umgeht. Herr Schmidt, Sie sollten nicht so leicht darüber hinweggehen, denn das ist doch die Wahrheit: Verteidigungsminister Scharping kauft Flugzeuge, für die das Parlament keine Mittel zur Verfügung gestellt hat. Ähnlich verfährt Verkehrsminister Bodewig. Er sagt Mittel für den Transrapid zu, ohne dass diese qualifiziert in den Haushalt eingestellt werden. Wir können hier im Parlament nicht einmal unter verkehrspolitischen Gesichtspunkten darüber diskutieren, ob sich der Transrapid, der mal als Alternative zum Flugzeug gedacht war, als Flughafenzubringer überhaupt eignet und in Konkurrenz zur Straßenbahn treten sollte. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Rauen, einen Augenblick bitte. - Kolleginnen und Kollegen, der eine Antrag ist erledigt. Ich bitte Sie, sich jetzt hinzusetzen und zuzuhören. Der Kollege Rauen hat einen Anspruch darauf. ({0}) Wir sollten hier eine vernünftige parlamentarische Debatte führen. Deswegen bitte ich auch die linke Ecke: Entweder ihr setzt euch hin oder ihr verlasst das Plenum. - Herr Rauen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe noch einige weitere Punkte, die zeigen, warum die FDP mit ihrem Antrag Recht hat und warum wir ihn unterstützen. Gesundheitsministerin Schmidt lässt sich ein notwendiges Gesetz vom Pharmaverband abkaufen ({0}) und verzichtet auf das Gesetz, ein Vorgang, den selbst eine Verfassungsrichterin jüngst öffentlich als schweren Anschlag auf die staatliche Ordnung bewertet hat. ({1}) Arbeitsminister Riester verteilt EG-Arbeitsmarktmittel nach Gutsherrenart und hat es zu verantworten, dass durch falsche Statistiken bei der Bundesanstalt für Arbeit das Vertrauen der Menschen in wichtige Institutionen erschüttert wird. Finanzminister Eichel macht der Post AG ein milliardenschweres Mehrwertsteuergeschenk. In Brüssel macht er Zusagen - diese können nach seriösen Einschätzungen überhaupt nicht eingehalten werden -, nur um sich die Blamage eines blauen Briefes zu ersparen. ({2}) Während wir über dieses Thema diskutieren, ist keiner der angesprochenen Minister anwesend. Wozu brauchen sie eigentlich das Parlament? ({3}) Vielleicht wird die Zeit genutzt, um mit irgendwelchen Interessenverbänden und Lobbyisten neue Deals auszuhandeln, von denen wir Parlamentarier erst aus der Presse erfahren können. ({4}) Viel schlimmer ist aber, dass der Bundeskanzler bei dieser Debatte nicht anwesend ist, obwohl der Inhalt dieses Antrages schon sehr lange bekannt ist. Er hat nach unserer Verfassung die Richtlinienkompetenz für die Politik und muss das Handeln seiner Minister verantworten. Diese Pleiten- und Pannenserie, verbunden mit der Missachtung des Parlaments, ist letztlich die Politik Schröders. In meiner Heimat gibt es dazu einen treffenden Spruch: Der Fisch stinkt vom Kopf. ({5}) Die Politik Schröders - eine Politik der Beliebigkeit, der runden Tische, der Moderation von Interessen anstelle einer Politik der Durchsetzung von politischen Grundüberzeugungen - ist gescheitert. Wenn er schon keine Erklärung durch seine Minister, was eine Missachtung des Parlaments ist, abgeben will, dann sollte er den Menschen in Deutschland wenigstens seine Vorstellungen darüber mitteilen, wie es in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt weitergehen soll. Wir befinden uns in einer tiefen Rezession. Viele fleißige Menschen haben ihre Arbeit verloren. Mittelständische Betriebe wissen in zunehmendem Maße nicht mehr, wie es weitergehen soll. Die Politik der ruhigen Hand von Schröder ({6}) erweist sich zunehmend als eine Politik der Ratlosigkeit. ({7}) Wenn man richtige Antworten geben will, muss man zuvor treffend analysieren. Ich komme zurück auf das, was gestern hier in der Debatte über die Arbeitsmarktpolitik eine Rolle gespielt hat. Der Parlamentarische Staatssekretär Andres und viele andere Redner haben uns glauben machen wollen, dass es einen Aufwuchs der Beschäftigung in Deutschland gegeben habe. Das ist nachweisbar nicht der Fall. ({8}) Zum Verständnis für alle muss ich eines klarstellen: Wenn 2 Millionen zusätzliche Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden, dafür aber 1 Million Vollzeitarbeitsplätze verloren gehen, dann gibt es zwar 1 Million Beschäftigte mehr; aber mehr gearbeitet wird in Deutschland deshalb nicht. ({9}) Es wird immer von einem Beschäftigungsaufwuchs geredet, obwohl es in Wahrheit im letzten Jahr in Deutschland einen massiven Rückgang der Beschäftigung gegeben hat. ({10}) Ich muss Ihnen schon vorhalten, was Ihnen im Auftrag der Regierung und auf Kosten des Steuerzahlers der Sachverständigenrat bereits im November 2000 ins Stammbuch geschrieben hat. Es wird zwar von einem Aufwuchs an Beschäftigung gesprochen. Aber weiter heißt es im Jahresgutachten des Sachverständigenrates: Diesem Beschäftigungsanstieg in Personen steht allerdings kein entsprechender Anstieg in Erwerbstätigenstunden gegenüber: Im Jahre 2000 unterschied sich das gesamtwirtschaftlich geleistete Arbeitsvolumen nicht wesentlich von dem des Vorjahres. Die Diskrepanz zwischen dem Beschäftigungsanstieg in Personen und demjenigen in Erwerbstätigenstunden war im Wesentlichen auf die Zunahme im Segment der geringfügigen Beschäftigen zurückzuführen, für die seit Einführung der Meldepflicht eine bessere statistische Erfassung möglich ist. ({11}) Ein Jahr später, vor wenigen Monaten, hat der Sachverständigenrat - ein Gremium führender hervorragender Wissenschaftler, die von der Regierung bestellt und bezahlt werden - noch einmal festgestellt: Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen, das die unterschiedlichen Wochenarbeitszeiten der Beschäftigten berücksichtigt und somit ein genaueres Bild vom Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit zu zeichnen vermag als die Anzahl der Erwerbstätigen, ist um 1,0 v. H. gesunken und verdeutlicht damit die gegenüber dem Vorjahr schlechtere Entwicklung am Arbeitsmarkt. ({12}) Die Wahrheit ist: In Deutschland wurde im Jahre 2001 weniger gearbeitet als 1998. Aufgrund des Rückgangs der Erwerbsstunden hatten wir im letzten Jahr 600 Millionen Arbeitsstunden weniger. Damit es alle ökonomisch und im Hinblick auf die sozialen Sicherungssysteme auch verstehen: Wenn man bei einem normalen Facharbeiter zu seinem Stundenlohn von 27 DM den Arbeitgeberanteil für die Sozialversicherung, den Beitrag an die Berufsgenossenschaft und darauf insgesamt die Mehrwertsteuer von 16 Prozent hinzurechnet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass eine solche fehlende Arbeitsstunde rund 40 DM kostet. Wenn 600 Millionen Stunden fehlen, dann entspricht das einem nicht mehr vorhandenen Wirtschaftspotenzial von 24 Milliarden DM. Dass die Beitragseingänge wegbrechen, ist der Grund dafür, dass die Haushalte der sozialen Sicherungssysteme in große Probleme geraten und die Krankenkassen ihre Beiträge erhöhen müssen. ({13}) Eigentlich müsste ein Nachtragshaushalt eingebracht werden. Denn in den Eckdaten des Haushaltes 2002 war ein Wachstum von 1,25 Prozent vorgesehen. Herr Metzger, Sie wissen es ganz genau: Minister Eichel hat in seiner Rede zum Jahreswirtschaftsbericht von nur noch 0,7 Prozent gesprochen. Die Zahl von 3 850 000 Arbeitslosen war ein Eckpunkt im Haushalt 2002. Wir werden im Durchschnitt des Jahres 2002 rund 300 000 mehr haben. Wir haben also gewaltige Haushaltsrisiken. Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen - er treibt mich besonders um -: Minister Eichel hat in der letzten Woche bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht verkündet, dass der Aufschwung bevorsteht. Er hat den Geschäftsklimaindex genannt. Das sind subjektive Erwartungen. Die Realität in der deutschen Wirtschaft sieht völlig anders aus. Wir befinden uns in der tiefsten Rezession, die man sich nur vorstellen kann. Dann höre ich immer wieder - auch vom Kanzler selbst; schade, dass er nicht anwesend ist -, man warte auf den Aufschwung in Amerika. Ich muss sagen: Es ist ein Anachronismus, wenn ein deutscher Kanzler den Aufschwung in Amerika herbeisehnt, damit wir in Deutschland mehr Wachstum haben. ({14}) - Herr Schmidt, Sie sollten lieber zuhören. Sie verstehen von der Wirtschaft viel zu wenig, um hier Zurufe zu machen. ({15}) Ich habe 35 Jahre meines Lebens Steuern gezahlt und über 100 Menschen Arbeit gegeben. Davon können Sie nur träumen. ({16}) Mich hier zu verbessern ist eine Frechheit - um es einmal sehr deutlich zu sagen. So geht es einfach nicht. ({17}) - Sie sollten sich das hier in aller Deutlichkeit anhören, nachdem Sie wieder Ruhe gewonnen haben. Der Export ist nicht unser Problem. Das Wachstum der letzten Jahre wurde ausschließlich durch den Export getragen. Wir hatten im letzten Jahr, bezogen auf den außenwirtschaftlichen Anteil, noch ein Wachstum von 1,6 Prozent zu verzeichnen. Aber auf dem Binnenmarkt haben wir bereits seit Anfang des Jahres 2001 eine tiefe Rezession. ({18}) Wenn die Weltwirtschaft wirklich anspringt, dann hat zunächst der Export etwas davon, aber noch lange nicht die Binnenkonjunktur. ({19}) Im Hinblick auf die Arbeitnehmer, die hier in Deutschland nicht über die Grenzen hinweg operieren können und aufgrund unseres Steuer- und Sozialrechts immer weniger von ihrem Lohn in der Tasche behalten, ist nicht im Ansatz zu sehen, dass sich etwas ändern könnte. ({20}) Ich sage Ihnen abschließend: Einer der größten Fehler der Regierung Schröder war, dass sie geglaubt hat, unsere Maßnahmen der Deregulierung des Arbeitsmarktes zurücknehmen und den Arbeitsmarkt mit neuen Regulierungen weiter zementieren zu müssen, ({21}) und zwar mit neuen Regelungen hinsichtlich der 630-Mark-Jobs und der Scheinselbstständigkeit, mit dem Recht auf Teilzeitarbeit und mit einem Betriebsverfassungsrecht, das lediglich die Macht der Gewerkschaften stärkt, aber die Betriebe weiter ruiniert. Mit diesen Unwahrheiten, die Sie selbst verbreiten wollen, und auch mit der ewigen Erblastdiskussion erreichen Sie auf dem Arbeitsmarkt nichts. Ich sage noch einmal: In Deutschland wurde 2001 weniger gearbeitet als 1998. ({22}) Das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik. ({23})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich leide körperlich an solchen Debatten, bei denen die Substanz fehlt. Herr Rauen, was Sie gerade im Hinblick auf wirtschaftliche Zusammenhänge gesagt haben, ist eines Unternehmers unwürdig. Was passiert denn, wenn der Export anzieht? Wer arbeitet denn in Deutschland im Export? Wir sind die zweitgrößte Exportnation auf dem Globus. ({0}) Wir wissen seit gestern, dass die US-Volkswirtschaft im vierten Quartal des letzten Jahres Gott sei Dank um sage und schreibe 1,4 Prozent gestiegen ist. Damit war die Wirtschaft in den USA nur ein Quartal lang in der Rezession. Wenn Sie wissen, dass 1 Prozent Wachstum in den USA automatisch 0,4 Prozent Wachstum in Deutschland bedeutet, dann sehen Sie, dass wir im Prinzip bereits jetzt den Turn-around erleben. ({1}) - Regen Sie sich nicht so auf. Ihre Unkenrufe werden bereits in vier bis sechs Wochen in der Öffentlichkeit nicht mehr verfangen, weil man sieht, dass sich in Deutschland die konjunkturelle Situation im Zuge der weltwirtschaftlichen Erholung in der Tat verbessert. ({2}) Diese Regierung macht dadurch eine flankierende Politik, dass wir beispielsweise finanzpolitisch auf der sicheren Seite bleiben und all Ihren Konjunktur- und Steuersenkungsfantasien eine Absage erteilt haben. Wir konnten den Bürgerinnen und Bürgern glaubwürdig vermitteln: Ein Staat, der seine Ausgabenprogramme durch Kredite finanziert, greift den Bürgerinnen und Bürgern über kurz oder lang in die Tasche, weil die Zinsen und Zinseszinsen für die Schulden des Staates über Steuern und Abgaben gezahlt werden. Keine Frage: Diese Solidität ist eine positive Flankierung der wirtschaftlichen Erwartungshaltung. Beide Regierungsfraktionen wissen natürlich, dass wir der Reformmotor in dieser Legislaturperiode sind. Ein Reformprojekt haben wir heute vor einer guten Stunde gegen den Widerstand der Union und gegen eine unentschlossene FDP verabschiedet, die meint, sich sozusagen als taktisches Lämpchen für ein mögliches Vermittlungsverfahren anhängen zu können, obwohl sie immer für Zuwanderung war und dies auch herausgestellt hat. Wir glauben, dass die Reformagenda weiterbesteht. Eine Schlagzahl werden wir nächste Woche, am 6. März, aus Karlsruhe bekommen. Dann wird das Urteil zur Rentenbesteuerung bzw. der Gleichbehandlung mit den Pensionen gesprochen. Dabei wird sofort klar, dass die Steuerfreistellung von Altersvorsorgeleistungen durch die nachgelagerte Besteuerung ein weiteres Thema auf der aktuellen Reformagenda der nächsten zwei bis drei Jahre sein wird. Genauso herrscht Einigkeit darüber, dass wir bei den sozialen Transferleistungen mit unserem Vorhaben der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine höhere Zielgenauigkeit erreichen werden. ({3}) Zu dem Punkt haben sich der Kanzler und die Koalitionsfraktionen in gleicher Weise positioniert. Wir werden bis Ende März eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzverfassung einrichten, die dafür Sorge trägt, dass die Gemeinden und Landkreise in Deutschland im Geleitzug dieser Reform nicht zum Zahlmeister der Entlastung werden, wenn die Arbeitslosenhilfe nicht mehr aus dem Bundeshaushalt, sondern von den Kommunen gezahlt wird. ({4}) Wir haben sehr wohl eine Reformagenda und wissen, wie die Dinge zusammenhängen. Sie sind oft viel komplexer, als ein Brüderle oder Rauen hier weismachen wollen. Aber die Wählerinnen und Wähler können weiß Gott differenzierter denken, als die unterirdische Diskussion in diesem Parlament, vor allem zu so vorgerückter Stunde am Freitagnachmittag, aufzeigt. ({5}) Kollege Brüderle, Sie haben den Airbus A400M angesprochen. Ich sage Ihnen, wie das Verfahren läuft - das ist aber bekannt -: Dieses Parlament hat in einer Debatte in Anwesenheit des zuständigen Ministers eine politische Willenserklärung abgegeben, aus der klar ersichtlich war, dass die Regierungsfraktionen die Haushalts- und Budgetrechte dieses Parlaments achten. An genau dieses Verfahren werden wir uns halten. ({6}) Wir haben am 13. März im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die erste Befassung mit der Beschaffungsvorlage. Wenn ich richtig informiert bin, geht die Beschaffungsvorlage über das Finanzministerium gerade den Berichterstattern aller Fraktionen zu. Sie haben den Transrapid bzw. den Metrorapid, wie er in Nordrhein-Westfalen genannt wird, angesprochen. Wir werden deutlich machen, dass die Zusagen der Bundesregierung im Entwurf des Haushaltsgesetzes 2003 der Bundesregierung stehen, weil das Parlament dieses Jahr keine Mittel für dieses Projekt zur Verfügung gestellt hat. Kollege Brüderle, man muss bei dieser Geschichte aufpassen. Die Technologie des Transrapid wird von den meisten von uns Grünen nicht infrage gestellt. ({7}) - Keine Sorge, das ist in Nordrhein-Westfalen ein Landesprojekt. Genauso wie in Bayern müsste die Landesregierung zunächst einmal die eigene Finanzierung darstellen, bevor sie mit dem Projekt beginnt. Auf jeden Fall weiß jede Landesregierung: Rechtsverbindliche Verpflichtungen mit der Unterstützung des Bundes können nur dann eingegangen werden, wenn im Haushaltsgesetz des Jahres 2003 der dann gewählte 15. Deutsche Bundestag entsprechende Mittel einstellt. So sieht die Rechtslage aus. Das ist keine Frage. ({8}) Herr Clement und Herr Stoiber müssen sich entscheiden, ob sie die entsprechenden landesrechtlichen Voraussetzungen erfüllen können und ob sie die Projekte bereits in diesem Jahr starten wollen. ({9}) - Herr Kollege Hinsken, so einfach ist die Rechtslage. Ich komme zum Thema Steuerpolitik. Die Aussage des Kollegen Schmidt hat mir gut gefallen. Er sagte, man müsse sich ob der Vielstimmigkeit des Oppositionschores einmal entscheiden und in einer Oppositionserklärung sagen, was gelte. Gilt das, was Brüderle sagt? Er sagt nämlich, er wolle Steuerschecks ans Volk geben. Er will also kreditfinanzierte Steuernachlässe vergeben. Weiterhin will er, sollte die Telekomaktie weiterhin einen Kursverlust erleiden, den Aktionären diesen Kursverlust aus Staatsmitteln ausgleichen. Was ist das für ein Verständnis von Marktwirtschaft? Oder gilt bei der CDU/CSU das, was Herr Stoiber sagt? Er sagt nämlich, dass die Schwankungsreserve noch 6 oder 7 Milliarden Euro beträgt, bevor die 3-Prozent-Hürde erreicht wird. Gleichzeitig laufen Merz, Merkel und andere gegen die gefährliche Nähe zum 3-Prozent-Kriterium Amok. Was gilt denn bitte schön? ({10}) Es kann hier doch keine Beliebigkeitspolitik von der Opposition betrieben werden. ({11}) Das Ganze packen Sie in einen Sammelsuriumantrag, wobei Sie so tun, als habe die Regierung über all diese Punkte in Aktuellen Stunden und in großen Debatten, wie zum Jahreswirtschaftsbericht, mit Ihnen nicht ausführlich diskutiert. Dies geschah hier im Parlament, wobei eine hohe Präsenz der zuständigen Ministerinnen und Minister sowie gelegentlich auch des Kanzlers gegeben war. Das ist ein Schauantrag. Es handelt sich um Wahlkampf und um nichts anders.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Metzger, Sie können Ihre eigentlich abgelaufene Redezeit noch ein wenig verlängern, indem Sie eine Frage beantworten.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das tue ich. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Metzger, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass das, was Sie sagen, falsch ist? Erstens. Ich habe nie vorgeschlagen, die Telekomaktionäre zu entschädigen. Ich habe nur gesagt, dass man den Kleinaktionären, wenn sie bei erneuten Privatisierungsschritten zeichnen, einen Wiederanlagerabatt - in der Form, in der man Mitarbeiterrabatte einräumt - als Treueprämie gewähren sollte. Dies ist für Frühzeichner bei der Telekom ohnehin der Fall gewesen. ({0}) - Herr Schmidt, wenn Sie zuhören, können Sie mein Argument verstehen. Das würde die Sache leichter machen. Aufgrund Ihres Dazwischenquiekens können Sie das nicht mitbekommen. Das ist schade. ({1}) Also: Mein Vorschlag war, dass man den Kleinaktionären, die durchhalten, bei einer weiteren Zeichnung - ähnlich dem Frühzeichner- bzw. Mitarbeiterrabatt - einen Rabatt einräumt. Ich habe nie vorgeschlagen - wenn Sie etwas anderes behaupten, bitte ich Sie, das zu belegen -, dass man die Aktionäre für Kursverluste, die sie mit der Telekomaktie erlitten haben, entschädigen sollte. Das ist absurd. Zweitens. Ich habe auch nie vorgeschlagen, Steuergeschenke zu verteilen. Die Steuerschecks, die in Amerika mit Erfolg verteilt wurden ({2}) - hören Sie doch einmal zu, dann verstehen Sie es auch besser -, waren eines der Instrumente, die dazu beigetragen haben, dass die Amerikaner möglicherweise nur eine sehr kurze Rezession gehabt haben. Sie selbst haben vorhin die neuesten Daten genannt. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Brüderle, kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich frage, ob Sie bereit sind, dem zuzustimmen. Das, was Sie gesagt haben, ist die Unwahrheit; denn ich habe es nicht gesagt. Man darf die Dinge hier doch wohl noch richtig stellen, auch wenn Sie dadurch, dass ich eine Frage stelle, später nach Hause kommen. Ich habe also nie vorgeschlagen, Steuern zu schenken. Es ging nur darum, steuerliche Entlastungen im Voraus vorzunehmen, wie es in Amerika höchst erfolgreich betrieben wurde. ({0})

