Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als Berichterstatter bitte vorab und,
wie ich hoffe, ohne Anrechnung auf die Redezeit drei
kurze technische Bemerkungen machen:
({0})
Erstens. Wir alle hatten sicherlich besonderen Anforderungen bei der zeitlichen Abarbeitung der gestellten
Änderungsanträge zu genügen. Soweit damit Zumutungen für viele von uns verbunden waren, bitten wir - die
Koalitionsfraktionen schließe ich damit ein - um Verständnis.
Zweitens. Das Gleiche gilt auch für die geringfügige
Verspätung bei der Zuleitung der geänderten Vorlage und
des Berichtes. Wir alle wissen und erfahren es immer wieder: Dort, wo Menschen arbeiten, werden auch Fehler gemacht. Auch die EDV verhindert das gelegentlich nicht.
Präsident Wolfgang Thierse
Drittens. Wir haben ein paar kleinere Übertragungsfehler im Bericht, nicht im Beschluss, die ich jetzt zu Protokoll gebe, um das gleich zu Beginn zu klären.
Bei aller Bitte um Verständnis für kleinere Fehler,
({1})
darf ich Ihnen aber auch sagen, dass wir uns darüber
freuen und dankbar anerkennen, wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien, im Sekretariat des
Innenausschusses und in den Fraktionen an dem Projekt
mitgearbeitet haben.
({2})
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass wir heute
eine bedeutungsvolle Debatte führen und mit einer für die
Geschichte unseres Landes wichtigen Entscheidung den
Tagesordnungspunkt abschließen werden.
({3})
Wir stehen also in diesem Sinne des Begriffes historisch
an einer Weichenstellung:
Zum einen wurde das gestern deutlich, als uns der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, mit
anerkennenden Worten zu unserer nach der Wiedervereinigung noch einmal gewandelten Rolle in der internationalen Völkergemeinschaft bedacht hat. Unser aller Kurzzeitgedächtnis sollte es vielleicht hergeben, sich daran zu
erinnern, dass alle Abgeordneten dieses Hauses ihm dafür
stehend mit Beifall gedankt haben.
({4})
Ich würde mir auch heute diese weltoffene und auf die Zukunft gerichtete Betrachtungsweise wünschen, nicht dagegen eine rückwärts gewandte Diskussion auf Bierzeltoder Stammtischniveau zu vorgerückter Stunde.
({5})
Historisch kann man diesen Tag, meine Damen und
Herren, zum anderen aber auch deshalb nennen, weil wir
das zweite große und wichtige innenpolitische Reformprojekt dieser Bundesregierung und der sie tragenden
Mehrheitsfraktionen jedenfalls hier im Bundestag vollenden wollen und werden.
Erstens. Ein von Grundsätzen polizeilicher Gefahrenabwehr bestimmtes Ausländerrecht nach der von manchem spitzzüngigen Kritiker aufgestellten Maxime: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar, alles andere regelt
das - alte - Ausländergesetz“ wird durch ein Aufenthaltsrecht ersetzt, das sich an den Aufenthaltszwecken und den
Bedürfnissen der Menschen orientiert.
({6})
Zweitens. Nach jahrzehntelangen Unterlassungen haben wir nunmehr ein Jahrzehnt der Integration für die
ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unter
uns leben und dieses Angebot brauchen, sowie für diejenigen, die zu uns kommen sollen, geplant.
Drittens. Im Interesse unserer Wirtschaft und unserer
Sozialversicherungssysteme wollen wir Arbeitsmigration organisieren und so steuern, dass sie entgegen mancher dumpfen Ängste, die bewusst geschürt werden, nicht
einheimische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom
Arbeitsmarkt verdrängt, sondern dass sie einen Beitrag
für zusätzliche Arbeitsplätze und unser aller Wohlstand
und Wohlfahrt leistet.
({7})
Viertens. Ohne dass es deswegen einen einzigen
Flüchtling in Deutschland mehr geben wird, werden wir
diejenigen, die wir als Verfolgte aus humanitären Gründen aufnehmen wollen und die bei uns bleiben müssen,
mit einem Rechtsstatus versehen, der ihnen eine dauerhafte Perspektive und die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes durch eigene Arbeit ermöglicht. Dadurch werden
die Sozialkassen gerade nicht zusätzlich belastet, wie es
einige Politiker der CDU/CSU den Bürgerinnen und Bürgern weismachen wollen.
Auch wenn die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion das nicht hören wollen und man sie
vermutlich auch argumentativ nicht erreichen kann - wovon ich ausdrücklich Frau Kollegin Professor Süssmuth
und die Kollegen Heiner Geißler und Christian SchwarzSchilling ausnehmen möchte -, will ich Sie gerne einmal
daran erinnern: War es vor ein paar Monaten nicht noch
befreiend, befreiend für uns alle wie auch für das gesellschaftliche Klima in diesem Land, als Sie im Windschatten der Süssmuth-Kommission alte, verstaubte, teilweise
verknöcherte Dogmen zu Grabe getragen haben?
({8})
Waren wir uns nicht alle - nicht nur die politischen Parteien in diesem Land - einig, dass Deutschland ein
Zuwanderungsland ist, dass es also nicht darum gehen
kann, ob Zuwanderung stattfindet, sondern wie wir Zuwanderung gestalten? Ihr Kanzlerkandidat Edmund
Stoiber hat dagegen die Rolle rückwärts vollendet, indem
er laut heutiger Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“
plötzlich wieder ernsthaft bestritten hat, dass Deutschland
ein Einwanderungsland sei.
Wir sind Ihnen, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, in dieser Debatte und in diesem Gesetzgebungsverfahren schon weit und immer wieder entgegengekommen. Das gilt für den ursprünglichen Gesetzentwurf von Bundesminister Otto Schily genauso wie für den
Entwurf der Fraktionen.
({9})
- Ich freue mich genauso wie Sie darüber, dass der Bundesinnenminister eingetroffen ist. Wir begrüßen ihn herzlich. So habe ich Ihre Reaktion verstanden.
({10})
Wir haben - ich bitte, das besonders zu beachten - 16 der
von Ihnen insgesamt gestellten 91 Änderungsanträge in
unseren Änderungsantrag übernommen.
({11})
- Das ist nicht unglaublich; das ist so, Herr Kollege Merz.
Das können Sie nachlesen. Oder Sie können sich bei den
Kollegen aus dem Innenausschuss sachkundig machen.
Wir haben dem Bundesrat in elf seiner Bedingungen
zugestimmt. Wir haben uns in allen Punkten, die von der
Landesregierung von Brandenburg vorgebracht wurden,
auf diese zubewegt. Aber das alles hilft offenbar nichts.
Wir könnten Ihnen, ohne ein einziges Wort daran zu ändern, das Konzept der CDU-Zuwanderungskommission
unter dem saarländischen Ministerpräsidenten Müller mit
dem Briefkopf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorlegen, und Sie würden dazu wahrscheinlich Nein sagen,
bevor Sie es gelesen haben.
({12})
- Gerade Sie, Herr Glos, haben es fertig bekommen, den
Gesetzentwurf und die Änderungsanträge von Rot-Grün
hierzu als „Mogelpackung“ zu bezeichnen, und das zu einem Zeitpunkt, als Sie die Änderungsanträge noch gar
nicht kennen konnten.
({13})
Ihre völlig gewandelte Haltung ist in der Sache durch
nichts, aber auch gar nichts begründet, sondern ausschließlich der Tatsache zu verdanken, dass Ihr nunmehr
gefundener Kanzlerkandidat Ihnen allen „Rechts schwenkt,
marsch!“ befohlen hat. Es ficht ihn und womöglich auch
Sie nicht an, wenn der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun,
davor gewarnt hat, das Gesetz an wahltaktischen Überlegungen scheitern zu lassen. Ähnlich haben sich heute
der BDI-Präsident Rogowski geäußert, der Vorsitzende
der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann,
und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in
Deutschland, Präses Manfred Kock. Der Berliner Kardinal Georg Sterzinsky hat die von Ihnen verlangten Änderungen an dem Gesetz sogar als eine Schande bezeichnet
und uns, ebenso wie der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, schon kräftig dafür kritisiert, dass wir etwa bei der Frage des Kindernachzugsalters ein Stück auf Sie zugegangen sind und uns auf eine
Altersgrenze von 12 Jahren verständigt haben.
Es ist uns außerordentlich schwer gefallen, das Gesetz
an dieser Stelle im Bundesrat zustimmungsfähig zu machen; denn es gibt in der SPD - das wurde im letzten Jahr
zweimal ganz klar so beschlossen - die Auffassung, dass
das Kindernachzugsalter einheitlich 18 Jahre betragen
müsse. Das entspricht unserem Familienbild. Wenn wir
nun bei einer Altersgrenze von zwölf Jahren für Kinder
vom zwölften bis zum 18. Lebensjahr Ausnahmen aus
Gründen des Kindeswohls und besonderer familiärer Umstände zulassen wollen, dann erwarten wir eigentlich von
allen Familienpolitikern - auch denen von der CDU/CSU;
denn Sie halten die Familienpolitik doch sonst immer besonders hoch - ein ausdrückliches Lob dafür.
({14})
Wie wahltaktisch Ihre Position motiviert ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es sich nun wirklich nicht
um Massen von allein zu ausländischen Familien nachreisenden Kindern handeln kann, sondern vielleicht und gerade einmal um einige Hundert bis maximal 2 000 pro
Jahr und Jahrgang.
({15})
Sie müssen der staunenden Öffentlichkeit einmal erklären, warum Sie einerseits die aufgrund Ihrer schlechten
Familienpolitik zurückgegangene Geburtenrate beklagen, andererseits aber vor ein paar Hundert Kindern panische Angst zu haben scheinen.
({16})
Das alles passt nicht zusammen. Sie haben sich damit,
wie dargelegt, nicht nur hier im Deutschen Bundestag,
sondern auch in der Gesellschaft von den Positionen der
Arbeitgeber, der Gewerkschaften, der Kirchen und der
Wohlfahrtsorganisationen isoliert, was Herrn Stoiber
überhaupt nicht interessiert, wie er uns heute hat wissen
lassen.
Meine fleißigen Mitarbeiter haben angesichts der Bedeutung des heutigen Tages - sozusagen als Serviceleistung, vielleicht besonders für die CDU/CSU - einmal
nachgeschaut, welche Tageslosung die Evangelische Kirche Deutschlands für den heutigen Tag ausgibt. Sie entstammt Psalm 25, Vers 16: „Wende dich zu mir und sei
mir gnädig, denn ich bin einsam und elend.“ Das wird für
Sie künftig ein Stoßgebot oder auch eine schmerzhafte
Selbsterkenntnis sein.
({17})
Ihr Kollege Heiner Geißler hat dies bereits erkannt und
in einem dpa-Interwiev gestern unter anderem geäußert:
Es ist eine Illusion, die in meiner Fraktion gepflegt
wird, dass die Union nach einem Wahlsieg am
22. September ihr Zuwanderungskonzept wird
durchsetzen können.
Er warnte davor, das Ausländerthema zum Gegenstand
des Wahlkampfs werden zu lassen. Eine solche Auseinandersetzung, so Heiner Geißler, wäre Wasser auf die
Mühlen der Rechtsradikalen. Die Union werde sich noch
mit Wehmut an den Gesetzentwurf der rot-grünen Koalition erinnern.
Recht hat der Mann.
({18})
Sie, die anderen Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU-Fraktion, sollten sich bis zur Abstimmung
noch einmal überlegen, ob Sie sich wider bessere eigene
Überzeugung zu Befehlsempfängern eines Kandidaten
aus Bayern degradieren lassen.
Vielen Dank.
({19})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn es richtig ist, dass dies ein großes, vielleicht sogar
das größte Reformwerk der rot-grünen Koalition in dieser
Legislaturperiode ist, dann stelle ich mir die Frage,
warum der Bundesinnenminister zu spät kommt - gut, das
kann passieren -, und vor allem, warum der Herr Bundeskanzler, der uns gestern Abend noch von München aus
kritisiert hat, heute Morgen nicht auf der Regierungsbank
sitzt, wenn es um dieses große Reformwerk geht.
({1})
- Sie fangen schon an, Zwischenrufe zu machen, bevor
ich hier den ersten Satz gesprochen habe. Auch das hat bei
Ihnen Methode.
({2})
Ich will einen zweiten Sachverhalt beschreiben, der
auffallend ist. In den letzten Tagen wurde immer gesagt,
die rot-grüne Koalition sei uns mit ihrem Gesetzentwurf
in den wesentlichen Dingen entgegengekommen;
({3})
es sei sozusagen überhaupt nicht mehr möglich, dass wir
ihn ablehnten. Dann stelle ich doch einmal die Gegenfrage: Warum ist es das dritte Reformwerk dieser rot-grünen Koalition, bei dem nicht mit uns gesprochen wird,
({4})
bei dem der Herr Bundeskanzler aber zum dritten Mal die
Minister aus den PDS-regierten Ländern im Kanzleramt
empfängt, um über dieses Thema zu sprechen?
({5})
Dieser Sachverhalt ist doch nicht ohne Bedeutung. Der
Herr Bundeskanzler behauptet ständig, die Koalitionen
von SPD und PDS in den Ländern seien eine Sache der
betreffenden Länder. In Wahrheit haben die PDS-Minister
schon längst - so war es auch in dieser Woche wieder
nachzulesen - an seinem Kabinettstisch Platz genommen.
Diese Minister sind dabei, wenn es darum geht, rot-grüne
Gesetze zu machen. Auch über diesen Tatbestand muss
man reden.
({6})
Herr Kollege Veit, Sie haben - ich rechne damit, dass
dies heute im Laufe des Tages noch mehrfach passiert;
wahrscheinlich werden dies alle Redner der Koalition
tun - die Kollegen Geißler, Süssmuth und SchwarzSchilling in den Zeugenstand gerufen.
({7})
Ich will Ihnen dazu sagen, dass uns nicht gefällt und ich
mir gewünscht hätte, dass diesen Kollegen eine Ablehnung oder zumindest eine Enthaltung heute möglich gewesen wäre. Ich bedauere, dass sie sich so entscheiden.
({8})
Ich respektiere ihre Haltung trotzdem. Sie werden Ihrem
Gesetzentwurf zustimmen, ohne dass es Repressionen in
unserer Fraktion gegen sie gibt.
({9})
Herr Kollege Veit, ich habe noch sehr gut in Erinnerung, dass Sie am 16. November des letzten Jahres zu den
Abgeordneten im Deutschen Bundestag gehörten, die anlässlich der Vertrauensfrage hier gesagt haben, sie hätten sich von der eigenen Bundesregierung erpresst gefühlt.
({10})
Aus Ihrer Fraktion hat es rund 30 Abgeordnete gegeben,
die erklärt haben, sie hätten bei der Vertrauensfrage des
Bundeskanzlers nur zugestimmt, damit die Koalition an
der Macht bleibe; in der Sache seien sie aber anderer Auffassung gewesen. Ich will Ihnen einmal sagen: Das unterscheidet uns von Ihnen.
({11})
Jetzt einige Anmerkungen zum Verfahren in dieser Woche. Es hat eine zweistündige Diskussion über 140 Änderungsanträge im Innenausschuss des Bundestages gegeben. Dann haben Sie mithilfe der Geschäftsordnung ein
Ende der Debatte herbeigeführt und haben alle unsere Änderungsanträge abgelehnt und Ihre eigenen durchgezogen. Sie sind noch nicht einmal in der Lage gewesen, die
Fristen einzuhalten, die für die ordnungsgemäße Beratung
eingehalten werden müssen.
({12})
Dieses Gesetz ist konzeptionell und handwerklich mangelhaft und verdient keine Zustimmung.
({13})
Ich will unsere Ablehnung auch in der Sache begründen. Wenn Sie uns gesagt hätten, wir wollen eine Beschleunigung der Asylverfahren erreichen, dann hätten
wir zugestimmt. Wenn Sie uns gesagt hätten, dass es darum geht, verfolgten Frauen einen besseren Status zu geben - es gibt beispielsweise in Berlin Einrichtungen, in
denen diese Frauen betreut werden -, die in ihren Herkunftsländern - zum Beispiel in Bosnien, auf dem Balkan
oder anderswo - auf schlimme Weise verletzt und vergewaltigt worden sind, dann hätten Sie bei uns Zustimmung
gefunden.
({14})
- Ich weiß, Herr Bundesinnenminister, dass Ihnen das
nicht gefällt. Über diese Punkte des Gesetzentwurfes hätten wir gerne mit Ihnen reden können.
({15})
In Wahrheit bezweckt dieses Gesetz aber etwas ganz
anderes. Hier geht es um einen Paradigmenwechsel bei
der Einwanderung und der Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland. Es geht darum, dass eines der
großen Projekte - insbesondere der grünen Partei - im
Wahljahr realisiert wird, nämlich der Wechsel hin zu einer
multikulturellen Einwanderungsgesellschaft. Dies lehnen
wir ab. Das wird auch so bleiben.
({16})
Herr Kollege Merz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Veit?
Nein, ich bitte um Nachsicht. Ich bin durch die Zurufe aus seiner Fraktion schon
genug aufgehalten worden.
({0})
Ihre Zurufe beeindrucken mich zwar nicht. Aber ich muss
sagen, dass unsere Redner damit systematisch gestört
werden.
Ich will noch zwei Sachverhalte ansprechen. Sie heben
mit diesem Gesetz den Anwerbestopp auf, den es seit
dem Jahre 1973 in Deutschland gibt.
({1})
Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt hat erklärt,
dass bei einer Arbeitslosigkeit von 1,2 Prozent und bei einer Ausländerarbeitslosigkeit von 0,8 Prozent eine
größere Zuwanderung nach Deutschland nicht akzeptiert
werden könne.
Heute heben Sie bei einer Arbeitslosigkeit von rund
10 Prozent und einer Ausländerarbeitslosigkeit von mehr
als 20 Prozent diesen Anwerbestopp auf. Dies ist mit dem
Anspruch, den Sie stellen, nämlich in Deutschland eine
stärkere Integration und mehr Beschäftigung gerade von
Ausländern zu ermöglichen, nicht zu vereinbaren. Sie lösen kein einziges Problem; Sie verschärfen die Probleme.
({2})
Sie sehen in diesem Gesetzentwurf eine Härtefallregelung vor, die in Zukunft jedem Innenminister bei der Aufnahme zusätzlicher Ausländer in die Bundesrepublik
Deutschland in einem sehr großen Umfang, also praktisch
ohne jede Limitierung, Ermessen einräumt.
({3})
Über die Härtefallregelung wird eine Begrenzung des
Ausländerzuzuges nach Deutschland praktisch nicht mehr
möglich sein.
({4})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Sie regeln den Familiennachzug neu, und zwar insbesondere für
diejenigen, die in Deutschland gegenwärtig nur geduldet
sind. Über deren Status kann man sprechen. Aber über den
Nachzug der Familien derjenigen, die nur geduldet sind
- das sind etwa 150 000 -, aber eigentlich ausreisen müssten, werden Sie eine wesentlich höhere Einwanderung
nach Deutschland und damit auch in die sozialen Sicherungssysteme ermöglichen.
({5})
Dies lehnen wir ab. Denn die sozialen Sicherungssysteme
in Deutschland verkraften das nicht.
({6})
Sie sehen eine neue Regelung in Bezug auf den Kindesnachzug vor. Wir haben Ihnen, obwohl wir der Meinung waren, dass der Zeitraum bis zu einem Alter von
sechs bis zehn Jahren der richtige Zeitraum für den Nachzug von Kindern ist, angeboten, sich mit uns auf einen
Nachzug bis zum zwölften Lebensjahr zu einigen, wenn
Sie gleichzeitig auf jede weitere Ausnahmeregelung verzichten.
({7})
Das haben Sie sofort abgelehnt. Sie sehen Ausnahmeregelungen vor, die den Nachzug von Kindern nach
Deutschland bis zum 18. Lebensjahr zum Regelfall machen werden. Dies lehnen wir ab und dabei wird es auch
bleiben.
({8})
Zum Schluss möchte ich, Herr Bundesinnenminister,
feststellen: Wir haben hier häufig über die Integration geFriedrich Merz
sprochen. Ich möchte daran erinnern, dass unsere Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, vor mehr als
drei Jahren, im Januar 1999, im Deutschen Bundestag, der
damals noch in Bonn war, ein umfassendes Konzept zur
Integration der in Deutschland lebenden Ausländer vorgelegt hat.
({9})
Sie haben diesen Antrag auf Verbesserung der Integration
der in Deutschland lebenden Ausländer sofort abgelehnt.
Dass Sie Integration nicht wirklich wollen, sondern
dass ein ganz anderes gesellschaftliches Leitbild hinter
dem Gesetzentwurf steht, den wir heute verabschieden
sollen, das will ich an einer einzigen Bestimmung dieses
Gesetzentwurfes deutlich machen: Nach einem Aufenthalt von zwei Jahren in Deutschland gibt es gemäß
der §§ 44 und 45 des Entwurfes eines neuen Aufenthaltsgesetzes - ich habe den Gesetzentwurf gestern
Abend noch einmal sehr genau gelesen - für keinen in
Deutschland lebenden Ausländer mehr die gesetzliche
Verpflichtung zum Besuch von Integrationskursen.
({10})
Damit ist jeder Anspruch auf Integration in die deutsche
Gesellschaft aufgegeben worden. Deswegen lehnen wir
diesen Gesetzentwurf ab.
({11})
Sie versuchen, uns mit Stellungnahmen des Präsidenten des DIHK, der Kirchen, der Arbeitgeberverbände, der
Gewerkschaften und vielen anderen unter Druck zu setzen.
({12})
- Liebe Frau Beck, das schmerzt überhaupt nicht. Wir
wissen, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen
Bevölkerung weltoffen, ausländerfreundlich und tolerant
ist.
({13})
- Meine Damen und Herren, Ihre Zurufe nehme ich gerne
auf. Die deutsche Bevölkerung hat in den letzten Jahrzehnten eine solche Aufnahmebereitschaft und Ausländerfreundlichkeit unter Beweis gestellt, wie dies in keinem anderen europäischen Land der Fall war.
({14})
Allein die Stadt Hamburg hat mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen als ganz Großbritannien. Sie sollten
noch lauter dazwischenrufen, damit es jeder in Deutschland versteht.
Das deutsche Volk ist ausländerfreundlich, tolerant und
weltoffen.
({15})
Die Ausnahmen, die es gibt, zum Beispiel rechtsradikale
Straftaten, die beschämen, belasten und beschweren uns
alle. Aber so handelt nicht die deutsche Gesellschaft, das
deutsche Volk.
({16})
Die Deutschen sind ausländerfreundlich.
Herr Bundesinnenminister, lesen Sie einmal nach, was
Stefan Dietrich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“
heute schreibt. Er hat völlig Recht: Ein solches Gesetz
verdient keine Zustimmung. Ein solches Gesetz verbessert die Integration nicht, sondern verschlechtert sie. Ein
solches Gesetz eröffnet eine noch höhere Einwanderung
in den Arbeitsmarkt. Das ist bei 4,3 Millionen Arbeitslosen zum jetzigen Zeitpunkt das völlig falsche Signal. Ein
solches Gesetz eröffnet noch mehr Zuwanderung in die
sozialen Sicherungssysteme. Deswegen lehnen wir es ab.
({17})
Ich erteile der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Deshalb brauchen wir endlich ein Zuwanderungsgesetz, das zugleich
modern und humanitär ist und die Integration fördert. Ich
möchte Sie alle noch einmal daran erinnern: Das war vor
einem Jahr bei den Kirchen, den Gewerkschaften und den
Arbeitgeberverbänden Konsens. Es war auch in diesem
Hause Konsens. Auch die Zuwanderungskommission der
CDU, Herr Merz, unter Vorsitz des saarländischen Ministerpräsidenten räumte mit der alten Lebenslüge auf, die
Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Wir alle
kennen die Ergebnisse der Süssmuth-Kommission, an
der alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen
beteiligt waren.
({0})
Ich möchte deshalb an dieser Stelle Frau Professor
Dr. Rita Süssmuth noch einmal ganz ausdrücklich danken. Diese Kommission hat unter ihrer Leitung den Weg
für einen parteiübergreifenden Konsens bereitet.
({1})
Wenn Sie nun, Herr Merz und meine Damen und Herren von der Union, heute diesen Gesetzentwurf ablehnen,
dann ignorieren Sie nicht nur die Beschlüsse Ihrer eigenen Partei. Sie machen vielmehr Folgendes: Sie verlassen
damit den Konsens, den wir vor einem Jahr in der Gesellschaft und in diesem Hohen Haus hatten. Sie stellen sich
damit ins gesellschaftliche Abseits.
({2})
Es ist Folgendes passiert: Ihre Partei, Herr Merz, die
CDU, ist mit dem Kanzlerkandidaten Stoiber endgültig
auf CSU-Kurs eingeschwenkt, die als einzige Partei in
diesem Land noch nie ein Zuwanderungsgesetz wollte.
({3})
Sie ignorieren die Forderungen der Wirtschaftsverbände. Sie stellen sich gegen die Kirchen. Kardinal
Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, und Präses Kock, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, haben Sie gestern noch einmal ausdrücklich
davor gewarnt, das Thema zu einer Sache der Stammtische zu machen.
({4})
Eine solche Auseinandersetzung ist Wasser auf die
Mühlen der Rechtsradikalen, wie Ihr Kollege Heiner
Geißler gesagt hat. Recht hat er. Aber genau das tun Sie,
wenn Sie heute dieses Gesetz ablehnen. Mit Stimmungsmache gegen die hier lebenden Migranten und Flüchtlinge wollen Sie im Wahlkampf auf Stimmenfang gehen.
Sie stiften damit sozialen Unfrieden in dieser Gesellschaft. Das ist das Unverantwortliche an Ihrem Verhalten.
({5})
Es ist auch in der Sache unbegreiflich. Wir haben allein
18 Änderungsanträge von Ihnen aufgenommen. Wir haben elf zentrale Änderungsanträge des Bundesrates aufgegriffen. Wir sind Ihnen damit noch einmal ein wirklich
großes Stück entgegengekommen. Ich kann Ihnen versichern: Das ist gerade uns Grünen nicht leicht gefallen.
Aber wir haben gesagt: Im Interesse der Sache wollen wir
uns auf Ihre Vorschläge zubewegen, weil es uns wirklich
ein Anliegen ist, dass es noch in dieser Legislaturperiode
ein Zuwanderungsgesetz gibt.
({6})
Jetzt komme ich zu den Einzelforderungen, Herr Merz:
Sie und Ihre Partei haben gefordert, im Gesetz müsse das
Ziel der Zuwanderungsbegrenzung stehen. Hier habe ich
das Papier von Herrn Bosbach. Exakt diese Formulierung
haben wir in das Gesetz übernommen.
({7})
Zum Thema Arbeitsmarkt. Sie haben gesagt, wir sollen den Bedarf nicht an der regionalen Lage des Arbeitsmarktes orientieren. Wir haben Ihre Forderung exakt in
das Gesetz übernommen.
({8})
Herr Merz, Sie haben gesagt - das steht auch in diesem
Papier -, Sie wollen schärfere Kriterien für die Niederlassung ausländischer Unternehmer. Ich habe Herrn Bosbach
gestern Abend im ZDF zugehört: Sie fordern von einem
ausländischen Unternehmen für die Niederlassung 1 Million Euro und die Schaffung von zehn Arbeitsplätzen.
Auch diese Forderung haben wir exakt in das Gesetz übernommen.
({9})
Das sind Ihre drei Forderungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
Herr Merz hat eben gesagt: Wir verabschieden uns von
der Anwerbestoppverordnung. Ich muss wirklich sagen:
Das ist eine völlig verstaubte Verordnung. Ihre Forderung,
sie beizubehalten, ist abenteuerlich. Das wäre nämlich die
Rückkehr in die Gastarbeiterära der 60er-Jahre. Genau die
wollen wir hinter uns lassen. Wir wollen die Zuwanderung modern gestalten. Das ist der Kern des Gesetzes.
Deshalb werden wir daran natürlich nichts ändern.
({10})
Ich komme zur Senkung des Nachzugsalters. Sie haben
darauf bestanden, dass wir das Nachzugsalter noch einmal
absenken. Wir, die Grünen - die EU-Kommission im Übrigen auch -, fordern, dass wir es heraufsetzen. Wir haben uns
darauf verständigt, es auf zwölf Jahre zu senken. Das ist aus
unserer Sicht ein sehr weitreichendes Angebot, das bis an
unsere Schmerzgrenze geht. Das sage ich Ihnen ganz offen.
({11})
Sie empören sich jetzt darüber, dass im Einzelfall auch
ein Kind zwischen zwölf und 18 Jahren nachziehen kann,
wenn es das Kindeswohl - das muss man sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen -, die familiäre Situation und
die Integrationsperspektive - diese drei Voraussetzungen
müssen vorliegen - erfordern. Ich möchte wissen, wie Sie
das Ihrer Klientel vermitteln wollen. Das ist inhuman und
familienfeindlich. Herr Sterzinsky hat zu Recht gesagt,
dass Ihre Nachforderung bei diesem Punkt eine Schande
für diese Gesellschaft ist.
({12})
Herr Merz, gerade haben Sie wieder gesagt, dass mit
dieser neuen Vorschrift dem Kindernachzug Tür und Tor
geöffnet würden. Auch heute gibt es im Gesetz bereits
eine Ermessensvorschrift. Der kleine Unterschied besteht
darin, dass das relevante Alter im heute geltenden Gesetz
16 Jahre ist.
({13})
- Natürlich ist es eine. - Sie haben weder im Bundestag
noch im Bundesrat eine Mehrheit, um das Nachzugsalter
zu senken. Wir machen Ihnen einen Vorschlag zur Senkung des Nachzugsalters.
({14})
Sie sind dagegen, weil es eine Ermessensvorschrift ist.
Das versteht in der Gesellschaft niemand mehr. Jeder
weiß, dass Sie dieses Gesetz einfach nicht wollen und deshalb Vorwände suchen, um es abzulehnen.
({15})
Kerstin Müller ({16})
Sie und Herr Innenminister Schönbohm - er ist anwesend - haben gefordert, dass sich der Bund stärker an den
Integrationskosten beteiligen soll. Das machen wir, und
zwar in einem Verhältnis von zwei Dritteln zu einem Drittel. Dies steht auch genauso in dem Papier von Herrn
Bosbach. Nun sagen Sie, dass Ihnen das nicht reicht. Sie
müssen einen Vorschlag machen, wie wir es finanzieren
sollen. Seit Herr Stoiber aus Bayern Kanzlerkandidat ist,
macht er ausschließlich Vorschläge, deren Realisierung etwas kostet, sagt aber nie, wie man sie finanzieren soll. Die
Länder und wir haben diese finanziellen Spielräume nicht.
({17})
Ich komme zur Genfer Konvention. Wir haben in dem
Gesetz noch einmal klargestellt, dass wir, wie es die Genfer Konvention vorsieht, die nicht staatliche und
geschlechtsspezifische Verfolgung anerkennen. Damit
weiten wir die Zuwanderung nicht aus und wir schaffen
auch keine neuen Asylgründe, wie Sie immer wieder demagogisch behaupten. Die Flüchtlinge erhalten ein gesichertes Aufenthaltsrecht, wie es auch in allen anderen
europäischen Ländern üblich ist; mehr nicht.
({18})
Es geht dabei um schlimmste Menschenrechtsverletzungen. Es geht um die Genitalverstümmelungen an Frauen.
Ich will Ihnen wirklich eines sagen: Hören Sie endlich
auf, das Schicksal verfolgter Frauen für Ihre Agitation in
dieser Gesellschaft zu missbrauchen! Die Frauen in Ihrer
Partei sind doch auch dafür, dass wir dort etwas tun.
({19})
Wir machen Ihnen heute ein sehr weitreichendes und
letztes Kompromissangebot. Wenn es Ihnen um die Sache
ginge - das geht es Ihnen aber nicht -, müssten Sie heute
zustimmen. Wir haben heute im Deutschen Bundestag die
Chance auf einen wirklich historischen Kompromiss. Ich
appelliere an die Sachorientierten und Vernünftigen in der
Union: Opfern Sie einen Konsens in der Zuwanderung
nicht einem kurzsichtigen wahltaktischen Kalkül!
({20})
Eines möchte ich hier noch einmal sagen, weil viele darüber geschrieben haben: Sie irren, wenn Sie glauben, dass
man nach einer Wahlschlacht um die Zuwanderung - die
wird es, wenn Sie es ablehnen, geben - in der folgenden
Legislaturperiode wieder bei null anfangen könne.
({21})
Das glaube ich nicht. Wenn das Gesetz jetzt scheitert,
dann ist die Chance auf ein Zuwanderungsgesetz in dieser
Gesellschaft auf Jahre hinaus verspielt. Für das, was dann
passiert, tragen Sie die Verantwortung.
({22})
Herr Schönbohm, zum Schluss möchte ich noch einmal an die Länder appellieren. Wir haben alle Forderungen, die Herr Ministerpräsident Stolpe in seiner Rede am
20. Dezember vor dem Bundesrat aufgezählt hat, in dem
Gesetzentwurf berücksichtigt. Ich betone: alle. Ich gehe
davon aus, dass Ministerpräsident Stolpe nicht einfach
Reden hält, die er nicht mit Ihnen abgestimmt hat; denn
Sie hier haben ja ein gutes Verhältnis zueinander. Ich
möchte gerne, dass Sie dazu Stellung nehmen. Wir haben
alle Forderungen aufgenommen. Deshalb appelliere ich
an die Länder: Folgen Sie nicht dem Blockadekurs von
Herrn Stoiber, nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr und
stimmen Sie am 22. März diesem Gesetzentwurf zu, und
zwar im Interesse der Flüchtlinge und Migranten und im
Interesse des sozialen Friedens in diesem Land!
Danke schön.
({23})
Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Merz hat gemeint, es handle sich hier um ein großes Reformprojekt
von Bündnis 90/Die Grünen. Meine Beobachtung ist eine
völlig andere. Es handelt sich hier um ein Reformprojekt,
hinter dem wichtige gesellschaftliche Gruppen stehen: die
Kirchen, wichtige Arbeitgeberverbände sowie die Gewerkschaften. Die FDP war es, die sich als erste Partei
diesen Wunsch aus der Gesellschaft zu Eigen gemacht hat
und einen Gesetzentwurf für ein Zuwanderungsgesetz
vorgelegt hat.
({0})
Wir haben unser Konzept aufgrund der verdienstvollen
Darlegungen im Süssmuth-Bericht aktualisiert. Viele der
uns wichtigen Punkte sind von Minister Schily im Regierungsentwurf übernommen worden. Wir begrüßen es
auch, dass die lange Diskussion jetzt allmählich auf eine
Entscheidung „zuwandert“. Es handelt sich um eine Entscheidung, die freilich endgültig nicht heute im Bundestag, sondern, wie wir alle wissen, erst im Bundesrat
fallen wird.
In dieser Situation werden wir uns trotz einer positiven
Grundbewertung heute aus folgenden Gründen der
Stimme enthalten:
({1})
Erstens. Das von der Bundesregierung und der Koalition in den letzten Tagen gewählte Verfahren, im letzten
Augenblick umfangreiche Änderungsanträge zu präsentieren, kann im Interesse der Selbstachtung des Parlaments nicht akzeptiert werden.
({2})
Wenn der Minister zu spät kommt, ist das eine lässliche
Sünde. Wenn Sie aber 58 Seiten Änderungsanträge so spät
vorlegen, dass man in den eigenen Gremien nicht mehr
korrekt darüber beraten kann, dann kann man einem solKerstin Müller ({3})
chen Verfahren nicht durch Zustimmung noch eine Sanktion erteilen.
({4})
Zweitens. Inhaltlich stellen wir in dem Gesetzentwurf,
so wie er jetzt vorliegt, Licht und Schatten fest. Die Regelungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt entsprechen im
Großen und Ganzen unseren Vorstellungen. Sie sind allerdings sehr bürokratisch ausgefallen.
Drittens. Das Thema Integration wird in dem Gesetzentwurf eher stiefmütterlich behandelt. Es stellt sich nur
als Einstieg dar, aber noch nicht als vollständiges Programm.
Viertens. Die ausländerrechtlichen Teile dieses Gesetzentwurfes weisen - wie ich Ihnen im Einzelnen noch darstellen werde - große Lücken auf, sodass wir insgesamt
zu einer zwiespältigen Bewertung des Inhalts kommen.
Dennoch möchte ich Ihnen für das weitere Verfahren
ankündigen, dass die heutige Stimmenenthaltung als
wohlwollende Stimmenenthaltung der FDP zu charakterisieren ist.
({5})
Sie wissen alle, dass die Entscheidung in Wahrheit im
Bundesrat fällt und Sie wissen auch, dass es dort entscheidend auf die Stimme des SPD/FDP-regierten Bundeslandes Rheinland-Pfalz ankommen wird. Deswegen
sage ich dies hier sehr bewusst.
Lassen Sie mich kurz zum Verfahren und dann detaillierter zum Inhalt des Gesetzentwurfes Stellung nehmen.
Minister Schily, den wir an anderer Stelle und wegen anderer Themen zuletzt heftig und deutlich kritisiert haben,
hat seit der Vorlage seines Gesetzentwurfs im August
2001 mit der FDP-Bundestagsfraktion faire, sachliche
und absolut angemessene Beratungen geführt. Dies ist
zwar eigentlich selbstverständlich, wird aber von uns dennoch ausdrücklich anerkannt.
({6})
Freilich galt dies nur bis zum Mittwoch der letzten Woche. Sie haben alle beobachtet, dass die Bundesregierung
und die Koalition dann wieder in das alte Verhalten
zurückgefallen sind, das wir schon beim Terrorismusbekämpfungsgesetz Schily II schmerzlich kennen lernen mussten. Wie in dem damaligen Gesetzgebungsverfahren haben Sie auch jetzt wieder in letzter Sekunde
umfangreiche Änderungsanträge vorgelegt. Damals bei
Schily II haben alle Oppositionsredner dieses Verfahren
heftig kritisiert. Die Koalition hat daraufhin versprochen,
ein solcher Vorgang werde sich nie mehr wiederholen,
schon gar nicht bei einem so wichtigen Gesetz wie dem
Zuwanderungsgesetz. Dieses Versprechen datiert vom
Dezember; knapp zwei Monate später ist es bereits gebrochen worden.
Meine Damen und Herren, Sie als Koalition ziehen
sich jetzt auf das Argument zurück, es sei nicht so
schlimm, wenn man Änderungsanträge erst relativ spät
präsentiere, denn die Opposition wolle das Gesetz ja so
oder so ablehnen. Sie wissen ganz genau, dass dieses Argument in Bezug auf die FDP nicht zutrifft.
({7})
Wir nehmen hier eine grundsätzliche Position ein.
Wenn Mitwirkungsrechte der Opposition von der Mehrheit des Hauses zum zweiten Mal in derart massiver Weise
missachtet werden, müssen Sie sich den alten Satz gefallen lassen, mit dem wir Sie charakterisieren: Bei Ihnen gilt
das gebrochene Wort. So ist es.
({8})
Meine Damen und Herren, in der Sache selbst bleibt es
jedoch dabei, dass die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, die wichtige Aufgabe der Integration und die Regelung humanitärer Verpflichtungen ein Gesamtkonzept
erfordern.
({9})
Diese drei Teile werden in dem Gesetzentwurf der Koalition und der Bundesregierung freilich in unterschiedlicher
Qualität abgehandelt. Im humanitären Bereich hat es in
der Sachverständigenanhörung erhebliche Kritik an dem
Gesetzentwurf gegeben. Diese Kritik haben sich SPD und
Grüne nur zum Teil aufzugreifen getraut, weil sie der Meinung waren, wenn sie der Union im humanitären Bereich
entgegenkämen, würden sie eine Zustimmung der
CDU/CSU bekommen. Das war aber eine irrige Meinung,
wie wir heute feststellen müssen. Deswegen bleiben in
diesem Bereich aus unserer Sicht Lücken. Sie hatten nicht
den Mut, alte Zöpfe abzuschneiden.
Die FDP hat zum Beispiel seit langem einen verbesserten Zugang von Asylbewerbern zum Arbeitsmarkt gefordert. Wir halten es für richtig, dass hier geborene Kinder und hier aufgewachsene Jugendliche generell unter
Ausweisungsschutz gestellt werden.
({10})
Die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention
müssen endlich zurückgenommen werden.
({11})
All dies haben Sie sich nicht anzupacken getraut in der
- ich sage es noch einmal - irrigen Meinung, Sie könnten
die Union zu einer Zustimmung bewegen, was nicht geschieht.
({12})
- Ich kann eine Zwischenfrage nicht zulassen, wenn ich
nicht gefragt werde.
Also eine Zwischenfrage des Kollegen Beck. Bitte sehr.
Herr Stadler, nach dem, was Sie gesagt haben, sind wir
uns in unseren politischen Vorstellungen inhaltlich sehr
nah. Können Sie uns garantieren, dass die Länder Hessen,
Baden-Württemberg, Hamburg und Rheinland-Pfalz, in
denen die FDP mitregiert, auch mitstimmen werden,
wenn wir als rot-grüne Koalition zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht gemeinsam mit der FDP-Fraktion, dahin
gehend eine weitere Initiative ergreifen? In diesem Fall
könnte sich die Koalition sicher vorstellen, Ihnen in einer
weiteren Initiative an diesem Punkt entgegenzukommen.
({0})
Lieber Kollege Beck, erstens:
Zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt wird es eine rotgrüne Koalition gar nicht mehr geben, sodass sich diese
Frage dann erübrigt.
({0})
Zweitens. Was einen nahen späteren Zeitpunkt betrifft,
darf ich Sie darauf verweisen, dass ich hier ja nicht nur
Teile unseres eigenen Zuwanderungskonzepts vorgetragen habe, sondern dass die FDP dem im Bundestag schon
Taten hat folgen lassen, etwa mit einem Antrag des Kollegen Niebel zum Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber.
({1})
Wir wollen, dass im Interesse der Integration von Kindern die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen werden, die von der von Ihnen geführten Bundesregierung aufgestellt worden sind. Dazu
haben wir schon Initiativen ergriffen.
Im Übrigen spreche ich heute für die Bundestagsfraktion. Unsere Ländervertreter werden in der nächsten Woche - früher war es nicht möglich, weil Sie den endgültigen Gesetzentwurf so spät vorgelegt haben - ihre Haltung
koordinieren. Dem greife ich natürlich nicht vor.
({2})
Meine Damen und Herren, im Bereich der humanitären
Regelungen waren in der Öffentlichkeit zwei Themen
besonders strittig. Ich möchte daher noch einmal feststellen, dass Personen, die von nicht staatlicher oder geschlechtsspezifischer Verfolgung betroffen sind, ohnehin nach der Genfer Flüchtlingskonvention schutzwürdig
sind. Das, was im Gesetzentwurf klargestellt wird, begrüßen wir deswegen, weil damit der internationale Standard festgeschrieben wird. Es ist damit aber kein neuer
Asylgrund verbunden. Das ist auch wichtig festzuhalten.
({3})
Ferner hat die Diskussion um das Nachzugsalter von
Kindern eine große Rolle gespielt. Die FDP war der Meinung, dass man es bei der bisherigen Regelung hätte belassen können. Ich will versuchen, den entscheidenden
Punkt der Diskussion herauszuarbeiten. Niemand in diesem Hause ist der Meinung, dass es das Günstigste ist,
wenn Kinder im Ausland aufwachsen. Wir alle wollen
doch im Interesse der Integration von Kindern, dass sie
dort aufwachsen, wo sie vermutlich ihr gesamtes Leben
verbringen werden. Aber es geht hier um einen grundrechtlichen Aspekt. Es geht auch darum, dass Eltern für
ihre Kinder Entscheidungen zu treffen haben und dass
dies durch Art. 6 des Grundgesetzes geschützt wird. Nicht
alles, was gewünscht ist, kann den Eltern zwangsweise
vom Staat aufoktroyiert werden. Das verkennt die Union
in ihrer Argumentation.
({4})
Gleichwohl kann der gefundene Kompromiss über die
Senkung des Nachzugsalters von Kindern auf zwölf Jahre
bei einer gleichzeitigen Härtefallregelung noch akzeptiert
werden, obwohl ich für die FDP-Fraktion feststelle, dass
die gesamte Diskussion in beschämender Weise kleinlich
geführt worden ist.
({5})
Ich komme damit zum Thema „Integrationsaufgabe
des Staates“. Warum ist es denn nicht möglich gewesen,
im Zuge dieses Gesetzgebungsverfahrens die fundamentale Bedeutung des Themas Integration mit einer Zweidrittelmehrheit im Hause deutlich zu machen, indem die
Aufgabe der Integration als Staatsziel ins Grundgesetz
aufgenommen wird? Das wäre aus unserer Sicht ein richtiges Signal gewesen. Der Gesetzentwurf selber geht bei
diesem Thema zwar in die richtige Richtung, aber ich
greife zum Beispiel die Kritik des Diakonischen Werkes
der Evangelischen Kirche auf: Von einem Gesamtkonzept, das zwischen Bund und Ländern abgestimmt ist,
kann noch keine Rede sein; da bleibt für den Gesetzgeber
sowohl im Bundestag als auch in den Landtagen noch viel
zu tun. Was Sie hier vorlegen, ist immerhin - aber auch
nicht mehr - ein erster Einstieg.
({6})
Wenn bei diesem Thema auch Kostenfragen nebensächlich sein mögen, weil es schließlich um viel mehr
geht, so muss doch festgestellt werden, dass es zumutbar
ist, dass sich Migrantinnen und Migranten, wenn sie über
ein entsprechendes Einkommen verfügen, in einer
maßvollen Weise etwa an den Kosten für Sprachkurse beteiligen.
({7})
Umgekehrt ist es nicht zumutbar, dass der Bund wieder
einmal eine Regelung erlässt und Verpflichtungen festschreibt und dann die Kommunen die Kosten tragen müssen. Dazu sind sie derzeit wirklich nicht in der Lage.
({8})
Im Übrigen müssen wir sehen, dass sich die Integrationspolitik nicht nur auf diejenigen beziehen darf, die
nach diesem Gesetzentwurf neu nach Deutschland kommen werden, sondern die Aufgabe stellt sich auch für die
Volker Beck ({9})
Ausländer, die sich bereits hier aufhalten, und - das sage
ich ganz bewusst - auch in Bezug auf die Kinder und Jugendlichen aus Aussiedlerfamilien.
({10})
Meine Damen und Herren, damit komme ich zum Kern
des gesamten Gesetzgebungsverfahrens: Was war der eigentliche Anlass? Es stellt sich sofort die Frage, wie jemand bei 4 Millionen Arbeitslosen auf die Idee kommen
kann, eine - wenn auch maßvolle, begrenzte und gesteuerte - Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt zu erlauben.
Meine Damen und Herren, ich stelle die Gegenfrage: Welches Recht haben wir, wenn 1 Million Arbeitsplätze, insbesondere Facharbeiterstellen im Mittelstand, aus dem
einheimischen Arbeitsmarkt nicht besetzt werden können,
Menschen, die bereit sind, nach Deutschland zu kommen
und diese Arbeitsplätze einzunehmen, und Betrieben, die
diese Arbeitskräfte dringend benötigen, zu verweigern,
dass sie miteinander handelseinig werden, und damit zu
verhindern, dass Arbeitsplätze besetzt werden?
({11})
Hier kann es nur zwei wirkliche Gegenargumente geben. Das erste Gegenargument wäre, dass damit eine Konkurrenz für Arbeitnehmer - seien es Deutsche, seien es
Ausländer, die in Deutschland leben - geschaffen würde.
Wer aber diese Befürchtung nährt - die in der Bevölkerung sehr wohl existiert -, der hat das Gesetz nicht gelesen; denn bei der Besetzung von Arbeitsplätzen gilt der
Vorrang für Arbeitnehmer aus dem deutschen Arbeitsmarkt.
({12})
Das ist zwar bürokratisch und wird es unseren Betrieben
erschweren, ihre Wachstumschancen wahrzunehmen;
aber es ist notwendig, um genau dieser Befürchtung entgegenzutreten.
Das zweite Gegenargument, das Sie vorbringen können, wäre, die Integrationskraft Deutschlands werde
überfordert. Dies wird bei diesem Gesetz - so vorsichtig,
wie es angelegt ist - mit Sicherheit nicht der Fall sein.
Ich sage Ihnen eines, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Mit Ihrer Kritik an
diesem Teil des Gesetzes - Sie kritisieren das Gesetz, weil
es zu mehr Zuwanderung führt - verhalten Sie sich wie
ein Patient, der zum Arzt geht, weil er an Bewegungsmangel leidet und sich daher nicht wohl fühlt. Der Arzt
verschreibt ihm als Therapie eine Viertelstunde Jogging
pro Tag. Diese Therapie lehnt der Patient mit der Begründung ab, dass das zu mehr Bewegung führe. Das ist Ihre
Argumentation.
({13})
Die Diagnose lautet: Trotz hoher Arbeitslosigkeit können
Arbeitsplätze nicht besetzt werden, was zum Verlust von
Wachstum führt und weshalb keine neuen Arbeitsplätze
entstehen. Die Therapie lautet: Wir brauchen etwas mehr
Bewegung, etwas mehr Öffnung auf diesem Sektor. Dazu
sagen Sie, dies führe zu Zuwanderung. Genau das aber ist
in diesem Teil gewollt, meine Damen und Herren.
({14})
Allerdings darf diese Therapie keine Ausrede dafür
sein, nicht auch kausal zu therapieren. Wir wollen nicht
nur Symptome bekämpfen, sondern wir wollen, dass endlich die Reformen im Bildungssektor angepackt werden,
({15})
damit die eigenen Nachwuchskräfte Chancen bekommen,
sich beruflich zu qualifizieren. Wir wollen die Qualifizierung von hiesigen Arbeitslosen. Wir wollen eine bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. All dies darf wegen
des Zuwanderungsgesetzes nicht hintan gestellt werden.
({16})
Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass dieses Gesetz, bei dem wir uns heute aus den dargestellten Gründen
der Stimme enthalten, bei wichtigen Teilen in die richtige
Richtung geht.
({17})
Nach unserer Meinung ist die Diskussion im Bundesrat
noch nicht abgeschlossen. Wir wünschen uns, dass am
Ende des langen Diskussionsprozesses doch noch ein
liberales, modernes Zuwanderungsgesetz zustande
kommt.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort
Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zwei Sätze vorab: Die PDS war und ist der
Meinung, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland.
Das bedeutet, wir brauchen ein Einwanderungsrecht und
keine Blockaden.
({0})
Die Frage, über die heute abgestimmt wird, lautet:
Kann man dem vorliegenden Gesetz zustimmen? Hier
nehme ich das Ergebnis auch vorweg: Wir werden im
Bundestag zu diesem Gesetz mehrheitlich Nein sagen.
({1})
Heute sollten wir uns noch einmal daran erinnern, dass
die gegenwärtige Debatte über ein Einwanderungsgesetz
mit Stichworten wie Doppelpass, Computer-Inder, Greencard und Leitkultur sowie mit einer Einsicht begann, die
bis weit in die CDU/CSU hinein reichte: dass die Bundesrepublik längst ein Einwanderungsland ist. Was am
Beginn der Debatte fehlte, war ein möglichst modernes
Einwanderungsrecht, das die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte aufhebt, das sich an internationalen Standards orientiert und das humanen Ansprüchen genügt. Am
Beginn dieser Debatte gelobten alle, natürlich die Lehren
der 60er- und 70er-Jahre aus Ost und West aufzunehmen.
