Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/28/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen ist auf gutem Weg. Ich freue mich, dass sich heute ein breiter parlamentarischer Konsens abzeichnet. Dies ist gerade bei einem Vorhaben für behinderte Menschen sehr wichtig. Für die gute und konstruktive ZuPräsident Wolfgang Thierse sammenarbeit über Parteigrenzen hinweg - diese fand ich wirklich beeindruckend - möchte ich mich an dieser Stelle recht herzlich bedanken. ({0}) Ich tue dies auch im Namen behinderter Menschen, die eine rasche Realisierung ihres Bürgerrechts auf gleiche Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingefordert haben. In meinen Dank möchte ich aber auch die Verbände und Landesregierungen einbeziehen. Der frühzeitige offene Austausch von Informationen und Stellungnahmen hat entscheidend dazu beigetragen, den Entwurf noch besser zu machen. Gerade auch die praktische Ausgestaltung des neuen Instruments der Zielvereinbarung hat vom Fachwissen und den Erfahrungen der Verbände sehr profitiert. Meine Damen und Herren Abgeordnete, lassen Sie uns immer daran denken: Menschen mit Behinderungen gehören in die Mitte unserer Gesellschaft. Zurzeit leben etwa 6,6 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland. Davon sind nur 4,5 Prozent oder 300 000 von Geburt an behindert. Die meisten werden es im Laufe ihres Lebens, etwa durch Unfälle oder durch Altern. Diese Fakten machen uns deutlich: Jeden von uns kann es betreffen und jeder von uns soll mithelfen. 8 Prozent unserer Bevölkerung sind schwerbehindert. Das zeigt, dass die Behindertenpolitik kein Randbereich politischen Handelns sein kann; bei Entscheidungen muss sie im Zentrum stehen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert von der PDS-Fraktion?

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Ich möchte gerne geschlossen vortragen und den Gesetzentwurf insgesamt einführen. Wenn ich heute über das Gleichstellungsgesetz spreche, ist es kein Zufall, dass gerade zwei Vertreter vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen anwesend sind. Sie haben auf der Grundlage eines Entwurfs des Forums behinderter Juristinnen und Juristen in einer Projektgruppe des Bundesarbeitsministeriums mit uns gemeinsam den Gesetzentwurf erarbeitet, der heute dem Parlament vorliegt. Was hier ganz praktisch wirkt: Menschen mit Behinderungen gestalten ihren Lebensbereich selbst. ({0}) Diese aktive Mitgestaltung ist für mich eine neue Qualität in der Gesetzgebung, die vielleicht auch in anderen Bereichen aufgegriffen werden sollte. Behinderte Menschen nicht als Objekt zu verstehen, die betreut werden müssen, sondern als Menschen zu sehen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen und aktiv mitgestalten - dies war bereits beim Sozialgesetzbuch IX unser zentrales Anliegen und es ist auch beim Gleichstellungsgesetz Programm. ({1}) Deshalb spielen Zielvereinbarungen künftig eine wichtige Rolle. Unternehmen und Verbände behinderter Menschen sollen in eigener Verantwortung Vereinbarungen treffen können, wie und in welchen Zeiträumen Barrierefreiheit vor Ort konkret verwirklicht werden soll. So sind flexible Regelungen möglich, die den jeweiligen Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechen und auch angepasst werden können. Dies muss allerdings noch in vielen Bereichen mit Leben erfüllt werden, damit das Gesetz in der Praxis ein wirksames Instrument werden kann. Die Verbände der behinderten Menschen werden selbstständig und in eigener Verantwortung als Verhandlungspartner der Wirtschaft ihre Ziele und Vorstellungen einbringen können. Der Staat begleitet diesen Prozess. Dies ist für behinderte Menschen die deutlichste Form des Paradigmenwechsels vom Objekt zum Subjekt. Lassen Sie mich einige wenige Schwerpunkte des neuen Gesetzentwurfs benennen: Beispiel behinderte Frauen: Über 3 Millionen schwerbehinderte Frauen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen sollen nicht mehr sagen können, sie seien doppelt benachteiligt, nämlich als behinderte Menschen und Frauen, denn der Frauenfördergrundsatz trägt im Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen diesem Anliegen in besonderem Maße Rechnung. Die Belange behinderter Frauen sind zu berücksichtigen und besondere Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung behinderter Frauen zulässig und wünschenswert. ({2}) Nehmen Sie Gebäude und Gaststätten: Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzern sowie blinden und gehörlosen Menschen soll es möglich sein, selbstständig in die Gebäude des Bundes zu kommen und sich orientieren zu können. Auch die Möglichkeit, eine Gaststätte barrierefrei erreichen zu können, gehört selbstverständlich dazu. Daher müssen Gaststätten in neu errichteten Gebäuden künftig barrierefrei sein. Dazu müssen beispielsweise ebenerdige Eingänge für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer mit Aufzügen oder Rampen versehen sowie Behindertentoiletten eingerichtet werden. Da die Barrierefreiheit schon in die Planung einfließt, sparen wir im Übrigen auch Kosten. Nehmen Sie den Verkehr: Nahverkehr, Bahnverkehr oder Luftverkehr - das sind drei Begriffe für Bewegungsfreiheit und Mobilität für die meisten Menschen. Künftig sollen behinderte Menschen hier möglichst wenig Barrieren vorfinden, damit auch sie selbstbestimmt von ihrem Recht auf Mobilität Gebrauch machen können. Auch hiervon profitiert die Gesamtgesellschaft. ({3}) Beispiel Informationstechnik: Das Internet ist nicht nur Informationsbasis, sondern auch Betätigungsfeld und Arbeitsmöglichkeit. Insbesondere blinden und sehbehinderten Menschen soll hier ein Zugang, zum Beispiel durch textunterlegte Benutzeroberflächen, ermöglicht werden. Beispiel Behörden: Durch das Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen wird das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes für Behörden konkretisiert. So wird es künftig etwa nicht mehr möglich sein, dass eine Behörde die Ausübung eines Berufs aufgrund einer Behinderung untersagt. Diese nur pauschal vorgetragende Begründung würde gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen, wonach behinderte Menschen nicht ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt werden dürfen. Hör- und sprachbehinderte Menschen etwa haben künftig das Recht, im Verwaltungsverfahren mit allen Bundesbehörden in der Gebärdensprache zu kommunizieren. Die Kosten hierfür tragen die Behörden. Konkrete Verbesserungen sieht das Gesetz auch für sehbehinderte Menschen vor. Sie können künftig Bescheide, beispielsweise vom Arbeitsamt, auf Wunsch zusätzlich in Brailleschrift oder auf einem Tonträger erhalten. Blinde Menschen sollen künftig mithilfe von Wahlschablonen bei den Bundestags- und Europawahlen wählen können. Damit können sie ihr Bürgerrecht auf eine selbstständige Wahl weitgehend durchsetzen, wozu natürlich ebenfalls gehört, dass Wahllokale möglichst barrierefrei zugänglich sein müssen. ({4}) Dies alles wird komplettiert durch ein Verbandsklagerecht für anerkannte Verbände. Sie können künftig, insbesondere in Fällen von allgemeiner Bedeutung, die Gleichstellung behinderter Menschen auch gerichtlich geltend machen. Meine Damen und Herren, das Selbstverständnis von behinderten Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten tief greifend geändert, Gott sei Dank. Dies ist ein Paradigmenwechsel, der Teilhabe und Selbstbestimmung vor die Fürsorge gestellt hat. Behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen haben Fähigkeiten, die sie wie jeder Mensch unter Beweis stellen können und wollen. Behinderte Menschen wollen nicht länger Objekt sozialer Leistungen sein; sie fordern zu Recht Selbstbestimmung ein. Mit diesem Gesetz kommen wir diesem Ziel sehr entgegen. ({5}) Dabei darf man aber auch nicht vergessen: Sie brauchen weiterhin Unterstützung und Solidarität. Deshalb gilt mein Dank Ihnen allen. In beeindruckender Weise und mit breiter parlamentarischer Mehrheit sagt der Deutsche Bundestag behinderten Menschen heute diese Solidarität zu. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf die heutige Verabschiedung des Bundesgleichstellungsgesetzes war vor einigen Tagen in einer Pressemitteilung zu lesen: „Der Bundestag hat seine Hausaufgaben getan.“ In Anbetracht der Tatsache, dass man das ja in fast allen politischen Bereichen heute nicht mehr sagen kann und nicht hört, ist das wirklich ein Kompliment für uns. ({0}) Deshalb kann ich auch für die CDU/CSU-Fraktion sagen: Wir begrüßen das Gesetzesziel ausdrücklich und werden diesem Gesetz zustimmen. Ganz grob betrachtet können wir uns freuen, dass es gelungen ist, ein weiteres Gesetz für Menschen mit Behinderungen in großer Einigkeit in diesem Hohen Haus zu verabschieden. Für das sachliche und konstruktive Miteinander bei diesem Gesetzgebungsverfahren möchte ich allen Beteiligten ausdrücklich danken. In diesen Dank schließe ich im Besonderen die Verbände ein, die uns in dieser Diskussion sehr konstruktiv und eigentlich vorausmarschierend begleitet haben. Ich nenne insbesondere das Forum behinderter Juristinnen und Juristen, das einen Vorschlag geliefert hat, der letztendlich die Grundlage für unsere Arbeit geworden ist. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage „im Groben“, weil bei genauer Betrachtung natürlich einiges kritisch angemerkt werden muss. Schon bei der ersten Lesung habe ich darauf hingewiesen, dass die materielle Substanz des Gesetzes sehr überschaubar ist. Auch wenn ich den Wert und die Tatsache als solche, dass es jetzt ein Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen gibt, nicht unterschätzen möchte, so sind die Regelungsinhalte doch sehr begrenzt. Es war zu erwarten, dass durch die Beratungen im Bundesrat diesbezüglich keine Erweiterungen vorgenommen wurden. So wurde in der Tat einiges zurückgenommen und in der Regelungshoheit der Länder belassen. Ich denke hier beispielsweise an die Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung der Barrierefreiheit im Gaststättenbereich und im Personennahverkehr. Aus Gründen des Föderalismus ist dies zu akzeptieren und auch zu verstehen. Allerdings wissen wir, dass sich dahinter ein Grund verbirgt, der uns in Tat skeptisch machen muss. Dabei handelt es sich nämlich um die zu befürchtenden Kosten, die auf die Investoren oder auf die Länder und die Kommunen zukommen würden. Dieser Umstand wirft die Frage auf, wie es in den Ländern weitergehen wird. Denn das Argument der Kosten wird nicht allein dadurch aufgehoben, dass jetzt die Landesgesetzgeber an der Reihe sind, sondern auch sie werden sich mit den Kosten auseinander setzen müssen, wenn sie Regelungen treffen. Deswegen können wir lediglich abwarten, wie die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern erfolgt. Ich hoffe nur, dass die Möglichkeiten für eine größere Barrierefreiheit ergriffen werden. Denn bekanntlich liegt der Hauptregelungsinhalt in den Länderbauverordnungen. Insofern hätte ich mir - vor allen Dingen auch wegen der Vorbildwirkung des Bundesgleichstellungsgesetzes gewünscht, nach Möglichkeiten zu suchen, einen zeitlichen Horizont für die Umsetzung der Barrierefreiheit von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten zu setzen. Wir unterstützen deshalb den Entschließungsantrag, in dem hinsichtlich der Umsetzung die Prüfung der Notwendigkeit von Fristsetzungen gefordert wird. Viel diskutiert wurde in der Gesetzesberatung § 13, das so genannte Verbandsklagerecht. Ich bin mir darüber im Klaren, dass manche Verbände gerne eine weiter gehende Regelung gewollt hätten. Ich meine aber auch, dass der Kompromiss, den wir inzwischen gefunden haben, in der Sache zweckdienlich ist. Denn mit einem gut gemeinten Gesetz, das in seiner Wirkung am Ende das Gesetzesvorhaben konterkariert, ist niemandem geholfen, weil es die Akzeptanz zur Umsetzung des Gesetzes schmälert. Ich meine, mit der Möglichkeit von Feststellungsklagen steht die öffentliche Hand sehr wohl stark genug unter Druck, ihrer Aufsichtspflicht gerecht zu werden und dafür Sorge zu tragen, dass Investitionen und Um-, Erweiterungs- und Neubauten barrierefrei vorgenommen werden, ohne die unmittelbaren Investitionen zu gefährden. Ich unterstütze auch ausdrücklich den Weg, der in der Frage der Zielvereinbarung gewählt worden ist, um auch im privatrechtlichen Teil mehr Barrierefreiheit herzustellen, weil es sich dabei um einen Weg handelt, bei dem die Organisationen mitwirken können und selber gefordert sind, und weil es damit ein Miteinander sehr konkreter Regelungen geben kann, die auf die Bedingungen vor Ort abgestellt sind. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Minister, meine ich, dass die Frage der barrierefreien Informationstechnik in § 11 nicht unbedingt zufrieden stellend, sondern sehr zurückhaltend geregelt worden ist. Das ist einer der Paragraphen, der die Bundesregierung selbst etwas gekostet hätte, und schon ist man in der Umsetzung etwas zurückhaltender. ({2}) Denn wenn Sie sagen, Sie bestimmen die Art von Informationen und entscheiden, wo und wann Sie Barrierefreiheit im Internet und Intranet schaffen, halte ich das für sehr einschränkend und nicht unbedingt im Sinne der Betroffenen. ({3}) Insgesamt fällt auf, Herr Minister, dass Sie immer dann reden, wenn es um die Verkündung schöner Gesetze geht. Wenn es aber etwas kritisch wird, halten Sie sich in Debatten vornehm zurück. ({4}) Ein Weiteres dürfen wir beim genauen Hinsehen zu diesem Gesetz nicht vergessen. Wir wissen aus den Erfahrungen aus anderen Bereichen - ich denke vor allen Dingen an unsere Versuche, mithilfe von Gleichstellungsgesetzen mehr für die Gleichberechtigung von Frauen zu erreichen -, dass die Reichweite von Gesetzen sehr begrenzt ist. In der Frage der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft geht es nämlich nicht zuletzt um Einstellungsfragen. Die Frage, wie offen wir wirklich sind, allen die Teilhabe und ein Mitspracherecht zu ermöglichen, und alles, was mit Einstellungsfragen, Überzeugungen und Akzeptanz zu tun hat, entzieht sich gesetzlicher Verordnungen. Hier sind wir selber gefordert, vor Ort konkrete Begegnungen herbeizuführen, um sehr viel mehr Toleranz, Akzeptanz und Teilhabe in unseren Einstellungen sicherzustellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie schon beim Sozialgesetzbuch IX hat die CDU/CSU-Fraktion - das gilt wohl auch genauso gut für die FDP-Fraktion - bewiesen, dass wir an der Sache orientiert und sehr wohl zu einem konstruktiven Miteinander bereit sind. Wenn wir merken, dass wir uns bei den gefundenen Kompromissen wiederfinden, werden wir solche Vorhaben gemeinsam mit Ihnen verabschieden. ({5}) Ich erwähne das deshalb, weil uns allzu gern und allzu schnell so etwas wie Fundamentalopposition und Blockadepolitik vorgeworfen wird. Dazu muss ich Ihnen sagen: Sie verabschieden eben zu viele Vorhaben, zu denen wir Ihnen schlicht und ergreifend nicht unsere Hand reichen können. ({6}) Das hat leider Gottes auch mit Bereichen zu tun, die mittelbar und unmittelbar auch sehr konkret auf dieses Thema einwirken. Eines habe ich schon angesprochen, nämlich die Barrierefreiheit bei der Ausgestaltung von Gebäuden, Einrichtungen und Straßen und im Personennahverkehr, wofür vor allem die Länder und Kommunen in der Pflicht sind. Rot-Grün hat bei Regierungsantritt versprochen, den Kommunen mehr Geld zu lassen, damit sie zu mehr kommunaler Selbstverwaltung in der Lage sind. Aber genau das Gegenteil ist passiert. ({7}) Die finanziellen Spielräume der Kommunen werden immer enger ({8}) und die Diskussionen um die Kommunalfinanzen werden sehr scharf geführt, weil die Kommunen mit dem Rücken an der Wand stehen. Angesichts dessen brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Kommunen nicht bereit sind, mehr für Barrierefreiheit zu tun. Sie haben dazu einfach nicht die finanziellen Spielräume. ({9}) Wenn Sie für Menschen mit Behinderungen wirklich etwas erreichen wollen, sind Sie gefordert, auch in diesem Punkte etwas zu tun. ({10}) Dies gilt noch mehr für den Arbeitsmarkt. Sie haben es geschafft, dass kaum noch jemand in Deutschland bereit ist, einen zusätzlichen Arbeitsplatz zu schaffen und Menschen einzustellen. ({11}) Die Unternehmen sind durch mehr Bürokratie so eingeengt und in ihren finanziellen Spielräumen so beschnitten, dass man nicht erwarten kann, dass die Bereitschaft wächst, vielleicht auch jemanden einzustellen, bei dessen Beschäftigung man einen erhöhten Aufwand hat. ({12}) Vor diesem Hintergrund müssen wir sehr genau aufpassen, wie Sie Ihr Programm „50 000 Arbeitsplätze für Schwerbehinderte“ umsetzen, und überprüfen, welche Arbeitsplätze für Behinderte geschaffen werden. Ihnen ist nämlich nicht geholfen, wenn sie am Ende nur in kurzfristigen Maßnahmen beschäftigt sind und nach einem oder zwei Jahren erneut arbeitslos sind und wieder in den Statistiken stehen. Allerdings haben Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, inzwischen alles dafür getan, dass kaum noch jemand in Deutschland einer Statistik Vertrauen schenkt. ({13}) Das Vertrauen in Statistik ist inzwischen so verdorben, dass man schon gar nicht weiß, worauf man sich überhaupt verlassen kann. Hier haben Sie das Vertrauen der Menschen vollständig verspielt. ({14}) Wir werden also aufpassen, ob Sie das Problem der Arbeitslosigkeit von Menschen mit schweren Behinderungen am Ende nicht auf ein rein statistisches Problem reduzieren. Wir wollen, dass das Bundesgleichstellungsgesetz nach Geist und Inhalt in allen Bereichen Erfolg hat. Hier gibt es in der Tat noch viel zu tun. Wo Sie konstruktive Vorschläge machen, werden wir Sie unterstützen. Deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein historischer Tag für Behinderte in Deutschland. Das mag man bei diesem Gesetz ruhig sagen. Das ist eine Zäsur im Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu den behinderten Menschen, die in unserem Land leben. Das Gleichstellungsgesetz vollzieht einen tiefgreifenden Perspektivwechsel in der Behindertenpolitik: weg vom Objekt der Fürsorge hin zu gleichberechtigten Bürgern, die ihre Rechte durchsetzen können. Seit vielen Jahren haben wir Grüne für einen solchen emanzipatorischen Politikwechsel gearbeitet. Das Gleichstellungsgesetz hat zum Ziel, behinderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Der Perspektivwechsel, den wir 1994 mit der Grundgesetzänderung vorgenommen haben, wird nun erfahrbare Lebenswirklichkeit und Rechtsalltag. Das ist ein ganz entscheidender Durchbruch. Ich freue mich, dass Frau Nolte gesagt hat, die Union stimme heute zu, und sich bei den Verbänden dafür bedankt hat, dass sie so gut mit uns zusammengearbeitet haben. Bei Rot-Grün finden die Verbände eben Gehör. ({0}) Wir haben das durchgesetzt, was die Verbände seit 1994 pausenlos vorgetragen haben, weil damals nach der Grundgesetzänderung eine Katerstimmung aufkam, da nichts, aber auch gar nichts passierte, um das, was in der Verfassung steht, auch Verfassungswirklichkeit werden zu lassen. Wir haben das angepackt, darauf können wir wirklich stolz sein. ({1}) Mit dem Gleichstellungsgesetz für Behinderte wird Barrierefreiheit im umfassenden Sinne verwirklicht. Der Bund geht mit gutem Beispiel voran. Alle zivilen Neubauten des Bundes werden in Zukunft barrierefrei gestaltet sein und bei allen größeren Umbauten muss die Barrierefreiheit berücksichtigt werden. Ich wünsche mir, dass sich die deutsche Wirtschaft hier entsprechend verhält. Hier sind aber auch die Länder gefragt. Sie müssen das im Landesbaurecht genauso umsetzen, wie das der Bund im Rahmen seiner eigenen Regelungskompetenz mit dem vorliegenden Gesetz tut. Wir haben den ideologischen Streit darüber beendet, ob sich eine Minderheit, nämlich die Gehörlosen, in diesem Land in ihrer Sprache verständigen dürfen. Wir haben die deutsche Gebärdensprache als Sprache anerkannt. Damit unterliegt sie dem Diskriminierungsschutz, den die Sprache nach Art. 3 des Grundgesetzes ausdrücklich genießt. ({2}) Ich bin froh, dass es uns nach der anfänglich zögerlichen Haltung des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten in der Arbeitsgruppe gelungen ist, die notwendige Überzeugungsarbeit zu leisten. Heute steht die Koalition wie ein Mann oder wie eine Frau hinter der gesetzlichen Anerkennung der deutschen Gebärdensprache als Sprache. Das ist ein guter Fortschritt und zeigt vor allen Dingen, dass wir in dieser GeClaudia Nolte sellschaft Verschiedenheit akzeptieren: Wir akzeptieren, dass die Menschen unterschiedlich sind. Trotzdem haben sie die gleichen Rechte. Niemand muss seine Andersartigkeit leugnen, um die gleichen Rechte zu haben. Es ist gut, dass es nun Aufgabe der Behörden ist, dafür zu sorgen, dass sich die Gehörlosen in ihrer Sprache verständlich machen können. Das wird wahrscheinlich neue Arbeitsplätze für Gebärdendolmetscher schaffen, die oftmals gut ausgebildet sind, aber bislang kaum Möglichkeiten hatten, mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten Geld zu verdienen, weil keine solide Infrastruktur für die Gehörlosen geschaffen worden war. Ich glaube, der vorliegende Gesetzentwurf wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass sich die Gruppe der Gehörlosen mit diesem Staat und mit dieser Gesellschaft besser verständigen kann; denn die entsprechenden Voraussetzungen werden nun geschaffen. ({3}) Wir haben im Gaststättengesetz vorgesehen, dass alle neuen Gaststätten, die nach dem In-Kraft-Treten des vorliegenden Gesetzes gebaut werden, barrierefrei gestaltet werden. Ansonsten gibt es keine Zulassung, es sei denn, es sprechen unzumutbare Härten dagegen. Die Länder werden entsprechende Verordnungen erlassen müssen. Über die Barrierefreiheit gab es im Ausschuss einen langen Streit insbesondere mit den Gaststättenverbänden, die dies nicht wollten und meinten, man könne doch wenigstens die Kleingaststätten von dieser Regelung ausnehmen. Auch im Bundesrat gab es solche Stimmen. Ich vermag nicht einzusehen, warum ein Behinderter mit seinem Rollstuhl nicht auch an die Pommesbude fahren können soll. Ich vermag auch nicht einzusehen, warum es große Mühe machen soll, wenn man eine neue Gaststätte baut, von Anfang an daran zu denken, dass Behinderte zu den Gästen dieser Gaststätte gehören werden. Die Sicherstellung der Barrierefreiheit ist ein großer Erfolg dieses Gesetzes und bedeutet, dass sich Behinderte selbstverständlicher und selbstständiger im Lebensalltag unseres Landes werden bewegen können. ({4}) Wir haben mit Zielvereinbarungen für alle gesellschaftlichen Bereiche die Möglichkeit geschaffen, rechtsverbindlich durchzusetzen, dass sich Vertreter der Behindertenverbände und Vertreter der Wirtschaft gemeinsam an einen Tisch setzen, um in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich Barrierefreiheit herzustellen. Wir haben damit etwas gemacht, was der Gesetzgeber selten tut: Die gesellschaftlichen Kenntnisse und das Wissen der Betroffenen werden bei der Lösung von Problemen vor Ort genutzt werden; denn aufgrund der Zielvereinbarungen können die kompetenten Akteure miteinander vernünftige Lösungen vor Ort finden, ohne dass der Gesetzgeber mit komplizierten und abstrakten Regeln, die sich, wie wir wissen, nicht immer für alle Lebensbereiche als tauglich erweisen, überregulierend eingreift. Wir haben die entsprechenden Mechanismen geschaffen. Die Verbände können sie jetzt nutzen. Im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs, haben wir die Anbieterseite dort, wo der Bund eine originäre Gesetzgebungskompetenz hat, im Eisenbahnrecht und im Luftverkehrsgesetz, rechtsverbindlich verpflichtet, ihren Bereich barrierefrei umzugestalten. Wir appellieren an die deutsche Verkehrswirtschaft, nach dem In-Kraft-Treten des vorliegenden Gesetzes bei neuen Aufträgen keine Verkehrsmittel mehr anzuschaffen, die nicht barrierefrei sind. Jede Mark, die heute noch in ein nicht barrierefreies Verkehrsmittel fließt, ist, meine ich, eine verlorene Mark, ist Geldverschwendung. Allen sei zur Mahnung gesagt: In der nächsten Wahlperiode werden wir uns zum 31. Dezember 2004 von der Bundesregierung darüber berichten lassen, wie weit es mit der Umsetzung in allen Bereichen steht. Wenn wir feststellen müssen, dass es nicht schnell genug geht, dann könnte es durchaus sein, dass der Deutsche Bundestag den Nachzüglern mit einer Fristsetzung im Gesetz auf die Sprünge hilft. Wir wollen das aber eigentlich im Guten versuchen und deshalb belassen wir es zunächst einmal bei den Zielvereinbarungen. Ich hoffe, dass wir damit schnell zu guten Ergebnissen kommen. Das Gesetz insgesamt ist davon geprägt, dass wir den Behindertenverbänden mehr Möglichkeiten geben wollen, die Rechte der Behinderten durchzusetzen. Wir setzen nicht auf den Staat, sondern auf das Engagement der Betroffenen sowie der Bürgerinnen und Bürger. Mit dem Verbandsklagerecht geben wir ihnen das Instrument in die Hand, um ihre Rechte auch tatsächlich gesellschaftlich durchzusetzen - gegen Staat und gegen Wirtschaft gleichermaßen. Also: Die Arbeit hört nicht auf. Die Behindertenverbände werden einiges zu tun bekommen. Rot-Grün können sie dabei an ihrer Seite wissen. Auch mit dem begleitenden Entschließungsantrag wird dieses Signal gesetzt. Ich möchte zum Schluss meiner Rede den Behindertenverbänden danken, die uns so gut begleitet haben, sowie dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen, die die erste Vorlage für dieses Gesetz geschaffen haben, das wir in der Koalitionsarbeitsgruppe aufgegriffen haben. Ich möchte besonders zwei alten Freunden aus der BAG Behindertenpolitik der Grünen danken, die beim Arbeitsstab des Behindertenbeauftragten für dieses Gesetz wirklich sehr gute Arbeit geleistet haben. Vielen Dank an Dr. Frehe und Dr. Jürgens, ohne deren kompetenten Rat wir wahrscheinlich nicht so weit gekommen wären. ({5}) Ich möchte auch dem gesamten Arbeitsstab des Behindertenbeauftragten und dem Arbeitsministerium danken, weil die Zusammenarbeit nach anfänglichem Stottern immer besser geklappt hat und wir zu einem guten Abschluss gekommen sind. Ich bin froh darüber, dass die Oppositionsfraktionen, zumindest CDU/CSU und FDP - von der PDS weiß ich es noch nicht so genau -, diesem Gesetz zustimmen werden. Es ist ein gutes Signal, dass es uns gelungen ist, unter rotgrüner Mehrheit einen gesellschaftlichen Konsens dafür zu organisieren, dass ein solches Gesetz notwendig ist. ({6}) Volker Beck ({7}) In der letzten Wahlperiode fehlte dieser Konsens leider. Ich finde es immer gut, wenn man auch in der Opposition dazulernt. Auch wenn die Bänke des Bundesrats hier zurzeit leer sind, möchte ich an den Bundesrat appellieren, diesem Reformwerk für behinderte Menschen keine Steine in den Weg zu legen. Behinderte Menschen, ihre Angehörigen und Freunde warten seit langem auf das Gesetz. Wenn sich die Länder hier verweigern würden, wäre eine historische Chance für unsere Gesellschaft vertan. Wir sind daher optimistisch, dass sich die Bundesländer ihrer Verantwortung für die behinderten Bürgerinnen und Bürger bewusst sind und dieses Gesetz ohne weitere Sperenzchen schnell passieren lassen. Das muss jetzt ins Gesetzblatt, damit es noch in dieser Wahlperiode wirksam werden kann. Wir hoffen bei diesem Gesetz auf Gemeinsamkeit mit dem Bundesrat, nachdem wir für die Behinderten hier im Deutschen Bundestag die große Gemeinsamkeit der demokratischen Parteien gefunden haben. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP ist die politische Kraft in Deutschland, die größtmögliche Freiheit bei einem Höchstmaß an Eigenverantwortung für jeden einzelnen Menschen anstrebt. ({0}) Diese Prinzipien - eine solche grundlegende Bemerkung muss in einer Debatte einmal erlaubt sein -, verbunden mit dem Prinzip der Toleranz, sind auch Richtschnur einer liberalen Politik für Menschen mit Behinderungen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, behinderte Menschen sind ganz normale Bürger unseres Landes. Deswegen ist Behindertenpolitik für uns Liberale keine Spartenpolitik, sondern Bürgerrechtspolitik. ({2}) Im Mittelpunkt einer liberalen Behindertenpolitik steht also der Mensch, der Mensch mit seiner Behinderung, aber nicht die Behinderung als solche. Deswegen wollen wir Behindertenpolitik nicht für, sondern mit behinderten Menschen machen. ({3}) Behinderte Menschen müssen wesentlich mitgestalten können. Menschen mit Behinderungen müssen mit klaren Rechten und mit fairen Chancen ausgestattet werden. Gerade behinderte Menschen und - nicht zu vergessen deren Angehörige wollen mehr Gestaltungsspielraum für ihr Leben. Sie wollen weg vom Gängelband des Staates. ({4}) In jedem Lebensabschnitt und in jeder Lebenssituation müssen sie die Chance erhalten, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es möchten und können. Das heißt: Wir brauchen eine durchgängige Förderung und Integration, beginnend bei der Frühförderung; wir brauchen integrative Kindergärten und Gruppen, in denen die soziale Kompetenz auch der nicht behinderten Kinder geschult wird. ({5}) Ich höre mit Sorge, dass es bei der Umsetzung des SGB IX zu einem Streit über die Finanzierung der Frühförderung gekommen ist. Das kann und darf dieses Haus nicht hinnehmen. ({6}) Wir brauchen integrative Schulen, in denen behinderte Kinder in die Lage versetzt werden, im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten Wissen zu erlangen und Kulturtechniken zu erlernen. ({7}) Das bedeutet fast immer zusätzliche Förderung und auch pflegerischen Aufwand in der Schule. Mit anderen Worten: Das kostet Geld. Wenn wir Teilhabe ernst nehmen, dann müssen wir dies zur Verfügung stellen. ({8}) Behinderte Jugendliche brauchen Berufsbildung. Das bestehende Netz von Berufsbildungswerken muss ausgebaut werden. Behinderte brauchen, wann immer möglich - es wird nicht in jedem Einzelfall möglich sein -, die Chance auf einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Integration auch im Alltag, das heißt behindertengerechtes Wohnen und Mobilität im unmittelbaren Umfeld sowie auf Reisen. Für Teilhabe gibt es keine Altersgrenze. Im Gegenteil: Viele Behinderungen treten im Alter erstmals auf. Hierzu werden wir vermehrt spezielle Pflegeangebote brauchen. Es geht keinesfalls, dass die Finanzierung der Pflege behinderter Menschen aus Kostengründen in die Pflegeversicherung abgeschoben wird. ({9}) Ich habe hier versucht, in wenigen Worten zu skizzieren: Der Anspruch auf Förderung und Teilhabe gilt für alle Formen von Behinderungen. Einzelne Gruppen von behinderten Menschen, die keine Lobby haben oder sich nicht so gut artikulieren können - ich denke hierbei etwa an Schwerst- und Mehrfachbehinderte - dürfen nicht benachteiligt werden. Im Gegenteil: Sie bedürfen unserer besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung. Volker Beck ({10}) Mit anderen Worten: Echte Teilhabe heißt, dass wir die behinderten Menschen in die Mitte unserer Gesellschaft stellen. Es entspricht einer guten und mittlerweile langjährigen Tradition, behindertenpolitische Vorhaben über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg im Konsens zu beschließen. Diese Tradition begann mit der Ergänzung von Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Sie setzte sich in dieser Legislaturperiode fort, zunächst beim Schwerbehindertengesetz, dann - nach anfänglichen Schwierigkeiten - beim SGB IX. Sie findet heute ihren - vorläufigen - Abschluss mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen. Ich weise auch darauf hin: Der Weg wird fortgesetzt werden. ({11}) Ich denke dabei nicht nur an ein Leistungsgesetz, dessen Prüfung wir aus Anlass der Verabschiedung des SGB IX in einer Entschließung bereits verabredet haben, sondern vor allem an ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz, welches mit gutem Willen selbst in dieser Legislaturperiode noch verabschiedet werden könnte. ({12}) Heute beschließen wir zunächst einmal das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen, und das, wie absehbar ist, mit einer großen Mehrheit dieses Hauses. Ich appelliere an die PDS, sich der gemeinsamen Haltung des Hauses anzuschließen und insoweit nicht auf Maximalforderungen zu beharren. Gerade weil Sie, Herr Kollege Seifert, sich wirklich immer wieder als engagierter Streiter für die Belange der behinderten Menschen gezeigt haben, wäre es schade, wenn Ihre Seite heute nicht zustimmen würde. ({13}) Ich glaube, diese Haltung hilft den behinderten Menschen letztendlich nicht. Verständnis für die Bedürfnisse und Wünsche sowie für die Situation behinderter Menschen lässt sich auf Dauer nur erreichen, wenn wir die Schritte zur Verbesserung der Teilhabe im Konsens gehen. Das heißt ganz konkret, dass diejenigen, die Beiträge dazu leisten sollen, etwa die Unternehmer, die Inhaber von Gaststätten - über Beispiele dieser Art ist hier diskutiert worden -, im Dialog überzeugt werden müssen. Dieser Gesetzentwurf sieht dies stärker als bisher vor, Stichwort Zielvereinbarungen. Ich denke auch an die Regelungen im Gaststättenrecht. Wir, die FDP, sind ein bisschen stolz, dass es im Prozess der Entstehung dieses Gesetzes gelungen ist, diese Punkte zu verbessern. ({14}) Für die Zustimmung der FDP-Fraktion zum Gleichstellungsgesetz war entscheidend, dass wichtige Bedenken berücksichtigt worden sind und dass sich die rotgrüne Koalition in einer Reihe von Punkten von Illusionärem verabschiedet hat. Ich will beispielhaft drei Punkte nennen. Die FDP möchte, wie ich bereits sagte, dass behinderte Menschen ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben führen können. In diese Vorstellung passte das Verbandsklagerecht in seiner ursprünglich geplanten Form nicht hinein. ({15}) Wir möchten - bei allem Respekt vor dem Engagement der Menschen in den Behindertenverbänden - nicht, dass Funktionäre darüber entscheiden, was gut oder schlecht für behinderte Menschen ist. Vielmehr wollen wir erreichen, dass behinderte Menschen in ihren Angelegenheiten selbst entscheiden können. ({16}) Deswegen war die Reduzierung der in § 13 des Behindertengleichstellungsgesetzes enthaltenen Verbandsklage zu einer subsidiären Feststellungsklage gegenüber der Prozessstandschaft in § 12 des Behindertengleichstellungsgesetzes ein zentrales Anliegen der FDP. Hier sind Sie, Herr Beck und meine Damen und Herren von der Koalition, nach massivem Widerstand auch aus dem Bundesrat letztlich eingeschwenkt. Das ist auch gut so; denn Gewinner sind letztlich die behinderten Menschen, deren Wille und Partizipation bei der Durchsetzung ihrer Rechte jetzt gefragt sind. Nicht neue Bevormundung, sondern letztendlich die Freiheit des Einzelnen, Rechte zu verfolgen, sind das Ziel der FDP gewesen. ({17}) Die nunmehr gefundene Regelung, dass anerkannte Verbände in bestimmten Fällen Klage auf Feststellung eines Verstoßes erheben können, wenn es sich um Fälle allgemeiner Bedeutung handelt, findet unsere Zustimmung. Das ist auch eine Frage der Prozessökonomie; denn Sinn dieser Form der Verbandsklage ist es, eine Prozessflut durch Führung eines Musterprozesses zu verhindern. Ich denke, damit ist insgesamt ein guter Ausgleich der Interessen gefunden worden. ({18}) Die Präklusionsregelung bei der Zielvereinbarung in § 5 Abs. 