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich antworte jetzt ernsthaft, obwohl man auch sehr polemisch darauf reagieren könnte. Ich komme zu Ihrem letzten Punkt. Sie haben Steuersenkungen durch Schecks vorgeschlagen, sodass die Menschen das Geld sofort bar in der Tasche gehabt hätten. Sie und Ihre Partei, die 29 Jahre mitregiert hat, hätten wie die Amerikaner dafür sorgen müssen, dass Haushaltsüberschüsse bestehen, sodass eine wirklich großzügige Steuerreform hätte durchgeführt werden können. ({0}) Man sollte nicht den Eindruck erwecken, dass ein Staat, der unter dem Strich am Pranger - auch dem der FDP steht, wenn es um den fast zugesandten blauen Brief geht, etwas zu verschenken hat. Sie müssen sich entscheiden, was Sie wollen. Aus meiner Sicht war das eine Beliebigkeitsgeschichte. Sie haben der Bevölkerung das Blaue vom HimOswald Metzger mel versprochen und den Eindruck erweckt, als ob Manna vom Himmel regnet, obwohl jeder weiß, dass Bund, Länder und Gemeinden - auch solche Länder und Gemeinden, in denen Sie mitregieren - nach wie vor Kredite aufnehmen müssen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Dort den Leuten vorzugaukeln, man könne ihnen Geld schenken, ist absurd. Wir haben die Steuern in drei Stufen - im Gesetzblatt können Sie das nachlesen - seriös gesenkt und gleichzeitig die Neuverschuldung reduziert. Das ist eine solide Politik. ({1}) Das geht zwar langsamer, aber wir müssen auch noch Aufräumarbeiten aufgrund der jahrzehntelangen Regierungsbeteiligung der FDP durchführen. Diese hat ständig niedrige Steuern versprochen und gleichzeitig die Steuersätze - egal, mit welchem Partner - hoch gehalten. Zweite Bemerkung. Herr Brüderle, ich habe die Quelle nicht mehr greifbar. Ich habe im letzten Herbst eine „Bild am Sonntag“ ({2}) gelesen. Es kann sein, dass Sie falsch zitiert wurden. Auf jeden Fall war für das Volk deutlich sichtbar zu lesen: Brüderle will Entschädigung für Aktionäre wegen Kursverlusten. Das wäre marktwirtschaftlicher Nonsens. Darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Wenn das nicht so ist, dann nehme ich es zur Kenntnis und werde es nicht mehr verwenden, Herr Brüderle. So bin ich. Vielen Dank. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Dietmar Bartsch.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Bild am Sonntag“, die seriöseste Quelle, Herr Metzger. Ich will, Herr Schmidt und Herr Metzger, einen Satz zur Zuwanderung sagen. Sie feiern, dass der Gesetzentwurf heute verabschiedet worden ist. Das hat mich nicht sehr überrascht. Die Probleme sind aber noch da und das liegt auch daran, dass Sie mit dem Gesetzentwurf so spät in den Bundestag gekommen sind. ({0}) In einem Wahljahr ist das äußerst kompliziert. Nur dieser Satz dazu. Als ich von dem Antrag hörte, dachte ich zunächst, dass die FDP - insbesondere Herr Westerwelle - sauer ist, dass er noch nicht alleine bei Illner oder Christiansen war, und sie deshalb einen solchen Antrag stellt. Ich habe gedacht, wenn jemand 18 Prozent haben will und dann zwei Drittel abzieht, wird es einigermaßen stimmen. Ich habe immer noch das Gefühl, dass es sich um einen Wahlkampfantrag handelt. ({1}) - Das wollen wir mal sehen. Warten Sie den September ab! - Ich habe immer noch das Gefühl, dass es sich um Wahlkampfreden handelt, obwohl Regierungshandeln gefragt ist. Das Problem ist, obwohl der FDP-Antrag ein Stück weit scheinheilig ist: Herr Brüderle hat mit dem, was er hier gesagt hat, Recht. Wenn man sich alle zwölf Punkte einzeln ansieht, wird man feststellen, dass überall Fragen offen geblieben sind. Das Herbeirufen der Regierung wird uns nicht sonderlich helfen. Da hätte ich eher Sorgen. ({2}) - Ich glaube, über die Ablösung der Regierung diskutieren wir jetzt nicht. Wir haben dafür noch Monate Zeit. Allerdings haben Sie, Herr Brüderle, ein Privileg: Sie haben in Ihrem Antrag gesagt, Sie hätten eine Linie erkannt. Das ist genau das, was ich in dem Regierungshandeln nicht erkennen kann. Das kann ich aber vielleicht bei Ihnen noch lernen. Ich komme gerne darauf zurück. Sie wissen, dass die Regierung jetzt Erdbeertorte essen ist. Ich weiß das leider nicht. Wir müssen einmal schauen, woher Sie diese Information haben. ({3}) Richtig ist: Sie können jedes einzelne Thema - Transportflugzeug, blauer Brief, V-Mann-Skandal - nehmen - es sind nicht wir, sondern die Medien - die Ihnen im Übrigen nahe stehen -, die von Chaostruppe sprechen. Es sagt alles, wenn aus der Regierungsmannschaft des Kanzlers der Umweltminister, der den Atomausstieg in 32 Jahren bewerkstelligen will, der Vorzeigeminister geworden ist. Das ist wirklich ein Problem. ({4}) - Für die Regierung ist es ein Problem. Das, was in der Bundesanstalt für Arbeit gelaufen ist, ist inakzeptabel. Ich glaube, das ist nur ein Mosaiksteinchen. Das Hauptproblem ist: Die Arbeitslosigkeit - hier wurde heftig über Konjunktur geredet - steigt im Kern seit 25 Jahren. Konjunktur kommt und geht auch wieder; man kann das bei Marx oder - wem das nicht passt Adam Smith nachlesen. Es sind strukturelle Probleme. Die Lösung dieser Probleme ist auch nicht angegangen worden. Sie haben weitergemacht wie bisher. Hier ist einer der Punkte, wo Sie handeln müssen. Ich will kurz zu dem Thema, das Kofi Annan gestern angesprochen hat, sprechen - auch die FDP spricht das in ihrem 11. Punkt an -: dass die Folgen des 11. September nicht nur militärisches Handeln - das wir, wie Sie wissen, ablehnen - sondern andere Dinge beinhalten. Schauen Sie sich den Haushalt von Frau Wieczorek-Zeul an! Der geht immer weiter runter. Da liegen Reden und Handeln offensichtlich weit auseinander. Das ist doch ein ernsthaftes Problem. ({5}) Frau Wieczorek-Zeul fordert dann die Einführung der Tobinsteuer. Wir hatten das neulich im Parlament; Sie haben das abgelehnt. Es ist keine Linie zu erkennen. Ich will in Bezug auf die Linie einen letzten Punkt nennen: Die Chefsache Ost ist zur Nebensache verkommen. Ich könnte viele Zahlen nennen. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie noch nie. 72 Prozent der Ostdeutschen zwischen 16 und 29 sehen ihre Chancen im Westen besser als im Osten. Im Osten leben ein Fünftel der Menschen, aber ein Drittel der Arbeitslosen. Die 100 größten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz im Westen und die 100 größten im Osten haben noch nicht einmal halb so viel Jahresumsatz wie VW. Wenn es denn zu Entscheidungen wie zu der über den A3XX kommt, engagiert sich der Bundeskanzler für den Westen. Das alles sind Probleme. Sie dürfen Ostdeutschland eben nicht wie die Afrikaforscher behandeln, die Glasperlen verteilen, sondern Sie müssen die Lösung der Probleme anpacken. Genauso ist das, wenn man mit der Plastiktüte auf dem Kopf durch Ostdeutschland läuft und Schokoladenessen für Deutschland macht. Das alles wird nichts bringen. Das ist ein Ignorieren der Probleme. Es wird auch nichts helfen, wenn wir die Regierung noch einmal befragen, weil die Konzeptlosigkeit das Problem ist. Gerade für den Osten wird es notwendig sein, nicht nur in Fußgängerzonen zu stehen und zu lächeln. Vielmehr muss sich die Politik ändern - und das um der Demokratie und der Menschen im Osten willen. Danke schön. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Joachim Poß. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Koppelin, wenn Sie solche Anträge stellen, müssen Sie damit rechnen, dass man mehr oder weniger ernst dazu Stellung nimmt. Was mein Kollege Schmidt zur Unernsthaftigkeit gesagt hat, ist zutreffend. Mit diesem wirren Antrag, der ein Sammelsurium von Unterstellungen und Halbwahrheiten ist, kann man politische Themen nicht behandeln. ({0}) Man kann in der Beurteilung einzelner Vorgänge sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein, nur tun wir uns als Parlament insgesamt keinen Gefallen, wenn wir auf der Grundlage solch unqualifizierter Anträge eine Debatte führen. ({1}) Das ist doch der Punkt, um den es hier geht. Eine solche Debatte fördert eher den Politikverdruss. Deshalb werde ich auch nur auf einige Aspekte eingehen. Eigentlich habe ich erwartet, dass das Kompetenzpaket Rauen - er hat ja große Kompetenzen für sich in Anspruch genommen - noch da ist; denn ich kann ihm nicht durchlassen, dass er dem Bundeskanzler etwas unterstellt, was er nicht belegen kann. Wo hat der Bundeskanzler erklärt, dass seine Politik darin besteht, auf den Aufschwung in den USA zu warten? Eine solche Aussage wird er nicht belegen können. Der Bundeskanzler hat im Deutschen Bundestag und anderswo auf Zusammenhänge hingewiesen, die jeder einigermaßen und halbwegs wirtschaftskundig Gebildete kennen müsste. Es ist eben keine andere europäische Wirtschaft so wie unsere im weltwirtschaftlichen Zusammenhang zu sehen. ({2}) Darauf und auf die besonders enge Verflechtung mit den USA hat er hingewiesen. Das ist doch nicht zu leugnen. Ich wiederhole es: Im Herbst 2000 haben alle so genannten Experten erklärt, Europa könne sich von einem „soft landing“ oder „hard landing“ in den USAabkoppeln. Das ist nicht eingetreten. Das haben nicht die Politiker prognostiziert, das waren Institute und Wirtschaftsprofessoren. Wissenschaftlich-empirische Untersuchungen beweisen die enge Verflochtenheit mit der Weltwirtschaft und mit der Wirtschaft in den USA. Wenn wir über Kompetenz reden, müssen sich die Vertreter der Union schon gefallen lassen, dass ich sie bitte, endlich einmal zu klären, wann sie ihre zentralen Vorstellungen zur Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik präzisieren. Der Wirrwarr ist ja nicht mehr zu überbieten. ({3}) Gestern haben Ihre Fachpolitikerinnen mehr Familiengeld gefordert. Anschließend haben sie sich mit Herrn Stoiber getroffen und der hat gesagt: Liebe Frauen, das können wir sehr wahrscheinlich so nicht finanzieren, und hat das wieder einkassiert. So sieht Ihre Kompetenz aus. ({4}) Jeden Tag wird bei Ihnen herumgeeiert. Sie wissen überhaupt nicht, wohin Sie wollen. Sie haben jetzt angekündigt, Ende April wollten Sie Ihre Vorstellungen vorlegen. Herr Merz hat laut „FAZ“ erklärt: Wir werden unsere Vorstellungen in Ruhe entwickeln. Das stelle man sich einmal vor! ({5}) Wir sind in einem Wahljahr und die große Oppositionspartei erklärt, sie fange jetzt erst an, Vorstellungen zu einem zentralen Feld der Politik zu entwickeln. So sieht Ihre Kompetenz aus. ({6}) Ich will mich auch nicht mit den vielen Widersprüchen von Herrn Stoiber, die er jetzt nach und nach einkassiert, auseinander setzen. Es geht um mehr als 60 Milliarden DM. Kürzlich hat er noch eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf unter 40 Prozent gefordert. Wie er das finanzieren will, hat er nicht gesagt. Er hat nur in der Tat deutlich gemacht, dass eine gewisse Verbindung in der Unseriosität mit der FDP gegeben ist. Die FDP fordert auch ständig einfache, gerechte Steuertarife. ({7}) Schon der damalige Bundesfinanzminister Waigel - um eine unverdächtige Quelle zu zitieren - hat ausgerechnet, das würde zusätzliche Steuerausfälle von mehr als 100 Milliarden DM bedeuten. Meine Damen und Herren, wenn es in der deutschen Politik eine Kraft gibt, die, was Konzeptionen angeht - nicht was Personen angeht, es sind nette Menschen darunter -, überflüssig ist, die durch und durch unseriös ist, ({8}) die uns durch ihre jahrzehntelange Regierungsbeteiligung in diese Staatsverschuldungsfalle hat laufen lassen, ({9}) dann sind Sie das, meine Damen und Herren von der FDP. ({10}) Sie waren wesentlich mit daran beteiligt, dass falsche Grundsätze beim Aufbau Ost durchgesetzt wurden. Unter den Folgen dieser falschen Finanzierung der deutschen Einheit leiden wir eben noch heute. Es ist eine Frechheit, dass Sie uns hier auf die Anklagebank setzen wollen, wo wir nur durch harte Arbeit Tag für Tag versuchen, Ihren Mist wegzuräumen. Das ist doch die Situation. ({11}) Und die Kompetenz Stoibers ist hier doch nicht größer. Ich könnte ihn ja zitieren. Heute habe ich festgestellt, dass sich Herr Stoiber offenbar auch noch als Beschützer der Steuerhinterzieher versteht. Der Bundesrechnungshof liegt mit Bayern im Clinch. Den Prüfern des Bundesrechnungshofs wird der Zugang zur bayerischen Finanzverwaltung verboten, weil dort offenkundig vieles passiert - sozusagen Bayern als Steueroase -, was nicht geltendem Recht entspricht. Diesem Vorgang und der Frage, wie es mit der Kompetenz von Herrn Stoiber aussieht, werden wir von politischer Seite in den nächsten Tagen sehr sorgfältig nachgehen. ({12}) Über die FDP muss man eigentlich nicht mehr sprechen. Was werfen Sie denn Hans Eichel eigentlich vor? ({13}) Wollen Sie ihm im Ernst vorwerfen, dass er jetzt in Brüssel bestätigt hat, was der Finanzplanungsrat unter Beteiligung aller Landesregierungen schon im Juni vergangenen Jahres gesagt hat, nämlich dass wir versuchen werden, uns bis 2004 einem ausgeglichenen Gesamthaushalt zu nähern? Wollen Sie damit sichtbar machen, dass Ihnen an Stabilitätspolitik nicht gelegen ist, weil Sie sich treu bleiben wollen? Herr Westerwelle sagt, er werde nur dann einen Koalitionsvertrag unterschreiben, wenn die Steuern geringer, gerechter und einfacher würden. Was das bei Ihnen heißt, wissen die Menschen in Deutschland: Die Steuern müssen für Spitzenverdiener geringer werden. Es muss einfacher werden, Steuern zu hinterziehen, und Gerechtigkeit ist für Sie sowieso nur ein partielles Problem. So sieht das in der Praxis aus, meine Damen und Herren. ({14}) Denn immer, wenn es darum gegangen ist, in der Bundesrepublik Deutschland mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, ist das gegen Ihre Stimmen im Deutschen Bundestag oder dort, wo Sie sonst noch beteiligt waren, geschehen. Sie sind ungeeignet, solche Anträge zu stellen. ({15}) Sie haben keine politische Legitimation. Das gilt auch für die anderen Beispiele. Wollen Sie nun eigentlich das Transportflugzeug A400M oder wollen Sie es nicht? ({16}) Sind Sie dafür, die dafür notwendigen Mittel bereitzustellen, oder nicht? Sie bekommen die Beschaffungsvorlage. Dann können Sie ihr am 30. März im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestag zustimmen. ({17}) Stichwort Transrapid: Wollen Sie die Projekte etwa nicht, um Ihrem Schattenvorsitzenden Jürgen Möllemann eins auszuwischen? Oder wollen Sie sie vielleicht nicht in Bayern? Sie müssen schon erklären, was Sie eigentlich wollen. ({18}) Was halten Sie denn von der jetzt eingeleiteten Reform der Bundesanstalt für Arbeit? Halten Sie diese für gut oder kritisieren Sie sie? ({19}) Walter Riester hat doch schnell und zukunftsweisend auf die Probleme bei der Bundesanstalt für Arbeit reagiert. ({20}) Ich verstehe nicht, was daran auszusetzen sein soll. Herr Laumann, wenn Sie gleich darauf eingehen, werden Sie doch sehr wahrscheinlich auch auf die Geschichte vor dem Regierungswechsel 1998 eingehen. ({21}) Jedenfalls erwarte ich von Ihnen - Sie sind ja ein redlicher Mann -, dass Sie das machen, wenn Sie zu dem Thema Stellung nehmen. Ich nenne weiter das Stichwort Lohnnebenkosten. Auch uns gefallen die relativ hohen Lohnnebenkosten nicht. Ich muss allerdings daran erinnern, dass wir in Ihrer Regierungszeit - so lange liegt sie noch nicht zurück - Lohnnebenkosten von mehr als 42 Prozent hatten. ({22}) Ich könnte noch weitere Stichworte anführen. Meine Damen und Herren, wir nehmen das Parlament durchaus Ernst, ({23}) aber Sie sollten die Parlamentsarbeit nicht mit einem solch wirren Zeug zusätzlich erschweren. ({24})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich nun dem Kollegen Karl-Josef Laumann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Poß, lassen Sie mich zunächst einmal eine Bemerkung zu Ihrer Anmerkung machen, dass mein Kollege Rauen nicht mehr an der Debatte teilnimmt. Es ist nun einmal so, dass die CDU in Rheinland-Pfalz heute am frühen Abend ihre Landesvertreterversammlung durchführt. Als Profis wissen wir alle, dass man an solchen Terminen teilnehmen muss. ({0}) Ich meine, das sind wir unserer Parteibasis auch schuldig. ({1}) Der Antrag der FDP-Fraktion macht deutlich, dass unsere Verfassung dem jeweiligen Bundeskanzler aus gutem Grund eine ziemlich mächtige Stellung einräumt. Diese mächtige Stellung begründet sich daraus, dass in Art. 65 Satz 1 des Grundgesetzes von der Richtlinienkompetenz die Rede ist. Angesichts der Arbeitsmarktlage in Deutschland hat die FDP völlig Recht: In der nächsten Woche werden wir wieder neue Arbeitslosenzahlen bekommen, die höher als die vom 6. Februar sein werden. Mit denjenigen, die in geförderter Beschäftigung sind, gibt es in Deutschland 6 Millionen Arbeitslose. Als Mitglied des Deutschen Bundestages weiß ich nicht - niemand von uns weiß das -, wie sich der Bundeskanzler unseres Landes den Abbau der Arbeitslosigkeit vorstellt. ({2}) Vor allem wissen wir nicht, wie sich der Bundeskanzler dies im Hinblick auf die Arbeiter vorstellt. Mittlerweile sind 63 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie haben völlig Recht, dass es sich hier um einen strukturellen Prozess handelt, der seit vielen Jahren abläuft. Ich weiß nicht, wie sich der Bundeskanzler die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir in der industriellen Fertigung leider nicht mehr haben, für diesen Personenkreis vorstellt. Wir wissen nicht, wie die Bundesregierung dazu steht - Anträge von CDU/CSU und FDP liegen dazu vor -, wie man etwa im Niedriglohnbereich in Deutschland zu mehr Arbeitsplätzen in Deutschland kommen kann. Seit Wochen schweigt der Bundeskanzler auf der ganzen Linie. Dass wir den Bundeskanzler auffordern, dazu etwas zu sagen, ({3}) hat auch damit zu tun, dass wir dem Bundesarbeitsminister die Antworten schon gar nicht mehr zutrauen. Wir erwarten schon gar nicht mehr, dass wir von ihm eine Antwort darauf bekommen, wohin es in der Arbeitsmarktpolitik gehen soll. Deswegen ist es völlig richtig, dass wir in dieser Frage verlangen, dass uns der Bundeskanzler sagt, wohin er will. Das soll er uns vor allen Dingen vor dem 22. September sagen. Heute sind in Deutschland 550 000 junge Leute unter 25 Jahren arbeitslos. Das ist trotz Ihres JUMP-Programmes die höchste Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen seit über drei Jahren. Ist es zu viel verlangt, wenn man von einem Bundeskanzler erwartet, dass er hier im Parlament einmal dazu Stellung nimmt, wie er sich die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vorstellt, und dass er uns sagt, was er tun will, damit Mittelstand, Handel und Gewerbe eine ausreichende Zahl von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen können? Die Kommunalpolitiker im Bundestag wissen, dass wir langsam, aber sicher das Herzstück unserer Demokratie, die kommunale Selbstverwaltung, verlieren. In meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen sind mittlerweile mehr als ein Drittel der Kommunen im so genannten Ausgleichsstock. Das heißt, in diesen Gemeinden wird nur noch über Pflichtaufgaben beschlossen; dort kann nichts mehr gestaltet werden. Angesichts einer solchen Situation interessiert mich schon, wie sich ein Bundeskanzler einen neuen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden mit dem Ziel vorstellt, dass die kommunale Selbstverwaltung erhalten bleibt. Der Irrsinn, dass mittlerweile viele Programme der Kinder- und Jugendarbeit in den Regionen unseres Landes über so genannte Projektmittel der Arbeitsverwaltung finanziert werden, ist nun wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss. Es wäre doch besser, die Kreistage und Gemeinderäte könnten das selbst entscheiden. Auch hierzu haben wir keine Antworten der Bundesregierung. Wir alle wissen, dass in unserem Land der Anteil der pflegebedürftigen Menschen steigt. Diejenigen von uns, die in ihrem Wahlkreis damit befasst sind, wissen, dass in den Altenheimen mittlerweile eine miese Stimmung herrscht. Die Träger wissen nicht mehr, wie sie es finanzieren sollen, die Altenpflegerinnen und Altenpfleger steigen aus dem Job aus, weil sie den Stress nicht mehr aushalten, und die alten Leute fühlen sich immer schlechter betreut. Wo ist die Antwort der Bundesregierung auf die Frage, was dagegen getan werden soll, dass sich dieses Problem aufgrund der demographischen Situation in unserem Land gravierend verschärft? ({4}) Es passiert nichts. Ich kenne keine Aussagen des Bundeskanzlers, wie er sich die Lösung dieses Problems vorstellt. Ich bin sehr gespannt, was die SPD-Fraktion in der übernächsten Woche sagen wird, wenn der Arbeitsminister allen Ernstes vorschlägt, dass die Arbeitslosen demnächst ihre privaten Arbeitsvermittler mit bis zu eineinhalb Monatslöhnen selber bezahlen sollen. Wenn Sie damit beginnen, dass der Arbeitslose, der noch über Geld verfügt, sich im Gegensatz zu demjenigen, der kein Geld mehr hat, einen Arbeitsplatz kauft, dann ändern Sie bitte den Namen der Sozialdemokratischen Partei. Schönen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der FDP auf Drucksache 14/8281 mit dem Titel „Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag zu den Vorhaben der Bundesregierung zur Bewältigung der aktuellen politischen Herausforderungen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP und der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion der PDS abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({0}) - Drucksache 14/8099 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) - Drucksache 14/8384 Berichterstattung: Abgeordneter Fritz Schösser Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit, der Kollegin Gudrun Schaich-Walch, das Wort.