Alle erklärten, es dürfe am Ende nicht wieder die böse und
bittere Erkenntnis stehen: Wir wollten Arbeitskräfte, aber
Menschen sind gekommen.
Die erste zentrale Frage in der laufenden Einwanderungsdebatte heißt also: Gelingt mit diesem Gesetzeswerk
ein Paradigmenwechsel? Schaffen wir ein Bürgerrecht,
bei dem nicht die Verwertbarkeit, sondern das Menschsein im Vordergrund steht?
({2})
Die zweite Frage lautet: Sucht die Bundesrepublik Anschluss an internationale Normen oder verharrt sie in einem Zustand aus dem vorvorigen Jahrhundert?
Die dritte Frage lautet: Werden mit diesem Gesetz willkürliche Regeln abgeschafft, die nicht deutsche Bürgerinnen und Bürger noch immer zu Menschen zweiter Klasse
degradieren? Ich denke, das war und bleibt eine lohnende
und überfällige Aufgabe.
Heute wurde schon mehrfach die Süssmuth-Kommission zitiert.
({3})
Dort wurde Sachverstand aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Spektren gebündelt: Wissenschaftler, Kirchenleute, Gewerkschaftler, Bürgerrechtler, Sozialarbeiter,
Rechtskundige und auch die Vertreterinnen und Vertreter
aller im Bundestag vertretenen Parteien fanden hier Gehör.
Die PDS hat sich in diese Debatte eingebracht - nicht mit
parteitaktischen Spielen und nicht mit K.o.-Forderungen,
sondern - auch schon in der Anhörung der Süssmuth-Kommission - mit klaren Richtungen. Wir gehen davon aus,
dass Asylbewerber eine humane Behandlung verdienen.
Kinder und Familien haben ein Recht auf Zusammensein.
Integration muss gewollt sein und dann auch bezahlt werden. Zuwanderer sind politisch gleichzustellen. Das waren
die Grundsätze, mit denen wir in die Debatte gegangen
sind. Das sind auch die Grundsätze, nach denen wir heute
vorliegende Gesetzentwürfe beurteilen.
Wenn ich mir das Ergebnis ansehe, kann ich nur Frau
Kollegin Süssmuth zitieren. Sie meinte mit Blick auf das
Werk der Koalition: Es sind noch wichtige Elemente vorhanden, aber weit zurückgenommen! Dieses Urteil
spricht Bände. Die Formulierung, wir würden heute ein
modernes Einwanderungsrecht verabschieden, ist nicht
mehr als ein Selbstlob aus dem Hause Schily.
({4})
Der vorliegende Gesetzentwurf liegt weder im europäischen Trend, noch ist er auf der Höhe internationaler
Konventionen; ich erinnere nur an die UN-Kinderrechtskonvention. Am Ende der dreijährigen Debatte steht also
ein fragwürdiges Fragment.
Die PDS hat sich durch ihren Antrag für eine menschenrechtlich orientierte Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik klar positioniert. Wir plädieren weiterhin für
eine Einwanderungspolitik, die nicht nur die Interessen
des Aufnahmelandes, sondern auch die Interessen der
hierher Kommenden berücksichtigt.
({5})
Sie sollen nicht zum Spielball wirtschaftlicher und politischer Begehrlichkeiten werden.
({6})
Daraus folgt, dass wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir haben Änderungsanträge gestellt, die sich
im Wesentlichen auf den humanitären und den Flüchtlingsbereich sowie die Asylpolitik konzentrieren.
Wenn Sie sich den Vorschlägekatalog der Landtagsfraktionen der PDS aus Berlin und Mecklenburg-Vorpommern,
der den Koalitionspartnern schon vor vier Wochen zugeleitet wurde, ansehen, dann werden Sie sehen: Wir haben
keine Illusionen. Wir wissen, dass es ein schwieriger Einstieg in eine entsprechende Einwanderungspolitik ist. Aber
es sind verhandelbare Formulierungen.
Ich sage Ihnen voraus: Sie werden auf dem Weg zum
Bundesrat nacharbeiten müssen, aber auch darüber hinaus. Ich denke zum Beispiel nur daran, dass die UN-Kinderrechtskonvention hinsichtlich der Asylmündigkeit bis
zum Alter von 18 Jahren endlich eingeführt werden muss.
Danke schön.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Michael Bürsch, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
sind noch rund 200 Tage bis zur Bundestagswahl. Das ist
bei der heutigen Debatte zu spüren. Dennoch möchte ich
Sie einladen, ein wenig innezuhalten, um in der Zuwanderungspolitik vielleicht doch gemeinsame Verantwortung zu erkennen und auch wahrzunehmen.
Mein Thema - hier sollten Sie innehalten - ist die Integration. Ich bin überzeugt: Zuwanderung kann letztlich
nur erfolgreich sein, wenn uns die Integration der Zuwanderer gelingt. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind weit über
30 Millionen Menschen aus dem Ausland zu uns gekommen. Jetzt müssen wir selbstkritisch feststellen: Bei der
Zuwanderung dieser Menschen wurden die Erfordernisse
der Integration zu wenig berücksichtigt. Die Einbeziehung der Ausländer in das politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben Deutschlands wird
und muss deshalb eine Hauptaufgabe der gesamten Innenpolitik der nächsten Jahre sein, vielleicht sogar der gesamten Gesellschaftspolitik.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf skizziert nur einen Rahmen - darauf hat Herr Stadler zu Recht hingewiesen -, der
noch von Institutionen, Verbänden und Initiativen, auf deren Kompetenz wir bei der Integrationsberatung angewiesen sind, aber auch noch vom 15. Deutschen Bundestag
ausgefüllt werden muss. Barbara John, langjährige Ausländerbeauftragte in Berlin, hat gesagt: „Integration ist
eine Aufgabe von 100 Jahren und wir sind noch ziemlich
am Anfang.“ Wir brauchen bei der Integration in der Tat einen sehr langen Atem. Aber es gibt in manchen Bereichen
schon jetzt dringenden Handlungsbedarf, zum Beispiel bei
jugendlichen Ausländern. Die PISA-Studie der OECD hat
ein Schlaglicht auf die Notwendigkeit geworfen, gerade
die Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher aus Familien mit Integrationshintergrund zu
verbessern. Wir können es uns nach meiner Meinung nicht
leisten, Schülerinnen und Schüler aus einem schwierigen
Lernumfeld länger zu vernachlässigen. Letztlich verweigern wir dadurch soziale Chancen und blockieren leichtfertig Talente, die unser Land vorwärts bringen könnten.
({1})
Vor diesem Hintergrund müssen wir die Schulen als
Lernorte des Zusammenlebens stärker fördern. Wir müssen aber auch die Familien bei ihren Integrationsbemühungen unterstützen. Das Zuwanderungsgesetz gibt
bereits die richtige Richtung vor: Die Integrationskurse
setzen konsequent bei den Sprachkenntnissen an. Ausländer, die dauerhaft in Deutschland leben, werden in Zukunft einen Rechtsanspruch auf die Teilnahme an einem
Integrationskurs und damit die Möglichkeit zu einer fundierten Sprachförderung erhalten. An die Adresse von
Herrn Merz möchte ich in diesem Zusammenhang sagen:
Ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache sowie
Grundkenntnisse unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung werden in Zukunft auch Voraussetzung für den Erwerb einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung sein.
Bei fehlenden oder mangelhaften Deutschkenntnissen
und einem Aufenthalt von weniger als sechs Jahren besteht für den Ausländer sogar eine Teilnahmepflicht.
Ein Wort zur Finanzierung - das ist schon angesprochen worden -: Bund und Länder sind sich einig, dass sie
die Kosten der Sprachkurse übernehmen und den Kommunen bei der Integration - sie ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe - keine zusätzlichen Lasten aufbürden. Darauf muss hier und heute hingewiesen werden.
({2})
Es geht aber bei der Integration nicht nur um Geld. Ein
Großteil der Integrationsleistungen wird schon bisher völlig unabhängig von staatlicher Steuerung und Unterstützung erbracht. Verbände, Initiativen oder auch einzelne
engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger leisten hier
eine großartige Arbeit, deren Wert nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dieses bürgerschaftliche Engagement gilt es zu fördern und weiter zu mobilisieren. Die
Zivilgesellschaft kann und soll nicht Ausfallbürge für den
Staat sein. Aber ohne zivilgesellschaftliches Engagement
kann Integration nicht gelingen.
({3})
Einen viel versprechenden Weg in diese Richtung beschreitet der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung,
Jochen Welt. Mit seiner Initiative „Integration und bürgerschaftliches Engagement bei Spätaussiedlern“ setzt er
erfolgreich darauf, dass sich ehrenamtlich Tätige und vor
allem Aussiedlerfamilien der ersten Generation als Integrationslotsen engagieren,
({4})
die neu ankommenden Spätaussiedlern Orientierungshilfe bieten, um sich in der neuen Lebensumgebung einzufinden. Dieses Modell könnte meiner Meinung nach bei
der Integration anderer Zuwanderergruppen Schule machen: Engagierte Bürger können Zuwanderer auf ihrem
Weg in unsere Gesellschaft begleiten und so deren soziale, kulturelle und berufliche Eingliederung erleichtern.
Zu erwähnen ist auch, dass dem Sport eine überragend
wichtige Rolle für die Integration zukommt. Tag für Tag
leisten im Breitensport Hunderttausende in den Vereinen
praktische Integrationsarbeit. Spitzensportler aus dem
Ausland - selbst in der Fußballnationalmannschaft spielen aus dem Ausland stammende Sportler - sind wichtige
Vorbilder für ausländische Jugendliche. Auch das ist ein
Beitrag zur Integration.
({5})
Das Gesetz hat in der Öffentlichkeit viel Zustimmung
gefunden. Es gibt keine gesellschaftliche Gruppe, die das
Gesetzesvorhaben nicht im Wesentlichen unterstützt hat:
Die Evangelische Kirche in Deutschland, die Deutsche
Bischofskonferenz, die Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, Flüchtlingsorganisationen, Sozialwissenschaftler und Juristen sind sich einig
- das kam auch in der Anhörung zum Ausdruck -, dass wir
einen Entwurf vorlegen, der eine positive Aufnahme verdient.
Ich setze noch immer auf das Projekt Aufklärung und
Information. Wenn über das vorliegende Gesetz objektiv, in Ruhe und mit Sachlichkeit aufgeklärt und diskutiert
wird, dann wird es nicht nur bei den Experten, sondern
auch in der Bevölkerung eine breite Mehrheit für eine Zuwanderungspolitik nach diesem Zuschnitt geben.
({6})
Ich komme zum Schluss. Weil von der PISA-Studie
immer wieder die Rede ist, möchte ich einen Beitrag zu
einer Bildungsoffensive im Bundestag leisten. Von dem
römischen Philosophen Seneca stammt die Erkenntnis:
Die menschliche Gesellschaft gleicht einem Gewölbe, das zusammenstürzen müsste, wenn sich
nicht die einzelnen Teile stützen würden.
Herr Glos, mit dem Zuwanderungsgesetz und mit einem umfassenden Integrationskonzept können wir viel
für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun. Deshalb
bitte ich Sie: Stimmen Sie zu!
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Trotz der freundlichen
Aufforderung am Schluss wird es uns schwer fallen, diesem Gesetz zuzustimmen; denn der Inhalt und die Überschrift passen nicht zusammen.
({0})
Dieses Gesetz ist kein Gesetz zur Begrenzung der Zuwanderung. Wir befürchten, dass sich die Zuwanderung
nach Deutschland aufgrund dieses Gesetzes ausweitet.
({1})
Wenn dieses Gesetz ein großer Erfolg, sozusagen ein
großer Renner wäre, dann säße der Herr Bundeskanzler
heute hier auf der Regierungsbank; denn er schmückt sich
gerne mit Erfolgen. Wie wenig wichtig er das Gesetz
nimmt, das das zentrale Reformwerk der Bundesregierung im gesellschaftspolitischen Bereich sein soll, zeigt
die Tatsache, dass er heute nicht anwesend ist.
({2})
- Ich höre ganz genau zu.
Ich möchte einige Widersprüche der Argumentation
von Frau Müller offen legen. Wir haben mit Spannung zugehört, nachdem wir am Montagabend um 20.30 Uhr aufgefordert worden sind, n-tv oder Phoenix einzuschalten,
um dort die neuen Vorschläge mitgeteilt zu bekommen. Es
wurde versucht, darzustellen, dass es um etwas substanziell anderes gehe. Sie, Frau Müller, haben da gesagt - ich
erinnere mich genau daran -, dass sich an der Substanz
des Gesetzentwurfs nichts verändert hat. Das haben Sie in
Richtung Ihrer eigenen Reihen gesagt, um die grünen
Truppen zusammenzuhalten. Heute haben Sie ganz anders argumentiert. Sie behaupteten, der Gesetzentwurf
habe sich total verändert und er sei jetzt in unserem Sinn.
Ich frage Sie: Was gilt jetzt eigentlich? Gilt das, was Sie
am Montagabend gesagt haben, oder das, was Sie hier gesagt haben?
({3})
Ich bin der Meinung, dass dieser zur Verabschiedung
vorliegende Gesetzentwurf den Sorgen der Menschen in
Deutschland nicht gerecht wird. Im Herbst 2000 ermittelte Emnid, dass 66 Prozent der Befragten die Zuwanderung nach Deutschland als zu stark empfinden und dass
damit die Grenze der Belastbarkeit der Gesellschaft überschritten ist. 62 Prozent der jungen Menschen sind laut
Shell-Studie der gleichen Meinung. Für 61 Prozent der
Befragten muss das Ziel eines Zuwanderungsgesetzes
sein, die Zuwanderung zu verringern; das hat Allensbach
im Oktober 2001 ermittelt. Trotz intensiver Diskussionen
und Beratungen Ihres Gesetzes sagen laut Emnid vom
letzten Freitag 76 Prozent der Menschen, dass Ihr Gesetz
zu mehr Zuwanderung führt.
({4})
Damit liegen Sie neben der Meinung der Mehrheit der
Menschen bei uns im Land. Das wissen Sie. Deswegen
scheuen Sie vor der Wahl eine Diskussion darüber und
deswegen möchten Sie das jetzt möglichst rasch vom
Tisch haben.
({5})
Es wird sich für Rot-Grün rächen, sich so kalt über die
Sorgen der Mehrheit der Deutschen hinwegzusetzen.
({6})
Ich zitiere Georg Paul Hefty. Er hat in der „FAZ“ geschrieben:
Schily hat sich in allen Einzelheiten in erster Linie
nicht als Sachwalter der Bürger, sondern als der seiner Partei und ihres Koalitionspartners erwiesen.
({7})
Vom Inhalt und von der Ausgestaltung der einzelnen
Zuwanderungstatbestände her ist der heute vorliegende
Entwurf nach wie vor auf Erweiterung angelegt. Dahinter
steckt, wie ich meine, ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel. Gesellschaftspolitisch sollen die Weichen
offensichtlich auf die Umwandlung Deutschlands in ein
multikulturelles Einwanderungsland, so wie es die Grünen schon immer gewollt haben, gestellt werden. Eine
verantwortungsvolle Politik, so meinen wir, muss die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten auf ein sozial verträgliches Maß begrenzen.
({8})
Es fehlt mir auch die Diskussion darüber, dass die EUOsterweiterung vor der Tür steht und dass damit natürlich Freizügigkeit für viele zig Millionen Menschen in der
Europäischen Union bestehen wird - auch ohne ein
Zuwanderungsgesetz.
({9})
Wer verantwortungsvoll handeln will, der muss die
Zuwanderung in unsere Sozialsysteme, vor allem auch
durch den Missbrauch unseres Asylrechts, reduzieren.
Eine verantwortungsvolle Regelung muss die so gewonnenen Spielräume ausschließlich für die Zuwanderung
beruflich höher Qualifizierter nutzen.
({10})
Vor allem muss die Integration der rechtmäßig und
dauerhaft hier lebenden ausländischen Mitbürger gefördert werden. Das ist in der Vergangenheit - ich gebe gern
zu: auch während unserer Regierungszeit - zu wenig geschehen.
({11})
Wenn wir uns über das Zuwanderungsgesetz nicht einig
werden - ich befürchte, dass eine Einigung in dieser
Wahlperiode nicht mehr möglich ist -,
({12})
dann müssen wir versuchen, zumindest im Integrationsteil etwas hinzubekommen. Das wäre des Schweißes der
Edlen wert.
({13})
Eine verantwortungsvolle Politik muss das Entstehen
von Ausländerfeindlichkeit angehen,
({14})
indem die Ursachen bekämpft werden.
({15})
Die Union hat als Erste ein Konzept zur Steuerung und
Begrenzung vorgelegt. Sie haben es nicht in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. Vorhin hat hier jemand gefragt: Was würden Sie machen, wenn wir Ihren Entwurf
unter einer anderen Überschrift vorlegen würden?
({16})
Darauf antworte ich: Wir würden zustimmen. Aber was
jetzt auf dem Tisch liegt, ist nicht unser Entwurf.
({17})
In dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wird die Tatsache, dass keine andere westliche Industrienation einen
so hohen Ausländeranteil hat wie Deutschland - 9 Prozent -, immer noch nicht richtig zur Kenntnis genommen.
({18})
Der EU-Durchschnitt liegt bei 5,5 Prozent. Frankreich hat
einen Ausländeranteil von 6 Prozent und Großbritannien
einen von 4 Prozent. Die Integrationsfähigkeit unserer
Gesellschaft und unseres Arbeitsmarktes ist erschöpft und
teilweise stark überfordert.
In vielen Großstädten beginnen sich Parallelgesellschaften zu entwickeln. Sie hören den Menschen im
Münchner Hasenbergl oder im Berliner Wedding nicht
mehr zu;
({19})
sonst würden Sie auch deren Gefühle kennen und berücksichtigen.
({20})
Wir als Politiker müssen lernen, auch auf das zu hören,
was uns die Menschen sagen, die nicht in den elitären Diskussionszirkeln und Kommissionen dabei sind.
({21})
Schon heute beträgt der Ausländeranteil in München
22,6 Prozent, in Hamburg 16 Prozent und in Berlin beinahe 13 Prozent.
Es gab eine Anhörung im Innenausschuss. Dabei haben
Bevölkerungswissenschaftler ihre Studien vorgetragen.
({22})
- Man kann das auch nachlesen; man muss nicht überall
dabei sein. Ich empfehle auch Ihnen: Lesen Sie viel! Dann
lernen Sie etwas dazu.
Bevor Sie lesen, hören Sie aber erst einmal zu. Ich sage
Ihnen nämlich, was zum Beispiel der Bevölkerungswissenschaftler Birg in einem Gutachten für die Bayerische
Staatsregierung dargestellt hat.
({23})
Demnach werden in vielen Großstädten in Deutschland
ab 2010 die Zugewanderten die Hälfte der Bevölkerung unter 40 Jahren stellen. Zu einem ähnlichen
Ergebnis kommt Professor Münz, Mitglied der so genannten Süssmuth-Kommission. Es war eigentlich keine
Süssmuth-Kommission, sondern eine Regierungskommission. Es war auch nicht, wie vorhin dargestellt worden
ist, eine Kommission aller Parteien. Das kann sie nicht
sein, wenn Sie die Kommissionsmitglieder auswählen.
({24})
Ich will auch nur mit dem Märchen aufräumen, dass darüber immer wieder verbreitet wird:
({25})
Frau Süssmuth, vor deren persönlicher Arbeit ich Respekt
habe, hat dort ausschließlich auf eigene Rechnung gehandelt. Auch das muss einmal festgestellt werden.
({26})
Herr Professor Münz, der Mitglied dieser so genannten Süssmuth-Kommission gewesen ist, geht also davon
aus, dass bis zum Jahre 2050 in Städten wie München,
Hamburg oder Frankfurt bei einem durchschnittlichen
jährlichen Nettozuwachs von 200 000 Ausländern der
Ausländeranteil auf über 45 Prozent ansteigen wird. Ich
frage - das müssen wir beachten -: Wie wollen Sie angesichts dieser Entwicklung diese Menschen in unsere
Gesellschaft ohne innere Konflikte integrieren? Eine Antwort darauf zu finden muss unsere Hauptaufgabe sein.
({27})
Sie reden von Zuwanderungsbegrenzung, tatsächlich
wird sie ausgeweitet.
({28})
Ich versuche das noch einmal mit ein paar Fakten deutlich
zu machen: 250 000 so genannten Geduldeten, also Personen, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet sind, geben
Sie ein Daueraufenthaltsrecht, das auch noch - darum
geht es - mit einem Nachzugsrecht für Familienangehörige verbunden ist.
({29})
Das führt natürlich zu einer starken zusätzlichen Zuwanderung. Alle Ausländer, die aus humanitären Gründen ein
Bleiberecht in Deutschland haben, erhalten nach Ihrem
Gesetz Zugang zum Arbeitsmarkt. Asylbewerber, bei denen überhaupt nicht klar ist, ob sie einen Anspruch auf
Asyl haben, sollen ihre Familien nach Deutschland holen
können. Ich habe das so präzise ausgedrückt, damit es
auch die Leute draußen verstehen.
Blicken wir einmal ein Stück in die Geschichte der sozialdemokratischen Partei zurück: Früher war die sozialdemokratische Partei noch eine Arbeitnehmerpartei,
({30})
heute ist sie in weiten Teilen eine Soziologenpartei geworden.
({31})
- Nun hören Sie doch bitte einmal zu, vielleicht lernen Sie
etwas. - Bei 347 000 Arbeitslosen hat Willy Brandt 1973
den Anwerbestopp verkündet.
({32})
Bei 4,3 Millionen offiziell gemeldeten Arbeitslosen will
Gerhard Schröder diesen Anwerbestopp aufheben. Das ist
Tatsache.
Ich habe durchaus Verständnis für den Ruf mancher
Unternehmen nach ausländischen Arbeitskräften. Betriebswirtschaftlich macht das ganz klar Sinn. Jeder Nachfrager freut sich darüber, wenn das Angebot größer wird,
weil dann der Preis sinkt. Wir aber lehnen Lohndumping
für deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab.
({33})
Wir lehnen Lohndumping in Deutschland ab. Es muss
natürlich bei dem alten Grundsatz bleiben, dass die Arbeit
eher zu den Menschen durch weltweite Arbeitsteilung gebracht wird als die Menschen zur Arbeit.
({34})
Wir haben andere Entscheidungskriterien als die
Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften zu berücksichtigen. Die sind den Mechanismen des Aktienmarktes
verpflichtet, wir sind dem gesamtvolkswirtschaftlichen
Interesse unseres Landes verpflichtet. Auch der Herr Bundeskanzler spricht ja von gesamtstaatlicher Verantwortung. Es kann natürlich sein, dass durch Zuwanderung der
Gewinn einer Aktiengesellschaft erhöht werden kann.
Eine Aktiengesellschaft, die aus ausländischen Arbeitnehmern Nutzen zieht, ist aber nicht dem Gemeinwohl
verantwortlich. Die Integrationskosten bleiben nämlich
bei der Gesellschaft hängen. Diese sind gewaltig hoch und
nirgendwo wurden dafür Rückstellungen gebildet.
({35})
Wir schieben da einen Berg von Kosten vor uns her. Die
Wirtschaft hat bisher keine Antwort auf dieses Problem
gegeben. Wir hören deswegen zwar sehr genau zu, was
die Wirtschaft sagt,
({36})
wir setzen diese Forderungen aber nicht im Verhältnis 1:1
um.
Es wäre auch besser gewesen, wenn Sie zum Beispiel
bei Ihrer Steuerpolitik nicht nur auf Punkt und Komma
genau das umgesetzt hätten, was die großen Aktiengesellschaften gewollt haben; dann wären wir heute in einer anderen Situation.
({37})
Zwischen 1979 und 1999 hat sich die Zahl der Ausländer in Deutschland mehr als verdoppelt; das ist eine Tatsache. Gleichzeitig ist in diesen 20 Jahren die Zahl der
sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ausländer unverändert geblieben.
({38})
Es hat also eine gewaltige Zuwanderung in unsere
Sozialsysteme stattgefunden. Die Arbeitslosenquote der
in Deutschland lebenden Ausländer ist doppelt so hoch
wie der Durchschnitt.
({39})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie dauernd schreien. Wer
schreit, hat Unrecht, habe ich einmal gelernt. - Die Quote
ausländischer Sozialhilfeempfänger ist dreimal so hoch
wie die Quote bezogen auf die gesamte Bevölkerung.
Nur durch eine konsequente und wirksame Politik
zur Begrenzung des Zuzugs aus Ländern, die nicht
Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind,
lässt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Dies ist zur Aufrechterhaltung des sozialen
Friedens unerlässlich.
({40})
Dieses Zitat stammt aus einem Beschluss der Bundesregierung vom 3. Februar 1982 unter Vorsitz von Helmut
Schmidt. Er ist angeblich das Vorbild unseres jetzigen
Bundeskanzlers. Da kann ich nur feststellen: Wie weit hat
sich Bundeskanzler Gerhard Schröder von Helmut
Schmidt entfernt!
({41})
Wir müssen - das sage ich auch der deutschen Wirtschaft - das in Deutschland vorhandene Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen. Es ist unmenschlich, dass man viele
Erwerbstätige zwischen dem 55. und 64. Lebensjahr nach
Hause schickt, statt sie auf neue Tätigkeiten umzuschulen,
und gleichzeitig nach Menschen von außerhalb ruft.
({42})
Das mag das soziale Verständnis der Neosozialdemokraten sein, die jetzt an der Regierung sind und alles tun, um
dem grünen Partner zu gefallen. Unser Verständnis von
sozialer Gerechtigkeit ist das jedenfalls nicht.
({43})
Die Politik hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der
deutsche Arbeitsmarkt wieder besser ausgeschöpft wird.
Ich bin der Meinung - da gebe ich Bundeskanzler
Schröder Recht -, dass wir die deutschen Begabungsreserven besser nutzen müssen.
({44})
Er hat gesagt - das können Sie im „Tagesspiegel“ vom
5. Februar 2002 nachlesen -: Eine Gesellschaft, die es
nicht schaffe, Begabungsreserven bei sozial Schwächeren
zu erschließen, sollte es lassen, über Einwanderung zu
diskutieren. Dieser Satz stammt vom Bundeskanzler.
Dem sollten Sie glauben.
({45})
Ich komme zum Schluss: Nach dem 22. September dieses Jahres werden wir die Gelegenheit haben, ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz auf den Weg zu bringen.
({46})
Dann werden wir, nicht zuletzt durch Ihren verfehlten Gesetzentwurf, andere Mehrheiten in diesem Haus haben.
({47})
Wir werden mit den Wählerinnen und Wählern über dieses Gesetz sprechen und ihnen Pro und Contra erklären.
Wir haben keine Angst vor den Wählerinnen und Wähler.
Sie müssen sie fürchten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({48})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Glos, ich bin Ihnen wirklich dankbar für Ihre Rede,
weil Sie so klare Worte gefunden haben.
({0})
Sie haben gerade gesagt: bevor ein Ausländer nach
Deutschland komme und hier einen Arbeitsplatz einnehme, sei es besser, die Arbeitsplätze würden ins Ausland verlagert.
({1})
Das heißt, Sie wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland schwächen. Sie wollen Betriebsteile ins Ausland verlegen und damit Arbeitsplätze in unserem Land gefährden. Rot-Grün sagt dagegen: Die Arbeitsplätze bleiben
hier! Deshalb brauchen wir das Zuwanderungsgesetz.
({2})
Dieses Gesetz wahrt die Humanität. Es gestaltet die
Zuwanderung aus arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Es verpflichtet zu Integration und regelt
diese erstmals. Das ist auch gut so. Es räumt - das ist die
Stärke dieses Gesetzes - mit ausländergesetzlichen Mythen auf. Es gestaltet die Problembereiche und verleugnet
sie nicht länger.
Der Anlass für diese Gesetzgebungsinitiative war ein
parteiübergreifender Konsens über die Erkenntnis, dass
wir in Deutschland Zuwanderung von hoch Qualifizierten, aber auch von anderen Gruppen, die wir genau definieren, brauchen. Diesen Konsens hatten wir noch im
letzten Jahr.
({3})
Sie haben ihn aus billigen wahltaktischen Überlegungen
aufgekündigt, zum Schaden unseres Landes.
({4})
Wir haben doch in der Debatte über die Greencard für
IT-Fachleute gemerkt, dass man mit dem Anwerbestopp
und der Anwerbestoppausnahmeverordnung nicht mehr
weiterkommt. Wir müssen das Ganze positiv gestalten.
Wir müssen definieren, wer aus welchen Gründen in unser Land kommen darf. Nur wenn das positiv definiert
wird, kann man das verantwortungsvoll gestalten.
Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Bitte, gerne.
Herr Kollege
Beck, Sie haben gerade gesagt, die Arbeitsplätze blieben
hier und darum holten wir die Ausländer hierher.
So pauschal habe ich das nicht gesagt.
Wie wollen Sie das
mit dem Tatbestand in Einklang bringen, dass wir zum
Beispiel im Land Niedersachsen bei den dort lebenden
Ausländern eine Arbeitslosigkeit von 27 Prozent haben
und dass wir im Gegensatz dazu bei den in BadenWürttemberg lebenden Ausländern nur eine Arbeitslosigkeit von 13 Prozent haben, was immer noch entschieden
zu viel ist? Welchen Sinn soll Ihre Regelung eigentlich
machen? Wenn Sie das Problem, die Menschen in Arbeit
zu bringen, in den Ländern, in denen Rot-Grün regiert,
so schlecht gelöst haben - ich könnte auch die Zahl für
Nordrhein-Westfalen nennen -, wie wollen Sie es dann lösen, wenn Sie noch mehr Menschen hierher holen?
({0})
Vielen Dank, Herr Schauerte, für diese Frage; denn das
möchte ich Ihnen gerne erklären. Die Situation der relativ
hohen Arbeitslosigkeit bei Migranten ist unter dem
gegenwärtig geltenden Ausländergesetz entstanden.
({0})
Darin haben wir nicht präzise gesteuert, wer zu uns kommen soll und wie die Qualifikationsmerkmale aussehen
sollen. Außerdem haben wir einen Fehler in Bezug auf die
Gastarbeiter gemacht. Wir haben die Leute hierher geholt,
({1})
aber nicht beachtet, dass sich der Arbeitsmarkt in Deutschland umstrukturiert. Wir haben sehr gering qualifizierte
Leute ins Land geholt und sie nicht weiter qualifiziert.
({2})
Wir haben auch nichts aktiv für ihre Integration getan.
Das sind die Fehler der Vergangenheit, mit denen dieses
Gesetz aufräumt.
({3})
Herr Schauerte, ich will Ihnen noch einmal darstellen,
was wir in diesem Gesetz regeln. Wir öffnen verschiedene
Türen, über die Zuwanderung möglich wird,
({4})
einmal für hoch Qualifizierte. In diesem Fall sind unsere
Anforderungen sehr hoch: Hochschulstudium, Einkommen usw.
({5})
Das sind die Leute, in Bezug auf die Konsens besteht, dass
wir sie brauchen; das haben noch nicht einmal Sie infrage
gestellt. - Bleiben Sie bitte stehen, Herr Schauerte, ich bin
mit der Antwort auf Ihre Frage noch nicht fertig.
({6})
Wir regeln darüber hinaus die Zuwanderung von
Selbstständigen, die hier Arbeitsplätze schaffen, und wir
regeln ein Auswahlverfahren, in dem Bundestag und
Bundesrat gemeinsam beschließen, wie viele Menschen
nach Deutschland kommen sollen und nach welchen Kriterien, nach unserem Bedarf definiert, wir sie aufnehmen
wollen. Indem wir definieren, wer kommen soll, werden
wir die Situation beenden, die in Ihrer Regierungszeit unter Ihrem Ausländergesetz entstanden ist. Da können Sie
gewiss sein.
({7})
Dass Sie den Leuten etwas vormachen, zeigen Ihre eigenen Landesregierungen. In Bayern und Hessen regieren
meines Wissens Unionsparteien.
({8})
Dort wirbt die Union unqualifizierte Arbeitskräfte aus
Osteuropa an, nämlich Haushaltshilfen für Haushalte, in
denen pflegebedürftige Menschen leben.
({9})
Sie können mir doch nicht erzählen, dass es in Deutschland keine Menschen gibt, die diese Arbeitsplätze besetzen könnten! Offensichtlich gelingt es auch Ihren Landesregierungen nicht, die Arbeitskräfte in Deutschland
dorthin zu bringen, wo Bedarf besteht. Deshalb machen
Sie den Leuten doch nichts vor und behaupten Sie nicht,
es gäbe keine Probleme, die einer dringenden Lösung bedürften!
({10})
Sie machen eine unverantwortliche Politik, die von
Kardinal Sterzinsky zu Recht das Prädikat „eine Schande“
bekommen hat.
({11})
Sie machen eine Politik, bei der Sie die wahren Bedürfnisse, die wahre Situation und den wahren Gehalt des Gesetzes leugnen.
Herr Glos, in diesem Zusammenhang zurück zu Ihrer
Rede. Sie haben eine Emnid-Umfrage zitiert. Ich finde,
dass man Politik aus Verantwortung und nicht auf der
Grundlage von Umfragen machen muss und dass man sie
den Wählern erklären muss.
({12})
Aber das mag dahingestellt sein. Sie haben diese Umfrage
aber auch noch falsch zitiert. Sie haben nämlich behauptet, dass 70 Prozent der Bevölkerung keine weitere Zuwanderung haben wollen. Aber die Umfrage ergab auch,
dass 74 Prozent der Bevölkerung die Zuwanderung lediglich durch ein Gesetz gesteuert haben wollen. Genau das
tun wir heute mit diesem Gesetz.
({13})
Sie haben in der Debatte zunächst gesagt, Sie wollen
die Zuwanderung begrenzen. Genau das tun wir in § 1 des
Zuwanderungsgesetzes. Es stand ohnehin schon in den
§§ 18 bis 20 dieses Gesetzes, wie die Zuwanderung gesteuert und begrenzt wird. Wer nämlich Zuwanderung
steuern will, muss sie notwendigerweise begrenzen. Alles
andere wäre Unsinn.
Herr Bosbach hat nun aber am Dienstag auf seiner
Pressekonferenz die Hosen heruntergelassen.
({14})
Es geht ihm nicht um eine Begrenzung der Zuwanderung,
sondern um eine Reduzierung. Sie wollen in der Tat ein
Zuwanderungsabschaffungsgesetz und behaupten gegenüber der Bevölkerung, dass das möglich und sinnvoll sei.
Wir müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass wir
in den letzten Jahren eine jährliche Abwanderung aus
Deutschland von über 500 000 Ausländern und Deutschen
hatten. Um den Stand der Bevölkerung zu halten oder
wieder zu erreichen, brauchen wir mindestens eine entsprechende Zuwanderung.
Meine Damen und Herren von der Union, wir haben
18 Änderungsanträge aus Ihrem 16-Punkte-Papier übernommen.
({15})
- In Ihren 16 Punkten sind in Wirklichkeit 91 Änderungsanträge enthalten. Auch das ist eine Mogelpackung Ihrerseits. Wir haben zusätzlich noch die vier Änderungswünsche aus Brandenburg übernommen. - Wir haben das
Alter für den Kindernachzug auf 12 Jahre abgesenkt. Wir
haben bei den Verfolgungsgründen deutlich gemacht,
dass sie keine Ausweitung über die Genfer Flüchtlingskonvention hinaus bedeuten. Ich möchte an dieser Stelle
den UNHCR zitieren, der unsere Auffassung bestätigt.
Der UNHCR-Repräsentant in Deutschland attestiert dem
heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf,
dass die nun gefundene Regelung für den Schutz vor
nicht staatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung die völkerrechtlichen Standards auf Grundlage
der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt.
({16})
Wer unter dieses Abkommen fällt, ist genau definiert.
({17})
Es kann deshalb in Zukunft mit größerer Trennschärfe und Genauigkeit in Deutschland festgestellt
werden, wer den vollen Schutz der GFK verdient.
({18})
Wollen Sie wirklich hinter die völkerrechtlichen Standards beim Flüchtlingsschutz zurückfallen? Was Sie hier
vortragen, ist doch wirklich absurd.
({19})
Wir sind Ihnen in § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes bei den Integrationskosten entgegengekommen. Deswegen müsste Ihnen eine Zustimmung möglich sein. Uns
ist es wirklich sehr schwer gefallen, diesem Entgegenkommen zuzustimmen. Unser Koalitionspartner weiß,
wie wir mit uns und untereinander gerungen haben. Eine
Zustimmung ist uns aber deshalb möglich gewesen, weil
an einigen Stellen des Gesetzes Korrekturen und - das soll
nicht unter den Tisch fallen - Verbesserungen erreicht
wurden.
Wir werden ab dem 1. Januar 2003 - Marieluise Beck
wird das besonders freuen - keine Ausländerbeauftragte
mehr haben, sondern eine Beauftragte für Migration,
Flüchtlinge und Integration mit einer gestärkten Position.
Das ist für uns ein wichtiger Punkt.
({20})
Herr Kollege Beck,
Sie müssen zum Ende kommen.
Eine letzte Bemerkung: Wir werden eine Härtefallregelung bekommen - das ist ein Wunsch der Länder, von
Baden-Württemberg genauso wie von Niedersachen oder
Nordrhein-Westfalen -, die es ermöglicht, jenseits des
starren Rechtes im Einzelfall humanitär begründete Entscheidungen zu fällen, die dann noch einmal von den Ausländerämtern überprüft und berücksichtigt werden können.
({0})
Auch das kann kein Grund für Ihre Ablehnung sein; denn
Sie selbst haben im Saarland, in Baden-Württemberg und
überall dort, wo Sie regieren, diese Regelung gefordert.
Wenn Sie sachlich entscheiden, dann müssen Sie zustimmen. Wenn Sie allerdings nur Wahlkampf auf dem
Rücken von Ausländern und Flüchtlingen machen wollen,
Volker Beck ({1})
dann werden wir Sie natürlich nicht überzeugen können.
In diesem Fall würde kein Argument bei Ihnen Gehör finden.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bereits darauf verwiesen
worden: Diese Debatte wird seit langem geführt. Mein
Eindruck ist, dass sie ihre beste Zeit zu dem Zeitpunkt
hatte, als sie das Parlament noch nicht erreicht hatte. Man
versteht doch angesichts der Art und Weise der jetzigen
Debatte die Welt nicht mehr: Die CDU/CSU bekämpft das
Großkapital und die Grünen geben die Wirtschaftslobby;
aber eigentlich geht es um Menschenrechte.
({0})
In der Süssmuth-Kommission, auf die hier schon hingewiesen wurde, waren in der Tat noch Meinungen gefragt. Wir waren nahe an der Schaffung eines gesellschaftlichen Konsenses dahin gehend, Deutschland als
Einwanderungsland zu verstehen. Denn es geht in der
Tat um die Beantwortung der Frage: Wollen wir eine offene Gesellschaft oder wollen wir Abschottung?
({1})
Dann hat die CDU/CSU die in dieser Debatte bekannte
Haltung eingenommen und sich verweigert. Daraufhin
hat Bundesinnenminister Otto Schily Hand und Helm angelegt.
({2})
Herausgekommen ist das, was uns jetzt vorliegt. Im Regierungsentwurf ist aus unserer Sicht der entscheidende
Ansatz der Kommission, Einwanderung als positiv zu bewerten, nicht aufgenommen worden.
Ich will hier den gewiss unverdächtigen Kollegen
Norbert Blüm zitieren, der es, wie ich finde, auf einen
markanten Punkt gebracht und gesagt hat: Wir wollen hier
nur die Qualifizierten aus den Entwicklungsländern absahnen. Er nannte das dann im Übrigen „neokapitalistisch“. Stellen Sie sich einmal vor, wie Sie reagieren würden, wenn ich so etwas sagen würde!
({3})
Die PDS-Fraktion hat im Dezember des vergangenen
Jahres den damals vorliegenden Gesetzentwurf abgelehnt. Wir hatten dafür gute Gründe. Danach haben Sie
ihn ausschließlich in Richtung CDU/CSU verändert. Herr
Bundesinnenminister, Ihre Bemühungen waren vergeblich. Wie viel Zeit haben Sie mit der Union verbracht! Ich
hoffe, dass Sie sich zumindest vornehmen, diese Zeit irgendwie nachzuarbeiten. Es wird Sie also nicht verwundern, dass die PDS-Fraktion heute angesichts einer solchen Richtungsveränderung mehrheitlich Nein sagt. Eine
Reihe von Kolleginnen und Kollegen werden sich allerdings enthalten.
Frau Müller, Sie haben beschrieben, wie sehr Sie sich
bemüht haben und wie tief Sie sich vor der Union verbeugt haben, um deren Zustimmung zu erreichen. Es hat
Ihnen, wie Sie heute feststellen, nichts genützt. Nun
möchte ich Sie fragen: Warum bleiben Sie dann immer
noch in dieser Verbeugungshaltung? Was wollen Sie da
unten? Kommen Sie hoch und machen Sie ein kühneres
Einwanderungsgesetz als das, das jetzt vorliegt!
({4})
Natürlich muss man sich an dieser Stelle fragen, was
die Union angesichts der Aufforderungen seitens der Kirchen und der Verbände zu ihrer Haltung treibt.
({5})
Eines ist völlig klar: Es geht Ihnen um Stimmen rechts
von der Mitte, um Stimmungsmache und nicht um Aufklärung. Die Rede des Kollegen Glos hat das deutlich gemacht.
({6})
Die Behandlung des Gesetzentwurfes nahm einen seltsamen Gang. Ein Mitglied des Kabinetts, der Bundesinnenminister, hat sich im Hinblick auf das Parlament regelrecht zu einer Selektion entschlossen, indem er nur mit
bestimmten Fraktionen verhandelt hat. Ich möchte nicht
sagen, dass wir auf solche Treffen besonders scharf
wären.
({7})
Aus dem Innenausschuss ist mir berichtet worden, dass
Begegnungen mit dem Bundesinnenminister nicht vergnügungsteuerpflichtig sind. Aber hinnehmen darf ein
Parlament ein solches Verhalten auch nicht - und das
durchaus nicht nur im Interesse einer kleinen Fraktion,
sondern auch im Interesse der Koalitionsfraktionen.
({8})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Bürsch?
Ja, natürlich.
Herr Kollege, Sie haben
zu Recht auf das Recht des Parlamentes verwiesen. Ist Ihnen bekannt, dass die Berichterstatter der SPD mehrere
Gespräche mit Berichterstattern bzw. Mitgliedern Ihrer
Fraktion über das Zuwanderungsgesetz geführt und mehrere Stunden damit verbracht haben, die jeweiligen Überlegungen zu vergleichen, und dass die SPD-Fraktion auch
Ihre Vorstellungen zur Kenntnis genommen hat?
({0})
Volker Beck ({1})
Herr Kollege, selbstverständlich ist mir das bekannt. Auch der Inhalt und das Ergebnis
dieser Gespräche, mit dem ich nicht zufrieden bin, sind
mir bekannt. Ich muss Sie aber damit konfrontieren, dass
in der Öffentlichkeit nur die Selektion des Bundesinnenministers im Hinblick auf das Parlament wahrgenommen
worden ist, während die Tatsache, dass Sie auf der Fachebene Gespräche auch mit der PDS geführt haben, die Öffentlichkeit nicht in diesem Maße erreicht hat. Deshalb
kann dies hier durchaus noch einmal angesprochen werden.
Die Kritikpunkte und Vorschläge der PDS blieben leider weitgehend unbeachtet. Ich sage das nicht deswegen,
weil wir uns hier eine Sonderkompetenz zumuteten, sondern deswegen, weil es aus Menschenrechtsorganisationen, Verbänden und Kirchen sehr wohl entsprechende Erwartungen gibt. Wir meinen, dass Flüchtlingsrechte nicht
hinreichend verbessert wurden und auch die Integration
als zweiseitiger Prozess mit dem jetzt vorliegenden Gesetz in der Tat nicht ausreichend gestärkt wird.
Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass Sie die
Kompromisssuche vorwiegend in Richtung Union gestaltet haben. Das ist auch heute deutlich geworden. Aber wir
haben Sie bereits im Dezember des letzten Jahres bei der
ersten Lesung des Gesetzentwurfes darauf hingewiesen,
dass weder die SPD noch die Union im Bundesrat eine
Mehrheit hat.
Nun haben sich einige Sorgen gemacht, die PDS
könnte mit der CDU verwechselt werden,
({0})
wenn sie wie diese den Gesetzentwurf ablehnt. Nun wissen Sie von mir, dass ich mich ausdrücklich um eine Entkrampfung des Verhältnisses von Union und PDS
bemühe. Aber eines will ich nun doch sagen: Eine Verwechslungsgefahr zwischen Sozialisten und Unionsvertretern gibt es wohl in der Tat nicht.
({1})
- Ich danke Ihnen für die Zustimmung, Herr Kollege.
Deutschland braucht ein modernes Zuwanderungsrecht. Dazu hätten Sie in der Koalition die Chance gehabt.
Ich denke, Sie haben diese Chance immer noch. Sie sollten sich nicht auf diese generelle Ablehnung versteifen,
bis zur Entscheidung im Bundesrat jegliche Vermittlung
zu verweigern. Sie haben ein noch einfacheres Mittel,
Ihren Gesetzentwurf zu verbessern: Nehmen Sie doch
einfach die heute vorgelegten Änderungsanträge der PDS
an. Schon steigern Sie den Grad unserer Zufriedenheit erheblich.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Sebastian Edathy, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, zu Beginn meiner
Rede aus einem Plenarprotokoll zu zitieren. Das Zitat lautet:
Meine Herren, bei uns ist man im Gegensatz zu anderen Ländern, die froh sind, wenn sie in jeder Beziehung tüchtige Ausländer als Bürger erwerben können, von einem außerordentlichen Misstrauen gegen
die Aufnahme von Ausländern beherrscht und legt
dieser Frage ganz kolossale Wichtigkeit bei.
Dieser Satz ist in diesem Gebäude gesagt und von Stenografen mitgeschrieben worden. Er stammt von dem
sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Otto
Landsberg aus einer Reichstagsdebatte vom 27. Februar 1912. Wer am Tag dieser Debatte geboren worden
ist, in der von diesem außerordentlichen Misstrauen gegen Ausländer die Rede war, der konnte vorgestern seinen
90. Geburtstag feiern.
Wir als Parlamentarier tragen Verantwortung für die
Gestaltung der Zukunft in diesem Land und in dieser Gesellschaft. Wenn ich von Zukunft spreche, Herr Glos und
Herr Merz, dann meine ich nicht die verbleibenden Monate bis zur nächsten Wahl, sondern denke, dass wir uns
bei Zukunftsfragen daran orientieren müssen, wie dieses
Land in 10, 20, 30 oder 40 Jahren aussehen soll. Daran
müssen wir unsere Entscheidungen messen und ausrichten.
({0})
Menschen in Deutschland werden irgendwann in einigen Jahrzehnten, wenn der 14. Bundestag längst Geschichte ist, die heutige Debatte möglicherweise nachlesen. Sie werden sich dann die Frage stellen, inwieweit
sich die demokratische Elite dieses Landes - ich betone:
demokratische Elite - als fähig erwiesen hat, auch schwierige Fragen mit Vernunft und Augenmaß zu behandeln.
Herr Glos, den Finger in den Mund zu stecken und dann
in den Wind zu halten, das ist kein Politik-Ersatz.
({1})
Kein Politik-Ersatz, sondern verantwortungslos ist
auch, Ängste zu missbrauchen. Wir als Demokraten haben die Aufgabe, Ängste ernst zu nehmen, zu hinterfragen
und mit den Bürgern zu sprechen. Wir haben nicht die
Aufgabe, Ängste zu instrumentalisieren und Wasser auf
Mühlen der Feinde der Demokratie zu lenken, wie Sie das
hier zumindest angedeutet haben.
({2})
Das Thema Zuwanderung ist ein schwieriges Thema in
Deutschland,
({3})
vor allem deshalb, weil es über Jahrzehnte tabuisiert worden ist. Der Umgang mit dem, was man als fremd empfindet, ist nie leicht.
({4})
Er berührt nicht zuletzt das eigene Selbstverständnis. Wo
es an einem stabilen, aufgeklärten und demokratischen
Selbstverständnis fehlt, wird der Umgang mit dem
Fremden oder vermeintlich Fremden oft irrational.
Weil ich glaube, dass dies eine historische Stunde ist,
will ich deutlich sagen, dass die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland mit der Perversion, Fremdes zum
Feind und zum Objekt von Vernichtung zu erklären, die
notwendige Entwicklung einer Debatte in Deutschland
unterbrochen hat, die Otto Landsberg hier vor 90 Jahren
mit angestoßen hat und der wir uns durch einen sachlichen
Umgang mit dieser schwierigen Frage wieder nähern
müssen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das auch anders
geht, ist mir unter anderem in einem Gespräch mit einer
niederländischen Parlamentskollegin deutlich geworden.
Ich fand es sehr bemerkenswert, dass sie die Menschen,
die in die Niederlande kommen und dort eine dauerhafte
Bleibeperspektive haben, nicht als Fremde, sondern als
Neulinge bezeichnet hat. Man muss sich das einmal vor
Augen führen. Ich glaube, das ist ein guter Ansatz, den wir
uns - auch in anderen Fällen könnten wir uns an unseren
niederländischen Nachbarn orientieren - zu Eigen machen sollten.
Die Zuwanderung nach Deutschland, und damit verbunden die Frage der Integration von Zuwanderern, ist
ein so stark ideologisch geprägtes Themenfeld wie kaum
ein anderes. Über Jahrzehnte hinweg hat die politische
Rechte dieses Landes behauptet - heute ist das in den Reden von Herrn Glos und Herrn Merz wieder deutlich geworden -, dass jeder Zuwanderer eine potenzielle Bedrohung für die Stabilität unserer Gesellschaft sei.
({6})
Umgekehrt haben manche, die sich als politisch links
verstanden haben oder verstehen, bisweilen den Eindruck
erweckt, als sei jeder Zuwanderer potenziell ein besserer
Deutscher als die Deutschen. Beides sind fantasiebehaftete Bilder, die lange Zeit den Blick auf die Realität verstellt haben.
({7})
In dem einen Fall geschah das in Form von Angstfantasien und in dem anderen Fall in Form von Wunschfantasien.
Wenn es richtig ist, dass gute Politik die Wirklichkeit
zur Kenntnis nehmen muss, dann sollten wir uns dem
Thema Zuwanderung so nähern, wie es Bundespräsident
Johannes Rau in seiner Berliner Rede im Jahre 2000 auf
den Punkt gebracht hat, als er formulierte: „ohne Angst
und ohne Träumerei“. Dieses Motto sollte uns bei der Entscheidungsfindung heute und in Zukunft leiten.
Jeder zehnte Bewohner dieses Landes besitzt nicht die
deutsche Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen haben in
Deutschland eine neue oder zumindest eine zweite Heimat gefunden. Es gibt in diesem Land 800 000 Ehen zwischen deutschen und ausländischen Partnern.