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes, die namentlich kleine und mittlere Unternehmen vor einer Fülle von Verhandlungsbegehren schützen soll, war in Ihrem Referentenentwurf nicht enthalten. Aber auch an dieser Stelle haben Sie bereits frühzeitig erkannt, dass es angesichts der großen Zahl der Behindertenverbände zur Entlastung der Unternehmen einer Regelung bedarf, die den Anspruch der Verbände auf Verhandlungsführung begrenzt. Die jetzige Regelung ist ausgewogen und mit Augenmaß formuliert. In Art. 41 des Entwurfs haben Sie, wie es in der Anhörung des Ausschusses dringend angeraten worden ist, einen Verordnungsvorbehalt der Länder in das Gaststättengesetz aufgenommen, der die kleinen und mittelgroßen Gaststätten vor allzu großen finanziellen Belastungen bei der Herstellung von Barrierefreiheit schützen soll. Ich bin sehr dafür, Herr Beck, dass der Zugang für behinderte Menschen bei Neubauten gleich berücksichtigt wird. Aber es wird bei vorhandener Bausubstanz nicht in jedem Einzelfall mit vertretbarem finanziellen Aufwand möglich sein, Barrierefreiheit herbeizuführen. ({19}) So viel zum Gleichstellungsgesetz. Darüber hinaus ist bedauerlich, dass sich die Koalition dem Antrag der FDP, die Informationsangebote der Bundesregierung vorbildlich barrierefrei zu gestalten, nicht angeschlossen hat. ({20}) An dieser Stelle hat die Bundesregierung eine große Chance vertan, den privaten Anbietern von Informationen zu zeigen, dass es technisch machbar und sinnvoll ist, behinderte Menschen in die Nutzung der Angebote einzubeziehen. Wir meinen, der Staat sollte immer mit gutem Beispiel vorangehen. Es gibt auch in diesem Hohen Haus noch Defizite. Die Bundestagsdrucksachen beispielsweise werden im Internet im PDF-Format zum Download bereitgestellt. Aber das PDF-Format bietet bei den allermeisten in Gebrauch befindlichen Lesegeräten nicht die Möglichkeit, dass sich behinderte Menschen diese Texte vorlesen lassen. Eine einfache TXT- oder ASCII-Datei könnte gelesen werden. Ich rege deswegen an, dass diese zusätzlich zu den PDF-Formaten ins Netz gestellt werden. Damit ist wirklich kein Aufwand verbunden. Aber es ist ein kleiner Mosaikstein, der zur gleichberechtigten Teilhabe im Alltag führt. ({21}) Nun höre ich gelegentlich, die Bundesregierung habe weite Teile ihres Angebotes ohnehin bereits barrierefrei gestaltet. Aber selbst wenn das so sein sollte, spricht dies nicht gegen die Annahme unseres Antrags. Im Gegenteil: Der Deutsche Bundestag würde damit sein Engagement für behinderte Menschen eher noch unterstreichen. ({22}) Die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag stimmt dem Gleichstellungsgesetz zu. Ich denke, das ist ein guter Tag für die behinderten Menschen und ihre Angehörigen in unserem Land. Es zeigt, wir machen mit der Umsetzung des Benachteiligungsverbotes in Art. 3 Abs. 3 unserer Verfassung ernst. Ich sage voraus: Dem Gleichstellungsgesetz werden weitere Schritte folgen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ilja Seifert, PDS-Fraktion.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße auch ganz herzlich diejenigen behinderten Menschen, die heute im Reichstag sind oder im Fernsehen diese Diskussion verfolgen. Als wir vor fast acht Jahren hier in diesem Haus das Grundgesetz änderten, gehörte ich zu denen, die mit den vielen Menschen, die hier waren, feierten und sagten: Wir haben einen großen Sieg errungen. Leider zeigt die Praxis, dass manche den Satz, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, nicht lesen. Manche lesen offenbar, dass niemand beim Benachteiligen behindert werden darf. Ich wünsche mir, dass das mit diesem Gesetz nicht wieder so eintritt. Ich habe die Befürchtung, dass das Gesetz, weil es so schwach ausgestaltet ist, nicht die Wirkung, die es entfalten soll, entfalten kann. Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen und meine lieben behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger, empfehle ich meiner Fraktion, sich der Stimme zu enthalten. Wir sind natürlich in keiner Weise gegen ein Gleichstellungsgesetz. Herr Kolb, Sie haben es gesagt: Natürlich kämpfen wir seit Jahren mit großem Nachdruck und Engagement dafür. Es gibt durchaus auch Kolleginnen und Kollegen in unserer Fraktion, die für das Gesetz stimmen möchten. Wenn sie das tun, ist das in Ordnung, aber es wäre mehr erreichbar. Das ist mein Problem. Herr Bundesminister Riester, Sie haben hier besonders hervorgehoben, dass die Einwände und die Vorschläge der Behindertenorganisationen in diesem Gesetz berücksichtigt worden seien. Ich habe etwas anderes erlebt: Ich habe erlebt, dass nach der Anhörung die Einwände und Vorschläge der Behinderer - der Wirtschaftsverbände, der Länder und der Juristenorganisationen berücksichtigt und deren Änderungsvorschläge in das Gesetz eingebaut wurden. Verschlechterungen haben Sie zugelassen, aber die Änderungen zum Besseren, die die Behindertenorganisationen verlangten, zum Beispiel die Einführung eines Behinderungsbegriffs, der von einem defektologischen Verständnis weg und hin zur Einbeziehung der sozialen Dimension käme - den gibt es bereits und der könnte verwendet werden -, haben Sie nicht eingebaut. Nun haben Sie sich immerhin durchgerungen - aus allen Fraktionen des Bundestages gibt es dafür Zustimmung; ich sage ausdrücklich, dass wir dem gern zustimmen -, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die in den nächsten zwei Jahren überlegen soll, ob denn der Behinderungsbegriff gut ist oder verändert werden soll. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß, dass wir bereits einen besseren Begriff haben als den, den Sie benutzen. Nun gut, lassen wir die Arbeitsgruppe arbeiten; wir werden genügend Druck ausüben, dass sie ordentlich arbeitet. Es kann aber nicht sein - das ist der Geburtsmangel dieses Gesetzes -, dass ein Gesetz, das Menschen mit Behinderungen mit Menschen ohne Behinderungen gleichstellen soll, nicht vorsieht, erstere dafür zumindest zeitweilig ein bisschen besser zu stellen. Das ist der Sinn von Gleichstellungsgesetzen. ({0}) Es kann nicht sein, dass genau die Forderungen, die die betroffenen behinderten Menschen und ihre Organisationen aufstellen, in den Skat gedrückt werden, um das einmal lax zu sagen, und die Forderungen, die von denen aufDr. Heinrich L. Kolb gestellt werden, die bis jetzt alles verhindert bzw. behindert haben, berücksichtigt werden. Gleichstellung verlangt zumindest eine zeitweilige Besserstellung derjenigen, die benachteiligt sind. Das ist mit diesem Gesetz nicht in ausreichendem Maße erreicht worden. Wenn die Länder dieses Gesetz scheitern lassen sollten, dann wäre das unverantwortlich; das will ich ausdrücklich sagen. Aber hier im Bundestag hätte mehr erreicht werden müssen. Erlauben Sie mir zum Schluss meiner kurzen Ansprache, einer Freude Ausdruck zu verleihen. Heute sind zwei behinderte Menschen, mit denen ich mich in der Behindertenszene sehr oft streite, aber auch sehr gut zusammenarbeite, Dr. Andreas Jürgens und Horst Frehe, in den Bundestag gekommen, die erstmalig hier im Saal, wenn auch in der letzten Reihe der Regierungsbank, aber immerhin, an der Debatte teilnehmen können. Sie hatten an der Ausarbeitung des Gesetzes großen Anteil. Ich freue mich, dass die Regierung begriffen hat, dass die Einbeziehung der Betroffenen zum Kriterium jeglicher Politik, jeglicher Gesetzesarbeit werden muss. ({1}) Das sehe ich beim Zivilrecht und auch bei anderen Gesetzen allerdings leider noch nicht. Welches Gesetz betrifft denn behinderte Menschen nicht? Ob wir über den öffentlichen Nah- und Fernverkehr, über Finanzen, über Bauen oder über Familienpolitik reden, immer müssten auch die Organisationen der behinderten Menschen selbstverständlich einbezogen werden. Das ist leider noch nicht der Fall. Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie können noch viel lernen, vor allen Dingen, solche Vorhaben umzusetzen. Ich wünsche Ihnen bei diesem Lernprozess viel Erfolg. Sie können sicher sein: Ich werde Ihnen, wo immer ich kann, helfen. Meine Fraktion ist dabei an meiner Seite. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen zu Beginn von einem Erlebnis berichten. Im letzten Sommer kam ich an einem sehr heißen Tag gemeinsam mit einem Referenten, der Rollstuhlfahrer ist, von einem Behindertenkongress. Wir fuhren mit der Bahn. Die Rampe zum Bahnsteig war schwierig zu bewältigen, aber akzeptabel. Als der Zug kam, war kein Schaffner zur Stelle, der in der Lage gewesen wäre, die Rampe auszufahren, die den Niveauunterschied zwischen Bahnsteig und Bahn auszugleichen hilft. So musste mein Begleiter sozusagen Anlauf nehmen und in recht spektakulärer Weise den Abstand zwischen Bahnsteig und Bahn überwinden. Danach standen wir im Fahrradabteil, da dieses die breiteste Tür hatte. Ich musste erst einmal einige Fahrräder wegräumen. Der Gang zur Toilette war nicht möglich. Aber mein Begleiter kannte das schon; er hatte vorsorglich den ganzen Tag nichts getrunken. Wir alle kennen solche Erlebnisse. Das ist der Grund dafür, dass wir verschiedene Gesetze - heute das Gleichstellungsgesetz - endlich auf den Weg gebracht haben. ({0}) Wir haben eben nicht nur davon gesprochen, liebe Frau Nolte und Herr Kolb, sondern wir haben es getan. Wir sind 1998 angetreten, um den Reformstau aufzulösen. Das haben wir Schritt für Schritt bewältigt. Die Behindertenpolitik ist ein gutes Beispiel dafür. In 16 Jahren wurde vieles ausgesessen. Wir haben in dreieinhalb Jahren viel bewegt. ({1}) Unsere Bilanz der Behindertenpolitik beschreibt sehr deutlich den Paradigmenwechsel, von dem man in diesem Fall wirklich sprechen kann. Der zentrale Punkt ist, dass wir weg von der Fürsorge und hin zur Teilhabe kommen. Das haben wir mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Gang gesetzt. 24 000 Menschen haben aufgrund des Gesetzes und der Förderung inzwischen einen Arbeitsplatz gefunden. Frau Nolte, wir begleiten diesen Prozess vor Ort sehr aufmerksam und fragen auch nach, ob Etikettenschwindel oder wirkliche Vermittlung stattfindet. Wir haben das Mietrecht reformiert und mit dem Sozialgesetzbuch IX, Rehabilitation und Teilhabe, behinderten Menschen endlich zu mehr Rechten verholfen. Heute verabschieden wir das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze. Herr Minister Riester hat es betont: 4,5 Prozent der 6,6 Millionen Menschen in Deutschland, die schwerbehindert sind, sind es von Geburt an, die anderen werden es im Laufe ihres Lebens durch Unfall, Alter oder Krankheit. Alles, was wir für Menschen mit Behinderungen tun, tun wir für mobilitätseingeschränkte Menschen, für ältere Mitbürger und Mitbürgerinnen und im Übrigen auch für Mütter und Väter mit Kinderwagen. Insofern müssen wir immer wieder betonen, dass es um die Teilhabe vieler geht. Was hier schon erwähnt worden ist, war der gute Stil der Zusammenarbeit mit den Verbänden und mit den Ministerien. Mein Dank geht an das Forum behinderter Juristinnen und Juristen. Auch die Arbeit, die der Bundesbeauftragte für Behinderte hier geleistet hat, muss Erwähnung und auch Dank finden. ({2}) Ich hätte mir ebenfalls an der einen oder anderen Stelle einige präzisere Formulierungen gewünscht. Wichtig ist aber, dass wir den bürgerrechtlichen Anspruch auf Chancengleichheit in Gang gesetzt haben, der 1994 im Grundgesetz festgeschrieben wurde. Es ist schon gesagt worden, dass das Kernstück - in einem umfassenden Sinne - die barrierefrei gestaltete Umwelt ist. Davon sind Neubauten, Gaststätten, der Nahund Bahnverkehr sowie die Flughäfen betroffen. Das bedeutet aber auch, dass wir eine kontrastreiche Gestaltung der Lebensumwelt für Sehbehinderte schaffen müssen. Zielvereinbarungen bezüglich Gebärdendolmetscher und Gebärdensprache sind schon erwähnt worden. In diesem Bereich kann Politik vor Ort lebendig umgesetzt werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben vor allem die doppelte Benachteiligung der 3 Millionen schwerbehinderter Frauen im Gesetz endlich aufgegriffen. Wir fordern und fördern die Gleichstellung behinderter Frauen. In diesem Zusammenhang darf ich noch erwähnen, dass es das Wort der Ministerin für Justiz gibt, dass im Zuge einer Strafrechtsreform § 179 des Strafgesetzbuches, der den sexuellen Missbrauch von widerstandsunfähigen Personen betrifft, in den Fokus gerückt wird. Der Staat und die Gesellschaft dürfen auch diesen Missbrauch nicht dulden. Hier wird die Politik mit der Veränderung von Gesetzen ihre Verantwortung wahrnehmen. ({3}) Ich möchte zum Schluss sagen, dass wir unsere bisherige Arbeit als Start begreifen und nicht als Ziel. Die größten Barrieren sind nach wie vor im Kopf. Unsere Gesetze helfen, sie abzubauen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Als der Verfassungsgeber 1994 Art. 3 des Grundgesetzes um diesen Satz ergänzt hat, hat er der Gesetzgebung wie der Verwaltung gleichsam einen Auftrag erteilt, dieses Benachteiligungsverbot nunmehr auch tatsächlich durchzusetzen. Ein kleiner, wenn auch nicht unwichtiger Baustein ist die heutige Verabschiedung eines Gleichstellungsgesetzes. Gleichstellungsgesetz ist - bei allem Lob, das sich RotGrün heute Vormittag selber spendet ({0}) eigentlich ein sehr hochtrabender Titel; denn er verspricht mehr - das ist bei Rot-Grün so üblich -, als wirklich drinsteht. ({1}) Es geht nämlich letztlich nur um einen kleinen Aspekt von Gleichstellung, nämlich um die Verankerung der Barrierefreiheit, dass sich Menschen mit Behinderung im Alltag möglichst vollständig diskriminierungsfrei bewegen können und dass sie ungehinderten Zugang zu Informationsmöglichkeiten haben. Nun ist in den vergangen Jahren bereits vieles geschehen, um öffentliche Gebäude und öffentliche Verkehrsmittel für Behinderte barrierefrei zugänglich zu machen. Trotzdem muss man leider immer wieder feststellen, dass das Gegenteil geschieht. Beispielsweise ist im SGB IX, das wir verabschiedet haben, vorgeschrieben, dass so genannte Servicestellen zur Beratung von Behinderten eingerichtet werden sollen. ({2}) Eine Servicestelle, die für meinen Wahlkreis zuständig ist, kann man aber nicht mit dem Rollstuhl erreichen. ({3}) - Das habe ich doch gemacht. - Man fragt sich daher, was diese Servicestelle überhaupt soll. ({4}) - Es ist die Landesversicherungsanstalt, die diese Servicestelle eingerichtet hat. ({5}) Von ganz besonderer Bedeutung ist, dass im Gleichstellungsgesetz festgeschrieben ist, dass öffentliche Verkehrsmittel ohne besondere Erschwernisse - so ist die Formulierung - für behinderte Menschen zugänglich sein müssen. Beim Aus- und Neubau öffentlicher Verkehrsmittel, der ja gerade nach der Bahnreform einen zusätzlichen Schwung bekommen hat, spielt der barrierefreie Zugang eine große Rolle. Zur Forderung des Gleichstellungsgesetzes - das wir heute verabschieden -, Barrierefreiheit möglichst überall zu gewährleisten, passt es allerdings zum Beispiel nicht, dass die Bundesregierung mit ihrem Entwurf zu einer Novelle des Regionalisierungsgesetzes die Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr zusammenstreichen will. ({6}) Gleichstellung behinderter Menschen erreicht man eben nicht allein mit den nackten Paragraphen eines Gleichstellungsgesetzes, sondern nur mit einer insgesamt zielgerichteten Politik. Wenn der eine Minister einen Paragraphen in ein Gesetz hineinschreibt und der andere in seinem praktischen Handeln genau das Gegenteil davon tut - so wie es bei dieser Regierung üblich ist -, ({7}) wird die Gleichstellung noch lange auf sich warten lassen. ({8}) Die eigentliche Bewährung des Gleichstellungsgesetzes kommt - wie man gerade beim öffentlichen Personennahverkehr sehen kann - erst in der Praxis. Dass die Herstellung der Gewährleistung echter Barrierefreiheit, die Stellung von Gebärdendolmetschern in Verwaltungsverfahren, die Verwendung von Wahlschablonen oder barrierefreie Internetauftritte und -angebote auch Geld kosten, dürfte jedem klar sein. In diesem Zusammenhang liest sich jene Formulierung in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung besonders schön, wo es zu den Kosten heißt - ich zitiere -: Die dem Bund durch die Annahme des Gesetzentwurfs entstehenden Mehrausgaben sollen unter Beachtung der finanzpolitischen Leitlinien der Bundesregierung innerhalb der betroffenen Einzelpläne erwirtschaftet werden. ({9}) Was das dank Eichel und dem blauen Brief aus Brüssel bedeutet, kann sich jeder vorstellen. ({10}) Es steht zu vermuten, dass gerade bei dieser Bundesregierung trotz Gesetzes die Gleichstellung noch ziemlich lange auf sich warten lässt. ({11}) Hauptmangel des Gleichstellungsgesetzes ist, dass es eben nur ein Teilgesetz ist. Die wesentlich wichtigeren Aspekte der Gleichstellung behinderter Menschen betreffen nämlich die zivilrechtlichen Regelungen, die Frage der Geschäftsfähigkeit, die Berücksichtigung der Behinderung bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen und den Schutz vor Diskriminierung im Miet- und Arbeitsrecht. Dieser gesamte Komplex ist schon im Vorfeld aus dem Gesetzentwurf ausgegliedert worden und soll nun in einem so genannten Antidiskriminierungsgesetz geregelt werden. Wie man hört - wir werden sehen, ob sich das auch bewahrheitet -, will die Bundesregierung im kommenden Monat endlich einen Regierungsentwurf zu einem Antidiskriminierungsgesetz vorlegen. Ich finde nach wie vor, es wäre besser gewesen, wenn wir beide Gesetze zusammen beraten hätten. So hätten wir das Thema der Gleichstellung behinderter Menschen einheitlich in den Blick nehmen und regeln können. ({12}) Ein Blick in den bereits bekannten Diskussionsentwurf für ein Antidiskriminierungsgesetz zeigt, dass vor allem die geplanten Neuregelungen zur Geschäftsfähigkeit auch ihre Fallstricke haben. Das betrifft vor allem die Abgrenzung zu den dort nicht definierten „Geschäften des täglichen Lebens“. Die geplante Neuregelung könnte sich auch schnell als Bumerang für Menschen mit geistiger Behinderung erweisen, der im Ergebnis bewirkt, dass diejenigen, die bisher ohne Probleme ohne einen gesetzlichen Betreuer ausgekommen sind, plötzlich einen Betreuer zur Regelung ihrer vermögensrechtlichen Angelegenheiten erhalten. Ebenfalls unklar bleibt, wie es sich denn mit einem geistig Behinderten verhält, der zum Beispiel in der Mitgliederversammlung der Lebenshilfe mit stimmt oder der in seinem Sportverein, in dem er Mitglied ist, einen Vorstand mit wählt oder einen Haushalt mit verabschiedet. Dann könnte es sich schnell zeigen, dass der Feind des Guten nicht das Böse, ({13}) sondern das gut Gemeinte ist. Gleichstellungsgesetz, Antidiskriminierungsgesetz, Paragraphen und Vorschriften sind bekanntlich die eine Sache. Für die Gleichstellung und Gleichberechtigung behinderter Mitmenschen in unserer Gesellschaft ist etwas anderes viel wichtiger und bedeutender: Haben sich Gleichstellung, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung behinderter Menschen im Bewusstsein der Menschen, im täglichen Umgang und im Alltagsleben wirklich durchgesetzt? Was dieses Bewusstsein anbelangt, stehen wir in Deutschland vor entscheidenden Weichenstellungen. Gestern waren wir Abgeordnete von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung zu einem Parlamentarierabend eingeladen. Topthema war eine Stellungnahme der Lebenshilfe, die uns an diesem Abend besonders nahe gebracht werden sollte und aus der ich nun zitieren möchte: In einem schleichenden Prozess zeichnet sich - gewissermaßen als Kehrseite des medizinischen Fortschritts und neuer gentechnologischer Entwicklungen - eine Abwertung der Stellung behinderter Menschen ab. Parallel zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden im Bereich der pränatalen Diagnose, der Präimplantationsdiagnostik, der Stammzellenforschung usw. werden ethische Leitlinien entwickelt, die im Ergebnis bewirken können, dass zwischen lebenswerten und lebensunwerten Formen menschlichen Daseins unterschieden wird. ({14}) Hier sind Entwicklungen zu befürchten, die dem Bild einer menschlichen Gesellschaft entgegenstehen. Verfassungen und Gesetze allein können keine grundlegenden Veränderungen in der Einstellung zu unseren behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern bewirken. Das Denken und Handeln jedes einzelnen Bürgers müssen sich ändern. Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und fehlende Sensibilität müssen zurückgedrängt werden. ({15}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem vorgelegten Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes zu. Wir sollten über dieses Gesetz hinaus dafür werben, dass Offenheit und Rücksichtnahme, Verständnis und Zuwendung für die behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger Tag für Tag größer werden. Vielen Dank. ({16}) Peter Weiß ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit einer Behinderung zu leben bedeutet für Frauen in unserer Gesellschaft eine doppelte Benachteiligung. Denn zum einen werden sie aufgrund ihres Frauseins behindert und zum anderen aufgrund der Behinderung. Der Buchtitel „Geschlecht: behindert. Besonderes Merkmal: Frau“ charakterisiert diese Situation besonders treffend. Um Chancengleichheit für behinderte Frauen durchzusetzen, muss deshalb sowohl die Benachteiligung zwischen den Geschlechtern als auch die zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen zum Thema gemacht werden. In Deutschland leben 4 Millionen behinderte Mädchen und Frauen. Das heißt, jede zehnte Frau lebt mit einer körperlichen, seelischen oder psychischen Beeinträchtigung. Ihre Lebensrealitäten sind jedoch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung immer noch unbekannt. Auch gesetzliche Regelungen legten bislang den Schwerpunkt zumeist auf die Lebenssituation behinderter Männer. Statistiken sind auch heute noch überwiegend nicht geschlechtsspezifisch. Das bedeutet: Frauen kommen dort nicht vor. Damit ist nun - Gender Mainstreaming sei Dank Schluss. Dieses Prinzip, auf das sich das Bundeskabinett im Juni 2000 verpflichtet hat, bedeutet, dass die unterschiedliche Wirkung auf Männer und Frauen in jedem Gesetz und bei jeder Maßnahme berücksichtigt werden muss. Genau das ist hier geschehen. Frau Nolte, Sie sagen, Gesetze bewirkten nichts. ({0}) Darauf muss ich entgegnen, dass Bewusstseinswandel durch Gesetze gefördert wird. ({1}) Das Gleichstellungsgesetz verpflichtet die Bundesregierung zu regelmäßigen Berichten über die Maßnahmen, die aufgrund des Gesetzes in Angriff genommen werden, über die Entwicklung der Zielvereinbarungen zur Barrierefreiheit und über den Stand der Gleichstellung. Der Gesetzentwurf schreibt ausdrücklich vor, dass die Berichte eine nach Alter und Geschlecht differenzierte Darstellung und Bewertung leisten müssen. Damit ist endlich die Voraussetzung geschaffen, spezifische Benachteiligungen behinderter Frauen gezielt angehen zu können. Aussitzen und Ignoranz haben nun keine Chance mehr. Das Gleichstellungsgesetz setzt ein klares Signal. An herausgehobener Stelle, nämlich in Artikel 1 § 2, heißt es ausdrücklich: Zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sind die besonderen Belange behinderter Frauen zu berücksichtigen und bestehende Benachteiligungen zu beseitigen. Folgerichtig haben wir auch einen Fördergrundsatz verankert, der es den Trägern öffentlicher Gewalt zur Pflicht macht, bei allen Maßnahmen nach diesem Gesetzentwurf die besonderen Belange behinderter Frauen zu berücksichtigen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Er wird das Bewusstsein in der Gesellschaft verändern. Das Gleichstellungsgesetz markiert - das haben meine Kollegin Kühn-Mengel und der Kollege Volker Beck schon gesagt - einen deutlichen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. Mit diesem Gesetz werden Emanzipation und Selbstbestimmung gefördert. Auch darum ist es für Frauen besonders wichtig. ({2}) - Das ist kein Quatsch, Frau Kollegin. Als nächster Schritt muss danach ein Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung im Arbeitsleben folgen; denn auch hier liegen gerade für Frauen besondere Benachteiligungen vor. Diesen Bereich werden wir angehen. Die Bundesregierung hat sich in der EU für eine Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf engagiert, die behinderte Menschen ausdrücklich einschließt. Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf haben wir zwar einen guten Rahmen gesetzt; aber Gesetze werden erst dann lebendig, wenn sie von einem großen Teil der Gesellschaft gelebt werden. Dabei kommt den Verbänden behinderter Menschen eine wichtige Rolle zu. Ich freue mich, dass wir einige Vertreter dieser Verbände heute unter uns haben. Ihre Stellung wird durch das Recht der Verbandsklage deutlich gestärkt. Das bietet große Chancen für die Vereinigungen behinderter Frauen, ihren Forderungen wirkungsvoller Gehör zu verschaffen. ({3}) Deshalb kann ich alle behinderten Menschen, die Verbände und alle engagierten Frauen und Männer nur bitten, ihre Ziele auch künftig mit Vehemenz an uns heranzutragen, damit dieses Gesetz mit Leben erfüllt wird, damit wir Barrierefreiheit im Alltag schaffen: nicht nur auf den Bahnsteigen, sondern auch in den Köpfen der Menschen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es nach dem vor kurzem in Kraft getretenen SGB IX und dem heute vorliegenden Gleichstellungsgesetz noch schaffen, die Gleichstellung von Personen mit Behinderung im Strafrecht umzusetzen, dann können wir mit Fug und Recht behaupten: Diese rot-grüne Bundesregierung hat in dreieinhalb Jahren mehr für Menschen mit Behinderung getan als die letzte Bundesregierung in 16 Jahren. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Heidemarie Ehlert, PDS-Fraktion, das Wort.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfes ist unter anderem die Beseitigung und Vermeidung der Benachteiligung behinderter Menschen. Die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft und eine selbstbestimmte Lebensführung setzen aber eben nicht nur Barrierefreiheit voraus. ({0}) - Aber auch. Machen wir uns nichts vor: Ohne Geld wird es eben kaum einem behinderten Menschen möglich sein, am gesellschaftlichen Leben wirklich gleichberechtigt teilzunehmen. Ein kleiner, aber nicht unwichtiger Schritt wäre deshalb die längst überfällige Anhebung der Behindertenpauschbeträge nach § 33 b des Einkommensteuergesetzes. ({1}) Es gibt nun einmal einen behinderungsbedingten Mehraufwand bei der Beschaffung von Kleidung, Hausrat, Pflegemitteln und vor allen Dingen bei der Gewährleistung der Mobilität. Diese Kosten sind in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Aber der Behindertenpauschbetrag wurde letztmalig 1975 - ich wiederhole: 1975 -, also vor 27 Jahren, geändert. In der Begründung hieß es damals, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich geändert hätten. Ich frage Sie, ob sich in den 27 Jahren nicht doch erneut irgendetwas an den Verhältnissen geändert hat. ({2}) Betroffene haben wiederholt auf die wachsende Diskrepanz zwischen den Pauschbeträgen und den tatsächlichen Veränderungen bei den Aufwendungen hingewiesen. Für bestimmte Gruppen der Bevölkerung wurde ein entsprechender Anpassungsbedarf akzeptiert. Der Gesetzgeber handelte. Ich will hier nur auf die Kostenpauschale für uns Abgeordnete verweisen. Meine Damen und Herren, die Anpassung der Pauschbeträge kann nur ein erster Schritt sein. ({3}) Danach müsste eine Überprüfung der Umwandlung der Pauschbeträge für behinderte Menschen in echte Freibeträge bzw. direkte Zuschüsse ({4}) sowie eine Um- und Neustrukturierung der Nachteilsausgleiche für behinderte Menschen erfolgen. ({5}) Durch die Pauschbeträge werden behinderte Menschen bzw. Familien mit behinderten Angehörigen, die von den entsprechenden Steuergrenzen bzw. Freigrenzen nicht erfasst werden, ausgeschlossen. Es wäre Ausdruck eines guten politischen Willens, behinderten Menschen entsprechende Nachteilsausgleiche einzuräumen. So könnte übrigens auch die Sozialhilfe von bestimmten Leistungen entlastet werden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie gesagt: Die Anhebung der Pauschbeträge für behinderte Menschen löst nicht alle Probleme. Was uns aber recht ist, sollten wir den behinderten Menschen erst recht zugestehen. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss doch etwas anders anfangen, als ich es mir vorgenommen hatte. Frau Nolte, Sie nehmen einfach nicht wahr - dieses Gefühl habe ich -, dass es schon sehr viele Integrationsunternehmen und -abteilungen gibt, dass weitere entstehen und bereits 21 977 schwerbehinderte Arbeitslose einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen haben. ({0}) Wir werden unser politisches Ziel, 50 000 schwerbehinderte Menschen in Arbeit zu bringen, erreichen. ({1}) Herr Kolb, ich gebe Ihnen Recht: Früher wurden Menschen tatsächlich aus Kostengründen in Pflegeheime abgeschoben. Auch für mich war das immer ein schwerwiegender Punkt. In § 40 a BSHG - lesen Sie es bitte nach haben wir geregelt, dass Personen nur mit ihrer Einwilligung ins Pflegeheim gehen können. Nur dann, wenn der behinderte Mensch sagt, dass er in ein Pflegeheim gehen will, ist es auch möglich - anders nicht mehr. ({2}) Herr Seifert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, ich muss es heute einfach sagen: 1989 war für mich das Jahr, in dem die behinderten Menschen in der ehemaligen DDR befreit wurden. ({3}) Damals lebten sehr viele Menschen in einem Käfig. In den gut zwölf Jahren haben wir sehr viel erreicht; auch das muss deutlich gesagt werden. Wir wollen heute den richtigen Weg weitergehen. ({4}) Sie enthalten sich wieder. Sie nehmen sich zurück, wollen keine Verantwortung tragen und schlagen wieder den goldenen Käfig vor. Wir wollen Arbeitsplätze für die schwerbehinderten Menschen und wir wollen, dass sie selbstständig entscheiden können, was und wie viel sie tun. Ein Pauschbetrag kann die Selbstständigkeit mit Sicherheit fördern. Er kann aber, wenn man nur noch zu Hause sitzt, auch behindern. ({5}) Was jetzt als Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt, ist so nahe an dem, was wir uns einmal vorgestellt haben, dass wir ausgesprochen zufrieden sind. Mit dieser Aussage hat Herr Dr. Jürgens vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen unserer Arbeit, der Arbeit von SPD und Grünen, ein beachtliches Zeugnis ausgestellt. ({6}) Er war nicht der einzige Sachverständige in der öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestages, der den vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich gelobt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, gleichzeitig freut es mich, dass Sie, nachdem wir uns auf einen Entschließungsantrag geeinigt hatten, signalisiert haben, unseren Entwurf mittragen zu wollen. ({7}) Damit wird sichergestellt, dass erstens die Diskussion über den Begriff Behinderungen fortgeführt wird und zweitens die Wirksamkeit des Gleichstellungsgesetzes zur Schaffung von Barrierefreiheit im Verkehrswesen einer ständigen Überprüfung unterliegt. Wir können mit Stolz sagen, dass das Gleichstellungsgesetz nicht nur von den Betroffenenverbänden unterstützt, sondern auch von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen wird. Die Zustimmung der Behindertenverbände zum vorliegenden Gesetzentwurf zeigt vor allem eines: Der von uns angekündigte Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik hat tatsächlich stattgefunden. ({8}) Behindertenpolitik wird nicht mehr für unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger gemacht. Sie wird jetzt von ihnen gemacht und gestaltet. Damit haben wir ein Kernelement sozialdemokratischer Politik umgesetzt. Das ist der richtige Weg. ({9}) Durch diesen Paradigmenwechsel wird der Fürsorgestaat in der Behindertenpolitik abgelöst. Das Prinzip „Teilhabe statt Fürsorge“ garantiert die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Schöne, behindertengerechte Häuser sind natürlich ein Teil von Lebensqualität; niemand streitet das ab. Wer aber glaubt, dass Behindertenpolitik vor allem eine gut ausgestattete Fürsorge meint, der irrt und dem muss ein Verharren in alten Denkmustern bescheinigt werden. Menschen mit Behinderungen dürfen nicht mehr als schutz- und hilfebedürftige Sorgenkinder angesehen werden. Zum selbstbestimmten Leben gehört mehr; dazu gehört, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehmen kann und entscheide, was ich will. Dazu gehört auch, dass ich die Gesetze, die mich bis in mein Privatleben hinein berühren, mitgestalten kann. Menschen mit Behinderungen - nicht der wohlmeinende, fürsorgliche Staat - wissen selbst am besten, was gut für sie ist. Das ist gemeint, wenn wir von einem Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik sprechen. Auch die öffentliche Anhörung zum Entwurf des Gleichstellungsgesetzes war von diesem Paradigmenwechsel geprägt. Wir haben uns nicht einfach mit einer breiten Zustimmung zufrieden gegeben. Vielmehr haben wir die Anregungen und ergänzenden Vorschläge der Sachverständigen und Verbände aufgegriffen und in unseren Gesetzentwurf einfließen lassen. ({10}) Ich nenne beispielhaft eine Änderung, die unmittelbar das Resultat der öffentlichen Anhörung ist: Der Sachverständige Herr Krüger von der Aktion Psychisch Kranke e.V. hob zu Recht hervor, dass psychisch Kranke eine relativ große Gruppe unter den behinderten Menschen darstellen, die aber allgemein nicht wahrgenommen wird. Das hat damit zu tun, dass diese Form der Behinderung relativ unbekannt ist. Sie wird gesellschaftlich ignoriert, auch weil sie nicht so sichtbar ist. Herr Krüger schlug vor, in § 1 des Entwurfs im Zusammenhang mit der Zielsetzung des Gesetzes einen Passus aufzunehmen, der den besonderen Bedürfnissen verschiedener Gruppen Behinderter Rechnung trägt. Diesen Vorschlag haben wir aufgegriffen und umgesetzt. Sie wissen, dass ich an dieser Stelle bei jeder Gelegenheit die Gleichberechtigung behinderter Frauen eingefordert habe. Die Verbände behinderter Frauen haben in der Anhörung daran erinnert, dass sie etwa seit 25 Jahren immer wieder auf ihre besondere Benachteiligung als Frau und als Behinderte hingewiesen haben; sie werden im doppelten Sinne diskriminiert. Die Belange behinderter Frauen sind vom Gesetzgeber sehr lange ignoriert worden. Das hat jetzt ein Ende. Die Frauenförderung ist endlich in § 2 unseres Entwurfes festgeschrieben. Das freut mich besonders. ({11}) Der genannte Paragraph unseres Gesetzentwurfes zeigt, dass der Kampf behinderter Frauen für ein gleichberechtigtes Leben endlich auch beim Gesetzgeber registriert worden ist. Damit steht außer Frage: Wir werden weiterhin alles dafür tun, um Diskriminierungen und Benachteiligungen behinderter Frauen zu beseitigen. Gerade im Sexualstrafrecht - Frau Kühn-Mengel hat es vorhin angeführt - ist dringend Aufklärung erforderlich. Auch hier werden wir in Zukunft handeln. Die Beseitigung der Diskriminierung kann aber nur im Rahmen eines Gesamtkomplexes einer weiteren Überarbeitung Silvia Schmidt ({12}) des Sexualstrafrechts vorgenommen werden. Die Diskus- sionen zu einer entsprechenden Änderung des Strafrechts werden zurzeit geführt. Mir ist natürlich auch bewusst, dass Frauen und Män- nern ein Wahlrecht einzuräumen ist, ob sie von einem Mann oder von einer Frau gepflegt werden. Ich persönlich werde mich weiterhin für eine Klärung im Pflege-Versi- cherungsgesetz einsetzen. Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir heute verab- schieden, muss natürlich von den Ländern mitgetragen und umgesetzt werden. Es müssen entsprechende Gleich- stellungsgesetze auf Länderebene folgen. Meine Landes- regierung in Sachsen-Anhalt - das sage ich mit Stolz - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wird abgewählt) hat hier, wie in vielen anderen Politikbereichen auch, bereits Pionierarbeit geleistet. ({13}) Sachsen-Anhalt hat mit seinem neuen Behindertengleichstellungsgesetz bewusst Maßstäbe gesetzt. Hier ist auch die Kostenfrage kein Hindernis, sondern ein Ansporn, Frau Nolte. ({14}) In diesem Gleichstellungsgesetz des Landes SachsenAnhalt wird, genauso wie in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, das Diskriminierungsverbot eindeutig formuliert. Wenn alle anderen Bundesländer dem Beispiel von Berlin und Sachsen-Anhalt folgen, kommen wir unserem Ziel, endlich die gleichberechtigte Teilhabe aller Mitbürgerinnen und Mitbürger am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, einen großen Schritt näher. Danke. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit zwei Fragen beginnen. Die erste Frage: Ist durch den Gesetzentwurf die gesellschaftliche Verpflichtung zur Beseitigung der Benachteiligung und Diskriminierung von behinderten Menschen deutlicher geworden? Ich frage weiter: Ist hinsichtlich der sozialrechtlichen Ansprüche alles getan worden, damit dem Anspruch der Menschen auf gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Rechnung getragen wird? ({0}) Ich erinnere daran: Das SGB IX ist kein Leistungsgesetz geworden - das erkennen wir jetzt schon an dem Problem der Frühförderung - und es holt uns ein. ({1}) Wir wollen doch miteinander etwas erreichen und es hat keinen Sinn, sich schon zu Beginn der Auseinandersetzung gegenseitig Vorwürfe zu machen. Darum bitte ich herzlich. ({2}) Es geht um die Erschwernisse und die fehlenden Chancen im Alltag. Wir möchten diese gemeinsam beseitigen. Frau Nolte weiß sehr wohl, was sie sagt, und ich kann das auch sehr wohl unterstützen. Die öffentlich-rechtlichen Vereinbarungen und Vorschriften sollen darauf abgestellt werden. Die Träger der öffentlichen Gewalt dürfen behinderte Menschen danach nicht mehr benachteiligen. Dabei liegt eine Benachteiligung bereits vor, wenn behinderte und nicht behinderte Menschen ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt werden und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unmittelbar und mittelbar nicht gewährleistet ist. Ich freue mich darüber, dass die neuen Bundesländer angesprochen worden sind. Herr Beck - er ist leider nicht mehr da ({3}) hat sehr kühn behauptet, in den 90er-Jahren sei nichts geschehen. Dazu muss ich ihm sagen: Sie waren leider nicht dabei. ({4}) Das zeigt auch die Wählerzustimmung in den jungen Bundesländern Ihrer Partei gegenüber. Ich muss auch Frau Kühn-Mengel ins Stammbuch schreiben: Wir waren 1994 unterwegs, als in weiten Bereichen in den neuen Bundesländern die Netzwerke für Behinderte aufgebaut wurden. Dort war nichts. Das kann ich Ihnen sagen; denn ich war dabei. ({5}) Es ging - auch Herr Haack weiß das - um Berufsförderwerke, Bildungswerke, Werkstätten, Wohnungen, Pflegeeinrichtungen, Wohngemeinschaften und um die integrativen Modelle, wie sie soeben auch Frau Schmidt genannt hat. Nur wer das nicht wahrhaben will, kann hier sagen, es sei 16 Jahre nichts getan worden. Ich bedauere solche Aussagen zutiefst; sie werden auch dem Anspruch der Behinderten nicht gerecht. Das sage ich Ihnen ganz offen. ({6}) Wir werden mit diesem Gesetz sicherlich nicht nur die räumlichen Bedürfnisse der Rollstuhlfahrer und die Gestaltung der Lebensumwelt für behinderte Menschen Silvia Schmidt ({7}) verbessern. Es gilt vielmehr auch, die Kommunikation für blinde und sehbehinderte Menschen in den elektronischen Medien zu verbessern, was von Ihrer Initiative, Herr Kolb, mit erfasst ist. Ausgehend von diesem Verständnis geht es um die Zielvereinbarungen mit den Verbänden behinderter Menschen und mit Unternehmen, durch die den Behinderten ein Mitwirkungsrecht ermöglicht wird. Für behinderte Menschen soll Barrierefreiheit im gesamten öffentlichen, durch Bundesrecht gestalteten Raum sichergestellt werden. Das ist - lassen wir uns ehrlich miteinander umgehen - zunächst einmal eine Absicht; denn wir müssen es draußen umsetzen. An dem Beitrag von Herrn Weiß, dem man vorwarf, dass er nicht sofort die Räumlichkeiten bei der Landesversicherungsanstalt ändert, wurde das schon deutlich. So geht es auch nicht. Wir sollten miteinander behutsam an die Sache herangehen, damit wir nicht Erwartungshorizonte aufbauen, die wir nicht erfüllen können. Damit würde die Politik sich wiederum ein schlechtes Zeugnis ausstellen, wie wir es bei den Statistiken schon erlebt haben. Wir müssen auch die Folgen der Gesetze beachten und die Kostenlawine einbeziehen. Ich bitte insbesondere die Regierenden um große Zurückhaltung. Wenn für den Publikumsverkehr die vielen Bereiche - ob im Personennahverkehr oder in den kommunikativen Zonen in den Städten - noch nicht geregelt sind, dann deshalb - darauf weise ich ausdrücklich hin -, weil dies auch mit der Finanznot der Gemeinden zusammenhängt. ({8}) Ich muss das noch einmal deutlich machen - auch Frau Nolte hat es bereits ausgeführt; da beißt die Maus keinen Faden ab -: Daran sind nun einmal Ihre Bundesregierung und der Finanzminister Eichel mit beteiligt. ({9}) Sie wollen doch wohl im September mit einer Leistung vor die Bürgerschaft treten ({10}) und sich nicht auf die 16 Jahre davor berufen. Sie wollen doch wohl die vier Jahre Ihrer Regierung vertreten. Es war Ihr Problem, dass Sie die Gemeinden so im Stich gelassen haben. ({11}) Nicht umsonst kommt der DGB zu der Feststellung, dass der Entwurf in seiner jetzigen Fassung allein auf die Hoffnung baue. ({12}) Es geht um diesen Gesetzentwurf. Sie können das im Ausschussbericht nachlesen. Der zeitliche Horizont ist bereits von Frau Nolte angesprochen worden. Darauf bezieht sich der DGB. ({13}) - Ich habe soeben auf die großen Aufwendungen hingewiesen. Sie wissen sehr wohl, was in den 90er-Jahren geschehen ist. ({14}) Wir haben die Pflegeversicherung eingeführt und andere große Maßnahmen auf den Weg gebracht. Dem können Sie stundenlang hinterherlaufen. ({15}) Ich möchte allerdings nicht so weit gehen wie der Anwaltverein, der festgestellt hat, anstelle der Teilhabe behinderter Menschen würden durch den Gesetzentwurf bürokratische Strukturen gefördert. Natürlich gibt es in diesem Bereich Regelungs- und Handlungsbedarf. Dem stimmen wir zu. Wir wissen sehr wohl - darauf habe ich schon hingewiesen -, dass die Hauptlast vor Ort zu regeln ist. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Ich möchte nicht auf die Probleme der Kommunen eingehen. Sie spielen gerade in diesen Wochen wieder eine Rolle. Die Spitzenverbände tagen gerade hier. Herr Gilges, vielleicht haben Sie heute Nachmittag, wenn die Nordrhein-Westfalen hier sind, die Gelegenheit, sich zu informieren. Genau dort, wo die Hauptgeschäftsstelle des Städtetags zu Hause ist, sind Sie auch zu Hause, nämlich in Köln. Sie können sich auch dort informieren. Für hör- und sprachbehinderte Menschen soll die Wahrnehmung eigener Rechte in den Behörden auch in der Gebärdensprache ermöglicht und auch in diesem Sinne Barrierefreiheit geschaffen werden. Ich will aber deutlich darauf hinweisen, dass wir von dem Verbandsklagerecht nicht zu viel erwarten sollten. Denn wo das Geld, die Verhältnisse und Möglichkeiten nicht vorhanden sind, lässt sich das auch durch die Klage nicht realisieren. Zum Beispiel ist es bei der Treppe zu einem Restaurant im Keller sehr wahrscheinlich nicht möglich, eine rollstuhlgerechte Einrichtung zu schaffen. ({16}) - Ich wollte auf das Machbare zu sprechen kommen. Aber man kann dort durch Kontrastführungen und -verstärkungen sehr wohl etwas für Sehbehinderte tun. Das ist durchaus möglich. ({17}) Der Gesetzentwurf geht in wesentlichen Teilen in die richtige Richtung. Deshalb stimmen wir ihm auch zu. Ich möchte allerdings noch eine weitere sehr wichtige Barriere ansprechen. Das ist die Barriere in den Köpfen der Menschen. ({18}) Nichts ist möglich, ohne dass wir auch darüber reden. Ich bedaure zutiefst, dass bei der Einstellung von Behinderten gerade die öffentliche Hand sehr nachlässt. ({19}) Das gilt nicht nur für die Kommunen, sondern auch für die Länder. Ich stelle erfreut fest, dass sich die Wirtschaft bemüht, mehr behinderte Menschen einzustellen. Das ist sehr positiv. ({20}) - Jawohl, die Wirtschaft stellt mehr behinderte Menschen ein. Ich weiß, das war die Arbeitsverwaltung. Jetzt loben Sie doch auch einmal die Arbeitsverwaltung. Sie haben ja Herrn Jagoda in die Wüste geschickt. ({21}) Soeben haben Sie erklärt: 16 000 mehr. Das war aber die Arbeitsverwaltung, das waren nicht Sie. Wir sind hier ja auch nur Teil der Gesellschaft. Das wollte ich nur noch einmal feststellen. Eines bewegt mich, und zwar die Situation an den Bildungseinrichtungen - vom Kindergarten bis zu den Schulen in den verschiedensten Stufen -, die sich mit dem Begriff der Integration noch schwer tun. Hier ist noch manches an Bildungsarbeit zu leisten. Ich meine, dass es auch um Bildungsarbeit für die Nichtbehinderten geht. Denn Nichtbehinderte, die mit einem behinderten Freund oder einer behinderten Freundin zur Schule gehen, erfahren von dem Schicksal des anderen. Darum geht es mir in dieser Gesellschaft auch. Wenn von PISA die Rede ist, geht es um die entscheidende Wertefrage, wie ein Mensch den anderen mitnimmt und wahrnimmt. Ich halte es mit einem Satz, den der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker im Jahr der Behinderten gesagt hat und den wir uns alle einprägen sollten: „Es ist kein persönliches Verdienst, nicht behindert zu sein.“ Den beschwerlichen Weg mit den Behinderten gemeinsam zu gehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist mindestens so wichtig - das sage ich ganz offen -, wie alle äußeren Barrieren zu beseitigen. ({22}) Wenn wir das nicht schaffen, dann ist diese Gesellschaft nicht imstande, sich im täglichen Leben wirklich auf Wertefragen zu besinnen. Es ist sicherlich manches geschehen; das ist in vielen Beiträgen deutlich geworden. Deshalb danke ich den vielen Initiativen der Behinderten und den vielen Menschen, die vor Ort engagiert an dieser Sache arbeiten, auch für die CDU/CSU-Fraktion sehr herzlich. Ich mache ihnen Mut und wünsche uns allen, dass wir in dieser wichtigen Frage, die ein großes gesellschaftliches Anliegen bleibt, gemeinsam vorankommen. Außer Frage steht: Wer aufhört, daran weiterzuarbeiten, hat schon aufgegeben. Wir geben nicht auf, wir machen weiter. Schönen Dank. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich halte es für sehr dreist, dass ausgerechnet Sie uns bei dieser Debatte unsere Sparpolitik vorwerfen. Was ist denn der Hintergrund für unsere Sparpolitik? ({0}) Die Sparpolitik von Rot-Grün ist doch darin begründet, dass Sie uns einen unsäglichen Saustall hinterlassen haben, den wir jetzt aufräumen müssen. ({1}) Glauben Sie denn, dass wir ohne die Schuldenlast, die wir 1998 von Ihnen übernommen haben, solche Anstrengungen unternehmen müssten? Sie haben Politik auf Kosten der nächsten Generationen betrieben und wollen es immer noch nicht wahrhaben. ({2}) Noch viel dreister ist es, wenn Sie uns auch noch die Situation der Kommunen vorwerfen. Als aktive Kommunalpolitikerin weiß ich selbst, wie es in den Kommunen aussieht. ({3}) Dies aber der Bundesregierung vorzuwerfen ist wirklich äußerst dreist. ({4}) Sie fordern ein Vorziehen der Steuerreform, obwohl Sie ganz genau wissen, dass dies den Kollaps der Kommunalfinanzen bewirkte. Zugleich singen Sie hier das Hohelied der Kommunen. Sie müssen sich einmal einig werden, was Sie wollen: Wollen Sie sie in den Kollaps treiben oder wollen Sie mit uns dafür sorgen, dass die Steuerreform nicht vorgezogen wird? ({5}) - Das wird sich zeigen. - Vielleicht werden Sie sich in der Union einmal einig, was Sie wollen. Das wissen Sie ja in vielen Bereichen noch nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns alle darüber einig, dass sich der Blick der Politik auf die Menschen mit Behinderungen ändern muss. Viele haben von einem Paradigmenwechsel gesprochen und gesagt, dass wir von der Sichtweise wegkommen müssten, es handele sich um Versorgungsfälle als Objekte staatlicher Förderung. Vielmehr müssen wir erkennen, dass die Menschen im Mittelpunkt stehen, und dafür sorgen, dass alle Menschen, unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht, die Gelegenheit erhalten, ihr Leben nach ihren Möglichkeiten auszurichten. Aber dann ist auch schon Schluss mit den Gemeinsamkeiten; denn im Gegensatz zu Ihnen, die darüber immer nur reden und das groß propagieren, handeln wir und setzen wir diesen Anspruch auch tatsächlich um. ({6}) Allein in dieser Legislaturperiode - es werden noch viele rot-grüne Legislaturperioden kommen - haben wir mit der Neufassung des SGB IX die Ansprüche von Menschen mit Behinderungen neu geordnet und die Anspruchsgrundlagen erweitert. Mit der Kampagne „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“ haben wir ein gutes Programm eingeleitet, um Menschen mit Behinderungen in Arbeit zu bringen. Natürlich werden wir genau hinschauen, Frau Nolte, ob dieses Programm auch greift. Aber allein die Befürchtung, dass dies nicht der Fall sein könnte, darf uns doch nicht davon abhalten, so etwas zu machen. So kann man doch keine Politik machen. ({7}) - Es ist nicht immer unbedingt ein Vergnügen, Ihnen zuzuhören. Jedenfalls ist es kein guter Politikstil, ständig Bedenken vorzutragen und die Hände in den Schoß zu legen. So erreicht man doch nie etwas. ({8}) Mit dem vorliegenden Gesetz zur Gleichbehandlung behinderter Menschen werden Ziele wie die Herstellung von Barrierefreiheit, die Gleichstellung von Frauen mit Behinderung, die Förderung der Kommunikation und die verbesserte Durchsetzung von Ansprüchen durch anerkannte Behindertenverbände verfolgt. Herr Weiß, wenn Sie alles, was jetzt gemacht wird, nur als kleinen Fortschritt in der Behindertenpolitik ansehen, dann muss ich sagen, dass Sie offensichtlich keine Ahnung vom Alltag eines behinderten Menschen haben; denn ansonsten würden Sie über das jetzt eingeleitete Reformprojekt nicht einfach so großzügig hinweggehen. ({9}) - Ich beschäftige mich wahrscheinlich sehr viel mehr mit Behindertenpolitik, als Sie denken. Ich kann aufgrund meines Erfahrungsschatzes sehr gut ermessen, was barrierefreie Zugänge zu öffentlichen Einrichtungen für behinderte Menschen bedeuten: Wenn ich alleine an die Hürden denke, die ich zu bewältigen habe, wenn ich mit dem Kinderwagen unterwegs bin, kann ich mir gut vorstellen, dass diese Hürden für jemanden, der mit dem Rollstuhl unterwegs ist, unüberwindbar sind. Übrigens, Frau Nolte, der „Kürschner“ ist nicht immer aktuell: Ich bin inzwischen Mutter eines 16 Monate alten Sohnes. Ich sage das nur zu Ihrer Information, falls Sie das noch nicht wissen sollten. ({10}) Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist erneut ein Beweis dafür, dass Rot-Grün nicht redet und dann die Umsetzung der entsprechenden Gesetze verzögert, wie Sie das in der letzten Legislaturperiode gemacht haben, als Sie an der Regierung waren. Wir handeln und packen an. Ich würde mich freuen, wenn die Damen und Herren von der Union dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen und sich nicht wie in manchen Ausschüssen der Stimme enthalten würden. Jetzt sind die Länder am Zug. Das ist richtig. Aber wir werden nicht einfach abwarten, wie Sie, Frau Nolte, es vorhin gefordert haben. Wir werden den Prozess in den Ländern, die durch entsprechende Verordnungen das vorliegende Gesetz umsetzen müssen, sehr kritisch begleiten. Wir werden uns auf allen Ebenen dafür einsetzen. Danke schön.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Lambrecht, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine solche Zwischenfrage ist jetzt nicht mehr angebracht. Danke. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu spät, Herr Kolb. Ich erteile das Wort dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Karl-Hermann Haack. Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich mit meiner eigentlichen Rede beginne, möchte ich ein paar Bemerkungen machen; denn es werden hier Weihrauchgefäße geschwenkt. Aber Weihrauch riecht nicht unbedingt gut. Mir hat einiges, was gesagt worden ist, nicht gepasst. ({0}) Ich möchte zuerst auf das eingehen, was Frau Nolte gesagt hat. Ich stelle fest: Als wir das SchwerbehindertenChristine Lambrecht gesetz reformiert haben, um eine Grundlage für das JobAqtiv-Gesetz zu schaffen - dadurch sind bislang 24 000 neue Arbeitsplätze für Schwerbehinderte entstanden -, haben die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP gegen dieses Gesetz gestimmt. Das Mehr an Arbeitsplätzen für schwerbehinderte Menschen geht also auf Rot-Grün zurück. ({1}) Aber Sie kritisieren in der heutigen Debatte diese Art der Arbeitsmarktpolitik. Sie haben des Weiteren die Arbeitsmarktstatistiken kritisiert. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Methoden zur Erstellung der Arbeitsmarktstatistiken - ich habe mich beim Bundesarbeitsminister rückversichert - sind dieselben wie die, die unter der Regierung von Helmut Kohl 16 Jahre angewandt worden sind. ({2}) Die rot-grüne Koalition hat die Methoden zur Erstellung der Arbeitsmarktstatistik und die Kategorien seit 1998 nicht verändert. Sie haben also die Grundlagen für das Schummeln gelegt, wenn es welche gibt. ({3}) Ich möchte jetzt auf das eingehen, was Sie, Herr Weiß, über die gemeinsamen Servicestellen in Ihrem Wahlkreis gesagt haben. Wenn diese Stellen in Ihrem Wahlkreis nicht barrierefrei sind, dann stellt sich die Frage: Warum haben Sie noch keine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Regierungspräsidenten eingereicht? Mein Rat: Kritisieren Sie nicht uns, machen Sie lieber Ihre Arbeit im Wahlkreis! ({4}) Herr Kollege Schemken, ich finde das, was Sie zur Frühförderung gesagt haben, dreist. Sie haben behauptet, dass die im SGB IX verankerten Frühförderungsstrukturen, die sich bewährt hätten, kaputtgeschlagen worden seien. ({5}) Wissen Sie, wer das gemacht hat? - Das war Bayern, namentlich Edmund Stoiber und Barbara Stamm. Als am 1. Juli 2001das SGB IX mit einer verbesserten Form der Frühförderung in Kraft trat, schrieb Frau Stamm sofort einen Brief an die Träger der Frühförderung und teilte mit: Wir verabschieden uns aus der Finanzierung. Sehen Sie zu, woher Sie das Geld bekommen. Setzen Sie sich einmal mit den Krankenkassen in Verbindung. ({6}) Es war also Bayern, namentlich Stoiber und Stamm, die uns die Probleme beschert haben, über die Sie sich heute beschweren und die bis heute noch nicht gelöst sind. ({7}) Bisher ist lediglich ein Moratorium erreicht worden. Das Dreisteste ist aber das, was gestern Abend geschehen ist! Frau Stamm saß beim parlamentarischen Abend mit Vertretern der Lebenshilfe zusammen und beklagte sich bei der Parlamentarischen Staatssekretärin, Frau Mascher, über die eben dargestellten Probleme und forderte sie auf, diese zu lösen, also genau die Probleme, die Frau Stamm, als sie noch Ministerin war und noch nicht in die Wüste geschickt worden war, selber verursacht hat. ({8}) Das ist, finde ich, schon dreist. Auch das gehört zur Wahrheitsfindung dazu. ({9}) - Nein. Nun zu Ihnen, Herr Seifert, und zu dem Behinderungsbegriff. Ich kann es nicht mehr hören. Der Behinderungsbegriff der WHO, auf den Sie sich beziehen, findet sich in einem umfangreichen Werk. Sie waren in meinem Büro und da haben wir darüber geredet. Ich habe Sie gefragt: Wie soll eigentlich ein Parlament in drei Zeilen in einem Gesetz formulieren, was bei der WHO in einem solchen Werk steht? Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass wir das nicht machen. Dann stellen Sie sich doch nicht in der Öffentlichkeit hin und sagen, wir hätten den falschen Behinderungsbegriff! Sogar die WHO ist nicht in der Lage, einen vernünftigen Behinderungsbegriff zu formulieren. ({10}) Die reden und reden und fertigen Gutachten an. Das alles findet sich dann in solch dicken Büchern wieder. Ich bin aber ein Mann der Tat. Damit komme ich zu Ihnen, Herr Beck. ({11}) - Ja, das muss jetzt gesagt werden. - Die Arbeitsgruppe - Sie haben da geholfen - war fleißig, war nicht zögerlich, hat wirklich gearbeitet. ({12}) Ich will hier vor der Öffentlichkeit sagen, was „Neuordnung der Lebensperspektive von Menschen mit Behinderungen“ bedeutet. Es bedeutet, sich mit vielen auseinanKarl-Hermann Haack der zu setzen, um zu erreichen, dass man sich in acht sozialen Sicherungssystemen auf einen Behinderungsbegriff, auf Verfahren und alles Mögliche verständigt. Hinzu kommt die Koordinierung von 14 Ministerien. Wir haben durchgezählt: Es sind tatsächlich 14 Ministerien. Es gilt also, 14 Ministerien zu koordinieren, an einen Tisch zu bekommen und sich darüber zu verständigen, wie man es macht. Hinzu kommt des Weiteren eine heterogene Verbandslandschaft, in der jeder Verband seine blaue Blume gießt. Es gilt, auch mit den Verbänden stundenlang zu reden und am Schluss zu sagen: Wir bedenken das, wir machen das. ({13}) Wie haben wir all die Schwierigkeiten gelöst? - Wir haben sie durch Fleiß und durch viel Aktivität gelöst. ({14}) Wir haben uns klar gemacht, dass wir dieses Ziel nur erreichen, indem wir - Herr Beck, Frau Kühn-Mengel und Frau Schmidt haben es schon gesagt - die Beteiligten als Experten in eigener Sache einbeziehen. Wir hätten es nicht geschafft, wenn wir dieses produktive Verhältnis zu der heterogenen Verbandslandschaft nicht hinbekommen hätten; da sitzen stellvertretend Herr Frehe und Herr Dr. Jürgens vom „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“. ({15}) Man mag über den Begriff des modernen Regierens unseres Herrn Bundeskanzlers viel lächeln oder spotten, aber wir haben bei dieser Reform vorgeführt, wie so etwas geht. Wir haben das „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“ eingeladen, als Experten in eigener Sache für uns einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, und den haben wir zur Grundlage gemacht. Wir haben dann im Jahr 2000 in Düsseldorf einen Gleichstellungskongress veranstaltet und haben die Wirtschaft sowie die Verbände dazu befragt. Wir haben auf diesem Gleichstellungskongress gelernt, dass Argumente nicht Zumutungen sind, sondern dass man sich mit ihnen auseinander setzen muss. Wir haben also einen Lernprozess organisiert, und das Ergebnis ist der Perspektivwechsel für Menschen mit Behinderungen im Alltag. Das ist ein Stück modernen Regierens, auf das wir als rot-grüne Koalition stolz sein können. ({16}) In Zukunft kommt noch zweierlei auf uns zu. Erstens müssen wir die 16 Bundesländer um etwas bitten. Herr Clement hat in der „Frankfurter Rundschau“ eine Reform des Föderalismus angemahnt. Da kann ich an die Adresse meines geliebten Ministerpräsidenten Clement nur sagen: ({17}) Damit hat er eine schöne Aufgabe. Die 16 Bundesländer können jetzt beweisen, ob sie ihre Landesbauordnungen vereinheitlichen können. In der Bundesrepublik gibt es Hotelketten, die sagen: Wir würden gern für Behinderte investieren. Aber wenn wir uns die Landesbauordnungen ansehen, dann kommen wir zu dem Schluss: Wir klappen das Buch zu. Wir sehen nicht ein, dass die Bauordnungen in Bayern, in Nordrhein-Westfalen, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und in den anderen Ländern unterschiedlich sind. Die Vielfalt muss also durch Einheitlichkeit ersetzt werden. Es kann nicht sein, dass es mit einem Bundesgleichstellungsgesetz und 16 Landesgleichstellungsgesetzen, die folgen werden, praktisch 17 unterschiedliche Lebenswelten für Menschen mit Behinderungen gibt. Das wäre so, als wenn man das Pferd von hinten aufzäumt. ({18}) Daher appelliere ich an alle: Erstens. Wir müssen dafür werben, dass man sich im föderativen System auf eine einheitliche Definition des Begriffs Behinderung verständigt. Man sollte unsere Definition des Begriffs übernehmen, weil sie gut ist. Zweitens. Man sollte unsere Definition des Begriffs Barrierefreiheit übernehmen. Drittens. Das Instrument der Zielvereinbarung - Stichwort „lernende Organisationen“ - sollte übernommen werden, um vor Ort mit dem Thema Behinderung besser umgehen zu können. Viertens. Das Instrument der Verbandsklage sollte, so wie wir es konzipiert haben, übernommen werden. ({19}) Perspektivisch bedeutet das, auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene eine Zielperspektive für die Jahre 2002 bis 2006 zu erarbeiten. Im Rahmen meiner Tätigkeit als Beauftragter für die Belange der Behinderten werde ich bis zum Ende dieser Legislaturperiode die Grundlagen dafür schaffen. Wenn ich danach noch im Amt bin, werde ich dieses Vorhaben energisch weiterverfolgen. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung und den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze auf den Drucksachen 14/8043 und 14/7420. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8331, die genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegen zwei ÄndeKarl-Hermann Haack rungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/8381? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/8382? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der PDS-Fraktion angenommen. ({0}) Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8331 empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8380. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf der Drucksache 14/8331 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Informationsangebot der Bundesregierung barrierefrei gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/5985 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 3 c: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8313 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 3 auf: 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Seehofer, Peter Rauen, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bündnis fürArbeit gescheitert - Reformen endlich umsetzen - Drucksache 14/8041 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlJosef Laumann, Matthias Wissmann, Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Politik für mehr Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus - Drucksache 14/8363 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Bundestagswahlkampf 1998 und auch noch im Jahre 1999 haben die Bundesregierung und die Fraktionen von Rot-Grün das Bündnis für Arbeit wie eine Monstranz vor sich her getragen und den Eindruck erweckt, als könne man mit diesen Sonntagnachmittagsrunden einiger alter Herren in Deutschland die Probleme auf unserem Arbeitsmarkt lösen. ({0}) Nach mehr als drei Jahren Gehampel im Bündnis für Arbeit ist die traurige Realität in Deutschland: Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sinkt. Die Zahl der Konkurse steigt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist höher als vor drei Jahren. ({1}) Angesichts dieser Situation muss man doch einfach festhalten, dass wir in Deutschland kein Bündnis für Arbeit haben, dass dieses Bündnis für den Arbeitsmarkt nichts, aber auch gar nichts bewegt hat. ({2}) Fest steht, dass die Teilnehmer des Bündnisses zurzeit über die Tarifpolitik tief zerstritten sind und dass von Präsident Wolfgang Thierse diesem Bündnis auch keine Impulse mehr zu erwarten sind. ({3}) Wir haben die traurige Situation, dass wir 4,3 Millionen in der Statistik aufgeführte Arbeitslose haben, ({4}) dass zu diesen 4,3 Millionen laut Sachverständigenrat, lieber Kollege Andres, noch einmal 1,7 Millionen hinzuzuzählen sind, die in Deutschland in geförderter Arbeit sind. ({5}) Diese Zahl von 1,7 Millionen ist keine CDU-Zahl, sondern eine Zahl des Sachverständigenrates. ({6}) Meine Damen und Herren, es wird ja noch schlimmer. Uns liegen die Statistiken zur wirtschaftlichen Entwicklung im vierten Quartal 2001 vor. Zum ersten Mal seit 1997 hat auch die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland abgenommen. Wir haben auf der ganzen Linie eine fatale Situation auf dem Arbeitsmarkt. ({7}) Jetzt sage ich Ihnen, dass Sie in der letzten Woche vor allem versucht haben, einen Propagandatrick anzuwenden. Zwar ist die Art und Weise, wie bei den Arbeitsämtern Statistiken erstellt worden sind, nicht zu akzeptieren. Aber es ist der Eindruck erweckt worden, als sei die Frage der Vermittlung für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich. Ich glaube, wir könnten die modernste und intensivste Arbeitsvermittlung dieser Erde haben, dennoch hätten wir eindeutig das Problem, dass in diesem Land 5 bis 6 Millionen Arbeitsplätze fehlen. ({8}) Ich glaube, Sie müssen mit uns gemeinsam einmal darüber nachdenken, welche Struktur wir mittlerweile bei der Arbeitslosigkeit haben. Mir bereitet es schon große Sorgen, wenn mittlerweile 63 Prozent - also knapp zwei Drittel - aller Arbeitslosen in Deutschland Arbeiterinnen und Arbeiter sind - auch wenn ihre Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt abnimmt. Das hat objektiv damit zu tun - das ist kein Problem allein der jetzigen Regierung, sondern hängt mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den modernen Industrie- und Wissensgesellschaften zusammen -, dass die Arbeit in der Produktion für Menschen, die in die neue EDV-Welt vielleicht nicht so gut hineinpassen, ohne Ende wegbricht. ({9}) Eines wird für mich jetzt, zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung, immer deutlicher: All diejenigen, die uns in Seminaren immer eingeredet haben - manche mögen es wirklich so gesehen haben -, dass Deutschland sich zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft entwickele, sollen bitte einmal in die neuen Länder gehen. Da sieht man, was für eine katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt entsteht, wenn es keine industriellen und handwerklichen Fertigungsstrukturen mehr gibt. ({10}) Deswegen ist es, wie ich glaube, ganz wichtig, dass die Politik in Deutschland alles dafür tut, dass industrielle Fertigungsstrukturen in unserem Land bestehen bleiben. Das hängt wiederum stark von der Gestaltung der Rahmenbedingungen und der Abgabenhöhe in unserem Land ab. Dass es am Standort Deutschland kaum noch Eisengießereien gibt, liegt nicht alleine am Lohnniveau, sondern auch daran, dass es für solche Industrien in Deutschland viele Auflagen gibt, die man östlich unserer Grenzen nicht kennt. Wenn wir solche Schwerindustriebereiche behalten wollen, weil wir die dort angebotenen Arbeitsplätze für einen Teil unserer Bevölkerung - das ist jetzt nur ein Beispiel - unbedingt brauchen, sollten wir uns überlegen, ob es gut ist, immer weitere Auflagen zu machen, oder ob wir nicht eher vorsichtiger vorgehen sollten. Industrielle Arbeitsplätze geben nämlich Menschen, die eine normale Ausbildung haben, oft - jedenfalls im Gegensatz zu vielen Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich - die Möglichkeit, Existenz sichernde Einkommen zu erzielen. So glaube ich, dass die Politik in Deutschland auch dafür sorgen muss, dass ein Mensch, der acht Stunden am Tag arbeitet, ein existenzsicherndes Einkommen erzielt. ({11}) Leider müssen wir feststellen, dass in einigen Gebieten in den neuen Ländern, zum Beispiel im Erzgebirge, diese Löhne zum Teil nicht mehr gezahlt werden. Dort ist der Tarifvertrag das eine und die Realität etwas anderes. Wenn Menschen für 3 bis 4 Euro zum Beispiel als Näherinnen arbeiten, kann hier nicht mehr von einem existenzsichernden Lohn gesprochen werden. ({12}) Deshalb ist es wichtig, dass wir im Bundestag ganz schnell entscheiden. Wir müssen durch linear ansteigende Sozialversicherungsbeiträge die Bezieher niedriger Einkommen bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlasten. Wenn nämlich einer nur 1 Euro über der Grenze von 325 Euro verdient und dann sofort auf alles 20 Prozent Abzüge hinnehmen muss, trägt dies zu einer überproportionalen Belastung gerade derjenigen bei, die zurzeit in Bereichen arbeiten, in denen niedrige Einkommen gezahlt werden. Deshalb fordere ich die Regierung auf, dass sie hierbei mitmacht, indem sie unserem Antrag folgt, die Sozialversicherungsbeiträge im Niedriglohnbereich degressiv zu gestalten. ({13}) Wir sollten nicht erst die Bundestagswahlen ins Land gehen lassen. Unabhängig davon, wer gewinnt - es müssen erst einmal Koalitionsverhandlungen geführt werden. Das heißt, dass sich an der Gesetzgebung vor Januar nächsten Jahres nichts mehr ändern wird. So viel Zeit haben wir in der Frage, wie ich finde, nicht. Immer wieder wird vom DGB - aus dessen Sicht, wie ich finde, auch zu Recht - die hohe Zahl der Überstunden angeprangert. Die BDA hat zwar gerade eine Statistik veröffentlicht, wonach die Anzahl der Überstunden in Deutschland sehr niedrig sei und im letzten Jahr im Schnitt pro sozialversicherungspflichtigem Arbeitnehmer nur noch gut 50 Überstunden angefallen seien. Dieser absolute Tiefstand hat sicherlich etwas mit der schlechten Konjunktur zu tun, aber auch mit Tarifverträgen, die, wie früher, bezüglich der Arbeitszeit sehr viel beweglicher gestaltet sind. Dennoch wäre es schön, wenn die Überstunden noch mehr abnähmen und dafür mehr Leute eingestellt würden. Wer aber Überstunden reduzieren will, muss die Zeitarbeit als ein Instrument, damit Betriebe auch Spitzen bewältigen können, von Reglementierungen, die es hierfür zurzeit noch gibt, ein Stück weit bzw., wie ich meine, ganz befreien. ({14}) Das wäre ein ganz konkreter Beitrag; mithilfe dieses Instruments könnten in den Unternehmen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen und die Entwicklung hin zu mehr Überstunden würde eingedämmt. Noch ein Wort zur Bundesanstalt für Arbeit. Wahr ist: Die Bundesregierung ist ihrer Fachaufsicht im Bereich der Statistik nicht hinreichend nachgekommen, sonst hätte das Ganze nicht passieren können. Wahr ist ebenso, dass Vorstand und Selbstverwaltung nicht funktioniert haben; im anderen Fall hätte es ebenfalls nicht passieren können. Deswegen haben wir heute einen Antrag eingebracht, in dem wir eine klare Strukturierung der Bundesanstalt in Nürnberg fordern, bei der die Verantwortlichen, aber auch die Kontrollgremien klar festgelegt werden. Die Idee, einen Verwaltungsrat zu bilden, ist richtig. Aber haben Sie den Mut und machen Sie diesen neuen Verwaltungsrat nicht wieder von einer Drittelparität abhängig, wie das heute der Fall ist. ({15}) Ich glaube, dass die in der Selbstverwaltung Tätigen selber schuld sind, sie haben nämlich die Selbstverwaltung zum Ehrenfriedhof von Sozialfunktionären gemacht. Deswegen ist sie vor die Wand gefahren. ({16}) Ich möchte Sie bitten, Fachleute in den Verwaltungsrat zu berufen. Natürlich müssen Arbeitgeber und Gewerkschaften beteiligt werden, Fachleute, die von der Politik unabhängig sind und uns raten können. Das heißt, dass wir auch an der Spitze der Bundesanstalt für Arbeit keinen Spitzengenossen brauchen. Schönen Dank. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres. ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss sagen, Kollege Laumann, die Rede war ein bisschen diffus. Sie reichte vom Bündnis für Arbeit über die Eisengießereien bis zur Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit. ({0}) Herzlichen Glückwunsch! Ich habe mir Ihren Antrag angesehen, Kollege Laumann. Die Unionsfraktion meint, der Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag Ratschläge bei der Organisation des Bündnisses für Arbeit erteilen zu müssen. ({1}) Durch permanente Wiederholung wird der Inhalt Ihrer Forderungen aber nicht besser. Sollten Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Union, es vergessen haben, noch einmal zur Erinnerung: ({2}) Im April 1996 scheiterte das von Helmut Kohl moderierte Bündnis fürArbeit und Standortsicherung nach gerade einmal drei Monaten. Es scheiterte, weil Sie entgegen anders lautenden Absprachen mit den Gewerkschaften massive Eingriffe in Arbeitnehmerschutzrechte vornehmen wollten. Die christlich-liberale Regierung hat damit die ausgestreckte Hand eines Bündnispartners, nämlich der Gewerkschaften, bewusst ausgeschlagen. Sie haben dadurch den Ausstieg der Gewerkschaften provoziert. Das Scheitern geht somit ganz eindeutig auf Ihre Kappe. Ihre Politik hat sich doppelt gerächt; denn die Arbeitslosigkeit stieg unbeirrt weiter an und die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande quittierten Ihre Politik 1998 bekanntermaßen mit Ihrer Abwahl. ({3}) Ich fasse zusammen: Wir müssen uns von Ihnen wirklich nicht sagen lassen, wie man ein Bündnis für Arbeit zu organisieren hat. ({4}) Gesellschaftlicher Dialog und sozialer Ausgleich sind elementare Bestandteile der politischen Gesamtkonzeption der rot-grünen Bundesregierung. ({5}) Gerade strukturelle Reformen, die Bestehendes infrage stellen, benötigen eine breite Akzeptanz in der Gesellschaft. Wir wollen im Interesse der Menschen in unserem Land den notwendigen Wandel, um den geänderten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen Rechnung zu tragen, aber wir machen ihn nicht gegen die Menschen, sondern mit ihnen. Sie haben aus der Lektion der Wähler offensichtlich bis heute keine Lehren gezogen. Gebetsmühlenartig spulen Sie auch heute Ihre alten Rezepte der einseitigen Einschränkung der Arbeitnehmerschutzrechte ab. Das hat Ihnen bei der letzten Wahl nichts genützt und ich glaube nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger Ihnen das am 22. September 2002 honorieren werden. Wir haben nach Übernahme der Regierungsverantwortung ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit initiiert, das auf einen fairen Ausgleich von Geben und Nehmen aller Beteiligten ausgerichtet ist und niemanden einseitig übervorteilt. Nur indem wir alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren, kann es gelingen, die Herkulesaufgabe der Bekämpfung der noch immer viel zu hohen Arbeitslosigkeit erfolgreich zu meistern. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Bündnis der Modernisierer hat sich dabei durchaus als Reformmotor erwiesen und nachweislich gute Ergebnisse erzielt, die ich an dieser Stelle nicht alle auflisten will. Sie wissen hoffentlich, dass sie auf der Internetseite „www.buendnis.de“ nachzulesen sind. Ich finde, dass sich das Ergebnis sehr wohl sehen lassen kann. Wir werden uns jedenfalls nicht von Ihnen von unserem eingeschlagenen Weg abbringen lassen und unser Streben nach Verständigung zwischen den Bündnispartnern unbeirrt weiter fortsetzen. Im Übrigen gilt: 94 Prozent der Bundesbürger teilen diese positive Einschätzung des Bündnisses für Arbeit und bewerten es nach einer Forsa-Umfrage mit der Note gut. ({7}) Wir sind angetreten, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. ({8}) Die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung ist deshalb von Kontinuität und Berechenbarkeit in der Mittelausstattung und durch Innovation bei den Maßnahmen geprägt. Unsere arbeitsmarktpolitische Bilanz kann sich trotz aller Schwierigkeiten sehen lassen. ({9}) Da können Sie die Zahlen fälschen und sich die Ihnen ins Konzept passenden Zahlen heraussuchen, wie Sie wollen: Die Arbeitslosigkeit lag im Durchschnitt des Jahres 2001 - ich rede jetzt über den Jahresdurchschnitt und nicht über Monatszahlen - um knapp 430 000 niedriger als im Jahre 1998, im letzten Jahre Ihrer Regierung. ({10}) - Über die Zahlen dieses Jahres werden wir uns noch unterhalten. Warten Sie es ab, Herr Kolb! Ich habe Ihnen schon gestern einiges dazu gesagt. Angesichts des Vergleiches dieser Zahlen möchte ich Sie daran erinnern, dass unter Norbert Blüm die Arbeitslosenstatistik 1998 massiv geschönt wurde. ({11}) 366 000 Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollten das Bild in der Öffentlichkeit verbessern. Das nenne ich Aktionismus und Verschwendung öffentlicher Gelder. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist in dieser Legislaturperiode um etwa 650 000 und die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt um 1 160 000 gestiegen. ({12}) Im Jahr 2001, also in einem Jahr mit nur geringem Wachstum - über das Jahr 2002 unterhalten wir uns zu einem späteren Zeitpunkt -, stieg die Zahl der Erwerbstätigen im Jahresdurchschnitt immerhin um 70 000 Personen. In den letzten vier Jahren unter Ihrer Verantwortung stieg die Zahl der Erwerbstätigen lediglich um knapp 320 000, also nur um knapp ein Viertel im Vergleich zu dieser Legislaturperiode. Auch die Mär, dass dieser Unterschied in der Bilanz lediglich auf die statistischen Erfassung der 325-Euro-Jobs zurückzuführen ist, wird durch ständiges Wiederholen nicht richtiger. Das Statistische Bundesamt hat die Zahlen rückwirkend bis zum Jahre 1995 korrigiert. Das entspricht dem üblichen Verfahren. Hören Sie gut zu, damit Sie nicht ständig Falsches wiederholen: Die Zahl ist rückwirkend bis 1995 korrigiert worden. Das heißt, die Zahlen hinsichtlich der Erwerbstätigen sind für uns real. Sie ergeben sich aus Hochrechnungen, auch rückwirkend bis zu Ihrer Regierungszeit. Das ist das übliche Verfahren des Statistischen Bundesamtes. ({13}) Ich fasse zusammen: Wir müssen uns von Ihnen wirklich nicht sagen lassen, wie man Arbeitslosigkeit bekämpft. Zynisch empfinde ich - diesen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen - Ihre Verunglimpfung unseres Sofortprogramms zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, JUMP. Sie offenbaren damit, dass Ihnen die Zukunft unseres Landes - sie liegt nun einmal in den Händen unserer Kinder - schnuppe ist. Das Programm ist ein voller Erfolg. - Es ist übrigens ein Ergebnis des Bündnisses für Arbeit. - Mehr als 400 000 Jugendliche und junge Erwachsene haben bereits daran teilgenommen. Wir werden es - so ist es beschlossen - bis 2003 unvermindert fortsetzen. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rauen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Nein. ({0}) Ich möchte der Vollständigkeit halber erwähnen, dass die Arbeitslosigkeit auch in diesem Bereich in den letzten drei Jahren um 27 800 gesenkt worden ist. Die Ausbildungsbilanz ist in den letzten zwei Jahren erstmals seit 1995 positiv. Dies ist ebenfalls ein Ergebnis des Bündnisses für Arbeit. ({1}) Sie haben demgegenüber keine Rezepte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ihre Vorschläge sind unausgegoren, untereinander nicht abgestimmt und nicht finanzierbar. ({2}) Sie sind es, die Aktionismus verbreiten. Es waren die Spitzen Ihrer Fraktion und Ihr Kanzlerkandidat, die unbezahlbare Versprechen über weitere Steuersenkungen und Konjunkturprogramme gemacht haben. Ob das die generelle Bezuschussung von Sozialversicherungsbeiträgen - das haben wir eben noch einmal von Herrn Laumann gehört - oder das so genannte Dreisäulenmodell ist: Sie machen mit all diesen Vorschlägen Luftbuchungen. ({3}) Die angegebenen Beschäftigungseffekte ermitteln Sie nach dem Motto „Pi mal Daumen mal Fensterkreuz“. ({4}) Tatsächlich dürfte es - sollte jemand tatsächlich Ihren Vorschlägen folgen - eher zu einem Verdrängungsprozess zulasten bestehender Jobs und zu Einnahmeausfällen in der Sozialversicherung kommen. Auf die Auseinandersetzung freue ich mich. Ihr Dreisäulenprogramm geht von einem Zuwachs der Beschäftigung um 800 000 aus. Damit wir uns richtig verstehen: Das werden Sie in den Ausschussdiskussionen ordentlich begründen müssen. ({5}) Wissen Sie, wie die 800 000 zustande gekommen sind? Durch die Methode „Pi mal Daumen mal Fensterkreuz“. Auch Ihre ganzen Berechnungen dazu, was das kostet, sind getrickst und von hinten bis vorn erstunken und erlogen. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, während Sie lamentieren und die Vergangenheit ignorieren, handeln wir - verlässlich und entschlossen. Der Schuldenberg des Bundes ist unter der alten Regierung von rund 180 Milliarden Euro in 1982 auf 770 Milliarden Euro in 1998 gewachsen. Fast jeder vierte Euro muss für Zinszahlungen ausgegeben werden; dieses Geld fehlt uns für die Finanzierung von Reformen. ({7}) Trotz dieser fast erdrückenden Erblast haben wir viel zur Stärkung des Standortes Deutschland und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung getan. Es gibt dabei keinen Königsweg zum Abbau der Arbeitslosigkeit, aber es gibt eine Summe von intelligenten Ansätzen. ({8}) Das Bündnis für Arbeit, das SGB-III-Vorschaltgesetz, die Steuerreform, die Senkung der Lohnnebenkosten, die Erhöhung der Ausgaben für Bildung, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen in Ost und West, das Job-Aqtiv-Gesetz und die bundesweite Einführung des Mainzer Modells ({9}) all diese Initiativen - ich habe nur die wichtigsten genannt sind im Bündnis für Arbeit diskutiert und angeschoben und vom Bündnis für Arbeit in der parlamentarischen Beratung flankiert worden. ({10}) Ich nenne Ihnen noch ein Argument - von Ihnen kommen ja noch genug Redner an die Reihe -: Die Staatsquote lag im Jahr 2001 mit 48,4 Prozent so niedrig wie seit 1990 nicht mehr. Noch einmal - ganz langsam für Sie zum Mitschreiben -: Die Staatsquote lag im Jahr 2001 ({11}) mit 48,4 Prozent so niedrig wie seit Jahren nicht mehr. Die Steuerreformmaßnahmen führen allein in diesem Jahr zu einem Entlastungsvolumen von rund 28 Milliarden Euro gegenüber 1998. ({12}) Ich könnte Ihnen weitere beeindruckende Einzelheiten unserer Leistungsbilanz nennen. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Machen Sie das lieber nicht; das kostet zu viel Zeit.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich will zum Schluss noch eine Bemerkung machen. Herr Laumann, was die alten Männer und den Friedhof der Selbstverwaltung angeht: Die alten Männer werden sich selber mit Ihnen auseinander setzen. Ich hätte mir gewünscht, dass das Bündnis für Arbeit, insbesondere im letzten halben Jahr, zu noch kraftvolleren und besseren Ergebnissen gekommen wäre. Wenn ich aber die Bilanz von acht Bündnisrunden ziehe - ich weiß, wovon ich rede, weil ich daran mitgewirkt habe -, dann sehe ich: Diese Bilanz ist beeindruckend. ({0}) Das, was Sie machen, ist mauern und schlechtreden. Sie haben keine vernünftigen Vorschläge. Deswegen werden wir unsere Politik mit ruhiger Hand, aber entschieden fortsetzen. Schönen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatssekretär, „erstunken und erlogen“ ist zwar eine Redewendung, aber keine sehr parlamentarische. Dabei will ich es belassen. Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion. Rainer Brüderle ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bündnis für Arbeit ist Symbol für den wirtschaftspolitischen Ansatz der grün-roten Regierung, der auf Korporatismus, Syndikalismus, Kungelrunden und nicht auf Wettbewerb setzt. ({2}) Beides, Ihr Bündnis und Ihre Wirtschaftspolitik, sind gescheitert. Im Wahlkampf wurde das Bündnis noch als Wunderwaffe durch die Landschaft getragen. Deshalb wird es natürlich bis zum Ende der Legislaturperiode durchgeschleppt - nicht aus Überzeugung. Vielmehr soll es verdecken, dass man keine Lösungskonzepte für die Beschäftigungskrise in Deutschland hat. ({3}) Grün-Rot spielt dieses Verantwortungspingpong im Bündnis für Arbeit, um davon abzulenken, dass man in Wahrheit keinen Weg hat. ({4}) Geben Sie diese erfolglose Umarmungsstrategie auf! Sie kennen das ja vom Tanzen: Wenn man sich in den Armen liegt, hat man die Hände nicht frei zum Arbeiten. Des Kanzlers Wundermittel ist zum Rohrkrepierer geworden. ({5}) Es hat die Verantwortlichkeiten für die Beschäftigungskrise verwischt, anstatt sie zu benennen. In den Bündnisrunden werden Beschlüsse zulasten Dritter gefasst. Ein Beispiel ist die Qualifizierung. Sich gegenseitig Ausbildungsplätze einzureden ist schön, aber wertlos. Geschaffen werden sie nicht im Bündnis für Arbeit und in Diskussionsrunden, sondern insbesondere in den kleinen und mittleren Betrieben, im Mittelstand vor Ort. ({6}) Dem Mittelständler, dem Unternehmer müssen wir für seine Ausbildungsleistungen Danke sagen, aber nicht den Funktionären beim Kanzlerstammtisch. Schauen wir uns einmal kurz die Bündnisgeschichte an. Da gab es - mancher hier im Saal wird sich noch daran erinnern - die Forderung nach der Rente ab 60 Jahren. Diese wahnwitzige Idee wurde in der Bündnisrunde geboren. Heute sprechen wir darüber, wie wir Menschen dazu bewegen können, länger zu arbeiten. Heute sprechen wir darüber, wie wir es älteren Arbeitslosen ermöglichen, in das Erwerbsleben zurückzukehren. ({7}) Da wundert es nicht, dass die Kopfgeburt „Rente mit 60“ in den Bündnisgesprächen wieder begraben wurde. Das ist der Öffentlichkeit als große Leistung dieser Bündnisrunde verkauft worden. Die Methode ist die: Ich habe eine Schnapsidee, verkünde diese, erkenne wenig später, dass es eine Schnapsidee ist, und lasse mich für die nahe liegende Erkenntnis, dass es eine Schnapsidee ist, öffentlich feiern. ({8}) Ähnlich ist es bei der grün-roten Steuerpolitik: Erst nehmen Sie - bildhaft - dem Bauern das Schwein ab; dann bekommt er von seinem Schwein drei Koteletts zurück und soll sich auch noch huldvoll dafür bedanken. Das ist Ihre Methode! So ist ein System entwickelt worden, das zwar die Politikverdrossenheit in Deutschland fördert, aber nicht die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die entscheidenden arbeitsmarktpolitischen Themen wurden aus der Bündnisrunde systematisch herausgehalten. Die Frage „Wie gestalte ich Lohnfindungsprozesse so, dass sie den GegeParl. Staatssekretär Gerd Andres benheiten vor Ort gerecht werden?“ oder die Frage „Wie flexibilisiere ich den zubetonierten Arbeitsmarkt?“ hat die Regierung mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften leider nicht besprochen. Dabei waren die Teilnehmer der Runde im Kanzleramt genau diejenigen, die für diesen Fragekomplex zuständig gewesen wären. ({9}) Stattdessen sichert der Funktionärsstammtisch im Kanzleramt überkommene Strukturen sowie das angestaubte Tarifkartell und verhindert wirkliche Lösungen. Die Folge dieses Versagens kann man feststellen: Die IG Metall - und jetzt auch Verdi - fordert 6,5 Prozent mehr Lohn. Darüber kann man vielleicht mit einem Unternehmen wie Porsche reden, aber nicht mit den Mittelständlern, den Zulieferbetrieben, die zusehen müssen, dass sie überhaupt über die Runden kommen. Das zeigt, dass hier irreale Vorstellungen auf den Weg gebracht werden. ({10}) Auch in diesem Monat werden wir - zugegeben, Herr Andres, nach Ihrer ungeliebten und aktuellen Statistik; ich hätte auch Herrn Riester gerne angesprochen, aber er ist leider nicht da - über 4,3 Millionen Arbeitslose haben. Wenn Sie 20 bis 25 Prozent herausrechnen - dies geschieht wohl erst nach der Bundestagswahl; der Kanzler hat die Notbremse gezogen -, dann müssten Sie, wenn Sie ganz ehrlich sind, aber auch diejenigen hinzurechnen, die in ABM und Fortbildungsstrukturmaßnahmen geparkt werden. Dann kommen Sie nämlich auf 6 Millionen Arbeitslose. Das ist die Wahrheit in Deutschland! ({11}) Denn diese Menschen haben keine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Sie sollten sich überlegen, ob Sie die Statistik ändern, zumal Sie mit Ihren Statistiktricksereien langsam auffliegen. ({12}) - Schon wieder Zurufe! - Über 1 Million neue Stellen will Grün-Rot geschaffen haben. Diese Behauptung ist so kühn wie falsch. Sie sollten wissen, dass die Zahl der Vollzeitbeschäftigten und die Zahl der Selbstständigen praktisch nicht gestiegen sind. Nur bei den Teilzeitbeschäftigten gab es einen Zuwachs. Der beruht zum großen Teil auf der neuen Meldepflicht im Zusammenhang mit geringfügiger Beschäftigung und der neuen Regelung der 630Mark-Jobs. ({13}) Existierende Stellen werden nun statistikwirksam ausgewiesen. Das als Beschäftigungserfolg zu bewerten ist nun wirklich dreist. Es gibt nur einen Faktor, der die Situation klar wiedergibt: das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen. Das zeigt eindeutig: Unterm Strich werden in Deutschland nicht mehr Arbeitsplätze registriert und wird nicht mehr gearbeitet als vor dem Regierungswechsel. Entweder können Sie die Statistik nicht lesen oder Sie wollen die Menschen bewusst irreführen. Richtig ist vielmehr, dass die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland im letzten Quartal im Jahr 2001 erstmals seit vier Jahren wieder zurückgegangen ist. Das ist die Wahrheit. Zu behaupten, Sie hätten 1 Million Arbeitsplätze geschaffen, ist wirklich eine kaum zu überbietende Dreistigkeit. ({14}) Da Sie die Arbeitsmarktkatastrophe mit Heftpflaster, Placebos und Herumgerenne nicht verbergen können, setzen Sie auf dirigistische Subventionsmodelle, die auch schon der Modellregion im Grunde nichts gebracht haben, anstatt mit unbürokratischen 630-DM-Jobs schnell Stellen zu schaffen. In ganz Rheinland-Pfalz mit seinen 4 Millionen Einwohnern wurden mit diesem Subventionsmodell 800 Arbeitsplätze geschaffen, von denen ein großer Teil Mitnahmeeffekte sind. ({15}) - Sie sollten wegen Ihrer miserablen Politik schreien; Sie haben Grund dazu. - Wie das Modell in Rheinland-Pfalz zeigt, ist dies kein Weg, um die Situation zu verändern, sondern beweist nur Ihre Hilflosigkeit, in der Sie mit Kosmetika aus dem Schminkkoffer versuchen, zu vertuschen, dass dies kein richtiger Ansatz ist. ({16}) Das gilt auch für Ihr JUMP-Programm. 