Gudrun Schaich-Walch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001939

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Rentnerinnen und Rentner in der gesetzlichen Krankenversicherung sind gleich zu behandeln - so lautet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Der Gesetzgeber schafft mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die notwendigen Regelungen, damit das Urteil umgesetzt werden kann, ohne dass dies zu unvertretbaren Beitragsmehrbelastungen führt. Deshalb geht es heute nicht nur um Verfassungsrecht; es geht auch darum, einen Schritt in Richtung mehr Beitragsgerechtigkeit zu gehen. ({0}) - Es ist so, Herr Fink. Für die Akzeptanz der sozialen Sicherungssysteme - davon bin ich fest überzeugt - ist es sehr entscheidend, dass die Menschen die Überzeugung haben, dass ihnen hier Gerechtigkeit widerfährt. Diese Akzeptanz wird nur dann zu erreichen sein, wenn wir die Menschen auf diesem Gebiet vor unliebsamen Überraschungen bewahren können, sei es durch Leistungskürzungen, wie Sie sie mit Wahl- und Regelleistungen ja immer wieder ins Gespräch bringen, ({1}) sei es durch Beitragsmehrbelastungen, die aus alten gesetzgeberischen Fehlentscheidungen resultieren, die letztendlich Sie verursacht haben. In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ist es mir völlig unverständlich, dass Sie als entscheidende Verursacher dieses zehn Jahre alten Problems nicht bereit sind ({2}) - ich habe ja gesagt: entscheidende Verursacher; ich habe nicht gesagt: alleinige Verursacher -, ({3}) eine entsprechende Korrektur mitzutragen, die die Ungleichbehandlung, deren Vorhandensein uns das Verfassungsgericht bescheinigt hat, aufhebt. ({4}) Wir werden das jetzt mit diesem Gesetz tun. Ich komme zunächst zu den freiwillig versicherten Rentnerinnen und Rentnern in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir haben uns in der Diskussion über die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils davon leiten lassen, dass für die Rentnerinnen und Rentner, die jetzt als freiwillig Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, ein Bestandsschutz gelten muss, dass sie deshalb einen gewissen Entscheidungsspielraum haben müssen und dass sie anders behandelt werden müssen als die, die zukünftig als Neurentner in dieses System hineinkommen werden. Wir haben sehr gute Gründe dafür, dass wir den freiwillig versicherten Rentnerinnen und Rentnern diesen besonderen Schutz gewähren. Denn es ist nicht einzusehen, dass diejenigen, die der gesetzlichen Krankenversicherung die Treue gehalten haben und nicht in die PKV abgewandert sind, für die gleiche Leistung einen höheren Beitrag zahlen sollen. Es wird sich auch in der praktischen Umsetzung für die betroffenen Frauen und Männer auszahlen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Ein bisher freiwillig versicherter Rentner mit Versorgungsbezügen, der im Monat etwa 1 000 Euro aus seiner Rente und 300 Euro aus einer Betriebsrente erhält und der sich nun pflichtversichert, wird im Monat 13 Euro sparen. Das ist für manch einen eine Menge Geld. Denn nicht jeder ehemals freiwillig Versicherte bekommt auch eine hohe Rente. ({5}) Es gibt eine zweite Gruppe, für die diese Regelungen auch so zu gestalten sind; das sind diejenigen, die als Familienangehörige bei freiwillig Versicherten mit versichert waren. Bei dieser Gruppe handelt es sich nahezu ausschließlich um Frauen. Auch diesen wollen wir durch die im Gesetz enthaltene Wahlmöglichkeit die Chance geben, ihren Versicherungsstatus beizubehalten. Das betrifft etwa 50 000 bis 100 000 Bezieherinnen kleiner Renten. Mit der jetzigen Regelung - das ist sehr wichtig -, sorgen wir dafür, dass diese Frauen in jedem Fall abgesichert sind. Entscheidend wird es trotz der Mehrbelastungen, die Sie, Herr Fink, angesprochen haben, sein, dass wir eine Lösung für die Zukunft finden. Es wird bei Herstellung der Gleichbehandlung zum einen um den Bestandsschutz und zum anderen um entsprechende Regelungen für Neurentner gehen. Neurentner werden nach Maßgabe des vorliegenden Gesetzes künftig gleich behandelt werden. Das ist genau das, was das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber verlangt hat. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie als Mitverursacher dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmten. Wenn Sie es nicht tun, dann wollen Sie die Mehrbelastungen, die sich aus der Umsetzung der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts enthaltenen Maßgaben ergeben, nicht auf die vielen Schultern der in der GKV Versicherten gleichmäßig verteilen. Dann müssen Sie klar sagen, dass die Rentnerinnen und Rentner sowie die Bezieher kleiner Einkommen die finanzielle Mehrbelastung tragen sollen. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Aribert Wolf. ({0})

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 15. März 2000 hat das Bundesverfassungsgericht wegen eines Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes eine gesetzliche Regelung für ungültig erklärt, nach der nur freiwillig versicherte Rentner, also nicht alle Rentner, Krankenkassenbeiträge auch aus Einnahmen von Betriebsrenten, Zinsen oder Mieteinnahmen zu entrichten hatten. Entgegen der von Rot-Grün immer wieder erhobenen Behauptung - auch die Frau Staatssekretärin Schaich-Walch hat das gerade behauptet - geht diese gesetzliche Regelung auf eine Forderung der SPD zurück. Damals - ich kann mich noch gut daran erinnern - hat Herr Dreßler in Lahnstein gefordert, die Besserverdienenden müssten in der gesetzlichen Krankenversicherung stärker zur Kasse gebeten werden. Die Regelung geht also auf Rudolf Dreßler und nicht auf Horst Seehofer zurück. Das ist die historische Wahrheit. Darum haben Sie dieses Gesetz 1992, als Sie in der Opposition waren, zusammen mit der Union und der FDP beschlossen. Es war Ihre Regelung, die das Bundesverfassungsgericht aufgehoben hat. Sie hatten - auch das ist interessant - zwei Jahre, 730 Tage, Zeit, um eine tragfähige gesetzliche Regelung auf den Weg zu bringen. Es war also genug Zeit. Aber es ist typisch für die Gesundheitspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung, dass man jahrelang nichts macht, die Sachen schleifen lässt und dann kurz vor Torschluss schnell einen Gesetzentwurf auf den Tisch knallt. Das zeigt wieder einmal: Derjenige, der sich aus Angst vor Debatten und Auseinandersetzungen in der Gesundheitspolitik scheut, rechtzeitig ein Reformkonzept zu entwickeln, muss in hektischen Aktionismus verfallen. Das merken die Menschen. Alle Umfragen zeigen, dass sich immer mehr Bürger von der rot-grünen Bundesregierung in der Gesundheitspolitik nicht gut vertreten fühlen. Die Menschen haben Recht. Auch der heutige Entwurf eines Gesetzes zur Krankenversicherungspflicht der Rentner ist wieder einmal mit heißer Nadel gestrickt, handwerklich mangelhaft ausgeführt und nicht in ein Gesamtkonzept eingebettet worden. ({0}) Alleine das wäre schon Grund genug, den Gesetzentwurf abzulehnen. Aber es kommt noch viel schlimmer: Vom Inhalt her ist der Gesetzentwurf eine einzige Wählertäuschung. Es wird bereits in der Begründung des Gesetzentwurfes deutlich, dass das, was Rot-Grün heute beschließt, nur eine Übergangsregelung ist. Auf Seite 3 des Gesetzentwurfs heißt es - ich zitiere -: Eine gesetzliche Regelung des Mitgliedschafts- bzw. Beitragsrechts von Rentnern entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht sachgerecht, weil keine Präjudizierung der Frage der künftigen Gestaltung des Beitragsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung vorgenommen werden sollte. Jetzt kommt’s: Die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Regelungen sollten daher in den Kontext einer grundlegenden Neuregelung des Beitragsrechts für alle Versichertengruppen gestellt werden. So viel zur Gesetzesbegründung. ({1}) Was heißt das auf gut Deutsch, Herr Schösser? Sagen Sie den Wählern die volle Wahrheit! Zur vollen Wahrheit gehört auch, dass Sie jetzt, vor der Wahl, etwas machen, was Sie nach der Wahl ändern wollen. ({2}) Sagen Sie den Menschen doch, was Sie nach der Wahl anders machen wollen! ({3}) Herr Schösser, es ist ganz interessant, nachzulesen, was andere, mutigere führende SPD-Politiker an anderer Stelle gesagt haben, zum Beispiel Ihr SPD-Kollege Florian Gerster. Er ist noch Sozialminister in Rheinland-Pfalz, soll aber zum Chef der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg befördert werden. Er ist also kein kleiner Parteisoldat, sondern einer Ihrer führenden Leute. ({4}) Am 12. Januar 2002 in der „Frankfurter Rundschau“, Herr Thomae - das ist schon interessant -, sagte Gerster: Mit Blick auf die Generationengerechtigkeit sollten bei der Krankenversicherung der Rentner alle Einkünfte bis zur Beitragsbemessungsgrenze einbezogen werden: Leistungsfähige ältere Menschen würden dann einen angemesseneren Teil der Gesundheitskosten tragen, die aktive jüngere Generation könnte entlastet werden. Eine solche Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils wird bis zu dem vorgegebenen Termin Ende März nicht mehr möglich sein; im Rahmen einer Gesundheitsreform 2003 muss sie jedoch angegangen werden. Das heißt nichts anderes, als dass Sie sich jetzt mit einem Wahlgeschenk für freiwillig versicherte Rentner über den Wahltag hinwegretten wollen, um dann nach der Wahl umso kräftiger den Zahltag für alle Rentnerinnen und Rentner auszurufen. Das ist nichts anderes als Wahlbetrug! ({5}) In Anbetracht der Finanzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung während der Regierungszeit der rot-grünen Bundesregierung bleibt Ihnen auch gar nichts anderes übrig: Trotz einer Rekordhöhe der Beitragssätze von 14 Prozent - die Bundesbürger mussten noch nie, seitdem die Bundesrepublik Deutschland existiert, so viel für ihre Krankenversicherung zahlen wie unter dieser Bundesregierung, und das bei gleichzeitig schlechter werdenden Leistungen - erwarten die Krankenkassen ein Defizit von rund 5 Milliarden DM bzw. 2,5 Milliarden Euro. Die Ministerin weiß ganz genau, warum sie diese Zahlen nicht heute auf einer Pressekonferenz genannt hat, sondern warum sie sie erst nächste Woche verkünden wird: Durch die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs werden die gesetzlichen Krankenkassen zusätzlich mit Kosten in Höhe von 300 Millionen Euro belastet. Ich bin der Auffassung: Weder Wahltaktik noch die prekäre Finanzlage der Krankenversicherungen rechtfertigen es, mit einer Generation, die unser Land aus Trümmern wieder aufgebaut hat, derart unehrlich umzugehen, wie Sie es tun. Wer vor der Lebensleistung der älteren Generation Respekt hat, der darf zu diesem Wahlbetrug die Hand nicht reichen. Deswegen werden wir von CDU und CSU dieses Gesetz ablehnen und allen Menschen mit allen Mitteln deutlich machen, wie unehrlich Sie mit den Menschen umgehen, wenn Sie vor der Wahl etwas anderes verkünden und beschließen, als Sie nach der Wahl tun. Dazu werden wir unsere Hand niemals reichen. Ich bedanke mich. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Fritz Schösser für die Fraktion der SPD das Wort.

Fritz Schösser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003230, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Änderungsgesetz, das jetzt zur Abstimmung steht, verhindern wir, dass die Versicherten mit hohen Nebeneinnahmen entlastet werden und die freiwillig versicherten Rentner ohne weitere Einnahmen sowie die beitragsfrei mitversicherten Ehegatten mit Kleinstrenten höhere Beiträge zahlen müssen. Das sind Ziel und Zweck dieses Änderungsgesetzes. ({0}) Sie, meine Damen und Herren von der Union, hätten es gerne gesehen - das gestehe ich durchaus zu -, wenn wir den anderen Weg gewählt hätten, den Herr Wolf gerade beschrieben hat, und auch die sonstigen Einnahmen aller pflichtversicherten Rentner zur Beitragsbemessung herangezogen hätten. ({1}) Das wäre für Sie wahrlich ein wahlkampfpolitischer Orgasmus gewesen. Das gestehe ich ein. ({2}) Herr Fink und Herr Wolf, ich sage Ihnen einmal, was Ihr damaliger Gesundheitsminister Seehofer im Schilde führte - da ging die Wählertäuschung los -: Als Seehofer 1992 vom DGB auf die Verfassungswidrigkeit angesprochen wurde, entgegnete er mit voller Häme: Bis das Bundesverfassungsgericht entscheidet, vergehen noch viele Jahre, in denen mehrere Milliarden Mark Beitragseinnahmen erzielt werden können. Wenn die EntAribert Wolf scheidung wegen der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes vom Bundesverfassungsgericht gerügt wird, dann muss man eben auch die sonstigen Einnahmen von pflichtversicherten Rentnern in der Krankenversicherung in die Beitragsbemessung einbeziehen. - Das, Herr Wolf, war Ihre Absicht! ({3}) Die Pflichtversicherten waren bereits für die zweite Stufe eingeplant. ({4}) Um das tun zu können, hätten Sie sich scheinheilig hinter dem Bundesverfassungsgerichtsurteil versteckt. Herr Wolf, Sie wissen, dass die Fragen der Finanzierung der Krankenversicherung keine einfachen Fragen sind. Heute mosern Sie herum und haben nicht mehr den Mut, Ihr wahres Gesicht zu zeigen und zu sagen: Wir von der Union wollen auch noch die etwa 3,5 Millionen pflichtversicherten Rentner, die über sonstiges Einkommen verfügen, abkassieren. ({5}) Das aber war die Absicht von Seehofer. Mit uns wird es im Hinblick auf die künftige Finanzierung der Krankenversicherung keine Hauruck-Entscheidungen geben, wie Sie es damals gemacht haben. Das muss man schon sehr sorgsam prüfen. Sie stellen sich heute hin wie die Unschuldslämmer und tun so, als hätten Sie mit dem Urteilsspruch überhaupt nichts zu tun. Herr Wolf, es ist schlicht und einfach eine Lüge, wenn Sie sagen, Herr Dreßler habe gefordert, dass es zu dieser Regelung der Belastung der freiwillig versicherten Rentner in der Krankenversicherung kommt. Sie waren es doch, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die den Vorschlag eingebracht haben, dessen Umsetzung jetzt vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wurde. Da hilft auch alle künstliche Aufregung nichts. ({6}) - Herr Thomae, lesen Sie es doch im Protokoll nach! ({7}) - Wir haben das Protokoll des Deutschen Bundestages, vom 9. Dezember 1992. Sie können mir gern eine Frage stellen. Dann habe ich ausreichend Zeit, aus diesem Protokoll zu zitieren. Interessanterweise erscheint in diesem Zusammenhang auch Ihr Name. ({8}) Im Protokoll ist zu lesen, dass Sie gefragt wurden, wie Sie sich dazu verhalten, dass die SPD die Beitragsbemessungsgrenze um 300 DM erhöhen will. ({9}) Darauf haben Sie klar und eindeutig gesagt, dass Sie das nicht wollen. Sie haben an Ihrem Vorschlag festgehalten, was vom Bundesverfassungsgericht beanstandet worden ist, sodass wir heute eine andere Lösung finden müssen. ({10}) Sie haben den damaligen Alternativvorschlag der SPD abgelehnt. Ich sage es noch einmal: Unser Vorschlag war, die Bemessungsgrenze um 300 DM zu erhöhen. Richtig ist, dass die SPD am Ende die Kröte geschluckt hat, um dem gemeinsamen Reformpaket eine Chance zu geben. Aber der Urheber der vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Regelung - da wird Ihnen leider niemand helfen - sind und bleiben Sie, meine Damen und Herren von der damaligen Regierungskoalition. Ich empfehle Ihnen wirklich, einmal einen Blick in das Protokoll vom 9. Dezember 1992 zu werfen. ({11}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sorgen mit unserem Änderungsgesetzentwurf dafür, dass niemand benachteiligt wird. Gewinner sind die freiwillig krankenversicherten Rentner, die auf ihre sonstigen Einkünfte ab dem 1. April 2002 keine Krankenversicherungsbeiträge mehr zahlen müssen. Gewinner sind Rentner mit Versorgungsbezügen, die für ihre Versorgungsbezüge künftig nicht mehr den ermäßigten, sondern nur noch den halben allgemeinen Beitragssatz entrichten müssen. Nur Rentnern ohne Nebeneinkommen und Familienmitversicherten räumen wir mit unserem Entwurf eine Optionsmöglichkeit ein, damit sie nicht zu Verlierern der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung werden. Darum geht es bei diesem Änderungsgesetzentwurf. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! SPD, CDU/CSU und FDP waren dabei. Wir allesamt haben das Paket damals beschlossen. Viele, auf jeden Fall einige, hatten Bedenken, ob es verfassungsmäßig richtig ist. Dennoch sind wir den Weg gegangen. Jetzt stellen wir fest: Das Bundesverfassungsgericht hat anders geurteilt. Eine Änderung ist notwendig. ({0}) - Es sind zwei Richtungen möglich. - Ich bin der Auffassung, dass Grundlage nur das Einkommen bzw. der Arbeitslohn - nichts anderes - sein sollte. Wir hätten uns gewünscht, dass der Änderungsgesetzentwurf früher vorgelegt worden wäre und wir Zeit gehabt hätten, ein Gesamtpaket zu schnüren. Jetzt haben Sie ein erhebliches Problem. Sie haben wiederum Belastungen in diesem System etabliert. 300 Millionen Euro müssen Sie verkraften. ({1}) Wie wollen Sie das verkraften? Wenn Sie ehrlich sind, dann bleibt Ihnen, da Sie die Beitragssätze nicht noch weiter steigen lassen dürfen - das passierte ja schon in den letzten Wochen, als Sie das Thema Lohnnebenkosten intensiv berührte -, nichts anderes übrig, als weitere Leistungskürzungen im System vorzunehmen. ({2}) Das berührt die Patienten insgesamt und das berührt auch - ich habe es gestern schon gesagt - die medizinische Versorgung in den neuen Bundesländern durch die Ärzte und durch die sonstigen Leistungserbringer. ({3}) Meine Damen und Herren von der SPD, Sie nehmen das Problem ziemlich leicht. In der ambulanten Versorgung haben wir in den neuen Bundesländern schon massive Probleme. Sie verabschieden ein Gesetz über DeseaseManagement-Programme, können diese aber gar nicht realisieren, weil es die niedergelassenen Ärzte dafür überhaupt nicht mehr gibt. ({4}) - Hören Sie zu! Von daher sage ich Ihnen: Sie haben wieder ein Einzelgesetz auf den Weg gebracht, aber das Gesamtkonzept fällt unter den Tisch. ({5}) Ihre Probleme in der Gesundheitspolitik rühren daher, dass Sie immer wieder Einzelpakete schnüren, deren Wirkungen nicht im größeren Zusammenhang gesehen werden. Dies führt dazu, dass Ihre Gesundheitspolitik mittlerweile von über 70 Prozent der Bürger in der Bundesrepublik Deutschland abgelehnt wird. ({6}) Diese Ablehnung wird sich in den nächsten Wochen und Monaten noch verstärken. Ihre Einzelgesetze bilden eine Falle für Ihre rot-grüne Politik. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die PDS-Fraktion.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Thomae, Sie haben wirklich Recht: Ja, wir brauchen eine neue Gesundheitsreform; darüber sind wir uns alle einig. Aber heute steht nun wirklich nicht diese Frage zur Debatte, sondern wir haben es mit dem 10. SGB V-Änderungsgesetz zu tun, in dem natürlich nur ein Detail geklärt wird. Dass dieses Detail nun zu klären ist, hat eine Ursache in Gesetzen, die Sie als FDP damals bewusst so auf den Weg gebracht haben. ({0}) Nun zu Ihnen, lieber Kollege Wolf: Es wäre wirklich besser gewesen, Sie hätten dem Vorschlag zugestimmt, die Reden zu Protokoll zu geben. Die Vorstellung, die Sie heute hier gegeben haben, war wirklich peinlich. ({1}) Bezüglich der Stellung von freiwillig versicherten Rentnerinnen und Rentnern haben Sie - jetzt nicht Sie persönlich, sondern Ihre Fraktion - bewusst damals Ihre Entscheidung getroffen. Sie wussten damals schon, dass sie verfassungswidrig war. Sie haben einen Versuchsballon gestartet, der irgendwo nicht ganz funktioniert hat. Sie haben gefragt, warum die neue Koalition an dieser Stelle nicht weitermacht. Für mich stellt sich eher die Frage, warum Sie nicht, als Sie die Regierung stellten, auf diesem Weg weitergegangen sind und alle Einkommensarten der Beitragszahler einbezogen haben. Das haben Sie nicht gemacht. ({2}) Welchen Weg haben Sie eingeschlagen? - Sie haben mit Ihrer Reform den Weg über Zuzahlungen und Leistungsausgrenzung - so brutal bezeichne ich das hier eingeschlagen. An ein richtig vernünftiges Finanzkonzept zur Existenzsicherung der gesetzlichen Krankenversicherung, ({3}) bei dem es im Kern um das Beibehalten des Solidarprinzips und der paritätischen Finanzierung gehen muss, haben Sie nie gedacht. Das wird es wohl auch nicht so schnell geben. Ich gehe jetzt nicht mehr darauf ein, wie das Gesetz funktioniert, welche Vorteile es für wen bringt und an welcher Stelle es zu Ungerechtigkeiten führt - dass es die gibt, wissen wir -, sondern halte nur fest: Sie hätten zu Ihrer Zeit genau so ein Gesetz vorgelegt, wie es jetzt hier zur Debatte steht. Wir werden diesem Gesetz zustimmen, weil es wenigstens für einen Großteil der freiwillig versicherten Rentner, wie schon gesagt, Beitragsgerechtigkeit schafft. Ich wünsche nur, dass mit der neuen Gesundheitsreform - egal, wer dann regiert und wann sie kommt - auch die Grundlage für eine Finanzreform gelegt wird, die sich - das sage ich noch einmal - ganz klar und deutlich am Solidaritätsprinzip, der paritätischen Finanzierung und an anderen wichtigen Dingen orientiert, damit für die Menschen letztendlich die medizinische Behandlung ihrer Krankheiten noch bezahlbar bleibt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner ist der Kollege Ulf Fink für die CDU/CSU-Fraktion.