({8})
Wenn man es herunterrechnet, kommt man auf 2 500 pro
Wahlkreis. Herr Glos, ich nehme an, dass das auch für die
bayerischen Wahlkreise gilt.
({9})
Zuwanderung ist Realität. Wir haben uns aber viel zu
lange den Luxus geleistet, diese Realität nicht zur Kenntnis zu nehmen. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf historisch wichtig und bedeutsam. Es steht dort, dass er von der
Bundesregierung und von Rot-Grün erstellt wurde. Vom
Inhalt her ist er jedoch im Grunde ein Allparteiengesetzentwurf. Jede politische Farbe außer dunkelschwarz und
braun ist in diesem Gesetzentwurf enthalten. Er ist ein
ernsthaftes Angebot für einen Konsens, dem wir uns gemeinsam nicht verweigern sollten.
({10})
Es geht um drei Dinge:
Erstens geht es darum, das Ausländerrecht so verständlich zu machen, dass es auch für jemanden, der kein
Fachanwalt ist, nachvollziehbar wird.
Zweitens geht es darum, dass die Menschen, die mit einer dauerhaften Bleibeperspektive nach Deutschland
kommen, bessere Integrationsbedingungen vorfinden.
Drittens geht es darum, dass wir die Verantwortung für
die Erfüllung humanitärer Pflichten übernehmen und Zuwanderung auch unter wohlverstandenen eigenen Interessen organisieren.
Herr Glos, wenn es für einen Ausländer leichter ist,
Fußballprofi bei Bayern München zu werden, als Abteilungsleiter in einem Münchener Unternehmen, dann
sollte das auch der Bayerischen Staatskanzlei zu denken
geben.
({11})
Als wir vor zwei Jahren mit der sachlichen Debatte begonnen haben, haben die Beteiligten die Lippen gespitzt.
Ich habe die Hoffnung, dass alle nun auch bereit sind zu
pfeifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern haben wir
hier dem UNO-Generalsekretär stehend Beifall gezollt,
als er zu Recht auf die gewachsene internationale
Verflechtung der Politik und auf die Tatsache, dass das
Maß an wechselseitiger Abhängigkeit auf diesem Erdball
zugenommen hat, hinwies. Deshalb können Sie von der
Union sich heute doch nicht hier hinstellen und Deutschland zur Osterinsel erklären.
({12})
Es stellt sich nicht nur die Frage, in welchem Land Sie leben, sondern auch, auf welchem Planeten.
({13})
Es geht darum, die Chancen bei der Zuwanderung zu
nutzen und die Risiken zu minimieren. Genau das tun wir.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
hoffe, dass Sie sich dem möglichen und greifbar nahen
Konsens im Interesse unseres Landes nicht verweigern.
Die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die Sozialverbände
und die Kirchen sagen begründet und zu Recht, dass dieses Land gerade beim Umgang mit Zuwanderern keine
Politik der geballten Faust, sondern eine Politik der ausgestreckten Hand braucht. Das Angebot dazu liegt heute
vor.
({14})
Ich komme zum Schluss meines Beitrages. Ich habe
gelesen, dass die Kollegen Blüm, Geißler, SchwarzSchilling und Süssmuth die Nein-Sagerei der Opposition
nicht mitmachen wollen. Ich sage eindeutig: Nein sagen
ist keine Kultur, auch keine Leitkultur, sondern eine Unkultur, der Sie sich heute nicht verschreiben sollten. Übrigens sind die genannten Kollegen von der Union einmal
Grund für mich gewesen, Sozialdemokrat zu werden.
Umso erfreuter bin ich, dass diese gestandenen Leute
- ich glaube, es ist das halbe Kabinett des Jahres 1985,
von der FDP einmal abgesehen - mit der Koalition stimmen wollen. An dieser Stelle ein ganz besonderer Dank an
Frau Süssmuth, die sich in der Kommission viel Arbeit
gemacht hat; Sie sollten das nicht kleinreden.
({15})
Wir sollten vermeiden, für das Linsengericht eines vermeintlichen - ich betone: vermeintlichen - parteitaktischen Vorteils den Eindruck zu erwecken, wir würden ein
halbes Jahr vor der Bundestagswahl in Deutschland die
Politik einstellen.
({16})
Wir müssen auch bei schwierigen Fragen sachliche, vernünftige und angemessene Antworten geben. Eine Antwort auf ein ganz, ganz wichtiges Themenfeld haben Regierung und Koalition vorgelegt. Stimmen Sie bitte zu! Es
gibt keinen Grund, nicht zuzustimmen.
({17})
Ich erteile der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wie auch immer diese Debatte ausgeht, man kann eines
mit Gewißheit sagen: Wir werden in diesem Land weiter
Zuwanderung haben. Ob Unionsbürger, Familienangehörige, Flüchtlinge oder Arbeitskräfte; ein Land in der
Mitte Europas, das Teil einer wachsenden europäischen
Gemeinschaft ist, wird weiterhin Zu- und Abwanderung
haben. Die eigentliche Aufgabe ist es, diese Zu- und Abwanderung zu gestalten.
({0})
Wenn Sie in dieser Debatte vonseiten der Union die
Ängste der Bevölkerung schüren wollen und den Eindruck zu erwecken versuchen, dieser Gesetzentwurf
würde ein deutliches Mehr an Zuwanderung bringen,
dann sagen Sie schlicht die Unwahrheit.
({1})
In dieser Debatte wird auch der Migrationsbericht
der Ausländerbeauftragten vorgelegt. Nehmen Sie bitte
einige wenige Zahlen, die sehr wichtig sind, wahr: Im Jahr
1990 - also zu Zeiten der Kohl-Regierung - hatten wir
über 1,2 Millionen Zuwanderer in diesem Land. Es sind
auch Menschen gegangen, und zwar sehr viele. Geblieben
sind damals etwa 500 000. Im Jahre 1991 - also noch vor
den Kriegen auf dem Balkan - sind 1,2 Millionen Menschen zugewandert. Lassen wir die Balkankriege außen
vor - sie haben die Situation stark verändert -, so müssen
wir feststellen: Wir haben 1998 800 000 Zuzüge, 1999
870 000 und im Jahre 2000 840 000 gehabt, also deutlich
weniger als zu Beginn der 90er-Jahre unter der Kohl-Regierung. Wir hatten dabei in etwa immer die gleiche Zahl
an Abwanderungen. Im letzten Jahr sind 86 000 Ausländer mehr, als gekommen waren, in Deutschland geblieben. Das ist bei einer Bevölkerungsgröße von 82 Millionen Menschen, die in diesem Land leben, wahrlich keine
Zahl, die uns beunruhigen sollte.
Der neu vorliegende Gesetzentwurf gestaltet vieles
von dem, was es bereits an alten Zuwanderungstatbeständen gab und geben muss. Familien muss man zusammenführen, Unionsbürger muss man kommen lassen und
Flüchtlingen muss man Schutz gewähren. Der neue Gesetzentwurf gestaltet diese Tatbestände neu und übersichtlicher. Es geht nicht um ein Mehr an Zuwanderung,
wie Sie fälschlicherweise behaupten. Sie versuchen
unverantwortlicherweise, in der Bevölkerung Ängste zu
schüren, es würden jetzt mehr Ausländer als vorher kommen.
({2})
Frau Kollegin Beck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?
Ja, bitte.
Frau Kollegin
Beck, Sie haben gerade bei Ihrem Vergleich zwischen Anfang und Ende der 90er-Jahre die Jahre 1990 und 1991 genannt und die Zuzugszahlen von damals in Relation zu
den Zahlen Ende der 90er-Jahre gesetzt.
Ist es richtig, dass in den Jahren 1990 und 1991 noch
das alte Asylrecht galt und nicht das neue, das seit dem
1. Juli 1993 gilt? Ist es richtig, dass der wesentliche Teil
des Zuzugs auf den enormen Anstieg der Asylbewerberzahlen Anfang der 90er-Jahre zurückzuführen ist, dass
wir im Jahre 1992 438 000 Asylbewerber hatten und dass
die Zahlen der Jahre 1990 und 1991 wesentlich niedriger
gewesen wären, wenn sich die SPD nicht viele Jahre geweigert hätte, das Asylrecht so zu reformieren, wie es im
Interesse des Landes dringend notwendig gewesen wäre?
({0})
Verehrter Kollege Bosbach, wenn Sie mir genau zugehört hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass ich genau die Jahre, in denen auf dem Balkan die vier Kriege getobt haben, ausgelassen habe.
({0})
In dieser Zeit hat es in der Tat eine deutlich erhöhte Zuwanderung gegeben.
({1})
Diese erhöhte Zuwanderung hätte es mit oder ohne Asylkompromiss gegeben; denn wenn Krieg vor der Haustür
ist, kommen die Menschen und suchen Schutz - egal, welche Gesetze Sie machen.
({2})
Wir hatten allerdings in den Jahren der Kohl-Regierung eine hohe Zahl von Zuzügen durch die Spätaussiedlerzuwanderung. Das war politisch gewollt und
wurde von uns auch mit getragen. Wir haben versucht,
diese Zuwanderung zu gestalten. Aber man muss einfach
sagen: Die hohe Zahl von Zuzügen in dieses Land war politisch gewollt und ist auch eine große Herausforderung
für dieses Land gewesen.
({3})
Was passiert nun mit dem neuen Gesetz? Es wird in der
Tat ein Türchen neu geöffnet; das ist die Arbeitszuwanderung. Die ist bisher verschämt mit der Anwerbestoppausnahmeverordnung geregelt, bei der nicht einmal das
Parlament die Möglichkeit hat mitzubestimmen. Sie wird
in dem neuen Gesetz so geregelt, wie es sich für ein ordentliches Gesetz gehört. Die Zahl der Zuwanderer wird
sich durch dieses neue gesetzliche Türchen vermutlich in
einer Größenordnung von vielleicht plus oder minus
10 000 Menschen verändern. Alles andere im Gesetzentwurf ist übersichtlichere Gestaltung, Modernisierung und
Öffnung für ausländische Studenten, die wir hier im Land
ausbilden und die endlich bleiben können sollen, statt in
die USA geschickt zu werden. Es ist Angleichung unseres
Flüchtlingsrechts an den Standard der Genfer Flüchtlingskonvention und damit an Europa. Es ist Angleichung
an ein modernes europäisches Aufenthaltsrecht, weil
wir als Europäische Union zusammenwachsen.
Wenn Sie sich dem verstellen, dann verstellen Sie sich
tatsächlich der Aufgabe, endlich das Faktum, dass es Zuund Abwanderung in diesem Land immer geben wird, zu
akzeptieren, weil wir nicht zurück können in das Mittelalter.
({4})
Wir müssen diese Tatsache gestalten. Das tut dieses Gesetz, weil es Einwanderung endlich als Faktum anerkennt,
weil es die Integrationspolitik der Einwanderung an die
Seite stellt, was Sie versäumt haben. An diesen
Versäumnissen haben die Städte und Gemeinden bis heute
zu tragen. Das alles wird hier in einem Paket vorgelegt.
Wenn Sie sich dem verweigern, wollen Sie offensichtlich nur Obstruktion, dann wollen Sie offensichtlich mit
diesen Gefühlen in der Bevölkerung spielen. Ich weiß,
dass man an dieses Gefühl, es seien zu viele Ausländer im
Land, andocken kann, wenn man ordentlich auf die Tonne
haut. Aber ich sage Ihnen noch einmal: Es ist unverantwortlich, weil sämtliche sachlichen Debatten, die wir im
vergangenen Sommer alle gemeinsam in diesem Haus geführt haben, von Tag zu Tag mehr verschüttet werden und
eine politische Regression stattfindet, die dieses Hauses
nicht würdig ist.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile das Wort
Kollegin Christa Riemann-Hanewinkel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute neben dem Zuwanderungsgesetz auch den Sechsten Familienbericht.
({0})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie
den Sechsten Familienbericht, der in Ihrer Zeit von Ihrer
damaligen Ministerin Nolte in Auftrag gegeben worden
ist, gelesen hätten, würden Sie heute hier anders reden.
Dann würden Sie nämlich die Fakten, die in diesem Familienbericht stehen, nicht nur zur Kenntnis nehmen,
sondern auch dementsprechend handeln. Das würde bedeuten, dass Sie dem heute vorliegenden Kompromiss uneingeschränkt hätten zustimmen müssen. Im Gegenteil:
Sie hätten mit Ihrem so genannten christlichen Familienverständnis eigentlich noch geradezu Verbesserungen von
der Koalition erzwingen müssen. Aber Sie haben genau
das Gegenteil getan.
({1})
Der Sechste Familienbericht hat sich die Aufgabe gestellt, die Leistungen, Belastungen und HerausforderunWolfgang Bosbach
gen Familien ausländischer Herkunft in Deutschland genau zu untersuchen. Der Bericht räumt vor allen Dingen
mit Vorurteilen auf, die vonseiten der Union im vergangenen Jahrzehnt gepflegt worden sind und auch heute
noch gepflegt werden.
Ich nenne nur zwei Vorurteile. Ein Vorurteil lautet:
Deutschland ist kein Einwanderungsland. Das sagen Sie
ja heute noch. Dieser Bericht macht aber deutlich, dass
Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist, dass
Sie es aber versäumt haben, mit entsprechenden Regularien und Gesetzen - zum Beispiel einem Zuwanderungsgesetz - auf dieses Faktum zu reagieren. Wir aber tun das
heute.
({2})
Der Familienbericht räumt auch mit einem zweiten
Vorurteil auf. Dieses Vorurteil lautet, dass es sich bei denjenigen, die nach Deutschland kommen, um einzelne Personen handelt bzw. dass, wenn es Familien sind, diese
dann nur die deutschen Kassen und den deutschen Steuerzahler belasten würden.
Erstens ist Migration in Deutschland, nach Deutschland und auch durch Deutschland hindurch nicht ein Phänomen von Einzelpersonen, sondern von Familien. Migration ist ein Familienprojekt. Das stellt nicht nur der
Sechste Familienbericht fest, sondern auch die unabhängige Kommission „Zuwanderung“. Aber Sie haben ja bereits deutlich gemacht, dass Sie dieser Kommission keinen Wert beimessen. Sie hätten es vermutlich am liebsten
gesehen, wenn die Mitglieder Ihrer Partei dort nichts zu
sagen gehabt hätten. Trotzdem kommen Sie alle und auch
die deutsche Öffentlichkeit nicht daran vorbei, dass in
dem Bericht der Zuwanderungskommission Daten und
Fakten genannt sind, die wir für unser Einwanderungsgesetz genutzt haben.
Ich möchte jetzt auf das eingehen, was vor allem Familien und Frauen betrifft. Wenn Migration ein Familienprojekt ist, das nicht innerhalb einer Generation abgeschlossen ist, sondern mehrere Generationen umfasst,
dann bedeutet das, dass Familien ausländischer Herkunft
langfristige Perspektiven haben müssen. Wenn in Zukunft
Familien, die einwandern wollen, von vornherein wissen,
welche Bedingungen in Deutschland auf sie warten, dann
können sie ihre Zukunft nicht nur entsprechend planen,
sondern auch gestalten und wissen, was auf sie zukommt.
Ein nächster Punkt ist, dass in beiden Berichten deutlich festgestellt wurde, dass - bisher jedenfalls - die Familien ausländischer Herkunft in Deutschland und nicht
etwa die Bundesrepublik Deutschland den größten Beitrag zur Integration geleistet haben. Auch damit wird mit
unserem Zuwanderungsgesetz Schluss gemacht. Familien, die zuwandern wollen, wissen nicht nur, worauf sie
sich einlassen, sondern haben nun auch ein Recht auf
Integration, wie es in diesem Maße vorher nicht der Fall
war. Denn das bisherige Ausländergesetz sah keine Integrationsmaßnahmen vor.
Ein weiterer Punkt: Das Zuwanderungsgesetz ist ein
großer Erfolg für Frauen, denn sie werden bei geschlechtsspezifischer Verfolgung berücksichtigt, und
zwar im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Als
Vorsitzende des Ausschusses für Familien, Senioren,
Frauen und Jugend bin ich sehr enttäuscht darüber, dass
die Kolleginnen der CDU/CSU-Fraktion genau an dieser
Stelle unserem Gesetz nicht zustimmen, weil das eine
Forderung ist, die sie an anderer Stelle immer wieder erhoben haben und immer noch erheben.
({3})
All denen, die behaupten, Deutschland würde von
Frauen, die aus geschlechtsspezifischen Gründen verfolgt
werden und hierher kommen, geradezu überschwemmt,
ist entgegenzuhalten, dass maximal 1 000 Frauen jährlich
in Deutschland Zuflucht suchen. Nicht nur unser Grundgesetz, sondern auch unsere Verpflichtung gegenüber den
Menschenrechten, gebietet es, diesen Frauen Aufenthalt
zu gewähren.
({4})
Ein zweites frauenpolitisches Anliegen war es, dass
Frauen im Auswahlverfahren nicht benachteiligt werden.
Ginge es nämlich nur um schulische und berufliche Qualifikation sowie um die Berufserfahrung des Zuwanderungsbewerbers, dann dürften in Zukunft nur noch Männer nach Deutschland einwandern. Umgekehrt gilt, dass
es Frauen, die einwandern wollen, in Zukunft nicht zum
Nachteil gereichen darf, wenn sie Kinder erzogen oder
Familienangehörige gepflegt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass
es gelungen ist, im Bundesministerium der Justiz eine
Mitarbeiterin zu finden, die sich in der Lage sah, dieses
Zuwanderungsgesetz geschlechtsneutral bzw. an den Stellen, an denen es einfach notwendig war, geschlechtsspezifisch zu formulieren. Gender Mainstreaming gilt
eben auch bei Gesetzestexten. Es wäre mehr als peinlich
gewesen, wenn ein neues Gesetz nur „mit Schlips und
Kragen“ in das Bundesgesetzblatt gekommen wäre. Daher sage ich von dieser Stelle aus schon jetzt ein herzliches Dankeschön an diese Mitarbeiterin im Bundesjustizministerium. Frauen als Flüchtlinge oder Einwanderinnen
werden sich in Zukunft auch hiervon deutlich angesprochen fühlen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christa Lörcher.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Fragen um Zuwanderung und Integration sind für unser Land von
grundsätzlicher Bedeutung“; sie „bedürfen einer umfassenden Regelung“. So die Erklärung des Zentralkomitees
der deutschen Katholiken vom 11. Juni letzten Jahres. Die
„Frankfurter Rundschau“ stellt in einem Kommentar vom
26. Januar dieses Jahres unter der Überschrift „Austaktiert“ fest:
Die gemeinsame Anfangssilbe hatte einst für eine
enge Verbindung gestanden. Zuwanderung hat mit
Zukunft zu tun. Mit dieser Einsicht hatte vor einem
Jahr eine überfällige Debatte begonnen. Nicht ob,
sondern wie wir Einwanderung organisieren, ist eine
Schlüsselfrage unserer Gesellschaft. Darüber, nur
zur Erinnerung, herrschte schon einmal Konsens.
Diesen Konsens hätte es seit vielen Jahren geben können. In der Enquete-Kommission „Demographischer
Wandel“ wird jetzt in der dritten Legislaturperiode in der
Arbeitsgruppe Migration/Integration über Daten, Anforderungen und Empfehlungen diskutiert und verhandelt.
Anfang 1998 waren wir in vielem weiter als heute; dann
kam der damalige Wahlkampf. Politik darf nicht nur bis
zur nächsten oder übernächsten Wahl planen, schon gar
nicht bei einem solchen Thema. Wir müssen weit darüber
hinaus denken und Vorschläge machen. Das hat die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ getan;
dafür meinen herzlichen Dank.
Bei der Diskussion um ein Zuwanderungsgesetz wird
von vielen betont, dass Begrenzung der Zuwanderung besonders wichtig ist. Der Wanderungssaldo der ausländischen Bevölkerung - das haben wir heute schon von Frau
Beck gehört - war in den 90er-Jahren sehr unterschiedlich. In den Jahren 1997 und 1998 war er sogar negativ; in
dieser Zeit gab es also mehr Wegzüge als Zuzüge.
Charakteristisch für Deutschland sind sowohl Zuzüge
als auch Wegzüge in hoher Zahl. Unser Land ist ein Einwanderungsland und ein Auswanderungsland. Von 1950
bis 2000 kamen über 30 Millionen Menschen in unser
Land; diese Zahl wurde schon genannt. Nicht gesagt
wurde, dass in dieser Zeit über 20 Millionen Menschen
aus unserem Land ausgewandert sind. Hätten wir diese
Wanderungen nicht gehabt, wären wir nicht nur weniger,
sondern unsere Gesellschaft wäre im Durchschnitt auch
älter.
Löst Migration die Probleme alternder Gesellschaften?
Sicher nicht. Aber Migration kann den Alterungsprozess
einer Gesellschaft abmildern oder verlangsamen.
Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat in
einem Gutachten im Auftrag des Landes Bayern geschrieben:
Aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums in den
geographisch benachbarten Regionen Europas ist in
Zukunft mit einem noch verstärkten Zuwanderungsdruck nach Deutschland zu rechnen.
Will er damit Ängste schüren oder weiß er es nicht anders? Die neuesten Daten des Europarats, veröffentlicht
vor zwei Monaten, stellen fest, dass es von den 43 Mitgliedstaaten des Europarates gerade noch zwei Länder
gibt, die ein natürliches Bevölkerungswachstum haben.
Das ist die Türkei mit 2,5 Geburten pro Frau und Island
mit rund 2,1. Viele andere Länder liegen weit darunter, so
auch Deutschland.
Andere Bevölkerungswissenschaftler wie Dieter
Oberndörfer betonen, dass beides nötig ist, Migration und
mehr Kinder. Das heißt, Familienpolitik muss so gut sein,
dass Kinder kein Armutsrisiko sind und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert wird. Dazu ist
einiges gemacht worden; vieles wird sicher noch nötig
sein.
Der Sechste Familienbericht ist schon zitiert worden.
Er besagt, dass Familien ausländischer Herkunft ein „integraler Bestandteil“ der Bundesrepublik sind. Ferner
wird darauf hingewiesen, dass das Nachzugsalter 16 Jahre
- der Meinung ist auch die Europäische Kommission kritisiert werden muss und es bei 18 Jahren liegen müsste.
Um wie viele Kinder geht es eigentlich? Auch das ist
schon gesagt worden: Es geht um eine kleine Zahl; die
„Zeit“ spricht von 8 600 im Jahr. Ich frage: Können wir
nicht froh sein, wenn diese Kinder zu uns kommen wollen?
Der vorliegende Gesetzentwurf und die Änderungen
erfüllen sicher nicht alle unsere Wünsche. Es sind viele
Kompromisse gemacht worden, sowohl bei der Migration
aus humanitären Gründen als auch bei der arbeitsmarktbedingten Zuwanderung. Manches fehlt völlig, zum Beispiel Regelungen für die Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Die Menschenrechte gelten für alle, auch und
besonders für sie. Niemand sollte bestraft werden, der ihnen bei der gesundheitlichen Versorgung oder bei der Bildung ihrer Kinder hilft.
Trotz der Kompromisse und Unzulänglichkeiten ist es
sinnvoll und nötig, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen
und in Bundestag und Bundesrat zu verabschieden. So
schreibt Stefan Vesper - ich zitiere noch einmal aus dem
Informationsdienst des Zentralkomitees der deutschen
Katholiken vom Dezember des letzten Jahres -:
Deshalb ist es jetzt an der Zeit, zu handeln und ein
Gesetz zu beschließen, das insbesondere den Anstoß
gibt und auch die finanziellen Voraussetzungen dafür
schafft, dass die Integration von Ausländern wirklich
gelingt.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Dazu gehört für das ZdK auch, die Familie als Einheit zu sehen und das Nachzugsalter für Kinder entsprechend hoch anzusetzen.
Danke.
({0})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Leyla Onur für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir schwer, Frau Präsidentin, Sie ein wenig zu korrigieren, aber an dieser
Stelle und zu dieser Stunde tue ich das ganz bewusst.
Mein Vorname wird anders ausgesprochen, als Sie es getan haben. Es ist ein türkischer Name und man darf ihn ruhig türkisch aussprechen. Vielleicht passt diese Anmerkung ganz gut in diese Debatte.
({0})
Vielen Dank für den
Hinweis, Frau Kollegin. Ich entschuldige mich bei Ihnen,
Frau Kollegin. Ich habe gedacht, ich lerne das nie; aber
jetzt habe ich es begriffen. Wunderbar.
Ich bitte um Nachsicht. - Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir heute
Morgen natürlich die Rede des Kollegen Merz angehört.
Mir ist klar geworden, dass der Kollege Merz spielend mit
einer halben Minute Redezeit ausgekommen wäre, wenn
er nur das gesagt hätte, was er eigentlich hat sagen wollen.
({0})
Er hätte einfach nur sagen müssen: Wir wollen kein Zuwanderungssteuerungsgesetz; wir wollen mit diesem
Thema Wahlkampf machen, Wahlkampf auf dem Rücken
der Migranten und Migrantinnen in diesem Land.
({1})
Genau das ist die Quintessenz Ihrer vollmundigen, langatmigen Rede.
({2})
Der verehrte Kollege Glos hat das noch ergänzt, hat
aber im Grunde nichts anderes gesagt als: Wir, die
CDU/CSU, wollen kein Zuwanderungssteuerungsgesetz;
({3})
wir wollen Wahlkampf auf dem Rücken der Menschen
machen. - Das war nämlich die Aussage. Auch die ständig wiederholte Behauptung - heute von Herrn Glos, aber
auch von Herrn Beckstein, nachzulesen in der gestrigen
Ausgabe der, glaube ich, „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ -, dieses Zuwanderungssteuerungsgesetz würde zu
einer Ausweitung der Zuwanderung führen,
({4})
Zigtausende würden pro Jahr nach hierher zusätzlich zuwandern, ist und bleibt eine Lüge. Sie wissen das.
({5})
Das ist ja das Infame. Indem Sie diese Lüge ständig wiederholen, schüren Sie Ängste in der Bevölkerung. Genau
das wollen Sie. Sie wollen im Grunde den Deutschen, insbesondere denjenigen, die Arbeit suchen, sagen: Schaut
euch das an! Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen wollen Arbeitsmigranten auf
eure Kosten in das Land holen; ihr seid arbeitslos und
trotzdem werden Ausländer angeworben! Mit dieser von
Ihnen immer wieder öffentlich geäußerten Behauptung
schüren Sie Angst und erzeugen Sie Misstrauen.
Im Gegenteil ist wahr:
({6})
Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen
wichtigen und richtigen Schritt getan, der längst notwendig war. Wir haben uns von der Regelung zum Anwerbestopp verabschiedet. Diese war 1973 durchaus richtig und
angemessen. Aber damals - ich möchte es freundlich formulieren - standen aufgrund von Zeitnot und Zwängen
noch nicht solche klaren, transparenten und für jeden verständlichen Regelungen wie die unseres jetzigen Gesetzentwurfs zur Verfügung.
In den §§ 18, 19 und 20 wird anstelle eines Anwerbestopps und einer Anwerbestoppausnahmeverordnung
klar, transparent und für jeden Mann und jede Frau verständlich geregelt, unter welchen Bedingungen in Zukunft Arbeitsmigration stattfinden kann, und zwar im
Hinblick auf die Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Es geht um unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen. Angesichts dessen sagen nicht
nur böse Zungen: Ihr wollt ja nur diejenigen, die ihr
braucht. - In der Tat haben wir mit den §§ 18, 19 und 20
Regelungen geschaffen, die sicherstellen, dass nur diejenigen zuwandern, die wir brauchen. Diese Regeln sind
aber so klar und verständlich, dass sie auch von denjenigen verstanden werden, die beabsichtigen, zu uns zu
kommen.
Wir brauchen - ich weiß natürlich nicht genau, wann
das sein wird - die Zuwanderung von ganz bestimmten
Arbeitskräften. Wir brauchen bald - das haben wir in § 19
geregelt - die Zuwanderung von Höchstqualifizierten.
Aber selbst bei dieser Gruppe wird genauestens geprüft
werden, wie viele wann einwandern dürfen; denn - das
muss ich an dieser Stelle deutlich sagen - für uns steht an
erster Stelle, die Menschen, die schon in Deutschland leben, also die Inländer, für die Arbeitsplätze fit zu machen
- hier ist sicherlich die Wirtschaft als Erste gefordert; aber
selbstverständlich ist auch die Arbeitsmarktpolitik gefordert -, die zurzeit angeblich nicht zu besetzen sind.
({7})
Das hat absoluten Vorrang. Erst wenn in dieser Hinsicht
alles unternommen worden ist, wird die Zuwanderung
von Höchstqualifizierten aus dem Ausland zugelassen
werden.
({8})
Im Rahmen eines Auswahlverfahrens werden - das
wird wahrscheinlich erst sehr viel später der Fall sein andere Einwanderer eine Niederlassungserlaubnis nur erhalten, wenn wir sie brauchen. Wann genau das sein wird,
wissen weder Sie, Herr Glos, noch ich. Niemand kann das
verbindlich vorhersagen. Wenn wir aber tatsächlich Spitzen- und Fachkräfte brauchen werden, dann werden wir
sie im Rahmen eines geregelten Verfahrens - ich sage das
ganz bewusst; man kann auch „zulassen“ sagen - anwerben. Das ist wichtig für diese Gesellschaft und für die Zukunft Deutschlands. Deshalb werden wir dem vorliegenden Gesetzentwurf heute zustimmen. Wenn Sie ihm
nicht zustimmen, dann schaden Sie Deutschland.
({9})
Nach der Rede der
Kollegin Leyla Onur erteile ich nun das Wort dem Bundesinnenminister Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen!
({0})
Wir haben eine historische Chance, ein Problem, das sich
über Jahrzehnte aufgestaut hat, einer vernünftigen Lösung
zuzuführen. Wir dürfen diese historische Chance nicht
versäumen; denn sie wird so schnell nicht wiederkommen.
({1})
Hinter uns liegt eine kurvenreiche Strecke. Wir sind
jetzt in der Zielgeraden. Herr Kollege Stadler, ich habe
Verständnis dafür, dass Sie mit dem Endspurt vielleicht
nicht so ganz einverstanden sind. Wenn ich noch in der
Opposition wäre, dann hätte vielleicht auch ich eine kritische Bemerkung gemacht.
({2})
Ich bitte Sie einfach um Verständnis dafür, dass dieser
Endspurt unter den Bedingungen, unter denen dieses Gesetzgebungswerk zustande gekommen ist, nicht vermeidbar war. Ich hätte das gerne vermieden.
({3})
Ich habe mir über zwei Jahre wahrlich große Mühe gegeben, diejenigen Überlegungen, die in allen politischen
Lagern entstanden und die durchaus positiv einzuschätzen sind, so zusammenzubringen, dass daraus ein modernes, flexibles und den humanitären Prinzipien gerecht
werdendes Zuwanderungsgesetz entstehen kann. Ich
möchte mich an dieser Stelle besonders bei Frau Professor Süssmuth für ihre herausragende Arbeit bedanken, die
hierbei eine wichtige Unterstützung war.
({4})
Ich habe keine Mühe gescheut: Ich habe Ministerpräsidenten und Ministern die Schönheiten bayerischer Klöster gezeigt. Ich habe ihnen auch eine gute bayerische Brotzeit serviert. Ich habe manchmal meine Stimmbänder
überbeansprucht, wofür ich mich nachträglich entschuldige.
({5})
Ich habe sogar die Vermutung gehabt, in der Opposition
seien Persönlichkeiten, die mit dem nationalen Liedgut besonders vertraut seien und das Lied „Das Wandern ist des
Müllers Lust“ kennten. Aber leider habe ich mich getäuscht:
Weder der saarländische Ministerpräsident noch Herr Glos
haben meine Erwartungen erfüllt. Nur die Vorsitzende der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen tut dies.
({6})
Die Unlustgefühle, die Sie verbreiten wollen, sind bei diesem Thema kein guter Ratgeber.
Wir haben uns von folgenden Überlegungen leiten lassen - ich will sie aufzählen -: Die Begrenzung der Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahmefähigkeit und der Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland
muss das Ziel des Gesetzes sein. Die Wahrnehmung der
humanitären Verpflichtungen Deutschlands muss das Ziel
des Gesetzes sein. Die Steuerung der Zuwanderung unter
Berücksichtigung der nationalen Interessen, also auch der
arbeitsmarktpolitischen Interessen, muss das Ziel des Gesetzes sein. Die Ausgestaltung der Zuwanderung unter
Beachtung des Integrationszieles muss das Ziel des Gesetzes sein. - Das alles schlägt sich in § 1 dieses Gesetzentwurfes nieder. Es stimmt mit dem überein, was im Papier der von Ministerpräsident Müller geleiteten
Kommission formuliert worden ist.
({7})
Wir haben uns ferner an folgendem Grundsatz orientiert:
... wenn trotz erhöhter Ausbildungsleistungen der
Betriebe und verstärkter Umschulungs- und
Qualifizierungsanstrengungen der Arbeitsverwaltung freie Arbeitsplätze nicht besetzt werden können,
dann muss dies negative Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes haben. Eine gesteuerte Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte liegt daher durchaus im Interesse unserer Volkswirtschaft
und damit des gesamten Landes.
Ich habe erwartet, dass Sie Beifall zollen; denn ich habe
wortwörtlich aus dem Bericht der Müller-Kommission
vorgetragen.
({8})
Aber Sie können es nicht mehr hören.
Gerade zur Sicherung wissenschaftlicher Spitzenleistungen, hoher Innovationskraft und wirtschaftlicher Dynamik muss Deutschland offen sein für
ausländische Fachkräfte, Unternehmer und Wissenschaftler. Weltoffenheit ist Voraussetzung für herausLeyla Onur
ragende Leistungen in allen Bereichen, nicht nur im
Sport.
Das war wiederum ein Originalzitat aus dem Papier der
Müller-Kommission, dessen Inhalt durch unser Gesetz
verwirklicht werden kann. Sie verweigern sich.
({9})
Wer „die Besten“ gewinnen will, muss sie - und ihre
Familien - ich betone: und ihre Familien mit offenen Armen und ohne Ressentiments aufnehmen und ihnen in der Bundesrepublik eine dauerhafte, attraktive Arbeits-, aber auch Lebensperspektive bieten.
({10})
Meine Damen und Herren, wie wahr! Wiederum Originalzitat aus dem Bericht der Müller-Kommission. Wir
haben es realisiert.
({11})
Zuwanderung aus legitimen nationalen Interessen
und Zuwanderung aus humanitären Gründen müssen
in einer vernünftigen Balance gehalten werden.
Auch das haben wir geregelt.
Ein letzter Satz aus dem Bericht der Müller-Kommission.
({12})
- Ich könnte auch alles vorlesen, Herr Zeitlmann; Sie haben es wahrscheinlich nie gelesen.
({13})
Sie leiden ohnehin an Leseschwäche. Sie sind ein Beweis
für die Ergebnisse der PISA-Studie, Herr Zeitlmann, und
das ist traurig.
({14})
Noch ein Satz also:
Die Frage lautet nicht:
- Originalzitat aus dem Bericht der Müller-Kommission;
hören Sie mal gut zu! Zuwanderung - ja oder nein, sondern: Zuwanderung weitgehend ungeregelt wie bisher oder geregelt und
begrenzt.
Das ist die Alternative. Sie entscheiden sich für die ungeregelte Zuwanderung,
({15})
für den Massenzustrom an einer Stelle, an der wir es gar
nicht wollen,
({16})
und gegen die wirtschaftlichen Interessen. Wir entscheiden uns für Zuwanderungsregelung,
({17})
Begrenzung und Zulassung von Zuwanderung da, wo es
für unser Land entscheidend ist.
({18})
Meine Damen und Herren, alles, was Sie vortragen, erweist sich als Ausflüchte und Vorwände.
({19})
Sie verschanzen sich hinter Ihren Vorurteilen. Sie haben
eine panische Angst vor dem Konsens.
({20})
Sie sind auf der Flucht vor der Verantwortung. Sie beweisen Ihre Technikfeindlichkeit dadurch, dass Sie nicht einmal in der Lage sind, die Bretter vor Ihren Köpfen abzumontieren.
({21})
Sie manipulieren die Zahlen. Sie - Herr Merz an allererster Stelle - verfälschen tagtäglich den Inhalt des Gesetzes.
({22})
Sie behaupten, Sie könnten dem Gesetz nicht zustimmen.
Die Wahrheit ist eher: Sie wollen dem Gesetz partout
nicht zustimmen
({23})
oder - noch etwas genauer gesagt; gehen wir der Sache
einmal auf den Grund ({24})
Sie dürfen nicht wollen.
({25})
Sie dürfen nicht wollen, weil sich der Kandidat Stoiber
auf die Rolle des Grantlers und Nörglers festgelegt hat
({26})
und sich mit Händen und Füßen gegen einen vernünftigen
Kompromiss sträubt.
({27})
Mit Sträuber-Stoiber können Sie aber nicht beweisen,
dass man Ihnen guten Gewissens eine Regierungsbeteiligung anvertrauen darf.
({28})
Wer sich einer verantwortlichen Politik verweigert, wer
blockiert und der Vernunft den Weg zu versperren versucht, hat kein Vertrauen verdient.
({29})
Die einst so stolze CDU/CSU-Fraktion bietet heute
wirklich ein trostloses, ein klägliches Bild.
({30})
Was Sie veranstalten, ist keine Opposition, sondern reine
Obstruktion.
({31})
Sie wollen starrsinnig auf niemanden hören, nicht auf
Dieter Hundt von der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände, nicht auf den Bundesverband der
Deutschen Industrie, nicht auf die Gewerkschaften, nicht
auf den DGB-Vorsitzenden Schulte, nicht auf den Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Herrn Braun,
({32})
nicht auf Herrn Philipp vom Zentralverband des Deutschen Handwerks, nicht auf den UNO-Flüchtlingskommissar, nicht auf die Vernünftigen in Ihren Reihen, nicht
auf das Deutsche Rote Kreuz, nicht auf den Deutschen
Städtetag, nicht auf den Deutschen Städte- und Gemeindebund
({33})
und nicht auf die Mehrheit des Volkes, die - schauen Sie
auf die heutige Umfrage! - ein vernünftiges Zuwanderungssteuerungsgesetz will.
({34})
Stattdessen versuchen Sie, Herr Glos, sich hier mit einem klassenkämpferischen Pathos als Spät-68er aufzuführen.
({35})
Dabei haben Sie aber zu erkennen gegeben, dass Ihnen
jeglicher wirtschaftliche Sachverstand inzwischen abhanden gekommen ist.
({36})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie wollen auf niemanden hören.
({37})
Aber überhaupt nicht mehr verstehen kann ich, dass Sie
auch nicht mehr auf die Kirchen hören,
({38})
die Sie eindringlich mahnen, sich dem Zuwanderungsgesetz nicht in den Weg zu stellen. Die Worte von Kardinal
Lehmann und von Präses Kock verhallen und beeindrucken Sie nicht.
({39})
Man braucht Sie nur anzuschauen, um festzustellen, dass
Sie das überhaupt nicht mehr beeindruckt, was einer der
herausragenden Kardinäle unseres Landes, Kardinal
Lehmann, und was Präses Kock sagen.
({40})
Sie müssen es sich gefallen lassen, dass Kardinal
Sterzinsky Ihre Anträge als Schande brandmarkt.
({41})
Wenn Sie noch eine Spur von Ehrgefühl hätten, dann würden Sie sich dafür schämen, dass ein Kardinal die Anträge
der CDU/CSU, die früher einmal stolz das „C“ im Namensschild führte, als Schande bezeichnet.
({42})
Warum können Sie denn die hoffentlich noch vorhandenen Restbestände wirtschaftlicher Kompetenz und humanitärer Verantwortung nicht mobilisieren?
({43})
Versuchen Sie doch einmal, diese Dinge, wenn Sie sie
verlegt haben, wieder aufzustöbern. Dann geht Ihnen vielleicht das Licht auf, dass Sie auf einen schlammigen
Holzweg geraten sind. Kommen Sie zurück auf den geraden Weg der Vernunft und der Verantwortlichkeit, damit
der Weg frei wird für die Reform des Zuwanderungsrechtes, die den wohlverstandenen Interessen unseres
Volkes entspricht: den wirtschaftlichen, aber auch den
sozialen. Stimmen Sie zu, damit die Wirtschaft agieren
kann, damit Arbeitsplätze entstehen können, damit traumatisierte Menschen nicht von Tag zu Tag oder Monat zu
Monat in Angst leben müssen, damit Frauen, die verfolgt
werden und hier Schutz suchen, einen vernünftigen Aufenthaltsstatus bekommen und damit wir alle noch in den
Spiegel schauen können, wenn wir uns fragen, ob wir die
humanitären Prinzipien gewahrt haben. Ich glaube, das
wäre an der Zeit.
({44})
Die Zeichen der Zeit, meine Damen und Herren, gebieten, dass wir ein Gesetz auf den Weg bringen, das zwar
unter Schmerzen zustande gekommen ist - das ist sicherlich nicht zu bestreiten -,
({45})
das aber zugleich die Möglichkeiten bietet, Zuwanderung
in Zukunft so zu gestalten, dass die Menschenrechte
gewahrt werden und die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes positiv beeinflusst wird.
({46})
Ich bitte Sie alle noch einmal, in sich zu gehen,
({47})
und Sie von der CDU/CSU, Ihre Entscheidung zu überdenken und dem Gesetz zuzustimmen.
({48})
Als letztem Redner in
dieser Debatte erteile ich das Wort dem Kollegen
Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Schily, Sie müssen
hier gar nicht so herumbrüllen. Wir sind hier nicht in
Ihrem Ministerium, wir sind hier im Deutschen Bundestag.
({0})
Wer gute Argumente hat, muss nicht holzen, der kann mit
der Kraft der Argumente überzeugen.
({1})
Tatsache ist: Dieser Innenminister ändert auch in puncto
Zuwanderung seine Meinung schneller, als sich ein Propeller drehen kann, und beschimpft heute jene, die das sagen, was er selber noch bis vor kurzem als richtig und
wahr verkündet hat.
({2})
18. November 1998, Originalton Schily:
Die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung
sind überschritten. Auch ein Zuwanderungsgesetz
kann daran nichts ändern; denn die darin festzulegende Quote müsste auf null gesetzt werden.
({3})
„Süddeutsche Zeitung“, 7. Januar 1999:
Frage: Die Wirtschaft sagt, dass sie Zuwanderer
benötigt.
Schily: Wenn mir Siemens sagt „Wir brauchen so
und so viele“, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir
kein Zuwanderungsgesetz. Das gehe schon mit dem
geltenden Ausländergesetz.
({4})
„Die Zeit“:
Frage: Ist es nicht anachronistisch, dass bis heute nur
die Opfer staatlicher Verfolgung Asyl erhalten?
Schily: Wenn das Leben dieser Menschen daheim
konkret bedroht ist, schicken wir sie nicht zurück.
Die Sache droht sonst auszuufern. Wo wollen Sie die
Grenze für nicht staatliche Verfolgung ziehen?
({5})
Die Menschen in diesem Lande erwarten, dass der
Innenminister diejenigen, die das zitieren, was er früher
selber als richtig erkannt hat, nicht beschimpft; sie erwarten vielmehr einen standhaften und prinzipienfesten
Innenminister. Den können sie haben, aber erst nach dem
22. September. In dieser Wahlperiode bekommen sie
einen solchen nicht mehr.
({6})
Frau Kollegin Onur, das mit der Lüge würde ich mir
sehr gut überlegen.
({7})
In der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf heißt es:
Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatz
zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine
übergeordnete ausländerpolitische einseitige Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der
Anwerbestopp.
Sie heben mit diesem Gesetz den seit 1973 geltenden
Anwerbestopp auf. Die Begrenzung der Zuwanderung
soll nicht länger im öffentlichen Interesse liegen. Sie behaupten, als Ergebnis würde das die Zuwanderung nicht
erhöhen. Das ist die glatte Unwahrheit. Die Menschen
wissen das.
({8})
Herr Kollege Veit, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, wir
würden um des Prinzips willen, um der Opposition willen
Nein sagen, und behaupten, selbst wenn wir Ihre 16 Kernforderungen übernähmen, würden wir Nein sagen. Ich
mache Ihnen das Angebot: Nehmen Sie unsere 16 KernBundesminister Otto Schily
forderungen an und wir werden sofort zustimmen! Sie
wollen das aber nicht.
({9})
Sie haben gesagt, wir hätten auf die Kollegen in unserer Fraktion, die anderer Meinung sind, Druck ausgeübt,
was nicht gut sei. Das war auch von Kollege Özdemir gestern in der Sendung „Berlin Mitte“ zu hören. Wir hätten
uns gefreut, wenn Rita Süssmuth, Heiner Geißler und
Christian Schwarz-Schilling mit der Fraktion gestimmt
hätten. Wir respektieren aber, dass sie eine andere Auffassung haben. Der Fraktionsvorsitzende hat in der Sitzung
am Dienstag ausdrücklich darum gebeten, dass auf die
Kollegen keinerlei Druck ausgeübt werde.
({10})
Ich komme nun zu etwas, was infam ist. Sie, Herr Kollege Veit, haben am 16. November im Deutschen Bundestag - es ging in der Debatte um den Afghanistan-Einsatz und die Beteiligung beim Kampf gegen den
internationalen Terrorismus - gesagt:
({11})
Das war eine Gewissensentscheidung. Wir standen in
einem Konflikt, den wir nicht gewollt haben, sondern
der uns leider aufgezwungen worden ist.
Darunter ist der Zwischenruf von Herrn van Essen zu lesen: „Also doch Erpressung!“
({12})
Frau Kollegin Müller, Sie haben hier mit gespielter
Empörung gesagt, Sie könnten uns gar nicht verstehen;
die Koalition sei uns so weit entgegengekommen, dass
wir eigentlich zustimmen müssten, ein sachlich begründetes Argument für unsere Ablehnung gebe es nicht. Sie
selber haben als Damendoppel mit der Vorsitzenden Roth
nach der Pressekonferenz mit dem Bundeskanzler gesagt,
das Gesetz sei im Kern unverändert. Genau so ist es!
({13})
Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht. Aber wenn Sie sich
in der Sache nicht substanziell bewegt haben, können Sie
von uns nicht verlangen, dass wir zustimmen.
({14})
Herr Kollege
Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Müller?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege Bosbach, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich auf dieser Pressekonferenz
- ich weiß noch sehr genau, was ich dort gesagt habe - wie
auch heute im Deutschen Bundestag sehr deutlich dargestellt habe, in welchen Punkten wir Ihnen entgegengekommen sind und dass das Gesetz in der Substanz natürlich bei seiner modernen und humanitären Ausrichtung
bleibt.
({0})
- Da brauchen Sie gar nicht zu lachen. Ich habe nicht gesagt - das hat er gerade behauptet -, das Gesetz sei unverändert geblieben.
Könnten Sie daher bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir
Veränderungen vorgenommen haben, etwa indem wir das
Nachzugsalter abgesenkt haben und indem wir im Bereich der Zuwanderung die Begrenzung ins Gesetz geschrieben haben? Könnten Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
dass wir Ihre Anträge - etwa, es dürfe keine Orientierung
am regionalen Arbeitsmarkt geben und Selbstständige
dürften sich nur unter bestimmten Bedingungen niederlassen - aufgenommen haben? Aber natürlich werden wir
nicht im Kern aus einem Zuwanderungsgesetz ein Auswanderungsgesetz machen, wie manche Anträge von Ihnen es nahe legen. Nur das habe ich gesagt. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
({1})
Frau Kollegin
Müller, ich danke Ihnen für die lange Frage, weil sie mir
die Möglichkeit gibt, ohne Anrechnung auf die Redezeit
lange zu antworten.
({0})
Richtig, Sie haben in der Pressekonferenz gesagt, Sie
hätten sich auf die Union zubewegt, allerdings nicht von
der Stelle weg; im Kern bleibt alles so, wie es ist.
({1})
Ich sage Ihnen noch einmal: Da haben Sie Recht.
Beispiel Begrenzung. Wir haben gesagt, es genügt
nicht, einen Paragraphen voranzustellen, in dem zur Begründung der Behauptung, die Zuwanderung würde nicht
ausgeweitet, die Überschrift wiederholt wird, wenn sich
aus der Addition der übrigen Vorschriften unzweideutig
ergibt, dass im Gesetz das Gegenteil geregelt sein wird.
Das ist der Grund. Es genügt nicht, in einem Paragraphen
das Gegenteil von dem zu behaupten, was in der Folge im
Gesetz steht.
({2})
Zweites Beispiel: Kindernachzugsalter. Das geltende
Recht sieht 16 Jahre vor, die nicht bei Beherrschung der
deutschen Sprache gelten. Der ursprüngliche Gesetzentwurf hatte die Altersgrenze auf 14 Jahre reduziert, aber
auch die Sprachanforderung auf nur noch „ausreichende
deutsche Sprachkenntnisse“ gesenkt. Jetzt haben Sie sich
scheinbar auf die Union zubewegt, indem Sie zwar das
Nachzugsalter auf zwölf Jahre reduziert haben, aber
gleichzeitig nur noch das Regelbeispiel „Kenntnisse der
deutschen Sprache“ aufgenommen,
({3})
mit der Folge, dass in der ausländerrechtlichen Praxis
nicht die Senkung des Nachzugsalters, sondern die Heraufsetzung auf 18 Jahre die Folge sein wird. Das ist der
Grund.
({4})
- Herr Kollege, Sie sagen, das sei familienfeindlich. Sie
haben offensichtlich eine völlig falsche Vorstellung davon, was dem Wohle der Familie und insbesondere der
Kinder dient. Es geht nicht um das Zuzugsalter, es geht
um das Nachzugsalter, es geht um das Lebensschicksal
derjenigen ausländischen Kinder, die von ihren Eltern, in
der Regel zur Vermeidung von Verwestlichung, ins Herkunftsland zurückgeschickt werden, um dort erzogen zu
werden und zur Schule zu gehen. Wenn Sie glauben, dass
das dem Kindeswohl dienen würde, haben wir in dieser
Hinsicht eine völlig unterschiedliche Vorstellung.
({5})
Sie preisen es als humanitäre Errungenschaft, wenn die
Eltern in Deutschland und ihre kleinen Kinder in der Türkei leben.
({6})
Wir sagen, die Kinder sollen mit ihren Eltern gemeinsam
in Deutschland leben; sie sollen hier die deutsche Sprache
lernen, weil das dem Wohl der Kinder dient, nicht die Erziehung in einem anderen Land.
({7})
- Nein, ich lasse keine weiteren Zwischenfragen zu.
Der Redner lässt
keine weiteren Zwischenfragen zu. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich möchte noch bemerken: Es ist auch
sinnvoll, dass jetzt keine Zwischenfragen mehr zugelassen werden.
({0})
- Ich will das als Präsidentin begründen: Es dient dem Ablauf der Debatte; schließlich warten schon alle auf die Abstimmung.
Bitte sehr, Herr Bosbach, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin
Müller, es ist nicht richtig, dass Sie die regionale Betrachtung des Arbeitsmarktes aufgegeben haben. Das ist
gerade der Unterschied zwischen uns - wir sind entschieden anderer Auffassung -: Sie sind der Meinung, dass nur
der regionale Arbeitsmarkt betrachtet werden müsste, um
zu entscheiden, ob wir einen Zuwanderungsbedarf haben
oder nicht.