1 000 Millionen Euro, also 2 Milliarden DM, geben Sie pro Jahr dafür aus. Anschließend findet nur jeder fünfte Jugendliche im ersten Arbeitsmarkt eine Stelle. Ein Drittel wird wieder arbeitslos. JUMP ist damit für die meisten leider ein Sprung ins Leere. So können die anstehenden Probleme eben nicht gelöst werden. Ich bin froh, dass der Bundeskanzler vergangene Woche wichtige Vorschläge von uns zur Reform der Bundesanstalt für Arbeit aufgegriffen hat. ({17}) Damit ist man auch gut beraten. Die Forderung nach mehr Wettbewerb in der Arbeitsvermittlung insbesondere durch die Einführung von Gutscheinen für Arbeitslose hat bewiesen: Die FDP ist und bleibt der Motor der Modernisierung Deutschlands. ({18}) So froh, wie ich über diese Entwicklung bin, bin ich wegen der üblichen Methode der grün-roten Regierung, eine Kommission einzusetzen, skeptisch. Wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis. Es drängt sich der Verdacht auf: Der Kanzler spielt mal wieder auf Rainer Brüderle Zeit, um über die Bundestagswahlvorperiode zu kommen. Dabei ist jetzt das Lösen und nicht das Verschieben von Problemen angesagt. Beim Thema Selbstverwaltung oder beim Thema aktive Arbeitsmarktpolitik müssen schnelle Entscheidungen her. Zeitschinderei ist in dieser Lage nicht angemessen. Sehr enttäuscht bin ich darüber, dass der Kanzler und sein Arbeitsminister wieder zur Tagesordnung übergehen. Von der Neuorganisation der Arbeitsverwaltung und -vermittlung dürfen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit keine Wunder erwartet werden. Es gibt noch viel mehr zu tun. Natürlich brauchen wir möglichst schnell neu justierte Arbeitsanreize, geringere Lohnnebenkosten und ein liberaleres Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Zeitarbeit hat als Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, aber auch als Puffer bei Nachfrageschwankungen eine wichtige Funktion. Deshalb fordern wir, die Überlassung von Arbeitskräften auf 36 Monate zu verlängern und das Gesetz insgesamt zu entbürokratisieren. Wir brauchen schnellstens die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie die Begrenzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf höchstens 12 Monate. Was wir definitiv nicht brauchen, sind wirkungslose Alibiveranstaltungen. Sie garantieren zwar eine Medienresonanz, bringen aber den Arbeitslosen - das sind die Betroffenen, um die es geht - nichts. ({19}) Wir brauchen deshalb keinen Kanzler, der sich um die Verbandsfunktionäre und die großen Konzerne kümmert, sondern einen Kanzler, der sich der Interessen der Arbeitslosen und der vielen kleinen und mittleren Betriebe im Lande annimmt. ({20}) Am 22. September ist der Freiheitstag; dann darf gewählt werden. Das Bündnis für Arbeit ist kläglich gescheitert, genauso wie die Konzertierte Aktion in den 70er-Jahren. Sie sollten aus der Geschichte und der Gegenwart lernen und sich von dieser Quasselrunde verabschieden. All dies ist kein Ersatz dafür, Rahmenbedingungen zu verändern und politisch mutig eine Kurskorrektur vorzunehmen. Es ist nett, wenn man miteinander redet. Aber das trägt nicht zu einer Problemlösung bei. Deshalb: Schluss mit der Theaterinszenierung! Schluss mit dem falschen Ansatz! Nicht Syndikalismus und Zusammenglucken sind die Lösung, sondern ein direktes Herangehen an die Probleme und ein Verändern der Grundbedingungen, damit die Arbeitslosen endlich eine Chance bekommen. Es bringt nichts, vor der Wahl mit der Tünche durch die Landschaft zu marschieren, um die Leute zu täuschen. Danke. ({21})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Laumann, Konfuzius hat gesagt: Gehe nicht durch eine Glastür, wenn sie geschlossen ist. ({0}) Bezogen auf die Arbeitsmarktpolitik möchte ich Ihnen das auch raten. Ich glaube, Sie haben in den letzten Jahren - aber auch jetzt, beispielsweise durch Ihr Agieren im Hinblick auf die Reform der Bundesanstalt für Arbeit sehr deutlich gemacht, dass Sie die Glastür zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik für sich zugeschlagen haben. Sie müssen aufpassen, dass Sie sich daran nicht verletzen. Sie stellen sich hier hin und formulieren wohlfeile Forderungen. Zum Beispiel fordern Sie das Bündnis für Arbeit - dabei waren Sie es, die das Bündnis für Arbeit in der Vergangenheit nicht zustande gebracht haben - und sagen gleichzeitig, dass es nicht gelungen, sondern gescheitert ist. Das, was Sie nicht wahrnehmen wollen, ignorieren Sie, zum Beispiel die Tatsache, dass mit dem Sofortprogramm für jugendliche Arbeitslose im Rahmen des Bündnisses für Arbeit sehr vielen jugendlichen Arbeitslosen, nämlich über 300 000, geholfen worden ist. Sie nehmen auch nicht wahr, dass das Bündnis für Arbeit gerade für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt - zum Beispiel durch die veränderten Regelungen bezüglich der Altersteilzeit - einiges in Bewegung gebracht hat. Sie ignorieren das, weil es Ihnen nicht passt, dass auf diesem Gebiet Erfolge errungen wurden; zum Beispiel konnte durch das Bündnis für Arbeit auch eine Ausbildungsplatzinitiative erfolgreich auf den Weg gebracht werden. Sie fordern mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit. Ich erinnere daran, dass wir im letzten Jahr mit dem VWModell „5 000 mal 5 000“ ein solches Bündnis für Arbeit auf den Weg gebracht haben. Dies geschah vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik Deutschland gültigen Gesetze, zum Beispiel auch des Günstigkeitsprinzips, das Sie angreifen. Dieses Bündnis für Arbeit verkörpert eine moderne Industriepolitik, in der Qualifizierung, Integration von Arbeitslosen und eine vernünftige Entwicklung der Löhne miteinander verbunden worden sind. Dies alles geschah auf der Basis dessen, was heute vorliegt. Es ist möglich, aber es liegt an den Tarifparteien, ob in den Betrieben Bündnisse für Arbeit geschlossen werden können oder nicht. Das können wir vonseiten der Politik nicht ex cathedra vorgeben. Meine Damen und Herren, wer ein Bündnis für Arbeit will - das gilt für die Opposition ganz genauso -, muss akzeptieren, dass wir in unserer Gesellschaft an dieser Stelle ein Konsensverfahren brauchen. Es gibt das Beispiel aus den Niederlanden. Dort hat es sehr lange gedauert, bis die Tarifparteien überhaupt bereit waren, über heilige Kühe zu reden. Das ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland sehr ähnlich. Wir befinden uns in einem Wahljahr. Ich weiß, dass der Fortschritt beim Bündnis für Arbeit Rainer Brüderle - dort stoßen die Tarifparteien in der Diskussion aufeinander - deshalb eher eine Schnecke sein wird. Das Bündnis für Arbeit, das in die Zukunft gerichtet ist - das haben Sie nicht erreicht -, wird seine vernünftige Arbeit dennoch fortsetzen können. Allerdings wird dazu auch gehören, dass die einzelnen Parteien hin und wieder über ihren eigenen Schatten springen. Ich wünsche mir, dass die Arbeitgeber in diesem Jahr bereit sind, über einen ordentlichen Überstundenabbau zu reden, und dass die Gewerkschaften bereit sind, im Bündnis für Arbeit über die Rahmenbedingungen für eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik zu reden. ({1}) Die CDU/CSU fordert - es wurde ein richtiger Katalog vorgelegt - das Modell 40/40/40. Das bedeutet, dass der Spitzensteuersatz 40 Prozent betragen soll und dass die Sozialabgaben sowie die Staatsquote unter 40 Prozent liegen sollen. Ich zähle hier nicht auf - das hat der Staatssekretär schon gemacht -, was Sie uns hinterlassen haben. Eines wissen Sie aber ganz genau: Wir haben mit der Ökosteuerreform zum Beispiel die Rentenbeiträge gesenkt und auch die Staatsquote und die Steuersätze - übrigens auch der Eingangssteuersatz; der interessiert Sie ja nicht so sehr - bewegen sich nach unten. ({2}) Sie haben diesen Vorschlag, 40/40/40, gemacht. Ich bitte Sie wirklich, dass Sie trotz des Wahljahres den Mut fassen, der Bevölkerung zu sagen, dass dies, verbunden mit der Abschaffung der Ökosteuer, nur realisiert werden kann, wenn die Mehrwertsteuer um mindestens zehn Prozentpunkte steigt. Das heißt, dass Sie letzten Endes einer Erhöhung der Mehrwertsteuer das Wort reden, aber nicht den Mut haben, das hier zu sagen. Ich finde, wir sollten an dieser Stelle ehrlich diskutieren. ({3}) Sie fordern die Rücknahme der neuen Regelung zur Befristung der Beschäftigungsverhältnisse. Ich weiß nicht, wie weit Ihr Gedächtnis reicht. Wenn wir zu dem Vorschlag zurückkehren würden, den es früher gab, hätten wir im Moment keine Möglichkeit für befristete Arbeitsverhältnisse. Ihre Regelung wäre nämlich ausgelaufen. ({4}) Wir haben eine befristete Regelung in eine langfristige, planbare Regelung überführt. ({5}) Sie fordern die ganze Zeit in vielen einzelnen Punkten das, was wir mit dem Job-Aqtiv-Gesetz auf den Weg gebracht haben. Ich nenne als Beispiel die Jobrotation. Sie von der CDU/CSU-Fraktion erklären sich ja geradezu zu Müttern der Jobrotation, haben aber nichts anderes zu tun gehabt, als dieses Gesetz abzulehnen. ({6}) - Doch, Herr Laumann, Sie haben es abgelehnt. Rufen Sie nicht dazwischen, machen Sie einfach die geschlossene Glastüre auf und treten Sie in einen Wettbewerb um Reformen der Arbeitsmarktpolitik ein. ({7}) Sie haben gerade gestern ein Beispiel gegeben, dass Sie blockieren wollen. Wir haben heute nach dem Desaster in der Bundesanstalt für Arbeit die Chance zu einem Neuanfang und zu einer neuen Struktur dieser Bundesanstalt. Was haben Sie denn gemacht? Sie wollen geradezu verhindern, dass wir die gesetzlichen Regelungen, die wir für einen neuen Vorstand brauchen, schnell auf den Weg bringen können. Sie wollen blockieren. Das haben Sie gestern im Ausschuss deutlich gemacht. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dückert, Sie haben gerade Ihr Vorhaben bezüglich des Gesetzgebungsverfahrens zur Reform der Bundesanstalt für Arbeit angesprochen. Halten Sie es denn wirklich mit den Rechten des Parlamentes für vereinbar, wenn auf der einen Seite die Bundesregierung zwei Wochen braucht - bis Donnerstag nächster Woche -, um den Gesetzentwurf zu formulieren, und auf der anderen Seite der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung am Freitag Mittag mit einer kurzen Ladungsfrist übers Wochenende zu einer Fachanhörung für Montag, 11 Uhr, einlädt und am Mittwoch ohne Vorlage votieren soll, damit die Sache am Donnerstag im Plenum beraten werden kann? Das heißt: Das Parlament hat weniger Beratungszeit, als die Regierung zur Formulierung braucht. Glauben Sie wirklich als ehemalige Basisdemokratin, dass sich das mit den Rechtsgrundsätzen einer Demokratie vereinbaren lässt? ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Laumann, ich muss Ihnen sagen, ich fürchte im Moment um Ihre Gesundheit. ({0}) Ich habe das auch schon gestern im Ausschuss getan. Ich bin Ihnen trotzdem dankbar, dass Sie heute das vorführen, was Sie gestern schon vorgeführt haben. Sie wissen ganz genau, dass wir das Verfahren nach parlamentarischem Recht durchführen werden. Sie wissen aber auch, dass in dieser Republik jeder verstehen wird, dass ein Verfahren in Bezug auf die Notwendigkeit, die Bundesanstalt für Arbeit so schnell wie möglich in den Stand zu setzen, das zu machen, was sie machen muss - nämlich zu vermitteln, Leute aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen und in Arbeit zu bringen -, nicht aufgehalten werden darf. Wir müssen die Reform schnell verwirklichen, das heißt, wir müssen sehr schnell die rechtlichen Grundlagen schaffen, damit der neue Vorstand arbeiten kann. Wir müssen sehr schnell rechtliche Grundlagen schaffen, um Dritte als Vermittler auf dem Arbeitsmarkt zuzulassen und dafür Qualitätsstandards zu formulieren. All das wird von Ihnen blockiert. Ich sage Ihnen aber eines: Wir werden das parlamentarisch ordentlich machen. Wenn Sie blockieren wollen, werden wir es ohne Sie machen. Das ist überhaupt kein Problem, denn wir haben zum Glück in diesem Bundestag die Mehrheit ({1}) und können daher die notwendigen Reformen auf den Weg bringen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich würde gerne fortfahren. Sie haben nicht nur gestern eine Blockade veranstaltet, Sie haben auch in den Wochen davor gezeigt, wie rückwärtsgewandt Sie denken. ({0}) Das Problem bei der Bundesanstalt war offenbar, aber Sie wollten überhaupt nicht einsehen, dass ein Neuanfang bei der Bundesanstalt mit einer Änderung an der Spitze verbunden sein muss. Es geht nicht nur um das Konzept, sondern auch um einen personellen Neuanfang. Sie müssen sich entscheiden, was Sie eigentlich wollen. Sie kritisieren die Personalie Florian Gerster, indem Sie sagen, die Position müsse mit einem Wirtschaftler besetzt werden. Auf der einen Seite wollen Sie die alte Struktur behalten, auf der anderen Seite kommen Sie hier mit einzelnen Detailvorschlägen. Im Moment weiß man nicht ganz genau, was Sie eigentlich wollen. Mit dem Vorschlag, Peter Hartz an die Spitze der Kommisson zu stellen, ist etwas eingeleitet worden, was den Reformprozess in der Bundesanstalt für Arbeit sehr beschleunigen und auch substanziell verankern kann. Wir brauchen tatsächlich ein Konzept mit Kurz-, Mittel- und Langfriststrategien, das ist ganz klar. Sie haben in Ihren Anträgen Vorschläge gemacht, denen man sich zuwenden kann. Aber zunächst einmal müssen wir bei den Kurzfriststrategien - das habe ich in der Antwort auf die Zwischenfrage schon gesagt - den Weg frei machen, damit die neuen Gremien ihre Arbeit aufnehmen können; sonst können wir hier lange philosophieren. Die Bundesanstalt für Arbeit muss in die Lage versetzt werden, die Reform ordentlich zu entwickeln und auf den Weg zu bringen. Sie schlagen vor, die Größe des Verwaltungsrats zu reduzieren. Das ist ein vernünftiger Vorschlag. Wir wollen auch die Verantwortung der Sozialpartner in eben diesem Verwaltungsrat verankern, aber natürlich muss er arbeitsfähig sein. Aber Sie schlagen weiter vor, dass allein dieser Verwaltungsrat die Kontrolle, also das betriebsinterne und anstaltsinterne Controlling, unter seine Fittiche nehmen soll. Ich weiß nicht, ob das ein guter Vorschlag ist. Ich denke, dass das Exekutivorgan, nämlich der Vorstand, auch hier die Verantwortung übernehmen muss. Darüber müssen wir noch reden. Eines ist aber klar, meine Damen und Herren: Es wird das kommen, was wir die ganze Zeit wollen. In der Arbeitsverwaltung wird es eine Reform an Haupt und Gliedern geben. Das ist eine große Chance für die zukünftige Arbeitsmarktpolitik. Ich glaube aber auch, dass sich diese Konzepte mit einer verschlankten Struktur, mit einer Entschlackung der Arbeitsverwaltung, mit der Umschichtung von Personal von der Verwaltung hin zur Arbeitsvermittlung, mit der Dezentralisierung und nicht zuletzt auch mit dem Aufbau und mit der Unterstützung von dritten Arbeitsvermittlern auseinander setzen müssen. Im Rahmen einer solchen Strategie sollten wir zunächst einmal den Prozess „Arbeitsamt 2000“ stoppen. Wir sollten erst genau hinschauen, ob dieser Prozess wirklich auf der Linie der neuen Struktur der Arbeitsverwaltung liegt, nämlich auf der Linie einer klaren Aufgabentrennung und Aufgabenteilung zwischen Leistung und Vermittlung. Meine Damen und Herren, ich denke, dass wir auf einem guten Weg für einen Neuanfang sind. Ich lade Sie von der Opposition herzlich ein, mit der Meckerei jetzt einmal Schluss zu machen, die Ärmel mit aufzukrempeln und in einen Wettbewerb um die besten Ideen für eine Neustrukturierung der Arbeitsverwaltung einzutreten. Danke schön. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Christa Luft für die PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Dückert, tatsächlich sind die Ärmel noch aufzukrempeln, aber das gilt wohl zuallererst für die Koalition, die jetzt noch die Regierung stellt. ({0}) Eine ehrliche Bilanz über das Bündnis für Arbeit fällt meiner Meinung nach außerordentlich trist aus. ({1}) Wenn die Ergebnisse der Forsa-Umfrage, Herr Kollege Andres, so aussehen, dass das Bündnis mit „gut“ bewertet wird, muss man sich vielleicht auch einmal anschauen, wem Forsa welche Fragen gestellt hat. Das Hauptziel des Bündnisses, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, ist jedenfalls verfehlt worden. Darum kann man nicht herumreden. Die Arbeitslosenzahlen steigen von Monat zu Monat wieder und die Zahl der Erwerbstätigen ist erstmals seit 1997 rückläufig. Der Osten Deutschlands ist von dieser Misere besonders stark betroffen. Dort erreicht die Arbeitslosigkeit mit 1,3 Millionen in diesem Jahr den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Die Arbeitslosenquote liegt mit 18 Prozent höher als im letzten Jahr der Vorgängerregierung. Daher kann in den neuen Ländern auch niemand mehr die verbalen Verrenkungen von Regierungsmitgliedern ertragen, die ständig sagen, die Lage am Arbeitsmarkt sei zwar nicht gut, aber immerhin noch besser als 1998. Das stimmt für den Osten nicht. Deshalb sollten Sie solche pauschalen Behauptungen künftig unterlassen. ({2}) Überhaupt hat die spezifische Situation der neuen Bundesländer im Bündnis für Arbeit so gut wie keine Rolle gespielt. Das ist eine Hauptkritik, die geäußert werden muss. Mit der Steuerreform ist die Regierung im Bündnis für Arbeit den Unternehmen weit entgegengekommen. Sie ist mit massiven Entlastungen in Vorleistung getreten. Die erhoffte Wirkung auf Wachstum und Beschäftigung ist jedoch ausgeblieben. ({3}) Nichtsdestotrotz fordert die Union in ihrem Antrag, den Spitzensteuersatz auf unter 40 Prozent zu senken, verbunden mit der Hoffnung, dies würde Wachstums- und Beschäftigungseffekte bringen. Aber die Inlandsnachfrage wird mit der Senkung des Spitzensteuersatzes nicht stimuliert und private Investitionen werden bekanntlich nur dann getätigt, wenn die dadurch zu erwartenden Renditen höher sind als der Ertrag von Finanzanlagen. Die öffentlichen Investitionen - das wissen wir leider auch - sind in den letzten Jahren auf ein historisches Tief gesunken. Dabei sieht man, wohin es führt, wenn die Staatsquote abgesenkt wird, Herr Kollege Brüderle. Das hat nicht nur positive Wirkungen, sondern hat sich auch auf den investiven Bereich ausgewirkt, jedenfalls soweit die öffentliche Hand betroffen ist. Die Gewerkschaften haben im Bündnis für Arbeit ebenfalls eine Vorleistung erbracht. Sie haben nämlich mehrjährige Lohnzurückhaltung geübt und Reallohnverluste hingenommen. Auch das ist von den Unternehmen nicht mit zusätzlichen Arbeitsplatzangeboten honoriert worden. Im Gegenteil: Am Überstundenunwesen hat sich nichts geändert. Ausbildungsplätze sind in ungenügendem Maße angeboten worden und Arbeitszeitverkürzung ist überhaupt kein Thema mehr. Das ist mir ein schönes Bündnis, in dem immer nur die einen Zugeständnisse machen und die anderen sich aus der Affäre ziehen. Statt auch von den Arbeitgebern substanzielle Eigenbeiträge zur Senkung der Arbeitslosigkeit zu fordern, fällt der Union nichts weiter ein, als auf flexiblere Arbeitsmärkte und weitere Einschnitte ins Sozialsystem zu drängen. Übersehen wird, dass an die 40 Prozent der derzeitigen Beschäftigungsverhältnisse bereits flexibel sind. Ich nenne nur die Stichworte Teilzeit, Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse und 630-MarkJobs. Das sind alles keine existenzsichernden Beschäftigungsverhältnisse. Wohin soll die Flexibilität eigentlich noch führen? Humankapital ist die wichtigste Ressource der Gesellschaft. Das versichern wir uns täglich gegenseitig. ({4}) Diese Ressource muss man aber schützen und stimulieren. Dem Humankapital darf man nicht ständig mit Einschnitten und Sanktionen drohen. Das von der Union und auch von der Koalition geforderte Kombilohnmodell, mit dem Arbeitslose in den Niedriglohnsektor vermittelt werden sollen, wird auch keine dauerhafte Abhilfe schaffen. Denn Arbeitsplätze für Geringqualifizierte werden am schnellsten wieder abgebaut. Das Einzige, was entstehen wird, sind Mitnahmeeffekte bei den Arbeitgebern und Druck auf die Tarifpolitik. Das kann ja wohl nicht das Ziel sein. ({5}) Die neue Wunderwaffe soll nun die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sein, mit anderen Worten: irgendwann die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Man kann Wetten abschließen, dass danach die Neuregelung der Sozialhilfe auf dem Plan stehen wird. Das Bedarfsdeckungsprinzip und damit eine der Grundfesten des Sozialstaatprinzips wird kippen. In der Statistik sollen sozusagen die Arbeitslosen nun auch in zwei Klassen eingeteilt werden. Angeblich gibt es die Arbeitslosen, die keinen Job suchen und die man in eine gesonderte Spalte bringen müsste. Jetzt aber sagt der Arbeitsminister, dass er das nicht mehr vor der Bundestagswahl machen will. Wenn aber die Erkenntnis richtig und belegbar ist, dass es Arbeitsunwillige gibt, dann verstehe ich nicht, weshalb man dies bis nach der Bundestagswahl verschieben will. ({6}) Es scheint so zu sein, dass man der Aussage selbst nicht traut, dass Millionen von Menschen angeblich gar keinen Job suchten. Ich halte das für ein Wahlkampfmanöver. Mit all den eben genannten Versuchen wird die Massenarbeitslosigkeit nicht wirklich abgebaut. Wo Unternehmen fehlen, wie es in den neuen Bundesländern, aber auch in strukturschwachen Regionen Westdeutschlands der Fall ist, bringt auch die beste Vermittlung nichts. Da hilft selbst die Streichung der Arbeitslosenhilfe nichts. Dort braucht man eben mehr Unternehmensansiedlungen. Wo Niedriglöhne als Ausweg gepriesen werden, sinkt die Inlandsnachfrage, die gerade für kleine und mittlere Unternehmen von großer Bedeutung ist. Vordringlich sind aus unserer Sicht die Förderung von Unternehmensansiedlungen und Existenzgründungen in strukturschwachen Ost- und Westregionen sowie Investitionen in die kommunale Infrastruktur, um die Bauwirtschaft anzuregen. ({7}) Überfällig ist ein wirksamer Schutz der Handwerksbetriebe vor Insolvenz aufgrund schlechter Zahlungsmoral. Hier besteht für Rot-Grün noch Handlungsbedarf, denn das, was bisher zur Bekämpfung schlechter Zahlungsmoral beschlossen worden ist, reicht bei weitem nicht aus. ({8}) Dringlich sind auch die gesetzliche Einführung existenzsichernder Mindestlöhne und die Einschränkung der Überstunden. Auch müssen endlich Regelungen her, um arbeitsintensive Handwerksleistungen mit dem niedrigen Mehrwertsteuersatz zu belasten. Das schafft Nachfrage nach solchen Leistungen und damit neue Arbeitsplätze. Für Existenzgründer wäre die Steuerfreistellung in den ersten drei Jahren hilfreich, und zwar auch dann, wenn sie bereits stattliche Gewinne einfahren; denn es ist gerade angesichts der bevorstehenden Neuregelungen zu Basel II wichtig, dass ihre Eigenkapitalbasis gestärkt wird. Für kleine Unternehmen mit Jahresumsätzen bis zu 1 Million Euro sollte die Soll-Steuerabführung erst fällig werden, wenn die Rechnung bezahlt ist, und nicht schon dann, wenn sie ausgestellt wird. Das könnte vielen Unternehmen das Überleben sichern. ({9}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, aber auch von der Union und der FDP, es gibt also auch Alternativen zu dem, was Sie vorschlagen. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Die CDU/CSU hat ihren Antrag, über den wir heute debattieren, mit den Worten „Politik für mehr Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus“ überschrieben. ({0}) Der Antrag ist schon in der Überschrift gehässig und falsch. ({1}) Dennoch sahen wir der Debatte gelassen entgegen, denn der Antrag zeigt die Konzeptionslosigkeit der größten Oppositionspartei. Lautstärke allein, Kollege Laumann, macht noch keine Musik. Sie gefallen sich offensichtlich in der Rolle einer lautstarken Opposition. Dort sollen Sie auch bleiben. Ich prophezeie Ihnen: Dort werden Sie auch bleiben. ({2}) Meine Damen und Herren, das Bündnis für Arbeit war in der Tat gescheitert, allerdings in der letzten Wahlperiode. Die alte Kohl-Regierung hatte es schon in der ersten Runde an die Wand gefahren. Das war auch zu erwarten; denn die damalige Koalition hatte dieses Bündnis für Arbeit nur auf öffentlichen Druck einberufen. Sie hatte an einem gesellschaftlichen Bündnis seinerzeit überhaupt kein Interesse. Nur wegen der populären Forderung der IGMetall hat sie überhaupt zu dieser Gesprächsrunde eingeladen. So war das Bündnis für Arbeit zustande gekommen. Sie haben es dann ganz schnell abgebrochen, weil Sie eine Kurswende vollzogen haben. Sie haben die ausgestreckte Hand der Gewerkschaften ausgeschlagen und Ihre Hand nicht für sinnvolle Veränderungen in der Gesellschaft gereicht. Das ist Ihnen beim Wahlergebnis teuer zu stehen gekommen. ({3}) Das gesellschaftliche Bündnis für Arbeit ist nach wie vor populär. Die Menschen in Deutschland wollen ein Bündnis für Arbeit, Wettbewerbsfähigkeit und Ausbildungsplätze. Sie wollen allerdings ehrliche Gespräche und Kompromisse und keine einseitige Politik der Schuldzuweisungen. Sie hingegen fordern damals wie heute im Grunde eine Unterwerfung der Gewerkschaften und den einseitigen Abbau von Arbeitnehmerrechten. Sie wollen das Bündnis für Arbeit missbrauchen. Das ist mit uns nicht zu machen. ({4}) Wir wollen den Umbau des Sozialstaates. Wir wollen Reformen, die die Gesellschaft voranbringen, die den Arbeitsmarkt gestalten und die den Sozialstaat zukunftssicher machen. ({5}) Wir wollen keine Tricks. Wir wollen nicht einfach von der linken in die rechte Tasche umverteilen. Wir wollen vielmehr mithilfe des Bündnisses für Arbeit vernünftige Reformen auf den Weg bringen. Wir wollen, dass es ein faires Geben und Nehmen gibt, dass es eine faire Basis für die Gestaltung der Gesellschaft gibt. Ein gutes Beispiel dafür ist übrigens das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Beschäftigung. Es stellt einen klaren gesellschaftlichen Fortschritt dar. Der Trend zur Teilzeitarbeit wird dadurch unterstützt. Gleichzeitig erhalten die Arbeitgeber durch ein unbefristetes Gesetz zur befristeten Einstellung Rechtssicherheit. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit bekämpft. Sie wollten verhindern, dass immer mehr Menschen, Frauen und auch fortschrittliche Männer, teilzeitarbeiten. Sie wollten durch Ihre politischen Aktivitäten den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit verhindern. ({6}) Das ist entlarvend und an Einseitigkeit nicht zu überbieten. Das Bündnis für Arbeit hat eine Menge bewegt. Das Wichtigste war - darauf ist schon hingewiesen worden der Ausbildungskonsens. Im Bereich der Ausbildungsplätze gibt es endlich einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage. In den Zukunftsberufen des IT-Bereichs ist die Zahl der Ausbildungsplätze dramatisch gestiegen. Wir haben nicht vergessen, dass Altbundeskanzler Kohl seine Versprechungen im Hinblick auf die Lehrstellen nicht eingelöst hat. Alle sind gebrochen worden. Sie haben keine Erfolgsbilanz vorzuweisen! Seien Sie nicht neidisch und erkennen Sie endlich an, dass wir für die jungen Menschen in diesem Land viel getan haben! ({7}) Durch das Jugendsoforthilfeprogramm JUMP sind über 400 000 Jugendliche in Maßnahmen gebracht worden. Ich erinnere mich noch, wie Sie auch dieses Projekt bekämpft und diffamiert haben. Wir haben jungen Menschen eine Chance gegeben. Wir sollten mehr die Gemeinsamkeiten zwischen uns pflegen, als ständig das Trennende zu suchen. Letzteres hilft den Menschen in diesem Land überhaupt nicht weiter. ({8}) Das Job-Aqtiv-Gesetz beruht im Kern auch auf dem, was im Bündnis für Arbeit im Konsens vereinbart worden ist: Jobrotation; vorbeugende Qualifizierung; Instrumente, mit denen älteren Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten gezielter geholfen werden kann. Die Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik ist - das ist etwas vollkommen Neues - im Job-Aqtiv-Gesetz verankert worden. Damit werden neue Wege zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aufgezeigt. Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz haben wir übrigens auch die Reform der Arbeitsvermittlung eingeleitet. Bereits heute haben über 2 Millionen Arbeitslose einen Rechtsanspruch auf Vermittlungshilfen durch private Dienstleister. Auch das haben Sie abgelehnt, obwohl dies eine echte Innovation ist. Aber dabei bleiben wir nicht stehen. Die Bundesregierung hat jetzt einen Zweistufenplan vorgeschlagen. Es geht um kunden- und wettbewerbsorientierte Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt. Wir wollen die Bundesanstalt für Arbeit nicht zerschlagen. Wir wollen vielmehr eine vernünftige Kooperation zwischen Arbeitsämtern, privaten Arbeitsvermittlern und Maßnahmeträgern. Wir wollen einen fairen Wettbewerb. Wir wollen aber auch die Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit unterstützen, die einen harten Job machen. Sie verdienen unsere Solidarität gerade in der jetzigen Situation, weil der überwiegende Teil der Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit sehr engagiert daran mitarbeitet, dass arbeitslose Menschen in Arbeit kommen. ({9}) Wir gehen - darauf ist schon hingewiesen worden - mit Eile an die gesetzlichen Veränderungen heran. Eile ist auch geboten; denn die Höhe der Arbeitslosenzahl und die Vermittlungsdefizite zeigen, dass wir Neuregelungen für die Bundesanstalt für Arbeit bald verabschieden müssen. Mit dieser Eile tun sich die Oppositionsparteien, insbesondere die CDU/CSU, leider schwer. Ich möchte deutlich sagen: Wir haben keine Zeit; wir können nicht abwarten. Wir müssen zupacken, damit die Reform der Arbeitsmarktpolitik auf der Ebene der Bundesanstalt für Arbeit offensiv und schnell angegangen werden kann. Natürlich wissen auch wir, dass die beste Reform der Arbeitsvermittlung fehlende Arbeitsplätze nicht ersetzen kann. Das hat die SPD auch nie behauptet. Aber es gibt eine erhebliche Zahl von nicht besetzten Arbeitsstellen, die durch eine offensivere Vermittlung besetzt werden könnten. Dadurch könnte ein signifikanter Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit geleistet werden. ({10}) Natürlich kann niemand, auch wir nicht, mit der derzeitigen Arbeitsmarktlage insgesamt zufrieden sein. Miesmacherei hilft in diesem Zusammenhang aber überhaupt nicht weiter. Die Aussage „Schlusslicht in Europa“ ist einseitig und stark verkürzt. Bei der Arbeitslosenquote liegt Deutschland genau im Mittelfeld. Die EUstandardisierte Erwerbslosenquote ist übrigens nicht höher, wie die Opposition weismachen will, sondern erheblich niedriger als die national berechnete Quote. Nach der EU-standardisierten Statistik beträgt die Arbeitslosenquote bei uns im Januar 2002 - das sind die aktuellen Daten - 8,1 Prozent, während die nationale Statistik eine Quote von 10,4 Prozent ausweist. Über eine Änderung der Statistik nachzudenken liegt da geradezu auf der Hand. Allerdings betone ich: Wir wollen einen ehrlichen Vergleich zu früheren Regierungszeiten ermöglichen. Einen solchen Vergleich brauchen wir wahrlich nicht zu scheuen; immerhin liegt das Wachstum in der Ära Schröder mit durchschnittlich 1,6 Prozent höher als in den letzten sechs Jahren der Ära Kohl; damals waren es nur 1,3 Prozent. Das macht Jahr für Jahr eine Zunahme um 70 000 Arbeitsplätze aus. Das macht deutlich, dass auch unsere wirtschaftspolitischen Aktivitäten zu mehr Arbeitsplätzen geführt haben. ({11}) Nun lassen Sie mich den aus meiner Sicht letzten wichtigen Punkt ansprechen. Sie sagen: Die demographische Entwicklung hat bisher keine Entlastung gebracht; denn sie wurde durch eine Zunahme der Frauenerwerbsarbeit sowie durch Neueintritte aus der stillen Reserve und von Jugendlichen überkompensiert. - Es ist nicht ein einzelner Faktor, so wie Sie es sagen. Die Zahl derjenigen, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen, ist viel größer als die Zahl derjenigen, die aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, und das wirkt sich negativ auf die Zahl der freien Arbeitsplätze aus. Vor diesem Hintergrund haben wir eine ganz gute Gesamtbilanz vorgelegt. Das gilt auch für den Osten. Frau Luft hat da Unrecht. Im Januar 1998 - lassen Sie mich das noch sagen - gab es im Osten 1,59 Millionen Arbeitslose. Derzeit sind es 1,49 Millionen - leider zu viele, aber 100 000 mehr als zur Zeit der Regierung Kohl. ({12}) - Weniger. ({13}) Das ist ein positives Beispiel, auf das man bei dieser Gelegenheit hinweisen darf. ({14}) Das Bündnis für Arbeit hat wichtige Grundlagen gelegt. Wir sollten es fortsetzen. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Matthias Wissmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Matthias Wissmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen uns immer wieder fragen, vor welchem Hintergrund wir diese Debatte führen. Vertraut man den Zahlen des Statistischen Bundesamts von gestern, dann befindet sich die Bundesrepublik Deutschland mitten in einer Rezession - mit Trend nach unten. Nach einem Wachstum von minus 0,2 Prozent im dritten Quartal 2001 betrug für die letzten drei Monate des Jahres 2001 das saisonbereinigte Wachstum minus 0,3 Prozent. Es gibt gegenwärtig keine Erholungstendenzen auf breiter Front, so sehr wir es uns gemeinsam auch wünschen würden. ({0}) Wir müssen uns einmal selbstkritisch fragen - vielleicht sollte das auch der eine oder andere in den rot-grünen Reihen tun -, ob denn das Bündnis für Arbeit beim Bundeskanzler in den letzten beiden Jahren ein großer Erfolg war. ({1}) Hinter vorgehaltener Hand sagt nahezu jeder: Es war nicht der erwartete Erfolg. Das letzte Treffen hat mit einem Nullergebnis geendet: kein Kommuniqué, keine greifbaren Ergebnisse, keine Perspektive. Wir müssen uns in den nächsten Jahren überlegen, glaube ich, ob wir einfach so weitermachen können mit Hochglanzveranstaltungen und medienwirksamen Gipfeltreffen. Ich sage Ihnen deutlich: Bündnisse für Arbeit vor Ort in Betrieben haben in den letzten Jahren sehr oft Sinn gemacht und dabei geholfen, Betriebe vor der Insolvenz zu bewahren. ({2}) Bündnisse für Arbeit in der Form der letzten beiden Jahre machen dagegen wenig Sinn. Sie führen nicht weiter. Sie führen nicht zu positiven Ergebnissen. Nahezu nirgendwo in Europa stagniert die Beschäftigungsentwicklung wie in Deutschland. ({3}) Nur in den südeuropäischen Ländern ist die Arbeitsmarktregulierung noch stärker als bei uns. In vergleichbaren Nachbarstaaten wie Dänemark oder den Niederlanden liegt die Bürokratiedichte nach den Berechnungen der OECD - nicht nach meinen Berechnungen! - deutlich unter den Werten in Deutschland. Deswegen unternehmen wir mit unserem Antrag bewusst den Versuch, uns nicht nur auf die Frage zu konzentrieren, was bei der Bundesanstalt für Arbeit jetzt erneuert werden muss - alle Erneuerungen sind notwendig -, sondern wir stellen uns auch der Frage, wie wir die Kernthemen, nämlich die Überbürokratisierung unserer Wirtschaft, die Überregulierung des Arbeitsmarkts, das Abtöten neuer Entwicklungen und den Mangel an Ermutigungen für Existenzgründer angehen. Diese Punkte verschulden einen erheblichen Teil der Arbeitslosigkeit. Neben der Reform der Bundesanstalt für Arbeit muss an diesen Stellen gehandelt werden. ({4}) Wir bringen das hier deutlich zum Ausdruck. Das Thema Statistiken wurde angesprochen. Es ist erfreulich, dass Sie sagen, dass Sie die Manipulation, die möglicherweise geplant war, im Moment unterlassen wollen. ({5}) Bereits nach geltendem Recht, nämlich nach § 428 SGB III, sind rund 250 000 Menschen, die 58 Jahre und älter sind, aus der Statistik klammheimlich herausgerechnet worden. ({6}) Die Statistik ist schon jetzt nicht wahrhaftig. ({7}) Gegenwärtig werden bereits 1,5 bis 2 Millionen Menschen nicht berücksichtigt, die, statistisch gesehen, nicht arbeitslos gemeldet sind und trotzdem in erheblichen Nöten sind. Wenn Sie Änderungen der Statistik vornehmen, dann sollten es wahrhaftige Änderungen sein. Berücksichtigen Sie nicht nur diejenigen Menschen, die gar keine Arbeit mehr suchen, sondern auch diejenigen, die gerne Arbeit hätten, aber in der Arbeitslosenstatistik nicht erfasst sind! Sagen Sie die Wahrheit! Manipulieren Sie nicht! ({8}) Was muss sich ändern? Ich nenne vier Elemente: Erstens. Wir glauben, dass an einigen wichtigen Stellen Regulierungen beseitigt werden müssen. Wer Überstunden abbauen will, der muss zum Beispiel mehr Möglichkeiten für Zeitarbeit schaffen. Die Befreiung der Zeitarbeit von ihren bisherigen bürokratischen Hemmnissen würde mehr Zeitarbeitsverhältnisse schaffen und damit mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit bringen. Diesen Menschen - das wissen wir aufgrund Tausender von Fällen - würde eine Brücke in eine dauerhafte Beschäftigung ermöglicht werden. ({9}) Zweitens. Wir sind der Meinung, dass beschäftigungsfreundliche Regelungen für befristete Arbeitsverhältnisse geschaffen werden müssen, damit wir dafür sorgen können, dass aus immer mehr befristeten Arbeitsverhältnissen dauerhafte Arbeitsverhältnisse werden können. Drittens. Wir sind der Meinung, dass eine Reform des Tarifvertragsrechts, vor allem eine Modernisierung des Günstigkeitsprinzips, notwendig ist. ({10}) Es ist widersinnig, dass Unternehmen in Krisenzeiten gegen geltendes Recht verstoßen. ({11}) - Nehmen Sie das einmal ganz ruhig zur Kenntnis und denken Sie darüber nach. Schreien ist meistens ein Ausdruck von inhaltlicher Schwäche! ({12}) Es ist widersinnig - das sage ich noch einmal -, dass Unternehmen in Krisenzeiten gegen geltendes Recht verstoßen, wenn sie gemeinsam mit der Belegschaft vereinbaren, längere Arbeitszeiten gegen sichere Arbeitsplätze zu tauschen. Solche betrieblichen Bündnisse bewahren Unternehmen häufig vor der Pleite. Sie sorgen dafür, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ich will nicht, dass ein Arbeitgeberverband oder eine Gewerkschaftenzentrale durch Einwirken von außen eine Einigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Betrieb unmöglich machen können. Ich will, dass der Betrieb erhalten bleibt und die Beschäftigung gesichert wird. ({13}) Deswegen brauchen wir entsprechende Änderungen. Viertens. Wir müssen die privaten Vermittlungen auf breitester Front stärken. Die Vorstellung, die in manchen Köpfen herrscht, die Bundesanstalt für Arbeit müsse der Marktführer bei der Vermittlung sein, ist falsch. Wir brauchen den echten Wettbewerb. Der Arbeitslose fragt nicht danach, ob ihm das Arbeitsamt oder der private Arbeitsvermittler den Job vermittelt. Uns muss es darauf ankommen, dass die Vermittlung - sei es beim privaten Arbeitsvermittler oder beim Arbeitsamt - besser wird. Deswegen müssen wir die noch vorhandenen Beschränkungen bei der privaten Arbeitsvermittlung beseitigen. Es ist dringend notwendig, diesen Weg einzuschlagen. ({14}) Ich komme zum Schluss. Ohne leistungsfähige kleine und mittlere Betriebe gelingt es uns nicht, Hunderttausende zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. In den letzten zehn Jahren sind neun von zehn Arbeitsplätzen aus Betrieben mit einem bis hundert Beschäftigten gekommen. Aber in Wahrheit ist die Belastung des Mittelstands, des Handwerksbetriebs, des kleinen Selbstständigen mit Bürokratie übermäßig hoch. Wir brauchen ein Entrümpelungsprogramm für die kleinen und mittleren Betriebe. Wir brauchen die Beseitigung des Gesetzes zur Scheinselbstständigkeit. Wir brauchen die Beseitigung des Zwangsteilzeitanspruchs. Wir brauchen eine grundlegende Reform des Niedriglohnsektors mit weniger Bürokratie, damit kleine und mittlere Betriebe atmen und Arbeitsplätze schaffen können. Setzen Sie hier an; dann schaffen Sie neue Arbeit. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Andrea Fischer für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein bisschen deprimierend, wie ritualisiert wir hier diskutieren. ({0}) Wir alle haben jeweils die Zahlen an der Hand, die unsere eigene These erhärten. Damit haben wir nur die alte Volksweisheit bestätigt, dass man aus jeder Statistik das machen kann, was man braucht. Ja, es ist richtig, dass das Bündnis für Arbeit nicht genug geschafft hat. Genauso richtig ist es aber, dass das Bündnis für Arbeit eine ganze Menge geschafft hat, mehr, als hier in mancher Hinsicht behauptet wird. ({1}) Wenn es denn möglich ist, dass ein- und dasselbe Ergebnis so unterschiedlich bewertet wird, dann kann man sagen: Das ist das übliche Ritual zwischen Opposition und Regierung. Was soll’s? Da wir hier aber über Arbeitslosigkeit reden und wissen, dass uns das in unserem Land am allermeisten plagt, lohnt es sich, darüber nachzudenken, warum wir hier eigentlich so ritualisiert debattieren. Ich habe hier eben gesessen und gedacht: Im Prinzip habe ich das in der letzten Legislaturperiode mit anders verteilten Rollen genauso erlebt. Das kann es doch nicht sein. Da ist dann auch die Kritik am Bündnis für Arbeit wohlfeil, Kollege Laumann. Abgesehen davon hätte ich gerade von Ihnen nicht erwartet, dass Sie so uncharmant sind, von einem Bündnis, an dem zum Beispiel ich teilgenommen habe, zu behaupten, es sei ein Bündnis alter Männer. ({2}) - Genau das hatte ich vom Kollegen Laumann nicht gedacht. ({3}) Natürlich müssen die Verbände daran beteiligt werden, weil sie legitimiert sind, für größere Gruppen von Beschäftigten zu sprechen. Es ist nicht möglich, stattdessen Individuen in das Bündnis aufzunehmen, sondern es bedarf einer demokratischen Legitimation. Andererseits können in einem solchen Bündnis, an dem Vertreter der Interessenverbände beteiligt sind, nur gute Dinge gemacht werden, wenn alle Seiten bereit sind, sich zu bewegen. ({4}) Bevor ich näher auf das Bündnis eingehe, komme ich noch einmal auf das Ritual zwischen Opposition und Regierung zu sprechen. Wir alle müssen doch zugeben, dass wir in unserem Land einen Konflikt zwischen der notwendigen Dynamik, die wir brauchen, um die Beschäftigungslosigkeit abzubauen, und unser aller Bedürfnis nach sozialer Sicherheit haben. Der Kollege Laumann hat diese Widersprüchlichkeit in seiner heutigen Rede sehr gut deutlich gemacht, und zwar auch durch die Widersprüche, die in seinen eigenen Forderungen enthalten waren. ({5}) - Nein, Herr Kollege Thönnes. Das ist ein Problem, das wir alle haben. Das ist doch der Punkt, auf den ich aufmerksam machen will. Wir haben es anhand der ritualisierten Debatte gemerkt. Ich kann dazu auch eine eigene Geschichte erzählen. In der letzten Legislaturperiode waren die versicherungsfremden Leistungen eines der Hauptthemen, wenn es um Sozialpolitik und auch um den Abbau von Arbeitslosigkeit ging. Davon reden wir nicht mehr; denn wir haben sie inzwischen sachgerecht finanziert. Nur haben wir dafür die Ökosteuer eingeführt, die Sie immer kritisieren und im Hinblick auf die Sie uns bis heute noch nicht gesagt haben, was Sie denn machen, wenn Sie sie wieder abschaffen, wie Sie das Ganze dann finanzieren wollen. Der Konflikt ist doch gerade, dass man das eine nicht bekommen kann, ohne an anderer Stelle jemandem wehzutun. Was habe ich als Ministerin alles erlebt, als ich um stabile Beiträge in der Krankenversicherung gekämpft habe. Sie haben gefordert, die Abgaben zu senken. Ich habe mit allen Mitteln dafür gekämpft, dass die Beiträge stabil bleiben. ({6}) Da haben Sie sich nicht einen Millimeter bewegt und haben alles bekämpft, was mit dazugehörte. Es ist ein uraltes Problem, dass in diesem Land Bündnisse zulasten Dritter in der Beschäftigungspolitik gemacht werden, was sich insbesondere in der Vorruhestandspolitik ausdrückt, bei der der Sozialstaat eingreift, um sozialverträglich den Abbau der Beschäftigung in den Betrieben zu finanzieren. Das wissen wir alle. Trotzdem stehen wir in diesem Konflikt und können da nicht einfach heraus, weil wir über keine Alternativen für die Beschäftigten verfügen. Es lohnt sich doch, sich über diese Widersprüche Rechenschaft zu geben, um endlich aus diesem Ritual ausbrechen zu können. Dann kommt man nämlich zu der Erkenntnis, dass jede Politik nur dann gut sein kann, wenn alle bereit sind, sich zu bewegen. An dem Bündnis für Arbeit wurde hier kritisiert, dass Kartelle aufeinander treffen und das Ergebnis irgendwie absehbar sei. So war es ja in der letzten Zeit, als es um die Tarifpolitik ging. Der erste Schritt, da herauszukommen, wäre zu sagen: Ich möchte von diesem Ritual nichts mehr hören und will, dass sich endlich etwas bewegt; deshalb lohnt es sich, zu schauen, ob die legitimen Interessen vertreten sind. Der zweite Schritt ist, zu einem neuen Verständnis von Lobbyismus zu kommen. Unter Lobbyismus darf dann nicht mehr verstanden werden, die Interessen der eigenen Klientel ungeschmälert durchzusetzen. Vielmehr muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass auch die eigene Klientel dem Gemeinwohl verpflichtet ist und man nicht ihr Interesse durchsetzen darf, egal was es ökonomisch oder auf dem Arbeitsmarkt kostet. ({7}) An diesem Punkt ist jede Regierung auf Akteure im eigenen Land angewiesen, die diese Gemeinwohlperspektive entfalten können und auch einmal über ihren eigenen Schatten springen können. Das nennt man übrigens Führung. Das soll es auch bei Arbeitgeberverbänden und bei Gewerkschaften geben. ({8}) Andrea Fischer ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Fischer, dass das wichtigste Thema überhaupt, die Arbeitslosigkeit, immer wieder dieses Haus erreicht, ist so normal wie notwendig. Gegensätzliche Positionen müssen dann eben immer wieder konfrontativ gegenübergestellt werden, bis wir bei der Bekämpfung der Volksseuche Arbeitslosigkeit weiterkommen. Es befremdet mich schon sehr, wenn sich der Bundesarbeitsminister beim wichtigsten Thema überhaupt bis zur Unsichtbarkeit tarnt und jetzt nicht einmal mehr da ist. Das ist schon sehr befremdlich, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) - Nein, ich halte es für notwendig, dass der Arbeitsminister, wenn es um Arbeit geht, im Saal ist und sich den Argumenten stellt. Tricksen, täuschen, tarnen ({1}) das macht Rot-Grün zurzeit auf diesem Feld. Das soll ({2}) - ich komme sehr gerne zum Kern des Themas - vom desaströsen Befund ablenken. Zum desaströsen Befund gehört, dass Sie bei der Lösung einer Kernfrage Ihres Regierungshandelns fundamental versagt haben: Die Arbeitslosigkeit steigt saisonal bereinigt seit 15 Monaten ({3}) - 16 Monate, danke - in diesem Land immer weiter an. Das ist ein Skandal. ({4}) Anders, als der Kollege Brandner behauptet, haben wir mittlerweile in den neuen Bundesländern eine Rekordarbeitslosigkeit. Anders, als der Kollege Brandner behauptet - er hat tatsächlich gewagt, das Wort „Wachstum“ in den Mund zu nehmen -, haben wir als einziges Land in der Europäischen Union - insoweit will ich die Ausführungen des Kollegen Wissmann noch ergänzen - ein Minuswachstum, wie man es früher einmal vornehm genannt hat. Bei uns herrscht Rezession, bei den anderen nicht. Das muss doch etwas mit hausgemachten Bedingungen zu tun haben. ({5}) - Herr Brandner, doch, es ist so. ({6}) Sie müssten eigentlich in der Beschäftigungspolitik einen demographischen Gewinn einfahren, weil jedes Jahr 200 000 mehr ältere Menschen den Arbeitsmarkt verlassen, als junge Arbeit und Ausbildung nachsuchen. ({7}) Die Arbeitslosigkeit steigt; ein demographischer Beschäftigungsgewinn ist nicht in Sicht. Das muss doch an den Fehlern dieser Bundesregierung liegen. ({8}) Vernebelt wird mit Seitenthemen und Seitendebatten. Zwar sind die Vermittlungszahlen ein wichtiges Thema, aber die Art und Weise, wie mit dem Thema umgegangen wurde, wann Kanzleramt, BMA und auch Rechnungshof das Thema angepackt und wie das auf den Veröffentlichungstermin der desaströsen Arbeitslosenzahlen hingeführt hat, geht nicht an. Das hat schon sehr viel mit einer Inszenierung zu tun. ({9}) Diese Inszenierung wollten Sie fortführen, indem Sie nach dem Motto „Arbeitslose wegdefinieren statt Beschäftigung schaffen“ brutal die Arbeitslosenstatistik manipulieren wollten. Dass Sie das nicht gemacht haben, liegt an einem einzigen Umstand, den Sie gestern in der Debatte eingestanden haben: dass die Opposition und die mediale Öffentlichkeit ganz grell die Scheinwerfer auf diesen Skandal gerichtet haben. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten Sie es getan. ({10}) Das hatte Methode; denn wenn keine Arbeitslosenzahl stimmt, die herangezogen werden könnte, gibt es auch keine Arbeitslosenzahl, an der Sie sich messen lassen könnten. Sie wollten damit durchkommen, dass Sie sozusagen die Bewertungsmaßstäbe abschaffen, nachdem Sie das Ziel, die Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen zu unterschreiten - so anspruchsvoll war das Ziel ja gar nicht -, nicht erreicht haben und auch keine Chance mehr haben, es zu erreichen. Herr Staatssekretär, ich kann das mit den angeblichen zusätzlichen Erwerbstätigen nicht mehr hören. Herr Brüderle - ich genieße es, mit meinem Studienkollegen einmal übereinzustimmen - hat bereits darauf hingewiesen. Es muss eine Gegenprobe gemacht werden. Die Zahl der zusätzlichen Erwerbstätigen muss mit der Statistik der Arbeitsstunden abgeglichen werden. Das Arbeitszeitvolumen, die tatsächlich geleistete Arbeitszeit, ist das Fundament für die Sozialversicherung, nicht die Jobs, die man plötzlich durch neue statistische Methoden wie Meldepflicht als Arbeitsplätze in die Statistik überführt. Ich liefere die Zahl der Arbeitsstunden nach: 1998 wurden in der Bundesrepublik 56,7 Milliarden Arbeitsstunden geleistet, im Jahre 2001 waren es 56,5 Milliarden Arbeitsstunden. Das heißt, im letzten Jahr wurde weniger gearbeitet als im Jahre 1998. Daran zeigt sich, dass Sie nicht aussagefähige Zahlen heranziehen, um davon abzulenken, dass Sie in der Beschäftigungspolitik versagt haben. ({11}) Sie wollten - das war Ihr Petitum - abgewählt werden, wenn Sie die Arbeitslosigkeit nicht würden senken können. Die Arbeitslosigkeit steigt. Ihnen wird am 22. September geholfen werden. Danke. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Luft das Wort.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich wollte die Behauptung des Kollegen Brandner nicht unwidersprochen lassen, der in seinem Redebeitrag gemeint hat, ich hätte den Osten Deutschlands betreffend falsche Arbeitslosenzahlen genannt. Ich habe mir soeben noch einmal die Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland schicken lassen. Es zeigt sich, dass ich nicht Unrecht hatte. Ich will die Zahlenreihe nicht komplett vorlesen, nur so viel: 1991 waren es 913 000 Arbeitslose, 1994 schon 1 143 000. 1996 hatten wir 1 169 000 und 1997 bereits 1 364 000, 1998 schließlich 1 375 000. Von 1 500 000 ist nirgendwo in der Statistik etwas zu finden. Ich wollte Ihren Eindruck korrigieren, auch ich würde meine Statistik selbst erfinden.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun darf der Herr Kollege Brandner darauf antworten. Dann können Sie es im Ausschuss vertiefen.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich wird das Angebot, das im Ausschuss zu vertiefen, gern angenommen. - Frau Luft, ich habe gesagt, dass wir im Januar 1998 - das ist der Vergleichsmonat, mit dessen Zahlen die Zahlen unserer Regierungszeit immer verglichen werden - in den neuen Ländern 1,59 Millionen Arbeitslose hatten, dass die Arbeitslosenzahl in dem gleichen Monat drei Jahre später auf 1,49 Millionen gesunken ist und dass dies ein Minus von 100 000 bedeutet. Wenn Sie berücksichtigen, dass die Zahl der ABM-Beschäftigten durch die Wahlkampfmaßnahme der Vorgängerregierung sehr hoch war, dann wissen Sie, dass die Arbeitslosenzahlen - insgesamt gesehen - deutlich gesunken sind, seitdem wir die Regierungsverantwortung übernommen haben. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Franz Thönnes für die SPD-Fraktion das Wort.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ich selbst trickse und tu, das dichte ich auch anderen zu. Herr Kollege Weiß, so klang vorhin Ihre Rede. Sie treffen uns aber an dieser Stelle nicht. Wir erklären Ihnen heute noch einmal deutlich, damit Sie es endlich kapieren: In dieser Legislaturperiode wird die Statistik nicht geändert. Sie wird in der nächsten transparenter und klarer werden, damit deutlicher wird, welche Vermittlungserfolge erzielt werden. ({0}) „Bündnis für Arbeit gescheitert - Reformen endlich umsetzen“: Das ist der Titel Ihres Antrages vom 23. Januar 2002. Ich habe gedacht, dass dieser Titel eigentlich aus dem April 1996 stammen müsste. Er hätte nämlich zu Ihrer Politik gepasst, als Sie damals das Bündnis für Arbeit gegen den Willen der Gewerkschaften und mit Unterstützung der Arbeitgeber mutwillig an die Wand gefahren haben. Sie haben damals den Konsens durch die Einschränkung der gesetzlich geregelten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und durch die Reduzierung des Kündigungsschutzes bewusst zerstört. 80 Prozent der Betriebe und 20 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland waren davon betroffen. Sie haben die Einschränkung der Sozialauswahl bei Kündigungen eingeführt und haben im späteren Verlauf Einschnitte und Kürzungen in der Krankenversicherung vorgenommen. Außerdem gab es durch die Reform der Arbeitsförderung erhebliche Verschlechterungen. Das Resultat ist eine Spitzenarbeitslosigkeit in Deutschland gewesen. Wenn man alles das hinzurechnen würde, was Sie heute hinzurechnen wollen, dann würden wir für den Januar 1998 bei weit über 5,3 Millionen Arbeitslosen liegen. Diese Zahl müssen Sie also für Ihre Regierungszeit gelten lassen. Wenn man noch die stille Reserve hinzurechnen würde - um es einmal klar zu sagen -, läge man bei 7 Millionen und nicht in der Größenordnung, die Sie heute andauernd zitieren. ({1}) Die Rentenversicherungsbeiträge sind von 17,5 Prozent im Jahr 1992 auf 20,3 Prozent gestiegen. 200 000 junge Menschen standen 1997 ohne Lehrstelle da. Es gab 2,9 Millionen Sozialhilfeempfänger in Deutschland. Das ist das Resultat Ihrer Politik gewesen. Deshalb brauchen Sie uns heute nicht zu sagen, wie Bündnisse zu funktionieren haben. ({2}) Sie haben damals aus dem Bündnis für Arbeit ein Bündnis gegen Arbeit und ein Bündnis gegen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht. Die verantwortlichen Versager von gestern präsentieren sich heute als Schlaumeier und wollen uns zeigen, wie es geht. Ihre Rezepte von damals, die Sie heute wieder als Heilmittel präsentieren, sind jetzt genauso Gift für den Arbeitsmarkt wie damals. ({3}) Das Bündnis für Arbeit ist durch hohe Erwartungen geprägt worden. Das ist angesichts der Herausforderungen völlig verständlich. Ich denke, dass diese ErwartunGerald Weiß ({4}) gen bestehen bleiben müssen. Aber es ist auch deutlich geworden, was möglich ist: Auf dem Gebiet der Altersversorgung haben wir eine Rentenreform durchgeführt. Wir haben erreicht, dass die Beiträge stabilisiert werden. Damit tragen wir zu einer Begrenzung der Lohnnebenkosten bei, was Sie selbst wollen. Wir haben die Beschäftigungschancen für ältere Arbeitnehmer verbessert. Das war ausdrücklich ein Votum aus dem Kreis des Bündnisses für Arbeit. Wir haben die Altersgrenze für den Eingliederungszuschuss von 55 auf 50 Jahre abgesenkt. Wir haben eine Vermittlungskampagne für ältere Arbeitnehmer durchgeführt. Ich sage hier ganz deutlich: Die Älteren in der Gesellschaft gehören nicht zum alten Eisen. Dazu wurden sie aber durch Ihre Regierungspolitik abgestempelt. ({5}) Wir haben einen Ausbildungskonsens geschaffen, bei dem die Zielvorstellung, bis zum Jahre 2003 60 000 Ausbildungsplätze im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie zu schaffen, bereits 2001 verwirklicht worden ist. Wir haben einen Überschuss von 4 000 Ausbildungsplätzen im letzten Jahr erreicht. 377 000 Jugendliche haben an dem Sofortprogramm für Jugendliche teilgenommen. Das ist eine Investition in die Zukunft gewesen. Junge Leute stehen bei dieser Koalition nicht alleine da. ({6}) In Bezug auf Selbstständigkeit und Mittelstandsförderung sage ich: Wir haben das Meister-BAföG gerade erst reformiert. 433 Millionen Euro stehen für die Förderung von Aus- und Weiterbildung zusätzlich zur Verfügung. Bündnisse brauchen Beteiligung; Bündnisse brauchen auch Teilhabe. Die Rezepte, die Sie, auch in diesem Antrag, vorlegen, sehen keine Teilhabe vor, sondern schlichtweg Ausgrenzung. Der Kollege Rauen beschreibt ja ganz deutlich - bereits am 31. Juli des letzten Jahres -, was man denn alles vorhat. Nach einem Wahlsieg würde die Union, Rauen zufolge, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder einschränken, die Schwelle für die Befreiung vom Kündigungsschutz wieder von fünf auf zehn Beschäftigte hochsetzen. Außerdem sollten der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, die Einschränkung bei der Befristung von Arbeitsverhältnissen und die Neuregelung der so genannten 630-Mark-Jobs rückgängig gemacht werden. ({7}) Der Kollege Laumann sagt: Das Leistungsniveau von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wird schrittweise angeglichen. - Da gucken alle noch ein bisschen erstaunt. Der Kollege Rauen sagt deutlich, was Sie wollen: Außerdem solle der Druck auf Arbeitslose, eine Niedriglohnstelle anzunehmen, erhöht werden. Dazu sollten Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt werden. ({8}) Da sagen Sie deutlich, wohin die Reise gehen soll. Sie wollen Sozialleistungen einschränken; sie wollen Arbeitnehmerrechte einschränken. Es ist ein Hohn, wenn ich heute die Pressemitteilung der CDA zu den Betriebsratswahlen lese, in der steht, Betriebsräte seien Interessenvertreter, die die Unterstützung der Union hätten und auch bräuchten; ({9}) in den Betrieben müsse Solidarität und Gerechtigkeit herrschen. Sie haben die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes abgelehnt; sie wollen die Verbesserung für die Betriebsräte wieder zurückdrehen. Das ist die Wahrheit, die man draußen sagen muss. ({10}) Auch wenn wir jetzt in einem etwas schwierigen Fahrwasser sind, bleibt am Ende richtig: Sie haben nichts gelernt. Sie setzen in Ihrer Politik weiterhin darauf, Kürzungen vorzunehmen, sozialen Fortschritt zurückzunehmen und Arbeitnehmerrechte abzubauen. Sie sind rückwärtsgewandt. Das gilt im Übrigen auch für all Ihre tollen Vorschläge zu den Finanzen. Für die 3 Milliarden Euro, die Herr Stoiber aufwenden will, um Beschäftigung im Niedriglohnbereich zu organisieren, ist die Finanzierung völlig ungeklärt. Wie wollen Sie eigentlich bei der Aufhebung der 325-Euro-Grenze, der geringfügigen Beschäftigung, die 1,45 Milliarden Euro für die Rentenversicherungs- und die 1,15 Milliarden Euro für die Krankenversicherungsbeiträge finanzieren? ({11}) Das sind alles Luftbuchungen von Ihnen. Mit Ihrer Politik treten wir den Marsch zurück in den Schuldenstaat an. Das will diese Koalition nicht. Wir brauchen eine solide Finanzierung der Staatsfinanzen, eine solide Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Deswegen ist dieser Bereich bei der Koalition in guten Händen. ({12}) Auch wenn wir jetzt in schwierigem Fahrwasser sind, lassen wir uns von Ihrem Jammern nicht die letzten Mitteilungen über die Wirtschaftssituation, wie wir sie im „Handelsblatt“ am 20. und 22. Februar lesen konnten, schlechtreden: Positive Signale deuten eine Konjunkturwende an; an den Indikatoren lässt sich eine deutliche Erholung der Weltwirtschaft ablesen. Der Mittelstand plant mehr Einstellungen. Das alles wird uns in unserer Arbeit eher ermuntern. In der Seefahrt gilt: Wenn man in schwieriges Fahrwasser kommt, hat man eine klare Orientierung anhand der roten und der grünen Tonnen. Da kommt man gut durch. Die schwarz-gelben Tonnen stehen für Wracks und für Risiken. Schwarz und Gelb stehen also für Wracks und Risiken, Rot und Grün für klaren Kurs. Das werden die Menschen am 22. September auch honorieren. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es muss schon bitter für den Kanzler sein: Im Jahr vier seiner Regierungszeit muss er sich eingestehen: ({0}) Versprechen nicht eingehalten, zentrale Ziele verfehlt, fast alle Prestigeprojekte gescheitert. ({1}) Das Bündnis für Arbeit war ja ein Lieblingsprojekt von ihm. Dazu sage ich: Lassen wir es in Frieden ruhen. Es krankte von Anfang an an Harmoniesucht und Bedeutungslosigkeit. ({2}) Reden ist nie falsch; es ist der richtige Weg. Aber man darf hier nicht wider besseres Wissen Erwartungen wecken, von denen man von Anfang an weiß, dass sie nicht eingehalten werden. Hier hat Schröder als Moderator vollständig versagt. Er hat sein angeblich wichtigstes Projekt einfach an die Wand gefahren. Statt seines Bündnisgeplauderes hätte er sich auf reformerische Entschlossenheit konzentrieren müssen. Dann hätte er viel mehr auf den Weg gebracht, als bisher geschehen ist. ({3}) Dabei hätte er es doch so einfach gehabt. Ein Blick nach Bayern, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, hätte genügt. ({4}) Durch das dortige Bündnis für Arbeit konnten 100 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. ({5}) Was hat denn Rot-Grün auf diesem Gebiet vorzuweisen? 