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Andreas Mihm hat sich heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit dem Thema beschäftigt, das heute auch Gegenstand unserer Debatte ist, nämlich mit der Reform der Krankenversicherung der Rentner. Er endet mit dem Satz - ich zitiere -: Die Freude über niedrigere Beiträge in vielen Rentnerhaushalten wird nicht lange vorhalten. ({0}) Ich glaube, er hat es mit diesem Satz auf den Punkt gebracht. Sie sagen selber in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs, dass Sie nicht genügend Zeit gehabt hätten - das wollen wir einmal dahingestellt sein lassen -, grundlegend neu über die Beitragsbasis nachzudenken; das müsse einem späteren Gesetz vorbehalten bleiben. Wir wissen doch, Herr Kollege Schösser, an was Sie in dem Zusammenhang denken. Das SPD-Parteipräsidium hat 1996 einen Beschluss gefasst - das wissen wir noch -, dessen Inhalt es war, dass künftig nicht nur die Lohneinkommen, sondern auch die sonstigen Einkommen zur Beitragsbemessung in der Krankenversicherung herangezogen werden sollten. Genau darum geht es. Die Leute können doch rechnen. Die Krankenversicherung der Rentner weist schon heute ein Defizit von 30 Milliarden Euro auf. Die allgemein Versicherten müssen also 30 Milliarden Euro mehr in die Krankenversicherung einzahlen, als ihren Ausgaben entspricht, um die Krankenversicherung der Rentner entsprechend zu finanzieren. Das ist für die allgemein Versicherten bereits heute eine riesige Last. Diese Last wird in Zukunft dramatisch größer werden, da die Zahl der Rentner, wie wir wissen, in Zukunft erheblich ansteigen wird. Die Rentnerquote wird eines der großen Themen der Zukunft sein. Bei der Diskussion um die Alterssicherung haben wir uns in dieser wie auch in der letzten Legislaturperiode bereits sehr intensiv damit auseinander gesetzt. Aber beim Gesundheitswesen wird diese Entwicklung noch viel dramatischer sein als bei der Alterssicherung. Es werden noch höhere Defizite entstehen. Deshalb kann man erwarten, dass Sie die Übergangslösung - Sie sagen ja, dass das eine Übergangslösung sein soll - so gestalten, dass sie perspektivisch der künftigen Regelung entspricht. Aber die Wahrheit ist: Sie verringern das Defizit nicht, sondern vergrößern es um 300 Millionen Euro. ({1}) - Fritz Schösser, es wurde vorhin gesagt, dass niemand durch diese Regelung, die mit diesem Gesetzentwurf vorgelegt wird, benachteiligt werde. Das können Sie doch nur sagen, weil Sie davon ausgehen, dass die Leute nicht nachrechnen. Denn wenn durch dieses Gesetz bei der Krankenversicherung ein Defizit von zusätzlich 300 Millionen Euro entsteht, dann muss dafür jemand aufkommen. Es gibt doch niemand der Krankenversicherung ein Geschenk. Diesen Betrag müssen die anderen Versicherten aufbringen. ({2}) Diejenigen, die keine Nebeneinkünfte haben, werden diese 300 Millionen Euro zusätzlich bezahlen müssen. ({3}) Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, verschiedene Versicherte würden entlastet, und zwar um 13 Euro pro Monat. Da frage ich mich: Wer zahlt denn das? Das werden diejenigen sein, die keine Nebeneinkünfte haben, denen es finanziell nicht so gut geht. Sie müssen dann mit ihren Beiträgen dafür aufkommen. ({4}) Ich komme zum Schluss. Dieser Gesetzentwurf wird eine Menge Arbeit verursachen. Die Krankenversicherungen müssen Hunderttausende von Bescheiden neu ausstellen, sie müssen Fragebögen entwickeln usw. Und dieser ganze Aufwand für dieses Jahr! Im nächsten Jahr wird das Gegenteil eintreten, wenn Sie wider Erwarten die Wahl gewinnen sollten. Das möge Gott verhüten. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt hat ihre Rede für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu Protokoll gegeben.1) - Ich sehe keinen Widerspruch. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein- gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des V. Buches des Sozialgesetzbuches auf den Drucksachen 14/8099 und 14/8384. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzent- wurf ist damit gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Peter Götz, Dietrich Austermann, Günter 1) Anlage 5 Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sicherung des Bestandes und Fortentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland im Rahmen von Rechtsetzung der Europäischen Union - Drucksachen 14/4171, 14/5636 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! CDU und CSU wollen ein starkes Europa mit starken Kommunen. Über 60 Prozent der Entscheidungen, die in Brüssel getroffen werden, haben Auswirkungen auf die Städte und Gemeinden in unserem Land. Das Geflecht der Regelungen und Regulierungen wird immer undurchsichtiger, die demokratische Legitimation nimmt ab und die Gefahr, dass sich die Menschen in den Städten und Gemeinden von Europa abwenden, nimmt zu. Heute leidet unser Ansehen in Europa an vielen Fehlern der SPD-geführten Bundesregierung. ({0}) Ein typisches Beispiel, wie diese Bundesregierung Europapolitik macht, ist der blaue Brief aus Brüssel, den der Bundeskanzler bekommen hat, ohne dass er dort angekommen wäre. Gerhard Schröder hat durch sein Verhalten unnötig viel Porzellan zerschlagen und in unverantwortlicher Weise das Vertrauen in eine stabile europäische Währung aufs Spiel gesetzt. ({1}) Er hat Deutschland in eine hausgemachte Rezession geführt. ({2}) Es ist ungeheuerlich, dies jetzt den Kommunen in die Schuhe schieben zu wollen. ({3}) Das lassen wir nicht zu. Der Bund hat 100 Milliarden DM aus UMTS-Lizenzen kassiert und hat sich dabei auch noch mit über 14 Milliarden DM von den Kommunen über Steuerausfälle finanzieren lassen. Sie haben durch die Ökosteuer die Spritpreise um 28 Pfennig angehoben. Über die erhöhte Entfernungspauschale sind die Kommunen beim Bezahlen wieder mit dabei, ganz zu schweigen von den eigenen Belastungen aus der Ökosteuer. Ebenso ist es falsch, den Gemeinden die Steuereinnahmen, die ihnen aus der Gewerbesteuer noch verbleiben, über die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage von 20 auf 30 Prozent wieder wegzunehmen. Jetzt zu versuchen, das eigene Versagen in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik den Kommunen anzulasten, ist ein starkes Stück. ({4}) Aber täuschen Sie sich nicht! Die vielen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker lassen sich nicht für dumm verkaufen. Unterschätzen Sie die Menschen nicht, die oft seit vielen Jahren und Jahrzehnten in den Städten, Gemeinden und Kreisen kommunalpolitische Verantwortung tragen. Sie wissen sehr wohl, was hier gespielt wird, und sind bitter enttäuscht. Fragen Sie einmal Ihre SPD-Oberbürgermeister, was sie von Ihrer Politik halten. Die Städte, Gemeinden und Kreise fahren seit über einem Jahrzehnt einen entschiedenen Konsolidierungskurs. Sie geben heute nicht mehr Geld aus als 1993 und sie haben mehr Personal abgebaut als Bund und Länder zusammen. Wenn die Neuverschuldung der Kommunen im vergangenen Jahr bei 1,3 Milliarden Euro lag, so war das nur deshalb der Fall, weil Sie den Gemeinden durch Ihre kommunalfeindliche Politik ständig Knüppel zwischen die Beine werfen und ihnen das Geld wegnehmen. ({5}) Immer mehr Pflichtaufgaben bei immer weniger Einnahmen, das passt nicht zusammen. Wir hören von der Gesundheitsministerin und nun auch vom Kanzler, der Bund erwäge, bei der Arbeitslosenhilfe zu sparen. Was bedeutet das? Ohne eine grundlegende Reform der Arbeitsmarktpolitik bedeutet Sparen bei der Arbeitslosenhilfe bei Ihnen nichts anderes als neue Sozialhilfekosten. Das geht wieder eindeutig zulasten der kommunalen Haushalte. Wir nennen das Verschiebebahnhof. Nicht anders verhält es sich beim verkorksten Zuwanderungsgesetz, ({6}) über das wir heute Vormittag abgestimmt haben. Anstatt die Zuwanderung vernünftig zu begrenzen und zu steuern, will Rot-Grün immer mehr Menschen ins Land holen. Die kommunale Sozialhilfe bezahlt es ja. ({7}) Auch Integration kostet Geld. Die Kommunen müssen sich auch an den Kosten für die Integration beteiligen. Zuwanderung und Integration sind gesamtstaatliche Aufgaben. ({8}) Über die Kosten und über die Finanzierungszuständigkeit herrscht im Gesetz tiefes Schweigen. ({9}) Vizepräsidentin Petra Bläss Entgegen den Behauptungen von heute Vormittag steht nicht im Gesetz, dass der Bund die Kosten für die Integration übernimmt. Sie haben lediglich eine Ermächtigungsklausel für eine Verordnung aufgenommen. Das heißt letzten Endes: Kostenübernahme ausschließlich nach Kassenlage und Gutdünken des Finanzministers. So kann und darf man keine Politik machen. Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, die Städte und Gemeinden in Deutschland sind nicht die reichen Verwandten, wie es der Bundeskanzler zynisch auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages vor nicht einmal einem Jahr gesagt hat. Sie haben es in drei Jahren Ihrer Regierungszeit verstanden, die bis 1998 vorhandenen guten Rahmenbedingungen für die Kommunen durch Ihre kommunalfeindliche Politik systematisch zu zerstören. ({10}) Inzwischen können Sie es nicht mehr schönreden: Die Finanzlage der Kommunen ist so dramatisch wie noch nie. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat Recht, wenn er heute in einem Artikel in der „Welt“ eine Verfassungsänderung für die Verteilung der Finanzen fordert, ({11}) damit die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland wieder gesichert wird. ({12}) Das ist ein sehr guter Vorschlag. Es muss dringend gehandelt werden: Erstens. Geben Sie einen Teil der Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen an die Kommunen zurück, damit sie wieder investieren können. Zweitens. Wir brauchen dringend die von Ihnen ungeliebte Gemeindefinanzreform. ({13}) Jetzt, wenige Monate vor Ende der Legislaturperiode, wollen Sie eine Kommission dafür einsetzen. ({14}) Was ist bis heute geschehen? Kann mir irgendjemand von der Regierungsbank vielleicht sagen, wie sich diese Kommission zusammensetzt? Können Sie Namen nennen? Wir wären daran interessiert, etwas Konkreteres zu hören. Das sind alles Beruhigungspillen und durchsichtige Ablenkungsmanöver vor der Bundeswahl. Geschehen ist bisher nichts. Die Kommunen sollen ruhiggestellt werden. Das ist aber zu wenig. Wir brauchen Entscheidungen jetzt. Straßen und Schulen müssen jetzt saniert werden. Die Menschen in den Gemeinden verstehen es nicht mehr, wenn das Geld für die dringend notwendige Renovierung ihrer Schule fehlt und die Bundesregierung zur gleichen Zeit mit großzügigen Steuergeschenken Banken und Versicherungskonzerne entlastet. ({15}) Der Marmor in den Versicherungs- und Bankenfilialen glänzt noch mehr. Aber die daneben stehende Schule verfällt. So kann und darf man nicht Politik machen. Die kommunale Selbstverwaltung ist in Gefahr. ({16}) Es gibt keine Handlungsspielräume mehr. Wir werden uns deshalb zunehmend schwer tun - ich sage das sehr deutlich -, geeignete Persönlichkeiten zu finden, die noch bereit sind, ein kommunales Mandat anzunehmen. ({17}) Das können und dürfen wir nicht zulassen, wenn wir es mit unserer Demokratie ernst meinen. Darüber sollten wir gemeinsam nachdenken. Lassen Sie mich auf unsere Große Anfrage zurückkommen: ({18}) Erstens. Die Antwort der rot-grünen Regierung darauf ist ungenau, ausweichend und oberflächlich. ({19}) Es wird klar: Rot-Grün fehlt ein Konzept für die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung in Europa. Zweitens. Die Kommunen fühlen sich von dieser Bundesregierung auch auf europäischer Ebene schlecht vertreten. Oder kann mir jemand sagen, warum mittlerweile nahezu jede größere Stadt in Brüssel mit viel Steuergeldern ein eigenes Büro einrichtet? ({20}) Drittens. Die Vorgaben der europäischen Wettbewerbspolitik fordern einen tiefen Strukturwandel bei der Gemeindewirtschaft: von der Energie- und Wasserversorgung bis zur Abfallwirtschaft und Abwasserreinigung, vom öffentlichen Personennahverkehr bis zu den Sparkassen. Durch die europäische Wettbewerbspolitik und das Beihilferecht haben sich die Bedingungen grundlegend verändert. Das hat Auswirkungen für die Kommunen, deren Tragweite viele bestenfalls erahnen. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, in Brüssel dafür zu sorgen, dass dieser notwendige Strukturwandel ohne Schaden für unser Land erfolgen kann. Wir erleben es immer wieder: Bestimmte Themen stehen in Europa seit langem auf der Tagesordnung. Die Bundesregierung wartet und schaut zu. Sehr spät wird dann ein Gutachten in Auftrag gegeben. Eine erkennbare abgestimmte Meinungsbildung findet allerdings nicht statt. Dies gilt für die Wasserversorgung genauso wie für den Gasmarkt; ich könnte noch weitere Beispiele nennen. Auf vielen Feldern besteht konkreter Handlungsbedarf. Wenn sich die Herren Minister nicht bewegen, ist der Bundeskanzler gefordert. Aber auch hier: Fehlanzeige auf der ganzen Linie. ({21}) Gestern hat der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union seine Arbeit aufgenommen. Dort finden wichtige Weichenstellungen statt. Dabei muss es vor allem darum gehen, ein Gleichgewicht zwischen der Europäischen Union, den Mitgliedstaaten, den Ländern, aber auch den Kommunen zu schaffen. Der Kern des Arbeitsauftrages ist, die Zuständigkeiten neu zu sortieren. Wenn wir wollen, dass sich die Menschen in Deutschland mit Europa identifizieren, brauchen wir mehr Transparenz und Effizienz und vor allem klar definierte Verantwortungen. Wir haben in Deutschland - stärker als in den meisten europäischen Nachbarländern - eine ausgeprägte kommunale Ebene. Sie ist unter anderem ein Erfolgsmodell für unser Land. Nach meinem Demokratieverständnis ist es Aufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass die kommunale Selbstverwaltung in der europäischen Verfassung verankert wird. ({22}) Die Chance ist jetzt vorhanden; aber man muss dafür etwas tun. Lassen Sie mich zusammenfassen: ({23}) Die Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland sind unter der rot-grünen Bundesregierung in eine Krise geraten, wie sie es seit vielen Jahrzehnten nicht mehr waren. Es ist höchste Zeit für einen Politikwechsel, damit es in Deutschland wieder aufwärts geht. CDU und CSU wollen keinen Zentralismus. Wir wollen in unserem Land und in Europa im Interesse der Menschen, für die wir arbeiten, eine starke kommunale Selbstverwaltung mit viel Eigenverantwortung. Herzlichen Dank. ({24})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Werner Bertl für die Fraktion der SPD.

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion nun seit gut einem Jahr in irgendwelchen Oppositionsaktenschränken verstaubt, wird sie gerade rechtzeitig vor der Kommunalwahl in Bayern aus den Ordnern hervorgezaubert. Man pustet den Staub herunter und versucht den Eindruck zu erwecken, als ob die Bundesregierung die kommunale Selbstverwaltung in Europa gefährdet. Meine Damen und Herren von der Union, für diesen Zweck haben Sie nicht nur das falsche Dokument herausgegriffen, sondern dies auch zu spät getan. Dies war übrigens auch bei Ihren Vorwürfen im Hinblick auf die Gemeindefinanzreform so. Die letzte war, wenn ich mich richtig erinnere, im Jahre 1969. Sie haben also lange 16 Jahre, in denen Sie die Chance hatten, eine solche Reform durchzuführen, wunderbar verschlafen. ({0}) Mit Ihrer Großen Anfrage zur „Sicherung des Bestandes und Fortentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland im Rahmen von Rechtsetzung der Europäischen Union“ - es ist schwer, sich diesen Titel zu merken - versucht die CDU/CSU-Fraktion den Eindruck zu erwecken, dass von der Europäischen Union - und vom Kanzler unterstützt - eine wie auch immer geartete Gefahr für die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland ausgehe. Dies tut sie wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sich jeder klar denkende Mensch von diesem bandwurmartigen Titel der Anfrage verwirren lässt. Ich bringe das auf einen ganz einfachen Nenner: Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland gewährleistet, dass jeder Bürgermeister, jede Oberbürgermeisterin, jeder Landrat, jede Gemeinderätin und jeder Stadtrat vor Ort für die Bürgerinnen und Bürger dafür sorgen kann, dass die Menschen in ihren Regionen sauberes Wasser und Strom haben, dass ihr Müll entsorgt wird, dass das Gesundheitswesen und die Wohlfahrtspflege funktionieren, dass es Schwimmbäder, Sportanlagen, Museen und Theater gibt, der Notarzt für alle und überall - und das vor allen Dingen rechtzeitig - zur Stelle ist und dass es - nicht zuletzt - Schulen und Kindergärten gibt. Die Leistungen der Daseinsvorsorge gewährleisten allen Bürgerinnen und Bürgern einen gleichen und erschwinglichen Zugang zu lebenswichtigen Diensten und Leistungen. Bezogen auf die einzelnen Bürgerinnen und Bürger sollen sie über die bloße Existenzsicherung hinaus eine diskriminierungsfreie Teilhabe am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Dazu zählt auch die Daseinsvorsorge in den Infrastrukturen, die das Wirtschaftsleben funktionsfähig halten: Straßen, Energieversorgung, Verkehr, Telekommunikation und auch Umweltschutz. Staatliche Leistungen müssen zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge - jetzt komme ich auf die europäische Dimension zu sprechen - mit dem gemeinsamen Markt grundsätzlich vereinbar sein und mit dem europäischen Wettbewerbs- und Beihilferecht in Einklang stehen. Dabei setzen wir voraus, dass die Aspekte des Gemeinwohls und der Wettbewerbsordnung zur Verwirklichung der Europäischen Union und des Binnenmarktes gleichrangig sind. Ich möchte Ihnen hier Nachhilfe geben, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Vielleicht hätten Sie sich die Antwort der Bundesregierung, die Mitteilung der Kommission oder die Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Mitteilung der Kommission verständiger durchlesen sollen. ({1}) Die kommunale Selbstverwaltung ist in Deutschland in der Verfassung verankert. Die Befugnisse der Selbstverwaltung von Ländern und Gemeinden sind in Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes festgeschrieben. Dort steht: Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft ... in eigener Verantwortung zu regeln. Die Europäische Union hat im Gegensatz zu dem Tenor Ihrer Anfrage die nationale Identität ihrer Mitglieder zu beachten. Vertraglich ist das in Art. 6 des EU-Vertrages geregelt. Ausdrücklich wird dort festgehalten, dass sie nicht in die Verfassungsstruktur ihrer Mitgliedstaaten eingreifen wird. Auch in der Präambel der GrundrechteCharta der Europäischen Union steht: Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte - gemeint sind die Würde des Menschen, die Freiheit, die Gleichheit und die Solidarität unter Achtung der ... nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt - jetzt kommt der entscheidende Punkt; das hat Ihnen die Bundesregierung sehr ausdrücklich mitgeteilt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei. Wir haben nicht umsonst bereits 1991 den Ausschuss für die Regionen eingerichtet, der in diesen Bereichen gehört wird. Panikmache, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ist also unbegründet und sicherlich nur durch die nahende Kommunalwahl in Bayern zu erklären, ({2}) weil Sie den Eindruck erwecken wollen, als würde all das, was den Gemeinderäten und Oberbürgermeistern an Handlungsspielraum zur Verfügung steht, nicht nur von dieser Bundesregierung, sondern auch von der Europäischen Union negiert. Auf Initiative von Bundeskanzler Gerhard Schröder beschloss der Europäische Rat von Lissabon bereits im März 2000, die Europäische Kommission um die Überarbeitung ihrer Mitteilung zur Daseinsvorsorge zu bitten. Diese Mitteilung liegt auch Ihnen seit dem 20. September 2000 vor. Sicherlich haben Sie inzwischen Zeit gefunden, den einen oder anderen Blick hineinzuwerfen. Ich will aber auch gerne Ihre Erinnerung auffrischen. Die Kommission hat unmissverständlich erklärt, dass die Frage, ob ein Dienst als Leistung der Daseinsvorsorge anzusehen ist und wie er organisiert werden soll, zuerst auf nationaler Ebene entschieden werden muss. Es ist klargestellt, dass die Gesamttätigkeit, insbesondere von Sozialorganisationen, soweit sie gemeinwohlorientiert sind, nicht unter den Art. 86 EGV fällt. Ich glaube, auch damit ist eine große Sorge der Kommunen in der Frage ihrer Eigengestaltungsfähigkeit von Sozial- und Gemeinwohlpolitik ausgeräumt worden. Die Mitteilung ist eine Grundlage für die weitere notwendige Diskussion mit der Kommission und auch den EU-Partnern. Sie wissen genau - das steht in der Antwort der Bundesregierung -: Die Bundesregierung tritt dafür ein, im Rahmen von Maßnahmen der Kommission ... die Rechtssicherheit im Rahmen der Daseinsvorsorge weiter zu erhöhen. ({3}) Zudem hat die Kommission unmissverständlich bestätigt, dass sie nach dem EU-Vertrag keine Kompetenz besitzt, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen zu verlangen. Die Kommission hat sich wettbewerbs- und beihilfepolitisch erheblich bewegt. Ich sage Ihnen eines: Das ist ein Erfolg der rot-grünen Bundesregierung und vor allen Dingen des Bundeskanzlers. ({4}) Es lohnt also, sich neben der Antwort, die Ihnen die Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage gegeben hat - das war übrigens schon vor einem Jahr -, auch die Kommissionsmitteilung noch einmal durchzulesen. Sehen Sie sich auch die Entschließung des Europäischen Parlaments zu dieser Mitteilung an. Auch dort heißt es - das haben unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament beschlossen -, dass eine Weiterentwicklung der Daseinsvorsorge auf der Grundlage des Modells der sozialen Marktwirtschaft ein Kernelement der europäischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sein muss. Natürlich bestimmen Liberalisierung und zunehmend freier Wettbewerb einen Teil der Europäischen Union. Das bedeutet auch für uns: Je größer die Marktöffnung wird, desto genauer muss Daseinsvorsorge definiert und geklärt werden. Maßstab für uns und für die Regierungskoalition ist die Versorgung unserer Bürgerinnen und Bürger, und zwar nicht abstrakt in irgendwelchen uralten Anfragen, Resolutionen oder Richtlinien, sondern dort, wo sie leben, in den Städten und Dörfern unseres Landes. Die Europäische Union hat mit ihrer bisherigen Philosophie - auch der Universaldienste - auf Anregung der Mitgliedstaaten, aber, glaube ich, auch aus eigener Erkenntnis - das muss man sagen - Maßstäbe gesetzt, die die Versorgungssicherheit und die kommunale Selbstverwaltung garantieren. Meine Damen und Herren, wir werden auch weiterhin dafür sorgen - dafür stehen die Fraktionen der Regierungskoalition und dafür steht die Bundesregierung -, dass die Städte und Gemeinden auch in Zukunft in einem rechtssicheren Rahmen agieren. Die Finanzierung der Kommunen haben wir ebenfalls angepackt. Dies haben Sie 16 Jahre lang verschlafen. ({5}) Wir haben eine Kommission gegründet und werden in der nächsten Legislaturperiode sicherlich Entscheidungen treffen, die die Handlungsfähigkeit der Kommunen deutlich stärken. Ich will noch ein Wort zu den Kollegen der FDP sagen, die in dieser Diskussion außer ihren diffusen und zum Teil unverantwortlichen Sehnsüchten nach vollkommener Freiheit der Märkte nicht mehr beigetragen haben, als sich einen Punkt aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Wirtschaftsministerium herauszupicken: Sie wollen die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Definition der Daseinsvorsorge infrage stellen. Dieses Ansinnen wird zu Recht weder vom Wirtschaftsminister noch von uns geteilt. Sie können das in den Mitteilungen entsprechend nachlesen. Noch einmal: Zwölf Monate haben Sie gebraucht, um sich daran zu erinnern, dass Sie auf Ihre Anfrage an die Bundesregierung eine umfassende, richtige und richtungsweisende Stellungnahme zur Daseinsvorsorge und zur Selbstverwaltung der Kommunen erhalten haben. Sie sind schon eine extrem hellwache und schnelle Opposition. ({6}) Ich habe den Verdacht, dass Ihnen ein Referent das Datum der bayerischen Kommunalwahl in Erinnerung gebracht hat und Sie deshalb auf die abstruse Idee gekommen sind, hier den Eindruck zu erwecken, dass die Bundesregierung die kommunale Selbstverwaltung irgendwelchen fürchterlichen Brüsseler Technokraten zum Fraß vorwirft. Im Ergebnis sind Sie nicht nur wieder einmal zu spät, Sie liegen auch derart falsch - das wissen Sie auch -, dass hier mehr als deutlich wird, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land täuschen wollen. Sie nehmen dabei sogar in Kauf, den Beifall Ihrer eigenen Landesminister, inklusive des Herrn Stoiber, die die Haltung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers vor der beantworteten K-Frage unisono begrüßt und gestützt haben, zu diskreditieren. ({7}) In Übereinstimmung mit der Bundesregierung wird die Regierungskoalition, das kann ich Ihnen sagen, das europäische Gesellschaftsmodell beibehalten und das Ganze nicht nur durch die Brille des Profits sehen. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD steht weiterhin für die Philosophie der europäischen Sozialunion, die Willy Brandt schon 1972 beim Pariser EG-Gipfel geprägt hat. Vielen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir sprechen hier heute nicht über die Gemeindefinanzreform, sondern über die Rechtsetzung der Europäischen Union und die Fortentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung. ({0}) Die kommunale Selbstverwaltung hat in Deutschland eine lange Tradition. Die Machtfülle der Hansestädte und der Freien Reichsstädte des Mittelalters und der Neuzeit ist ein gutes Zeugnis dafür. Diese Selbstverwaltungstradition wurde zugunsten der zentralisierten Territorialstaaten immer mehr zurückgedrängt. Ein Kernbestand blieb allerdings immer erhalten und fand als Selbstverwaltungsgarantie in den deutschen Verfassungen seinen Niederschlag. Heute wird das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen von vielen Seiten bedroht. Herr Kollege Bertl, wären Sie gestern beim Deutschen Städtetag gewesen und hätten Sie die Vorträge von vier namhaften Kämmerern aus Großstädten gehört, würden Sie hier heute nicht so reden. Sie wüssten dann, wie es mit der Selbstverwaltung bestellt ist, nämlich so miserabel wie noch nie. ({1}) Da die Kommunen unter der finanziellen Last der staatlichen Aufgaben in die Knie gehen, sind die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die das Selbstverwaltungsrecht nach Art. 28 Grundgesetz garantiert, häufig nicht mehr wahrnehmbar. Kommunale Demokratie kommt zum Erliegen. Es gibt keine Gestaltungs- und Handlungsspielräume mehr. ({2}) Ich erwähne diese Seite, weil sie unausweichlich mit der zentralen Problematik der vorliegenden Großen Anfrage zu tun hat. In der Europapolitik kann lediglich die Bundesregierung verhandeln. Die Länder sind über Art. 23 Grundgesetz und das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union an dem Verhandlungsprozess beteiligt. Daher findet sich hier die gleiche Konstellation wie zumeist auf nationaler Ebene. Die Kommunen müssen auch auf europäischer Ebene mehr oder minder tatenlos zusehen, wie an höherer Stelle über ihre Leistungsfähigkeit verfügt wird. Die Schuld dafür Europa zuzuschieben und sie dort zu suchen ist ebenso populistisch wie falsch. Wenn der Bundeskanzler die Kommission dafür brandmarkt, dass sie ein gesamtstaatliches Defizit rügt, das die Bundesregierung durch Belastung von Ländern und Kommunen wesentlich selbst verursacht hat, dann ist auch das Populismus. ({3}) Um nicht in einen solchen Populismus zu verfallen, müssen wir konstatieren, dass die Mängel im System weniger auf europäischer Ebene, sondern vielmehr im nationalen Abstimmungsprozess liegen. Solange das europäische Parlament nicht über die Rechtsetzung entscheidet, sind es die Mitgliedstaaten, die dazu befugt sind. Bei uns ist es eine nationale Aufgabe, nach vorangegangener Interessenabwägung mit einer Stimme zu sprechen. Die Regierungen anderer Mitgliedstaaten können sich nämlich ebenso wenig für die Belange der nordrheinwestfälischen Kommunen interessieren, wie sich unsere Regierung - und letztlich auch wir - für die besonderen Probleme von Aarhus, Antwerpen oder Avignon interessieren würde. Deshalb müssen die Mitwirkungsrechte an den Verhandlungsprozessen auf nationaler Ebene gestärkt werden. Art. 23 Grundgesetz und das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union reflektieren die innerstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen. Dadurch werden die Rechte der Länder abgesichert. Eine Mitwirkung der Kommunen ist aber nicht vorgesehen. Der Abstand der Kommunen zur europäischen Ebene ist noch größer als bei Gesetzgebungsvorhaben auf Bundesebene. Um eine Anbindung der nationalen Position, der einheitlichen Stimme, an die Interessen der Gemeinden zu erreichen, müssen die Kommunen besser in diesen Prozess eingebunden werden. Die Missachtung der Kommunen rührt aus einer Fehleinschätzung her, nämlich der, dass die Kommunen nicht viel mit den Rechtsakten der EU zu tun hätten. Die Kommunen führen aber einen guten Teil der Bundes- und Landesgesetze aus. Damit sind sie ganz wesentlich am Umsetzungprozess europäischer Rechtsakte beteiligt. Deshalb ist es entscheidend, dass sie im Vorfeld auch Einfluss nehmen können. ({4}) Wie notwendig eine Einbindung der Kommunen in den vorbereitenden Prozess ist, zeigt die vorliegende Große Anfrage. Sie zeigt die verschiedenen Politikfelder auf, an denen die Kommunen mitwirken und von denen sie betroffen sind. Geht man der Sache auf den Grund, erkennt man, dass der Kern des Problems darin liegt, dass das Subsidaritätsprinzip auf europäischer Ebene nicht konsequent eingehalten wird. Dieses in Art. 5 des EGVertrages niedergelegte Prinzip sieht vor, dass Angelegenheiten auf der Ebene geregelt werden, die dazu am besten in der Lage ist. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Die Abgrenzung der Kompetenzen funktioniert nicht. Mit konsequenter Anwendung des Subsidaritätsprinzips würden viele Materien auf die Ebene der Mitgliedstaaten zurückgeführt und dort zu regeln sein. Über die nationale Kompetenzverteilung, also insbesondere die Selbstverwaltungsgarantie, haben die Kommunen an dieser Zuweisung teil. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, stärker auf die Einhaltung des Subsidaritätsprinzips auf europäischer Ebene zu dringen. Nur wenn sich in Zukunft die Kompetenzen der verschiedenen Ebenen der Europäischen Union - Bund, Länder und Kommunen - sauber trennen lassen, besteht Hoffnung, dass auch der nationale Vorbereitungsprozess entlastet wird. ({5}) Gestern hat der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union seine Arbeit aufgenommen. In der Sache wird es nicht wenig sein, was der Europäische Konvent leisten muss. Er kann - besser gesagt, er muss - daran mitwirken, dass auch die Kommunen und ihre berechtigten Interessen nicht nur wahrgenommen, sondern auch umgesetzt werden. Es geht um eine sachgerechte Kompetenzordnung. Sie kann nur dann auf dem richtigen Weg sein, wenn Kompetenzen nicht immer und zunehmend nur in eine Richtung, nämlich nach Brüssel, wandern, sondern auch den umgekehrten Weg einschlagen können, oder -noch besser -, wenn sie den Kommunen und Regionen gar nicht erst entwunden werden. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Gerald Häfner für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Art. 28 unseres Grundgesetzes sagt: Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Das ist ein klares Bekenntnis zu einer lebendigen, praktizierten Demokratie, in der so viel wie möglich so nahe als möglich bei den Menschen entschieden wird und nicht umgekehrt. Die Gemeinden sind also nach unserem Grundgesetz nicht Befehlsempfänger und auch nicht nur, wie das manche vielleicht gern hätten und wie das in anderen Mitgliedsländern der EU teilweise der Fall ist, lediglich schwache Verwaltungseinheiten, sondern sie sind Organe der Selbstverwaltung und damit auch Hort und Keimzelle einer von unten nach oben sich entwickelnden Demokratie. Darin kommt ein sehr modernes Gestaltungsprinzip und ein klares Bekenntnis zur Demokratie und zur Selbstverwaltung zum Ausdruck. Es ist aber nicht nur modern, sondern zur gleichen Zeit auch sehr alt. Ich glaube schon, dass es, wenn wir diese Debatte führen, berechtigt und wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass die Demokratie, so wie wir sie heute in Europa kennen, in den Städten, in den Kommunen entstanden und gewachsen ist, dass auch dieses Europa, so wie wir es lieben, eigentlich seinen Kern, sein Zentrum in den Kommunen, in den Städten hat. Dort und von dort aus haben sich erst die Idee des freien Bürgers und der Bürgerrechte, die Demokratie, aber auch die moderne Form der Marktwirtschaft ebenso wie unsere Vorstellung eines europäischen Sozialmodells entwickelt. All dies verdankt seine Entstehung den Kommunen, ganz besonders wie schon gesagt, die Demokratie selbst, die schon vor 2 500 Jahren in der griechischen Polis entstanden ist und sich dort und danach im Mittelalter erst allmählich über die Städte hinaus auf die gesamtstaatliche Ebene hin entwickelt hat. Insofern ist auch die Demokratie nicht, wie so oft behauptet wird, nur die bestmögliche aller schlechten Regierungsformen, sondern die heute einzig mögliche Regierungsform, indem sie von der Freiheit und Würde des Individuums, von dem Prinzip der Selbstbestimmung und von dem Gedanken der Gleichheit aller vor dem Recht sowie beim Zustandekommen des Rechts ausgeht. Sie ist und bleibt die einzige für uns überhaupt denkbare Regierungsform, sofern wir uns darüber einig sind - auch wenn das heute immer öfter angezweifelt wird -, dass der Mensch ein freies, selbstbestimmtes, würdiges und gleichberechtigtes Wesen sein soll und ist. Damit ist nicht nur die Bedeutung von Demokratie unterstrichen, sondern zugleich auch klar: Demokratie entsteht und wächst von unten. Ihr Vorhandensein ist also nicht nur eine Frage des Verfahrens, sondern auch der Größe, der Nähe zu den Entscheidungen, der Diskurs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Deshalb müssen wir aufpassen und sollten uns davor hüten, alles immer weiter nach oben, von den Bürgerinnen und Bürgern weg, zu delegieren, alles immer zentraler zu regeln. Es ist vielmehr wichtig, dass so viele Entscheidungen wie möglich so nahe wie möglich bei den Menschen getroffen werden können, also dort, wo die Menschen die Verhältnisse kennen und auch die unmittelbaren Auswirkungen der Entscheidungen beurteilen können. Ich bin, wie meine Fraktion ein glühender Europäer, Anhänger einer weiter gehenden Vergemeinschaftung in all den Bereichen, in denen das notwendig und sinnvoll ist, ganz besonders im Bereich des Binnenmarktes, wo wir ja schon weit vorangekommen sind. Wenn etwas heute nicht mehr national geregelt werden kann, dann sind das Fragen der Wirtschaftspolitik. Hier ist die Kritik - meine Kritik jedenfalls - ja eher schon nicht die, dass wir die Dinge heute nicht mehr national entscheiden können, sondern dass auch Regelungen auf europäischer Ebene nicht mehr ausreichen und wir diese Fragen immer mehr global sehen und entscheiden müssen. Andere Bereiche notwendiger Vergemeinschaftung sind Teile der Außen- und Sicherheitspolitik und insbesondere das Umweltrecht, weil Umweltschäden eben nicht Halt machen vor Grenzen. Deswegen dürfen auch die Gesetze hier nicht Halt machen. Aber jede solche Vergemeinschaftung geht eben auch einher mit einem Verlust an unmittelbarer Beteiligung der Menschen. Die Legitimationskette, aus der sich Entscheidungen ableiten, wird dünner und dünner und die Mitwirkungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger wird damit geringer. Daraus folgt meines Erachtens, dass wir in demselben Maße, in dem wir gerade auch Europa weiterentwickeln wollen, die Basis, die Ebene, aus der dieses Europa wächst, das heißt insbesondere auch die kommunale Selbstverwaltung, stärken und weiterentwickeln müssen. Vor diesem Hintergrund halte ich es in der Tat für einen Mangel der bisherigen Verträge, dass das Recht auf kommunale Selbstverwaltung auf europäischer Ebene bislang nicht ausreichend verankert ist. Das ist ein Fehler, den wir gerade jetzt korrigieren können. Insofern ist es mir ein Rätsel, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, wie Sie in einer Situation, in der wir alle, was das Recht auf Selbstverwaltung und die Interessen der Kommunen im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess betrifft, ein gemeinsames Anliegen haben und an einem Strang ziehen sollten, dies als Wahlkampfthema zu missbrauchen versuchen. ({0}) Lassen Sie uns doch vielmehr gerade jetzt, da mit dem Zustandekommen des Konvents über eine europäische Verfassung erstmalig die Chance gegeben ist, dies in rechtlich verbindlicher Weise in der europäischen Verfassung zu verankern, all das tun, was wir dazu beitragen können, damit das Recht der Kommunen auf Selbstverwaltung darin verankert wird. Dabei können wir alle mithelfen. Dazu können Sie beitragen, die Fraktionen, das Parlament im Ganzen, die Länder und die Regierung. Auch die Kommunen und ihre Bündnispartner in anderen Ländern können dazu beitragen. Wenn wir schon bei diesem Punkt sind, meine ich, dass es Erwähnung verdient und als Teil der Beschreibung des jetzigen Status wichtig ist, dass das Problembewusstsein der Akteure und Organe der EU in diesem Bereich in jüngerer Zeit deutlich gewachsen ist. In der Mitteilung „Wege zur Stadtentwicklung in der EU“ von 1997 etwa hat sich die Europäische Union das erklärte Ziel gesetzt, die städtische Ebene immer stärker in die Entwicklung und Durchführung der jeweiligen europäischen Politiken einzubeziehen. Im Weißbuch „Europäisches Regieren“ vom 25. Juli vergangenen Jahres unterstreicht die Kommission mit bislang ungehört deutlichen Worten die besondere Rolle der Städte und Kommunen im europäischen Einigungsprozess und entwickelt darin das Bild eines Netzwerks von ineinander und miteinander verschränkten politischen Ebenen anstelle der klassischen, rein hierarchischen Betrachtungsweise von oben nach unten. Auch in der Präambel der EU-Grundrechte-Charta ist bereits auf die lokale Ebene Bezug genommen worden, allerdings nicht in verbindlicher Weise. Deswegen ist jetzt beim Konvent, beim Zustandekommen der europäischen Verfassung, erstmalig die Chance gegeben, dies endlich rechtlich verbindlich zu verankern. Dafür möchte ich mich deutlich aussprechen und Sie dazu auffordern, gemeinsam über die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu versuchen, das zu erreichen. Ein anderer wunder Punkt ist, dass im Ausschuss der Regionen auf europäischer Ebene nur drei der 24 von Deutschland gestellten Delegierten, Vertreter der Kommunen sind. Auch das erscheint mir viel zu wenig. Dabei handelt es sich um eine Frage, die sich auch bzw. zuvörderst an die Länder und nicht nur an den Bund richtet. Wir sollten die Länder, die Sie hier mit vertreten, dazu auffordern, die Kommunen stärker zu gewichten und zu berücksichtigen. ({1}) Auch wenn die Zeit nicht mehr ausreicht, lassen Sie mich doch noch kurz auf zwei Punkte eingehen. Ein Punkt ist die Frage der kommunalen Selbstverwaltung und der Daseinsvorsorge. Ich halte es für gut, wenn wir eingefahrene Strukturen in vielen Bereichen aufbrechen. Insbesondere Monopole haben sich häufig für effiziente und moderne Methoden, Verfahren und Techniken zur Bewältigung der anstehenden Probleme als nicht hilfreich erwiesen. Beispielsweise war die Liberalisierung des Energiemarktes eine wichtige Voraussetzung auch für den Marktzugang alternativer Energien. So ist es auch in vielen anderen Bereichen wichtig, solche Monopolstrukturen infrage zu stellen. Es scheint mir aber nicht ausreichend und auch nicht immer im Interesse der Menschen, überall dort, wo es bisher zentralistische und bürokratische Träger und Lösungen gab, Private an deren Stelle zu setzen, die diese Aufgaben mit einer ganz anderen Gewichtung und unter anderen Gesichtspunkten - nämlich mit der Absicht der Gewinnerzielung - in Angriff nehmen. Nicht in allen Bereichen ist das vertretbar. In der kommunalen Daseinsvorsorge geht es ja in hohem Maße auch um ökologische und soziale Fragen oder zum Beispiel auch um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Es geht auch um die demokratische Frage, wieweit die Bürgerinnen und Bürger zukünftig überhaupt noch die Möglichkeit haben, zum Beispiel über den öffentlichen Verkehr vor Ort, die Wasserversorgung und andere Fragen mitzubestimmen und zu entscheiden. Mir scheint, dass es hier nötig ist, mehr auch über alternative Modelle nachzudenken, die sich jenseits dieser Dichotomie - hier privat und dort Aufgabendurchführung durch eine Behörde - entwickeln können und teilweise auch schon entstehen. Solche Modelle verbinden die freie Initiative und die persönliche Verantwortung mit öffentlicher Kontrolle und Transparenz sowie mit der Orientierung am Gemeinwohl. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken ansprechen: Mir scheint der Kampf der Kommunen für eine Sicherung und Stärkung ihres Rechts auf Selbstverwaltung, den wir mit ihnen gemeinsam fechten sollten, dann berechtigt und sinnvoll zu sein, wenn auch in den Kommunen selbst das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger ernst genommen und ausgebaut wird. ({2}) Hier haben wir sehr erfreuliche Entwicklungen. Gerade die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid führte nicht, wie viele auch im Bayerischen Städtetag und im Bayerischen Gemeindetag befürchtet haben, dazu, dass die Städte unregierbar würden. Im Gegenteil: Gerade auch der Bayerische Städtetag und der Gemeindetag haben mittlerweile erkannt, dass sich die Bürger seit der Einführung dieses Instruments wieder viel stärker mit ihrer Gemeinde identifizieren und sich stärker engagieren und in das Gemeinwesen einbringen. Auf diesem Weg sollten wir meines Erachtens weitergehen, statt uns in absurder Weise im Wahlkampf über Aufgaben zu streiten, die wir gemeinsam anzupacken haben und für die gerade jetzt die Gelegenheit ausgesprochen günstig ist. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel für die Fraktion der PDS.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Schon jetzt haben bis zu 70 Prozent der Entscheidungen der Europäischen Union Auswirkungen auf die Städte, Gemeinden und Landkreise. Gerade aber auf der kommunalen Ebene erleben Bürgerinnen und Bürger die Vertrauenskrise der Europäischen Union. Das sage ich auch in Richtung des Kollegen Bertl. Immer offensichtlicher wird - das ist eine aktuelle Einschätzung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes -, dass sich die Europäische Union mit ihren Entscheidungen zum Teil bis in die Details der Kommunalpolitik einmischt. Auf diese Weise werden Grundlagen kommunaler Selbstverwaltung generell ausgehöhlt. ({0}) Das dürfen wir über alle Fraktionen hinweg nicht hinnehmen. Solche Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltung und Selbstbestimmung betreffen vor allem die öffentliche Daseinsvorsorge, den Umweltschutz, die Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung sowie die Liberalisierung der Stromversorgung und des öffentlichen Personennahverkehrs. Sie betreffen auch die momentan laufende Auseinandersetzung über ein so genanntes EU-Weißbuch zu „New Governance“, Verwaltungskultur, die Geldvergabe über Strukturfonds der Europäischen Union, technische DIN-Normen und den Katastrophenschutz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf immer mehr Feldern müssen Rathäuser und Landratsämter teilweise kleinliche Vorgaben aus Brüssel in Rechnung stellen. Die Gestaltungsfreiheiten kommunaler Vertretungen werden auf diese Weise eingeschränkt. Bürgerinnen und Bürger und ihre Vereine haben zunehmend das Gefühl, mit ihren örtlichen Initiativen gerade durch EU-Rechtsetzungsvorhaben immer mehr bevormundet zu werden. Das ist kein Zeichen für lokale Demokratie; Änderungen sind auch hier dringend geboten. Die Bundesregierung kommt in ihrer Antwort auf die Große Anfrage, die immerhin schon ein Jahr alt ist, nicht umhin, anzuerkennen, dass Rechtsetzungsakte der EU/EG Belastungen für die kommunale Selbstverwaltung bringen. Das hat die Regierung bestätigt. Sie ist sich aber wohl nur in Ansätzen ihrer Verantwortung bewusst, dafür Sorge zu tragen, dass im Rahmen der EU die Belange der Kommunen genügend berücksichtigt werden. Hierfür muss sie sich stärker einsetzen. Der Ausschuss der Regionen, dessen Mitwirkungsrechte nach Auffassung der PDS vehement gestärkt werden sollten, kann dies allein nicht erfüllen. Die PDS-Fraktion erwartet von der Bundesregierung ein größeres Engagement für die langfristige Sicherung kommunaler Daseinsvorsorge. ({1}) Gerade in Deutschland sind traditionell die Städte, Gemeinden und Landkreise die wichtigsten Träger der Daseinsvorsorge. Damit die Kommunen dieser Verantwortung bei der Versorgung mit Energie oder Wasser, beim ÖPNV oder bei der Abfallentsorgung entsprechen können, müssen sie auch künftig Rechtssicherheit und lokalen Gestaltungsspielraum haben. Für sehr viel Unruhe sorgt - das wissen die Kommunalpolitikerinnen und -politiker - die vorgesehene Änderung der EU-Verordnung 1893/91, nach der sämtliche Verkehrsleistungen im ÖPNV EU-weit auszuschreiben sind. Würde diese RechtGerald Häfner setzung zustande kommen, wäre das das Aus für viele ortsansässige Unternehmen. Das darf nicht zugelassen werden. ({2}) Nicht hinnehmbar ist auch der Beschluss des Europäischen Rates von Laeken, im Bereich der Daseinsvorsorge neue Kompetenzen auf europäischer Ebene festzuschreiben und die bestehenden Kompetenzen den Kommunen wegzunehmen. Diese Aufgaben werden in aller Regel durch die Kommunen bürgernah wahrgenommen. Deshalb fordern wir von dieser Stelle aus: Hände weg von einer Verlagerung dieser Kompetenzen auf die europäische Ebene! Sie müssen dort verbleiben, wo sie in aller Regel effektiv und bürgernah vollzogen werden - auf der kommunalen Ebene. Es ist grundsätzlich festzustellen, dass die Bundesregierung mit der Aussage Recht hat, dass das kommunale Selbstverwaltungsrecht durch Förderprogramme der Europäischen Gemeinschaft durchaus gestärkt werden kann. Aber ich möchte hier das Gewicht auf „kann“ legen. Denn einerseits bringt die verwirrende Vielfalt der Programme nicht wenige Probleme für Übersicht und Koordination; andererseits - das scheint mir besonders wichtig zu sein - nimmt die Anzahl der Kommunen sprunghaft zu, die nicht mehr in der Lage sind, den notwendigen Eigenanteil bei der Inanspruchnahme der Förderprogramme aufzubringen. Somit verpuffen diese Förderprogramme. Die Bundesregierung sollte, um diesen Notstand zu beseitigen, endlich in eine Reform der Kommunalfinanzierung einsteigen. Dreieinhalb Jahre Nichtstun sind zu viel und die bloße Ankündigung, dass man in wenigen Tagen eine Kommission einsetzen werde, ist zu wenig. Ich komme zum Schluss. Der heutige 1. März 2002, an dem der EU-Konvent unter Vorsitz von Valéry Giscard d’Estaing tagt, sollte auch das Signal aussenden, dass die Zeit für nachhaltige Schritte zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in der Bundesrepublik und in allen übrigen und künftigen EU-Mitgliedstaaten überreif ist. Kommunalpolitik als gelebte Dezentralität und Bürgernähe muss endlich auch eine europäische Größe werden - im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Im Prinzip ist zu der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU von meinem Kollegen Hans-Werner Bertl das Notwendige gesagt worden. ({0}) - Ich werde gleich zwar nicht zu Ihnen, aber zu einem anderen Kollegen kommen. Ein paar Dinge müssten hier, glaube ich, klargestellt