({0})
Wir sagen: Angesichts von 4,3 Millionen Arbeitslosen
- Tendenz steigend - und knapp 2 Millionen Menschen
auf dem zweiten Arbeitsmarkt müssen wir bundesweit
zunächst einmal die Arbeitslosen in Brot und Arbeit bringen, bevor wir weitere Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland organisieren.
({1})
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie sich mit dieser Vorschrift nicht auf die Wirtschaft und auch nicht auf
den DGB berufen können. Sowohl die Arbeitgeberverbände als auch der Deutsche Gewerkschaftsbund
({2})
lehnen diese Vorschrift ausdrücklich ab.
({3})
Hinsichtlich Ihres Hinweises auf die Aussage von Kardinal Sterzinsky
({4})
und die Meinung der Kirche sage ich: Diejenigen, die hier
herumpöbeln, wären glaubwürdiger, wenn sie auch beim
Schutz des ungeborenen Lebens auf die Kirche hören
würden. Aber dann haben Sie mit der Kirche gar nichts am
Hut.
({5})
Sie sagen, Deutschland müsse sich endlich dazu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein, wir müssten unsere Grenzen weiter öffnen, die Menschen würden mobiler und die Grenzen verlören an Bedeutung. Es geht doch
nicht um die Frage, ob wir Zuwanderung haben werden.
Wir haben bereits Zuwanderung und wir werden sie auch
in Zukunft haben. 31 Millionen Menschen sind nach dem
Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gekommen; 22 Millionen Menschen haben unser Land verlassen.
({6})
Nach der Wiedervereinigung sind 12 Millionen Menschen
in unser Land gekommen; 10 Millionen Menschen haben
unser Land verlassen. Selbst die Vereinigten Staaten von
Amerika hatten nicht eine so hohe Zuwanderung wie die
Bundesrepublik Deutschland. Warum loben Sie denn
nicht endlich einmal die gewaltige Integrationsleistung,
die wir in den letzten Jahrzehnten erbracht haben?
({7})
Warum stellen Sie unser Land immer in eine bestimmte
Ecke?
Es geht doch nur um die Frage - darum dreht sich der
politische Streit -, ob wir über den ohnehin hohen Zuwanderungsdruck hinaus noch mehr Zuwanderung nach
Deutschland sowohl aus humanitären Gründen als auch
aus Gründen, die mit dem deutschen Arbeitsmarkt zu tun
haben, zulassen sollen.
({8})
Die Zahl der Menschen, die wir jedes Jahr in unsere Gesellschaft integrieren müssen, liegt in der Größenordnung
der Einwohnerzahl von Städten wie Nürnberg oder Dortmund. Es gibt doch unübersehbare Integrationsprobleme
in vielen Teilen unseres Landes. Glauben Sie denn ernsthaft, wir könnten diese Probleme mit mehr Zuwanderung
lösen? Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung. Wir
haben einen erkennbaren Mangel an Integration.
({9})
Sie sagen der deutschen Wirtschaft, dass Sie ihren
Wünschen nach mehr ausländischen Arbeitnehmern
Rechnung tragen würden - und erweitern die Bleiberechte aus humanitären Gründen.
({10})
Sie erweitern den Familiennachzug. Sie heben den Anwerbestopp auf und wollen die Zuwanderung aus demographischen Gründen. Trotzdem sagen Sie, dass alles dies
im Ergebnis nicht zu mehr Zuwanderung führen würde.
Das glauben wir Ihnen nicht und das glaubt Ihnen auch die
Bevölkerung nicht.
({11})
Sie können Politik gegen die Opposition machen; Sie
haben die Mehrheit. Sie können auch, wie das jetzt bei
diesem Gesetz der Fall ist, gegen eine breite Mehrheit in
der Bevölkerung Politik machen. - Das geht zwar meistens nicht lange gut;
({12})
aber man kann es ja einmal versuchen. - Aber Sie können
doch nicht gegen die Realität, wie sie sich in den Zahlen
widerspiegelt, Politik machen.
({13})
Ich warne davor, die Menschen in unserem Land
- 76 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr Zuwanderung, 72 Prozent der Wähler der Grünen wollen nicht
mehr Zuwanderung, 73 Prozent der Wähler der SPD wollen nicht mehr Zuwanderung ({14})
in eine rechte Ecke zu stellen.
({15})
Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen.
Wir wissen schon, dass wir unter Druck stehen; das ist
hier angesprochen worden. Natürlich, auch wir sehen im
Fernsehen und lesen in der Presse, dass wir diesem
Gesetzentwurf zustimmen sollen. 76 Prozent der Bevölkerung wollen nicht mehr Zuwanderung. Vermutlich sind
jedoch 76 Prozent aller Kommentatoren der Auffassung,
dass die Bevölkerung falsch liegt.
({16})
Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung.
({17})
Mich würde einmal interessieren, ob all die Kommentatoren und Redakteure, die für mehr Zuwanderung nach
Deutschland plädieren,
({18})
in Stadtvierteln mit überwiegend ausländischer Bevölkerung wohnen. Die Probleme werden doch je nach Umfeld
ganz unterschiedlich wahrgenommen.
({19})
Sie unterstellen uns, wir würden über dieses Thema
nicht ausführlich und sachlich, sondern unter wahltaktischen Gesichtspunkten sprechen. Wenn wir uns in
Deutschland entschließen würden, nicht mehr über das
Thema Zuwanderung zu sprechen, begingen wir einen kapitalen Fehler, weil wir dieses Thema den Rechtsradikalen überlassen würden. Genau das sollten wir nicht tun.
({20})
Sie können von uns nicht verlangen, dass wir einem
Gesetzentwurf zustimmen, der nicht den Interessen des
Landes dient und der die Probleme auf dem Arbeitsmarkt
und die der Integration nicht löst, sondern verschärft.
({21})
Es ist nicht nur das Recht der Opposition, zu einer solchen
Politik Nein zu sagen; es ist unsere Pflicht.
({22})
Der Herr Bundeskanzler hat darum gebeten, das Wort zu erhalten. Ich
weise darauf hin, dass die Debatte damit wieder eröffnet
wird. Im Anschluss daran ist für die CDU/CSU eine
Redezeit von fünf Minuten und für die drei kleineren
Fraktionen eine Redezeit von je drei Minuten vorgesehen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Debatte wieder eröffnet.
Der Herr Bundeskanzler hat das Wort.
Gerhard Schröder, Bundeskanzler ({0}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nur wenige Bemerkungen zu dem machen,
worum es mir und uns gegangen ist, als wir einen Kompromissvorschlag gemacht haben, der es nach meiner
Auffassung - ich denke, dies ist nicht nur meine Auffassung - erlauben sollte, dass dieser Gesetzentwurf, der
heute beschlossen werden wird, seine Wirksamkeit erlangt.
({1})
Um seine Wirksamkeit zu erlangen,
({2})
brauchen wir nicht nur die Mehrheit des Deutschen Bundestages.
({3})
Herr Bundeskanzler,
einen Augenblick bitte! - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gehört zum parlamentarischen Brauch, dass man
dem Redner auch in einer solch heftigen Debatte bis zum
Schluss zuhört. Darum bitte ich jetzt alle Beteiligten hier
im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich bitte auch darum, dass alle ihre Plätze wieder einnehmen. Vielleicht haben Sie noch nicht bemerkt, dass wir
uns noch nicht in der Abstimmung befinden. Gleich wird
Frau Merkel sprechen, anschließend kommt noch jeweils
ein Vertreter der anderen Fraktionen zu Wort. Die Debatte
geht also weiter. Ich bitte um ein bisschen Disziplin!
Der Bundeskanzler hat jetzt das Wort.
Ich wollte deutlich machen, verehrte Frau Präsidentin, dass dieser Gesetzentwurf, der heute beschlossen wird, auch eine Mehrheit im Bundesrat braucht, um seine Wirksamkeit zu
erlangen. Ich möchte Ihnen gerne sagen, dass wir die
Kompromisse, die wir gemacht haben und die ganz unbestreitbar sind, nicht nur deswegen gemacht haben, um Ihnen im Bundestag, sondern natürlich auch, um den Landesregierungen im Bundesrat die Zustimmung zu
ermöglichen.
({0})
Ich möchte gerne deutlich machen, dass wir mit diesem
Gesetzentwurf nicht die Hoffnung verbinden - ich jedenfalls nicht, Herr Bosbach -, dass damit die Debatte über
Zuwanderung beendet sei, egal ob im Wahlkampf oder
außerhalb des Wahlkampfes. Diese Debatte kann man
nicht mit einem Gesetz beenden. Das liegt doch auf der
Hand. Die Diskussion über die Fragen, die unser Volk und
damit uns angehen, wird also weitergehen. Ich hoffe, dass
sie in einer sachlichen Atmosphäre geführt werden kann.
({1})
Wer seine Angst darüber zum Ausdruck bringt, wir wollten eine Diskussion beenden, die dann von Rechtsradikalen weitergeführt werden könnte, dem muss ich sagen:
Diese Angst ist unberechtigt. Die Demokraten in diesem
Land werden diese Debatte miteinander führen. Ich hoffe,
sie führen sie sachlich.
({2})
Zweite Bemerkung: Der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, stellt eine sorgfältige Balance zwischen dem, was
für unser Land wirtschaftlich geboten ist, und dem, was
wir humanitär um unser selbst willen realisieren müssen,
dar. Diese Balance kommt zum Beispiel dadurch zum
Ausdruck, dass wir es für richtig halten, dass Frauen
- auch wenn sie nicht staatlich verfolgt sind -, die Angst
haben, verstümmelt zu werden, die um Leib und Leben
fürchten müssen, wie wir das in Afghanistan und anderswo erlebt haben, bei uns Zuflucht finden können. Wer
wollte dem ernsthaft widersprechen?
({3})
Das, was in diesem Gesetzentwurf geregelt wird, geht
ausdrücklich nicht über jene Grundsätze hinaus, die in der
Genfer Flüchtlingskonvention niedergeschrieben sind.
({4})
Deshalb bitte ich Sie, zu akzeptieren, dass dies zwar unserer humanitären Verpflichtung genügt, ihr aber nur
dann gerecht wird, wenn wir eine solche Fassung des Gesetzentwurfes verabschieden und miteinander dafür sorgen, dass dieser Gesetzentwurf Wirklichkeit wird.
({5})
Zum wirtschaftlich Gebotenen gehört auch, der Forderung nach mehr Internationalität in unserer Gesellschaft
- auch um unserer wirtschaftlichen Entwicklung willen ebenso gerecht zu werden wie den Vorrang aufrechtzuerhalten, dass es auf dem Arbeitsmarkt natürlich zuerst um
diejenigen geht, die bei uns als Deutsche Arbeit suchen.
Aber der Gesetzentwurf stellt genau diese Balance her.
Deswegen ist er zustimmungsfähig und - so hoffe ich wird Gesetz werden.
({6})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Wir stehen nicht vor der Alternative, ob wir Zuwanderung bekommen oder nicht. Wir haben sie doch in den
ganzen Jahrzehnten gehabt. Die Alternative, die sich uns
bietet, lautet: Wollen wir mit einem Gesetz Zuwanderung
sinnvoll begrenzen, unsere ökonomischen Interessen
wahren und unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen? Oder wollen wir es weiter so laufen lassen, wie es
bisher gelaufen ist?
({7})
Ich denke, wer Verantwortung für Deutschland wahrnehmen will oder wahrnimmt, der muss ein Interesse daran haben, dass wir den Prozess, den wir - ob wir ihn nun
wahrnehmen wollen oder nicht - in der Wirklichkeit haben, endlich sinnvoll steuern. Dazu gehört natürlich auch,
dass wir ihn begrenzen können.
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Ich habe die
herzliche Bitte, dass in den folgenden Wochen bis zur
Bundesratsentscheidung weiterhin über die Inhalte des
Gesetzes geredet wird. Es darf aber nicht dazu kommen
- ich will dies jedenfalls nicht -, dass der Bundesrat als
ein Ort missbraucht wird
({8})
- nun warten Sie doch erst einmal ab! -, an dem ein Zweikampf zwischen dem Kandidaten und dem Bundeskanzler stattfindet; darum geht es nicht.
({9})
Nach dem, was geschrieben wurde - ich habe es mir angeschaut -, mache ich mir Sorgen, dass in den nächsten
Tagen und Wochen nicht mehr über das Gesetz, sondern
nur noch über die Frage, wer bei der Abstimmung im
Bundesrat gewinnt oder nicht, geredet wird. Das würde
dem Gesetz nicht gerecht werden.
({10})
All denjenigen, die davor Angst haben, sage ich: Ich
glaube nicht, dass die Bundestagswahl am 22. September
durch die Entscheidung im Bundesrat - unabhängig davon, welche Landesregierung zustimmt oder nicht - in der
einen oder anderen Weise vorentschieden wird. Mir liegt
daran, aus dieser personalisierten Auseinandersetzung
herauszukommen.
({11})
- Es mag ja sein, dass das bei Ihnen nicht der Fall ist. Verstehen Sie aber bitte, dass mir etwas an dem Gesetz liegt.
({12})
Sie müssen sich im Übrigen keine Sorgen machen.
Diese Form der Auseinandersetzung - auch eine sehr personalisierte - wird es geben. Davor haben wir nicht die
geringste Angst. Seien Sie sich dessen ganz sicher.
({13})
Ich fände es aber falsch, wenn die Wirksamkeit dieses Gesetzes, das ich in des Wortes wahrster Bedeutung für notwendig halte, davon abhinge, wer bei der Abstimmung im
Bundesrat als Person gewinnt. Das möchte ich vermeiden.
Meine Damen und Herren, deshalb bitte ich darum und
appelliere an Sie, heute diesem notwendigen Gesetz zuzustimmen und alles dafür zu tun, dass in den nächsten Tagen und Wochen über die Inhalte geredet und die
Auseinandersetzung in der zweiten Kammer nicht für andere Zwecke missbraucht wird.
({14})
Ich erteile der Kollegin Dr. Angela Merkel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben Recht: Dies ist
eine wichtige Debatte. Dieses Thema bewegt uns alle in
unserer globalen Welt gleichermaßen.
Weil es in Deutschland einen Regelungsbedarf gibt, hat
sich die Union in den vergangenen Monaten und Jahren
intensiv mit diesem Thema beschäftigt.
({0})
Im Übrigen haben wir dies als erste Partei getan.
({1})
- Darüber brauchen wir jetzt keinen Streit zu führen; wir
haben es getan. - Wir haben für die Integration der heute
bei uns lebenden ausländischen Bürgerinnen und Bürger
- dies halte ich für den Frieden in unserer Gesellschaft für
zentral - als erste ein vollständiges Konzept vorgelegt.
({2})
Herr Bundeskanzler, Sie werden mir zustimmen, dass
wir uns bei der Integration der bei uns lebenden Bürgerinnen und Bürger nicht in einer Balance befinden.
Friedrich Merz hat heute morgen darauf hingewiesen,
dass die Arbeitslosigkeit bei den ausländischen Jugendlichen doppelt so hoch ist wie die Arbeitslosigkeit bei denen, die deutscher Herkunft sind. Das muss uns umtreiben
und darauf muss dieser Gesetzentwurf zuallererst eine
Antwort geben. Diese Antwort gibt er nach unserer Meinung nicht.
({3})
Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, zeichnet
sich - so weit noch richtigerweise - dadurch aus, dass er
zwei Gruppen von Zuwanderung berücksichtigt, und zwar
zum einen die humanitären Fälle und zum anderen die
Fälle des Arbeitsmarktes. Bei den humanitären Fällen haben wir uns genauso wie Sie weiter zum Art. 16 des Grundgesetzes verpflichtet und wir verpflichten uns ebenso wie
Sie, die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten, wie
das alle Länder dieser Welt, die vernünftig sind, tun.
({4})
- Herr Stiegler, Sie haben in den letzten Wochen wirklich
genug herumgeschrien.
({5})
Es wird aber niemand bestreiten, dass Sie in einer relativ künstlichen Formulierung im Gesetzentwurf nicht von
der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention reden,
sondern „in Anwendung der ...“ sagen und dann die Sachverhalte erweitern. Das ist der Punkt, über den wir streiten.
({6})
Herr Bundeskanzler, wenn Sie heute Morgen schon
hätten anwesend sein können,
({7})
dann hätten Sie gehört, dass Friedrich Merz ausdrücklich
darauf hingewiesen hat, dass in Fragen von Einzelfällen
humanitärer Schicksale, die es in unserem Lande in der
Tat gibt, mit uns darüber zu reden ist, wie wir diese Fälle
lösen können.
({8})
Es geht aber nicht mit generalistischen Klauseln. Das will
ich ausdrücklich sagen.
({9})
Es stellt sich die Frage - das ist das eigentlich Neue und
die interessante Situation, der wir uns alle in den vergangenen Jahren nicht geöffnet hatten -: Gibt es die Notwendigkeit der Zuwanderung aus eigenen deutschen Interessen und nicht nur aus Gründen der Humanität, denen
wir uns verpflichtet fühlen?
({10})
Diese Frage haben wir gemeinsam mit Ja beantwortet, wir
haben sie aber insofern unterschiedlich beantwortet, als es
um unsere Interessen geht.
({11})
Ich sage Ihnen, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland seit 1972 eine Entwicklung haben, dass sich
die Zahlen der ausländischen Bürgerinnen und Bürger, die
bei uns leben, mehr als verdoppelt haben, während die
Zahl derer, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, geringer ist als 1972.
({12})
Das heißt, es hat eine Zuwanderung in die sozialen
Sicherungssysteme gegeben und nicht in den Arbeitsmarkt. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden. Es
muss gesteuert werden. Deshalb sagen wir: Es muss eine
richtige Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland
geben.
({13})
Herr Bundeskanzler, es ist doch unstrittig, dass wir bei
Fachpersonal - Ingenieuren oder Technikern - durchaus
Bedarf haben
({14})
und dass wir mehr Studenten brauchen. Auf diesem Feld
haben Sie mit Ihrer Greencard einen relativ lockeren
Vorschlag gemacht, bei dem eine Sache sehr interessant
war. Es hat sich nämlich gezeigt, dass von 20 000 möglichen Informatikern gerade mal 5 000 gekommen sind,
weil die Arbeitsbedingungen in Deutschland so sind, dass
kein Interesse besteht, hier zu arbeiten. Das ist das Problem, das uns umtreiben muss.
({15})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, auch in der Schlussphase dieser Debatte
bitte ich um ein bisschen Disziplin. - Frau Kollegin
Merkel, Sie haben das Wort.
({0})
Meine Damen und
Herren, die Wahrheit ist doch, dass die 20 000 Plätze für
Informatiker gar nicht ausgeschöpft sind
({0})
und inzwischen wegen der Konjunkturlage mehr Informatiker entlassen worden sind, als überhaupt zu uns gekommen sind.
({1})
Wir müssen deswegen doch gar nicht schreien, sondern
wir sollten lieber versuchen, die Bedingungen an unseren
Hochschulen und die Bedingungen für die Forschung zu
verbessern. Das können wir an anderer Stelle machen.
({2})
Meine Damen und Herren, was Sie jetzt bei der
Arbeitsmarktzuwanderung machen, das ist eine unspezifische Regelung, die nach unserer Meinung eben gerade
nicht sicherstellt, dass die Steuerung der Zuwanderung in
den Arbeitsmarkt wirklich stattfindet. Wir haben die
Sorge, die Befürchtung und auch die sichere Erkenntnis,
dass hier wieder eine Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme stattfinden wird. Das ist der Grund dafür,
dass wir Nein sagen.
({3})
Da Sie uns vielleicht nicht sofort glauben, muss ich Sie
einfach noch einmal an das erinnern, was die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zusammen
mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund Ihnen noch in die
Ausschussberatungen hinein geschickt hat, nämlich dass
der geplante § 39 des Aufenthaltsgesetzes geändert werden muss. Es heißt wörtlich:
Die Vorschrift sieht in ihrer derzeitigen Fassung vor,
dass die örtlichen Arbeitsämter jeweils nach Ermessen ihr eigenes Zuwanderungsprogramm festlegen
können.
({4})
Aufgrund wechselnder regionaler und politischer
Interessenlagen werden auf diese Weise unvorhersehbaren und willkürlichen Entscheidungen Tür und
Tor geöffnet.
({5})
Das haben sie nicht im Januar geschrieben, sondern das
haben sie jetzt aufgrund der Veränderung geschrieben.
({6})
Sie haben nichts weiter geändert, als dass Sie das Benehmen mit den Landesarbeitsämtern, die übrigens der Bundeskanzler abschaffen will, herstellen. Sonst haben Sie
nichts geändert und Sie haben die Bedingungen des DGB
und der BDA nicht erfüllt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie möchten,
dass die weitere Diskussion sachlich geführt wird. Wir
sind an dieser sachlichen Diskussion interessiert.
({7})
Sie haben gesagt, Sie möchten nicht, dass der Bundesrat
missbraucht wird. Genau daran sind auch wir interessiert.
({8})
Es gibt für den Bundesrat ganz einfache Verfahrensvorschriften: Koalitionsregierungen haben Verträge abgeschlossen, nach denen werden die Entscheidungen gefunden. Insofern sehe ich der Debatte sehr gelassen und sehr
ruhig entgegen.
({9})
Herr Bundeskanzler, wenn Sie Interesse an einer Lösung haben, was Sie hier noch einmal dargestellt haben,
dann wundert mich allerdings, dass Sie hier Vorschläge
eingebracht haben und als Erstes haben erklären lassen:
Den Vermittlungsausschuss wird die Bundesregierung
aber auf gar keinen Fall anrufen. Was hat das mit einer
sachlichen Diskussion zu tun, Herr Bundeskanzler?
({10})
Frau Kollegin
Merkel, bei aller Großzügigkeit, Sie müssen bitte zum
Schluss kommen.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, kann ich Ihnen nur sagen: An uns soll es nicht
liegen.
({0})
Falls Ihr Redebeitrag zum Ende der heutigen Debatte den
Sinn und den Zweck hatte, noch einmal deutlich zu machen, dass weder Druck ausgeübt noch eine unsachliche
Diskussion geführt werden soll und Sie, so wie wir, keine
Angst vor dem Austauschen unterschiedlicher Argumente
haben,
({1})
weil immer es um die Interessenlage der Bundesrepublik
Deutschland geht, dann machen wir dabei gerne mit.
({2})
Wir haben in der Bevölkerung viel Verständnis für unsere
Position; dessen bin ich mir ganz sicher.
Herzlichen Dank.
({3})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Cem Özdemir für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Merkel, wissen Sie, was das Sympathische an Ihrer Rede war? - Man
merkte bei jedem Satz: Sie hätten ja eigentlich gewollt.
({0})
Wenn ich mich hier umsehe, sehe ich viele Kollegen, die
ich in sieben Jahren im Bundestag kennen gelernt habe
und von denen ich genau weiß, dass sie es besser wissen.
Sie haben sich den Gesetzentwurf angeschaut und wissen,
dass vieles von dem, was hier gesagt wurde, nicht mit dem
übereinstimmt, was in dem Entwurf steht. Sie würden
gerne zustimmen, dürfen es aber aus Gründen, die uns allen bekannt sind, nicht. Ich bedaure Sie sehr dafür.
({1})
Meine Damen und Herren, am 1. Januar 2000 trat ein
bedeutendes Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland
in Kraft. Das ist bekanntlich das Staatsangehörigkeitsrecht. Damals wurde das Geburtsrecht in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt.
({2})
Wir sind damit ein europäisches Land geworden, weil wir
eine wichtige Sache durchgeführt haben.
({3})
- Mit Unterstützung von Ihnen. Freuen Sie sich, dass Sie
auf der richtigen Seite standen. - Damals stand die
CDU/CSU auf der falschen Seite. Ich weiß, dass es viele
von Ihnen bereuen. Heute sind Sie aber dabei, denselben
Fehler noch einmal zu machen.
({4})
Sie stehen auf der falschen Seite. Sie verhindern ein Gesetz,
das die Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Unternehmer, Kirchen und alle vernünftigen Kräfte in der Gesellschaft - darunter auch viele Christdemokraten - wollen.
Helfen Sie mit, dass ein Gesetz, das dazu beiträgt, dass künftig alle, die zu uns kommen, Deutsch lernen, verabschiedet
wird. Was haben Sie dagegen, dass Migrantinnen und Migranten künftig Deutsch lernen, wenn sie zu uns kommen?
({5})
Helfen Sie mit, dass dieses Gesetz durchgesetzt wird. Die
Eltern, die Lehrerinnen und Lehrer und die Schülerinnen
und Schüler wollen es. Ich verstehe nicht, was man dagegen haben kann.
Aber eines ist ein bisschen unfair. Wenn man während
seiner Regierungszeit etwas nicht durchgeführt hat, das
dann andere machen - auch wenn es vielleicht zu wenig
ist, weil nicht mehr Mittel zur Verfügung stehen -, und
man dann sagt, das reiche nicht, erscheint mir das ein bisschen wohlfeil. Sie hätten es besser machen können, haben
das aber nicht getan.
({6})
Wir beginnen damit. Helfen und unterstützen Sie uns!
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass wir später
mehr Geld haben und mehr für die Sprachkurse tun können. Aber nichts tun ist nicht mehr als zu wenig tun.
Nichts tun ist immer weniger, meine Damen und Herren.
({7})
Ich habe leider nur wenig Zeit.
({8})
Aber ich möchte noch auf eines hinweisen. Je weiter wir
in den Wahlkampf kommen, desto stärker wird das Argument vertreten: Die Ausländer sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen und beziehen häufiger Sozialhilfe. Professor Birg, der Bevölkerungswissenschaftler aus
Bielefeld, wird in diesem Zusammenhang gern zitiert.
Aber an eines sollten Sie sich erinnern, meine Damen und
Herren. Ich meine das ernst. Als die Anwerbeabkommen
geschlossen worden sind, haben nicht die Grünen regiert
- uns gab es damals noch nicht -, auch die SPD nicht. Sie
haben regiert, als die Anwerbeabkommen geschlossen
worden sind, aufgrund deren beispielsweise meine Eltern
in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Damals wurden Leute in der Schwerindustrie, im Bergbau,
unter Tage und in der Stahlindustrie gesucht. Diese Leute
sind bewusst ausgesucht worden, weil sie ungelernte Arbeitskräfte waren. Weil nicht in sie investiert wurde und
weil sie nicht aus- und weitergebildet wurden, sind sie
heute teilweise stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Daraus kann man ihnen aber keinen Vorwurf machen,
({9})
weil wir damals keine Konzepte für Integration hatten und
man ihnen nicht Deutsch beigebracht hat. Das kann man
ihnen heute nicht zum Vorwurf machen.
({10})
Was wir mit dem Gesetz wollen, ist, aus den Fehlern zu
lernen und künftig bei der Einwanderung einen Fahrplan
zur Integration vom ersten Tag der Einreise an zur Verfügung zu stellen. Helfen Sie uns mit, damit durchgesetzt
wird, worauf alle in der Gesellschaft warten!
Herzlichen Dank.
({11})
Für die PDS-Fraktion
erteile ich dem Kollegen Roland Claus das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie
haben sich unerwartet entschlossen, eine Ansprache an
die Fraktion der CDU/CSU zu halten und dafür das Plenum des Bundestags zu wählen. Ich erkläre mir das ein
wenig damit, dass Sie möglicherweise die harsche Rede
Ihres Bundesinnenministers dazu veranlasst hat, der hier
in einer Weise mit der Union umgegangen ist, wie es von
ihm auch nicht anders zu erwarten war. Insofern habe ich
ein gewisses Verständnis für Ihr Verhalten, Herr Bundeskanzler.
Aber wir haben auch eines gemerkt. Die Union beeindruckt es offenbar relativ wenig, wenn man ihr nach dem
Mund redet. Von Frau Merkels Rede ist nur eine einzige
Botschaft übrig geblieben,
({0})
nämlich dass Humanität und Menschenrechte nur dann
gewünscht sind, wenn es uns in den Kram passt.
({1})
Mit dieser Überlegung passt es nicht zusammen, dass Sie
sich immer als Lehrmeister in Sachen Humanität und
Menschenrechte aufspielen.
Die CDU/CSU hat natürlich Recht, wenn sie auf das
Kleingedruckte in diesem Gesetz verweist und sagt, es
gebe viele Ausgestaltungsmöglichkeiten. In der vor uns
liegenden öffentlichen Debatte und erst recht in den bevorstehenden Wahlkämpfen geht es natürlich nicht um
das Kleingedruckte, sondern darum, wie die Dinge vereinfacht und vergröbert interpretiert werden. Hier wünsche ich mir noch immer, dass wir als Parlament nicht für
Verklärung und Stimmungsmache, sondern für Aufklärung in diesem Lande sorgen. Diese Hoffnung gebe ich
auch nicht auf.
({2})
Allerdings ist es nicht damit getan, dass Herr Merz erklärt, die Probleme der Arbeitslosigkeit seien mit Zuwanderung nicht zu lösen. Dass das so ist, ist völlig klar. Aber
es in dieser Verknüpfung zu bringen, bedeutet, die Sorgen
und Nöte von Arbeitslosen gegenüber den Sorgen und
Nöten von Zuflucht Suchenden auszuspielen.
({3})
Da Sie, Frau Merkel, hier den Platz 1 für sich reklamiert haben, sage ich Ihnen: Die CDU/CSU nimmt den
Platz 1 nur auf den Feldern Realitätsverdrängung, Abschottungsabsicht und Stimmungsmache ein. Das ist leider Ihre Bilanz.
({4})
Meine Damen und Herren, die PDS hat sich mit eigenen Vorschlägen in die Diskussion um ein modernes Einwanderungsrecht eingebracht. Das, worüber wir heute abzustimmen haben, stellt uns nicht zufrieden; das haben
wir deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber auch hier sehen wir natürlich Möglichkeiten für Nachbesserungen,
die auf den Weg gebracht werden können.
({5})
Als vorläufig Letzte in der Aussprache hat die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte hat auch gezeigt, dass es einen guten Politiker
auszeichnet, in seiner Grundüberzeugung im Hinblick auf
grundlegende Fragen unserer Gesellschaft konsistent und
konsequent zu sein. Meinungsäußerungen allein aufgrund
momentaner Anzeichen, Zahlen und Entwicklungen gefährden hingegen sehr schnell die eigene Glaubwürdigkeit.
({0})
Die FDP hat sich schon vor vielen Jahren und als erste
Fraktion in dieser Legislaturperiode so ernsthaft mit der
Frage der gesteuerten Zuwanderung befasst, dass sie einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der lange nicht
intensiv beraten wurde, weil es keine überzeugenden Alternativen dazu gegeben hat, heute aber ebenfalls zur Abstimmung steht.
({1})
Wir haben uns also nicht vorzuwerfen, an dieser Debatte
nicht konstruktiv teilzunehmen. Im Gegenteil, wir sind
Mitgestalter dieser Debatte.
({2})
Wir sind davon überzeugt, dass Zuwanderung nach
Deutschland stattfindet, in welchen Bahnen auch immer,
nicht aber in Bahnen, die auch von der Politik gesteuert
werden.
({3})
Wir wollen ein Zuwanderungsgesetz, damit Zuwanderung auf einen konkreten Arbeitsplatz hin und eben nicht
in Sozialsysteme hinein stattfindet.
({4})
Deshalb vertritt die FDP auch die Überzeugung, dass
sich Asyl Suchende und Migrantinnen und Migranten
in ihrem Bemühen, nach Deutschland zu kommen, gegenseitig ausschließen. Es gibt keinen Wechsel untereinander; für Asyl Suchende gilt das Asylrecht. Hier ist es
gut, dass es bei einer Kategorie von Flüchtlingen, die
nicht als Asylbewerber zu uns kommen, eine klare Beschreibung ihres Status geben wird.
({5})
Nur darum geht es bei den Regelungen im Hinblick auf
nicht staatliche Verfolgung und auf Menschen, die aus geschlechtsspezifischen Gründen verfolgt werden. Hier
wird kein neuer Zugang eröffnet, sondern hier geht es um
die Statusregelung. Der Status wird so geändert, dass er
der Situation dieser Menschen entspricht.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns steht jetzt eine
wichtige Abstimmung bevor. Damit dürfen aber der Diskussionsprozess und das Bemühen um Vermittlung nicht
beendet sein. Jeder, der an einer Regelung zu einer gesteuerten und gegebenenfalls auch begrenzten ZuwandeRoland Claus
rung interessiert ist, muss auch nach der Abstimmung
heute im Bundestag diese Bemühungen fortsetzen. Deshalb darf auch niemand sagen: Mit uns wird es kein Vermittlungsverfahren und kein Voranbringen der Beratungen geben.
({7})
Die FDP enthält sich bei dieser Abstimmung, weil wir
Licht und Schatten sehen. Wir haben aber eine positive
Grundüberzeugung in Bezug auf dieses Vorhaben und
stimmen mit seiner grundlegenden Richtung überein.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aus-
sprache. Es liegen persönliche schriftliche Erklärungen
zur Abstimmung der Kollegen Dr. Norbert Blüm,
Dr. Heiner Geißler, Dr. Christian Schwarz-Schilling und
der Kolleginnen Professor Süssmuth und Ulla Jelpke
vor.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung über die von der
Bundesregierung sowie von den Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwürfe
eines Zuwanderungsgesetzes, Drucksachen 14/7987,
14/8046 und 14/7387. Der Innenausschuss empfiehlt un-
ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/8395, die genannten Gesetzentwürfe als Zuwande-
rungsgesetz in der Ausschussfassung anzunehmen.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf
Drucksache 14/8407 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS? - Wer
stimmt dagegen? - Der Änderungsantrag ist gegen die
Stimmen der PDS und mit den Stimmen des restlichen
Hauses abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung mit den von den Berichterstattern übermit-
telten Korrekturen zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Es wird namentliche Abstim-
mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind
alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat?
Ich frage noch einmal: Ist noch ein Mitglied des Hau-
ses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? -
Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird später bekannt gegeben.2)
Wir kommen nun zu einer Reihe von einfachen Ab-
stimmungen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 14/8396. Wer stimmt dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent-
schließungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP bei
Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ausländer-
gesetzes auf Drucksache 14/8009. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Nr. 2 auf Drucksache 14/8395, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt. Da-
mit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Abstimmung über den von der Fraktion der FDP ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Zu-
wanderung auf Drucksache 14/3679. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Nr. 3 auf Drucksache 14/8395, den Ge-
setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 4 auf Druck-
sache 14/8395, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 14/6641 mit dem Titel „Umfassendes
Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung
sowie zur Förderung der Integration jetzt vorlegen“ ab-
zulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU ange-
nommen.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 5 auf Druck-
sache 14/8395, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 14/3697 mit dem Titel „Berliner Rede des
Bundespräsidenten umsetzen - Zuwanderung nach
Deutschland verbindlich regeln“ abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU ange-
nommen.
Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Nr. 6
auf Drucksache 14/8395, den Antrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/7810 mit dem Titel „Einwande-
rung und Flüchtlingsschutz menschenrechtlich gestalten“
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des In-
nenausschusses auf Drucksache 14/3721 zu dem Antrag
1) Anlagen 2 bis 4 2) Seite 22061 C
der Fraktion der FDP mit dem Titel „Zuwanderung steuern, Aus- und Weiterbildung intensivieren, Arbeitserlaubnisrecht entrümpeln“. Der Innenausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/3023 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der FDP angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7720 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Zusatzpunkt 8: Wir kommen zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familien,
Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 14/8393
zur Unterrichtung durch die Bundesregierung - Sechster
Familienbericht mit dem Thema „Familien ausländischer
Herkunft in Deutschland“ - sowie zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu diesem Bericht.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 14/4357
den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6169 zum
Sechsten Familienbericht anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle,
Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag zu den Vorhaben der Bundesregierung zur Bewältigung
der aktuellen politischen Herausforderungen
- Drucksache 14/8281 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sieben Minuten erhalten soll. - Das ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rainer Brüderle für die FDP.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler ist nicht hier.
({0})
Er drückt sich vor der heutigen Debatte.
({1})
Menschlich kann ich das nachvollziehen; denn wer lässt
sich schon gern den Spiegel vorhalten, um darin nur Pleiten, Pech und Pannen zu entdecken.
({2})
Politisch aber kann ich das nicht verstehen. Ein Bundeskanzler muss sich der ihm übertragenen Verantwortung
für die Politik des Landes stellen.
({3})
Sie aber laufen weg. Ihre Politik ist auch zum Weglaufen.
Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie auf: Machen Sie
Ihrem Schweigen ein Ende! Treten Sie vor die gewählten
Vertreter des deutschen Volkes und nehmen Sie Stellung
zu den Problemen, die die Menschen bewegen!
({4})
Wir wollen eine Regierung, die die Probleme nicht verschleppt, sondern ihre Arbeit macht.
({5})
Geben Sie deshalb so schnell wie möglich eine Regierungserklärung zu den Ungereimtheiten, Nachlässigkeiten und Verfehlungen, die diese Regierung zu verantworten hat, ab!
({6})
Worum geht es dabei? Es geht darum, dass Deutschland angesichts eines Berges selbst verursachter, ungelöster Probleme nicht nur im Ausland immer mehr an Reputation verliert. Vor allem im Inland leiden die Menschen
unter falschen politischen Weichenstellungen, schlampiger Vorbereitung von Maßnahmen und dem Vor-sichHerschieben ungelöster Probleme. Eine klare Linie,
geschweige denn Grundsätze des politischen Handelns
sind nicht erkennbar. Stattdessen erleben wir eine Politik
der Orientierungslosigkeit, der Beliebigkeit und des
„Fettnäpfchenhüpfens“. Man könnte fast meinen - hier
schließt sich der Kreis -: So chaotisch, wie die Regierungszeit des Kanzlers begonnen hat, so endet sie auch.
Ich kann es Ihnen leider nicht ersparen, einige dieser
ungelösten Probleme zu nennen. Dabei rede ich nicht von
dem Fischmehlskandal oder der wirren Verbraucherpolitik der Frau Künast.
({7})
Ich will mich heute auch nicht darauf einlassen, die Skandalchronik von Herrn Trittin aufzuzeigen. Er wird inzwischen vom Bundeskanzler und seinen Kabinettskollegen
offensichtlich versteckt, damit er mit seinen Verbalattacken und inhaltlichen Fehlzündungen nicht noch mehr
Schaden anrichtet.
({8})
Bezeichnend ist, dass Trittin jetzt, wo er nicht mehr sichtbar ist, auf der Beliebtheitsskala an anderen Kabinettsmitgliedern vorbeizieht.
Einen Tag nachdem sich die D-Mark als Zahlungsmittel
in Deutschland verabschiedet hat, möchte ich über die Stabilität des Euros reden. Die Bundesregierung hat dieser Stabilität in unerträglicher Art und Weise Schaden zugefügt.
({9})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Die Vorgänge rund um den blauen Brief haben nicht nur
den europäischen Stabilitätspakt ausgehöhlt, sondern
können auch zu einem nachhaltigen Verlust des Vertrauens in die europäischen Währung beitragen. Politik soll
zwar Ängste nehmen, nicht aber die Angst vor dem blauen
Brief in Europa. Die Bundesregierung hat statt eines
blauen Briefes ein blaues Auge davongetragen.
({10})
Sie hat mit ihrem Vorgehen in Brüssel das Fundament der
jungen europäischen Währung beschädigt. Es ist ein völliges Rätsel, wie der Finanzminister seine Zusage, die
Neuverschuldung bis 2004 nahe null zu führen, einhalten
will.
Es bleibt auch die spannende Frage, wie Hans Eichel in
diesem Jahr unterhalb des Defizitkriteriums bleiben will;
denn weder wird die Konjunktur anspringen noch sind
nachhaltige Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in der
Sozialversicherung geplant. Die verzweifelten Rufe nach
einem nationalen Stabilitätspakt zeigen, dass Sie von
Grün-Rot mit Ihrem Latein am Ende sind.
({11})
Auch der Bundeskanzler tut nichts, um den Euro zu
stärken; im Gegenteil: Mit seinen Beschimpfungen gegenüber der Europäischen Kommission hat er nicht nur
die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspakts zusätzlich beschädigt, sondern auch der europäischen Integration insgesamt einen Tort angetan. Leider ist hier ein kurzfristiges
nationales Interesse, nämlich die bevorstehende Bundestagswahl im Herbst, über die langfristigen europäischen
Interessen gestellt worden.
Bleiben wir kurz bei dem Problem des Finanzministers. Da steht immer noch die Umsatzsteuerbegünstigung der Deutschen Post durch den Finanzminister in
Höhe von mehr als 900 Millionen Euro im Raum. Das
Vorgehen mag legal gewesen sein; aber es ist nicht legitim. Wie soll der Wettbewerb und wie sollen Konkurrenten da eine Chance haben?
({12})
Das zeigt übrigens sehr deutlich, wie wichtig Privatisierung ist. Man muss das Unfugpotenzial reduzieren. Politischen Kräften wie Grün-Rot muss man die Instrumente, das Spielzeug, aus der Hand nehmen; damit wird
nur Unfug gemacht.
({13})
Leider weigert sich Herr Eichel bis zum heutigen Tage
auch, den notwendigen Nachtragshaushalt vorzulegen.
Dabei steht fest: Das ist die einzige Möglichkeit, die
Finanzierung aller 73 Transportflugzeuge A400M bis
Ende März 2002 zu sichern und seriös auf die wirtschaftliche Situation zu reagieren.
Dann zum Kapitel Metrorapid. Da haben wir ein dilettantisches Projektmanagement des Verkehrsministers erlebt. Mein Kollege Friedrich hat zu Recht gesagt, dass
Herr Bodewig bei dieser Leistung in jedem mittelständischen Unternehmen vor die Tür gesetzt worden wäre.
({14})
Zudem ist die Finanzierung völlig unklar. Die Gegner des
Transrapid, insbesondere in den Reihen des grünen Koalitionspartners, formieren sich. Hier ist die Gefahr, dass
wieder eine Zukunftstechnik abgewürgt wird.
Die Pannenbilanz lässt sich beliebig fortsetzen. So fallen einem beim Namen Riester nur Skandale ein: Vermittlungsskandal, EQUAL-Skandal, Entlassung im nahen
Umfeld des Ministers, 4,3 Millionen Arbeitslose, Senkung der Schwankungsreserve der Rentenversicherung
bei gleichzeitig steigendem Bundeszuschuss.
Hinzu kommt: Schlampig vorbereitete Vorlagen für
das Verfassungsgericht führen zu einer unerträglichen
Verletzung des Informationsrechts des Deutschen Bundestages und haben der NPD unnötig eine Bühne in
Deutschland verschafft.
({15})
Der Stillstand der Gesundheitspolitik führt zu explodierenden Beitragssätzen und steigenden Defiziten und
gefährdet Arbeitsplätze. Die Beschaffungsvorlagen für
die von der Bundeswehr dringend benötigten Transportflugzeuge wurden trotz Einmütigkeit in der Sache so
schlampig vorbereitet, dass zur Klärung nur der Gang
nach Karlsruhe geblieben ist.
So geht es weiter. Unsere Große Anfrage zur Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb wird
270 Tage lang nicht beantwortet. Der Bundestagspräsident muss das Ministerium ermahnen, eine Antwort zu
geben. Sie muten uns aber zu, 140 Änderungsanträge zum
Zuwanderungsentwurf in Stunden zu studieren, zu analysieren und zu entscheiden.
({16})
Was ist das für ein Verständnis vom Parlament? Wir
sind nicht das Notariat für Unfug der Regierung, sondern
die Vertreter des Volkes, das frei gewählte Parlament, das
es verdient, Respekt zu erfahren.
({17})
Motto dieser Regierung ist: Ich ignoriere das lästige
Parlament einfach und hülle mich in Schweigen. Gerhard
Schröder, sonst bei jedem PR-trächtigen Thema sofort im
gleißenden Scheinwerferlicht präsent, ist jetzt hinter einem dicken Vorhang des Schweigens. Kein Regierungsmitglied ist anwesend, kein Minister, kein Kanzler - völlig typisch! Wahrscheinlich sind sie Kaffee trinken,
Erdbeertorte essen oder so etwas.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Wir sind hier im Parlament.
Hier stellen wir Anträge. Der Respekt vor dem Parlament
würde es gebieten, dass die Bundesregierung zumindest
einen Minister oder einen Vertreter des Bundeskanzleramts herschickt. Die leere Regierungsbank steht für eine
leere Politik.
({0})
Ich schließe mit Folgendem, Frau Präsidentin: Nach
dem Grundgesetz hat der Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz. Die Richtlinienkompetenz bedeutet auch
eine Richtlinienverpflichtung.
({1})
Der Bundeskanzler hat die Pflicht, die Richtlinien seiner
Politik im Parlament darzulegen. Deshalb unsere Forderung nach einer Regierungserklärung. Es kann nicht so
sein: Wenn es unangenehm ist, taucht er weg, schickt eine
Ansichtskarte, isst Erdbeertorte, lässt die Vorhänge runter; wenn es schön ist, dann ist er vorn und dann kennt er
nicht die Ressortverantwortung.
({2})
Wenn es schwierig wird, sind die Minister zuständig und der
Kanzler verflüchtigt sich. Wir brauchen keinen Sonnenschein-Kanzler. Er muss sich der Verantwortung stellen.
({3})
Das gebietet der Respekt vor dem Parlament. Wir sind
nicht die Idioten der Nation, sondern haben Anspruch darauf, dass die Regierung das Parlament ernst nimmt.
({4})
Ich komme noch einmal zurück zu Tagesordnungspunkt 18 a und gebe das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimung über den Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes der Bundesregierung sowie
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen in der Ausschussfassung bekannt, Drucksachen
14/7987, 14/8046, 14/7387, 14/8395 und 14/8414: Abgegebene Stimmen 587. Mit Ja haben gestimmt 321, mit
Nein haben gestimmt 225, Enthaltungen 41.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 586;
davon
ja: 320
nein: 225
enthalten: 41
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({2})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Harald Friese
Anke Fuchs ({7})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({8})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({9})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({10})
Walter Hoffmann
({11})
Iris Hoffmann ({12})
Frank Hofmann ({13})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Volker Jung ({14})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({15})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({16})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({17})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({18})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({19})
Jutta Müller ({20})
Christian Müller ({21})
Andrea Nahles
Volker Neumann ({22})
Gerhard Neumann ({23})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Michael Roth ({24})
Birgit Roth ({25})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({26})
Ulla Schmidt ({27})
Silvia Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Wilhelm Schmidt ({30})
Dr. Frank Schmidt
({31})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({32})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Richard Schuhmann
({33})
Brigitte Schulte ({34})
Reinhard Schultz
({35})
Volkmar Schultz ({36})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Reinhold Strobl ({37})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Simone Violka
Ute Vogt ({38})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({39})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({40})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({41})
Dieter Wiefelspütz
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({42})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({43})
Waltraud Wolff
({44})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Dr. Heiner Geißler
Dr. Christian SchwarzSchilling
Dr. Rita Süssmuth
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({45})
Marieluise Beck ({46})
Volker Beck ({47})
Angelika Beer
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Amke Dietert-Scheuer
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({48})
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Kerstin Müller ({49})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Simone Probst
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({50})
Werner Schulz ({51})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Antje Vollmer
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({52})
Margareta Wolf ({53})
FDP
Dr. Helmut Haussmann
Fraktionslose Abgeordnete
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Hans-Dirk Bierling
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({54})
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Klaus Bühler ({55})
Hartmut Büttner
({56})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen
({57})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Dr. Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({58})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({59})
Axel E. Fischer
({60})
Klaus Francke
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({61})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Horst Günther ({62})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({63})
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Wilhelm
Schmidt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die schöne Botschaft in diesem Moment lautet
eigentlich: Das Zuwanderungsgesetz ist in diesem Haus
gegen die Interessen und gegen die Polemik auf der rechten Seite durchgebracht worden.
({0})
Daran schließt sich das an, was hier auf Antrag der FDP
gemäß der Tagesordnung zu behandeln ist und was übrigens
an diesem Freitagmittag den der CDU/CSU zustehenden
Debattenplatz eingenommen hat, das heißt also, was jedenVizepräsidentin Anke Fuchs
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({1})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Werner Kuhn
Dr. Karl A. Lamers
({2})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({3})
Eduard Lintner
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({4})
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({5})
Erwin Marschewski
({6})
Dr. Martin Mayer
({7})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({8})
Elmar Müller ({9})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({10})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({11})
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Heinz Schemken
Dr. Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({12})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({13})
Andreas Schmidt ({14})
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Gerhard Schulz
Diethard Schütze ({15})
Clemens Schwalbe
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Thomas Strobl ({16})
Michael Stübgen
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({17})
Gerald Weiß ({18})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({19})
Hans-Otto Wilhelm ({20})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Willy Wimmer ({21})
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
PDS
Monika Balt
Petra Bläss
Eva Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Rolf Kutzmutz
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Pia Maier
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Enthalten
FDP
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({22})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({23})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({24})
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
PDS
Wolfgang Bierstedt
Wolfgang Gehrcke
Dr. Bärbel Grygier
Gerhard Jüttemann
Dr. Christa Luft
Manfred Müller ({25})
Christine Ostrowski
falls platzmäßig die Unterstützung der großen Oppositionsfraktion findet. Gemessen an der Beteiligung hier im Plenum - oh Wunder - nimmt diese Debatte aber wahrlich
nicht diesen Platz ein: Hier treiben sich gerade einmal sieben Figuren herum, vom Fraktionsvorsitzenden, von Frau
Merkel und anderen ist überhaupt nichts zu sehen. Wir wollten die Debatte nicht; aber Sie haben sie erzwungen.
({26})
- Ich weise ja nur auf die Schwäche in Ihren eigenen Reihen hin. Da nützt auch das Zwischenrufen überhaupt
nichts.
({27})
Ich will gleichzeitig auf die Lächerlichkeit dieser Debatte hinweisen, die von der FDP verlangt wurde. Daran
wird deutlich, dass wir uns längst im Wahlkampf befinden. Das haben wir vorhin bei der Zuwanderung leider
schon feststellen müssen. Wir stellen das an dieser Stelle
bei diesem Tagesordnungspunkt mit noch größerer Deutlichkeit fest.
({28})
Im Übrigen - auch das möchte ich noch einmal sagen steht das eigentlich in diametralem Gegensatz zu dem, was
die Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer der Opposition dieses Hauses in den letzten Tagen gemacht haben.
Sie haben sich immer darüber beschwert, dass wir
Regierungserklärungen abgeben. Sie haben daran herumgemäkelt, dass wir Debatten mit Regierungserklärungen
von jeweils 20 Minuten des jeweiligen Regierungsmitgliedes festgelegt haben. Nun, da Sie auf einmal eine
Debatte haben wollen, wir sie aber ablehnen, sind Sie auch
nicht zufrieden. Irgendwo passt das alles nicht zusammen.
({29})
Wenn man dieses allerdings unter dem Aspekt Wahlkampf
betrachtet, passt es zusammen.