4,3 Millionen registrierte Arbeitslose. Lieber Kollege Thönnes, allein die demographische Entwicklung reduzierte die Nachfrage nach Arbeitsplätzen, dadurch haben Sie 650 000 weniger Arbeitslose. Was haben wir noch? Steigende Sozialbeiträge, steigende Steuern - laut ZDH haben die Steuererhöhungen, die allein in diesem Jahr wirksam wurden, ein Volumen von 10,5 Milliarden Euro - und steigende Schulden. Sie behaupten zwar immer, Sie würden Sparmaßnahmen ergreifen; dabei gibt es am Ende dieser Legislaturperiode - trotz der Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen - 50 Milliarden Euro mehr Schulden. Dann haben wir noch die explodierenden Gesundheitskosten und ein Wachstum von nur 0,6 Prozent: von der Konjunkturlokomotive in Europa zum allerletzten Schlafwagen! Das ist peinlich; anders kann man das nicht bezeichnen. Ihre Bilanz ist eine lange und breite Bremsspur. ({6}) Sie haben kein Alibi für diese katastrophale Entwicklung. Sie schieben die Schuld auf das Ausland bzw. auf die weltwirtschaftliche Entwicklung, anstatt zu hinterfragen, warum England und Spanien ein Wachstum von 2 Prozent und wir von nur 0,6 Prozent haben. Nun kommen Sie nicht mit dem angeblich verbesserten Ifo-Geschäftsklimaindex! Das ist kein erster Sonnenstrahl am düsteren Konjunkturhimmel, wie behauptet worden ist. Impulse sind nur vom Export zu erwarten. Wie schaut es im Baubereich aus? Keine Impulse! Das Klima im Einzelhandel hat sich sogar verschlechtert. Impulse im Inland wären wichtig. Aber davon ist weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen haben wir einen Kanzler, der auf die Selbstheilungskräfte der Konjunktur setzt. Von allein passiert hier nichts. ({7}) Unser Arbeitsmarkt ist durch Ihr Zutun inzwischen so verkrustet, dass man ein sehr hohes Wachstum bräuchte, damit sich hier etwas bewegt. Sie haben das Blaue vom Himmel versprochen, um den blauen Brief der EU-Kommission abzuwehren. Jetzt glauben Sie, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, indem Sie Verträge zulasten Dritter abgeschlossen haben. Woher wollen Sie denn das Geld nehmen, das nötig ist, um Ihre in diesem Zusammenhang gemachten abenteuerlichen Versprechungen, bis zum Jahre 2004 einen nahezu ausgeglichenen Haushalt vorzuweisen, einzulösen? Warum sagen Sie den Menschen im Lande nicht vor der Wahl, wie Sie die dazu notwendigen Mittel beschaffen wollen? ({8}) Sie müssen doch etwas im Hinterkopf haben; Sie müssen sich doch irgendetwas gedacht haben! Wenn Sie die Steuern erhöhen wollen, dann sagen Sie es. Sagen Sie dann auch, welche Steuern Sie erhöhen wollen! Geben Sie doch zu, dass Sie noch mehr Lasten auf Dritte, auf die Sozialversicherungen, auf die Länder und die Kommunen, verlagern wollen, wie Sie es bisher getan haben! ({9}) Bisher haben Sie für den Haushalt 2004 neue Schulden in Höhe von mehr als 10 Milliarden Euro eingeplant. Jetzt machen Sie in Brüssel das Versprechen, keine neuen Schulden mehr machen zu wollen. Wie wollen Sie das denn umsetzen? Machen Sie dazu endlich einmal eine klare Aussage! Sie haben in ihren Köpfen nur Halluzinationen. ({10}) Wir brauchen durchgreifende Reformen. Dazu sind Sie nicht in der Lage; das bringen Sie nicht zuwege. Sie haben nicht den dazu notwendigen Mut, nicht die Kraft und auch nicht die Fantasie. ({11}) Sie haben es geschafft, unser bürokratisiertes Hochsteuerland endgültig zuzubetonieren. Sie haben es verstanden, den Arbeitsmarkt noch mehr zu verriegeln; auf die ganzen Gesetze, die Sie zulasten des Mittelstands gemacht haben, brauche ich nicht näher einzugehen. Der jetzige Skandal geschönter Vermittlungsstatistiken ist nicht nur eine Krise der Bundesanstalt fürArbeit, wie Sie es jetzt darstellen wollen. Das ist auch eine Krise Ihrer Arbeitsmarktpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün. ({12}) Jetzt versucht sich der Kanzler der untätigen Hand ganz plötzlich als Aktionsheld. Sicher ist eine Reform der Bundesanstalt für Arbeit dringend notwendig. Sicher ist es wichtig, zukünftig mehr auf private Vermittlung zu setzen. Aber das reicht bei weitem nicht aus, die Probleme, die wir haben, zu lösen. Auch der beste Vermittler kann keine neuen Stellen schaffen. Dabei nützt auch keine blinde Hektik vor der Wahl. Nehmen Sie lieber Ihre lähmenden Fehlentscheidungen zurück. Der Arbeitsmarkt muss in Bewegung kommen, damit sich endlich eine neue Beschäftigungsdynamik entfaltet. So, wie Sie es machen, geht es nicht. Sie können es einfach nicht. ({13}) Herr Thönnes hat mit großem Lob über das JUMP-Programm gesprochen. Inzwischen sind 3 Milliarden Euro in dieses Programm investiert worden. Was ist dabei herausgekommen? Eine um 10 Prozent höhere Jugendarbeitslosigkeit als am Anfang Ihrer Regierungszeit. ({14}) Nach den neuesten Zahlen im Januar gibt es über 500 000 Arbeitslose unter 25 Jahren. Diese Zahl lag zu unserer Regierungszeit etwa um 10 Prozent niedriger. ({15}) Das ist typisch für Sie. Sie bringen teure Showveranstaltungen auf den Weg. Ansonsten steckt nichts dahinter. ({16}) Sie entfachen mit Steuergeldscheinen ein Strohfeuer, sonst nichts. Dabei würgen Sie den Mittelstand ab, wo es nur geht. ({17}) Bei Ihnen ist der Mittelstand vom Leistungsträger zum Lastenträger geworden. ({18}) Wer wie Sie behauptet: „Die Mitte ist rot“, der muss farbenblind sein; das muss ich Ihnen mit auf den Weg geben. ({19}) Für Sie ist der Mittelstand doch nur als Zielgruppe bei Wahlen interessant. Schröder ist in der Neuen Mitte nie angekommen. Politik der Mitte heißt, die wirtschaftliche Leistungskraft unseres Landes zu stärken und zu fördern. Sie aber haben uns zum Schlusslicht gemacht. ({20}) Schauen Sie sich an, was die Bundesbank dazu jüngst geschrieben hat! Sie haben durch die Steuerreform die Reichen und die Starken gestärkt und die Schwachen und die Kleinen geschwächt. - Dieser Satz kommt nicht von mir. Das hat die Bundesbank in ihrem Bericht geschrieben. ({21}) Dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass es inzwischen zu einem olympischen Pleitenrekord gekommen ist, dass es immer mehr Schattenwirtschaft gibt und die Selbstständigenquote sinkt. Deswegen müssen wir wirklich wieder eine Politik der Mitte machen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das bedeutet: Bürokratieabbau, befristete Lohnzuschüsse, Sanktionen für Arbeitsunwillige und viele kleine Bündnisse für Arbeit. Mit einem Wort gesagt: Die Politik der Mitte ist genau das Gegenteil von dem, was Rot-Grün macht. Vielen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Wöhrl, Sie waren so in Schwung, dass ich es nicht gewagt habe, Sie zu unterbrechen und um Ruhe zu bitten. Ich hätte es aber gerne getan. Es ist das alte Lied, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie wollen wählen, aber vor der Wahl stehen noch zwei Redner an. Es wäre solidarisch, dem Redner die Chance zu geben durchzukommen. In diesem Sinne erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss zunächst einmal sagen: Herr Laumann, ich habe Ihre Arbeit immer mit großem Interesse verfolgt. In Ihrer Rede waren auch eine Reihe von interessanten Vorschlägen. ({0}) Aber Ihr Einstieg - das Bündnis für Arbeit sei eine Quasselbude; Sonntagnachmittag träfen sich ein paar ältere Herren zum Gespräch - war unter Ihrem Niveau. Das wissen Sie. ({1}) Frau Wöhrl hat eben voller Stolz auf die kleine Bündnisrunde in Bayern verwiesen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir ein Bündnis für Arbeit brauchen. Wenn wir uns darüber einig sind und gemeinsam bedauern, dass dieses Bündnis 1996 gescheitert ist, dann sollten wir zunächst einmal sagen: Dass es dieses Bündnis gibt, ist richtig und vernünftig in einer Zeit, in der es um Strukturreformen geht. Strukturreformen - das wissen wir alle - können wir nicht einfach ex cathedra durchsetzen. Dazu brauchen wir einen Konsens. Dazu brauchen wir alle Partner. Deshalb ist das Bündnis auch in Zukunft wichtig und sollte nicht einfach beschädigt werden. ({2}) Ich möchte jetzt darauf hinweisen - das ist ein bisschen untergegangen -, dass das ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ist. Herr Brüderle, die Elemente, die Sie zu Recht angesprochen haben - es geht darum, wie unser Land wettbewerbsfähig gemacht werden kann -, haben wir in diesem Bündnis zum Thema gemacht. Das ist anders als in früheren Jahren, als es nur um Arbeitsthemen ging. Es geht auch darum, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Zum Beispiel im Bereich der Ausbildung haben wir große Fortschritte erzielt. Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal rekapitulieren: Wir haben in diesen zwei Jahren gerade im Ausbildungsbereich eine ganze Menge geschafft. Es wurden 44 Ausbildungsordnungen modernisiert und zehn neue Berufe formuliert. Zum 1. August dieses Jahres wird es mit zwölf modernisierten Ausbildungsverordnungen und vier neuen Berufen noch einmal einen Schub geben. Das alles sind klare Signale dafür, dass sich unser Land modernisiert und dass dieses Land dabei ist, den Wettbewerbsbedingungen der Weltwirtschaft, die sich fundamental verändert haben, Rechnung zu tragen. Man kann das nur schaffen, wenn man nicht dem Irrtum unterliegt, dass es in Deutschland in Zukunft eine Blaupausengesellschaft gibt. Auch in Zukunft brauchen wir eine reale Fertigungsbasis mit leistungsfähigen Facharbeitern, Meistern und Technikern. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Konsens über die Modernisierungs- und Qualifizierungsoffensive gemeinsam voranbringen und das Bündnis für Arbeit nicht einfach beerdigen. ({3}) Auch die Ergebnisse, die wir in der IT-Branche erzielt haben, zum Beispiel mithilfe der Greencard, waren ein wichtiger Fortschritt für unser Land. Durch die Öffnung haben wir das Signal gesetzt, dass wir die besten Talente bei uns haben wollen. Die Kampagne „Kinder statt Inder“ war deshalb daneben, weil nicht realisiert wurde, dass wir auch in Ausbildung investieren, also in diejenigen, die als gute Talente in den Betrieben und Forschungseinrichtungen bei uns in Deutschland tätig sind. In früheren Jahren lagen viele Potenziale brach. Wir haben einen neuen Ansatz gesucht und bewusst gesagt: Deutschland ist ein offenes Land. Wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken wollen, brauchen wir die besten Talente der Welt und müssen gleichzeitig unsere Leute gut ausbilden. ({4}) Es gab übrigens auch manche, die gesagt haben, wir wollten mit der Greencard Billigarbeitskräfte nach Deutschland holen. Das war nie das Motiv. Das Motiv lautete: Lasst uns die guten Leute hierher holen, um mit ihnen zusammen hier Jobs zu realisieren und dadurch Arbeitsplätze für Deutschland zu schaffen. Ich glaube, wir müssen diesen Weg weitergehen. ({5}) - Frau Präsidentin, ich merke, dass im Hause eine richtig gute Stimmung ist.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Liebe Kolleginnen und Kollegen, um gut zu verstehen, wäre es besser zuzuhören. - Herr Staatssekretär, ich habe keine Disziplinierungsmöglichkeiten; Sie müssen sich durchsetzen.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Ich weiß das. Der Grund dafür ist ja, dass gleich abgestimmt werden soll. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, in dem man sich darüber Gedanken macht, wie Strukturreformen erreicht werden können, und in dem man bereit ist, in einem Konsensrahmen über Tabus zu sprechen, wird auch in Zukunft wichtig sein. Die erforderlichen Strukturreformen, zum Beispiel am Arbeitsmarkt, bekommt man aber nicht hin, wenn man das sozusagen nur einer Seite überlässt. Es müssen schon gemeinsame Anstrengungen unternommen werden. Im Übrigen konnten wir ein anderes wichtiges Ergebnis erzielen: Wir haben im Bündnis über die Frage gesprochen - die bisher tabu war -, wie die Grundzüge einer beschäftigungsfördernden Tarifpolitik realisiert werden können. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Gespräch, das darüber stattgefunden hat - unter Beachtung der Tarifautonomie -, dazu beigetragen hat, dass wir in den letzten zwei Jahren 600 000 neue Jobs geschaffen haben. ({0}) Diese neuen Arbeitsplätze sind nach der Bündnisrunde zustande gekommen. ({1}) Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass wir einen Schritt weitergehen müssen, um das Bündnis noch besser vorzubereiten. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir in Deutschland nicht eine Stiftung für Arbeit, wie wir sie aus den Niederlanden kennen, brauchen. Mit ihr zusammen könnte man versuchen, Konzepte und neue Ideen zu entwickeln, um sie dann dem Bündnis vorzulegen. Eine solche Stiftung für Arbeit würde nach meiner Auffassung dem Bündnis helfen, damit es auch in Zukunft erfolgreich sein kann. Sie wissen: Wir brauchen dieses Bündnis als Plattform, um Reformen voranzubringen. Unser Land braucht weiter Reformen. Das ist der Grund, warum wir das Bündnis weiter brauchen und warum wir eine Regierung brauchen, die die Kraft aufbringt, die Reformen voranzubringen. ({2}) Benjamin Britten hat einmal gesagt: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Wer aufhört, fällt zurück.“ Ich glaube, wir dürfen nicht aufhören, wir müssen weiter rudern und gemeinsame Anstrengungen unternehmen, und zwar auch über Parteigrenzen hinweg, um unser Land für einen Wettbewerb fit zu machen, der sich international verschärft hat. Dazu sind solche Plattformen, wie zum Beispiel das Bündnis für Arbeit, in Zukunft noch dringender notwendig als in der Vergangenheit. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Mich hat, Herr Staatssekretär, die Meldung erreicht, dass das die letzte Rede in Ihrer gegenwärtigen Funktion war. Ich nehme das zum Anlass - insofern ist es schön, dass so viele Kolleginnen und Kollegen anwesend sind -, Ihnen im Namen des Deutschen Bundestages für Ihre engagierte Arbeit zu danken. ({0}) Als letzter Rednerin dieser Debatte erteile ich der Kollegin Erika Lotz das Wort. Erika, du musst dich durchsetzen. Ich kann im Augenblick an dieser Mikrofonanlage nichts ändern.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich natürlich auch, dass so viele Kolleginnen und Kollegen da sind. Mehr noch würde ich mich freuen, wenn Sie mir zuhören. ({0}) Die Kollegin Andrea Fischer hat vorhin von „ritualisierten Reden“ gesprochen. Ich hätte mich gerne darauf eingelassen, keine ritualisierte Rede zu halten. Aber nach dem, was vonseiten der Opposition getönt worden ist, haben die Menschen ein Recht darauf, zu erfahren, wie die Bundesregierung, die Koalition und die sie tragenden Parteien - also Rot-Grün - dazu stehen. Frau Wöhrl, was Sie hier von sich gegeben haben, hat bei mir den Eindruck erweckt, CDU/CSU und FDP scheinen sich nur in Schwarzmalerei wohlzufühlen. Wir haben das ja auch schon in der letzten Legislaturperiode erlebt; die für mich unsägliche Standortdiskussion hatte schlimme Folgen für unser Land. ({1}) Sie verdrehen damit die Tatsachen. Wir haben die Steuern gesenkt. Wir haben die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkt. Auch die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Die Familien sind entlastet worden. Sagen Sie doch die Wahrheit! Sie reden von einem Land, das so nicht existiert. Es stimmt nicht, was Sie hier verbreiten. ({2}) Wenn Sie jetzt verlangen, dass die Menschen, die sich in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befinden, stille Reserve sind oder sich in Fortbildung oder Umschulung befinden, in der Arbeitslosenstatistik als arbeitslos gezählt werden, müssen Sie doch wissen, dass dies nach dem geltenden Recht gar nicht möglich ist. Als arbeitslos kann nur derjenige gezählt werden, der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, haben Sie es denn nicht im letzten Jahr der Regierung Kohl so gemacht? Dann hätte die Zahl der Arbeitslosen im Januar 1998 - Herr Kollege Thönnes hat schon darauf hingewiesen - nicht bei 4,8 Millionen, sondern bei fast 7 Millionen gelegen. ({3}) Stattdessen haben Sie Wahlkampf-ABM gemacht und Strukturanpassungsmaßnahmen durchgeführt, um das wahre Ausmaß Ihrer Arbeitslosigkeit zu verschleiern. Herr Brüderle, werfen Sie uns angesichts dessen hier nicht Trickserei vor! Wir haben nunmehr eine weltweite Konjunkturschwäche. Zum ersten Mal seit 30 Jahren sind Europa, die Vereinigten Staaten und Japan gleichzeitig in der Krise. Bei einem exportorientierten Land wie Deutschland macht sich das in der Konjunktur bemerkbar. Ich will noch einmal darauf hinweisen: Wir haben in der Zeit unserer Regierung 1,2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen und darauf sind wir stolz. ({4}) Sie fordern, den Spitzensteuersatz auf unter 40 Prozent zu senken. Was sagen denn Länder und Kommunen dazu, dass Sie ihnen insgesamt 15 Milliarden DM Steuern wegnehmen wollen? Wir haben eine große, umfassende Steuerreform verabschiedet. Der Spitzensteuersatz wird auf 42 Prozent gesenkt, aber dieser Satz wird dann auch gezahlt. Das ist doch der Unterschied zu Ihrer Zeit. Sie fordern, die Sozialversicherungsbeiträge mittelfristig unter 40 Prozent zu senken. Wir haben 1999 mit der ökologischen Steuerreform begonnen und dann auch gleich die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkt, seitdem inzwischen schon dreimal, nämlich von 20,3 Prozent auf 19,1 Prozent im Januar 2002. So etwas haben die Menschen über viele Jahre nicht mehr erlebt. ({5}) Sie beschweren sich über steigende Krankenversicherungsbeiträge und gleichzeitig klagt Ihr Kanzlerkandidat vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Risikostrukturausgleich. Die Beiträge der AOK in Ostdeutschland sind heute schon höher als im Westen. Wenn die Beiträge dort noch weiter steigen sollen, führt das zu steigenden Lohnnebenkosten und bedeutet den Abbau von Arbeitsplätzen im Osten. So viel, Frau Wöhrl, zum Blick nach Bayern! ({6}) Zu dem, was ich bisher aufgezählt habe, kommt eine ganze Reihe anderer Errungenschaften der letzten drei Jahre hinzu, die die CDU den Menschen jetzt wieder wegnehmen will. Wir machen die Vermittlung mit dem JobAqtiv-Gesetz effektiver. Über 400 000 junge Menschen haben das JUMP-Programm genutzt. ({7}) Damit sind weitere betriebliche Ausbildungsplätze geschaffen worden. Wir haben mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz den Anstoß zu mehr Teilzeitarbeit gegeben und die Menschen, die geringfügig beschäftigt sind, wieder in den Schutz der Sozialversicherung zurück geholt. Das alles wollen Sie wieder rückgängig machen. Das müssen wir den Menschen sagen; denn das ist für sie schädlich. ({8}) Sie versuchen, den Wählerinnen und Wählern einzureden, dies alles müsse gemacht werden. Aber für die Menschen ist der Schutz der Sozialversicherung wichtig und die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt muss weiter bestehen bleiben. Wir waren bisher erfolgreich und haben ein weiterhin Erfolg versprechendes Konzept. Jetzt sind allerdings vor allem die Unternehmen gefordert. Eine freie Stelle, von der allein der Arbeitgeber weiß, nutzt niemandem. ({9}) Die Unternehmen müssen ihre freien Stellen auch dem Arbeitsamt melden und Überstunden müssen in Arbeitsplätze umgewandelt werden. Wir sind keineswegs gescheitert. Das Bündnis für Arbeit ist ein Erfolg und wird ein Erfolg bleiben. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/8041 und 14/8363 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf: Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über den Bundesrechnungshof wählen der Deutsche Bundestag und der Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der Bundesregierung den Präsidenten des Bundesrechnungshofes. Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom 22. Februar 2002 vor, Herrn Professor Dr. Dieter Engels zum Präsidenten des Bundesrechnungshofes zu wählen. Herr Dr. Engels hat auf der Ehrentribüne Platz genommen; ich begrüße ihn hiermit sehr herzlich. ({0}) Nun bitte ich um Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren: Das Gesetz schreibt geheime Wahl vor. Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 334 Stimmen, erforderlich. - So viele Abgeordnete sind anwesend; das ist beruhigend. - Sie benötigen den weißen Wahlausweis sowie den blauen Stimmzettel mit Wahlumschlag. Diese Stimmzettel mit Umschlag wurden verteilt. Sollten Sie noch keinen Stimmzettel haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diesen von den Plenarassistenten zu erhalten. Den für diese Wahl benötigten weißen Ausweis sowie den gelben Wahlausweis für die später durchzuführende Wahl des Vizepräsidenten nehmen Sie bitte, soweit Sie es noch nicht getan haben, aus Ihrem Stimmkartenfach. Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Wahl geheim ist. Sie dürfen Ihren Stimmzettel nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen und in den Umschlag legen. Die Schriftführer sind verpflichtet, jeden zurückzuweisen, der seinen Stimmzettel außerhalb der Wahlkabine ankreuzt und in den Umschlag legt. Die Wahl kann in diesem Fall jedoch vorschriftsmäßig wiederholt werden. Bevor Sie den Stimmzettel in eine der aufgestellten Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren weißen Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne. Ich weise darauf hin, dass der Nachweis der Teilnahme an der Wahl nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht wird. Gültig sind nur Stimmen mit einem Kreuz bei „Ja“, „Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind Stimmen auf nicht amtlichen Stimmzetteln sowie Stimmzettel, die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an diese Wahl über Vorlagen ohne Aussprache abstimmen. Anschließend werden wir nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der Wahl des Präsidenten noch den Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes wählen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, jetzt die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sollen sich an die Urnen begeben, die an den Ausgängen zur Lobby hin aufgestellt sind. An der Urne 4 fehlt der zweite Schriftführer. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sollen nicht nach vorn kommen, sondern zu den Ausgängen. Dort stehen die Wahlurnen bereit. Haben jetzt alle Schriftführerinnen und Schriftführer ihre Position eingenommen? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Wahl. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, ihre Stimmzettel abgegeben? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann warten wir noch. Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmzet- tel abgegeben? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später mitgeteilt werden.1) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze wieder einzunehmen und die Gespräche einzustellen; denn vor uns liegt noch ein Abstimmungsmarathon, bevor wir zur Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungs- hofes kommen. - Es wäre gut, wenn die Parlamentari- schen Geschäftsführer ihres Amtes walten würden und die Kolleginnen und Kollegen animieren könnten, zu ihren Plätzen zurückzukehren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können jetzt fort- fahren. Die Umschläge mit grünen Stimmzetteln für die Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes werden von den Plenarassistentinnen und -assistenten in Kürze ausgegeben. Wir kommen nun zu den Überweisungen im verein- fachten Verfahren ohne Debatte. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 q sowie Tagesordnungspunkt 7 auf: 27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Wasserverbandsgesetzes - Drucksache 14/8223 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes - Drucksache 14/8286 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Entsorgung von Altfahrzeugen ({2}) - Drucksache 14/8343 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 10. März 2000 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Republik Korea zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 14/8213 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu- satzprotokoll Nr. 6 vom 21. Oktober 1999 zu der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17. Ok- tober 1868 - Drucksache 14/8215 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 12. Juni 2001 zwischen der Re- gierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über den Bau und die Erhaltung von Grenz- brücken über den Rhein, die nicht in der Bau- last der Vertragsparteien liegen - Drucksache 14/8216 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 2. Februar 1998 über die Vorrechte und Befreiungen der Kommission zum Schutz der Meeresumwelt der Ostsee - Drucksache 14/8217 - Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Seite 21909 C Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Februar 1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen sowie zu der auf der zweiten Konferenz der Parteien in Sofia am 27. Februar 2001 beschlossenen Änderung des Übereinkommens ({5}) - Drucksache 14/8218 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuss für Gesundheit i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. November 2000 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Zusammenarbeit bei der Wahrnehmung schifffahrtspolizeilicher Aufgaben auf dem deutsch-französischen Rheinabschnitt - Drucksache 14/8219 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7}) Innenausschuss j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. September 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über den Zusammenschluss der deutschen Autobahn A 17 und der tschechischen Autobahn D 8 an der gemeinsamen Staatsgrenze durch Errichtung einer Grenzbrücke - Drucksache 14/8220 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Tourismus k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. November 2000 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über den Bau und die Erhaltung von Grenzbrücken im nachgeordneten Straßennetz - Drucksache 14/8224 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Finanzausschuss l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Öffentlichkeit vor angedrohten und vorgetäuschten Straftaten ({10}) - Drucksache 14/8201 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({11}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit m) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({12}) - Drucksache 14/8360 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({13}) innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien n) Erste Beratung des von den Abgeordneten Willi Brase, Klaus Barthel ({14}), Hans-Werner Bertl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Christian Simmert, Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard Loske, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes - Drucksache 14/8359 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({15}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Jünger, Ulla Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Nullpromille für Fahranfänger und Fahranfängerinnen - Drucksache 14/6809 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Dr. Evelyn Kenzler, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufgaben des jüngsten Mitgliedes des Deut- schen Bundestages - Drucksache 14/8166 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Vizepräsidentin Petra Bläss Bundeswehreinheiten aus der Golfregion zurückziehen - Drucksache 14/8270 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({17}) Verteidigungsausschuss 7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Margot von Renesse, Andrea Fischer ({18}) und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen ({19}) - Drucksache 14/8394 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({20}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 28 a und b sowie 28 d bis 28 m. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 28 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines post- und telekommunikationsrechtlichen Bereinigungsgesetzes - Drucksache 14/7921 ({21}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({22}) - Drucksache 14/8342 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Barthel ({23}) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über soziale Sicherheit - Drucksache 14/8212 ({24}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({25}) - Drucksache 14/8377 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/8377, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen von Ihnen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der personellen Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und in den Unternehmen der Deutschen Bundespost - Drucksache 14/8044 ({26}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({27}) - Drucksache 14/8350 - Berichterstattung: Abgeordneter Eduard Lintner bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({28}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/8351 Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Hans Georg Wagner Franziska Eichstädt-Bohlig Jürgen Koppelin Dr. Uwe-Jens Rössel Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/8350, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen von Ihnen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der GesetzVizepräsidentin Petra Bläss entwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen von Ihnen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes und des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen - Drucksache 14/8012 ({29}) ({30}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({31}) - Drucksache 14/8341 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Bleser Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({32}) zu der Verordnung der Bundesregierung Neunundneunzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 14/7388, 14/7514 Nr. 2.1, 14/8149 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 14/7388 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 28 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({33}) Übersicht 11 a über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 14/8229 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 28 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 356 zu Petitionen - Drucksache 14/8229 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 356 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 357 zu Petitionen - Drucksache 14/8290 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch die Sammelübersicht 357 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 358 zu Petitionen - Drucksache 14/8291 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 358 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 28 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 359 zu Petitionen - Drucksache 14/8292 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 359 ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 360 zu Petitionen - Drucksache 14/8293 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 360 ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Vizepräsidentin Petra Bläss Tagesordnungspunkt 28 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 361 zu Petitionen - Drucksache 14/8294 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 361 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({40}) zu dem Vierten Gesetz zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes 4. BZRGÄndG - Drucksachen 14/6814, 14/7837, 14/8191, 14/8358 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist ebenfalls nicht der Fall. Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/8358? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({41}) zu dem Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser ({42}) - Drucksachen 14/6893, 14/7421, 14/7461, 14/7824, 14/7862, 14/8239, 14/8362 - Berichterstattung: Abgeordnete Hildegard Wester Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall. Wir kommen ebenfalls sofort zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei- ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim- men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/8362? - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange- nommen.1) Das Ergebnis der Wahl liegt noch nicht vor; deshalb unterbreche ich kurz die Sitzung. ({43})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wir kommen zurück zu Tagesordnungspunkt 5. Ich gebe Ihnen jetzt das Ergebnis der Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofes bekannt. Abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben gestimmt 543 Abgeordnete. ({0}) Mit Nein haben gestimmt 22 Abgeordnete. 21 Kollegin- nen und Kollegen haben sich der Stimme enthalten. Herr Professor Dr. Dieter Engels hat damit die erfor- derliche absolute Mehrheit von mindestens 334 Stimmen erreicht.2) Ich spreche Herrn Professor Dr. Engels zu seiner Wahl durch den Deutschen Bundestag die Glückwünsche des gesamten Hauses aus. ({1}) Ich werde das Ergebnis der Wahl dem Herrn Bundeskanzler und dem Herrn Präsidenten des Bundesrates umgehend mitteilen. Der ehemaligen Präsidentin des Bundesrechnungshofes, Frau Dr. Hedda von Wedel, spreche ich im Namen des Deutschen Bundestages Dank für ihr jahrelanges verdienstvolles Wirken und alle guten Wünsche für ihre neue Aufgabe aus. ({2}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech- nungshofes Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über den Bundes- rechnungshof wählen der Deutsche Bundestag und der Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der Bundesregierung den Vizepräsidenten des Bundesrech- nungshofes. Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom 22. Februar 2002 vor, den Kollegen Norbert Hauser zum Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes zu wäh- len. Ich gebe jetzt nochmals einige Hinweise zum Wahl- verfahren. Sie benötigen nun den grünen Stimmzettel mit Wahlumschlag. Sollten Sie noch keinen Stimmzettel ha- ben, besteht jetzt die Möglichkeit, diesen von den Plenar- assistentinnen und -assistenten zu erhalten. Außerdem benötigen Sie den gelben Wahlausweis, den Sie bitte, so- weit Sie das noch nicht getan haben, Ihrem Stimmkarten- fach entnehmen. Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 4 2) Liste der Teilnehmer an der Abstimmung siehe Anlage 2 Die Wahl ist wiederum geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihren Stimmzettel nur in einer der Wahlkabinen ankreu- zen und in den Wahlumschlag legen. Gültig sind nur Stimmzettel mit dem Kreuz bei „Ja“, „Nein“ oder „Ent- halte mich“. Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 334 Stimmen, erforderlich. Übergeben Sie bitte, bevor Sie den Wahlumschlag in eine der Wahlurnen werfen, Ihren Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne als Nachweis der Teilnahme an der Wahl. Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Haben Sie das getan? - Ich eröffne die Wahl. Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Zettel abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Ich stelle fest, dass es hier im Saal sehr übersichtlich geworden ist. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zur Klage der Bayerischen Staatsregierung gegen die Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. ({3}) - Bevor die Frau Ministerin anfängt, lege ich allen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, nahe, den Raum zu verlassen. ({4}) - Noch sitzen reichlich viele Kolleginnen und Kollegen hier.