werden. Herr Götz hat sich in Anbetracht des bevorstehenden Termins der bayerischen Kommunalwahlen in über zwei Dritteln seiner Redezeit mit anderen Fragen befasst als denjenigen, auf die in der Antwort Bezug genommen wurde. Herr Kollege Götz, da wir noch nicht das Vergnügen hatten, uns persönlich kennenzulernen, und ich in Ihren Ausführungen nur bedingt die erforderliche Sachkunde eines aktiv handelnden Kommunalpolitikers habe wahrnehmen können, habe ich mir erlaubt, im „Kürschner“ nachzuschlagen, und habe festgestellt, dass Sie sowohl Stadtrat als auch Bürgermeister waren. ({1}) Zum Teil waren wir sogar zu der gleichen Zeit Kollegen. Aber ich habe mich bei Ihrer Rede gefragt: Von welcher Zeit redet dieser Mann und von welcher Sache redet er? Ich habe in der Zeit von 1985 bis 1997 ({2}) - dazu komme ich gleich noch - zwölf Haushalte und auch Nachtragshaushalte als Kämmerer und gleichzeitig als Dezernent verantworten dürfen. Ich will Ihnen sagen, wie sich die kommunalen Finanzen entwickelt haben und wo die Ursachen dafür lagen. Die Tatsache, dass die Finanzen der Kommunen in ihrer Eigenschaft als Sozialhilfeträger regelrecht stranguliert worden sind, dass sich der Zuschuss beim Einzelplan 04 in den Jahren 1985 bis 1997 geradezu verdoppelt hat, hat eine einzige Ursache: ({3}) nämlich dass immer mehr Langzeitarbeitslose keine Leistungen des Arbeitsamtes, sondern Sozialhilfe bezogen haben. ({4}) Erst als meine Kommune und mein Kreis damit begonnen haben, selber eine aktive Beschäftigungspolitik zu betreiben, und umfangreiche Programme, die Hilfen zur Arbeitsaufnahme bieten, aufgelegt haben, hat es eine Änderung dieser Tendenz gegeben. Ich weiß von meinem Nachfolger im Amte, dass im Grunde genommen erst mit dem Haushalt 1999 dieser Trend in Richtung eines immer größeren Zuschusses nachgelassen hat. Die Ursachen sind also: Langzeitarbeitslosigkeit, fehlende Arbeitsplätze und gestiegene Aufwendungen bei der Sozialhilfe. Dabei sind übrigens die Risiken und die Lasten unterschiedlich auf die Kommunen verteilt. Wenn man die Haushalte des Bundes, der Länder und der Kommunen miteinander vergleicht, dann stellt man fest, dass der Anteil der Schulden am Bundeshaushalt ungefähr doppelt so hoch ist wie der an den Kommunalhaushalten. Die Länderhaushalte liegen dazwischen. Natürlich ist die Situation in den einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich. In meinem Wahlkreis beispielsweise ist es so, dass es im so genannten Speckgürtel der Kreisstadt noch immer Städte und Gemeinden gibt, die aufgrund von Gewerbeansiedlungen und daraus folgenden hohen Steuereinnahmen aus den Überschüssen von drei Verwaltungshaushalten ganz leicht ein Bürgerhaus für 5,5 Millionen bauen könnten. Es gibt aber auch Städte und Gemeinden, die nicht einmal die Kreisumlage aufbringen können, ohne defizitär zu werden. Die Situation der Kommunen in Deutschland ist also sehr unterschiedlich, weil die Lasten unterschiedlich verteilt sind. Die Ursachen dafür sind neben Langzeitarbeitslosigkeit - das ist die eigentliche Ursache -, dass der Zuschussbedarf, den die Kommunen als Träger der Sozialhilfe in den Einzelplänen 4, Soziales, haben, nur in unzureichendem Maße durch die jeweiligen Länder gedeckt wird. Die Länder decken im Rahmen des Sozialhilfelastenausgleichs präterpropter gerade einmal ein Drittel dieses Zuschussbedarfs. Auch das ist eine Ursache für die unterschiedliche Situation der Kommunen. Lassen Sie mich nun auf das eigentliche Thema zu sprechen kommen, nämlich die Fortentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland im Rahmen von Rechtsetzung der Europäischen Union. Selbst die alte Bundesregierung, die ich wegen ihrer schlechten Arbeitsmarktpolitik - eigentlich hat eine solche gar nicht stattgefunden - und ihrer unzureichenden Wirtschaftspolitik sonst immer schelten muss, hat genau wie die jetzige Regierung - das habe ich auch, als ich noch Kommunalpolitiker war, immer anerkannt - garantiert, dass die öffentliche Daseinsvorsorge in Deutschland trotz aller Vorgaben aus Brüssel gewährleistet bleibt. Alle, die in der Kommunalpolitik oder in den Gremien von kommunalen Energieversorgungs- und Verkehrsunternehmen tätig waren, wissen, dass die Zeit dieser Unternehmen, und zwar von der Waterkant bis in den Voralpenbereich, vorbei wäre, wenn die Frage der Quersubventionierung oder des durch die Binnengesetzgebung zu regelnden steuerlichen Querverbundes anders beantwortet würde. Das darf nicht geschehen. Ich mache mir deshalb in der Tat Sorgen, wenn ohne Rücksicht auf soziale Standards und Tarifverträge beispielsweise Verkehrsleistungen ausgeschrieben würden. Ich bin guter Hoffnung, dass die jetzige Bundesregierung - genauso wie seinerzeit die ehemalige - ihre Garantenstellung gegenüber den Kommunen wahrnehmen wird. Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen, nämlich auf das Sparkassenwesen und die Landesbanken. Hier muss man differenzieren: Es ist sicherlich sinnvoll - das möchte ich gerne einräumen -, die derzeitige Rechtsform der Sparkassen mit Anstaltslast und Gewährträgerhaftung zu erhalten. Bei den Landesbanken bin ich anderer Meinung. Diese betreiben weitestgehend Universalbankgeschäfte und erzielen den größten Teil des Deckungsbeitrags, aufgrund dessen sie den Kommunen verbilligte Kredite gewähren können, im so genannten Wertpapiereigenhandel. Ich vermag deshalb nicht einzusehen, warum beispielsweise für Warentermin- oder Devisengeschäfte der Landesbanken die letzte Gemeinde des Sparkassenzweckverbandsgebiets haften soll. Das muss man differenzierter regeln. Herr Kollege Dr. Rössel, als ich noch in der Kommunalpolitik tätig war, habe ich nur wenig davon gemerkt, dass es die kleinlichen Vorgaben aus Brüssel wären, die kommunalpolitisches Engagement verhindern und den Kommunalpolitikern die Gestaltungsmöglichkeiten nehmen. Das, was uns Kommunalpolitiker zum Teil den Spaß an der Sache und auch die Möglichkeiten der Gestaltung genommen hat, war vielmehr die ungünstige Entwicklung des Zuschussbedarfs in Einzelplan 4. Damit bin ich wieder beim Ausgangspunkt: Die Ursache für die schlechten kommunalen Finanzen war eine schlechte Arbeitsmarktund Wirtschaftspolitik. Das hat sich verändert. Als ehemaliger Kommunalpolitiker bin ich guter Hoffnung, dass es uns in der nächsten Legislaturperiode gelingen wird, bei der Gemeindefinanzreform, die auch ich lieber heute als erst in der nächsten Legislaturperiode hätte, ein entscheidendes Stück weiterzukommen und für notwendige Klarheit zu sorgen. Zum Schluss möchte ich sagen: Vergessen wir alle bitte nicht, dass die Bundesländer ihrerseits problemlos in der Lage wären, durch Umstrukturierung im kommunalen Finanzausgleich die größten Belastungen für die Kommunen zu beseitigen. Aber angesichts der großen Zahl der kreisangehörigen Städte und Gemeinden, die zumindest jedes Flächenland aufzuweisen hat, überlegt sich jede Landesregierung, egal welche politische Farbe sie hat, ob sie sich mit vielen Hundert kleinen kreisangehörigen Städten und Gemeinden oder mit den kreisfreien Städten und den Landkreisen anlegt, deren Zahl - und manchmal auch Bedeutung - geringer ist. Ich hoffe, dass ich damit ein bisschen von dem richtig gestellt habe, was Sie, Herr Kollege, über eine Zeit gesagt haben, die wir beide als Kommunalpolitiker, wenn auch als Mitglieder verschiedener Parteien, gemeinsam erlebt haben. Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen. Danke. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, vielen Dank für die Zeit, die Sie uns allen geschenkt haben. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Albert Deß für die CDU/CSU.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Peter Götz hat schon gesagt - es ist auch von anderen angesprochen worden; wir alle wissen es -: Mehr als 60 Prozent aller Gesetzgebungsmaßnahmen der Europäischen Union wirken sich direkt oder indirekt auf unsere Kommunen aus. Bei allen Entscheidungen in Europa muss der Gedanke der Subsidiarität gerade im Hinblick auf unsere Kommunen gewahrt bleiben bzw. noch stärker verwirklicht werden. ({0}) Die Entwicklungen in Europa werden wir genau im Auge behalten. Europa muss von unten her gestaltet werden. Die Bürger müssen die Chance haben, an ihrem Europa mitzubauen. Nur so wird die Akzeptanz des weiteren Einigungsprozesses langfristig gewährleistet sein. Die kommunale Selbstverwaltung muss in einem EU-VerRüdiger Veit tragswerk verankert werden, damit die Stellung der Kommunen in Europa auch langfristig gesichert ist. Wir stehen zu Europa. Ein starkes Europa braucht aber auch starke Kommunen. Das CSU-regierte Bayern und auch das CDU/FDP-regierte Baden-Württemberg, um nur zwei unionsgeführte Bundesländer zu nennen, unterstützen ihre Kommunen wesentlich stärker, als dies bei rot, rot-grün oder rot-dunkelrot regierten Bundesländern der Fall ist. ({1}) Nur so sind die Kommunen in der Lage, die Herausforderungen der Zukunft wirkungsvoll zu bewältigen. Der bayerische Finanzminister sorgt für eine gute Finanzausstattung der bayerischen Kommunen. Die Leistungen des Landes wurden im Vergleich zum Vorjahr um 3,1 Prozent erhöht. ({2}) Davon können SPD-regierte Bundesländer nur träumen. Weder die Bayerische Staatsregierung noch andere Bundesländer können aber das ausgleichen, was RotGrün den Kommunen durch eine völlig verfehlte Politik zumutet. ({3}) Wegen einer völlig verfehlten Steuerpolitik und aufgrund der schlechten Konjunktur stehen viele Kommunen heute vor massiven Haushaltsproblemen. Die rot-grünen Bundesgesetze haben zu massiven Einbußen bei den kommunalen Haushalten geführt. ({4}) Nach Angaben der kommunalen Spitzenverbände sanken die kommunalen Einnahmen 2001 um mehr als 4 Milliarden Euro. Die kommunalen Steuereinnahmen gingen um 5,5 Prozent zurück. Die Investitionszuweisungen von Bund und Ländern sanken um 4 Prozent. Trotz sinkender Einnahmen haben die Kommunen zusätzliche Aufgaben bekommen, die mit Kosten verbunden sind. Stark angestiegen sind die Kosten im Sozialbereich. Pflegefälle werden trotz der Pflegeversicherung zunehmend wieder zu Sozialhilfefällen, weil die Kosten für die Pflege in den Einrichtungen kontinuierlich steigen. Andere auf die Kommunen verschobene Mehrkosten im Sozialbereich belasten die Haushalte mit mehr als 1 Milliarde Euro zusätzlich. Ein krasses Beispiel für die Verlagerung von Kosten auf die Kommunen ist die Rentenreform. Allein diese Reform belastet die Kommunen bis zum Jahre 2008 mit circa 8 Milliarden Euro. Kosten und Steuerausfälle hat die rot-grüne Bundesregierung auf die Kommunen verlagert, die unter anderem für die Einrichtung der neuen Grundsicherungsämter verantwortlich sind. Die BSE-Krise war Anlass für ein Bundesgesetz, dessen Kosten die Kommunen weitgehend zu tragen haben. Die kommunalen Schlachthöfe müssen die Kosten der Abfallentsorgung tragen und viel Geld in neue Investitionen stecken. Dazu kommen die Kosten für zusätzliches Personal und die Entsorgung von Klärschlamm. Die Ausbringung auf landwirtschaftliche Flächen ist nur noch eingeschränkt möglich und wird wahrscheinlich auf längere Sicht gesehen vollkommen eingestellt werden müssen. Unsere Kommunen tragen erhebliche Lasten bei der Ausländerintegration. Dazu gehören nicht nur die Förderung von Ausländerorganisationen, sondern auch die Durchführung von Sprachkursen, Maßnahmen zur Stadtplanung oder die Förderung von gemischten Verbänden und Vereinen. Hinzu kommt, dass die Arbeitslosigkeit - das haben wir heute schon gehört - unter Ausländern doppelt so hoch ist wie die unter der deutschen Bevölkerung. Auch im Asylrecht sind wir an die Vorgaben aus Brüssel gebunden. Die Regierung Schröder schafft es aber nicht, dass es zu einer Regelung kommt, mit der die Asylbewerber gerecht auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. ({5}) Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen brachte dem Bund Rekordeinnahmen in Höhe von circa 50 Milliarden Euro. Im Gegensatz dazu müssen die Kommunen mit beträchtlichen Steuerverlusten zurechtkommen. Unternehmen schreiben die von ihnen ersteigerten Lizenzen ab und vermindern dadurch ihre Gewinne, was zu massiven Steuerausfällen bei den betroffenen Kommunen führt. Die rot-grüne Bundesregierung hat eine Steuerreform auf den Weg gebracht, die die Basis der Gewerbesteuer aushöhlt. Die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage wurde damit begründet, dass die Kommunen von den erhöhten Steuereinnahmen, die durch die Steuerreform zu erwarten sind, profitieren. Es war eine Milchmädchenrechnung von Herrn Eichel, dass durch die Verlängerung der Abschreibungszeiträume die Gewerbesteuereinnahmen steigen würden. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Deß, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Die Kommunen spüren davon nichts; im Gegenteil. ({0}) Nach Angaben der kommunalen Spitzenverbände ist die Entwicklung beim Gewerbesteueraufkommen beängstigend. Grund dafür ist nicht nur die schlechte Konjunktur, sondern auch die Tatsache, dass Kapitalgesellschaften keine Steuern mehr zahlen. Wenn wir eine solche Steuerreform gemacht hätten, dann hätte Rot-Grün vor Ort Mahnwachen abgehalten. ({1}) Die rot-grüne Steuergesetzgebung wirkt sich auf die Kommunen katastrophal aus. Die Folge ist, dass Investitionen radikal zusammengestrichen werden müssen. Weniger Investitionen der Kommunen bedeuten auch weniger Arbeit für die Betriebe und damit steigende Arbeitslosigkeit. Ein fataler Kreislauf, den die rot-grüne Bundesregierung auf den Weg gebracht hat! Die Gestaltungsmöglichkeiten für die Kommunen werden immer geringer. Gespart wird jetzt vor allem an der Kultur, an sozialen Einrichtungen, an der Unterstützung von Verbänden und Vereinen - gespart wird schlichtweg an der Lebensqualität. Die CDU/CSU-Fraktion steht zu einem starken Europa. Ein starkes Europa braucht starke Kommunen. Deshalb fordert die CDU/CSU-Fraktion, dass legale Steuerschlupflöcher für die Kapitalgesellschaften nicht zulasten der Kommunen genutzt werden können, dass die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage zurückgenommen wird, dass das Gemeindefinanzsystem überprüft wird und dass die kommunale Finanzausstattung als Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung verbessert wird. Wir haben mit dem Vertrag von Maastricht das Subsidiaritätsprinzip in den EU-Verträgen verankert. Dafür hat die Union unter Helmut Kohl und Theo Waigel gesorgt. ({2}) Wir haben die Achtung der innerstaatlichen Gliederung festgelegt. Im Konvent zur Zukunft Europas müssen diese weichen Formulierungen konkretisiert werden. CDU und CSU wollen, dass klare und eindeutige Formulierungen die kommunale Selbstverwaltung stärken. Die Schröder-Regierung, deren Zeit abläuft, will das offensichtlich nicht. Wir fordern Sie auf, sich im Konvent für die Sicherung unseres traditionellen Erfolgsmodells der kommunalen Selbstverwaltung stark zu machen. Beginnen Sie bald damit! Bis zum 22. September bleiben Ihnen nur noch 206 Tage. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank - Drucksache 14/6879 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1}) - Drucksachen 14/8390, 14/8413 - Berichterstattung: Abgeordnete Jörg-Otto Spiller Dr. Barbara Höll b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht - Drucksachen 14/7033, 14/7088 ({2}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksache 14/8389 Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Binding ({4}) Dr. Barbara Höll bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/8391 - Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke Hans-Eberhard Urbaniak Antje Hermenau Dr. Uwe-Jens Rössel c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({6}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines Finanzkonglomerats und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG, 79/267/EWG, 92/49/EWG, 92/96/EWG, 93/6/EWG und 93/22/EWG des Rates und der Richtlinien 98/78/EG und 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates KOM ({7}) 213 endg.; Ratsdok. Nr. 08297/01 - Drucksachen 14/6508 Nr. 2.6, 14/8389 Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Binding ({8}) Dr. Barbara Höll Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesbankgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks. Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen ({9}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Man darf zwar nicht auf einen abgeschlossenen Tagesordnungspunkt zurückkommen, aber ich möchte dem lieben Albert Deß doch sagen: Selbst die Kommunalwahl von übermorgen erlaubt es nicht, eine solche Litanei von Unwahrheiten und Halbwahrheiten dem Hohen Hause vorzutragen. ({10}) Jetzt möchte ich mich dem vorliegenden Gesetzentwurf zuwenden. Mit dem heute hier zu verabschiedenden Gesetz zur Reform der Bundesbankstruktur wird endlich umgesetzt, was schon seit drei Jahren Realität ist, nämlich dass die geldpolitische Zuständigkeit der Bundesbank seit dem 1. Januar 1999 auf die Europäische Zentralbank übergegangen ist. Wir sind also heute im Bundestag versammelt, um abschließend ein Gesetz zu beraten, mit dem die Struktur der Bundesbank an die Realität angepasst wird. Wir können nicht so tun, als habe die Bundesbank dieselben Aufgaben wie noch vor drei Jahren. Wir sorgen mit dem hier vorliegenden Gesetz, von dem ich hoffe, dass es auch im Bundesrat nicht blockiert werden wird, ({11}) insbesondere auch dafür, dass die deutschen Interessen im System der Europäischen Zentralbank angemessen vertreten werden. Wir sorgen dafür, dass die Deutsche Bundesbank künftig eine einheitliche Leitungs- und Entscheidungsstruktur erhält, die den Aufbau einer effizienten und kostengünstigen internen Organisation ermöglicht. Darüber hinaus wird es bei der Deutschen Bundesbank zukünftig größere Ausgabentransparenz und eine stärkere Kostenkontrolle geben. Zudem wird gewährleistet, dass das in der Fläche präsente Bundesbanksystem erhalten bleibt; das heißt, die neuen Standorte der Hauptverwaltungen bleiben unter anderem als regionale Ansprechpartner für die Kreditwirtschaft und die Unternehmen erhalten. ({12}) Ich sagte schon, ich erwarte, dass der Bundesrat der Umsetzung dieser Kompromisse keine Steine in den Weg legen wird. Diejenigen, die hier in diesem Hause oder auch im Bundesrat nicht zustimmen wollen, unterscheiden sich nicht sehr von solchen, die für einen Heizer auf einer E-Lok plädieren. Das müssen Sie sich wirklich vergegenwärtigen. ({13}) Mit dem zweiten heute hier zur Abstimmung stehenden Gesetz werden entscheidende Reformen für den Erhalt der Zukunftsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland eingeleitet. Wir schaffen damit Voraussetzungen für eine integrierte, wettbewerbsneutrale und stärker kapitalmarktorientierte Aufsicht über sektorübergreifende Verflechtungen und Risikotransfers, die es ja heute schon gibt und vor denen wir die Augen nicht verschließen dürfen. Die Aufsicht muss den tatsächlichen Entwicklungen am Markt angepasst werden und darf ihnen nicht hinterher hinken. Wir begegnen also drohenden Aufsichtsdefiziten durch Kompetenzbündelung und sichern die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere im Vergleich mit dem Finanzplatz London und der dortigen Financial Services Authority. ({14}) Wir erreichen Effizienzsteigerungen durch Verbundvorteile, und zwar durch Einführung risikoadäquater wettbewerbsneutraler Standards, bei der Aufsicht über Finanzkonglomerate, bei der Überwachung von Finanzunternehmen, bei sektorübergreifend eingesetzten Riskmanagementmethoden sowie hinsichtlich Anzeigepflichten und Informationsaustausch. ({15}) Zugleich erleichtern wir die Rekrutierung sowie den effektiveren Einsatz von Experten durch Abkoppelung des Etats der Aufsicht vom Bundeshaushalt; sie wird zukünftig ausschließlich von den Instituten finanziert, die der Aufsicht unterliegen. Sie sehen daran, dass den Instituten, die der Aufsicht unterliegen, diese Aufsicht so viel wert ist, dass sie sie selber vollständig bezahlen wollen. ({16}) Früher haben sie sie zu 90 Prozent bezahlt, jetzt zahlen sie sie zu 100 Prozent. Es gibt also keine Verknüpfungen mehr mit dem Bundeshaushalt. Das wird vom Zentralen Kreditausschuss und vom Bundesverband deutscher Banken begrüßt, da sie auf diese Weise auch besondere Experten heranziehen können, was aufgrund der bisherigen Struktur nicht möglich war. Wichtig ist die Einbeziehung der Bundesbank zur Erfassung von Systemrisiken und zur Gewährleistung von Präsenz in der Fläche. Erstmals gibt es eine gesetzliche Konkretisierung der Kooperation zwischen Bundesbank und der Bundesanstalt sowie deren Einbindung in die laufende Bankenaufsicht. Durch Zuweisung der laufenden Aufsicht über nunmehr alle Institute, das heißt auch über die Großbanken, stärken wir die Rolle der Bundesbank. Diese wird in der Regel durch die Hauptbereichsverwaltungen - das sind die bisherigen Landeszentralbanken durchgeführt. Die Anhörung des Finanzausschusses des Bundestags im November des vergangenen Jahres hat ergeben, dass das Gesetzesvorhaben als notwendige Reaktion auf die Marktveränderungen befürwortet wird. Das Konzept wird bestätigt. Die Wirtschaft begrüßt im Interesse einer besseren personellen Ausstattung die Abkopplung vom Vizepräsidentin Petra Bläss Bundeshaushalt und bekräftigt die Bereitschaft zur Kostenübernahme. ({17}) Das Konzept ist vom Internationalen Währungsfonds und von der Europäischen Zentralbank begrüßt worden. In den skandinavischen Ländern, in Großbritannien, in Japan und in Australien bestehen bereits sektorübergreifende Aufsichtsbehörden. Die neue Bundesanstalt wird ein kompetenter gleichwertiger Partner auch im internationalen Bereich werden. Der Trend zur integrierten Finanzdienstleistungsaufsicht schreitet im Übrigen fort, so in Irland, in Österreich und demnächst auch in der Schweiz. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Bundesbankstrukturreform durch den Bundestag wird der Reformstau beseitigt, der hier zu beklagen war. In Verbindung mit dem Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht setzen wir ein wichtiges Signal für den Finanzplatz Deutschland. Die Bundesregierung erwartet, dass sich auch der Bundesrat in seiner Sitzung im März der Verantwortung für den Finanzplatz Deutschland stellen wird und die Verabschiedung dieser beiden wichtigen Gesetze nicht verzögert. Herzlichen Dank. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion hat jetzt der Kollege Otto Bernhardt das Wort.