Ich will darauf hinweisen - das ist doch wohl völlig
klar -, dass die Abgabe einer Regierungserklärung im Ermessen und in der Entscheidungsgewalt einer Regierung
liegt. Nun wollen wir sie nicht - das ist völlig klar -, darum ist es auch in Ordnung, wenn auf der Regierungsbank
kein Vertreter der Bundesregierung anwesend ist,
({30})
weil damit auch zum Ausdruck kommt, was man dort von
diesem Antrag der FDP-Fraktion hält, nämlich überhaupt
nichts.
({31})
Ich will Ihnen im Übrigen auch sagen, dass Ihre Absicht,
die Sie mit diesem Antrag zum Ausdruck bringen, überhaupt nicht der Geschäftsordnung des Bundestages, der
Verfassung und anderen Bestimmungen entspricht. Bleiben
Sie also ganz ruhig! Übrigens haben Sie 1997 - ich will nur
einmal dieses eine Jahr herausgreifen - als damalige Regierungskoalition, als die PDS solche Anträge gestellt hat,
diese auch abgelehnt. Lange Rede, kurzer Sinn:
({32})
Damit werden Sie sich abfinden müssen. Es ist aber gut,
dass Sie es noch einmal zur Sprache gebracht haben, dann
können wir auf diese Weise die gleichen Entscheidungen
treffen und Ihr Begehren ablehnen.
Ich will darüber hinaus eines nicht verhehlen: Wir befinden uns nicht nur in Wahlkampfzeiten, sondern auch in
einer Zeit, in der Politik dramatisiert und skandalisiert
wird. Diese Feststellung beziehe ich auf uns alle, vor allen Dingen aber auch auf eine Gruppe dieser Gesellschaft,
nämlich die Journalisten und Medienvertreter, die ich
bitte, gut zu überlegen, was da erzeugt wird. Das sage ich
nicht einseitig aus Regierungssicht; auch die Opposition
hat ja monatelang unter solcher Dramatisierung und
Skandalisierung von Politik gelitten.
({33})
Wir sollten das Aufblasen und Hochziehen von unbedeutenden Themen, das meistens solchen überhaupt nicht angemessen ist, unter dem Aspekt des Verfalls politischer
Kultur zumindest einmal untereinander diskutieren. Das
sollten wir aber nicht hier tun. Ich finde, eine solche Diskussion sollte an anderer Stelle geführt werden. Meiner
Meinung nach sollten Sie aber, wenn Sie hier schon einen
solchen Antrag stellen, dieses Thema an dieser Stelle zumindest als Stichwort ansprechen und probIematisieren.
({34})
Wir als Regierungsfraktionen müssten, wenn Sie auf
diese Weise versuchen, das Haus zu strapazieren,
({35})
- warten Sie ab, Herr Heinrich; ich komme darauf noch zu
sprechen -, eigentlich den Antrag stellen, darüber zu diskutieren, ob es nicht sinnvoll wäre, als Gegenstück zur Regierungserklärung eine Oppositionserklärung zu verlangen.
({36})
Dann könnten wir Ihnen viel deutlicher, vielleicht in ähnlich unsinniger Weise, wie gerade vom Kollegen Brüderle
geschehen, vorhalten, welch dummes Zeug, welchen Unsinn Sie in den letzten Wochen und Monaten von sich gegeben haben, und könnten zeigen, dass Sie überhaupt
nicht in der Lage sind, Oppositionspolitik stringent durchzuführen.
({37})
Wilhelm Schmidt ({38})
Wo bleiben denn Ihre Gegenentwürfe? Wo bleibt denn
eine durchgehende und vor allen Dingen auch sinnvolle
Finanzpolitik in diesem Hause? Eine solche ist überhaupt
nicht erkennbar. Passt denn das, was die Opposition, insbesondere Herr Stoiber, von sich gibt, in ein Konzept? Es
ist nicht erkennbar, dass Sie überhaupt ein Konzept haben. Die Heuchelei, die Ihre Rederinnen und Redner vorhin bei der Debatte über Zuwanderung, bei einem so
wichtigen und dringend zu regelnden Thema, das Ernsthaftigkeit erfordert, an den Tag gelegt haben, ist ohne
Beispiel geblieben.
Das, was von Ihnen vorgesehen ist, hat aber offensichtlich noch nicht einmal großes Interesse bei allen
Oppositionsfraktionen geweckt. Sonst wären sicherlich
mehr und wichtigere Abgeordnete anwesend. Sie wollen
dadurch doch auch nur von Ihren eigenen Schwächen ablenken, die Sie zweifellos in vielen Bereichen haben.
({39})
Die feindliche Übernahme der CDU durch die CSU, die
in den Reihen Ihrer Oppositionspartei und -fraktion stattgefunden hat, spricht Bände. Von daher lassen wir das
nicht gelten.
({40})
Ich erkläre für die SPD-Bundestagsfraktion, dass das
ein unsinniger Antrag ist, der völlig an der Sache vorbeigeht. Solche Anträge hatten auch in den vergangenen Jahren, wenn Sie oder andere Bemühungen in diesem Bereich gezeigt haben, keine Substanz. Wir verlangen
deswegen sofortige Abstimmung, damit Ausschüsse später über einen solchen Unsinn nicht weiter beraten werden
müssen.
Vielen Dank.
({41})
Zur Geschäftsordnung hat der Kollege Koppelin das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Bundestagsfraktion
war ein einziges Beispiel für die Arroganz der Macht.
({0})
Herr Kollege Schmidt, es ist eine Zumutung, wenn Sie sagen, dass die Bundesregierung nicht da sei, um zu dokumentieren, was sie vom Antrag der FDP halte. Das ist respektlos gegenüber diesem Parlament. Genau das hat der
Kollege Brüderle gesagt.
({1})
Sie haben eben eine andere Auffassung dargestellt; das
müssen Sie auch. Aber im Stillen wissen Sie, dass die FDP
Recht hat. Dem, was Sie hier eben beantragt haben, nämlich die sofortige Abstimmung, kontern wir: Wir beantragen die Herbeirufung des Bundeskanzlers.
({2})
Das war ein Antrag
zur Geschäftsordnung. - Herr Grund, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Auch
meine Fraktion findet, dass dieses Haus etwas Besseres
verdient als das Gesülze des Abgeordneten Schmidt. Wir
schließen uns dem Antrag der FDP an.
({0})
Herr Kollege
Schmidt, bitte.
Meine Rede
war kein Gesülze. Aber das müssen Sie und vor allen Dingen die Präsidentin bewerten. Ich finde, dass Sie völlig
übertreiben, wenn Sie an dieser Stelle und zu dieser
Stunde den Bundeskanzler herbeizitieren wollen. Das ist
schon deswegen nicht angemessen, weil in Ihren eigenen
Reihen die Spitzenkräfte nicht anwesend sind. Sie nehmen Ihren Antrag offensichtlich selber nicht ganz ernst.
Das ist eine völlig unangemessene Forderung. Wir werden diesen Antrag ablehnen. Aber ich bitte, die Sitzung
des Bundestages zu unterbrechen, damit wir das klären
können.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Lemke für Bündnis 90/Die Grünen.
An die
Kollegen von der FDP gewandt möchte ich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erklären, dass das,
was Sie hier am Freitagnachmittag im Parlament abliefern, ein Schauspiel ist, das mit den parlamentarischen
Gepflogenheiten überhaupt nichts zu tun hat. Herr Kollege, Sie wissen, dass Vertreter der Bundesregierung auf
der Regierungsbank anwesend waren und die Debatte von
dort verfolgt haben.
({0})
- Nein, Herr Koppelin, es ist kein Skandal, dass die Regierungsvertreter angesichts dessen, was Sie hier abgeliefert haben, die Regierungsbank verlassen haben. Sie instrumentalisieren das Parlament zum wiederholten Male
für den Wahlkampf. Sie haben einen Antrag eingereicht,
zu dem Sie vonseiten der Koalitionsfraktionen signalisiert
bekommen haben, dass wir dem so, wie es im Parlament
normalerweise im Zusammenhang mit Regierungserklärungen gehandhabt wird, nicht nachkommen wollen,
dass wir diesem Verfahren nicht zustimmen wollen. Dass
Sie dann, nachdem von unserer Seite klar war, wie mit
Wilhelm Schmidt ({1})
diesem Antrag verfahren wird, am Freitagnachmittag ein
solches Verfahren in Gang setzen, obwohl mehrere Regierungsvertreter den Beginn der Debatte auf der Regierungsbank verfolgt haben,
({2})
finde ich unparlamentarisch und ich werfe Ihnen vor, dass
Sie das Ganze für den Wahlkampf instrumentalisieren.
({3})
Ich lasse nun über den
Antrag abstimmen. Wer dem Antrag auf Herbeirufung des
Bundeskanzlers zustimmen möchte, den bitte ich um das
Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Das Präsidium ist sich
einig, dass Letzteres die Mehrheit war. Wenn Sie das anzweifeln, gibt es einen Hammelsprung. Aus der einhelligen Sicht des Präsidiums ist der Antrag abgelehnt.
Wir fahren in der Beratung fort. Das Wort hat der Kollege Peter Rauen.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Schmidt, ich empfand es eben als eine Unverschämtheit,
wie Sie den Antrag der FDP vor dem Hintergrund der geringen Anwesenheit meiner Fraktion qualifizieren wollten. Wir stehen hinter diesem Antrag.
({0})
Herr Schmidt, Sie können mit den Kolleginnen und
Kollegen hier nicht so umgehen. Sie wissen, dass die vorherige Debatte zwei Stunden länger gedauert hat und dass
viele ihre Heimfahrt planen. Sie verteidigen die Regierung, die überhaupt nicht vertreten ist, wollen aber uns einen Vorwurf machen, weil wir zahlenmäßig nicht so vertreten sind, wie wir inhaltlich hinter dem Antrag stehen.
Es verwundert, dass die Regierungsbank fast gänzlich
leer ist, und zwar seit Beginn der Debatte. Denn im Kern
stellt der FDP-Antrag die Frage, wie diese Regierung mit
dem Parlament und den Rechten des Parlaments umgeht.
Herr Schmidt, Sie sollten nicht so leicht darüber hinweggehen, denn das ist doch die Wahrheit: Verteidigungsminister Scharping kauft Flugzeuge, für die das Parlament
keine Mittel zur Verfügung gestellt hat. Ähnlich verfährt
Verkehrsminister Bodewig. Er sagt Mittel für den Transrapid zu, ohne dass diese qualifiziert in den Haushalt eingestellt werden. Wir können hier im Parlament nicht einmal unter verkehrspolitischen Gesichtspunkten darüber
diskutieren, ob sich der Transrapid, der mal als Alternative zum Flugzeug gedacht war, als Flughafenzubringer
überhaupt eignet und in Konkurrenz zur Straßenbahn treten sollte.
({1})
Herr Kollege Rauen,
einen Augenblick bitte. - Kolleginnen und Kollegen, der
eine Antrag ist erledigt. Ich bitte Sie, sich jetzt hinzusetzen und zuzuhören. Der Kollege Rauen hat einen Anspruch darauf.
({0})
Wir sollten hier eine vernünftige parlamentarische
Debatte führen. Deswegen bitte ich auch die linke Ecke:
Entweder ihr setzt euch hin oder ihr verlasst das Plenum. - Herr Rauen.
Ich habe noch einige weitere Punkte, die zeigen, warum die FDP mit ihrem Antrag
Recht hat und warum wir ihn unterstützen. Gesundheitsministerin Schmidt lässt sich ein notwendiges Gesetz vom
Pharmaverband abkaufen
({0})
und verzichtet auf das Gesetz, ein Vorgang, den selbst eine
Verfassungsrichterin jüngst öffentlich als schweren Anschlag auf die staatliche Ordnung bewertet hat.
({1})
Arbeitsminister Riester verteilt EG-Arbeitsmarktmittel nach Gutsherrenart und hat es zu verantworten, dass
durch falsche Statistiken bei der Bundesanstalt für Arbeit
das Vertrauen der Menschen in wichtige Institutionen erschüttert wird. Finanzminister Eichel macht der Post AG
ein milliardenschweres Mehrwertsteuergeschenk. In
Brüssel macht er Zusagen - diese können nach seriösen
Einschätzungen überhaupt nicht eingehalten werden -,
nur um sich die Blamage eines blauen Briefes zu ersparen.
({2})
Während wir über dieses Thema diskutieren, ist keiner
der angesprochenen Minister anwesend. Wozu brauchen
sie eigentlich das Parlament?
({3})
Vielleicht wird die Zeit genutzt, um mit irgendwelchen Interessenverbänden und Lobbyisten neue Deals auszuhandeln, von denen wir Parlamentarier erst aus der Presse erfahren können.
({4})
Viel schlimmer ist aber, dass der Bundeskanzler bei
dieser Debatte nicht anwesend ist, obwohl der Inhalt dieses Antrages schon sehr lange bekannt ist. Er hat nach unserer Verfassung die Richtlinienkompetenz für die Politik
und muss das Handeln seiner Minister verantworten.
Diese Pleiten- und Pannenserie, verbunden mit der Missachtung des Parlaments, ist letztlich die Politik Schröders.
In meiner Heimat gibt es dazu einen treffenden Spruch:
Der Fisch stinkt vom Kopf.
({5})
Die Politik Schröders - eine Politik der Beliebigkeit, der
runden Tische, der Moderation von Interessen anstelle einer Politik der Durchsetzung von politischen Grundüberzeugungen - ist gescheitert. Wenn er schon keine Erklärung durch seine Minister, was eine Missachtung des
Parlaments ist, abgeben will, dann sollte er den Menschen
in Deutschland wenigstens seine Vorstellungen darüber
mitteilen, wie es in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt weitergehen soll.
Wir befinden uns in einer tiefen Rezession. Viele
fleißige Menschen haben ihre Arbeit verloren. Mittelständische Betriebe wissen in zunehmendem Maße nicht
mehr, wie es weitergehen soll. Die Politik der ruhigen
Hand von Schröder
({6})
erweist sich zunehmend als eine Politik der Ratlosigkeit.
({7})
Wenn man richtige Antworten geben will, muss man zuvor treffend analysieren.
Ich komme zurück auf das, was gestern hier in der Debatte über die Arbeitsmarktpolitik eine Rolle gespielt hat.
Der Parlamentarische Staatssekretär Andres und viele andere Redner haben uns glauben machen wollen, dass es einen Aufwuchs der Beschäftigung in Deutschland gegeben habe. Das ist nachweisbar nicht der Fall.
({8})
Zum Verständnis für alle muss ich eines klarstellen: Wenn
2 Millionen zusätzliche Teilzeitarbeitsplätze geschaffen
werden, dafür aber 1 Million Vollzeitarbeitsplätze verloren gehen, dann gibt es zwar 1 Million Beschäftigte mehr;
aber mehr gearbeitet wird in Deutschland deshalb nicht.
({9})
Es wird immer von einem Beschäftigungsaufwuchs geredet, obwohl es in Wahrheit im letzten Jahr in Deutschland
einen massiven Rückgang der Beschäftigung gegeben
hat.
({10})
Ich muss Ihnen schon vorhalten, was Ihnen im Auftrag
der Regierung und auf Kosten des Steuerzahlers der Sachverständigenrat bereits im November 2000 ins Stammbuch geschrieben hat. Es wird zwar von einem Aufwuchs
an Beschäftigung gesprochen. Aber weiter heißt es im
Jahresgutachten des Sachverständigenrates:
Diesem Beschäftigungsanstieg in Personen steht allerdings kein entsprechender Anstieg in Erwerbstätigenstunden gegenüber: Im Jahre 2000 unterschied
sich das gesamtwirtschaftlich geleistete Arbeitsvolumen nicht wesentlich von dem des Vorjahres. Die
Diskrepanz zwischen dem Beschäftigungsanstieg in
Personen und demjenigen in Erwerbstätigenstunden
war im Wesentlichen auf die Zunahme im Segment
der geringfügigen Beschäftigen zurückzuführen, für
die seit Einführung der Meldepflicht eine bessere statistische Erfassung möglich ist.
({11})
Ein Jahr später, vor wenigen Monaten, hat der Sachverständigenrat - ein Gremium führender hervorragender
Wissenschaftler, die von der Regierung bestellt und bezahlt werden - noch einmal festgestellt:
Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen, das die
unterschiedlichen Wochenarbeitszeiten der Beschäftigten berücksichtigt und somit ein genaueres Bild
vom Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit zu zeichnen vermag als die Anzahl der Erwerbstätigen, ist um
1,0 v. H. gesunken und verdeutlicht damit die gegenüber dem Vorjahr schlechtere Entwicklung am
Arbeitsmarkt.
({12})
Die Wahrheit ist: In Deutschland wurde im Jahre 2001
weniger gearbeitet als 1998. Aufgrund des Rückgangs der
Erwerbsstunden hatten wir im letzten Jahr 600 Millionen
Arbeitsstunden weniger.
Damit es alle ökonomisch und im Hinblick auf die sozialen Sicherungssysteme auch verstehen: Wenn man bei
einem normalen Facharbeiter zu seinem Stundenlohn von
27 DM den Arbeitgeberanteil für die Sozialversicherung,
den Beitrag an die Berufsgenossenschaft und darauf insgesamt die Mehrwertsteuer von 16 Prozent hinzurechnet,
dann kommt man zu dem Ergebnis, dass eine solche fehlende Arbeitsstunde rund 40 DM kostet. Wenn 600 Millionen Stunden fehlen, dann entspricht das einem nicht
mehr vorhandenen Wirtschaftspotenzial von 24 Milliarden DM. Dass die Beitragseingänge wegbrechen, ist der
Grund dafür, dass die Haushalte der sozialen Sicherungssysteme in große Probleme geraten und die Krankenkassen ihre Beiträge erhöhen müssen.
({13})
Eigentlich müsste ein Nachtragshaushalt eingebracht
werden. Denn in den Eckdaten des Haushaltes 2002 war
ein Wachstum von 1,25 Prozent vorgesehen. Herr
Metzger, Sie wissen es ganz genau: Minister Eichel hat in
seiner Rede zum Jahreswirtschaftsbericht von nur noch
0,7 Prozent gesprochen. Die Zahl von 3 850 000 Arbeitslosen war ein Eckpunkt im Haushalt 2002. Wir werden im
Durchschnitt des Jahres 2002 rund 300 000 mehr haben.
Wir haben also gewaltige Haushaltsrisiken.
Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen - er treibt
mich besonders um -: Minister Eichel hat in der letzten
Woche bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht verkündet, dass der Aufschwung bevorsteht. Er hat den Geschäftsklimaindex genannt. Das sind subjektive Erwartungen. Die Realität in der deutschen Wirtschaft sieht
völlig anders aus. Wir befinden uns in der tiefsten Rezession, die man sich nur vorstellen kann.
Dann höre ich immer wieder - auch vom Kanzler
selbst; schade, dass er nicht anwesend ist -, man warte auf
den Aufschwung in Amerika. Ich muss sagen: Es ist ein
Anachronismus, wenn ein deutscher Kanzler den Aufschwung in Amerika herbeisehnt, damit wir in Deutschland mehr Wachstum haben.
({14})
- Herr Schmidt, Sie sollten lieber zuhören. Sie verstehen
von der Wirtschaft viel zu wenig, um hier Zurufe zu machen.
({15})
Ich habe 35 Jahre meines Lebens Steuern gezahlt und über
100 Menschen Arbeit gegeben. Davon können Sie nur
träumen.
({16})
Mich hier zu verbessern ist eine Frechheit - um es einmal
sehr deutlich zu sagen. So geht es einfach nicht.
({17})
- Sie sollten sich das hier in aller Deutlichkeit anhören,
nachdem Sie wieder Ruhe gewonnen haben.
Der Export ist nicht unser Problem. Das Wachstum der
letzten Jahre wurde ausschließlich durch den Export getragen. Wir hatten im letzten Jahr, bezogen auf den außenwirtschaftlichen Anteil, noch ein Wachstum von 1,6 Prozent zu verzeichnen. Aber auf dem Binnenmarkt haben
wir bereits seit Anfang des Jahres 2001 eine tiefe Rezession.
({18})
Wenn die Weltwirtschaft wirklich anspringt, dann hat
zunächst der Export etwas davon, aber noch lange nicht
die Binnenkonjunktur.
({19})
Im Hinblick auf die Arbeitnehmer, die hier in Deutschland nicht über die Grenzen hinweg operieren können und
aufgrund unseres Steuer- und Sozialrechts immer weniger
von ihrem Lohn in der Tasche behalten, ist nicht im Ansatz zu sehen, dass sich etwas ändern könnte.
({20})
Ich sage Ihnen abschließend: Einer der größten Fehler
der Regierung Schröder war, dass sie geglaubt hat, unsere
Maßnahmen der Deregulierung des Arbeitsmarktes
zurücknehmen und den Arbeitsmarkt mit neuen Regulierungen weiter zementieren zu müssen,
({21})
und zwar mit neuen Regelungen hinsichtlich der
630-Mark-Jobs und der Scheinselbstständigkeit, mit dem
Recht auf Teilzeitarbeit und mit einem Betriebsverfassungsrecht, das lediglich die Macht der Gewerkschaften stärkt, aber die Betriebe weiter ruiniert. Mit diesen Unwahrheiten, die Sie selbst verbreiten wollen, und
auch mit der ewigen Erblastdiskussion erreichen Sie auf
dem Arbeitsmarkt nichts.
Ich sage noch einmal: In Deutschland wurde 2001 weniger gearbeitet als 1998.
({22})
Das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik.
({23})
Ich erteile
dem Kollegen Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich leide körperlich an solchen Debatten, bei denen die Substanz fehlt.
Herr Rauen, was Sie gerade im Hinblick auf wirtschaftliche Zusammenhänge gesagt haben, ist eines Unternehmers unwürdig.
Was passiert denn, wenn der Export anzieht? Wer arbeitet denn in Deutschland im Export? Wir sind die zweitgrößte Exportnation auf dem Globus.
({0})
Wir wissen seit gestern, dass die US-Volkswirtschaft im
vierten Quartal des letzten Jahres Gott sei Dank um sage
und schreibe 1,4 Prozent gestiegen ist. Damit war die
Wirtschaft in den USA nur ein Quartal lang in der Rezession. Wenn Sie wissen, dass 1 Prozent Wachstum in den
USA automatisch 0,4 Prozent Wachstum in Deutschland
bedeutet, dann sehen Sie, dass wir im Prinzip bereits jetzt
den Turn-around erleben.
({1})
- Regen Sie sich nicht so auf. Ihre Unkenrufe werden bereits in vier bis sechs Wochen in der Öffentlichkeit nicht
mehr verfangen, weil man sieht, dass sich in Deutschland
die konjunkturelle Situation im Zuge der weltwirtschaftlichen Erholung in der Tat verbessert.
({2})
Diese Regierung macht dadurch eine flankierende Politik, dass wir beispielsweise finanzpolitisch auf der sicheren Seite bleiben und all Ihren Konjunktur- und Steuersenkungsfantasien eine Absage erteilt haben. Wir
konnten den Bürgerinnen und Bürgern glaubwürdig vermitteln: Ein Staat, der seine Ausgabenprogramme durch
Kredite finanziert, greift den Bürgerinnen und Bürgern
über kurz oder lang in die Tasche, weil die Zinsen und
Zinseszinsen für die Schulden des Staates über Steuern
und Abgaben gezahlt werden. Keine Frage: Diese Solidität ist eine positive Flankierung der wirtschaftlichen
Erwartungshaltung.
Beide Regierungsfraktionen wissen natürlich, dass wir
der Reformmotor in dieser Legislaturperiode sind. Ein
Reformprojekt haben wir heute vor einer guten Stunde gegen den Widerstand der Union und gegen eine
unentschlossene FDP verabschiedet, die meint, sich sozusagen als taktisches Lämpchen für ein mögliches Vermittlungsverfahren anhängen zu können, obwohl sie immer
für Zuwanderung war und dies auch herausgestellt hat.
Wir glauben, dass die Reformagenda weiterbesteht.
Eine Schlagzahl werden wir nächste Woche, am 6. März,
aus Karlsruhe bekommen. Dann wird das Urteil zur Rentenbesteuerung bzw. der Gleichbehandlung mit den Pensionen gesprochen. Dabei wird sofort klar, dass die Steuerfreistellung von Altersvorsorgeleistungen durch die
nachgelagerte Besteuerung ein weiteres Thema auf der
aktuellen Reformagenda der nächsten zwei bis drei Jahre
sein wird. Genauso herrscht Einigkeit darüber, dass wir
bei den sozialen Transferleistungen mit unserem Vorhaben der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine höhere Zielgenauigkeit erreichen werden.
({3})
Zu dem Punkt haben sich der Kanzler und die Koalitionsfraktionen in gleicher Weise positioniert.
Wir werden bis Ende März eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzverfassung einrichten, die dafür
Sorge trägt, dass die Gemeinden und Landkreise in
Deutschland im Geleitzug dieser Reform nicht zum Zahlmeister der Entlastung werden, wenn die Arbeitslosenhilfe nicht mehr aus dem Bundeshaushalt, sondern von
den Kommunen gezahlt wird.
({4})
Wir haben sehr wohl eine Reformagenda und wissen,
wie die Dinge zusammenhängen. Sie sind oft viel komplexer, als ein Brüderle oder Rauen hier weismachen wollen. Aber die Wählerinnen und Wähler können weiß Gott
differenzierter denken, als die unterirdische Diskussion in
diesem Parlament, vor allem zu so vorgerückter Stunde
am Freitagnachmittag, aufzeigt.
({5})
Kollege Brüderle, Sie haben den Airbus A400M angesprochen. Ich sage Ihnen, wie das Verfahren läuft - das ist
aber bekannt -: Dieses Parlament hat in einer Debatte in
Anwesenheit des zuständigen Ministers eine politische
Willenserklärung abgegeben, aus der klar ersichtlich war,
dass die Regierungsfraktionen die Haushalts- und
Budgetrechte dieses Parlaments achten. An genau dieses
Verfahren werden wir uns halten.
({6})
Wir haben am 13. März im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die erste Befassung mit der Beschaffungsvorlage. Wenn ich richtig informiert bin, geht die
Beschaffungsvorlage über das Finanzministerium gerade
den Berichterstattern aller Fraktionen zu.
Sie haben den Transrapid bzw. den Metrorapid, wie er
in Nordrhein-Westfalen genannt wird, angesprochen. Wir
werden deutlich machen, dass die Zusagen der Bundesregierung im Entwurf des Haushaltsgesetzes 2003 der
Bundesregierung stehen, weil das Parlament dieses Jahr
keine Mittel für dieses Projekt zur Verfügung gestellt hat.
Kollege Brüderle, man muss bei dieser Geschichte aufpassen. Die Technologie des Transrapid wird von den
meisten von uns Grünen nicht infrage gestellt.
({7})
- Keine Sorge, das ist in Nordrhein-Westfalen ein Landesprojekt. Genauso wie in Bayern müsste die Landesregierung zunächst einmal die eigene Finanzierung darstellen, bevor sie mit dem Projekt beginnt. Auf jeden Fall
weiß jede Landesregierung: Rechtsverbindliche Verpflichtungen mit der Unterstützung des Bundes können
nur dann eingegangen werden, wenn im Haushaltsgesetz
des Jahres 2003 der dann gewählte 15. Deutsche Bundestag entsprechende Mittel einstellt.
So sieht die Rechtslage aus. Das ist keine Frage.
({8})
Herr Clement und Herr Stoiber müssen sich entscheiden,
ob sie die entsprechenden landesrechtlichen Voraussetzungen erfüllen können und ob sie die Projekte bereits in
diesem Jahr starten wollen.
({9})
- Herr Kollege Hinsken, so einfach ist die Rechtslage.
Ich komme zum Thema Steuerpolitik. Die Aussage
des Kollegen Schmidt hat mir gut gefallen. Er sagte, man
müsse sich ob der Vielstimmigkeit des Oppositionschores
einmal entscheiden und in einer Oppositionserklärung sagen, was gelte. Gilt das, was Brüderle sagt? Er sagt nämlich, er wolle Steuerschecks ans Volk geben. Er will also
kreditfinanzierte Steuernachlässe vergeben. Weiterhin will
er, sollte die Telekomaktie weiterhin einen Kursverlust erleiden, den Aktionären diesen Kursverlust aus Staatsmitteln ausgleichen. Was ist das für ein Verständnis von
Marktwirtschaft? Oder gilt bei der CDU/CSU das, was
Herr Stoiber sagt? Er sagt nämlich, dass die Schwankungsreserve noch 6 oder 7 Milliarden Euro beträgt, bevor
die 3-Prozent-Hürde erreicht wird. Gleichzeitig laufen
Merz, Merkel und andere gegen die gefährliche Nähe zum
3-Prozent-Kriterium Amok. Was gilt denn bitte schön?
({10})
Es kann hier doch keine Beliebigkeitspolitik von der Opposition betrieben werden.
({11})
Das Ganze packen Sie in einen Sammelsuriumantrag,
wobei Sie so tun, als habe die Regierung über all diese
Punkte in Aktuellen Stunden und in großen Debatten, wie
zum Jahreswirtschaftsbericht, mit Ihnen nicht ausführlich
diskutiert. Dies geschah hier im Parlament, wobei eine
hohe Präsenz der zuständigen Ministerinnen und Minister
sowie gelegentlich auch des Kanzlers gegeben war. Das
ist ein Schauantrag. Es handelt sich um Wahlkampf und
um nichts anders.
Herr Kollege Metzger, Sie können Ihre eigentlich abgelaufene Redezeit noch ein wenig verlängern, indem Sie eine Frage
beantworten.
Das tue ich.
({0})
Herr Kollege Metzger, sind
Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass das, was Sie sagen, falsch ist?
Erstens. Ich habe nie vorgeschlagen, die Telekomaktionäre zu entschädigen. Ich habe nur gesagt, dass man
den Kleinaktionären, wenn sie bei erneuten Privatisierungsschritten zeichnen, einen Wiederanlagerabatt - in
der Form, in der man Mitarbeiterrabatte einräumt - als
Treueprämie gewähren sollte. Dies ist für Frühzeichner
bei der Telekom ohnehin der Fall gewesen.
({0})
- Herr Schmidt, wenn Sie zuhören, können Sie mein Argument verstehen. Das würde die Sache leichter machen.
Aufgrund Ihres Dazwischenquiekens können Sie das
nicht mitbekommen. Das ist schade.
({1})
Also: Mein Vorschlag war, dass man den Kleinaktionären, die durchhalten, bei einer weiteren Zeichnung
- ähnlich dem Frühzeichner- bzw. Mitarbeiterrabatt - einen Rabatt einräumt. Ich habe nie vorgeschlagen - wenn
Sie etwas anderes behaupten, bitte ich Sie, das zu belegen -,
dass man die Aktionäre für Kursverluste, die sie mit der
Telekomaktie erlitten haben, entschädigen sollte. Das ist
absurd.
Zweitens. Ich habe auch nie vorgeschlagen, Steuergeschenke zu verteilen. Die Steuerschecks, die in Amerika
mit Erfolg verteilt wurden
({2})
- hören Sie doch einmal zu, dann verstehen Sie es auch
besser -, waren eines der Instrumente, die dazu beigetragen haben, dass die Amerikaner möglicherweise nur eine
sehr kurze Rezession gehabt haben. Sie selbst haben vorhin die neuesten Daten genannt.
({3})
Herr Kollege Brüderle, kommen Sie bitte zu Ihrer Frage.
Ich frage, ob Sie bereit sind,
dem zuzustimmen. Das, was Sie gesagt haben, ist die Unwahrheit; denn ich habe es nicht gesagt. Man darf die
Dinge hier doch wohl noch richtig stellen, auch wenn Sie
dadurch, dass ich eine Frage stelle, später nach Hause
kommen.
Ich habe also nie vorgeschlagen, Steuern zu schenken.
Es ging nur darum, steuerliche Entlastungen im Voraus
vorzunehmen, wie es in Amerika höchst erfolgreich betrieben wurde.
({0})
Ich
antworte jetzt ernsthaft, obwohl man auch sehr polemisch
darauf reagieren könnte.
Ich komme zu Ihrem letzten Punkt. Sie haben Steuersenkungen durch Schecks vorgeschlagen, sodass die
Menschen das Geld sofort bar in der Tasche gehabt hätten. Sie und Ihre Partei, die 29 Jahre mitregiert hat, hätten
wie die Amerikaner dafür sorgen müssen, dass Haushaltsüberschüsse bestehen, sodass eine wirklich großzügige Steuerreform hätte durchgeführt werden können.
({0})
Man sollte nicht den Eindruck erwecken, dass ein Staat,
der unter dem Strich am Pranger - auch dem der FDP steht, wenn es um den fast zugesandten blauen Brief geht,
etwas zu verschenken hat. Sie müssen sich entscheiden,
was Sie wollen.
Aus meiner Sicht war das eine Beliebigkeitsgeschichte. Sie haben der Bevölkerung das Blaue vom HimOswald Metzger
mel versprochen und den Eindruck erweckt, als ob Manna
vom Himmel regnet, obwohl jeder weiß, dass Bund, Länder und Gemeinden - auch solche Länder und Gemeinden, in denen Sie mitregieren - nach wie vor Kredite aufnehmen müssen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Dort den
Leuten vorzugaukeln, man könne ihnen Geld schenken,
ist absurd. Wir haben die Steuern in drei Stufen - im Gesetzblatt können Sie das nachlesen - seriös gesenkt und
gleichzeitig die Neuverschuldung reduziert. Das ist eine
solide Politik.
({1})
Das geht zwar langsamer, aber wir müssen auch noch
Aufräumarbeiten aufgrund der jahrzehntelangen Regierungsbeteiligung der FDP durchführen. Diese hat ständig
niedrige Steuern versprochen und gleichzeitig die Steuersätze - egal, mit welchem Partner - hoch gehalten.
Zweite Bemerkung. Herr Brüderle, ich habe die Quelle
nicht mehr greifbar. Ich habe im letzten Herbst eine „Bild
am Sonntag“
({2})
gelesen. Es kann sein, dass Sie falsch zitiert wurden. Auf
jeden Fall war für das Volk deutlich sichtbar zu lesen:
Brüderle will Entschädigung für Aktionäre wegen Kursverlusten. Das wäre marktwirtschaftlicher Nonsens. Darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Wenn das
nicht so ist, dann nehme ich es zur Kenntnis und werde es
nicht mehr verwenden, Herr Brüderle. So bin ich.
Vielen Dank.
({3})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Dietmar
Bartsch.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! „Bild am Sonntag“, die seriöseste
Quelle, Herr Metzger.
Ich will, Herr Schmidt und Herr Metzger, einen Satz
zur Zuwanderung sagen. Sie feiern, dass der Gesetzentwurf heute verabschiedet worden ist. Das hat mich nicht
sehr überrascht. Die Probleme sind aber noch da und das
liegt auch daran, dass Sie mit dem Gesetzentwurf so spät
in den Bundestag gekommen sind.
({0})
In einem Wahljahr ist das äußerst kompliziert. Nur dieser
Satz dazu.
Als ich von dem Antrag hörte, dachte ich zunächst,
dass die FDP - insbesondere Herr Westerwelle - sauer ist,
dass er noch nicht alleine bei Illner oder Christiansen war,
und sie deshalb einen solchen Antrag stellt. Ich habe gedacht, wenn jemand 18 Prozent haben will und dann zwei
Drittel abzieht, wird es einigermaßen stimmen. Ich habe
immer noch das Gefühl, dass es sich um einen Wahlkampfantrag handelt.
({1})
- Das wollen wir mal sehen. Warten Sie den September
ab! - Ich habe immer noch das Gefühl, dass es sich um
Wahlkampfreden handelt, obwohl Regierungshandeln gefragt ist.
Das Problem ist, obwohl der FDP-Antrag ein Stück
weit scheinheilig ist: Herr Brüderle hat mit dem, was er
hier gesagt hat, Recht. Wenn man sich alle zwölf Punkte
einzeln ansieht, wird man feststellen, dass überall Fragen
offen geblieben sind. Das Herbeirufen der Regierung wird
uns nicht sonderlich helfen. Da hätte ich eher Sorgen.
({2})
- Ich glaube, über die Ablösung der Regierung diskutieren wir jetzt nicht. Wir haben dafür noch Monate Zeit.
Allerdings haben Sie, Herr Brüderle, ein Privileg: Sie
haben in Ihrem Antrag gesagt, Sie hätten eine Linie erkannt. Das ist genau das, was ich in dem Regierungshandeln nicht erkennen kann. Das kann ich aber vielleicht bei
Ihnen noch lernen. Ich komme gerne darauf zurück. Sie
wissen, dass die Regierung jetzt Erdbeertorte essen ist.
Ich weiß das leider nicht. Wir müssen einmal schauen,
woher Sie diese Information haben.
({3})
Richtig ist: Sie können jedes einzelne Thema - Transportflugzeug, blauer Brief, V-Mann-Skandal - nehmen
- es sind nicht wir, sondern die Medien - die Ihnen im
Übrigen nahe stehen -, die von Chaostruppe sprechen. Es
sagt alles, wenn aus der Regierungsmannschaft des Kanzlers der Umweltminister, der den Atomausstieg in 32 Jahren bewerkstelligen will, der Vorzeigeminister geworden
ist. Das ist wirklich ein Problem.
({4})
- Für die Regierung ist es ein Problem.
Das, was in der Bundesanstalt für Arbeit gelaufen ist,
ist inakzeptabel. Ich glaube, das ist nur ein Mosaiksteinchen. Das Hauptproblem ist: Die Arbeitslosigkeit - hier
wurde heftig über Konjunktur geredet - steigt im Kern
seit 25 Jahren. Konjunktur kommt und geht auch wieder;
man kann das bei Marx oder - wem das nicht passt Adam Smith nachlesen. Es sind strukturelle Probleme.
Die Lösung dieser Probleme ist auch nicht angegangen
worden. Sie haben weitergemacht wie bisher. Hier ist einer der Punkte, wo Sie handeln müssen.
Ich will kurz zu dem Thema, das Kofi Annan gestern
angesprochen hat, sprechen - auch die FDP spricht das in
ihrem 11. Punkt an -: dass die Folgen des 11. September
nicht nur militärisches Handeln - das wir, wie Sie wissen,
ablehnen - sondern andere Dinge beinhalten. Schauen Sie
sich den Haushalt von Frau Wieczorek-Zeul an! Der geht
immer weiter runter. Da liegen Reden und Handeln offensichtlich weit auseinander. Das ist doch ein ernsthaftes
Problem.
({5})
Frau Wieczorek-Zeul fordert dann die Einführung der Tobinsteuer. Wir hatten das neulich im Parlament; Sie haben
das abgelehnt. Es ist keine Linie zu erkennen.
Ich will in Bezug auf die Linie einen letzten Punkt nennen: Die Chefsache Ost ist zur Nebensache verkommen.
Ich könnte viele Zahlen nennen. Die Arbeitslosigkeit ist
so hoch wie noch nie. 72 Prozent der Ostdeutschen zwischen 16 und 29 sehen ihre Chancen im Westen besser als
im Osten. Im Osten leben ein Fünftel der Menschen, aber
ein Drittel der Arbeitslosen. Die 100 größten deutschen
Unternehmen haben ihren Sitz im Westen und die 100
größten im Osten haben noch nicht einmal halb so viel
Jahresumsatz wie VW. Wenn es denn zu Entscheidungen
wie zu der über den A3XX kommt, engagiert sich der
Bundeskanzler für den Westen. Das alles sind Probleme.
Sie dürfen Ostdeutschland eben nicht wie die Afrikaforscher behandeln, die Glasperlen verteilen, sondern Sie
müssen die Lösung der Probleme anpacken. Genauso ist
das, wenn man mit der Plastiktüte auf dem Kopf durch
Ostdeutschland läuft und Schokoladenessen für Deutschland macht. Das alles wird nichts bringen. Das ist ein
Ignorieren der Probleme.
Es wird auch nichts helfen, wenn wir die Regierung
noch einmal befragen, weil die Konzeptlosigkeit das Problem ist. Gerade für den Osten wird es notwendig sein,
nicht nur in Fußgängerzonen zu stehen und zu lächeln.
Vielmehr muss sich die Politik ändern - und das um der
Demokratie und der Menschen im Osten willen.
Danke schön.
({6})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Joachim Poß.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Koppelin, wenn Sie solche Anträge stellen, müssen Sie damit rechnen, dass man mehr oder weniger ernst dazu Stellung nimmt. Was mein Kollege
Schmidt zur Unernsthaftigkeit gesagt hat, ist zutreffend.
Mit diesem wirren Antrag, der ein Sammelsurium von
Unterstellungen und Halbwahrheiten ist, kann man politische Themen nicht behandeln.
({0})
Man kann in der Beurteilung einzelner Vorgänge sehr
wohl unterschiedlicher Meinung sein, nur tun wir uns als
Parlament insgesamt keinen Gefallen, wenn wir auf der
Grundlage solch unqualifizierter Anträge eine Debatte
führen.
({1})
Das ist doch der Punkt, um den es hier geht. Eine solche
Debatte fördert eher den Politikverdruss. Deshalb werde
ich auch nur auf einige Aspekte eingehen.
Eigentlich habe ich erwartet, dass das Kompetenzpaket
Rauen - er hat ja große Kompetenzen für sich in Anspruch
genommen - noch da ist; denn ich kann ihm nicht durchlassen, dass er dem Bundeskanzler etwas unterstellt, was
er nicht belegen kann. Wo hat der Bundeskanzler erklärt,
dass seine Politik darin besteht, auf den Aufschwung in
den USA zu warten? Eine solche Aussage wird er nicht
belegen können. Der Bundeskanzler hat im Deutschen
Bundestag und anderswo auf Zusammenhänge hingewiesen, die jeder einigermaßen und halbwegs wirtschaftskundig Gebildete kennen müsste. Es ist eben keine andere
europäische Wirtschaft so wie unsere im weltwirtschaftlichen Zusammenhang zu sehen.
({2})
Darauf und auf die besonders enge Verflechtung mit den
USA hat er hingewiesen. Das ist doch nicht zu leugnen.
Ich wiederhole es: Im Herbst 2000 haben alle so genannten Experten erklärt, Europa könne sich von einem
„soft landing“ oder „hard landing“ in den USAabkoppeln.
Das ist nicht eingetreten. Das haben nicht die Politiker
prognostiziert, das waren Institute und Wirtschaftsprofessoren. Wissenschaftlich-empirische Untersuchungen beweisen die enge Verflochtenheit mit der Weltwirtschaft
und mit der Wirtschaft in den USA.
Wenn wir über Kompetenz reden, müssen sich die Vertreter der Union schon gefallen lassen, dass ich sie bitte,
endlich einmal zu klären, wann sie ihre zentralen Vorstellungen zur Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik präzisieren. Der Wirrwarr ist ja nicht mehr zu überbieten.
({3})
Gestern haben Ihre Fachpolitikerinnen mehr Familiengeld gefordert. Anschließend haben sie sich mit Herrn
Stoiber getroffen und der hat gesagt: Liebe Frauen, das
können wir sehr wahrscheinlich so nicht finanzieren, und
hat das wieder einkassiert. So sieht Ihre Kompetenz aus.
({4})
Jeden Tag wird bei Ihnen herumgeeiert. Sie wissen überhaupt nicht, wohin Sie wollen.
Sie haben jetzt angekündigt, Ende April wollten Sie
Ihre Vorstellungen vorlegen. Herr Merz hat laut „FAZ“
erklärt: Wir werden unsere Vorstellungen in Ruhe entwickeln. Das stelle man sich einmal vor!
({5})
Wir sind in einem Wahljahr und die große Oppositionspartei erklärt, sie fange jetzt erst an, Vorstellungen zu einem zentralen Feld der Politik zu entwickeln. So sieht Ihre
Kompetenz aus.
({6})
Ich will mich auch nicht mit den vielen Widersprüchen
von Herrn Stoiber, die er jetzt nach und nach einkassiert,
auseinander setzen. Es geht um mehr als 60 Milliarden DM. Kürzlich hat er noch eine Senkung des
Spitzensteuersatzes auf unter 40 Prozent gefordert. Wie er
das finanzieren will, hat er nicht gesagt.
Er hat nur in der Tat deutlich gemacht, dass eine gewisse Verbindung in der Unseriosität mit der FDP gegeben ist. Die FDP fordert auch ständig einfache, gerechte
Steuertarife.
({7})
Schon der damalige Bundesfinanzminister Waigel - um
eine unverdächtige Quelle zu zitieren - hat ausgerechnet,
das würde zusätzliche Steuerausfälle von mehr als
100 Milliarden DM bedeuten.
Meine Damen und Herren, wenn es in der deutschen
Politik eine Kraft gibt, die, was Konzeptionen angeht
- nicht was Personen angeht, es sind nette Menschen darunter -, überflüssig ist, die durch und durch unseriös ist,
({8})
die uns durch ihre jahrzehntelange Regierungsbeteiligung
in diese Staatsverschuldungsfalle hat laufen lassen,
({9})
dann sind Sie das, meine Damen und Herren von der FDP.
({10})
Sie waren wesentlich mit daran beteiligt, dass falsche
Grundsätze beim Aufbau Ost durchgesetzt wurden. Unter
den Folgen dieser falschen Finanzierung der deutschen
Einheit leiden wir eben noch heute. Es ist eine Frechheit,
dass Sie uns hier auf die Anklagebank setzen wollen, wo
wir nur durch harte Arbeit Tag für Tag versuchen, Ihren
Mist wegzuräumen. Das ist doch die Situation.
({11})
Und die Kompetenz Stoibers ist hier doch nicht größer.
Ich könnte ihn ja zitieren.
Heute habe ich festgestellt, dass sich Herr Stoiber offenbar auch noch als Beschützer der Steuerhinterzieher
versteht. Der Bundesrechnungshof liegt mit Bayern im
Clinch. Den Prüfern des Bundesrechnungshofs wird der
Zugang zur bayerischen Finanzverwaltung verboten, weil
dort offenkundig vieles passiert - sozusagen Bayern als
Steueroase -, was nicht geltendem Recht entspricht. Diesem Vorgang und der Frage, wie es mit der Kompetenz
von Herrn Stoiber aussieht, werden wir von politischer
Seite in den nächsten Tagen sehr sorgfältig nachgehen.
({12})
Über die FDP muss man eigentlich nicht mehr sprechen. Was werfen Sie denn Hans Eichel eigentlich vor?
({13})
Wollen Sie ihm im Ernst vorwerfen, dass er jetzt in Brüssel bestätigt hat, was der Finanzplanungsrat unter Beteiligung aller Landesregierungen schon im Juni vergangenen
Jahres gesagt hat, nämlich dass wir versuchen werden,
uns bis 2004 einem ausgeglichenen Gesamthaushalt zu
nähern? Wollen Sie damit sichtbar machen, dass Ihnen an
Stabilitätspolitik nicht gelegen ist, weil Sie sich treu bleiben wollen?
Herr Westerwelle sagt, er werde nur dann einen Koalitionsvertrag unterschreiben, wenn die Steuern geringer,
gerechter und einfacher würden. Was das bei Ihnen heißt,
wissen die Menschen in Deutschland: Die Steuern müssen für Spitzenverdiener geringer werden. Es muss einfacher werden, Steuern zu hinterziehen, und Gerechtigkeit
ist für Sie sowieso nur ein partielles Problem. So sieht das
in der Praxis aus, meine Damen und Herren.
({14})
Denn immer, wenn es darum gegangen ist, in der Bundesrepublik Deutschland mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, ist das gegen Ihre Stimmen im Deutschen Bundestag oder dort, wo Sie sonst noch beteiligt waren,
geschehen. Sie sind ungeeignet, solche Anträge zu stellen.
({15})
Sie haben keine politische Legitimation. Das gilt auch
für die anderen Beispiele. Wollen Sie nun eigentlich das
Transportflugzeug A400M oder wollen Sie es nicht?
({16})
Sind Sie dafür, die dafür notwendigen Mittel bereitzustellen, oder nicht? Sie bekommen die Beschaffungsvorlage.
Dann können Sie ihr am 30. März im Haushaltsausschuss
des Deutschen Bundestag zustimmen.
({17})
Stichwort Transrapid: Wollen Sie die Projekte etwa
nicht, um Ihrem Schattenvorsitzenden Jürgen Möllemann
eins auszuwischen? Oder wollen Sie sie vielleicht nicht in
Bayern? Sie müssen schon erklären, was Sie eigentlich
wollen.
({18})
Was halten Sie denn von der jetzt eingeleiteten Reform
der Bundesanstalt für Arbeit? Halten Sie diese für gut
oder kritisieren Sie sie?
({19})
Walter Riester hat doch schnell und zukunftsweisend auf
die Probleme bei der Bundesanstalt für Arbeit reagiert.
({20})
Ich verstehe nicht, was daran auszusetzen sein soll.
Herr Laumann, wenn Sie gleich darauf eingehen, werden Sie doch sehr wahrscheinlich auch auf die Geschichte
vor dem Regierungswechsel 1998 eingehen.
({21})
Jedenfalls erwarte ich von Ihnen - Sie sind ja ein redlicher
Mann -, dass Sie das machen, wenn Sie zu dem Thema
Stellung nehmen.
Ich nenne weiter das Stichwort Lohnnebenkosten.
Auch uns gefallen die relativ hohen Lohnnebenkosten
nicht. Ich muss allerdings daran erinnern, dass wir in Ihrer Regierungszeit - so lange liegt sie noch nicht zurück - Lohnnebenkosten von mehr als 42 Prozent hatten.
({22})
Ich könnte noch weitere Stichworte anführen.
Meine Damen und Herren, wir nehmen das Parlament
durchaus Ernst,
({23})
aber Sie sollten die Parlamentsarbeit nicht mit einem
solch wirren Zeug zusätzlich erschweren.
({24})
Als letztem
Redner in dieser Debatte erteile ich nun dem Kollegen
Karl-Josef Laumann von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Poß, lassen Sie mich zunächst einmal eine Bemerkung zu Ihrer Anmerkung machen, dass mein Kollege
Rauen nicht mehr an der Debatte teilnimmt. Es ist nun
einmal so, dass die CDU in Rheinland-Pfalz heute am
frühen Abend ihre Landesvertreterversammlung durchführt. Als Profis wissen wir alle, dass man an solchen Terminen teilnehmen muss.
({0})
Ich meine, das sind wir unserer Parteibasis auch schuldig.
({1})
Der Antrag der FDP-Fraktion macht deutlich, dass unsere Verfassung dem jeweiligen Bundeskanzler aus gutem
Grund eine ziemlich mächtige Stellung einräumt. Diese
mächtige Stellung begründet sich daraus, dass in Art. 65
Satz 1 des Grundgesetzes von der Richtlinienkompetenz
die Rede ist.
Angesichts der Arbeitsmarktlage in Deutschland hat
die FDP völlig Recht: In der nächsten Woche werden wir
wieder neue Arbeitslosenzahlen bekommen, die höher als
die vom 6. Februar sein werden. Mit denjenigen, die in geförderter Beschäftigung sind, gibt es in Deutschland
6 Millionen Arbeitslose. Als Mitglied des Deutschen Bundestages weiß ich nicht - niemand von uns weiß das -, wie
sich der Bundeskanzler unseres Landes den Abbau der Arbeitslosigkeit vorstellt.
({2})
Vor allem wissen wir nicht, wie sich der Bundeskanzler
dies im Hinblick auf die Arbeiter vorstellt. Mittlerweile
sind 63 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie haben völlig Recht, dass es sich
hier um einen strukturellen Prozess handelt, der seit vielen Jahren abläuft. Ich weiß nicht, wie sich der Bundeskanzler die Schaffung von Arbeitsplätzen, die wir in der
industriellen Fertigung leider nicht mehr haben, für diesen Personenkreis vorstellt. Wir wissen nicht, wie die
Bundesregierung dazu steht - Anträge von CDU/CSU
und FDP liegen dazu vor -, wie man etwa im Niedriglohnbereich in Deutschland zu mehr Arbeitsplätzen in
Deutschland kommen kann. Seit Wochen schweigt der
Bundeskanzler auf der ganzen Linie.
Dass wir den Bundeskanzler auffordern, dazu etwas zu
sagen,
({3})
hat auch damit zu tun, dass wir dem Bundesarbeitsminister die Antworten schon gar nicht mehr zutrauen. Wir
erwarten schon gar nicht mehr, dass wir von ihm eine Antwort darauf bekommen, wohin es in der Arbeitsmarktpolitik gehen soll. Deswegen ist es völlig richtig, dass wir in
dieser Frage verlangen, dass uns der Bundeskanzler sagt,
wohin er will. Das soll er uns vor allen Dingen vor dem
22. September sagen.
Heute sind in Deutschland 550 000 junge Leute unter
25 Jahren arbeitslos. Das ist trotz Ihres JUMP-Programmes die höchste Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen seit
über drei Jahren. Ist es zu viel verlangt, wenn man von einem Bundeskanzler erwartet, dass er hier im Parlament
einmal dazu Stellung nimmt, wie er sich die Bekämpfung
der Jugendarbeitslosigkeit vorstellt, und dass er uns sagt,
was er tun will, damit Mittelstand, Handel und Gewerbe
eine ausreichende Zahl von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen können?
Die Kommunalpolitiker im Bundestag wissen, dass
wir langsam, aber sicher das Herzstück unserer Demokratie, die kommunale Selbstverwaltung, verlieren. In
meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen sind mittlerweile mehr als ein Drittel der Kommunen im so genannten Ausgleichsstock. Das heißt, in diesen Gemeinden wird
nur noch über Pflichtaufgaben beschlossen; dort kann
nichts mehr gestaltet werden. Angesichts einer solchen Situation interessiert mich schon, wie sich ein Bundeskanzler einen neuen Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern
und Gemeinden mit dem Ziel vorstellt, dass die kommunale Selbstverwaltung erhalten bleibt.
Der Irrsinn, dass mittlerweile viele Programme der
Kinder- und Jugendarbeit in den Regionen unseres Landes über so genannte Projektmittel der Arbeitsverwaltung
finanziert werden, ist nun wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss. Es wäre doch besser, die Kreistage und Gemeinderäte könnten das selbst entscheiden. Auch hierzu
haben wir keine Antworten der Bundesregierung.
Wir alle wissen, dass in unserem Land der Anteil der
pflegebedürftigen Menschen steigt. Diejenigen von uns,
die in ihrem Wahlkreis damit befasst sind, wissen, dass in
den Altenheimen mittlerweile eine miese Stimmung
herrscht. Die Träger wissen nicht mehr, wie sie es finanzieren sollen, die Altenpflegerinnen und Altenpfleger steigen aus dem Job aus, weil sie den Stress nicht mehr aushalten, und die alten Leute fühlen sich immer schlechter
betreut. Wo ist die Antwort der Bundesregierung auf die
Frage, was dagegen getan werden soll, dass sich dieses
Problem aufgrund der demographischen Situation in unserem Land gravierend verschärft?
({4})
Es passiert nichts. Ich kenne keine Aussagen des Bundeskanzlers, wie er sich die Lösung dieses Problems vorstellt.
Ich bin sehr gespannt, was die SPD-Fraktion in der
übernächsten Woche sagen wird, wenn der Arbeitsminister allen Ernstes vorschlägt, dass die Arbeitslosen demnächst ihre privaten Arbeitsvermittler mit bis zu eineinhalb Monatslöhnen selber bezahlen sollen. Wenn Sie
damit beginnen, dass der Arbeitslose, der noch über Geld
verfügt, sich im Gegensatz zu demjenigen, der kein Geld
mehr hat, einen Arbeitsplatz kauft, dann ändern Sie bitte
den Namen der Sozialdemokratischen Partei.
Schönen Dank.
({5})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
FDP auf Drucksache 14/8281 mit dem Titel „Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag zu den Vorhaben der Bundesregierung
zur Bewältigung der aktuellen politischen Herausforderungen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktionen der FDP und der CDU/CSU bei
Enthaltung der Fraktion der PDS abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({0})
- Drucksache 14/8099 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 14/8384 Berichterstattung:
Abgeordneter Fritz Schösser
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus ist
damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
Bundesregierung der Parlamentarischen Staatssekretärin
bei der Bundesministerin für Gesundheit, der Kollegin
Gudrun Schaich-Walch, das Wort.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Rentnerinnen und
Rentner in der gesetzlichen Krankenversicherung sind
gleich zu behandeln - so lautet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Der Gesetzgeber schafft mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die notwendigen Regelungen,
damit das Urteil umgesetzt werden kann, ohne dass dies
zu unvertretbaren Beitragsmehrbelastungen führt. Deshalb geht es heute nicht nur um Verfassungsrecht; es geht
auch darum, einen Schritt in Richtung mehr Beitragsgerechtigkeit zu gehen.
({0})
- Es ist so, Herr Fink.
Für die Akzeptanz der sozialen Sicherungssysteme
- davon bin ich fest überzeugt - ist es sehr entscheidend,
dass die Menschen die Überzeugung haben, dass ihnen
hier Gerechtigkeit widerfährt. Diese Akzeptanz wird nur
dann zu erreichen sein, wenn wir die Menschen auf diesem Gebiet vor unliebsamen Überraschungen bewahren
können, sei es durch Leistungskürzungen, wie Sie sie mit
Wahl- und Regelleistungen ja immer wieder ins Gespräch
bringen,
({1})
sei es durch Beitragsmehrbelastungen, die aus alten gesetzgeberischen Fehlentscheidungen resultieren, die letztendlich Sie verursacht haben. In diesem Zusammenhang,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ist es mir
völlig unverständlich, dass Sie als entscheidende Verursacher dieses zehn Jahre alten Problems nicht bereit sind
({2})
- ich habe ja gesagt: entscheidende Verursacher; ich habe
nicht gesagt: alleinige Verursacher -,
({3})
eine entsprechende Korrektur mitzutragen, die die Ungleichbehandlung, deren Vorhandensein uns das Verfassungsgericht bescheinigt hat, aufhebt.
({4})
Wir werden das jetzt mit diesem Gesetz tun.
Ich komme zunächst zu den freiwillig versicherten
Rentnerinnen und Rentnern in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir haben uns in der Diskussion über
die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils davon leiten lassen, dass für die Rentnerinnen und Rentner, die jetzt
als freiwillig Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, ein Bestandsschutz gelten muss, dass sie
deshalb einen gewissen Entscheidungsspielraum haben
müssen und dass sie anders behandelt werden müssen als
die, die zukünftig als Neurentner in dieses System hineinkommen werden. Wir haben sehr gute Gründe dafür, dass
wir den freiwillig versicherten Rentnerinnen und Rentnern diesen besonderen Schutz gewähren. Denn es ist
nicht einzusehen, dass diejenigen, die der gesetzlichen
Krankenversicherung die Treue gehalten haben und nicht
in die PKV abgewandert sind, für die gleiche Leistung einen höheren Beitrag zahlen sollen.
Es wird sich auch in der praktischen Umsetzung für die
betroffenen Frauen und Männer auszahlen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: Ein bisher freiwillig versicherter
Rentner mit Versorgungsbezügen, der im Monat etwa
1 000 Euro aus seiner Rente und 300 Euro aus einer Betriebsrente erhält und der sich nun pflichtversichert, wird
im Monat 13 Euro sparen. Das ist für manch einen eine
Menge Geld. Denn nicht jeder ehemals freiwillig Versicherte bekommt auch eine hohe Rente.
({5})
Es gibt eine zweite Gruppe, für die diese Regelungen
auch so zu gestalten sind; das sind diejenigen, die als
Familienangehörige bei freiwillig Versicherten mit versichert waren. Bei dieser Gruppe handelt es sich nahezu
ausschließlich um Frauen. Auch diesen wollen wir durch
die im Gesetz enthaltene Wahlmöglichkeit die Chance geben, ihren Versicherungsstatus beizubehalten. Das betrifft
etwa 50 000 bis 100 000 Bezieherinnen kleiner Renten.
Mit der jetzigen Regelung - das ist sehr wichtig -, sorgen
wir dafür, dass diese Frauen in jedem Fall abgesichert
sind.
Entscheidend wird es trotz der Mehrbelastungen, die
Sie, Herr Fink, angesprochen haben, sein, dass wir eine
Lösung für die Zukunft finden. Es wird bei Herstellung
der Gleichbehandlung zum einen um den Bestandsschutz
und zum anderen um entsprechende Regelungen für Neurentner gehen. Neurentner werden nach Maßgabe des vorliegenden Gesetzes künftig gleich behandelt werden. Das
ist genau das, was das Bundesverfassungsgericht vom
Gesetzgeber verlangt hat.
Es würde mich sehr freuen, wenn Sie als Mitverursacher dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmten. Wenn
Sie es nicht tun, dann wollen Sie die Mehrbelastungen, die
sich aus der Umsetzung der im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts enthaltenen Maßgaben ergeben, nicht
auf die vielen Schultern der in der GKV Versicherten
gleichmäßig verteilen. Dann müssen Sie klar sagen, dass
die Rentnerinnen und Rentner sowie die Bezieher kleiner
Einkommen die finanzielle Mehrbelastung tragen sollen.
({6})
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Aribert Wolf.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Am 15. März 2000 hat das
Bundesverfassungsgericht wegen eines Verstoßes gegen
den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes eine
gesetzliche Regelung für ungültig erklärt, nach der nur
freiwillig versicherte Rentner, also nicht alle Rentner,
Krankenkassenbeiträge auch aus Einnahmen von Betriebsrenten, Zinsen oder Mieteinnahmen zu entrichten
hatten. Entgegen der von Rot-Grün immer wieder erhobenen Behauptung - auch die Frau Staatssekretärin
Schaich-Walch hat das gerade behauptet - geht diese gesetzliche Regelung auf eine Forderung der SPD zurück.
Damals - ich kann mich noch gut daran erinnern - hat
Herr Dreßler in Lahnstein gefordert, die Besserverdienenden müssten in der gesetzlichen Krankenversicherung
stärker zur Kasse gebeten werden. Die Regelung geht also
auf Rudolf Dreßler und nicht auf Horst Seehofer zurück.
Das ist die historische Wahrheit. Darum haben Sie dieses
Gesetz 1992, als Sie in der Opposition waren, zusammen
mit der Union und der FDP beschlossen. Es war Ihre
Regelung, die das Bundesverfassungsgericht aufgehoben
hat.
Sie hatten - auch das ist interessant - zwei Jahre,
730 Tage, Zeit, um eine tragfähige gesetzliche Regelung
auf den Weg zu bringen. Es war also genug Zeit. Aber es
ist typisch für die Gesundheitspolitik dieser rot-grünen
Bundesregierung, dass man jahrelang nichts macht, die
Sachen schleifen lässt und dann kurz vor Torschluss
schnell einen Gesetzentwurf auf den Tisch knallt. Das
zeigt wieder einmal: Derjenige, der sich aus Angst vor Debatten und Auseinandersetzungen in der Gesundheitspolitik scheut, rechtzeitig ein Reformkonzept zu entwickeln,
muss in hektischen Aktionismus verfallen. Das merken
die Menschen. Alle Umfragen zeigen, dass sich immer
mehr Bürger von der rot-grünen Bundesregierung in der
Gesundheitspolitik nicht gut vertreten fühlen. Die Menschen haben Recht.
Auch der heutige Entwurf eines Gesetzes zur
Krankenversicherungspflicht der Rentner ist wieder einmal mit heißer Nadel gestrickt, handwerklich mangelhaft
ausgeführt und nicht in ein Gesamtkonzept eingebettet
worden.
({0})
Alleine das wäre schon Grund genug, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Aber es kommt noch viel schlimmer: Vom Inhalt her ist der Gesetzentwurf eine einzige Wählertäuschung. Es wird bereits in der Begründung des Gesetzentwurfes deutlich, dass das, was Rot-Grün heute
beschließt, nur eine Übergangsregelung ist. Auf Seite 3
des Gesetzentwurfs heißt es - ich zitiere -:
Eine gesetzliche Regelung des Mitgliedschafts- bzw.
Beitragsrechts von Rentnern entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erscheint zum
gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht sachgerecht,
weil keine Präjudizierung der Frage der künftigen
Gestaltung des Beitragsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung vorgenommen werden sollte.
Jetzt kommt’s:
Die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Regelungen sollten daher in den Kontext einer grundlegenden Neuregelung des Beitragsrechts für alle Versichertengruppen gestellt werden.
So viel zur Gesetzesbegründung.
({1})
Was heißt das auf gut Deutsch, Herr Schösser? Sagen
Sie den Wählern die volle Wahrheit! Zur vollen Wahrheit
gehört auch, dass Sie jetzt, vor der Wahl, etwas machen,
was Sie nach der Wahl ändern wollen.
({2})
Sagen Sie den Menschen doch, was Sie nach der Wahl anders machen wollen!
({3})
Herr Schösser, es ist ganz interessant, nachzulesen,
was andere, mutigere führende SPD-Politiker an anderer
Stelle gesagt haben, zum Beispiel Ihr SPD-Kollege
Florian Gerster. Er ist noch Sozialminister in Rheinland-Pfalz, soll aber zum Chef der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg befördert werden. Er ist also kein kleiner
Parteisoldat, sondern einer Ihrer führenden Leute.
({4})
Am 12. Januar 2002 in der „Frankfurter Rundschau“, Herr
Thomae - das ist schon interessant -, sagte Gerster:
Mit Blick auf die Generationengerechtigkeit sollten
bei der Krankenversicherung der Rentner alle
Einkünfte bis zur Beitragsbemessungsgrenze einbezogen werden: Leistungsfähige ältere Menschen
würden dann einen angemesseneren Teil der Gesundheitskosten tragen, die aktive jüngere Generation
könnte entlastet werden. Eine solche Umsetzung des
Bundesverfassungsgerichtsurteils wird bis zu dem
vorgegebenen Termin Ende März nicht mehr möglich sein; im Rahmen einer Gesundheitsreform 2003
muss sie jedoch angegangen werden.
Das heißt nichts anderes, als dass Sie sich jetzt mit einem
Wahlgeschenk für freiwillig versicherte Rentner über den
Wahltag hinwegretten wollen, um dann nach der Wahl
umso kräftiger den Zahltag für alle Rentnerinnen und
Rentner auszurufen. Das ist nichts anderes als Wahlbetrug!
({5})
In Anbetracht der Finanzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung während der Regierungszeit
der rot-grünen Bundesregierung bleibt Ihnen auch gar
nichts anderes übrig: Trotz einer Rekordhöhe der Beitragssätze von 14 Prozent - die Bundesbürger mussten
noch nie, seitdem die Bundesrepublik Deutschland existiert, so viel für ihre Krankenversicherung zahlen wie unter dieser Bundesregierung, und das bei gleichzeitig
schlechter werdenden Leistungen - erwarten die Krankenkassen ein Defizit von rund 5 Milliarden DM bzw.
2,5 Milliarden Euro. Die Ministerin weiß ganz genau,
warum sie diese Zahlen nicht heute auf einer Pressekonferenz genannt hat, sondern warum sie sie erst nächste Woche
verkünden wird: Durch die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs werden die gesetzlichen Krankenkassen zusätzlich
mit Kosten in Höhe von 300 Millionen Euro belastet.
Ich bin der Auffassung: Weder Wahltaktik noch die
prekäre Finanzlage der Krankenversicherungen rechtfertigen es, mit einer Generation, die unser Land aus Trümmern wieder aufgebaut hat, derart unehrlich umzugehen,
wie Sie es tun. Wer vor der Lebensleistung der älteren Generation Respekt hat, der darf zu diesem Wahlbetrug die
Hand nicht reichen. Deswegen werden wir von CDU und
CSU dieses Gesetz ablehnen und allen Menschen mit allen Mitteln deutlich machen, wie unehrlich Sie mit den
Menschen umgehen, wenn Sie vor der Wahl etwas anderes
verkünden und beschließen, als Sie nach der Wahl tun.
Dazu werden wir unsere Hand niemals reichen.
Ich bedanke mich.
({6})
Ich gebe
dem Kollegen Fritz Schösser für die Fraktion der SPD das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Änderungsgesetz, das jetzt zur Abstimmung steht, verhindern wir, dass die Versicherten mit hohen Nebeneinnahmen entlastet werden und die freiwillig versicherten
Rentner ohne weitere Einnahmen sowie die beitragsfrei
mitversicherten Ehegatten mit Kleinstrenten höhere
Beiträge zahlen müssen. Das sind Ziel und Zweck dieses
Änderungsgesetzes.
({0})
Sie, meine Damen und Herren von der Union, hätten es
gerne gesehen - das gestehe ich durchaus zu -, wenn wir
den anderen Weg gewählt hätten, den Herr Wolf gerade
beschrieben hat, und auch die sonstigen Einnahmen aller
pflichtversicherten Rentner zur Beitragsbemessung herangezogen hätten.
({1})
Das wäre für Sie wahrlich ein wahlkampfpolitischer Orgasmus gewesen. Das gestehe ich ein.
({2})
Herr Fink und Herr Wolf, ich sage Ihnen einmal, was
Ihr damaliger Gesundheitsminister Seehofer im Schilde
führte - da ging die Wählertäuschung los -: Als Seehofer
1992 vom DGB auf die Verfassungswidrigkeit angesprochen wurde, entgegnete er mit voller Häme: Bis das Bundesverfassungsgericht entscheidet, vergehen noch viele
Jahre, in denen mehrere Milliarden Mark Beitragseinnahmen erzielt werden können. Wenn die EntAribert Wolf
scheidung wegen der Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes vom Bundesverfassungsgericht gerügt wird, dann
muss man eben auch die sonstigen Einnahmen von
pflichtversicherten Rentnern in der Krankenversicherung
in die Beitragsbemessung einbeziehen. - Das, Herr Wolf,
war Ihre Absicht!
({3})
Die Pflichtversicherten waren bereits für die zweite Stufe
eingeplant.
({4})
Um das tun zu können, hätten Sie sich scheinheilig hinter
dem Bundesverfassungsgerichtsurteil versteckt.
Herr Wolf, Sie wissen, dass die Fragen der Finanzierung der Krankenversicherung keine einfachen Fragen sind. Heute mosern Sie herum und haben nicht mehr
den Mut, Ihr wahres Gesicht zu zeigen und zu sagen: Wir
von der Union wollen auch noch die etwa 3,5 Millionen
pflichtversicherten Rentner, die über sonstiges Einkommen verfügen, abkassieren.
({5})
Das aber war die Absicht von Seehofer.
Mit uns wird es im Hinblick auf die künftige Finanzierung der Krankenversicherung keine Hauruck-Entscheidungen geben, wie Sie es damals gemacht haben.
Das muss man schon sehr sorgsam prüfen.
Sie stellen sich heute hin wie die Unschuldslämmer
und tun so, als hätten Sie mit dem Urteilsspruch überhaupt
nichts zu tun. Herr Wolf, es ist schlicht und einfach eine
Lüge, wenn Sie sagen, Herr Dreßler habe gefordert, dass
es zu dieser Regelung der Belastung der freiwillig versicherten Rentner in der Krankenversicherung kommt.
Sie waren es doch, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, die den Vorschlag eingebracht haben, dessen
Umsetzung jetzt vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wurde. Da hilft auch alle künstliche Aufregung
nichts.
({6})
- Herr Thomae, lesen Sie es doch im Protokoll nach!
({7})
- Wir haben das Protokoll des Deutschen Bundestages,
vom 9. Dezember 1992. Sie können mir gern eine Frage
stellen. Dann habe ich ausreichend Zeit, aus diesem Protokoll zu zitieren. Interessanterweise erscheint in diesem
Zusammenhang auch Ihr Name.
({8})
Im Protokoll ist zu lesen, dass Sie gefragt wurden, wie Sie
sich dazu verhalten, dass die SPD die Beitragsbemessungsgrenze um 300 DM erhöhen will.
({9})
Darauf haben Sie klar und eindeutig gesagt, dass Sie das
nicht wollen. Sie haben an Ihrem Vorschlag festgehalten,
was vom Bundesverfassungsgericht beanstandet worden
ist, sodass wir heute eine andere Lösung finden müssen.
({10})
Sie haben den damaligen Alternativvorschlag der SPD
abgelehnt. Ich sage es noch einmal: Unser Vorschlag war,
die Bemessungsgrenze um 300 DM zu erhöhen.
Richtig ist, dass die SPD am Ende die Kröte geschluckt
hat, um dem gemeinsamen Reformpaket eine Chance zu
geben. Aber der Urheber der vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Regelung - da wird Ihnen leider niemand helfen - sind und bleiben Sie, meine Damen und
Herren von der damaligen Regierungskoalition. Ich empfehle Ihnen wirklich, einmal einen Blick in das Protokoll
vom 9. Dezember 1992 zu werfen.
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sorgen mit unserem Änderungsgesetzentwurf dafür, dass niemand benachteiligt wird. Gewinner sind die freiwillig krankenversicherten Rentner, die auf ihre sonstigen Einkünfte ab
dem 1. April 2002 keine Krankenversicherungsbeiträge
mehr zahlen müssen. Gewinner sind Rentner mit Versorgungsbezügen, die für ihre Versorgungsbezüge künftig
nicht mehr den ermäßigten, sondern nur noch den halben
allgemeinen Beitragssatz entrichten müssen. Nur Rentnern ohne Nebeneinkommen und Familienmitversicherten räumen wir mit unserem Entwurf eine Optionsmöglichkeit ein, damit sie nicht zu Verlierern der
Bundesverfassungsgerichtsentscheidung werden. Darum
geht es bei diesem Änderungsgesetzentwurf. Dafür bitte
ich um Ihre Unterstützung.
({12})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! SPD, CDU/CSU und
FDP waren dabei. Wir allesamt haben das Paket damals
beschlossen. Viele, auf jeden Fall einige, hatten Bedenken, ob es verfassungsmäßig richtig ist. Dennoch sind wir
den Weg gegangen. Jetzt stellen wir fest: Das Bundesverfassungsgericht hat anders geurteilt. Eine Änderung ist
notwendig.
({0})
- Es sind zwei Richtungen möglich. - Ich bin der Auffassung, dass Grundlage nur das Einkommen bzw. der Arbeitslohn - nichts anderes - sein sollte.
Wir hätten uns gewünscht, dass der Änderungsgesetzentwurf früher vorgelegt worden wäre und wir Zeit gehabt
hätten, ein Gesamtpaket zu schnüren. Jetzt haben Sie ein
erhebliches Problem. Sie haben wiederum Belastungen in
diesem System etabliert. 300 Millionen Euro müssen Sie
verkraften.
({1})
Wie wollen Sie das verkraften? Wenn Sie ehrlich sind,
dann bleibt Ihnen, da Sie die Beitragssätze nicht noch
weiter steigen lassen dürfen - das passierte ja schon in den
letzten Wochen, als Sie das Thema Lohnnebenkosten intensiv berührte -, nichts anderes übrig, als weitere Leistungskürzungen im System vorzunehmen.
({2})
Das berührt die Patienten insgesamt und das berührt auch
- ich habe es gestern schon gesagt - die medizinische Versorgung in den neuen Bundesländern durch die Ärzte und
durch die sonstigen Leistungserbringer.
({3})
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie nehmen das
Problem ziemlich leicht. In der ambulanten Versorgung
haben wir in den neuen Bundesländern schon massive
Probleme. Sie verabschieden ein Gesetz über DeseaseManagement-Programme, können diese aber gar nicht
realisieren, weil es die niedergelassenen Ärzte dafür überhaupt nicht mehr gibt.
({4})
- Hören Sie zu!
Von daher sage ich Ihnen: Sie haben wieder ein Einzelgesetz auf den Weg gebracht, aber das Gesamtkonzept
fällt unter den Tisch.
({5})
Ihre Probleme in der Gesundheitspolitik rühren daher,
dass Sie immer wieder Einzelpakete schnüren, deren
Wirkungen nicht im größeren Zusammenhang gesehen
werden. Dies führt dazu, dass Ihre Gesundheitspolitik
mittlerweile von über 70 Prozent der Bürger in der Bundesrepublik Deutschland abgelehnt wird.
({6})
Diese Ablehnung wird sich in den nächsten Wochen und
Monaten noch verstärken. Ihre Einzelgesetze bilden eine
Falle für Ihre rot-grüne Politik.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Thomae, Sie haben
wirklich Recht: Ja, wir brauchen eine neue Gesundheitsreform; darüber sind wir uns alle einig. Aber heute steht
nun wirklich nicht diese Frage zur Debatte, sondern wir
haben es mit dem 10. SGB V-Änderungsgesetz zu tun, in
dem natürlich nur ein Detail geklärt wird. Dass dieses
Detail nun zu klären ist, hat eine Ursache in Gesetzen, die
Sie als FDP damals bewusst so auf den Weg gebracht haben.
({0})
Nun zu Ihnen, lieber Kollege Wolf: Es wäre wirklich
besser gewesen, Sie hätten dem Vorschlag zugestimmt,
die Reden zu Protokoll zu geben. Die Vorstellung, die Sie
heute hier gegeben haben, war wirklich peinlich.
({1})
Bezüglich der Stellung von freiwillig versicherten Rentnerinnen und Rentnern haben Sie - jetzt nicht Sie persönlich, sondern Ihre Fraktion - bewusst damals Ihre Entscheidung getroffen. Sie wussten damals schon, dass sie
verfassungswidrig war. Sie haben einen Versuchsballon
gestartet, der irgendwo nicht ganz funktioniert hat.
Sie haben gefragt, warum die neue Koalition an dieser
Stelle nicht weitermacht. Für mich stellt sich eher die
Frage, warum Sie nicht, als Sie die Regierung stellten, auf
diesem Weg weitergegangen sind und alle Einkommensarten der Beitragszahler einbezogen haben. Das haben Sie
nicht gemacht.
({2})
Welchen Weg haben Sie eingeschlagen? - Sie haben mit
Ihrer Reform den Weg über Zuzahlungen und Leistungsausgrenzung - so brutal bezeichne ich das hier eingeschlagen. An ein richtig vernünftiges Finanzkonzept
zur Existenzsicherung der gesetzlichen Krankenversicherung,
({3})
bei dem es im Kern um das Beibehalten des Solidarprinzips und der paritätischen Finanzierung gehen muss,
haben Sie nie gedacht. Das wird es wohl auch nicht so
schnell geben.
Ich gehe jetzt nicht mehr darauf ein, wie das Gesetz
funktioniert, welche Vorteile es für wen bringt und an welcher Stelle es zu Ungerechtigkeiten führt - dass es die
gibt, wissen wir -, sondern halte nur fest: Sie hätten zu Ihrer Zeit genau so ein Gesetz vorgelegt, wie es jetzt hier zur
Debatte steht.
Wir werden diesem Gesetz zustimmen, weil es wenigstens für einen Großteil der freiwillig versicherten Rentner,
wie schon gesagt, Beitragsgerechtigkeit schafft. Ich
wünsche nur, dass mit der neuen Gesundheitsreform
- egal, wer dann regiert und wann sie kommt - auch die
Grundlage für eine Finanzreform gelegt wird, die sich
- das sage ich noch einmal - ganz klar und deutlich am
Solidaritätsprinzip, der paritätischen Finanzierung und an
anderen wichtigen Dingen orientiert, damit für die Menschen letztendlich die medizinische Behandlung ihrer
Krankheiten noch bezahlbar bleibt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Letzter Redner ist der
Kollege Ulf Fink für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Andreas Mihm hat sich
heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit dem
Thema beschäftigt, das heute auch Gegenstand unserer
Debatte ist, nämlich mit der Reform der Krankenversicherung der Rentner. Er endet mit dem Satz - ich zitiere -:
Die Freude über niedrigere Beiträge in vielen Rentnerhaushalten wird nicht lange vorhalten.
({0})
Ich glaube, er hat es mit diesem Satz auf den Punkt gebracht. Sie sagen selber in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs, dass Sie nicht genügend Zeit gehabt hätten - das
wollen wir einmal dahingestellt sein lassen -, grundlegend neu über die Beitragsbasis nachzudenken; das müsse
einem späteren Gesetz vorbehalten bleiben. Wir wissen
doch, Herr Kollege Schösser, an was Sie in dem Zusammenhang denken. Das SPD-Parteipräsidium hat 1996
einen Beschluss gefasst - das wissen wir noch -, dessen
Inhalt es war, dass künftig nicht nur die Lohneinkommen,
sondern auch die sonstigen Einkommen zur Beitragsbemessung in der Krankenversicherung herangezogen
werden sollten. Genau darum geht es.
Die Leute können doch rechnen. Die Krankenversicherung der Rentner weist schon heute ein Defizit von
30 Milliarden Euro auf. Die allgemein Versicherten müssen also 30 Milliarden Euro mehr in die Krankenversicherung einzahlen, als ihren Ausgaben entspricht, um
die Krankenversicherung der Rentner entsprechend zu finanzieren. Das ist für die allgemein Versicherten bereits
heute eine riesige Last.
Diese Last wird in Zukunft dramatisch größer werden,
da die Zahl der Rentner, wie wir wissen, in Zukunft erheblich ansteigen wird. Die Rentnerquote wird eines der
großen Themen der Zukunft sein. Bei der Diskussion um
die Alterssicherung haben wir uns in dieser wie auch in
der letzten Legislaturperiode bereits sehr intensiv damit
auseinander gesetzt. Aber beim Gesundheitswesen wird
diese Entwicklung noch viel dramatischer sein als bei der
Alterssicherung. Es werden noch höhere Defizite entstehen. Deshalb kann man erwarten, dass Sie die Übergangslösung - Sie sagen ja, dass das eine Übergangslösung sein soll - so gestalten, dass sie perspektivisch der
künftigen Regelung entspricht.
Aber die Wahrheit ist: Sie verringern das Defizit nicht,
sondern vergrößern es um 300 Millionen Euro.
({1})
- Fritz Schösser, es wurde vorhin gesagt, dass niemand
durch diese Regelung, die mit diesem Gesetzentwurf
vorgelegt wird, benachteiligt werde. Das können Sie doch
nur sagen, weil Sie davon ausgehen, dass die Leute nicht
nachrechnen. Denn wenn durch dieses Gesetz bei der
Krankenversicherung ein Defizit von zusätzlich 300 Millionen Euro entsteht, dann muss dafür jemand aufkommen. Es gibt doch niemand der Krankenversicherung ein
Geschenk. Diesen Betrag müssen die anderen Versicherten aufbringen.
({2})
Diejenigen, die keine Nebeneinkünfte haben, werden
diese 300 Millionen Euro zusätzlich bezahlen müssen.
({3})
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben vorhin gesagt, verschiedene Versicherte würden entlastet,
und zwar um 13 Euro pro Monat. Da frage ich mich: Wer
zahlt denn das? Das werden diejenigen sein, die keine Nebeneinkünfte haben, denen es finanziell nicht so gut geht.
Sie müssen dann mit ihren Beiträgen dafür aufkommen.
({4})
Ich komme zum Schluss. Dieser Gesetzentwurf wird
eine Menge Arbeit verursachen. Die Krankenversicherungen müssen Hunderttausende von Bescheiden neu
ausstellen, sie müssen Fragebögen entwickeln usw. Und
dieser ganze Aufwand für dieses Jahr! Im nächsten Jahr
wird das Gegenteil eintreten, wenn Sie wider Erwarten die
Wahl gewinnen sollten. Das möge Gott verhüten.
({5})
Ich schließe die Aus-
sprache. Die Kollegin Katrin Göring-Eckardt hat ihre
Rede für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zu
Protokoll gegeben.1) - Ich sehe keinen Widerspruch.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des V. Buches
des Sozialgesetzbuches auf den Drucksachen 14/8099
und 14/8384. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzent-
wurf ist damit gegen die Stimmen der CDU/CSU
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Peter Götz, Dietrich Austermann, Günter
1) Anlage 5
Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Sicherung des Bestandes und Fortentwicklung
der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland im Rahmen von Rechtsetzung der Europäischen Union
- Drucksachen 14/4171, 14/5636 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! CDU und CSU wollen ein starkes Europa mit starken Kommunen. Über 60 Prozent der Entscheidungen, die in Brüssel getroffen werden, haben
Auswirkungen auf die Städte und Gemeinden in unserem
Land. Das Geflecht der Regelungen und Regulierungen
wird immer undurchsichtiger, die demokratische Legitimation nimmt ab und die Gefahr, dass sich die Menschen in den Städten und Gemeinden von Europa abwenden, nimmt zu.
Heute leidet unser Ansehen in Europa an vielen Fehlern der SPD-geführten Bundesregierung.
({0})
Ein typisches Beispiel, wie diese Bundesregierung Europapolitik macht, ist der blaue Brief aus Brüssel, den der
Bundeskanzler bekommen hat, ohne dass er dort
angekommen wäre. Gerhard Schröder hat durch sein Verhalten unnötig viel Porzellan zerschlagen und in unverantwortlicher Weise das Vertrauen in eine stabile europäische Währung aufs Spiel gesetzt.
({1})
Er hat Deutschland in eine hausgemachte Rezession
geführt.
({2})
Es ist ungeheuerlich, dies jetzt den Kommunen in die
Schuhe schieben zu wollen.
({3})
Das lassen wir nicht zu.
Der Bund hat 100 Milliarden DM aus UMTS-Lizenzen
kassiert und hat sich dabei auch noch mit über 14 Milliarden DM von den Kommunen über Steuerausfälle finanzieren lassen. Sie haben durch die Ökosteuer die Spritpreise um 28 Pfennig angehoben. Über die erhöhte
Entfernungspauschale sind die Kommunen beim Bezahlen wieder mit dabei, ganz zu schweigen von den eigenen
Belastungen aus der Ökosteuer. Ebenso ist es falsch, den
Gemeinden die Steuereinnahmen, die ihnen aus der Gewerbesteuer noch verbleiben, über die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage von 20 auf 30 Prozent wieder wegzunehmen.
Jetzt zu versuchen, das eigene Versagen in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik den Kommunen anzulasten, ist ein starkes Stück.
({4})
Aber täuschen Sie sich nicht! Die vielen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker lassen sich nicht
für dumm verkaufen. Unterschätzen Sie die Menschen
nicht, die oft seit vielen Jahren und Jahrzehnten in den
Städten, Gemeinden und Kreisen kommunalpolitische
Verantwortung tragen. Sie wissen sehr wohl, was hier gespielt wird, und sind bitter enttäuscht. Fragen Sie einmal
Ihre SPD-Oberbürgermeister, was sie von Ihrer Politik
halten.
Die Städte, Gemeinden und Kreise fahren seit über einem Jahrzehnt einen entschiedenen Konsolidierungskurs. Sie geben heute nicht mehr Geld aus als 1993 und
sie haben mehr Personal abgebaut als Bund und Länder
zusammen. Wenn die Neuverschuldung der Kommunen
im vergangenen Jahr bei 1,3 Milliarden Euro lag, so war
das nur deshalb der Fall, weil Sie den Gemeinden durch
Ihre kommunalfeindliche Politik ständig Knüppel zwischen die Beine werfen und ihnen das Geld wegnehmen.
({5})
Immer mehr Pflichtaufgaben bei immer weniger Einnahmen, das passt nicht zusammen.
Wir hören von der Gesundheitsministerin und nun auch
vom Kanzler, der Bund erwäge, bei der Arbeitslosenhilfe
zu sparen. Was bedeutet das? Ohne eine grundlegende Reform der Arbeitsmarktpolitik bedeutet Sparen bei der Arbeitslosenhilfe bei Ihnen nichts anderes als neue Sozialhilfekosten. Das geht wieder eindeutig zulasten der
kommunalen Haushalte. Wir nennen das Verschiebebahnhof.
Nicht anders verhält es sich beim verkorksten Zuwanderungsgesetz,
({6})
über das wir heute Vormittag abgestimmt haben. Anstatt
die Zuwanderung vernünftig zu begrenzen und zu steuern,
will Rot-Grün immer mehr Menschen ins Land holen. Die
kommunale Sozialhilfe bezahlt es ja.
({7})
Auch Integration kostet Geld. Die Kommunen müssen sich auch an den Kosten für die Integration beteiligen.
Zuwanderung und Integration sind gesamtstaatliche Aufgaben.
({8})
Über die Kosten und über die Finanzierungszuständigkeit
herrscht im Gesetz tiefes Schweigen.
({9})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Entgegen den Behauptungen von heute Vormittag steht
nicht im Gesetz, dass der Bund die Kosten für die Integration übernimmt. Sie haben lediglich eine Ermächtigungsklausel für eine Verordnung aufgenommen. Das
heißt letzten Endes: Kostenübernahme ausschließlich
nach Kassenlage und Gutdünken des Finanzministers. So
kann und darf man keine Politik machen.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, die Städte und Gemeinden in Deutschland sind nicht
die reichen Verwandten, wie es der Bundeskanzler zynisch auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages vor nicht einmal einem Jahr gesagt hat. Sie haben es
in drei Jahren Ihrer Regierungszeit verstanden, die bis
1998 vorhandenen guten Rahmenbedingungen für die
Kommunen durch Ihre kommunalfeindliche Politik systematisch zu zerstören.
({10})
Inzwischen können Sie es nicht mehr schönreden: Die
Finanzlage der Kommunen ist so dramatisch wie noch
nie. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat
Recht, wenn er heute in einem Artikel in der „Welt“ eine
Verfassungsänderung für die Verteilung der Finanzen fordert,
({11})
damit die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland
wieder gesichert wird.
({12})
Das ist ein sehr guter Vorschlag.
Es muss dringend gehandelt werden:
Erstens. Geben Sie einen Teil der Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen an die Kommunen
zurück, damit sie wieder investieren können.
Zweitens. Wir brauchen dringend die von Ihnen ungeliebte Gemeindefinanzreform.
({13})
Jetzt, wenige Monate vor Ende der Legislaturperiode,
wollen Sie eine Kommission dafür einsetzen.
({14})
Was ist bis heute geschehen? Kann mir irgendjemand von
der Regierungsbank vielleicht sagen, wie sich diese Kommission zusammensetzt? Können Sie Namen nennen?
Wir wären daran interessiert, etwas Konkreteres zu hören.
Das sind alles Beruhigungspillen und durchsichtige Ablenkungsmanöver vor der Bundeswahl. Geschehen ist bisher nichts. Die Kommunen sollen ruhiggestellt werden.
Das ist aber zu wenig. Wir brauchen Entscheidungen
jetzt. Straßen und Schulen müssen jetzt saniert werden.
Die Menschen in den Gemeinden verstehen es nicht mehr,
wenn das Geld für die dringend notwendige Renovierung
ihrer Schule fehlt und die Bundesregierung zur gleichen
Zeit mit großzügigen Steuergeschenken Banken und Versicherungskonzerne entlastet.
({15})
Der Marmor in den Versicherungs- und Bankenfilialen
glänzt noch mehr. Aber die daneben stehende Schule verfällt. So kann und darf man nicht Politik machen.
Die kommunale Selbstverwaltung ist in Gefahr.
({16})
Es gibt keine Handlungsspielräume mehr. Wir werden uns
deshalb zunehmend schwer tun - ich sage das sehr deutlich -, geeignete Persönlichkeiten zu finden, die noch bereit sind, ein kommunales Mandat anzunehmen.
({17})
Das können und dürfen wir nicht zulassen, wenn wir es
mit unserer Demokratie ernst meinen. Darüber sollten wir
gemeinsam nachdenken.
Lassen Sie mich auf unsere Große Anfrage zurückkommen:
({18})
Erstens. Die Antwort der rot-grünen Regierung darauf
ist ungenau, ausweichend und oberflächlich.
({19})
Es wird klar: Rot-Grün fehlt ein Konzept für die Zukunft
der kommunalen Selbstverwaltung in Europa.
Zweitens. Die Kommunen fühlen sich von dieser Bundesregierung auch auf europäischer Ebene schlecht vertreten. Oder kann mir jemand sagen, warum mittlerweile
nahezu jede größere Stadt in Brüssel mit viel Steuergeldern ein eigenes Büro einrichtet?
({20})
Drittens. Die Vorgaben der europäischen Wettbewerbspolitik fordern einen tiefen Strukturwandel bei der
Gemeindewirtschaft: von der Energie- und Wasserversorgung bis zur Abfallwirtschaft und Abwasserreinigung,
vom öffentlichen Personennahverkehr bis zu den Sparkassen.
Durch die europäische Wettbewerbspolitik und das
Beihilferecht haben sich die Bedingungen grundlegend
verändert. Das hat Auswirkungen für die Kommunen, deren Tragweite viele bestenfalls erahnen. Es ist Aufgabe
der Bundesregierung, in Brüssel dafür zu sorgen, dass dieser notwendige Strukturwandel ohne Schaden für unser
Land erfolgen kann.
Wir erleben es immer wieder: Bestimmte Themen stehen in Europa seit langem auf der Tagesordnung. Die
Bundesregierung wartet und schaut zu. Sehr spät wird
dann ein Gutachten in Auftrag gegeben. Eine erkennbare
abgestimmte Meinungsbildung findet allerdings nicht
statt. Dies gilt für die Wasserversorgung genauso wie für
den Gasmarkt; ich könnte noch weitere Beispiele nennen.
Auf vielen Feldern besteht konkreter Handlungsbedarf.
Wenn sich die Herren Minister nicht bewegen, ist der
Bundeskanzler gefordert. Aber auch hier: Fehlanzeige auf
der ganzen Linie.
({21})
Gestern hat der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union seine Arbeit aufgenommen. Dort finden
wichtige Weichenstellungen statt. Dabei muss es vor allem darum gehen, ein Gleichgewicht zwischen der Europäischen Union, den Mitgliedstaaten, den Ländern, aber
auch den Kommunen zu schaffen. Der Kern des Arbeitsauftrages ist, die Zuständigkeiten neu zu sortieren. Wenn
wir wollen, dass sich die Menschen in Deutschland mit
Europa identifizieren, brauchen wir mehr Transparenz
und Effizienz und vor allem klar definierte Verantwortungen.
Wir haben in Deutschland - stärker als in den meisten
europäischen Nachbarländern - eine ausgeprägte kommunale Ebene. Sie ist unter anderem ein Erfolgsmodell
für unser Land. Nach meinem Demokratieverständnis ist
es Aufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass
die kommunale Selbstverwaltung in der europäischen
Verfassung verankert wird.
({22})
Die Chance ist jetzt vorhanden; aber man muss dafür etwas tun.
Lassen Sie mich zusammenfassen:
({23})
Die Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland sind
unter der rot-grünen Bundesregierung in eine Krise geraten, wie sie es seit vielen Jahrzehnten nicht mehr waren.
Es ist höchste Zeit für einen Politikwechsel, damit es in
Deutschland wieder aufwärts geht. CDU und CSU wollen
keinen Zentralismus. Wir wollen in unserem Land und in
Europa im Interesse der Menschen, für die wir arbeiten,
eine starke kommunale Selbstverwaltung mit viel Eigenverantwortung.
Herzlichen Dank.
({24})
Nächster Redner ist
der Kollege Hans-Werner Bertl für die Fraktion der SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Antwort
der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
CDU/CSU-Fraktion nun seit gut einem Jahr in irgendwelchen Oppositionsaktenschränken verstaubt, wird sie
gerade rechtzeitig vor der Kommunalwahl in Bayern aus
den Ordnern hervorgezaubert. Man pustet den Staub herunter und versucht den Eindruck zu erwecken, als ob die
Bundesregierung die kommunale Selbstverwaltung in Europa gefährdet.
Meine Damen und Herren von der Union, für diesen
Zweck haben Sie nicht nur das falsche Dokument herausgegriffen, sondern dies auch zu spät getan. Dies war übrigens auch bei Ihren Vorwürfen im Hinblick auf die
Gemeindefinanzreform so. Die letzte war, wenn ich
mich richtig erinnere, im Jahre 1969. Sie haben also lange
16 Jahre, in denen Sie die Chance hatten, eine solche Reform durchzuführen, wunderbar verschlafen.
({0})
Mit Ihrer Großen Anfrage zur „Sicherung des Bestandes und Fortentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland im Rahmen von Rechtsetzung der
Europäischen Union“ - es ist schwer, sich diesen Titel zu
merken - versucht die CDU/CSU-Fraktion den Eindruck
zu erwecken, dass von der Europäischen Union - und vom
Kanzler unterstützt - eine wie auch immer geartete Gefahr für die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland
ausgehe. Dies tut sie wahrscheinlich in der Hoffnung, dass
sich jeder klar denkende Mensch von diesem bandwurmartigen Titel der Anfrage verwirren lässt.
Ich bringe das auf einen ganz einfachen Nenner: Die
kommunale Selbstverwaltung in Deutschland gewährleistet, dass jeder Bürgermeister, jede Oberbürgermeisterin,
jeder Landrat, jede Gemeinderätin und jeder Stadtrat vor
Ort für die Bürgerinnen und Bürger dafür sorgen kann,
dass die Menschen in ihren Regionen sauberes Wasser
und Strom haben, dass ihr Müll entsorgt wird, dass das
Gesundheitswesen und die Wohlfahrtspflege funktionieren, dass es Schwimmbäder, Sportanlagen, Museen und
Theater gibt, der Notarzt für alle und überall - und das vor
allen Dingen rechtzeitig - zur Stelle ist und dass es - nicht
zuletzt - Schulen und Kindergärten gibt.
Die Leistungen der Daseinsvorsorge gewährleisten allen Bürgerinnen und Bürgern einen gleichen und erschwinglichen Zugang zu lebenswichtigen Diensten und
Leistungen. Bezogen auf die einzelnen Bürgerinnen und
Bürger sollen sie über die bloße Existenzsicherung hinaus
eine diskriminierungsfreie Teilhabe am öffentlichen und
gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Dazu zählt auch
die Daseinsvorsorge in den Infrastrukturen, die das Wirtschaftsleben funktionsfähig halten: Straßen, Energieversorgung, Verkehr, Telekommunikation und auch Umweltschutz.
Staatliche Leistungen müssen zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge - jetzt komme ich auf die europäische Dimension zu sprechen - mit dem gemeinsamen Markt grundsätzlich vereinbar sein und mit dem
europäischen Wettbewerbs- und Beihilferecht in Einklang stehen. Dabei setzen wir voraus, dass die Aspekte
des Gemeinwohls und der Wettbewerbsordnung zur Verwirklichung der Europäischen Union und des Binnenmarktes gleichrangig sind.
Ich möchte Ihnen hier Nachhilfe geben, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU. Vielleicht hätten Sie sich
die Antwort der Bundesregierung, die Mitteilung der
Kommission oder die Stellungnahme des Europäischen
Parlaments zur Mitteilung der Kommission verständiger
durchlesen sollen.
({1})
Die kommunale Selbstverwaltung ist in Deutschland in
der Verfassung verankert. Die Befugnisse der Selbstverwaltung von Ländern und Gemeinden sind in Art. 28
Abs. 2 des Grundgesetzes festgeschrieben. Dort steht:
Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein,
alle Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft ... in
eigener Verantwortung zu regeln.
Die Europäische Union hat im Gegensatz zu dem Tenor
Ihrer Anfrage die nationale Identität ihrer Mitglieder zu
beachten. Vertraglich ist das in Art. 6 des EU-Vertrages
geregelt. Ausdrücklich wird dort festgehalten, dass sie
nicht in die Verfassungsstruktur ihrer Mitgliedstaaten eingreifen wird. Auch in der Präambel der GrundrechteCharta der Europäischen Union steht:
Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung
dieser gemeinsamen Werte
- gemeint sind die Würde des Menschen, die Freiheit, die
Gleichheit und die Solidarität unter Achtung der ... nationalen Identität der
Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt
- jetzt kommt der entscheidende Punkt; das hat Ihnen die
Bundesregierung sehr ausdrücklich mitgeteilt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei.
Wir haben nicht umsonst bereits 1991 den Ausschuss
für die Regionen eingerichtet, der in diesen Bereichen
gehört wird. Panikmache, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ist also unbegründet und sicherlich nur durch die nahende Kommunalwahl in Bayern zu
erklären,
({2})
weil Sie den Eindruck erwecken wollen, als würde all das,
was den Gemeinderäten und Oberbürgermeistern an
Handlungsspielraum zur Verfügung steht, nicht nur von
dieser Bundesregierung, sondern auch von der Europäischen Union negiert.
Auf Initiative von Bundeskanzler Gerhard Schröder
beschloss der Europäische Rat von Lissabon bereits im
März 2000, die Europäische Kommission um die Überarbeitung ihrer Mitteilung zur Daseinsvorsorge zu bitten.
Diese Mitteilung liegt auch Ihnen seit dem 20. September 2000 vor. Sicherlich haben Sie inzwischen Zeit gefunden, den einen oder anderen Blick hineinzuwerfen. Ich
will aber auch gerne Ihre Erinnerung auffrischen. Die
Kommission hat unmissverständlich erklärt, dass die
Frage, ob ein Dienst als Leistung der Daseinsvorsorge anzusehen ist und wie er organisiert werden soll, zuerst auf
nationaler Ebene entschieden werden muss.
Es ist klargestellt, dass die Gesamttätigkeit, insbesondere von Sozialorganisationen, soweit sie gemeinwohlorientiert sind, nicht unter den Art. 86 EGV fällt. Ich
glaube, auch damit ist eine große Sorge der Kommunen in
der Frage ihrer Eigengestaltungsfähigkeit von Sozial- und
Gemeinwohlpolitik ausgeräumt worden. Die Mitteilung
ist eine Grundlage für die weitere notwendige Diskussion
mit der Kommission und auch den EU-Partnern. Sie wissen genau - das steht in der Antwort der Bundesregierung -:
Die Bundesregierung tritt dafür ein, im Rahmen von
Maßnahmen der Kommission ... die Rechtssicherheit im Rahmen der Daseinsvorsorge weiter zu erhöhen.
({3})
Zudem hat die Kommission unmissverständlich bestätigt, dass sie nach dem EU-Vertrag keine Kompetenz
besitzt, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen zu
verlangen. Die Kommission hat sich wettbewerbs- und
beihilfepolitisch erheblich bewegt. Ich sage Ihnen eines:
Das ist ein Erfolg der rot-grünen Bundesregierung und
vor allen Dingen des Bundeskanzlers.
({4})
Es lohnt also, sich neben der Antwort, die Ihnen die
Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage gegeben hat
- das war übrigens schon vor einem Jahr -, auch die
Kommissionsmitteilung noch einmal durchzulesen. Sehen Sie sich auch die Entschließung des Europäischen
Parlaments zu dieser Mitteilung an. Auch dort heißt es
- das haben unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament beschlossen -, dass eine Weiterentwicklung der Daseinsvorsorge auf der Grundlage des Modells der sozialen Marktwirtschaft ein Kernelement der
europäischen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sein
muss.