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht bei dieser Debatte um zwei zentrale Gesetze, die den Finanzplatz Deutschland betreffen. Es ist schade, dass wir diese Debatte am Freitagnachmittag führen. Eigentlich hätte die Beratung dieser beiden zentralen Gesetze eine bessere Zeit verdient. ({0}) Zwischen beiden Gesetzen besteht ein sachlich sehr enger Zusammenhang. Deshalb ist es gut, dass wir beide Gesetze gemeinsam beraten. Bei der Notenbank besteht in der Tat - die Staatssekretärin hat das bereits gesagt - Handlungsbedarf. Zum 1. Januar 1999 hat die Notenbank eine zentrale Aufgabe, nämlich die Geldpolitik, an die Europäische Zentralbank abgegeben. Alle Fachleute sind sich darüber im Klaren, dass dies zu Veränderungen bei der deutschen Notenbank führen muss. Wir sind uns einig, dass es zu einer Verschlankung kommen muss. ({1}) Wir sind uns einig, dass wir nur noch ein zentrales Gremium brauchen. ({2}) Wir sind uns auch einig, dass man die Arbeitsteilung zwischen der Bundesbank und den Landeszentralbanken überdenken muss. Dann hören die Gemeinsamkeiten aber leider auch auf. ({3}) Es gibt zwei entscheidende Gründe, warum wir dem Gesetz nicht zustimmen können. Der eine Grund betrifft die Zusammensetzung des neuen Vorstandes und der andere die zukünftige Rolle der Landeszentralbanken. Zum ersten Punkt. Das zentrale Organ der Notenbank besteht heute aus acht Direktoriumsmitgliedern, die von der Bundesregierung vorgeschlagen werden und aus neun Landeszentralbankpräsidenten, die der Bundesrat vorschlägt. Im Entwurf war ursprünglich vorgesehen, dass in Zukunft ein sechsköpfiger Vorstand eingesetzt werde. Die Bundesregierung sollte den Präsidenten und den Vizepräsidenten vorschlagen, die weiteren vier Vorstandsmitglieder sollte sich - Sie hören richtig - der Bundesbankpräsident selbst aussuchen. ({4}) Natürlich war jedem klar, dass hier ein gewisser Handlungsspielraum vorgesehen war; denn es gibt keinen Vorstandsvorsitzenden in Deutschland, der sich - auch wenn das viele möchten - seine Vorstandskollegen selbst aussuchen kann. ({5}) Der Entwurf, der jetzt vorliegt, sieht einen achtköpfigen Vorstand vor. Vier Vorstandsmitglieder werden von der Bundesregierung vorgeschlagen. Die anderen vier Mitglieder darf zwar der Bundesrat vorschlagen, aber im Einvernehmen mit der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, das ist das Ende einer überparteilichen Notenbank. ({6}) Sie sollten sich wirklich darüber im Klaren sein, ob Sie das wollen. Die deutsche Notenbank hat sich in ihrer langen Geschichte national und international ein hervorragendes Standing erarbeitet. Das ist in Kürze vorbei. Ich finde es unverantwortlich, diesen Weg zu gehen. Wir drücken in unserem Antrag deshalb die Sorge aus, dass der Vorstand der Notenbank in Zukunft von der jeweiligen Regierung stromlinienförmig besetzt werden könnte, und befürchten, dass er es auch wird. ({7}) Der zweite Ablehnungsgrund betrifft die zukünftige Position der Landeszentralbankpräsidenten. Sie sollen jetzt im Grunde schlicht regionale Direktoren werden, weisungsabhängig vom Präsidenten, ({8}) auch wenn sie den schönen Titel „Präsident“ behalten. Was Sie damit anrichten, scheint Ihnen nicht klar zu sein; wahrscheinlich sind Sie auch ein Stück zu weit weg Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks von der Wirtschaft. Heute haben wir neun hoch qualifizierte Landeszentralbankpräsidenten. Jeder hat vor Ort sein Image, ist Ansprechpartner für Politik und Wirtschaft, insbesondere für die Banken. Das ist demnächst vorbei. Sie glauben doch nicht, dass sich solche Persönlichkeiten um den Posten eines weisungsabhängigen Direktors bewerben! ({9}) Ich glaube, Ihr Parteifreund, der lange Zeit Landeszentralbanken geleitet hat, Professor Krupp, hat Recht, wenn er vom „Zentralisierungswahn“ spricht. ({10}) Sie nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, wie sich die Wirtschaftsstruktur in Deutschland entwickelt hat. Sie sollten sich einmal die Kritik der Kreditinstitute vor Ort in Bezug auf das, was Sie hier geplant haben, anhören. Zum zweiten Gesetz, dem Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht. Im Ausschuss ist uns erzählt worden, das sei das Zukunftsmodell der Welt, das sei europatauglich. Schon das Anhörungsverfahren hat gezeigt, dass diese Aussagen alle nicht richtig sind. In den Vereinigten Staaten lächelt man über eine solche Aufsicht. Man würde nie auf die Idee kommen, so etwas zu schaffen. Hier ist Großbritannien zitiert worden. Richtig, Frau Staatssekretärin, aber dort ist das aus einer Not heraus geschehen. Lesen Sie einmal Erfahrungsberichte darüber! Nein, die Tendenz in Europa geht woandershin: Sie geht dahin, die Bankenaufsicht den Notenbanken zu übertragen. Das ist ein Vorschlag, der auch bei uns große Sympathie findet. ({11}) Ich sage sehr deutlich: Mit der Lösung, die Sie jetzt verabschieden wollen, verbauen wir bessere, europataugliche Lösungen. ({12}) Es ist bedauerlich, dass es bei zwei so zentralen Gesetzen für den Bereich der Finanzen zu derart kontroversen Auseinandersetzungen kommt. In der Vergangenheit sind Gesetze, die die Notenbank und die Finanzaufsicht betrafen, eigentlich immer einstimmig oder mit großer Mehrheit von Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden. ({13}) Diesmal hat der Bundesrat einstimmig, das heißt unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung der Regierung, ein negatives Votum zu beiden Gesetzen abgegeben. Nun hören wir schon wieder, dass man offensichtlich mit Zusagen und Geschenken versuchen will, ein paar Länder herauszubrechen; denn es handelt sich bei diesem Gesetz um ein Einspruchsgesetz, also ein Gesetz, das der Bundesrat nur verhindern kann, wenn er es mit Zweidrittelmehrheit ablehnt. Zurzeit sind noch alle Bundesländer dagegen; aber die Gefahr, dass es gelingt, ein Drittel zur Zustimmung zu bewegen, ist vorhanden, wie die Staatssekretärin uns gesagt hat. ({14}) Ich sage ganz deutlich: Die Gesetzentwürfe, wie sie hier vorliegen, können den Finanzplatz Deutschland nicht nach vorne bringen. Sie zerstören gewachsene Strukturen. Unsere Hoffnungen liegen beim Bundesrat, dass er bei seinem ablehnenden Votum bleibt, damit wir für beide Bereiche bessere Gesetze bekommen können. Herzlichen Dank. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Scheel für Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die geld- und währungspolitische Verantwortung ist von der Bundesbank auf den Rat der Europäischen Zentralbanken übergegangen. Die einzige deutsche Stimme im Rat ist die des Bundesbankpräsidenten. Diese Stimme muss eine starke Stimme für die Vertretung der deutschen Stabilitätsinteressen sein. ({0}) Allein deshalb muss eine solch durchgreifende Veränderung auch strukturelle Konsequenzen haben. Dabei muss gewährleistet sein, dass der Bundesbankpräsident in seiner Unabhängigkeit gestärkt wird und dass die Bundesbank eine schlanke und effiziente Führungsstruktur bekommt. ({1}) Kernanliegen der Reform ist die Schaffung eines einheitlichen Leitungsgremiums. Hier werden die geschäftspolitischen Entscheidungen gefällt und für die jetzigen Landeszentralbanken, die künftigen Hauptverwaltungen, bindende Richtlinien erlassen. Aufwendige Abstimmungsprozesse entfallen; Doppelarbeiten können auf diese Art und Weise besser vermieden werden. Der neue achtköpfige Bundesbankvorstand ist gegenüber der heutigen Leitungsstruktur mit Direktorium, Zentralbankrat und Vorständen der Hauptverwaltungen mit insgesamt 26 Organmitgliedern nicht nur strukturell, sondern auch personell wesentlich abgespeckt worden. Das wird sich auch auszahlen. Denn mittelfristig werden wir durch die neue Struktur der Bundesbank erheblich sparen. Allein die neue Leitungsstruktur wird nach einer Übergangszeit, nach ungefähr ein bis drei Jahren, in etwa 1,6 Millionen Euro im Jahr weniger kosten. Das ist eine Einsparung, die sich durch diese Maßnahme Jahr für Jahr ergibt. Der Kostenblock wird um mehr als ein Drittel reduziert. Bei aller Effizienz sollte man aber Bewährtes nicht ohne Not aufgeben. ({2}) Eine der Stärken der Bundesbank war immer ihre Präsenz in der Fläche sowie die Vertretung und auch die MitspraOtto Bernhardt che der Regionen in den Leitungsgremien. Dieses bewährte System wird modifiziert beibehalten. So bleiben alle neun Landeszentralbanken als Hauptverwaltungen der Bundesbank bestehen. Die regionale Wirtschaft, die Banken und auch die Sparkassen finden so weiterhin vor Ort kompetente Ansprechpartner. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist aber auch das Vorschlagsrecht des Bundesrates für die Hälfte der künftigen Vorstandsmitglieder. So haben wir dem föderalen Gedanken besser, als im Ursprungsentwurf vorgesehen, Rechnung getragen. Darüber hinaus stärkt dies letztlich auch die Stellung und die Unabhängigkeit des Bundesbankpräsidenten; denn nun stehen Bund und Länder gemeinsam hinter dem Bundesbankvorstand. Ebenfalls mehr Effizienz wird es auch dadurch geben, dass die Bundesbank in Zukunft verstärkt betriebswirtschaftliche Instrumente wie etwa eine Kostenrechnung oder eine Plan-Ist-Analyse einsetzen muss. Diese Unterlagen werden zusammen mit dem Jahresabschluss und dem Prüfbericht des Wirtschaftsprüfers sowohl dem Bundesminister für Finanzen als auch dem Bundesrechnungshof und dem Bundestag bekannt gemacht. Die Ausgaben werden transparent. Das bringt sicherlich auch mehr Ausgabendisziplin mit sich. Wir kennen auch von anderen Zusammenhängen: Mehr Transparenz schafft mehr Ausgabendisziplin. Mit einer wesentlich gestrafften Führungsstruktur kann die Bundesbank auch ihren zukünftig stets anspruchsvolleren Aufgaben bei der Bankenaufsicht immer gerechter werden. Basel II stellt die Bankenaufsicht vor neue Anforderungen. Die Bundesbank wird bei der Umsetzung eine ganz wesentliche Rolle spielen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die neue Finanzdienstleistungsaufsicht ihre Richtlinien zur Bankenaufsicht im Einvernehmen mit der Bundesbank erlässt. Die stärkeren Mitwirkungsrechte der Bundesbank garantieren nun, dass die Kompetenz und auch das praxisnahe Wissen der Bundesbank in die Gestaltung der Bankenaufsicht verlässlich mit einfließt. Dies ist eine richtige Entscheidung. Dieses Gesetz, das wir heute verabschieden, sorgt für effizientere Strukturen. Es ist modern und zukunftsgerecht. Danke schön. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die FDP-Fraktion erteile ich nun dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele das Wort.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem das Gesetz zur Bundesbankreform schon seit drei Jahren diskutiert wird, erstaunt die Hast und Eile, mit der Rot-Grün kurz vor Ablauf der Wahlperiode das Bundesbankgesetz durch das Parlament und durch den Bundesrat peitschen will. Auch die heutige Uhrzeit lässt auf ein schlechtes Gewissen schließen; denn offensichtlich soll diese Gesetzesänderung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. ({0}) Das schlechte Gewissen ist auch verständlich; denn es ist absolut unüblich, durch den Gesetzgeber die Direktoriumsmitglieder der Deutschen Bundesbank mit Millionenlasten für den Steuerzahler in den unbezahlten Urlaub bis zum Ende ihrer Amtszeit zu schicken. ({1}) Es ist ferner ein Verstoß gegen die Rechte der Abgeordneten, dass im Finanzausschuss die Frage nach den Kosten dieser Maßnahme für den Steuerzahler pro Jahr nicht beantwortet wurde und bis zum heutigen Tage und bis zur heutigen Stunde nicht beantwortet worden ist. Die Unabhängigkeit der Bundesbank ist ein hohes Gut. Die heute zur Abstimmung stehende Regelung bedeutet aber, dass Rot-Grün den Vorstand der Bundesbank stromlinienförmig mit Personen seines Vertrauens für die nächsten acht Jahre besetzen will. Dies entspricht nicht der Unabhängigkeit der Bundesbank. Denn bisher wurden die Direktoriumsmitglieder zu sehr unterschiedlichen Zeiten und damit aus unterschiedlichen politischen Interessenlagen heraus gewählt. Auch dadurch war die Unabhängigkeit der Bundesbank gewährleistet. ({2}) Das alles wird ausgehebelt. Die FDP ist für eine stärkere Straffung der Struktur der Bundesbank. Die Ziele müssen klarer ausgerichtet werden. Das bedeutet aber, dass in einer gesetzlichen Regelung über die Bestimmung des Vorstandes diesem dann auch funktionale Zuständigkeiten zugewiesen werden. Genau dies geschieht durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht. Die FDP ist ferner der Auffassung, dass die Deutsche Bundesbank die Bankenaufsicht übertragen bekommen sollte, da sie an die EZB erhebliche Zuständigkeiten verloren hat. Die Bundesbank hat schon jetzt die Bankenaufsicht in der Fläche. Die Doppelzuständigkeit der Bankenaufsicht hat sich nach unserer Auffassung nicht bewährt. Vor allem aber hält die FDP eine neue Superbehörde für hochgradig überflüssig. Denn auch die Wertpapieraufsicht ließe sich problemlos durch die Bundesbank erfüllen. ({3}) Die Versicherungsaufsicht, die sich mit einer ganz anderen Materie beschäftigt, hätte so bleiben können, wie sie ist. ({4}) Trotz vieler guter Ansätze ist der Entschließungsantrag der Union aus Sicht der FDP an einigen Stellen zu stark auf die Interessen der Länder ausgerichtet. ({5}) Fazit: Rot-Grün ist zu einseitig zentral. Notwendig wäre ein vernünftiger Kompromiss unter Berücksichtigung des Bundesinteresses und der Länderinteressen. Aber auch unter Berücksichtigung der Interessen des Steuerzahlers hätte sich ein gleitender Übergang der Personen des Direktoriums in die neue Führungsstruktur erheblich besser dargestellt als das jetzige möglicherweise Sichern von Pfründen. Wir werden noch erleben, welche Personen die Bundesregierung benennen wird. Ich halte es für abenteuerlich, wenn die Bundesregierung sagt: Wenn der Vizepräsident eine qualifizierte Person sein sollte, dann wird nicht sie ihn benennen, sondern dann ist es in das Ermessen der Länder gestellt, ihn zu benennen. - Wer so mit Direktoriumsmitgliedern der Bundesbank umgeht, der hat seine Glaubwürdigkeit verspielt. ({6}) Durch diesen Gesetzentwurf ist die Unabhängigkeit der Bundesbank massiv beeinträchtigt. Die Bundesregierung benennt zukünftig vier Personen. Die Personen, die die Länder bestimmen, müssen im Einvernehmen mit der Bundesregierung benannt werden. Auch dies halten wir für falsch. Dies spricht dafür, dass die Bundesbank stromlinienförmig werden soll. Das birgt die Gefahr, dass als Nächstes die Europäische Zentralbank in ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt wird. Denn gegen den Widerstand vieler anderer europäischer Länder wurde durchgesetzt, die Deutsche Bundesbank als Vorbild für die Unabhängigkeit der EZB zu nehmen. Wenn die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank jetzt eingeschränkt wird, dann kommen bestimmt Wünsche - ich kann mir das gut vorstellen -, dass die EZB doch näher an die Europäische Kommission bzw. an den Ecofin gekoppelt werden sollte. ({7}) Wie die Bundesregierung mit den Maastricht-Kriterien umgeht, haben wir gerade in der Diskussion über den blauen Brief der EU-Kommission erlebt. Da zählt nur noch das Interesse der Bundesregierung, aber nicht die Grundsätze, die damals beschlossen wurden. Deshalb fordern wir als FDP Rot-Grün auf: Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück! Versuchen Sie zu einem vernünftigen Konsensergebnis zu kommen und weichen Sie die Stabilitätskriterien nicht auf! Wir werden dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir hoffen auf Einsicht. Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob es gelingt, zu einer Einsicht zu kommen. Wir werden dies ebenso wie die personellen Vorstellungen im Zuge der Götterdämmerung am Ende der Koalition genau beobachten; denn am 22. September 2002 ist Schluss. - Frau Präsidentin, auch ich mache jetzt Schluss.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das ist sehr löblich.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Richtig. Deshalb sage ich das extra. - Insofern finde ich es gut, wenn Rot-Grün eine Unabhängigkeit zumindest in der Form akzeptiert, dass die neue Bundesregierung personelle Weichenstellungen vornehmen kann, damit nicht der Eindruck erweckt wird, dass sich Rot-Grün lediglich Pfründe sichern will. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Jörg-Otto Spiller für die SPD-Fraktion das Wort.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Thiele, Herr Kollege Bernhardt, man merkt richtig, wie viel Mühe Sie hatten, ({0}) etwas zu finden, was Ihnen erlauben könnte, gegen die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe zu sein. Es war ein krampfhafter Versuch, darüber hinwegzutäuschen, dass Sie im Frühjahr 1998, als die Entscheidung über den Eintritt Deutschlands in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion gefallen war, nicht die Kraft aufgebracht haben, die notwendige Anpassung der Struktur der Deutschen Bundesbank an das neue System der europäischen Zentralbanken zu schaffen. ({1}) Sie haben nichts gemacht. ({2}) Sie haben das absolute Minimum gemacht, was aber keine Strukturveränderung bedeutet hat. Bei der Allfinanzaufsicht ist es genau das Gleiche. Sie verweigern sich den tatsächlichen Entwicklungen am Markt. ({3}) Wir haben viele Beispiele für das Zusammenwachsen von Angeboten aus dem Bereich des Versicherungswesens und des Bankwesens. ({4}) Sie tun so, als gäbe es das alles nicht. In London ist es längst üblich - das gilt nicht erst seit der offiziellen Errichtung dieser Allfinanzaufsicht, sondern in der Praxis schon seit längerer Zeit -, dass die Finanzaufsicht gemeinsam geführt wird, damit sie effizienter wird. Herr Kollege Thiele, Sie haben über Kontroversen gesprochen. Ich will aber doch noch einmal daran erinnern, warum Sie so getan haben, als wäre die Übertragung der geldpolitischen Kompetenzen von den nationalen Notenbanken auf die gemeinsame Europäische Zentralbank kein Grund, die Struktur der nationalen Banken zu verändern. ({5}) - Darauf sind Sie nicht eingegangen. Sie haben gesagt, dass man dies vielleicht tun müsse. Als Herr Waigel noch Minister war, haben Sie nichts dafür vorgesehen. ({6}) - Der Handlungsbedarf bestand spätestens im Frühjahr 1998, eigentlich schon ein Jahr zuvor. ({7}) Sie haben überhaupt nicht wahrnehmen wollen, dass die Deutsche Bundesbank zu Recht eine besondere Struktur hatte, weil sie innerhalb der Europäischen Union die bedeutendste Zentralbank geworden war. Sie war im Bereich der Geldpolitik ein wirkliches Machtzentrum. Sie brauchte eine besondere Struktur, weil Pluralität von Meinungen, Diskussion, Kontrolle und Begrenzung von Macht dieser Funktion entsprachen. All das ist auf die Europäische Zentralbank übergegangen. Ich finde, es ist das schönste Kompliment, das man der Bundesbank machen kann, dass die Europäische Zentralbank nach dem Muster der Deutschen Bundesbank errichtet worden ist. ({8}) Das ist einmal die Konstruktion. Die Grundprinzipien, Unabhängigkeit der Notenbank von Parlamenten und Regierungen, die Verpflichtung auf das vorrangige Ziel der Geldwertstabilität für die Geldpolitik der Notenbank, das Verbot, den Gebietskörperschaften Kredite zu gewähren, sind nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank übernommen worden. Auch der innere Aufbau ist übernommen worden. Das Entscheidungsgremium für die Geldpolitik ist der Rat der Europäischen Zentralbank, der in seiner Grundkonstruktion dem bisherigen Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank entspricht. Das kann man nicht unabhängig von den Funktionen sehen. Es ist geradezu widersinnig, dass man eine einzelne nationale Bank in der Struktur belässt, wie sie der besonderen Situation der Deutschen Bundesbank vor Schaffung des Europäischen Systems der Zentralbanken entsprach. Ich will zum Schluss nur noch ein paar Anmerkungen zu dem machen, was wir in den Beratungen im Ausschuss gegenüber dem ursprünglichen Entwurf der Regierung verändert haben. Wir haben das Verfahren, der Bestellung des Vorstands verändert. Die Hälfte der Mitglieder werden vom Bundesrat vorgeschlagen. Präsident, Vizepräsident und zwei Mitglieder des Vorstandes werden von der Bundesregierung vorgeschlagen. Dieses Verfahren knüpft an das frühere Verfahren der Bestellung des Direktoriums und Landeszentralbankpräsidenten an. Die Pluralität der Meinungen ist gewährleistet. Eines will ich allerdings auch noch sagen: Die Persönlichkeiten, die diese Funktionen übernehmen, werden, gleich wer sie vorschlägt, immer - da bin ich mir ganz sicher; das war in der Vergangenheit so und das wird auch in Zukunft so sein - unabhängig sein. Diese Persönlichkeiten hingen in der Vergangenheit nie am Gängelband. Darauf können wir auch in Zukunft bauen. Sowohl Herr Pöhl als auch Herr Klasen waren Sozialdemokraten. Weder der eine noch der andere war ein bequemer Bundesbankpräsident. Herr Tietmeyer stand Herrn Waigel bestimmt sehr nahe. Dass er aber Herrn Waigel alles hätte durchgehen lassen, beispielsweise seine Goldfingeraktion, wäre gänzlich undenkbar gewesen. ({9}) Auch in Zukunft können Sie darauf bauen - Sie müssen dies auch -, dass die Bundesbank von kantigen, profilierten und unabhängigen Persönlichkeiten geleitet wird. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Rede der Kolle- gin Dr. Höll wurde zu Protokoll gegeben1). - Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank auf den Drucksachen 14/6879, 14/8390 und 14/8413. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- ter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge- genprobe! - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stim- men von CDU/CSU und FDP angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/8392. Wer stimmt für die- sen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die inte- grierte Finanzdienstleistungsaufsicht auf den Druck- sachen 14/7033 und 14/7088. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8389, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- 1) Anlage 6 len, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ge- gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge- genprobe! - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Fi- nanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung über einen Vorschlag für eine Richtlinie über die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines Finanzkonglomerats und zur Änderung bestimmter Richt- linien. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8389, die Un- terrichtung durch die Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Blank, Peter Letzgus, Dirk Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibus- unternehmen erhalten und sichern - Drucksachen 14/4934, 14/8352 - Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Günter Bruckmann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Blank, Wilhelm Josef Sebastian. Dirk Fischer ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten und sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({4}), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wettbewerbsnachteile für deutsches Güterkraftverkersgewerbe beseitigen - Drucksachen 14/4150, 14/4396, 14/8349 Berichterstattung: Abgeordneter Reinhold Strobl ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - So lange wird allerdings nicht geredet. Zunächst reden der Kollege Sebastian und die Kollegin Blank für die CDU/CSUFraktion. Alle anderen Reden wurden zu Protokoll gegeben. Ich eröffne die Aussprache und gebe Herrn Kollegen Sebastian das Wort.