Natürlich bestimmen Liberalisierung und zunehmend
freier Wettbewerb einen Teil der Europäischen Union.
Das bedeutet auch für uns: Je größer die Marktöffnung
wird, desto genauer muss Daseinsvorsorge definiert und
geklärt werden. Maßstab für uns und für die Regierungskoalition ist die Versorgung unserer Bürgerinnen und
Bürger, und zwar nicht abstrakt in irgendwelchen uralten
Anfragen, Resolutionen oder Richtlinien, sondern dort,
wo sie leben, in den Städten und Dörfern unseres Landes.
Die Europäische Union hat mit ihrer bisherigen Philosophie - auch der Universaldienste - auf Anregung der
Mitgliedstaaten, aber, glaube ich, auch aus eigener Erkenntnis - das muss man sagen - Maßstäbe gesetzt, die
die Versorgungssicherheit und die kommunale Selbstverwaltung garantieren.
Meine Damen und Herren, wir werden auch weiterhin
dafür sorgen - dafür stehen die Fraktionen der Regierungskoalition und dafür steht die Bundesregierung -,
dass die Städte und Gemeinden auch in Zukunft in einem
rechtssicheren Rahmen agieren. Die Finanzierung der
Kommunen haben wir ebenfalls angepackt. Dies haben
Sie 16 Jahre lang verschlafen.
({5})
Wir haben eine Kommission gegründet und werden in der
nächsten Legislaturperiode sicherlich Entscheidungen
treffen, die die Handlungsfähigkeit der Kommunen deutlich stärken.
Ich will noch ein Wort zu den Kollegen der FDP sagen,
die in dieser Diskussion außer ihren diffusen und zum Teil
unverantwortlichen Sehnsüchten nach vollkommener
Freiheit der Märkte nicht mehr beigetragen haben, als sich
einen Punkt aus dem Gutachten des Wissenschaftlichen
Beirates beim Wirtschaftsministerium herauszupicken:
Sie wollen die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei
der Definition der Daseinsvorsorge infrage stellen. Dieses
Ansinnen wird zu Recht weder vom Wirtschaftsminister
noch von uns geteilt. Sie können das in den Mitteilungen
entsprechend nachlesen.
Noch einmal: Zwölf Monate haben Sie gebraucht, um
sich daran zu erinnern, dass Sie auf Ihre Anfrage an die
Bundesregierung eine umfassende, richtige und richtungsweisende Stellungnahme zur Daseinsvorsorge und
zur Selbstverwaltung der Kommunen erhalten haben. Sie
sind schon eine extrem hellwache und schnelle Opposition.
({6})
Ich habe den Verdacht, dass Ihnen ein Referent das Datum
der bayerischen Kommunalwahl in Erinnerung gebracht
hat und Sie deshalb auf die abstruse Idee gekommen sind,
hier den Eindruck zu erwecken, dass die Bundesregierung
die kommunale Selbstverwaltung irgendwelchen fürchterlichen Brüsseler Technokraten zum Fraß vorwirft.
Im Ergebnis sind Sie nicht nur wieder einmal zu spät,
Sie liegen auch derart falsch - das wissen Sie auch -, dass
hier mehr als deutlich wird, dass Sie die Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land täuschen wollen. Sie nehmen dabei sogar in Kauf, den Beifall Ihrer eigenen Landesminister, inklusive des Herrn Stoiber, die die Haltung der
Bundesregierung und des Bundeskanzlers vor der beantworteten K-Frage unisono begrüßt und gestützt haben, zu
diskreditieren.
({7})
In Übereinstimmung mit der Bundesregierung wird die
Regierungskoalition, das kann ich Ihnen sagen, das europäische Gesellschaftsmodell beibehalten und das Ganze
nicht nur durch die Brille des Profits sehen. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD steht weiterhin für die Philosophie
der europäischen Sozialunion, die Willy Brandt schon
1972 beim Pariser EG-Gipfel geprägt hat.
Vielen Dank.
({8})
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, wir sprechen hier heute nicht über die Gemeindefinanzreform,
sondern über die Rechtsetzung der Europäischen Union
und die Fortentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung.
({0})
Die kommunale Selbstverwaltung hat in Deutschland eine lange Tradition. Die Machtfülle der Hansestädte
und der Freien Reichsstädte des Mittelalters und der Neuzeit ist ein gutes Zeugnis dafür. Diese Selbstverwaltungstradition wurde zugunsten der zentralisierten Territorialstaaten immer mehr zurückgedrängt. Ein Kernbestand
blieb allerdings immer erhalten und fand als Selbstverwaltungsgarantie in den deutschen Verfassungen seinen
Niederschlag.
Heute wird das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen von vielen Seiten bedroht. Herr Kollege Bertl, wären
Sie gestern beim Deutschen Städtetag gewesen und hätten
Sie die Vorträge von vier namhaften Kämmerern aus
Großstädten gehört, würden Sie hier heute nicht so reden.
Sie wüssten dann, wie es mit der Selbstverwaltung bestellt
ist, nämlich so miserabel wie noch nie.
({1})
Da die Kommunen unter der finanziellen Last der
staatlichen Aufgaben in die Knie gehen, sind die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die das Selbstverwaltungsrecht nach Art. 28 Grundgesetz garantiert, häufig nicht mehr wahrnehmbar. Kommunale Demokratie
kommt zum Erliegen. Es gibt keine Gestaltungs- und
Handlungsspielräume mehr.
({2})
Ich erwähne diese Seite, weil sie unausweichlich mit
der zentralen Problematik der vorliegenden Großen Anfrage zu tun hat. In der Europapolitik kann lediglich die
Bundesregierung verhandeln. Die Länder sind über
Art. 23 Grundgesetz und das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union an dem Verhandlungsprozess beteiligt.
Daher findet sich hier die gleiche Konstellation wie zumeist auf nationaler Ebene. Die Kommunen müssen auch
auf europäischer Ebene mehr oder minder tatenlos zusehen, wie an höherer Stelle über ihre Leistungsfähigkeit
verfügt wird. Die Schuld dafür Europa zuzuschieben und
sie dort zu suchen ist ebenso populistisch wie falsch.
Wenn der Bundeskanzler die Kommission dafür brandmarkt, dass sie ein gesamtstaatliches Defizit rügt, das die
Bundesregierung durch Belastung von Ländern und
Kommunen wesentlich selbst verursacht hat, dann ist
auch das Populismus.
({3})
Um nicht in einen solchen Populismus zu verfallen,
müssen wir konstatieren, dass die Mängel im System weniger auf europäischer Ebene, sondern vielmehr im
nationalen Abstimmungsprozess liegen. Solange das
europäische Parlament nicht über die Rechtsetzung entscheidet, sind es die Mitgliedstaaten, die dazu befugt sind.
Bei uns ist es eine nationale Aufgabe, nach vorangegangener Interessenabwägung mit einer Stimme zu sprechen.
Die Regierungen anderer Mitgliedstaaten können sich
nämlich ebenso wenig für die Belange der nordrheinwestfälischen Kommunen interessieren, wie sich unsere
Regierung - und letztlich auch wir - für die besonderen
Probleme von Aarhus, Antwerpen oder Avignon interessieren würde.
Deshalb müssen die Mitwirkungsrechte an den Verhandlungsprozessen auf nationaler Ebene gestärkt werden. Art. 23 Grundgesetz und das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der
Europäischen Union reflektieren die innerstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen. Dadurch werden die Rechte
der Länder abgesichert. Eine Mitwirkung der Kommunen
ist aber nicht vorgesehen. Der Abstand der Kommunen
zur europäischen Ebene ist noch größer als bei Gesetzgebungsvorhaben auf Bundesebene. Um eine Anbindung
der nationalen Position, der einheitlichen Stimme, an die
Interessen der Gemeinden zu erreichen, müssen die Kommunen besser in diesen Prozess eingebunden werden.
Die Missachtung der Kommunen rührt aus einer Fehleinschätzung her, nämlich der, dass die Kommunen nicht
viel mit den Rechtsakten der EU zu tun hätten. Die Kommunen führen aber einen guten Teil der Bundes- und
Landesgesetze aus. Damit sind sie ganz wesentlich am
Umsetzungprozess europäischer Rechtsakte beteiligt.
Deshalb ist es entscheidend, dass sie im Vorfeld auch Einfluss nehmen können.
({4})
Wie notwendig eine Einbindung der Kommunen in den
vorbereitenden Prozess ist, zeigt die vorliegende Große
Anfrage. Sie zeigt die verschiedenen Politikfelder auf, an
denen die Kommunen mitwirken und von denen sie
betroffen sind. Geht man der Sache auf den Grund, erkennt man, dass der Kern des Problems darin liegt, dass
das Subsidaritätsprinzip auf europäischer Ebene nicht
konsequent eingehalten wird. Dieses in Art. 5 des EGVertrages niedergelegte Prinzip sieht vor, dass Angelegenheiten auf der Ebene geregelt werden, die dazu am
besten in der Lage ist. Dies ist jedoch keineswegs der Fall.
Die Abgrenzung der Kompetenzen funktioniert nicht. Mit
konsequenter Anwendung des Subsidaritätsprinzips würden viele Materien auf die Ebene der Mitgliedstaaten
zurückgeführt und dort zu regeln sein. Über die nationale
Kompetenzverteilung, also insbesondere die Selbstverwaltungsgarantie, haben die Kommunen an dieser Zuweisung teil.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, stärker auf die Einhaltung des Subsidaritätsprinzips auf europäischer Ebene zu dringen. Nur wenn
sich in Zukunft die Kompetenzen der verschiedenen Ebenen der Europäischen Union - Bund, Länder und Kommunen - sauber trennen lassen, besteht Hoffnung, dass
auch der nationale Vorbereitungsprozess entlastet wird.
({5})
Gestern hat der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union seine Arbeit aufgenommen. In der Sache
wird es nicht wenig sein, was der Europäische Konvent
leisten muss. Er kann - besser gesagt, er muss - daran
mitwirken, dass auch die Kommunen und ihre berechtigten Interessen nicht nur wahrgenommen, sondern auch
umgesetzt werden. Es geht um eine sachgerechte Kompetenzordnung. Sie kann nur dann auf dem richtigen Weg
sein, wenn Kompetenzen nicht immer und zunehmend
nur in eine Richtung, nämlich nach Brüssel, wandern,
sondern auch den umgekehrten Weg einschlagen können,
oder -noch besser -, wenn sie den Kommunen und Regionen gar nicht erst entwunden werden.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist
der Kollege Gerald Häfner für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Art. 28 unseres Grundgesetzes sagt:
Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein,
alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im
Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.
Das ist ein klares Bekenntnis zu einer lebendigen, praktizierten Demokratie, in der so viel wie möglich so nahe als
möglich bei den Menschen entschieden wird und nicht
umgekehrt. Die Gemeinden sind also nach unserem
Grundgesetz nicht Befehlsempfänger und auch nicht nur,
wie das manche vielleicht gern hätten und wie das in anderen Mitgliedsländern der EU teilweise der Fall ist, lediglich schwache Verwaltungseinheiten, sondern sie sind
Organe der Selbstverwaltung und damit auch Hort und
Keimzelle einer von unten nach oben sich entwickelnden
Demokratie.
Darin kommt ein sehr modernes Gestaltungsprinzip
und ein klares Bekenntnis zur Demokratie und zur Selbstverwaltung zum Ausdruck. Es ist aber nicht nur modern,
sondern zur gleichen Zeit auch sehr alt. Ich glaube schon,
dass es, wenn wir diese Debatte führen, berechtigt und
wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass die Demokratie, so
wie wir sie heute in Europa kennen, in den Städten, in den
Kommunen entstanden und gewachsen ist, dass auch dieses Europa, so wie wir es lieben, eigentlich seinen Kern,
sein Zentrum in den Kommunen, in den Städten hat. Dort
und von dort aus haben sich erst die Idee des freien Bürgers und der Bürgerrechte, die Demokratie, aber auch die
moderne Form der Marktwirtschaft ebenso wie unsere
Vorstellung eines europäischen Sozialmodells entwickelt.
All dies verdankt seine Entstehung den Kommunen, ganz
besonders wie schon gesagt, die Demokratie selbst, die
schon vor 2 500 Jahren in der griechischen Polis entstanden ist und sich dort und danach im Mittelalter erst allmählich über die Städte hinaus auf die gesamtstaatliche
Ebene hin entwickelt hat.
Insofern ist auch die Demokratie nicht, wie so oft behauptet wird, nur die bestmögliche aller schlechten Regierungsformen, sondern die heute einzig mögliche Regierungsform, indem sie von der Freiheit und Würde des
Individuums, von dem Prinzip der Selbstbestimmung und
von dem Gedanken der Gleichheit aller vor dem Recht sowie beim Zustandekommen des Rechts ausgeht. Sie ist
und bleibt die einzige für uns überhaupt denkbare Regierungsform, sofern wir uns darüber einig sind - auch wenn
das heute immer öfter angezweifelt wird -, dass der
Mensch ein freies, selbstbestimmtes, würdiges und
gleichberechtigtes Wesen sein soll und ist.
Damit ist nicht nur die Bedeutung von Demokratie unterstrichen, sondern zugleich auch klar: Demokratie entsteht und wächst von unten. Ihr Vorhandensein ist also
nicht nur eine Frage des Verfahrens, sondern auch der
Größe, der Nähe zu den Entscheidungen, der Diskurs- und
Kommunikationsmöglichkeiten. Deshalb müssen wir
aufpassen und sollten uns davor hüten, alles immer weiter nach oben, von den Bürgerinnen und Bürgern weg, zu
delegieren, alles immer zentraler zu regeln. Es ist vielmehr wichtig, dass so viele Entscheidungen wie möglich
so nahe wie möglich bei den Menschen getroffen werden
können, also dort, wo die Menschen die Verhältnisse kennen und auch die unmittelbaren Auswirkungen der Entscheidungen beurteilen können.
Ich bin, wie meine Fraktion ein glühender Europäer,
Anhänger einer weiter gehenden Vergemeinschaftung in
all den Bereichen, in denen das notwendig und sinnvoll
ist, ganz besonders im Bereich des Binnenmarktes, wo
wir ja schon weit vorangekommen sind. Wenn etwas
heute nicht mehr national geregelt werden kann, dann sind
das Fragen der Wirtschaftspolitik. Hier ist die Kritik
- meine Kritik jedenfalls - ja eher schon nicht die, dass
wir die Dinge heute nicht mehr national entscheiden können, sondern dass auch Regelungen auf europäischer
Ebene nicht mehr ausreichen und wir diese Fragen immer
mehr global sehen und entscheiden müssen.
Andere Bereiche notwendiger Vergemeinschaftung
sind Teile der Außen- und Sicherheitspolitik und insbesondere das Umweltrecht, weil Umweltschäden eben
nicht Halt machen vor Grenzen. Deswegen dürfen auch
die Gesetze hier nicht Halt machen.
Aber jede solche Vergemeinschaftung geht eben auch
einher mit einem Verlust an unmittelbarer Beteiligung der
Menschen. Die Legitimationskette, aus der sich Entscheidungen ableiten, wird dünner und dünner und die Mitwirkungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger wird damit geringer. Daraus folgt meines Erachtens, dass wir in
demselben Maße, in dem wir gerade auch Europa weiterentwickeln wollen, die Basis, die Ebene, aus der dieses
Europa wächst, das heißt insbesondere auch die kommunale Selbstverwaltung, stärken und weiterentwickeln
müssen.
Vor diesem Hintergrund halte ich es in der Tat für einen Mangel der bisherigen Verträge, dass das Recht auf
kommunale Selbstverwaltung auf europäischer Ebene
bislang nicht ausreichend verankert ist. Das ist ein Fehler, den wir gerade jetzt korrigieren können. Insofern ist
es mir ein Rätsel, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion, wie Sie in einer Situation, in
der wir alle, was das Recht auf Selbstverwaltung und die
Interessen der Kommunen im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess betrifft, ein gemeinsames Anliegen haben und an einem Strang ziehen sollten, dies als
Wahlkampfthema zu missbrauchen versuchen.
({0})
Lassen Sie uns doch vielmehr gerade jetzt, da mit dem
Zustandekommen des Konvents über eine europäische
Verfassung erstmalig die Chance gegeben ist, dies in
rechtlich verbindlicher Weise in der europäischen Verfassung zu verankern, all das tun, was wir dazu beitragen
können, damit das Recht der Kommunen auf Selbstverwaltung darin verankert wird. Dabei können wir alle mithelfen. Dazu können Sie beitragen, die Fraktionen, das
Parlament im Ganzen, die Länder und die Regierung.
Auch die Kommunen und ihre Bündnispartner in anderen
Ländern können dazu beitragen.
Wenn wir schon bei diesem Punkt sind, meine ich, dass
es Erwähnung verdient und als Teil der Beschreibung des
jetzigen Status wichtig ist, dass das Problembewusstsein
der Akteure und Organe der EU in diesem Bereich in jüngerer Zeit deutlich gewachsen ist. In der Mitteilung
„Wege zur Stadtentwicklung in der EU“ von 1997 etwa
hat sich die Europäische Union das erklärte Ziel gesetzt,
die städtische Ebene immer stärker in die Entwicklung
und Durchführung der jeweiligen europäischen Politiken
einzubeziehen. Im Weißbuch „Europäisches Regieren“
vom 25. Juli vergangenen Jahres unterstreicht die Kommission mit bislang ungehört deutlichen Worten die besondere Rolle der Städte und Kommunen im europäischen
Einigungsprozess und entwickelt darin das Bild eines
Netzwerks von ineinander und miteinander verschränkten
politischen Ebenen anstelle der klassischen, rein hierarchischen Betrachtungsweise von oben nach unten.
Auch in der Präambel der EU-Grundrechte-Charta
ist bereits auf die lokale Ebene Bezug genommen worden,
allerdings nicht in verbindlicher Weise. Deswegen ist jetzt
beim Konvent, beim Zustandekommen der europäischen
Verfassung, erstmalig die Chance gegeben, dies endlich
rechtlich verbindlich zu verankern. Dafür möchte ich
mich deutlich aussprechen und Sie dazu auffordern, gemeinsam über die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu versuchen, das zu erreichen.
Ein anderer wunder Punkt ist, dass im Ausschuss der
Regionen auf europäischer Ebene nur drei der 24 von
Deutschland gestellten Delegierten, Vertreter der Kommunen sind. Auch das erscheint mir viel zu wenig. Dabei
handelt es sich um eine Frage, die sich auch bzw. zuvörderst an die Länder und nicht nur an den Bund richtet. Wir
sollten die Länder, die Sie hier mit vertreten, dazu auffordern, die Kommunen stärker zu gewichten und zu berücksichtigen.
({1})
Auch wenn die Zeit nicht mehr ausreicht, lassen Sie
mich doch noch kurz auf zwei Punkte eingehen. Ein Punkt
ist die Frage der kommunalen Selbstverwaltung und der
Daseinsvorsorge. Ich halte es für gut, wenn wir eingefahrene Strukturen in vielen Bereichen aufbrechen. Insbesondere Monopole haben sich häufig für effiziente und
moderne Methoden, Verfahren und Techniken zur Bewältigung der anstehenden Probleme als nicht hilfreich erwiesen. Beispielsweise war die Liberalisierung des Energiemarktes eine wichtige Voraussetzung auch für den
Marktzugang alternativer Energien. So ist es auch in vielen anderen Bereichen wichtig, solche Monopolstrukturen infrage zu stellen.
Es scheint mir aber nicht ausreichend und auch nicht
immer im Interesse der Menschen, überall dort, wo es bisher zentralistische und bürokratische Träger und Lösungen gab, Private an deren Stelle zu setzen, die diese Aufgaben mit einer ganz anderen Gewichtung und unter
anderen Gesichtspunkten - nämlich mit der Absicht der
Gewinnerzielung - in Angriff nehmen. Nicht in allen Bereichen ist das vertretbar. In der kommunalen Daseinsvorsorge geht es ja in hohem Maße auch um ökologische
und soziale Fragen oder zum Beispiel auch um die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Es geht auch
um die demokratische Frage, wieweit die Bürgerinnen
und Bürger zukünftig überhaupt noch die Möglichkeit haben, zum Beispiel über den öffentlichen Verkehr vor Ort,
die Wasserversorgung und andere Fragen mitzubestimmen und zu entscheiden. Mir scheint, dass es hier nötig
ist, mehr auch über alternative Modelle nachzudenken,
die sich jenseits dieser Dichotomie - hier privat und dort
Aufgabendurchführung durch eine Behörde - entwickeln
können und teilweise auch schon entstehen. Solche Modelle verbinden die freie Initiative und die persönliche
Verantwortung mit öffentlicher Kontrolle und Transparenz sowie mit der Orientierung am Gemeinwohl.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Gedanken ansprechen: Mir scheint der Kampf der Kommunen für eine
Sicherung und Stärkung ihres Rechts auf Selbstverwaltung, den wir mit ihnen gemeinsam fechten sollten, dann
berechtigt und sinnvoll zu sein, wenn auch in den Kommunen selbst das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger ernst genommen und ausgebaut wird.
({2})
Hier haben wir sehr erfreuliche Entwicklungen. Gerade
die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid
führte nicht, wie viele auch im Bayerischen Städtetag und
im Bayerischen Gemeindetag befürchtet haben, dazu,
dass die Städte unregierbar würden. Im Gegenteil: Gerade
auch der Bayerische Städtetag und der Gemeindetag haben mittlerweile erkannt, dass sich die Bürger seit der Einführung dieses Instruments wieder viel stärker mit ihrer
Gemeinde identifizieren und sich stärker engagieren und
in das Gemeinwesen einbringen. Auf diesem Weg sollten
wir meines Erachtens weitergehen, statt uns in absurder
Weise im Wahlkampf über Aufgaben zu streiten, die wir
gemeinsam anzupacken haben und für die gerade jetzt die
Gelegenheit ausgesprochen günstig ist.
Ich danke Ihnen.
({3})
Jetzt spricht der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel für die Fraktion der PDS.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und liebe Kollegen! Schon jetzt haben bis zu
70 Prozent der Entscheidungen der Europäischen Union
Auswirkungen auf die Städte, Gemeinden und Landkreise. Gerade aber auf der kommunalen Ebene erleben
Bürgerinnen und Bürger die Vertrauenskrise der Europäischen Union. Das sage ich auch in Richtung des Kollegen Bertl. Immer offensichtlicher wird - das ist eine
aktuelle Einschätzung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes -, dass sich die Europäische Union mit
ihren Entscheidungen zum Teil bis in die Details der
Kommunalpolitik einmischt. Auf diese Weise werden
Grundlagen kommunaler Selbstverwaltung generell ausgehöhlt.
({0})
Das dürfen wir über alle Fraktionen hinweg nicht hinnehmen.
Solche Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltung und Selbstbestimmung betreffen vor allem die
öffentliche Daseinsvorsorge, den Umweltschutz, die Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung sowie die Liberalisierung der Stromversorgung und des öffentlichen
Personennahverkehrs. Sie betreffen auch die momentan
laufende Auseinandersetzung über ein so genanntes
EU-Weißbuch zu „New Governance“, Verwaltungskultur,
die Geldvergabe über Strukturfonds der Europäischen
Union, technische DIN-Normen und den Katastrophenschutz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf immer mehr Feldern müssen Rathäuser und Landratsämter teilweise
kleinliche Vorgaben aus Brüssel in Rechnung stellen. Die
Gestaltungsfreiheiten kommunaler Vertretungen werden
auf diese Weise eingeschränkt. Bürgerinnen und Bürger
und ihre Vereine haben zunehmend das Gefühl, mit ihren
örtlichen Initiativen gerade durch EU-Rechtsetzungsvorhaben immer mehr bevormundet zu werden. Das ist kein
Zeichen für lokale Demokratie; Änderungen sind auch
hier dringend geboten.
Die Bundesregierung kommt in ihrer Antwort auf die
Große Anfrage, die immerhin schon ein Jahr alt ist, nicht
umhin, anzuerkennen, dass Rechtsetzungsakte der
EU/EG Belastungen für die kommunale Selbstverwaltung
bringen. Das hat die Regierung bestätigt. Sie ist sich aber
wohl nur in Ansätzen ihrer Verantwortung bewusst, dafür
Sorge zu tragen, dass im Rahmen der EU die Belange der
Kommunen genügend berücksichtigt werden. Hierfür
muss sie sich stärker einsetzen. Der Ausschuss der Regionen, dessen Mitwirkungsrechte nach Auffassung der PDS
vehement gestärkt werden sollten, kann dies allein nicht
erfüllen.
Die PDS-Fraktion erwartet von der Bundesregierung
ein größeres Engagement für die langfristige Sicherung
kommunaler Daseinsvorsorge.
({1})
Gerade in Deutschland sind traditionell die Städte, Gemeinden und Landkreise die wichtigsten Träger der Daseinsvorsorge. Damit die Kommunen dieser Verantwortung bei der Versorgung mit Energie oder Wasser, beim
ÖPNV oder bei der Abfallentsorgung entsprechen können, müssen sie auch künftig Rechtssicherheit und lokalen Gestaltungsspielraum haben. Für sehr viel Unruhe
sorgt - das wissen die Kommunalpolitikerinnen und
-politiker - die vorgesehene Änderung der EU-Verordnung 1893/91, nach der sämtliche Verkehrsleistungen im
ÖPNV EU-weit auszuschreiben sind. Würde diese RechtGerald Häfner
setzung zustande kommen, wäre das das Aus für viele
ortsansässige Unternehmen. Das darf nicht zugelassen
werden.
({2})
Nicht hinnehmbar ist auch der Beschluss des Europäischen Rates von Laeken, im Bereich der Daseinsvorsorge
neue Kompetenzen auf europäischer Ebene festzuschreiben und die bestehenden Kompetenzen den Kommunen
wegzunehmen. Diese Aufgaben werden in aller Regel
durch die Kommunen bürgernah wahrgenommen. Deshalb fordern wir von dieser Stelle aus: Hände weg von einer Verlagerung dieser Kompetenzen auf die europäische
Ebene! Sie müssen dort verbleiben, wo sie in aller Regel
effektiv und bürgernah vollzogen werden - auf der kommunalen Ebene.
Es ist grundsätzlich festzustellen, dass die Bundesregierung mit der Aussage Recht hat, dass das kommunale
Selbstverwaltungsrecht durch Förderprogramme der
Europäischen Gemeinschaft durchaus gestärkt werden
kann. Aber ich möchte hier das Gewicht auf „kann“ legen.
Denn einerseits bringt die verwirrende Vielfalt der Programme nicht wenige Probleme für Übersicht und Koordination; andererseits - das scheint mir besonders wichtig
zu sein - nimmt die Anzahl der Kommunen sprunghaft zu,
die nicht mehr in der Lage sind, den notwendigen Eigenanteil bei der Inanspruchnahme der Förderprogramme
aufzubringen. Somit verpuffen diese Förderprogramme.
Die Bundesregierung sollte, um diesen Notstand zu beseitigen, endlich in eine Reform der Kommunalfinanzierung einsteigen. Dreieinhalb Jahre Nichtstun sind zu viel
und die bloße Ankündigung, dass man in wenigen Tagen
eine Kommission einsetzen werde, ist zu wenig.
Ich komme zum Schluss. Der heutige 1. März 2002, an
dem der EU-Konvent unter Vorsitz von Valéry Giscard
d’Estaing tagt, sollte auch das Signal aussenden, dass die
Zeit für nachhaltige Schritte zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in der Bundesrepublik und in allen
übrigen und künftigen EU-Mitgliedstaaten überreif ist.
Kommunalpolitik als gelebte Dezentralität und Bürgernähe muss endlich auch eine europäische Größe werden - im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist
der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren Kollegen! Im Prinzip ist zu
der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU von
meinem Kollegen Hans-Werner Bertl das Notwendige gesagt worden.
({0})
- Ich werde gleich zwar nicht zu Ihnen, aber zu einem anderen Kollegen kommen. Ein paar Dinge müssten hier,
glaube ich, klargestellt werden.
Herr Götz hat sich in Anbetracht des bevorstehenden
Termins der bayerischen Kommunalwahlen in über zwei
Dritteln seiner Redezeit mit anderen Fragen befasst als
denjenigen, auf die in der Antwort Bezug genommen
wurde. Herr Kollege Götz, da wir noch nicht das Vergnügen hatten, uns persönlich kennenzulernen, und ich in
Ihren Ausführungen nur bedingt die erforderliche Sachkunde eines aktiv handelnden Kommunalpolitikers
habe wahrnehmen können, habe ich mir erlaubt, im
„Kürschner“ nachzuschlagen, und habe festgestellt, dass
Sie sowohl Stadtrat als auch Bürgermeister waren.
({1})
Zum Teil waren wir sogar zu der gleichen Zeit Kollegen.
Aber ich habe mich bei Ihrer Rede gefragt: Von welcher
Zeit redet dieser Mann und von welcher Sache redet er?
Ich habe in der Zeit von 1985 bis 1997
({2})
- dazu komme ich gleich noch - zwölf Haushalte und
auch Nachtragshaushalte als Kämmerer und gleichzeitig
als Dezernent verantworten dürfen. Ich will Ihnen sagen,
wie sich die kommunalen Finanzen entwickelt haben
und wo die Ursachen dafür lagen. Die Tatsache, dass die
Finanzen der Kommunen in ihrer Eigenschaft als Sozialhilfeträger regelrecht stranguliert worden sind, dass sich
der Zuschuss beim Einzelplan 04 in den Jahren 1985 bis
1997 geradezu verdoppelt hat, hat eine einzige Ursache:
({3})
nämlich dass immer mehr Langzeitarbeitslose keine
Leistungen des Arbeitsamtes, sondern Sozialhilfe bezogen haben.
({4})
Erst als meine Kommune und mein Kreis damit begonnen
haben, selber eine aktive Beschäftigungspolitik zu betreiben, und umfangreiche Programme, die Hilfen zur Arbeitsaufnahme bieten, aufgelegt haben, hat es eine Änderung dieser Tendenz gegeben. Ich weiß von meinem
Nachfolger im Amte, dass im Grunde genommen erst mit
dem Haushalt 1999 dieser Trend in Richtung eines immer
größeren Zuschusses nachgelassen hat. Die Ursachen sind
also: Langzeitarbeitslosigkeit, fehlende Arbeitsplätze und
gestiegene Aufwendungen bei der Sozialhilfe. Dabei sind
übrigens die Risiken und die Lasten unterschiedlich auf
die Kommunen verteilt.
Wenn man die Haushalte des Bundes, der Länder und
der Kommunen miteinander vergleicht, dann stellt man
fest, dass der Anteil der Schulden am Bundeshaushalt
ungefähr doppelt so hoch ist wie der an den Kommunalhaushalten. Die Länderhaushalte liegen dazwischen.
Natürlich ist die Situation in den einzelnen Kommunen
sehr unterschiedlich. In meinem Wahlkreis beispielsweise
ist es so, dass es im so genannten Speckgürtel der Kreisstadt noch immer Städte und Gemeinden gibt, die aufgrund von Gewerbeansiedlungen und daraus folgenden
hohen Steuereinnahmen aus den Überschüssen von drei
Verwaltungshaushalten ganz leicht ein Bürgerhaus für
5,5 Millionen bauen könnten. Es gibt aber auch Städte und
Gemeinden, die nicht einmal die Kreisumlage aufbringen
können, ohne defizitär zu werden.
Die Situation der Kommunen in Deutschland ist also
sehr unterschiedlich, weil die Lasten unterschiedlich verteilt sind. Die Ursachen dafür sind neben Langzeitarbeitslosigkeit - das ist die eigentliche Ursache -, dass der
Zuschussbedarf, den die Kommunen als Träger der Sozialhilfe in den Einzelplänen 4, Soziales, haben, nur in unzureichendem Maße durch die jeweiligen Länder gedeckt
wird. Die Länder decken im Rahmen des Sozialhilfelastenausgleichs präterpropter gerade einmal ein Drittel
dieses Zuschussbedarfs. Auch das ist eine Ursache für die
unterschiedliche Situation der Kommunen.
Lassen Sie mich nun auf das eigentliche Thema zu
sprechen kommen, nämlich die Fortentwicklung der
kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland im Rahmen von Rechtsetzung der Europäischen Union. Selbst
die alte Bundesregierung, die ich wegen ihrer schlechten
Arbeitsmarktpolitik - eigentlich hat eine solche gar nicht
stattgefunden - und ihrer unzureichenden Wirtschaftspolitik sonst immer schelten muss, hat genau wie die jetzige
Regierung - das habe ich auch, als ich noch
Kommunalpolitiker war, immer anerkannt - garantiert,
dass die öffentliche Daseinsvorsorge in Deutschland
trotz aller Vorgaben aus Brüssel gewährleistet bleibt. Alle,
die in der Kommunalpolitik oder in den Gremien von
kommunalen Energieversorgungs- und Verkehrsunternehmen tätig waren, wissen, dass die Zeit dieser Unternehmen, und zwar von der Waterkant bis in den Voralpenbereich, vorbei wäre, wenn die Frage der
Quersubventionierung oder des durch die Binnengesetzgebung zu regelnden steuerlichen Querverbundes anders beantwortet würde. Das darf nicht geschehen. Ich
mache mir deshalb in der Tat Sorgen, wenn ohne Rücksicht auf soziale Standards und Tarifverträge beispielsweise Verkehrsleistungen ausgeschrieben würden. Ich bin
guter Hoffnung, dass die jetzige Bundesregierung - genauso wie seinerzeit die ehemalige - ihre Garantenstellung gegenüber den Kommunen wahrnehmen wird.
Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt zu sprechen
kommen, nämlich auf das Sparkassenwesen und die Landesbanken. Hier muss man differenzieren: Es ist sicherlich sinnvoll - das möchte ich gerne einräumen -, die derzeitige Rechtsform der Sparkassen mit Anstaltslast und
Gewährträgerhaftung zu erhalten. Bei den Landesbanken
bin ich anderer Meinung. Diese betreiben weitestgehend
Universalbankgeschäfte und erzielen den größten Teil des
Deckungsbeitrags, aufgrund dessen sie den Kommunen
verbilligte Kredite gewähren können, im so genannten
Wertpapiereigenhandel. Ich vermag deshalb nicht einzusehen, warum beispielsweise für Warentermin- oder Devisengeschäfte der Landesbanken die letzte Gemeinde des
Sparkassenzweckverbandsgebiets haften soll. Das muss
man differenzierter regeln.
Herr Kollege Dr. Rössel, als ich noch in der Kommunalpolitik tätig war, habe ich nur wenig davon gemerkt,
dass es die kleinlichen Vorgaben aus Brüssel wären, die
kommunalpolitisches Engagement verhindern und den
Kommunalpolitikern die Gestaltungsmöglichkeiten nehmen. Das, was uns Kommunalpolitiker zum Teil den Spaß
an der Sache und auch die Möglichkeiten der Gestaltung
genommen hat, war vielmehr die ungünstige Entwicklung
des Zuschussbedarfs in Einzelplan 4. Damit bin ich wieder beim Ausgangspunkt: Die Ursache für die schlechten
kommunalen Finanzen war eine schlechte Arbeitsmarktund Wirtschaftspolitik. Das hat sich verändert.
Als ehemaliger Kommunalpolitiker bin ich guter Hoffnung, dass es uns in der nächsten Legislaturperiode gelingen wird, bei der Gemeindefinanzreform, die auch ich lieber heute als erst in der nächsten Legislaturperiode hätte,
ein entscheidendes Stück weiterzukommen und für notwendige Klarheit zu sorgen.
Zum Schluss möchte ich sagen: Vergessen wir alle bitte
nicht, dass die Bundesländer ihrerseits problemlos in der
Lage wären, durch Umstrukturierung im kommunalen Finanzausgleich die größten Belastungen für die Kommunen zu beseitigen. Aber angesichts der großen Zahl der
kreisangehörigen Städte und Gemeinden, die zumindest
jedes Flächenland aufzuweisen hat, überlegt sich jede
Landesregierung, egal welche politische Farbe sie hat, ob
sie sich mit vielen Hundert kleinen kreisangehörigen
Städten und Gemeinden oder mit den kreisfreien Städten
und den Landkreisen anlegt, deren Zahl - und manchmal
auch Bedeutung - geringer ist.
Ich hoffe, dass ich damit ein bisschen von dem richtig
gestellt habe, was Sie, Herr Kollege, über eine Zeit gesagt
haben, die wir beide als Kommunalpolitiker, wenn auch
als Mitglieder verschiedener Parteien, gemeinsam erlebt
haben. Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen.
Danke.
({5})
Herr Kollege, vielen
Dank für die Zeit, die Sie uns allen geschenkt haben.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Albert
Deß für die CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Peter Götz hat schon gesagt - es
ist auch von anderen angesprochen worden; wir alle wissen es -: Mehr als 60 Prozent aller Gesetzgebungsmaßnahmen der Europäischen Union wirken sich direkt oder
indirekt auf unsere Kommunen aus. Bei allen Entscheidungen in Europa muss der Gedanke der Subsidiarität
gerade im Hinblick auf unsere Kommunen gewahrt bleiben bzw. noch stärker verwirklicht werden.
({0})
Die Entwicklungen in Europa werden wir genau im
Auge behalten. Europa muss von unten her gestaltet werden. Die Bürger müssen die Chance haben, an ihrem Europa mitzubauen. Nur so wird die Akzeptanz des weiteren
Einigungsprozesses langfristig gewährleistet sein. Die
kommunale Selbstverwaltung muss in einem EU-VerRüdiger Veit
tragswerk verankert werden, damit die Stellung der Kommunen in Europa auch langfristig gesichert ist.
Wir stehen zu Europa. Ein starkes Europa braucht aber
auch starke Kommunen. Das CSU-regierte Bayern und
auch das CDU/FDP-regierte Baden-Württemberg, um nur
zwei unionsgeführte Bundesländer zu nennen, unterstützen
ihre Kommunen wesentlich stärker, als dies bei rot, rot-grün
oder rot-dunkelrot regierten Bundesländern der Fall ist.
({1})
Nur so sind die Kommunen in der Lage, die Herausforderungen der Zukunft wirkungsvoll zu bewältigen. Der
bayerische Finanzminister sorgt für eine gute Finanzausstattung der bayerischen Kommunen. Die Leistungen des
Landes wurden im Vergleich zum Vorjahr um 3,1 Prozent
erhöht.
({2})
Davon können SPD-regierte Bundesländer nur träumen.
Weder die Bayerische Staatsregierung noch andere
Bundesländer können aber das ausgleichen, was RotGrün den Kommunen durch eine völlig verfehlte Politik
zumutet.
({3})
Wegen einer völlig verfehlten Steuerpolitik und aufgrund
der schlechten Konjunktur stehen viele Kommunen heute
vor massiven Haushaltsproblemen.
Die rot-grünen Bundesgesetze haben zu massiven Einbußen bei den kommunalen Haushalten geführt.
({4})
Nach Angaben der kommunalen Spitzenverbände sanken
die kommunalen Einnahmen 2001 um mehr als 4 Milliarden Euro. Die kommunalen Steuereinnahmen gingen um
5,5 Prozent zurück. Die Investitionszuweisungen von
Bund und Ländern sanken um 4 Prozent.
Trotz sinkender Einnahmen haben die Kommunen zusätzliche Aufgaben bekommen, die mit Kosten verbunden
sind. Stark angestiegen sind die Kosten im Sozialbereich.
Pflegefälle werden trotz der Pflegeversicherung zunehmend wieder zu Sozialhilfefällen, weil die Kosten für die
Pflege in den Einrichtungen kontinuierlich steigen. Andere auf die Kommunen verschobene Mehrkosten im Sozialbereich belasten die Haushalte mit mehr als 1 Milliarde Euro zusätzlich.
Ein krasses Beispiel für die Verlagerung von Kosten
auf die Kommunen ist die Rentenreform. Allein diese Reform belastet die Kommunen bis zum Jahre 2008 mit circa
8 Milliarden Euro. Kosten und Steuerausfälle hat die
rot-grüne Bundesregierung auf die Kommunen verlagert,
die unter anderem für die Einrichtung der neuen Grundsicherungsämter verantwortlich sind.
Die BSE-Krise war Anlass für ein Bundesgesetz, dessen Kosten die Kommunen weitgehend zu tragen haben.
Die kommunalen Schlachthöfe müssen die Kosten der
Abfallentsorgung tragen und viel Geld in neue Investitionen stecken. Dazu kommen die Kosten für zusätzliches
Personal und die Entsorgung von Klärschlamm. Die Ausbringung auf landwirtschaftliche Flächen ist nur noch eingeschränkt möglich und wird wahrscheinlich auf längere
Sicht gesehen vollkommen eingestellt werden müssen.
Unsere Kommunen tragen erhebliche Lasten bei der
Ausländerintegration. Dazu gehören nicht nur die Förderung von Ausländerorganisationen, sondern auch die
Durchführung von Sprachkursen, Maßnahmen zur Stadtplanung oder die Förderung von gemischten Verbänden
und Vereinen. Hinzu kommt, dass die Arbeitslosigkeit
- das haben wir heute schon gehört - unter Ausländern doppelt so hoch ist wie die unter der deutschen Bevölkerung.
Auch im Asylrecht sind wir an die Vorgaben aus Brüssel gebunden. Die Regierung Schröder schafft es aber
nicht, dass es zu einer Regelung kommt, mit der die Asylbewerber gerecht auf die Mitgliedstaaten verteilt werden.
({5})
Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen brachte dem
Bund Rekordeinnahmen in Höhe von circa 50 Milliarden
Euro. Im Gegensatz dazu müssen die Kommunen mit beträchtlichen Steuerverlusten zurechtkommen. Unternehmen schreiben die von ihnen ersteigerten Lizenzen ab und
vermindern dadurch ihre Gewinne, was zu massiven Steuerausfällen bei den betroffenen Kommunen führt.
Die rot-grüne Bundesregierung hat eine Steuerreform
auf den Weg gebracht, die die Basis der Gewerbesteuer
aushöhlt. Die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage wurde
damit begründet, dass die Kommunen von den erhöhten
Steuereinnahmen, die durch die Steuerreform zu erwarten
sind, profitieren. Es war eine Milchmädchenrechnung
von Herrn Eichel, dass durch die Verlängerung der Abschreibungszeiträume die Gewerbesteuereinnahmen steigen würden.
({6})
Herr Kollege Deß,
möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Die Kommunen spüren davon nichts; im Gegenteil.
({0})
Nach Angaben der kommunalen Spitzenverbände ist die
Entwicklung beim Gewerbesteueraufkommen beängstigend. Grund dafür ist nicht nur die schlechte Konjunktur, sondern auch die Tatsache, dass Kapitalgesellschaften
keine Steuern mehr zahlen. Wenn wir eine solche Steuerreform gemacht hätten, dann hätte Rot-Grün vor Ort
Mahnwachen abgehalten.
({1})
Die rot-grüne Steuergesetzgebung wirkt sich auf die
Kommunen katastrophal aus. Die Folge ist, dass Investitionen radikal zusammengestrichen werden müssen.
Weniger Investitionen der Kommunen bedeuten auch weniger Arbeit für die Betriebe und damit steigende Arbeitslosigkeit. Ein fataler Kreislauf, den die rot-grüne Bundesregierung auf den Weg gebracht hat!
Die Gestaltungsmöglichkeiten für die Kommunen
werden immer geringer. Gespart wird jetzt vor allem an
der Kultur, an sozialen Einrichtungen, an der Unterstützung von Verbänden und Vereinen - gespart wird
schlichtweg an der Lebensqualität.
Die CDU/CSU-Fraktion steht zu einem starken Europa. Ein starkes Europa braucht starke Kommunen. Deshalb fordert die CDU/CSU-Fraktion, dass legale Steuerschlupflöcher für die Kapitalgesellschaften nicht zulasten
der Kommunen genutzt werden können, dass die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage zurückgenommen
wird, dass das Gemeindefinanzsystem überprüft wird und
dass die kommunale Finanzausstattung als Grundlage der
kommunalen Selbstverwaltung verbessert wird.
Wir haben mit dem Vertrag von Maastricht das Subsidiaritätsprinzip in den EU-Verträgen verankert. Dafür hat
die Union unter Helmut Kohl und Theo Waigel gesorgt.
({2})
Wir haben die Achtung der innerstaatlichen Gliederung
festgelegt. Im Konvent zur Zukunft Europas müssen
diese weichen Formulierungen konkretisiert werden.
CDU und CSU wollen, dass klare und eindeutige Formulierungen die kommunale Selbstverwaltung stärken. Die
Schröder-Regierung, deren Zeit abläuft, will das offensichtlich nicht. Wir fordern Sie auf, sich im Konvent für
die Sicherung unseres traditionellen Erfolgsmodells der
kommunalen Selbstverwaltung stark zu machen. Beginnen Sie bald damit! Bis zum 22. September bleiben Ihnen
nur noch 206 Tage.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
die Deutsche Bundesbank
- Drucksache 14/6879 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksachen 14/8390, 14/8413 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Dr. Barbara Höll
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht
- Drucksachen 14/7033, 14/7088 ({2})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 14/8389 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Binding ({4})
Dr. Barbara Höll
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/8391 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Hans-Eberhard Urbaniak
Antje Hermenau
Dr. Uwe-Jens Rössel
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({6}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen
eines Finanzkonglomerats und zur Änderung
der Richtlinien 73/239/EWG, 79/267/EWG,
92/49/EWG, 92/96/EWG, 93/6/EWG und
93/22/EWG des Rates und der Richtlinien
98/78/EG und 2000/12/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates
KOM ({7}) 213 endg.; Ratsdok. Nr. 08297/01
- Drucksachen 14/6508 Nr. 2.6, 14/8389 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Binding ({8})
Dr. Barbara Höll
Zum Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesbankgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die
Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Barbara Hendricks.
Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim
Bundesminister der Finanzen ({9}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Man darf zwar nicht auf einen
abgeschlossenen Tagesordnungspunkt zurückkommen,
aber ich möchte dem lieben Albert Deß doch sagen: Selbst
die Kommunalwahl von übermorgen erlaubt es nicht, eine
solche Litanei von Unwahrheiten und Halbwahrheiten
dem Hohen Hause vorzutragen.
({10})
Jetzt möchte ich mich dem vorliegenden Gesetzentwurf zuwenden. Mit dem heute hier zu verabschiedenden
Gesetz zur Reform der Bundesbankstruktur wird endlich
umgesetzt, was schon seit drei Jahren Realität ist, nämlich
dass die geldpolitische Zuständigkeit der Bundesbank
seit dem 1. Januar 1999 auf die Europäische Zentralbank
übergegangen ist. Wir sind also heute im Bundestag versammelt, um abschließend ein Gesetz zu beraten, mit dem
die Struktur der Bundesbank an die Realität angepasst
wird. Wir können nicht so tun, als habe die Bundesbank
dieselben Aufgaben wie noch vor drei Jahren.
Wir sorgen mit dem hier vorliegenden Gesetz, von dem
ich hoffe, dass es auch im Bundesrat nicht blockiert werden wird,
({11})
insbesondere auch dafür, dass die deutschen Interessen im
System der Europäischen Zentralbank angemessen vertreten werden. Wir sorgen dafür, dass die Deutsche Bundesbank künftig eine einheitliche Leitungs- und Entscheidungsstruktur erhält, die den Aufbau einer effizienten und
kostengünstigen internen Organisation ermöglicht. Darüber hinaus wird es bei der Deutschen Bundesbank
zukünftig größere Ausgabentransparenz und eine stärkere
Kostenkontrolle geben. Zudem wird gewährleistet, dass
das in der Fläche präsente Bundesbanksystem erhalten
bleibt; das heißt, die neuen Standorte der Hauptverwaltungen bleiben unter anderem als regionale Ansprechpartner
für die Kreditwirtschaft und die Unternehmen erhalten.
({12})
Ich sagte schon, ich erwarte, dass der Bundesrat der
Umsetzung dieser Kompromisse keine Steine in den Weg
legen wird. Diejenigen, die hier in diesem Hause oder
auch im Bundesrat nicht zustimmen wollen, unterscheiden sich nicht sehr von solchen, die für einen Heizer auf
einer E-Lok plädieren. Das müssen Sie sich wirklich vergegenwärtigen.
({13})
Mit dem zweiten heute hier zur Abstimmung stehenden
Gesetz werden entscheidende Reformen für den Erhalt
der Zukunftsfähigkeit des Finanzplatzes Deutschland
eingeleitet. Wir schaffen damit Voraussetzungen für eine
integrierte, wettbewerbsneutrale und stärker kapitalmarktorientierte Aufsicht über sektorübergreifende Verflechtungen und Risikotransfers, die es ja heute schon gibt
und vor denen wir die Augen nicht verschließen dürfen.
Die Aufsicht muss den tatsächlichen Entwicklungen am
Markt angepasst werden und darf ihnen nicht hinterher
hinken. Wir begegnen also drohenden Aufsichtsdefiziten
durch Kompetenzbündelung und sichern die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere im Vergleich mit dem Finanzplatz London und der dortigen Financial Services
Authority.
({14})
Wir erreichen Effizienzsteigerungen durch Verbundvorteile, und zwar durch Einführung risikoadäquater
wettbewerbsneutraler Standards, bei der Aufsicht über Finanzkonglomerate, bei der Überwachung von Finanzunternehmen, bei sektorübergreifend eingesetzten Riskmanagementmethoden sowie hinsichtlich Anzeigepflichten
und Informationsaustausch.
({15})
Zugleich erleichtern wir die Rekrutierung sowie den
effektiveren Einsatz von Experten durch Abkoppelung
des Etats der Aufsicht vom Bundeshaushalt; sie wird
zukünftig ausschließlich von den Instituten finanziert, die
der Aufsicht unterliegen. Sie sehen daran, dass den Instituten, die der Aufsicht unterliegen, diese Aufsicht so viel
wert ist, dass sie sie selber vollständig bezahlen wollen.
({16})
Früher haben sie sie zu 90 Prozent bezahlt, jetzt zahlen sie
sie zu 100 Prozent. Es gibt also keine Verknüpfungen
mehr mit dem Bundeshaushalt. Das wird vom Zentralen
Kreditausschuss und vom Bundesverband deutscher Banken begrüßt, da sie auf diese Weise auch besondere Experten heranziehen können, was aufgrund der bisherigen
Struktur nicht möglich war.
Wichtig ist die Einbeziehung der Bundesbank zur Erfassung von Systemrisiken und zur Gewährleistung von
Präsenz in der Fläche. Erstmals gibt es eine gesetzliche
Konkretisierung der Kooperation zwischen Bundesbank
und der Bundesanstalt sowie deren Einbindung in die laufende Bankenaufsicht. Durch Zuweisung der laufenden
Aufsicht über nunmehr alle Institute, das heißt auch über
die Großbanken, stärken wir die Rolle der Bundesbank.
Diese wird in der Regel durch die Hauptbereichsverwaltungen - das sind die bisherigen Landeszentralbanken durchgeführt.
Die Anhörung des Finanzausschusses des Bundestags
im November des vergangenen Jahres hat ergeben, dass
das Gesetzesvorhaben als notwendige Reaktion auf die
Marktveränderungen befürwortet wird. Das Konzept wird
bestätigt. Die Wirtschaft begrüßt im Interesse einer
besseren personellen Ausstattung die Abkopplung vom
Vizepräsidentin Petra Bläss
Bundeshaushalt und bekräftigt die Bereitschaft zur Kostenübernahme.
({17})
Das Konzept ist vom Internationalen Währungsfonds
und von der Europäischen Zentralbank begrüßt worden.
In den skandinavischen Ländern, in Großbritannien, in
Japan und in Australien bestehen bereits sektorübergreifende Aufsichtsbehörden. Die neue Bundesanstalt
wird ein kompetenter gleichwertiger Partner auch im internationalen Bereich werden. Der Trend zur integrierten
Finanzdienstleistungsaufsicht schreitet im Übrigen fort,
so in Irland, in Österreich und demnächst auch in der
Schweiz.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Bundesbankstrukturreform durch den Bundestag wird der Reformstau beseitigt, der hier zu beklagen war. In
Verbindung mit dem Gesetz über die integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht setzen wir ein wichtiges Signal für
den Finanzplatz Deutschland. Die Bundesregierung erwartet, dass sich auch der Bundesrat in seiner Sitzung im
März der Verantwortung für den Finanzplatz Deutschland
stellen wird und die Verabschiedung dieser beiden wichtigen Gesetze nicht verzögert.
Herzlichen Dank.
({18})
Für die CDU/CSUFraktion hat jetzt der Kollege Otto Bernhardt das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht bei dieser Debatte um zwei zentrale Gesetze, die den Finanzplatz
Deutschland betreffen. Es ist schade, dass wir diese Debatte am Freitagnachmittag führen. Eigentlich hätte die
Beratung dieser beiden zentralen Gesetze eine bessere
Zeit verdient.
({0})
Zwischen beiden Gesetzen besteht ein sachlich sehr enger
Zusammenhang. Deshalb ist es gut, dass wir beide Gesetze gemeinsam beraten.
Bei der Notenbank besteht in der Tat - die Staatssekretärin hat das bereits gesagt - Handlungsbedarf. Zum 1. Januar 1999 hat die Notenbank eine zentrale Aufgabe, nämlich die Geldpolitik, an die Europäische Zentralbank
abgegeben. Alle Fachleute sind sich darüber im Klaren,
dass dies zu Veränderungen bei der deutschen Notenbank
führen muss. Wir sind uns einig, dass es zu einer Verschlankung kommen muss.
({1})
Wir sind uns einig, dass wir nur noch ein zentrales Gremium brauchen.
({2})
Wir sind uns auch einig, dass man die Arbeitsteilung zwischen der Bundesbank und den Landeszentralbanken
überdenken muss.
Dann hören die Gemeinsamkeiten aber leider auch auf.
({3})
Es gibt zwei entscheidende Gründe, warum wir dem Gesetz nicht zustimmen können. Der eine Grund betrifft die
Zusammensetzung des neuen Vorstandes und der andere die zukünftige Rolle der Landeszentralbanken.
Zum ersten Punkt. Das zentrale Organ der Notenbank
besteht heute aus acht Direktoriumsmitgliedern, die von
der Bundesregierung vorgeschlagen werden und aus neun
Landeszentralbankpräsidenten, die der Bundesrat vorschlägt. Im Entwurf war ursprünglich vorgesehen, dass in
Zukunft ein sechsköpfiger Vorstand eingesetzt werde. Die
Bundesregierung sollte den Präsidenten und den Vizepräsidenten vorschlagen, die weiteren vier Vorstandsmitglieder sollte sich - Sie hören richtig - der Bundesbankpräsident selbst aussuchen.
({4})
Natürlich war jedem klar, dass hier ein gewisser Handlungsspielraum vorgesehen war; denn es gibt keinen Vorstandsvorsitzenden in Deutschland, der sich - auch wenn
das viele möchten - seine Vorstandskollegen selbst aussuchen kann.
({5})
Der Entwurf, der jetzt vorliegt, sieht einen achtköpfigen Vorstand vor. Vier Vorstandsmitglieder werden von
der Bundesregierung vorgeschlagen. Die anderen vier
Mitglieder darf zwar der Bundesrat vorschlagen, aber im
Einvernehmen mit der Bundesregierung. Meine Damen
und Herren, das ist das Ende einer überparteilichen Notenbank.
({6})
Sie sollten sich wirklich darüber im Klaren sein, ob Sie
das wollen. Die deutsche Notenbank hat sich in ihrer langen Geschichte national und international ein hervorragendes Standing erarbeitet. Das ist in Kürze vorbei. Ich
finde es unverantwortlich, diesen Weg zu gehen. Wir
drücken in unserem Antrag deshalb die Sorge aus, dass
der Vorstand der Notenbank in Zukunft von der jeweiligen Regierung stromlinienförmig besetzt werden könnte,
und befürchten, dass er es auch wird.
({7})
Der zweite Ablehnungsgrund betrifft die zukünftige
Position der Landeszentralbankpräsidenten. Sie
sollen jetzt im Grunde schlicht regionale Direktoren werden, weisungsabhängig vom Präsidenten,
({8})
auch wenn sie den schönen Titel „Präsident“ behalten.
Was Sie damit anrichten, scheint Ihnen nicht klar zu
sein; wahrscheinlich sind Sie auch ein Stück zu weit weg
Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
von der Wirtschaft. Heute haben wir neun hoch qualifizierte Landeszentralbankpräsidenten. Jeder hat vor Ort
sein Image, ist Ansprechpartner für Politik und Wirtschaft, insbesondere für die Banken. Das ist demnächst
vorbei. Sie glauben doch nicht, dass sich solche Persönlichkeiten um den Posten eines weisungsabhängigen Direktors bewerben!
({9})
Ich glaube, Ihr Parteifreund, der lange Zeit Landeszentralbanken geleitet hat, Professor Krupp, hat Recht, wenn
er vom „Zentralisierungswahn“ spricht.
({10})
Sie nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, wie sich die
Wirtschaftsstruktur in Deutschland entwickelt hat. Sie
sollten sich einmal die Kritik der Kreditinstitute vor Ort in
Bezug auf das, was Sie hier geplant haben, anhören.
Zum zweiten Gesetz, dem Gesetz über die integrierte
Finanzdienstleistungsaufsicht. Im Ausschuss ist uns erzählt worden, das sei das Zukunftsmodell der Welt, das sei
europatauglich. Schon das Anhörungsverfahren hat gezeigt, dass diese Aussagen alle nicht richtig sind. In den
Vereinigten Staaten lächelt man über eine solche Aufsicht.
Man würde nie auf die Idee kommen, so etwas zu schaffen.
Hier ist Großbritannien zitiert worden. Richtig, Frau
Staatssekretärin, aber dort ist das aus einer Not heraus geschehen. Lesen Sie einmal Erfahrungsberichte darüber!
Nein, die Tendenz in Europa geht woandershin: Sie geht
dahin, die Bankenaufsicht den Notenbanken zu übertragen. Das ist ein Vorschlag, der auch bei uns große Sympathie findet.
({11})
Ich sage sehr deutlich: Mit der Lösung, die Sie jetzt verabschieden wollen, verbauen wir bessere, europataugliche Lösungen.
({12})
Es ist bedauerlich, dass es bei zwei so zentralen Gesetzen
für den Bereich der Finanzen zu derart kontroversen Auseinandersetzungen kommt. In der Vergangenheit sind
Gesetze, die die Notenbank und die Finanzaufsicht betrafen,
eigentlich immer einstimmig oder mit großer Mehrheit von
Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden.
({13})
Diesmal hat der Bundesrat einstimmig, das heißt unabhängig von der jeweiligen Zusammensetzung der Regierung, ein negatives Votum zu beiden Gesetzen abgegeben.
Nun hören wir schon wieder, dass man offensichtlich mit
Zusagen und Geschenken versuchen will, ein paar Länder
herauszubrechen; denn es handelt sich bei diesem Gesetz
um ein Einspruchsgesetz, also ein Gesetz, das der Bundesrat nur verhindern kann, wenn er es mit Zweidrittelmehrheit ablehnt. Zurzeit sind noch alle Bundesländer
dagegen; aber die Gefahr, dass es gelingt, ein Drittel zur
Zustimmung zu bewegen, ist vorhanden, wie die Staatssekretärin uns gesagt hat.
({14})
Ich sage ganz deutlich: Die Gesetzentwürfe, wie sie
hier vorliegen, können den Finanzplatz Deutschland nicht
nach vorne bringen. Sie zerstören gewachsene Strukturen.
Unsere Hoffnungen liegen beim Bundesrat, dass er bei
seinem ablehnenden Votum bleibt, damit wir für beide
Bereiche bessere Gesetze bekommen können.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christine Scheel für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die geld- und währungspolitische Verantwortung ist von
der Bundesbank auf den Rat der Europäischen Zentralbanken übergegangen. Die einzige deutsche Stimme im
Rat ist die des Bundesbankpräsidenten. Diese Stimme
muss eine starke Stimme für die Vertretung der deutschen
Stabilitätsinteressen sein.
({0})
Allein deshalb muss eine solch durchgreifende Veränderung auch strukturelle Konsequenzen haben. Dabei
muss gewährleistet sein, dass der Bundesbankpräsident in
seiner Unabhängigkeit gestärkt wird und dass die Bundesbank eine schlanke und effiziente Führungsstruktur
bekommt.
({1})
Kernanliegen der Reform ist die Schaffung eines einheitlichen Leitungsgremiums. Hier werden die geschäftspolitischen Entscheidungen gefällt und für die jetzigen
Landeszentralbanken, die künftigen Hauptverwaltungen,
bindende Richtlinien erlassen. Aufwendige Abstimmungsprozesse entfallen; Doppelarbeiten können auf
diese Art und Weise besser vermieden werden.
Der neue achtköpfige Bundesbankvorstand ist gegenüber der heutigen Leitungsstruktur mit Direktorium,
Zentralbankrat und Vorständen der Hauptverwaltungen
mit insgesamt 26 Organmitgliedern nicht nur strukturell,
sondern auch personell wesentlich abgespeckt worden.
Das wird sich auch auszahlen. Denn mittelfristig werden
wir durch die neue Struktur der Bundesbank erheblich
sparen. Allein die neue Leitungsstruktur wird nach einer
Übergangszeit, nach ungefähr ein bis drei Jahren, in etwa
1,6 Millionen Euro im Jahr weniger kosten. Das ist eine
Einsparung, die sich durch diese Maßnahme Jahr für Jahr
ergibt. Der Kostenblock wird um mehr als ein Drittel reduziert.
Bei aller Effizienz sollte man aber Bewährtes nicht
ohne Not aufgeben.
({2})
Eine der Stärken der Bundesbank war immer ihre Präsenz
in der Fläche sowie die Vertretung und auch die MitspraOtto Bernhardt
che der Regionen in den Leitungsgremien. Dieses bewährte System wird modifiziert beibehalten. So bleiben
alle neun Landeszentralbanken als Hauptverwaltungen
der Bundesbank bestehen. Die regionale Wirtschaft, die
Banken und auch die Sparkassen finden so weiterhin vor
Ort kompetente Ansprechpartner.
Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist aber
auch das Vorschlagsrecht des Bundesrates für die
Hälfte der künftigen Vorstandsmitglieder. So haben wir
dem föderalen Gedanken besser, als im Ursprungsentwurf
vorgesehen, Rechnung getragen. Darüber hinaus stärkt
dies letztlich auch die Stellung und die Unabhängigkeit
des Bundesbankpräsidenten; denn nun stehen Bund und
Länder gemeinsam hinter dem Bundesbankvorstand.
Ebenfalls mehr Effizienz wird es auch dadurch geben,
dass die Bundesbank in Zukunft verstärkt betriebswirtschaftliche Instrumente wie etwa eine Kostenrechnung
oder eine Plan-Ist-Analyse einsetzen muss. Diese Unterlagen werden zusammen mit dem Jahresabschluss und
dem Prüfbericht des Wirtschaftsprüfers sowohl dem Bundesminister für Finanzen als auch dem Bundesrechnungshof und dem Bundestag bekannt gemacht. Die Ausgaben
werden transparent. Das bringt sicherlich auch mehr Ausgabendisziplin mit sich. Wir kennen auch von anderen Zusammenhängen: Mehr Transparenz schafft mehr Ausgabendisziplin.
Mit einer wesentlich gestrafften Führungsstruktur kann
die Bundesbank auch ihren zukünftig stets anspruchsvolleren Aufgaben bei der Bankenaufsicht immer gerechter
werden. Basel II stellt die Bankenaufsicht vor neue Anforderungen. Die Bundesbank wird bei der Umsetzung
eine ganz wesentliche Rolle spielen. Deshalb ist es sehr
wichtig, dass die neue Finanzdienstleistungsaufsicht ihre
Richtlinien zur Bankenaufsicht im Einvernehmen mit der
Bundesbank erlässt. Die stärkeren Mitwirkungsrechte der
Bundesbank garantieren nun, dass die Kompetenz und
auch das praxisnahe Wissen der Bundesbank in die Gestaltung der Bankenaufsicht verlässlich mit einfließt. Dies
ist eine richtige Entscheidung.
Dieses Gesetz, das wir heute verabschieden, sorgt für
effizientere Strukturen. Es ist modern und zukunftsgerecht.
Danke schön.
({3})
Für die FDP-Fraktion
erteile ich nun dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele das
Wort.
Herzlichen Dank, Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem das Gesetz zur Bundesbankreform schon seit
drei Jahren diskutiert wird, erstaunt die Hast und Eile, mit
der Rot-Grün kurz vor Ablauf der Wahlperiode das Bundesbankgesetz durch das Parlament und durch den Bundesrat peitschen will.
Auch die heutige Uhrzeit lässt auf ein schlechtes Gewissen schließen; denn offensichtlich soll diese Gesetzesänderung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
({0})
Das schlechte Gewissen ist auch verständlich; denn es ist
absolut unüblich, durch den Gesetzgeber die Direktoriumsmitglieder der Deutschen Bundesbank mit Millionenlasten für den Steuerzahler in den unbezahlten Urlaub bis
zum Ende ihrer Amtszeit zu schicken.
({1})
Es ist ferner ein Verstoß gegen die Rechte der Abgeordneten, dass im Finanzausschuss die Frage nach den
Kosten dieser Maßnahme für den Steuerzahler pro Jahr
nicht beantwortet wurde und bis zum heutigen Tage und
bis zur heutigen Stunde nicht beantwortet worden ist.
Die Unabhängigkeit der Bundesbank ist ein hohes
Gut. Die heute zur Abstimmung stehende Regelung bedeutet aber, dass Rot-Grün den Vorstand der Bundesbank
stromlinienförmig mit Personen seines Vertrauens für die
nächsten acht Jahre besetzen will. Dies entspricht nicht
der Unabhängigkeit der Bundesbank. Denn bisher wurden
die Direktoriumsmitglieder zu sehr unterschiedlichen
Zeiten und damit aus unterschiedlichen politischen Interessenlagen heraus gewählt. Auch dadurch war die Unabhängigkeit der Bundesbank gewährleistet.
({2})
Das alles wird ausgehebelt.
Die FDP ist für eine stärkere Straffung der Struktur der
Bundesbank. Die Ziele müssen klarer ausgerichtet werden. Das bedeutet aber, dass in einer gesetzlichen Regelung über die Bestimmung des Vorstandes diesem dann
auch funktionale Zuständigkeiten zugewiesen werden.
Genau dies geschieht durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht.
Die FDP ist ferner der Auffassung, dass die Deutsche
Bundesbank die Bankenaufsicht übertragen bekommen
sollte, da sie an die EZB erhebliche Zuständigkeiten verloren hat. Die Bundesbank hat schon jetzt die Bankenaufsicht in der Fläche. Die Doppelzuständigkeit der Bankenaufsicht hat sich nach unserer Auffassung nicht bewährt.
Vor allem aber hält die FDP eine neue Superbehörde
für hochgradig überflüssig. Denn auch die Wertpapieraufsicht ließe sich problemlos durch die Bundesbank erfüllen.
({3})
Die Versicherungsaufsicht, die sich mit einer ganz anderen Materie beschäftigt, hätte so bleiben können, wie sie
ist.
({4})
Trotz vieler guter Ansätze ist der Entschließungsantrag der Union aus Sicht der FDP an einigen Stellen zu
stark auf die Interessen der Länder ausgerichtet.
({5})
Fazit: Rot-Grün ist zu einseitig zentral. Notwendig
wäre ein vernünftiger Kompromiss unter Berücksichtigung des Bundesinteresses und der Länderinteressen.
Aber auch unter Berücksichtigung der Interessen des
Steuerzahlers hätte sich ein gleitender Übergang der Personen des Direktoriums in die neue Führungsstruktur erheblich besser dargestellt als das jetzige möglicherweise
Sichern von Pfründen. Wir werden noch erleben, welche
Personen die Bundesregierung benennen wird. Ich halte
es für abenteuerlich, wenn die Bundesregierung sagt:
Wenn der Vizepräsident eine qualifizierte Person sein
sollte, dann wird nicht sie ihn benennen, sondern dann ist
es in das Ermessen der Länder gestellt, ihn zu benennen. - Wer so mit Direktoriumsmitgliedern der Bundesbank umgeht, der hat seine Glaubwürdigkeit verspielt.
({6})
Durch diesen Gesetzentwurf ist die Unabhängigkeit
der Bundesbank massiv beeinträchtigt. Die Bundesregierung benennt zukünftig vier Personen. Die Personen, die die
Länder bestimmen, müssen im Einvernehmen mit der Bundesregierung benannt werden. Auch dies halten wir für
falsch. Dies spricht dafür, dass die Bundesbank stromlinienförmig werden soll. Das birgt die Gefahr, dass als Nächstes die Europäische Zentralbank in ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt wird. Denn gegen den Widerstand vieler anderer
europäischer Länder wurde durchgesetzt, die Deutsche
Bundesbank als Vorbild für die Unabhängigkeit der EZB
zu nehmen. Wenn die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank jetzt eingeschränkt wird, dann kommen bestimmt
Wünsche - ich kann mir das gut vorstellen -, dass die EZB
doch näher an die Europäische Kommission bzw. an den
Ecofin gekoppelt werden sollte.
({7})
Wie die Bundesregierung mit den Maastricht-Kriterien
umgeht, haben wir gerade in der Diskussion über den
blauen Brief der EU-Kommission erlebt. Da zählt nur
noch das Interesse der Bundesregierung, aber nicht die
Grundsätze, die damals beschlossen wurden.
Deshalb fordern wir als FDP Rot-Grün auf: Ziehen Sie
Ihren Gesetzentwurf zurück! Versuchen Sie zu einem vernünftigen Konsensergebnis zu kommen und weichen Sie
die Stabilitätskriterien nicht auf!
Wir werden dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir hoffen auf Einsicht. Die nächsten Wochen
und Monate werden zeigen, ob es gelingt, zu einer Einsicht zu kommen. Wir werden dies ebenso wie die personellen Vorstellungen im Zuge der Götterdämmerung am
Ende der Koalition genau beobachten; denn am 22. September 2002 ist Schluss. - Frau Präsidentin, auch ich mache jetzt Schluss.
Das ist sehr löblich.
Richtig. Deshalb sage ich
das extra. - Insofern finde ich es gut, wenn Rot-Grün eine
Unabhängigkeit zumindest in der Form akzeptiert, dass
die neue Bundesregierung personelle Weichenstellungen
vornehmen kann, damit nicht der Eindruck erweckt wird,
dass sich Rot-Grün lediglich Pfründe sichern will.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Jörg-Otto Spiller für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Thiele,
Herr Kollege Bernhardt, man merkt richtig, wie viel
Mühe Sie hatten,
({0})
etwas zu finden, was Ihnen erlauben könnte, gegen die
beiden vorliegenden Gesetzentwürfe zu sein.
Es war ein krampfhafter Versuch, darüber hinwegzutäuschen, dass Sie im Frühjahr 1998, als die Entscheidung
über den Eintritt Deutschlands in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion gefallen war, nicht die Kraft
aufgebracht haben, die notwendige Anpassung der Struktur der Deutschen Bundesbank an das neue System der europäischen Zentralbanken zu schaffen.
({1})
Sie haben nichts gemacht.
({2})
Sie haben das absolute Minimum gemacht, was aber keine
Strukturveränderung bedeutet hat.
Bei der Allfinanzaufsicht ist es genau das Gleiche. Sie
verweigern sich den tatsächlichen Entwicklungen am
Markt.
({3})
Wir haben viele Beispiele für das Zusammenwachsen von
Angeboten aus dem Bereich des Versicherungswesens
und des Bankwesens.
({4})
Sie tun so, als gäbe es das alles nicht. In London ist es
längst üblich - das gilt nicht erst seit der offiziellen Errichtung dieser Allfinanzaufsicht, sondern in der Praxis
schon seit längerer Zeit -, dass die Finanzaufsicht gemeinsam geführt wird, damit sie effizienter wird.
Herr Kollege Thiele, Sie haben über Kontroversen gesprochen. Ich will aber doch noch einmal daran erinnern,
warum Sie so getan haben, als wäre die Übertragung der
geldpolitischen Kompetenzen von den nationalen
Notenbanken auf die gemeinsame Europäische Zentralbank kein Grund, die Struktur der nationalen Banken zu
verändern.
({5})
- Darauf sind Sie nicht eingegangen. Sie haben gesagt,
dass man dies vielleicht tun müsse. Als Herr Waigel noch
Minister war, haben Sie nichts dafür vorgesehen.
({6})
- Der Handlungsbedarf bestand spätestens im Frühjahr 1998, eigentlich schon ein Jahr zuvor.
({7})
Sie haben überhaupt nicht wahrnehmen wollen, dass
die Deutsche Bundesbank zu Recht eine besondere Struktur hatte, weil sie innerhalb der Europäischen Union die
bedeutendste Zentralbank geworden war. Sie war im Bereich der Geldpolitik ein wirkliches Machtzentrum. Sie
brauchte eine besondere Struktur, weil Pluralität von Meinungen, Diskussion, Kontrolle und Begrenzung von
Macht dieser Funktion entsprachen. All das ist auf die Europäische Zentralbank übergegangen.
Ich finde, es ist das schönste Kompliment, das man der
Bundesbank machen kann, dass die Europäische Zentralbank nach dem Muster der Deutschen Bundesbank errichtet worden ist.
({8})
Das ist einmal die Konstruktion. Die Grundprinzipien,
Unabhängigkeit der Notenbank von Parlamenten und Regierungen, die Verpflichtung auf das vorrangige Ziel der
Geldwertstabilität für die Geldpolitik der Notenbank, das
Verbot, den Gebietskörperschaften Kredite zu gewähren,
sind nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank übernommen worden.
Auch der innere Aufbau ist übernommen worden. Das
Entscheidungsgremium für die Geldpolitik ist der Rat der
Europäischen Zentralbank, der in seiner Grundkonstruktion dem bisherigen Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank entspricht. Das kann man nicht unabhängig von
den Funktionen sehen. Es ist geradezu widersinnig, dass
man eine einzelne nationale Bank in der Struktur belässt,
wie sie der besonderen Situation der Deutschen Bundesbank vor Schaffung des Europäischen Systems der Zentralbanken entsprach.
Ich will zum Schluss nur noch ein paar Anmerkungen
zu dem machen, was wir in den Beratungen im Ausschuss
gegenüber dem ursprünglichen Entwurf der Regierung
verändert haben. Wir haben das Verfahren, der Bestellung
des Vorstands verändert. Die Hälfte der Mitglieder werden vom Bundesrat vorgeschlagen. Präsident, Vizepräsident und zwei Mitglieder des Vorstandes werden von der
Bundesregierung vorgeschlagen. Dieses Verfahren knüpft
an das frühere Verfahren der Bestellung des Direktoriums
und Landeszentralbankpräsidenten an. Die Pluralität der
Meinungen ist gewährleistet.
Eines will ich allerdings auch noch sagen: Die Persönlichkeiten, die diese Funktionen übernehmen, werden,
gleich wer sie vorschlägt, immer - da bin ich mir ganz sicher; das war in der Vergangenheit so und das wird auch
in Zukunft so sein - unabhängig sein. Diese Persönlichkeiten hingen in der Vergangenheit nie am Gängelband.
Darauf können wir auch in Zukunft bauen. Sowohl Herr
Pöhl als auch Herr Klasen waren Sozialdemokraten. Weder der eine noch der andere war ein bequemer Bundesbankpräsident. Herr Tietmeyer stand Herrn Waigel bestimmt sehr nahe. Dass er aber Herrn Waigel alles hätte
durchgehen lassen, beispielsweise seine Goldfingeraktion, wäre gänzlich undenkbar gewesen.
({9})
Auch in Zukunft können Sie darauf bauen - Sie müssen dies auch -, dass die Bundesbank von kantigen, profilierten und unabhängigen Persönlichkeiten geleitet
wird.
({10})
Die Rede der Kolle-
gin Dr. Höll wurde zu Protokoll gegeben1). - Damit
schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank auf den
Drucksachen 14/6879, 14/8390 und 14/8413. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-
ter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genprobe! - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
CDU/CSU auf Drucksache 14/8392. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die inte-
grierte Finanzdienstleistungsaufsicht auf den Druck-
sachen 14/7033 und 14/7088. Der Finanzausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/8389, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
1) Anlage 6
len, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genprobe! - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Fi-
nanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung über einen Vorschlag für eine Richtlinie über
die zusätzliche Beaufsichtigung der Kreditinstitute,
Versicherungsunternehmen und Wertpapierfirmen eines
Finanzkonglomerats und zur Änderung bestimmter Richt-
linien. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8389, die Un-
terrichtung durch die Bundesregierung zur Kenntnis zu
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Renate Blank, Peter Letzgus, Dirk
Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibus-
unternehmen erhalten und sichern
- Drucksachen 14/4934, 14/8352 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Günter Bruckmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Blank,
Wilhelm Josef Sebastian. Dirk Fischer ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten und sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Friedrich ({4}), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerbsnachteile für deutsches Güterkraftverkersgewerbe beseitigen
- Drucksachen 14/4150, 14/4396, 14/8349 Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhold Strobl ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. - So lange
wird allerdings nicht geredet. Zunächst reden der Kollege
Sebastian und die Kollegin Blank für die CDU/CSUFraktion. Alle anderen Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Ich eröffne die Aussprache und gebe Herrn Kollegen
Sebastian das Wort.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß,
dass es schon spät ist. Am Freitagnachmittag will man
nach Hause, da viele Termine im Wahlkreis warten. Deshalb ist das Haus auch nicht mehr sehr gefüllt. Aufgrund
der Bedeutung dieses Punktes wäre er es eigentlich wert,
dass man sich seiner sehr viel mehr annimmt.
Die Situation des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes in Europa ist nach wie vor schlecht. Seitdem wir im
September 2000 unsere Anträge gestellt haben, hat sich so
gut wie nichts getan. Es ist nichts geschehen, um die Situation zu verbessern. Im Gegenteil, die Talfahrt einer Branche hat sich ungebremst fortgesetzt. Es ist eine traurige
Bilanz, wenn man anderthalb Jahre nach der Antragstellung in der parlamentarischen Aussprache eine
solche Feststellung treffen muss. So wie die Regierung
Gerhard Schröder im Bereich des Wirtschaftswachstums
und der Staatsfinanzen die rote Laterne in Europa übernommen hat und diese Position eisern verteidigt, so steht
das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe in Europa als
Schlusslicht da.
Das ist nicht etwa deshalb der Fall, weil die Unternehmen schlecht wirtschaften, sondern weil die gesetzlichen
Rahmenbedingungen so ungünstig sind, dass an Wettbewerbsfähigkeit nicht zu denken ist. Fakt ist, dass die deutschen Spediteure entgegen der oft gehörten Theorie aus
dem Regierungslager keine Chance haben, die erhöhten
Preise aufgrund der Ökosteuer und zukünftig auch der
Maut auf die Kunden umzuwälzen. Der Markt und die europäischen Konkurrenten lassen dies nicht zu. Wir stehen
in Europa angesichts von etwa 30 Prozent Überkapazitäten in diesem Bereich in einem Dumping-Wettbewerb,
nicht in einem Leistungswettbewerb.
Ein Weiteres: Im Zuge der Deregulierung der europäischen Transportmärkte sind die Entgelte für Beförderungsleistungen auf der Straße um 30 bis 40 Prozent gefallen. Während für das Jahr 2015 damit gerechnet wird,
dass der Anteil des grenzüberschreitenden Verkehrs den
des innerstaatlichen Verkehrs überholen wird - 1990 lag
er erst bei 10 bis 15 Prozent des Gesamtmarktes -, sinkt
der Anteil deutscher Spediteure an diesem wachsenden
grenzüberschreitenden Markt immer mehr. Wenn das kein
Alarmzeichen ist, dann weiß ich es nicht. Spediteure aus
anderen Ländern der EU genießen deutliche Wettbewerbsvorteile.
Vor wenigen Tagen gingen die Olympischen Winterspiele in Salt Lake City zu Ende. Am vorletzten Tag hat
Deutschland im Viererbob eine Goldmedaille gewonnen.
Es wäre ein Aufschrei durch die Bevölkerung gegangen,
wenn andere Bobs mit einem Vorsprung hätten starten
dürfen. Im LKW-Gewerbe ist es so, dass alle anderen europäischen Partner erhebliche Vorteile haben. Deshalb
kann unser Gewerbe dort einfach nicht mithalten. Wenn
Wettbewerbsbedingungen herrschen, müssen die RahVizepräsidentin Anke Fuchs
menbedingungen die gleichen sein. Der Ruf nach dem
Staat ist nicht immer der richtige, aber in diesem Falle
sind die negativen Rahmenbedingungen in Deutschland
weit überwiegend fiskalisch verursacht und können nur
durch eine Korrektur der Politik geändert werden.
Der Blick auf die Belastungen des deutschen Gewerbes macht dies sehr deutlich: Bei der Kraftfahrzeugsteuer kostet der deutsche 40-Tonner bei einem Euro-IIFahrzeug 2 979 DM, in den Niederlanden kostet das
gleiche Fahrzeug 1100 DM, in Belgien 1 400 DM und in
Frankreich 1 900 DM weniger. Beim Dieselkraftstoff wird
das noch viel deutlicher, weil er den Hauptteil der Lasten
darstellt. In Deutschland beträgt der Anteil der Mineralölsteuer pro Liter Dieselkraftstoff 80 Pfennig, in den Niederlanden nur 58 Pfennig, in Belgien 57 Pfennig und in
Frankreich 64 Pfennig. Das ist der Stand von Mitte 2001,
das heißt ohne die Erhöhung der Ökosteuer zum 1. Januar 2002, die noch dazukommt. Es ergeben sich immer
mehr Belastungen für unser Gewerbe.
Ich habe das bereits bei mehreren Debatten angemahnt.
Die Fakten sind klar. Es wird nichts besser, sondern
schlechter. Die Verantwortung dafür trägt die Regierungskoalition. Gerade das Drehen an der Ökosteuerschraube bringt das deutsche Gewerbe in immer größere
Bedrängnis. Allein die Mehrbelastung in Höhe der von
mir eben genannten 7 500 Euro bedeutet ein Mehrfaches
der Gewinnerwartung im grenzüberschreitenden Verkehr.
Es ist wirklich fünf vor zwölf. Die Entwicklung der Insolvenzen im Transportgewerbe zeigt klar, dass die Ökosteuer die Unternehmen massiv in die Pleite treibt. Bereits
im Jahr 2000, als wir unseren Antrag formulierten, stieg
die Zahl der Insolvenzen um 29 Prozent an. Im letzten
Jahr stieg sie nochmals um 20 Prozent. Es stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Man schätzt, dass durch die ungleichen Wettbewerbsbedingungen in etwa 75 000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Wir wissen, wie viel Mühe es
macht, um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen. Hier wird eine
völlig falsche Verkehrspolitik betrieben. Meine Damen
und Herren, wenn hier nichts geschieht, sehe ich wirklich
schwarz für unser Güterkraftverkehrsgewerbe.
Ich will abschließend und zusammenfassend noch einmal sagen: Wohl selten wurde aus ideologischen Gründen
ein Wirtschaftszweig durch eine Bundesregierung so
drangsaliert wie das Güterkraftverkehrsgewerbe. Ich
wage sogar zu sagen: Das ist einzigartig. Dabei geht es
noch nicht einmal um Subventionen oder andere staatliche Hilfen; es geht nur darum, in Deutschland und in einem gemeinsamen europäischen Markt einen gerechten
ordnungspolitischen Rahmen herzustellen. Dieser Bundesregierung fehlen dazu jedoch die Kraft, der Wille und
die Konzeption.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat das Wort die
Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Welche Bedeutung das Güterkraftverkehrsgewerbe und das Omnibusgewerbe bei Rot-Grün
haben, zeigt sich darin, dass die Reden zu Protokoll gegeben wurden.
({0})
- Sie können ruhig protestieren, aber daran erkennt man
die Bedeutung, die Sie diesem Thema beimessen.
Die Zuhörer auf der Tribüne wissen: Wenn es die beiden Verkehrsträger Güterkraftverkehrsgewerbe und Omnibusgewerbe nicht gäbe, hätten sie keine Waren zum
Essen und auch der Tourismus wäre stark eingeschränkt.
Meine Damen und Herren, der Kollege Sebastian hat
zum Güterkraftverkehrsgewerbe gesprochen; ich werde
mich auf unseren Antrag zu den Omnibusunternehmen
beschränken.
Obwohl unser Antrag schon im Dezember 2000 entworfen wurde, also über ein Jahr alt ist, hat er nach wie
vor Gültigkeit; denn die Bundesregierung hat bisher nicht
im Interesse des deutschen Omnibusgewerbes gehandelt.
Sie ist untätig geblieben.
Es ist doch Allgemeingut, dass der Bus das Rückgrat
im öffentlichen Personennahverkehr ist. Zwei Drittel aller
Fahrgäste im ÖPNV sind auf den Bus angewiesen. Der
Bus sichert im ÖPNV und in der Touristik weit über einer
Million Menschen direkt und indirekt ihre Arbeitsplätze.
Die drastischen Preissteigerungen bei den Kraftstoffen haben zu erheblichen Belastungen der deutschen Tourismuswirtschaft und damit verbunden zu einer
Schwächung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit
geführt. Auch der halbe Ökosteuersatz im ÖPNV hat Verteuerungen für die Verbraucher gebracht. In unserem Antrag fordern wir, keine weiteren zusätzlichen steuerlichen
oder sonstigen finanziellen Belastungen für den umweltfreundlichen Bus einzuführen. Sie haben den Bus für die
Nutzer verteuert.
Meine Damen und Herren, dass die mittelständischen
privaten deutschen Omnibusunternehmen der geplanten
EU-Osterweiterung außerordentlich skeptisch entgegen
sehen, ist bekannt. Insbesondere die in den Grenzregionen
zu den Beitrittsstaaten tätigen Betriebe befürchten existenzbedrohende Nachteile. Wir nehmen diese Sorgen sehr
ernst und weisen darauf hin, dass bislang weder in den bilateralen Verträgen noch in den Beitrittsverhandlungen
eindeutige Lösungen zur Beseitigung der Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen nach dem Beitritt
vorgesehen sind. Das Lohn- und Sozialkostengefälle
sowie die geringere Steuerbelastung der DrittstaatenKonkurrenz schwächen die Wettbewerbsposition der
deutschen Unternehmen entscheidend, von den unterschiedlichen technischen Standards und den damit verbundenen Belastungen für Verkehrssicherheit und Umwelt ganz zu schweigen.
Wenn schon der Verkehrsminister erkennt, wie er im
Jahr 2001 ausgeführt hat, dass der Bus der zweitwichtigste Verkehrsträger ist, und er auf die Schwierigkeiten bei
der EU-Osterweiterung und der EU-ÖPNV-Verordnung
hinweist, dann ist Handeln auf europäischer Ebene angeWilhelm Josef Sebastian
sagt und nicht nur Reden. Nach unserer Auffassung ist die
ÖPNV-Verordnung der EU so zu fassen, dass die zuständige Behörde unabhängig von den Interessen eines
Verkehrsunternehmens agieren und einen fairen Wettbewerb garantieren kann.
Bei der Bustouristik stößt der von der EU-Kommission
vorgelegte Entwurf einer Verordnung zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr
auf Ablehnung, da die neuen Sozialvorschriften für
Änderungen der Arbeits- und Ruhezeiten völlig praxisfremd sind, weil sie die Notwendigkeiten bei der Durchführung von Omnibusreisen und -ausflügen ignorieren.
Sie gehen von der falschen Annahme aus, eine Neuregelung entsprechend den Bestimmungen für Produktionsbetriebe bringe der Busbranche Erleichterungen und Verbesserungen. Mir scheint, die EU-Kommission vergleicht
hier Äpfel mit Birnen.
Im Übrigen fordert das Gewerbe deutlich flexiblere
Vorschriften. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die
seit mehr als 20 Jahren in der EU bestehenden Vorschriften nicht gerade einfach zu handhaben sind. Unternehmer,
Fahrer und Reisegäste haben sich aber im Laufe der Zeit
darauf eingestellt und sind bisher zurechtgekommen.
Schwarze Schafe gibt es überall. Das kann und darf aber
nicht dazu führen, dass Verordnungen vorgelegt werden,
die nicht mehr kundenorientiert und praxisgerecht umgesetzt werden können.
Meine Damen und Herren, die Existenz unserer mittelständischen Busunternehmen muss gegenüber dem
Verdrängungswettbewerb durch Großunternehmen im europäischen Verkehrsgewerbe wirksam sichergestellt werden. Es nützt den Unternehmen nichts, wenn sich auf der
einen Seite die Beförderungsleistung erhöht und sogar
die Einnahmen zunehmen, aber auf der anderen Seite die
Ausgaben massiv steigen. Die Betriebsergebnisse verschlechtern sich aufgrund der exorbitant gestiegenen
Kraftstoffpreise, aber auch aufgrund der Personalkosten
und der gesamten Fahrzeugkosten. Viele Unternehmen
- nicht nur die kleinen - sind infolge dieser Entwicklung
in die Insolvenz geraten, von den kleinen Betrieben, die
über weniger als sechs Fahrzeuge verfügen und von keiner Statistik erfasst werden, ganz zu schweigen.
({1})
Gerade die Kleinunternehmer sind es, die häufig in den
wenig ertragsgesicherten ländlichen Regionen den Verkehr garantieren und Anmietaufträge im ÖPNV bedienen.
Insbesondere die Busgesellschaften der Deutschen Bahn
AG sind nicht bereit, die gestiegenen Kosten ihrer Subunternehmer auszugleichen,
({2})
sondern sie setzen die Betriebe unter Druck, um eine erhebliche Absenkung der Anmietsätze durchzusetzen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren, stimmen Sie unserem Antrag zu! Dann können die
Rahmenbedingungen für das Busgewerbe verbessert werden.
({0})
Die Kollegen Hans-
Günter Bruckmann, Reinhold Strobl, Albert Schmidt,
Horst Friedrich und Dr. Winfried Wolf haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.1)
({0})
- Herr Koppelin, wozu melden Sie sich?
({1})
- Sie haben das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte
sehr.
Frau Kollegin, Sie haben
eine Bemerkung gemacht, die ich so nicht stehen lassen
möchte. Sie haben kritisiert, dass einige Kolleginnen und
Kollegen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben. Ich
meine, man sollte ihnen nicht unterstellen, dass sie kein
Interesse an diesem Thema gehabt haben. Wenn Ihr Vorredner seine Rede hält und dann geht, ist auch das meiner
Meinung nach kein besonders guter Stil.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen auf Drucksache 14/8352 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wettbewerbs-
fähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen erhalten
und sichern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/4934 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung
der Fraktion der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen auf Drucksache 14/8349. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/4150 mit dem Titel „Wettbewerbsfähig-
keit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten
1) Anlage 7
und sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion
der PDS angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FDP-Fraktion
auf Drucksache 14/4396 mit dem Titel „Wettbewerbs-
nachteile für deutsches Güterkraftverkehrsgewerbe
beseitigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion
der PDS angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 25 a und b so-
wie Zusatzpunkt 9 auf:
25 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Peter Eckardt, Jörg Tauss, Klaus Barthel ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
SPD sowie den Abgeordneten Dr. Reinhard Loske,
Hans-Josef Fell, Christian Simmert, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des
Hochschulrahmengesetzes ({1})
- Drucksache 14/8361 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Pia Maier, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes
({3})
- Drucksache 14/8295 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP.
Ein neues Hochschuldienstrecht für eine moderne, leistungsfähige und attraktive Bildung
und Forschung in Deutschland
- Drucksache 14/7077 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Wir brauchen
sie aber nicht, weil Dr. Peter Eckardt, Thomas Rachel,
Dr. Reinhard Loske, Ulrike Flach und Bundesministerin
Bulmahn ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.1)
Ich erteile der Kollegin Maritta Böttcher für die PDSFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die beharrliche parlamentarische Oppositionsarbeit der PDS und die außerparlamentarischen
studentischen Proteste haben bewirkt, dass die Koalition
überhaupt noch in dieser Wahlperiode einen Entwurf für
eine weitere HRG-Novelle auf den Weg gebracht hat.
Dem Parlament liegen zwei Gesetzentwürfe vor: Neben
dem Entwurf der Koalitionsfraktionen beraten wir heute
auch einen Alternativentwurf der PDS; denn das Vorhaben der Bundesregierung lässt noch viel zu wünschen
übrig.
Ich freue mich, dass sich Frau Bulmahn endlich der
Forderung nach einem gesetzlichen Ausschluss von
Studiengebühren angeschlossen hat. Aber wie immer
steckt auch hier der Teufel im Detail. Wenn Sie im Hochschulrahmengesetz Gebühren für das Erststudium ausschließen, gleichzeitig aber unbestimmte Ausnahmen von
diesem Grundsatz zulassen, dann ist das ein infamer Etikettenschwindel. Glauben Sie nicht, dass die Studierenden auf einen derart plumpen Trick hereinfallen; denn sie
haben längst begriffen, dass Rot-Grün nicht mehr die
Langzeitstudiengebühren in Baden-Württemberg abschaffen will, sondern ihre Einführung in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen absichern möchte.
({0})
Es kommt noch schlimmer: Der Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs lässt sogar Studiengebühren ab dem ersten
Semester zu. Damit fallen Sie weit hinter den einstimmigen Beschluss der Kultusministerkonferenz vom Mai
2000 zurück. Außerdem ist Ihre Politik ein Schlag ins Gesicht Ihrer eigenen Basis, die sich auf dem letzten Parteitag ausdrücklich für die uneingeschränkte Sicherung der
Gebührenfreiheit ausgesprochen hat.
({1})
Wenn Sie schon in Ihrer eigenen Partei keine Mehrheit für
Ihr Gesetz haben, wie wollen Sie es dann hier im Parlament durchbringen? Gehen Sie lieber auf Nummer sicher
und halten Sie sich an den Alternativentwurf der PDS. Wir
bleiben bei unserer klaren Forderung nach Studiengebührenfreiheit ohne Wenn und Aber.
({2})
Neben den berechtigten studentischen Anliegen greifen
wir mit unserem Gesetzentwurf ein Problem auf, das derzeit
insbesondere den wissenschaftlichen Nachwuchs massiv
verunsichert. Nach der soeben in Kraft getretenen 5. HRG-
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 8
Novelle dürfen wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter an Hochschulen und Forschungseinrichtungen
maximal zwölf Jahre befristet beschäftigt werden. Die PDS
unterstützt grundsätzlich das Ziel, die ausufernde Praxis der
Befristung von Arbeitsverträgen in Hochschule und Forschung einzudämmen. Wer die Kontinuität und Qualität von
Forschung und Lehre sichern möchte, muss auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ohne Lehrstuhl angemessene Arbeitsbedingungen bieten.
({3})
In dieser Frage sind auch die Hochschulen zum Umdenken aufgefordert.
Es war ein Fehler, dass die Bundesregierung keine
Übergangsregelungen für das neue Befristungsrecht vorgesehen hat. Bei der Reform der Professorenbesoldung
haben Sie auf eine lebenslange Besitzstandswahrung für
vorhandene Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer
geachtet. Warum müssen sich dann aber Nachwuchs und
Mittelbau über Nacht einer neuen Rechtslage beugen?
Was für Professoren gilt, muss erst recht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gelten.
({4})
Grundsätzlich ist die PDS der Auffassung, dass der
Staat mit der einseitigen Regulierung der Beschäftigungsbedingungen des wissenschaftlichen Personals überfordert ist. Deshalb fordern wir eine Aufhebung der bisher im
HRG enthaltenen Tarifsperre. Wenn an einer Stelle die
Forderung nach einem Rückzug des Staates Berechtigung
hat, dann hier. Ich traue der Ministerialbürokratie zwar
vieles zu; aber eines können die Tarifpartner wirklich
besser: ein Befristungsrecht ausarbeiten, das den Interessen der Betroffenen und den Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs gleichermaßen gerecht wird.
Sie haben durch die Vorlage unseres Alternativentwurfs die Chance, das immer noch zu korrigieren. Ich fordere Sie zu einem Dialog auf, damit es zu einer Änderung
des HRG kommt, die den Betroffenen gerecht wird.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/8295 und 14/7077 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/8361 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Bekämpfung der Steuerkriminalität durch
kontinuierliche und bundeseinheitliche Be-
triebsprüfung
- Drucksachen 14/1192, 14/7704 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidemarie Ehlert
Auch hier war eine Redezeit von einer halben Stunde ver-
einbart. Die Kolleginnen Lydia Westrich, Elke Wülfing,
Christine Scheel und der Kollege Carl-Ludwig Thiele haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Sprechen will noch
Heidemarie Ehlert für die PDS, der ich jetzt das Wort erteile.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Seit Beginn dieser Legislaturperiode wird vom Sparen geredet. Nach der Ankündigung des blauen Briefes der EU-Kommission muss noch
mehr gespart werden und bei Herrn Eichel angefangen
überlegen nun alle, wo wir denn noch mehr und noch besser sparen können. Aber über die Möglichkeiten, zu Geld
zu kommen, wird nur am Rande geredet. Meist ist dann
von Steuererhöhungen die Rede, die sehr schnell wieder
dementiert werden. Überlegungen dahin gehend, wie die
vorhandenen gesetzlichen Regelungen so umgesetzt werden können, dass die Steuereinnahmen des Staates nicht
ständig weiter sinken, werden nicht angestellt.
Wir hatten bereits 1999 einen Vorschlag der heutigen
Regierungskoalition von 1996 aufgegriffen. Im Aktionsprogramm gegen Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung der Fraktion der SPD stand unter anderem die
Forderung nach einem einheitlichen Vorgehen der Steuerbehörden bei Betriebsprüfungen und Steuerfahndungen, um insbesondere zu einer gleichmäßig höheren Kontrolldichte zu kommen. Uns geht es - das sage ich zu Ihrer
Erinnerung - vor allem um eine zeitnähere steuerliche
Prüfung der Betriebe.
({0})
Grundvoraussetzung dafür ist, die Zahl der Betriebsprüfer
und der Steuerfahnder aufzustocken.
({1})
Da dies in erster Linie Ländersache ist, sollte nach unseren Vorstellungen im ersten Jahr die Hälfte der durch verstärkte Steuerprüfungen bewirkten Mehreinnahmen den
Ländern überlassen werden, damit Neueinstellungen bewirkt werden können.
({2})
Die Ergebnisse der Betriebsprüfungen zeigen, dass es
sich nach wie vor lohnen würde, diesen Antrag umzusetzen.
({3})
Allein im Jahr 2000 haben Betriebsprüfer dem Fiskus
bundesweit 27,4 Milliarden DM beschert. Sie haben
knapp 225 000 Betriebe geprüft. Die rund 11 000 Prüfer
haben im Schnitt ein Mehrergebnis von 2,74 Millionen DM erbracht. In Schleswig-Holstein haben die Betriebsprüfer im Jahr 2000 Mehrsteuern in Höhe von
587 Millionen DM ermittelt; das sind 106 Millionen DM
mehr als 1999.
({4})
1) Anlage 9
Dabei wurden 211 gewerbliche und 55 land- und forstwirtschaftliche Betriebe weniger als im Vorjahr geprüft.
In Sachsen ist eine ähnlich positive Entwicklung zu
verzeichnen. Es gab Gesamteinnahmen von rund 469 Millionen DM; im Vorjahr waren es 295 Millionen DM - und
das bei nur acht Prüfern mehr.
Selbst im krisengeschüttelten Berlin erbrachte jeder
der 690 Betriebsprüfer im Jahr 2000 ein Mehrergebnis
von rund 1 Million DM. Dabei prüften sie nur 23,7 Prozent der Großbetriebe, 10,4 Prozent der Mittelbetriebe
und 3,5 Prozent der Kleinbetriebe. Von den Kleinstbetrieben will ich hier gar nicht reden. Die Mehreinnahmen
stammen vorrangig von Großbetrieben. Der Prüfungsturnus ist aber nicht kürzer geworden, sondern liegt bei den
Großbetrieben immer noch im Schnitt bei 4,3 Jahren; bei
Klein- und Mittelbetrieben liegt er zwischen zehn und
25 Jahren. Manche kleinen und mittelständischen Betriebe sind schon in Konkurs gegangen, ohne dass sie je
mit einem Prüfer zu tun hatten.
Bei diesen Zahlen müsste es eigentlich logisch sein,
dass die Anzahl der Betriebsprüfer endlich aufgestockt
wird, und zwar real und nicht durch Verschiebungen in
den Finanzverwaltungen. Dies führt nämlich zu einer
enormen Mehrbelastung der dort Beschäftigten. Außer
den Betriebsprüfungen wurde ihnen in den vergangenen
Jahren noch manches andere überantwortet. Ich erinnere
hier nur an die Bauabzugsteuer und die Bekämpfung des
Umsatzsteuerbetrugs. Letzteres ist gegenwärtig der
Schwerpunkt bei den Finanzämtern, zumindest dort, wo
ich beschäftigt war, im Finanzamt Halle Nord.
In einigen Ländern wurde inzwischen mit einer vorsichtigen Aufstockung der Anzahl der Betriebsprüfer begonnen. So sind in Bayern 28 und in Nordrhein-Westfalen
30 neue Stellen entstanden. Die finanzpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von NRW
sagte in diesem Zusammenhang im November 2001:
Immer wieder haben die Grünen mehr Betriebsprüfer gefordert; jetzt wird es sie geben. Endlich unterscheiden wir zwischen einnahmen- und ausgabenorientierten Stellen. Dies ist ein unverzichtbarer
Schritt zu mehr Steuergerechtigkeit und ein wichtiger Beitrag zur Haushaltskonsolidierung.
Der Einsatz von zusätzlichen Betriebsprüfern lohnt
sich für die Länder und für den Bund,
({5})
zumal diese - hier zitiere ich den SPD-Politiker Günter
Neugebauer, der finanzpolitischer Sprecher der SPDLandtagsfraktion in Schleswig-Holstein ist - „ihre Besoldung allemal selbst“ verdienen.
Ich sage es noch einmal: Sparen ist gut und richtig, aber
dort, wo es angebracht ist. Sparen an der falschen Stelle
wird letztlich teurer. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/7704
zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel
„Bekämpfung der Steuerkriminalität durch kontinuierliche und bundeseinheitliche Betriebsprüfung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1192 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen allen, dass Sie ausgeharrt haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. März 2002, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.