Wilhelm Josef Sebastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass es schon spät ist. Am Freitagnachmittag will man nach Hause, da viele Termine im Wahlkreis warten. Deshalb ist das Haus auch nicht mehr sehr gefüllt. Aufgrund der Bedeutung dieses Punktes wäre er es eigentlich wert, dass man sich seiner sehr viel mehr annimmt. Die Situation des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes in Europa ist nach wie vor schlecht. Seitdem wir im September 2000 unsere Anträge gestellt haben, hat sich so gut wie nichts getan. Es ist nichts geschehen, um die Situation zu verbessern. Im Gegenteil, die Talfahrt einer Branche hat sich ungebremst fortgesetzt. Es ist eine traurige Bilanz, wenn man anderthalb Jahre nach der Antragstellung in der parlamentarischen Aussprache eine solche Feststellung treffen muss. So wie die Regierung Gerhard Schröder im Bereich des Wirtschaftswachstums und der Staatsfinanzen die rote Laterne in Europa übernommen hat und diese Position eisern verteidigt, so steht das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe in Europa als Schlusslicht da. Das ist nicht etwa deshalb der Fall, weil die Unternehmen schlecht wirtschaften, sondern weil die gesetzlichen Rahmenbedingungen so ungünstig sind, dass an Wettbewerbsfähigkeit nicht zu denken ist. Fakt ist, dass die deutschen Spediteure entgegen der oft gehörten Theorie aus dem Regierungslager keine Chance haben, die erhöhten Preise aufgrund der Ökosteuer und zukünftig auch der Maut auf die Kunden umzuwälzen. Der Markt und die europäischen Konkurrenten lassen dies nicht zu. Wir stehen in Europa angesichts von etwa 30 Prozent Überkapazitäten in diesem Bereich in einem Dumping-Wettbewerb, nicht in einem Leistungswettbewerb. Ein Weiteres: Im Zuge der Deregulierung der europäischen Transportmärkte sind die Entgelte für Beförderungsleistungen auf der Straße um 30 bis 40 Prozent gefallen. Während für das Jahr 2015 damit gerechnet wird, dass der Anteil des grenzüberschreitenden Verkehrs den des innerstaatlichen Verkehrs überholen wird - 1990 lag er erst bei 10 bis 15 Prozent des Gesamtmarktes -, sinkt der Anteil deutscher Spediteure an diesem wachsenden grenzüberschreitenden Markt immer mehr. Wenn das kein Alarmzeichen ist, dann weiß ich es nicht. Spediteure aus anderen Ländern der EU genießen deutliche Wettbewerbsvorteile. Vor wenigen Tagen gingen die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City zu Ende. Am vorletzten Tag hat Deutschland im Viererbob eine Goldmedaille gewonnen. Es wäre ein Aufschrei durch die Bevölkerung gegangen, wenn andere Bobs mit einem Vorsprung hätten starten dürfen. Im LKW-Gewerbe ist es so, dass alle anderen europäischen Partner erhebliche Vorteile haben. Deshalb kann unser Gewerbe dort einfach nicht mithalten. Wenn Wettbewerbsbedingungen herrschen, müssen die RahVizepräsidentin Anke Fuchs menbedingungen die gleichen sein. Der Ruf nach dem Staat ist nicht immer der richtige, aber in diesem Falle sind die negativen Rahmenbedingungen in Deutschland weit überwiegend fiskalisch verursacht und können nur durch eine Korrektur der Politik geändert werden. Der Blick auf die Belastungen des deutschen Gewerbes macht dies sehr deutlich: Bei der Kraftfahrzeugsteuer kostet der deutsche 40-Tonner bei einem Euro-IIFahrzeug 2 979 DM, in den Niederlanden kostet das gleiche Fahrzeug 1100 DM, in Belgien 1 400 DM und in Frankreich 1 900 DM weniger. Beim Dieselkraftstoff wird das noch viel deutlicher, weil er den Hauptteil der Lasten darstellt. In Deutschland beträgt der Anteil der Mineralölsteuer pro Liter Dieselkraftstoff 80 Pfennig, in den Niederlanden nur 58 Pfennig, in Belgien 57 Pfennig und in Frankreich 64 Pfennig. Das ist der Stand von Mitte 2001, das heißt ohne die Erhöhung der Ökosteuer zum 1. Januar 2002, die noch dazukommt. Es ergeben sich immer mehr Belastungen für unser Gewerbe. Ich habe das bereits bei mehreren Debatten angemahnt. Die Fakten sind klar. Es wird nichts besser, sondern schlechter. Die Verantwortung dafür trägt die Regierungskoalition. Gerade das Drehen an der Ökosteuerschraube bringt das deutsche Gewerbe in immer größere Bedrängnis. Allein die Mehrbelastung in Höhe der von mir eben genannten 7 500 Euro bedeutet ein Mehrfaches der Gewinnerwartung im grenzüberschreitenden Verkehr. Es ist wirklich fünf vor zwölf. Die Entwicklung der Insolvenzen im Transportgewerbe zeigt klar, dass die Ökosteuer die Unternehmen massiv in die Pleite treibt. Bereits im Jahr 2000, als wir unseren Antrag formulierten, stieg die Zahl der Insolvenzen um 29 Prozent an. Im letzten Jahr stieg sie nochmals um 20 Prozent. Es stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Man schätzt, dass durch die ungleichen Wettbewerbsbedingungen in etwa 75 000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Wir wissen, wie viel Mühe es macht, um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen. Hier wird eine völlig falsche Verkehrspolitik betrieben. Meine Damen und Herren, wenn hier nichts geschieht, sehe ich wirklich schwarz für unser Güterkraftverkehrsgewerbe. Ich will abschließend und zusammenfassend noch einmal sagen: Wohl selten wurde aus ideologischen Gründen ein Wirtschaftszweig durch eine Bundesregierung so drangsaliert wie das Güterkraftverkehrsgewerbe. Ich wage sogar zu sagen: Das ist einzigartig. Dabei geht es noch nicht einmal um Subventionen oder andere staatliche Hilfen; es geht nur darum, in Deutschland und in einem gemeinsamen europäischen Markt einen gerechten ordnungspolitischen Rahmen herzustellen. Dieser Bundesregierung fehlen dazu jedoch die Kraft, der Wille und die Konzeption. Vielen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Welche Bedeutung das Güterkraftverkehrsgewerbe und das Omnibusgewerbe bei Rot-Grün haben, zeigt sich darin, dass die Reden zu Protokoll gegeben wurden. ({0}) - Sie können ruhig protestieren, aber daran erkennt man die Bedeutung, die Sie diesem Thema beimessen. Die Zuhörer auf der Tribüne wissen: Wenn es die beiden Verkehrsträger Güterkraftverkehrsgewerbe und Omnibusgewerbe nicht gäbe, hätten sie keine Waren zum Essen und auch der Tourismus wäre stark eingeschränkt. Meine Damen und Herren, der Kollege Sebastian hat zum Güterkraftverkehrsgewerbe gesprochen; ich werde mich auf unseren Antrag zu den Omnibusunternehmen beschränken. Obwohl unser Antrag schon im Dezember 2000 entworfen wurde, also über ein Jahr alt ist, hat er nach wie vor Gültigkeit; denn die Bundesregierung hat bisher nicht im Interesse des deutschen Omnibusgewerbes gehandelt. Sie ist untätig geblieben. Es ist doch Allgemeingut, dass der Bus das Rückgrat im öffentlichen Personennahverkehr ist. Zwei Drittel aller Fahrgäste im ÖPNV sind auf den Bus angewiesen. Der Bus sichert im ÖPNV und in der Touristik weit über einer Million Menschen direkt und indirekt ihre Arbeitsplätze. Die drastischen Preissteigerungen bei den Kraftstoffen haben zu erheblichen Belastungen der deutschen Tourismuswirtschaft und damit verbunden zu einer Schwächung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit geführt. Auch der halbe Ökosteuersatz im ÖPNV hat Verteuerungen für die Verbraucher gebracht. In unserem Antrag fordern wir, keine weiteren zusätzlichen steuerlichen oder sonstigen finanziellen Belastungen für den umweltfreundlichen Bus einzuführen. Sie haben den Bus für die Nutzer verteuert. Meine Damen und Herren, dass die mittelständischen privaten deutschen Omnibusunternehmen der geplanten EU-Osterweiterung außerordentlich skeptisch entgegen sehen, ist bekannt. Insbesondere die in den Grenzregionen zu den Beitrittsstaaten tätigen Betriebe befürchten existenzbedrohende Nachteile. Wir nehmen diese Sorgen sehr ernst und weisen darauf hin, dass bislang weder in den bilateralen Verträgen noch in den Beitrittsverhandlungen eindeutige Lösungen zur Beseitigung der Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen nach dem Beitritt vorgesehen sind. Das Lohn- und Sozialkostengefälle sowie die geringere Steuerbelastung der DrittstaatenKonkurrenz schwächen die Wettbewerbsposition der deutschen Unternehmen entscheidend, von den unterschiedlichen technischen Standards und den damit verbundenen Belastungen für Verkehrssicherheit und Umwelt ganz zu schweigen. Wenn schon der Verkehrsminister erkennt, wie er im Jahr 2001 ausgeführt hat, dass der Bus der zweitwichtigste Verkehrsträger ist, und er auf die Schwierigkeiten bei der EU-Osterweiterung und der EU-ÖPNV-Verordnung hinweist, dann ist Handeln auf europäischer Ebene angeWilhelm Josef Sebastian sagt und nicht nur Reden. Nach unserer Auffassung ist die ÖPNV-Verordnung der EU so zu fassen, dass die zuständige Behörde unabhängig von den Interessen eines Verkehrsunternehmens agieren und einen fairen Wettbewerb garantieren kann. Bei der Bustouristik stößt der von der EU-Kommission vorgelegte Entwurf einer Verordnung zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr auf Ablehnung, da die neuen Sozialvorschriften für Änderungen der Arbeits- und Ruhezeiten völlig praxisfremd sind, weil sie die Notwendigkeiten bei der Durchführung von Omnibusreisen und -ausflügen ignorieren. Sie gehen von der falschen Annahme aus, eine Neuregelung entsprechend den Bestimmungen für Produktionsbetriebe bringe der Busbranche Erleichterungen und Verbesserungen. Mir scheint, die EU-Kommission vergleicht hier Äpfel mit Birnen. Im Übrigen fordert das Gewerbe deutlich flexiblere Vorschriften. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die seit mehr als 20 Jahren in der EU bestehenden Vorschriften nicht gerade einfach zu handhaben sind. Unternehmer, Fahrer und Reisegäste haben sich aber im Laufe der Zeit darauf eingestellt und sind bisher zurechtgekommen. Schwarze Schafe gibt es überall. Das kann und darf aber nicht dazu führen, dass Verordnungen vorgelegt werden, die nicht mehr kundenorientiert und praxisgerecht umgesetzt werden können. Meine Damen und Herren, die Existenz unserer mittelständischen Busunternehmen muss gegenüber dem Verdrängungswettbewerb durch Großunternehmen im europäischen Verkehrsgewerbe wirksam sichergestellt werden. Es nützt den Unternehmen nichts, wenn sich auf der einen Seite die Beförderungsleistung erhöht und sogar die Einnahmen zunehmen, aber auf der anderen Seite die Ausgaben massiv steigen. Die Betriebsergebnisse verschlechtern sich aufgrund der exorbitant gestiegenen Kraftstoffpreise, aber auch aufgrund der Personalkosten und der gesamten Fahrzeugkosten. Viele Unternehmen - nicht nur die kleinen - sind infolge dieser Entwicklung in die Insolvenz geraten, von den kleinen Betrieben, die über weniger als sechs Fahrzeuge verfügen und von keiner Statistik erfasst werden, ganz zu schweigen. ({1}) Gerade die Kleinunternehmer sind es, die häufig in den wenig ertragsgesicherten ländlichen Regionen den Verkehr garantieren und Anmietaufträge im ÖPNV bedienen. Insbesondere die Busgesellschaften der Deutschen Bahn AG sind nicht bereit, die gestiegenen Kosten ihrer Subunternehmer auszugleichen, ({2}) sondern sie setzen die Betriebe unter Druck, um eine erhebliche Absenkung der Anmietsätze durchzusetzen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, stimmen Sie unserem Antrag zu! Dann können die Rahmenbedingungen für das Busgewerbe verbessert werden. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Kollegen Hans- Günter Bruckmann, Reinhold Strobl, Albert Schmidt, Horst Friedrich und Dr. Winfried Wolf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) ({0}) - Herr Koppelin, wozu melden Sie sich? ({1}) - Sie haben das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte sehr.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben eine Bemerkung gemacht, die ich so nicht stehen lassen möchte. Sie haben kritisiert, dass einige Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben. Ich meine, man sollte ihnen nicht unterstellen, dass sie kein Interesse an diesem Thema gehabt haben. Wenn Ihr Vorredner seine Rede hält und dann geht, ist auch das meiner Meinung nach kein besonders guter Stil. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen auf Drucksache 14/8352 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wettbewerbs- fähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen erhalten und sichern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4934 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen auf Drucksache 14/8349. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4150 mit dem Titel „Wettbewerbsfähig- keit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten 1) Anlage 7 und sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FDP-Fraktion auf Drucksache 14/4396 mit dem Titel „Wettbewerbs- nachteile für deutsches Güterkraftverkehrsgewerbe beseitigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 25 a und b so- wie Zusatzpunkt 9 auf: 25 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Peter Eckardt, Jörg Tauss, Klaus Barthel ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Christian Simmert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({1}) - Drucksache 14/8361 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Pia Maier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({3}) - Drucksache 14/8295 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP. Ein neues Hochschuldienstrecht für eine moderne, leistungsfähige und attraktive Bildung und Forschung in Deutschland - Drucksache 14/7077 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Wir brauchen sie aber nicht, weil Dr. Peter Eckardt, Thomas Rachel, Dr. Reinhard Loske, Ulrike Flach und Bundesministerin Bulmahn ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.1) Ich erteile der Kollegin Maritta Böttcher für die PDSFraktion das Wort.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die beharrliche parlamentarische Oppositionsarbeit der PDS und die außerparlamentarischen studentischen Proteste haben bewirkt, dass die Koalition überhaupt noch in dieser Wahlperiode einen Entwurf für eine weitere HRG-Novelle auf den Weg gebracht hat. Dem Parlament liegen zwei Gesetzentwürfe vor: Neben dem Entwurf der Koalitionsfraktionen beraten wir heute auch einen Alternativentwurf der PDS; denn das Vorhaben der Bundesregierung lässt noch viel zu wünschen übrig. Ich freue mich, dass sich Frau Bulmahn endlich der Forderung nach einem gesetzlichen Ausschluss von Studiengebühren angeschlossen hat. Aber wie immer steckt auch hier der Teufel im Detail. Wenn Sie im Hochschulrahmengesetz Gebühren für das Erststudium ausschließen, gleichzeitig aber unbestimmte Ausnahmen von diesem Grundsatz zulassen, dann ist das ein infamer Etikettenschwindel. Glauben Sie nicht, dass die Studierenden auf einen derart plumpen Trick hereinfallen; denn sie haben längst begriffen, dass Rot-Grün nicht mehr die Langzeitstudiengebühren in Baden-Württemberg abschaffen will, sondern ihre Einführung in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen absichern möchte. ({0}) Es kommt noch schlimmer: Der Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs lässt sogar Studiengebühren ab dem ersten Semester zu. Damit fallen Sie weit hinter den einstimmigen Beschluss der Kultusministerkonferenz vom Mai 2000 zurück. Außerdem ist Ihre Politik ein Schlag ins Gesicht Ihrer eigenen Basis, die sich auf dem letzten Parteitag ausdrücklich für die uneingeschränkte Sicherung der Gebührenfreiheit ausgesprochen hat. ({1}) Wenn Sie schon in Ihrer eigenen Partei keine Mehrheit für Ihr Gesetz haben, wie wollen Sie es dann hier im Parlament durchbringen? Gehen Sie lieber auf Nummer sicher und halten Sie sich an den Alternativentwurf der PDS. Wir bleiben bei unserer klaren Forderung nach Studiengebührenfreiheit ohne Wenn und Aber. ({2}) Neben den berechtigten studentischen Anliegen greifen wir mit unserem Gesetzentwurf ein Problem auf, das derzeit insbesondere den wissenschaftlichen Nachwuchs massiv verunsichert. Nach der soeben in Kraft getretenen 5. HRG- Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Anlage 8 Novelle dürfen wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Hochschulen und Forschungseinrichtungen maximal zwölf Jahre befristet beschäftigt werden. Die PDS unterstützt grundsätzlich das Ziel, die ausufernde Praxis der Befristung von Arbeitsverträgen in Hochschule und Forschung einzudämmen. Wer die Kontinuität und Qualität von Forschung und Lehre sichern möchte, muss auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ohne Lehrstuhl angemessene Arbeitsbedingungen bieten. ({3}) In dieser Frage sind auch die Hochschulen zum Umdenken aufgefordert. Es war ein Fehler, dass die Bundesregierung keine Übergangsregelungen für das neue Befristungsrecht vorgesehen hat. Bei der Reform der Professorenbesoldung haben Sie auf eine lebenslange Besitzstandswahrung für vorhandene Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer geachtet. Warum müssen sich dann aber Nachwuchs und Mittelbau über Nacht einer neuen Rechtslage beugen? Was für Professoren gilt, muss erst recht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gelten. ({4}) Grundsätzlich ist die PDS der Auffassung, dass der Staat mit der einseitigen Regulierung der Beschäftigungsbedingungen des wissenschaftlichen Personals überfordert ist. Deshalb fordern wir eine Aufhebung der bisher im HRG enthaltenen Tarifsperre. Wenn an einer Stelle die Forderung nach einem Rückzug des Staates Berechtigung hat, dann hier. Ich traue der Ministerialbürokratie zwar vieles zu; aber eines können die Tarifpartner wirklich besser: ein Befristungsrecht ausarbeiten, das den Interessen der Betroffenen und den Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs gleichermaßen gerecht wird. Sie haben durch die Vorlage unseres Alternativentwurfs die Chance, das immer noch zu korrigieren. Ich fordere Sie zu einem Dialog auf, damit es zu einer Änderung des HRG kommt, die den Betroffenen gerecht wird. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/8295 und 14/7077 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/8361 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der PDS Bekämpfung der Steuerkriminalität durch kontinuierliche und bundeseinheitliche Be- triebsprüfung - Drucksachen 14/1192, 14/7704 - Berichterstattung: Abgeordnete Heidemarie Ehlert Auch hier war eine Redezeit von einer halben Stunde ver- einbart. Die Kolleginnen Lydia Westrich, Elke Wülfing, Christine Scheel und der Kollege Carl-Ludwig Thiele haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Sprechen will noch Heidemarie Ehlert für die PDS, der ich jetzt das Wort erteile.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Beginn dieser Legislaturperiode wird vom Sparen geredet. Nach der Ankündigung des blauen Briefes der EU-Kommission muss noch mehr gespart werden und bei Herrn Eichel angefangen überlegen nun alle, wo wir denn noch mehr und noch besser sparen können. Aber über die Möglichkeiten, zu Geld zu kommen, wird nur am Rande geredet. Meist ist dann von Steuererhöhungen die Rede, die sehr schnell wieder dementiert werden. Überlegungen dahin gehend, wie die vorhandenen gesetzlichen Regelungen so umgesetzt werden können, dass die Steuereinnahmen des Staates nicht ständig weiter sinken, werden nicht angestellt. Wir hatten bereits 1999 einen Vorschlag der heutigen Regierungskoalition von 1996 aufgegriffen. Im Aktionsprogramm gegen Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung der Fraktion der SPD stand unter anderem die Forderung nach einem einheitlichen Vorgehen der Steuerbehörden bei Betriebsprüfungen und Steuerfahndungen, um insbesondere zu einer gleichmäßig höheren Kontrolldichte zu kommen. Uns geht es - das sage ich zu Ihrer Erinnerung - vor allem um eine zeitnähere steuerliche Prüfung der Betriebe. ({0}) Grundvoraussetzung dafür ist, die Zahl der Betriebsprüfer und der Steuerfahnder aufzustocken. ({1}) Da dies in erster Linie Ländersache ist, sollte nach unseren Vorstellungen im ersten Jahr die Hälfte der durch verstärkte Steuerprüfungen bewirkten Mehreinnahmen den Ländern überlassen werden, damit Neueinstellungen bewirkt werden können. ({2}) Die Ergebnisse der Betriebsprüfungen zeigen, dass es sich nach wie vor lohnen würde, diesen Antrag umzusetzen. ({3}) Allein im Jahr 2000 haben Betriebsprüfer dem Fiskus bundesweit 27,4 Milliarden DM beschert. Sie haben knapp 225 000 Betriebe geprüft. Die rund 11 000 Prüfer haben im Schnitt ein Mehrergebnis von 2,74 Millionen DM erbracht. In Schleswig-Holstein haben die Betriebsprüfer im Jahr 2000 Mehrsteuern in Höhe von 587 Millionen DM ermittelt; das sind 106 Millionen DM mehr als 1999. ({4}) 1) Anlage 9 Dabei wurden 211 gewerbliche und 55 land- und forstwirtschaftliche Betriebe weniger als im Vorjahr geprüft. In Sachsen ist eine ähnlich positive Entwicklung zu verzeichnen. Es gab Gesamteinnahmen von rund 469 Millionen DM; im Vorjahr waren es 295 Millionen DM - und das bei nur acht Prüfern mehr. Selbst im krisengeschüttelten Berlin erbrachte jeder der 690 Betriebsprüfer im Jahr 2000 ein Mehrergebnis von rund 1 Million DM. Dabei prüften sie nur 23,7 Prozent der Großbetriebe, 10,4 Prozent der Mittelbetriebe und 3,5 Prozent der Kleinbetriebe. Von den Kleinstbetrieben will ich hier gar nicht reden. Die Mehreinnahmen stammen vorrangig von Großbetrieben. Der Prüfungsturnus ist aber nicht kürzer geworden, sondern liegt bei den Großbetrieben immer noch im Schnitt bei 4,3 Jahren; bei Klein- und Mittelbetrieben liegt er zwischen zehn und 25 Jahren. Manche kleinen und mittelständischen Betriebe sind schon in Konkurs gegangen, ohne dass sie je mit einem Prüfer zu tun hatten. Bei diesen Zahlen müsste es eigentlich logisch sein, dass die Anzahl der Betriebsprüfer endlich aufgestockt wird, und zwar real und nicht durch Verschiebungen in den Finanzverwaltungen. Dies führt nämlich zu einer enormen Mehrbelastung der dort Beschäftigten. Außer den Betriebsprüfungen wurde ihnen in den vergangenen Jahren noch manches andere überantwortet. Ich erinnere hier nur an die Bauabzugsteuer und die Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs. Letzteres ist gegenwärtig der Schwerpunkt bei den Finanzämtern, zumindest dort, wo ich beschäftigt war, im Finanzamt Halle Nord. In einigen Ländern wurde inzwischen mit einer vorsichtigen Aufstockung der Anzahl der Betriebsprüfer begonnen. So sind in Bayern 28 und in Nordrhein-Westfalen 30 neue Stellen entstanden. Die finanzpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von NRW sagte in diesem Zusammenhang im November 2001: Immer wieder haben die Grünen mehr Betriebsprüfer gefordert; jetzt wird es sie geben. Endlich unterscheiden wir zwischen einnahmen- und ausgabenorientierten Stellen. Dies ist ein unverzichtbarer Schritt zu mehr Steuergerechtigkeit und ein wichtiger Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. Der Einsatz von zusätzlichen Betriebsprüfern lohnt sich für die Länder und für den Bund, ({5}) zumal diese - hier zitiere ich den SPD-Politiker Günter Neugebauer, der finanzpolitischer Sprecher der SPDLandtagsfraktion in Schleswig-Holstein ist - „ihre Besoldung allemal selbst“ verdienen. Ich sage es noch einmal: Sparen ist gut und richtig, aber dort, wo es angebracht ist. Sparen an der falschen Stelle wird letztlich teurer. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/7704 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Bekämpfung der Steuerkriminalität durch kontinuierliche und bundeseinheitliche Betriebsprüfung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1192 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen allen, dass Sie ausgeharrt haben. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. März 2002, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.