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu den Fakten. Die Bayerische Staatsregierung sowie die CDU-geführten Landesregierungen von BadenWürttemberg und Hessen haben im August 2001 einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht eingereicht mit dem Ziel, das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung und die Solidarität zwischen den alten und den neuen Bundesländern auszuhebeln. ({0}) Genau das wäre das Ergebnis, wenn die gesetzlichen Regelungen über den Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen, insbesondere die Regelungen über die Aufhebung der Rechtskreistrennung zwischen Ost und West, für verfassungswidrig und nichtig erklärt werden würden. Ich sage Ihnen hier ganz deutlich: Zu klagen ist rechtsstaatlich legitim und auch in unserer Verfassung vorgesehen; politisch allerdings halte ich das Vorgehen, mit der die Solidarität ausgehebelt würde, ehrlich gesagt für verwerflich. ({1}) - Herr Kollege Zöller, ein Gesundheitswesen, das auf dem solidarischen Ausgleich, auf der Solidarität zwischen Jungen und Alten, Gesunden und Kranken basiert, das von denen getragen wird, die mehr verdienen, das mit Familien mit Kindern solidarisch ist, ({2}) ein solches Gesundheitssystem, das jeden und jede ohne Ansehen der Person und eventueller Vorerkrankungen in den gesetzlichen Kassen versichert und versichern muss, ({3}) wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt werden, kann diese Solidarität nur erhalten, wenn es dafür sorgt, dass die solidarischen Leistungen zwischen den einzelnen Kassen einigermaßen gerecht verteilt werden. ({4}) Das bedeutet Solidarität nicht nur in der einzelnen Kasse, sondern auch zwischen den verschiedenen Kassenarten und ebenso zwischen den Kassen in den alten und den neuen Bundesländern. ({5}) Weil das so ist, ({6}) wurde 1992 mit der Einführung der generellen freien Kassenwahl der Risikostrukturausgleich fraktions- und länderübergreifend als einer der Eckpfeiler des neu geschaffenen Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen. ({7}) Dass nun die Parteien CDU, CSU und FDP, die 1992 unter ihrer Regierung ausdrücklich die Einführung des Risikostrukturausgleichs beschlossen haben, versuchen, diesen mithilfe des Verfassungsgerichts zu Fall zu bringen, ({8}) Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Seite 21915 D mutet schon einigermaßen sonderbar an. ({9}) Es darf nicht vergessen werden, dass sich dieser Normenkontrollantrag letztlich gegen einen auf Wirtschaftlichkeit und Qualität ausgerichteten Wettbewerb der gesetzlichen Krankenversicherungen richtet. Er befürwortet nämlich in der Konsequenz Risikoselektion und Unwirtschaftlichkeit. Eines ist ganz klar: Ohne den Risikostrukturausgleich hätten die Krankenkassen kaum ein Interesse daran, einen Wettbewerb bei der wirtschaftlichen Erbringung von Leistungen zu führen. Sie hätten dann vielmehr vor allen Dingen ein Interesse daran, junge und gesunde Versicherte aufzunehmen, die relativ geringe Kosten verursachen, um dadurch Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Das kann nicht unsere Politik sein, weil damit vor allem die Solidarität der Krankenkassen in den alten Ländern mit denen in den neuen Ländern aufgekündigt würde. Das wäre das Ergebnis einer solchen Politik. ({10}) Die Folge davon wäre, dass die im Krankenversicherungsbereich endlich gefallene Sozialmauer zwischen Ost und West wieder errichtet würde. Die Krankenkassen in den neuen Ländern würden in die desolate Finanzsituation zurückgestoßen. Letztendlich müssten die Patientinnen und Patienten dieses ausbaden. ({11}) Das wäre das Ergebnis. Oder anders ausgedrückt: Bayern, Baden-Württemberg und Hessen wollen sich mit vorgeschobenen Argumenten der Solidarpflichten innerhalb der GKV entziehen. ({12}) Sie kündigen im Ergebnis die Solidarität auf, die bisher im Gesundheitswesen gegolten hat. ({13}) Es geht hier nicht um Peanuts. ({14}) 1998, als SPD und Grüne die Verantwortung für die Gesundheitspolitik übernommen haben, waren die Krankenkassen in den neuen Ländern mit über 800 Millionen Euro verschuldet. ({15}) Erst durch die Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs konnte bis Ende 2000 der Schuldenstand auf nur noch rund 200 Millionen Euro zurückgeführt werden. ({16}) Bis zum September 2001 konnte der Schuldenstand auf unter 100 Millionen Euro reduziert werden. Dies und die Sicherung der Leistungsfähigkeit sind durch die Zahlungen der Krankenkassen in den alten Ländern ermöglicht worden, die allein im Jahre 2001 circa 2 Milliarden Euro aufgebracht haben. Es ist eine gute Gelegenheit, sich an dieser Stelle für den Solidaritätsbeweis einmal ausdrücklich bei den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern zu bedanken, die diese Last mitgetragen haben. ({17}) Nach dem Willen von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen soll all dies ein Ende haben, obwohl die AOKs in diesen drei Ländern in erheblicher Weise vom Risikostrukturausgleich profitieren: ({18}) Alle drei AOKs haben im Jahr 2000 knapp 2 Milliarden Euro aus dem Risikostrukturausgleich erhalten. Nahezu die Hälfte davon entfiel auf die AOK Bayern. ({19}) Aber nicht nur über den Risikostrukturausgleich fließt Geld an die AOK in Bayern. Von den Zuschüssen in Höhe von rund 1 Milliarde Euro, die der Bund den Krankenversicherungen der landwirtschaftlichen Altenteiler gewährt, floss im Jahre 2000 rund ein Drittel nach Bayern. Die neuen Länder erhielten davon nur 1,5 Millionen Euro. Es ist schon sehr befremdlich, wenn sich jemand, der in erheblicher Weise von der Solidarität anderer profitiert, mit gerichtlicher Hilfe aus der eigenen Solidaritätsverpflichtung herausstehlen will. ({20}) Das mag vielleicht dem Sowohl-als-auch-Kanzlerkandidaten Stoiber gut anstehen. ({21}) Ein Handeln nach dem Motto, vor dem Verfassungsgericht die Solidarität aufzukündigen und im Rahmen des RSA stillschweigend zu kassieren, ist aber ein doppeltes Spiel. Das kann von uns nicht akzeptiert werden; denn die Folgen liegen auf der Hand: Die Beitragssätze in den neuen Ländern würden entweder astronomisch steigen und damit weitere Arbeitsplätze gefährden ({22}) oder die Krankenkassen dort würden sich tief in eine Schuldenfalle verstricken, aus der sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfänden. Das darf nicht sein, weil die Menschen, die auf die Hilfe im Gesundheitswesen angewiesen sind, dabei die Leidtragenden wären. Das wäre der erste Schritt in Richtung einer Zweiklassenmedizin, die Sie vielleicht wollen. ({23}) Die Bundesregierung will keine neue Sozialmauer zwischen Ost und West ({24}) und deshalb werden wir vor dem Bundesverfassungsgericht für den Erhalt der solidarischen Wettbewerbsordnung und für die Interessen der neuen Bundesländer kämpfen. Ich bin sicher, dass das Gericht unseren Argumenten folgen wird. Vielen Dank. ({25})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt der hessische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Staatsminister Jochen Riebel. Jochen Riebel, Staatsminister ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Schmidt, ich bin ein bisschen enttäuscht: Ich stehe zum ersten Mal vor dem Deutschen Bundestag und habe erwartet, dass von Ihnen eine Rede gehalten wird, die dem differenziert zu betrachtenden Thema auch gerecht werden wird. ({1}) Aber die Kollegin Schmidt hat versucht, eine Wahlkampfrede zu halten. Es war auch noch eine ganz schlechte. ({2}) - Ich will Sie doch nicht belehren, Frau Kollegin. Ich selber bin bereit zu lernen und stehe hier als Lernender. ({3}) Ich will Ihnen einmal vorführen, dass ein Lernender mit einem differenziert zu betrachtenden Thema auch differenziert umzugehen vermag. ({4}) Deswegen beginne ich mit der Aussage Ihrer Ministerin, die gesagt hat: Bayern, Hessen, Baden-Württemberg profitieren vom Risikostrukturausgleich und wollen deswegen gegen ihn gerichtlich vorgehen. Diese Logik ({5}) ist einem kundigen Thebaner nicht nahe zu bringen. ({6}) Ich will zu Beginn ganz unmissverständlich feststellen: Solidarität unter den Ländern sowie zwischen den Ländern und dem Bund ist für uns Hessen ein wichtiges Gut und darin lassen wir uns von niemandem übertreffen. ({7}) Die Zielrichtung war doch offenkundig: Wenn hier der Name eines Ministerpräsidenten fällt, der zugleich der Kanzlerkandidat der CDU/CSU ist, dann ist die Absicht erkannt. Man ist zwar nicht verstimmt; aber das Argument wiegt anschließend umso leichter. ({8}) Ich will jetzt endlich zur Sache kommen. ({9}) Das ursprüngliche Ziel des Risikostrukturausgleiches war der Ausgleich der finanziellen Auswirkungen unterschiedlicher Risikostrukturen der Krankenkassen, um eine gerechte - man könnte auch sagen: gerechtere - Belastung der Versicherten zu erreichen und Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Kassen zu vermeiden - ein unstreitiges und richtiges Ziel. ({10}) Allerdings stellt sich die Situation heute, Jahre später, anders dar. Der Risikostrukturausgleich führt zu dem abenteuerlichen Ergebnis, dass die Zahlerkassen zum Teil höhere Beitragssätze haben als die Empfängerkassen. ({11}) Das dient dem beschriebenen Ziel, das ich für unstreitig halte, nicht. ({12}) Der Risikostrukturausgleich hat sich von der ursprünglichen, sachgerechten und von keinem Insider bestrittenen Zielsetzung zu einem gewaltigen bürokratischen Umverteilungssystem entwickelt, in dem mittlerweile Summen bewegt werden - daran darf ich nur erinnern -, die diejenigen des Länderfinanzausgleiches deutlich überschreiten. ({13}) Im Kontext einer - erlauben Sie es mir doch zu sagen, ohne dass Sie aufschreien - aus meiner Sicht verfehlten und auch nicht zielgerichteten Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung stellt sich für viele Versicherte die Entwicklung in der Weise dar, dass sie sich einer stetig steigenden Beitragsbelastung bei gleichzeitig zunehmenden Leistungskürzungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgesetzt sehen. Ziel einer Gesundheitspolitik und einer Gesundheitsreform müsste es sein, vorhandene Reserven auszuschöpfen, ({14}) Ausgaben zu senken und damit das anerkannt richtige System zu stabilisieren. ({15}) Der gegenwärtige Mechanismus des Risikostrukturausgleichs führt mit seinen Systemfehlern nicht nur zu der objektiv absurden Konsequenz, dass die ausgabendeckenden Beitragssätze der günstigsten Ortskrankenkassen der Empfängerländer zum Teil erheblich unter dem Beitragssatz von Ortskrankenkassen der Geberländer liegen, sondern auch dazu, dass der Bund seine Pflicht zum Ausgleich - daran muss man erinnern - vernachlässigt und auf die Länder abschiebt. Das sind gewaltige Umverteilungen von Geldströmen, die aus Sicht der Länder - und zwar aller Länder; daran darf ich in aller Bescheidenheit erinnern - nicht hingenommen werden können. Da die Länder und mit ihnen die dort ansässigen gesetzlichen Krankenkassen eine grundsätzliche Finanzautonomie haben, benötigt der Bund für die gesetzliche Anordnung von Finanztransfers zwischen diesen eine besondere verfassungsrechtliche Ermächtigung. Dies ist übrigens im Grundgesetz nicht vorgesehen. Art. 120 Abs. 1 des Grundgesetzes weist vielmehr als dauerhafte Regel der Finanzverfassung dem Bund nur eine Zuschusspflicht in Bezug auf die gesetzlichen Krankenversicherungen zu. Aus meiner Sicht ist dies verfassungsrechtlich unumstritten. Von dieser Zuschusspflicht befreit sich die Bundesregierung dadurch, dass sie den Transfer aus Mitteln der Länderkassen organisiert. Schon dieser Sachverhalt an sich ist für die Länder nicht hinnehmbar. Außergewöhnlich empörend ist es allerdings aus Sicht der Länder Hessen, Baden-Württemberg und Bayern, dass die Bundesregierung sich erlaubt, den Vorwurf zu formulieren in diesem Zusammenhang hätte ich unterstellt, dass es die Bundesgesundheitsministerin besser weiß; vielleicht ist insoweit ein wie auch immer gearteter Fehler in ihr Redemanuskript geraten -, die Länder wollten sich aus ihrer bundesstaatlichen Solidarität lösen, während in Wahrheit die Bundesregierung von den Ländern verlangt, die bundesgesetzlich verursachten Defizite von Sozialversicherungsleistungen mit eigenen Ländermitteln auszugleichen. Das entspricht nicht der tatsächlichen Verfassungslage; darauf ist hinzuweisen. Durch den jetzt in Aussicht genommenen Risikostrukturausgleich wird die der Bundesregierung obliegende Pflicht, den Ausgleich mithilfe von Haushaltsmitteln zu schaffen, nicht nur ausschließlich auf die Gruppe der Sozialversicherten verlagert, sondern auch der ursprünglich vorhandene, im Prinzip durchweg akzeptierte sachliche Differenzierungsgrund der Herstellung von Wettbewerbsgleichheit zunehmend aufgegeben. Risikofaktoren wie die Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen, die Zahl der Familienversicherten, das Alter und das Geschlecht der Versicherten sind aus unserer Sicht gerade nicht dazu geeignet, Wettbewerbsgleichheit herzustellen, weil sie für den Wettbewerb wesentliche Faktoren, wie beispielsweise die Wirtschaftlichkeit der Arbeit der Kassen oder das regionale Preis-, Lohn- und Versorgungsniveau, überhaupt nicht einbeziehen bzw. außen vorlassen. Die hierbei bereits in der Vergangenheit entstandenen Wettbewerbsverzerrungen werden durch das Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleiches in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht etwa gemildert, sondern weiter vertieft. ({16}) Dazu sage ich appellatorisch: Das kann eigentlich kein Mitglied des Deutschen Bundestages so wollen. Aufgrund der Berechnung des Beitragsbedarfes im Bundesdurchschnitt werden die tatsächlichen Wettbewerbsbedingungen, unter denen die jeweilige Kasse agiert, nicht erfasst. Der Risikostrukturausgleich ist bereits deshalb im Ansatz verfehlt. Er zielt eben nicht auf eine tatsächliche Gleichheit der ökonomischen Wettbewerbsbedingungen, sondern lediglich auf eine rechnerische Gleichheit im Gesetz. Das ist entweder ein Denkfehler - das wäre aus meiner Sicht eine schlimme Sache oder politische Absicht. Das halte ich dann allerdings für skandalös. Das Ziel unseres Normenkontrollantrages ist es, die Wettbewerbsverzerrungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu korrigieren. Wir wollen, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung faire Wettbewerbsbedingungen herrschen. Dies erfordert selbstverständlich und ohne jede Frage einen Ausgleich der vorhandenen, von der einzelnen Krankenkasse nicht zu beeinflussenden unterschiedlichen Risikostrukturen. Hierzu haben wir immer ausdrücklich unsere Bereitschaft erklärt. ({17}) Das ist der Wille der Länder. Ich bitte, diese Argumente noch einmal zu wägen, weil sie aus unserer Sicht gewichtiger sind als die, welche die Frau Bundesgesundheitsministerin vorgetragen hat. Herzlichen Dank. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Normenkontrollklage der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen vor dem BVG gegen den RSA soll vor allen Dingen die Rechtskreistrennung der Ost- und Westkassen wieder einführen. Dieser Antrag der Unionsländer zeigt, was der Kanzlerkandidat der Union unter Chefsache Ost versteht. Für ihn bedeutet das EntsoStaatsminister Jochen Riebel ({0}) lidarisierung, der Aufbau neuer Mauern zwischen Ost und West und in diesem Zusammenhang natürlich auch eine Verschlechterung der Situation der ostdeutschen Wirtschaft, weil sich das auf die Beiträge auswirkt. Dabei wird zudem die Frage der Lohnnebenkosten zu thematisieren sein, was wir auch getan haben. ({1}) Fangen wir einmal von vorn an: Der Risikostrukturausgleich wurde 1992 mit den Stimmen derjenigen eingeführt, die jetzt dagegen klagen. ({2}) Der Risikostrukturausgleich ist ein zentraler Bestandteil der Krankenversicherung geworden und gleicht die unterschiedlichen Bedingungen zwischen Ost und West aus. Ich glaube, das ist die Grundlage für das, was jedenfalls wir als regierungstragende Fraktion unter fairem Wettbewerb verstehen. ({3}) Durch die von uns eingeführte Aufhebung der Rechtskreistrennung wird der Ausgleich zwischen den Kassen nunmehr bundeseinheitlich geregelt. Das ist fair und richtig. Dieser Schritt betrifft übrigens in elementarer Weise auch das Zusammenwachsen der Menschen in Ost und West. Wenn man sich die zu erwartenden Transfers im Jahr 2002 ansieht, wird deutlich, dass es eben nicht nur einen Ausgleich von West nach Ost gibt. Nein, von der Neugestaltung durch den momentanen Wettbewerb um gesunde, junge und zahlungskräftige Mitglieder profitieren auch - das ist hier gesagt worden - Kassen im Süden und Norden, weil die Kassen ansonsten nicht mithalten können. Dazu gehört zum Beispiel die AOK Bayern, die allein im Jahr 2000 circa 1 Milliarde Euro aus dem RSA bekommen hat. ({4}) Natürlich hilft diese Neuregelung dem Osten. 1998 betrug der Schuldenberg der Ostkassen 800 Millionen Euro. Das ist ein Betrag - das wissen Sie ganz genau -, den diese Kassen aus eigener Kraft niemals hätten zurückzahlen können. Die Auswirkungen der Aufhebung des Ausgleichs sind im Haus bekannt. Ich möchte exemplarisch nur die Schuldenfalle aufgrund der als Folge daraus steigenden Beiträge nennen. Die Frage der Lohnnebenkosten - das sage ich noch einmal - ist auch eine Frage der Standortfaktoren in Ostdeutschland. Eigentlich müssten das die unionsregierten Länder in Ost wie in West wissen. Durch die Einführung des gesamtdeutschen RSA konnte die Verschuldung - ich hatte den Betrag von 800 Millionen Euro genannt - auf 200 Millionen Euro gesenkt werden. Es sollte nicht vergessen werden, dass es auch in den Ostländern so genannte Zahlerkassen gibt. Sie haben jedoch durch die insgesamt niedrigeren Einkommen so geringe Einnahmen, dass sie dies innerhalb der neuen Bundesländer nicht ausgleichen können. Ich glaube nicht, dass das wünschenswert ist. Darüber hinaus vergessen wir bitte auch nicht, dass es eine Reihe von Menschen gab, die Kassenbeiträge im Westen gezahlt haben, aber im Osten Leistungen bekamen. Wir haben deswegen das Wohnortprinzip eingeführt. Das ist ein weiterer Baustein beim Ausgleich zwischen Ost und West; aber scheinbar ist das dem Kandidaten der Union und den Ministerpräsidenten von Hessen und Baden-Württemberg ein Dorn im Auge. Das verstehe ich nicht. Sie von der Union sollten, wenn Sie es mit dem Zusammenwachsen von Ost und West wirklich ernst meinen - dabei geht es nicht allein um Solidarität, sondern um gleiche Wettbewerbsbedingungen und ökonomische Bedingungen für die Kassen -, Ihrem für die Bundestagswahl aufgestellten Spitzenkandidaten den Tipp geben, diese Klage zurückzuziehen. Ihre Politik ist - das ist nur ein Beispiel für viele andere - eine Politik gegen Ostdeutschland. ({5}) Damit werden Sie nicht durchkommen. Ziehen Sie Ihre Klage zurück! Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae. ({0})

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 1992 haben wir unter der damaligen Regierung von CDU/CSU und FDP den Risikostrukturausgleich gemeinsam mit Ihnen eingeführt. ({0}) Es gab überhaupt keinen Zweifel: Wir wussten, dass wir etwas machen mussten, um den Kassen, die im Wettbewerb Nachteile hatten, helfen zu können. Wir wollten den Wettbewerb. Das war der entscheidende Punkt, warum wir damals den Risikostrukturausgleich eingeführt haben. Wir haben uns auf vier Kriterien festgelegt; Sie alle wissen, dass intensiv diskutiert wurde. Ich denke, dass die Kriterien - Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen, mitversicherte Familienangehörige, Alter und Geschlecht -, die man ausgewählt hat, gut waren. ({1}) Die Entwicklung ist aber weitergegangen. Ich erinnere daran, dass wir im Rahmen der Wiedervereinigung gesagt haben, dass wir auch die Einnahmesituation in den neuen Bundesländern berücksichtigen und einen Risikostrukturausgleich darauf ausrichten müssen. Auch das ist ein wichtiger Faktor. Dabei gibt es für mich keine Diskussion. Ihr Risikostrukturausgleich hat aber mittlerweile ein Volumen von über 25 Milliarden, wobei die Tendenz steigend ist. ({2}) Er ist erheblich größer als der Länderfinanzausgleich. Von daher muss man - das wissen Sie eigentlich auch - sehr ernsthaft darüber nachdenken, ob man den Risikostrukturausgleich mit dieser wachsenden Tendenz so weiterführen kann ({3}) oder wirklich ernsthafte Bemühungen für eine Reform unternimmt. ({4}) Was tun Sie, meine Damen und Herren? Sie belasten den Risikostrukturausgleich durch das letzte Gesetz noch stärker. ({5}) Sie sprechen - niemand hat etwas dagegen - von DiseaseManagement-Programmen. Die Kopplung zwischen dem Disease Management und dem Risikostrukturausgleich halte ich persönlich aber für falsch und ich denke, viele andere auch. ({6}) Ich sage Ihnen heute voraus: Diese Konzeption geht daneben. Sie werden es aufgrund der Organisation, der Verwaltung und der Überwachung nicht schaffen. Es stört mich, dass das Bundesversicherungsamt aufgrund Ihrer Pläne sehr viele Stellen schaffen muss. Auch jede einzelne Krankenkasse und die Länder müssen dies. Der Risikostrukturausgleich wird fast undurchschaubar. Wenn Sie ehrlich sind - das wissen Sie alle -, ({7}) dann geben Sie zu, dass es in der Bundesrepublik Deutschland nur wenige Experten gibt, die den Risikostrukturausgleich wirklich noch durchschauen, analysieren und klar formulieren können. ({8}) Meine Damen und Herren, das hat keine Zukunft. Ich plädiere für die solidarische Finanzierung, wie wir sie gewollt haben. Sie dürfen durch den Risikostrukturausgleich nicht nur die Krankenkassen berücksichtigen. Damit würden Sie einen falschen Weg gehen. Wir haben vor einigen Wochen einen Antrag eingebracht, damit ein Teil des Risikostrukturausgleichs auch zur Stabilisierung der Lage der Ärzte und der Leistungserbringer genutzt wird. ({9}) - Ja, in den neuen Ländern. - Damit lagen wir völlig richtig. ({10}) - Frau Schmidt-Zadel, Sie erkennen heute, dass viele Praxen nicht mehr besetzt werden können. ({11}) - Oh ja, das hat viel damit zu tun, weil die Honorierung in den neuen Bundesländern zusammengebrochen ist. Die Bürger werden erkennen, dass Sie mit Ihrer Politik, bezogen auf den Risikostrukturausgleich, nicht zielgerichtet arbeiten, ({12}) sondern dass Sie freiberufliche Praxen vor die Hunde gehen lassen und damit die medizinische Versorgung in einzelnen Regionen wie Sachsen-Anhalt, MecklenburgVorpommern und Brandenburg ganz besonders benachteiligen. ({13}) Dies werden wir auch im Rahmen des Risikostrukturausgleichs anprangern. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bevor wir in der De- batte fortfahren, möchte ich Ihnen das von den Schrift- führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes bekanntgeben. Abgegebene Stimmen 586. Zwei Stimmen waren ungültig. Mit Ja haben gestimmt 494. Mit Nein ha- ben gestimmt 51 Abgeordnete. 39 Kolleginnen und Kol- legen haben sich enthalten.1) Der Abgeordnete Norbert Hauser hat damit das erforderliche Ergebnis, nämlich die absolute Mehrheit von mindestens 334 Stimmen, erreicht. Ich spreche unserem Kollegen Norbert Hauser im Namen des ganzen Hauses die Glückwünsche zu seiner Wahl durch den Deutschen Bundestag aus. ({0}) Leider ist Herr Hauser nicht mehr da. Ich werde das Ergebnis der Wahl dem Bundeskanzler und dem Präsidenten des Bundesrates umgehend mitteilen. 1) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3. Des Weiteren möchte ich bekanntgeben, dass Staatsminister Jochen Riebel den Plenarsaal verlassen muss, weil zeitgleich die Konferenz der Europaministerinnen und Europaminister in Berlin tagt. Sie können ein Stück der Rede der Kollegin Dr. Ruth Fuchs, der ich hiermit das Wort erteile, allerdings noch mitbekommen.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatsminister Riebel, so unerfahren können Sie gar nicht sein, dass Sie nicht wissen, dass in diesem Hohen Hause schon lange Wahlkampf in den Aktuellen Stunden und Debatten gemacht wird. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde das auch gar nicht schlimm, weil Wahlkampf auch ein Stück Aufklärung mit sich bringt. ({0}) Die Politiker sollen die Menschen über das aufklären, was sie sagen, und vor allem über das, was sie tun. ({1}) So gesehen, Frau Ministerin, war es sehr interessant, von Ihnen die Haltung der Bundesregierung zu der angesprochenen Frage zu erfahren. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, Frau Ministerin: ({2}) Für mich und für viele gibt es ein wesentlich größeres öffentliches Interesse an der Beantwortung folgender Fragen: Erstens. Was ist das Ziel des Normenkontrollantrages, der - wie schon gesagt worden ist - von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen - sozusagen in Solidarität der Starken untereinander - eingebracht worden ist? Zweitens. Welche Folgen hätte ein Erfolg dieser Klage für die medizinische Versorgung der Menschen in den neuen Bundesländern? Vor allen Dingen: Welche Auswirkungen hätte das auf die ohnehin nicht als ideal zu bewertenden Rahmenbedingungen eines sich selbst tragenden - ich betone: sich selbst tragenden - wirtschaftlichen Aufschwungs im Osten? Eine weitere Frage steht seit letztem Montag mehr denn je im Interesse der Öffentlichkeit; das haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Es stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Aussagen des Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber. ({3}) In einem Bericht der „ARD“ war von ihm zu hören: Es ist auch eine nationale Verpflichtung, dass es dem Osten besser geht. ({4}) Recht hat er. Das steht auch seit 12 Jahren im Einigungsvertrag. Das ist prima und dazu können wir alle klatschen. Wer aber dann gleichzeitig in der Funktion eines Ministerpräsidenten gegen den RSA klagt, macht genau das Gegenteil. ({5}) Er hofft auf Rechtsbeistand für den Ausstieg aus der Solidarität von West für Ost. ({6}) Wer so redet - mit welcher Begründung auch immer -, zeigt, dass ihm die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen zwischen Ost und West nur in Sonntagsreden oder im Wahlkampf etwas bedeutet, nicht aber im politischen Alltag. Nun zum Ziel der Klage: Das Ziel - so steht es in der Begründung - besteht darin, die gesetzlichen Regelungen über den RSA in der gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere die Regelung über die Aufhebung der Rechtskreistrennung Ost-West, für verfassungswidrig zu erklären. Wer das fordert, muss auch deutlich sagen, dass er damit bewusst und gewollt die Solidarität der Kassen West mit den Kassen Ost aufheben will. Wenn das nicht so sein soll, hätten Sie das in der Klage anders formulieren müssen. Er muss auch sagen, dass dies in einer Zeit geschehen soll, in der jeder verantwortungsbewusste Politiker weiß, dass die Krankenkassen in den neuen Bundesländern immer noch auf diese Solidarität angewiesen sind. Die bisher geleistete Solidarität der Versicherten aus den alten Bundesländern ist hoch zu würdigen. Das möchte ich hier als so genannter Ossi besonders hervorheben. ({7}) Ich weiß aber auch, dass sie nicht grundlos eingefordert und vor allem nicht überfordert werden darf. Das ist auch richtig. Ich weiß aber, dass eine Überforderung nicht eintreten kann; denn das garantiert eine Klausel in dem Gesetz zum RSA und die kann man nicht einfach wegdiskutieren. Wir können auch nicht das Bemühen aller ostdeutschen Länder - ich betone: aller - wegdiskutieren, selbst Formen für einen zusätzlichen Finanzausgleich untereinander zu finden. Das müsste auch jedem bekannt sein. Es darf nicht nach dem Grundsatz gehen: Her mit der Kohle und wir verbraten sie. Gegenwärtig - das stimmt so und darüber muss man sich klar sein - ist die Einnahmenseite der Ostkassen nicht so, dass die notwendige gesundheitliche Versorgung aus eigener Kraft zu leisten ist. ({8}) Die Ursachen dafür - sie sind nicht selbst verschuldet kennen wir! Ich nenne nur einige: ein sehr großer Anteil von Rentnern, eine sehr hohe Arbeitslosenquote, viel mehr Härtefälle und - machen wir uns doch nichts vor die Stagnation der Wirtschaft im Osten sowie vor allem die immer weiter zunehmende Abwanderung gerade junger Menschen in die alten Bundesländer, um Arbeit zu finden, die ihr Übriges tut. ({9}) Meine Damen und Herren, bei Wegfall des Finanzausgleichs bleiben den Ostkassen wirklich nur zwei Wege ofVizepräsidentin Petra Bläss fen - den dritten Weg will ich gar nicht erst andeuten, denn der wäre furchtbar -: Entweder erhöhen sie rapide die Beitragssätze auf 16, 17, 18 Prozent oder mehr - das ist keine Phantasie, sondern das sind Zahlen, ({10}) die errechnet worden sind - oder sie nehmen, was sie eigentlich laut Gesetz gar nicht dürfen, eine drastische Erhöhung ihrer Verschuldung in Kauf. Welche Folgen das für die Menschen und auch für den wirtschaftlichen Aufschwung hätte, ist schon von mehreren Kolleginnen und Kollegen benannt worden. Meine Redezeit ist gleich zu Ende, ich will das deshalb nicht wiederholen. Aber ob es dann dem Osten oder - bitte vergessen wir das nicht, denn da gibt es einen Zusammenhang -

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollegin Fuchs, Sie haben das Stichwort schon gegeben. Ich muss ein bisschen strenger sein, weil es eine Aktuelle Stunde ist.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Frau Präsidentin, es ist der letzte Satz. Ich fange noch einmal an, weil er unterbrochen wurde.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Sie haben das große Glück, dass die anderen Kolleginnen und Kollegen ihre Redezeit nicht voll ausgeschöpft haben.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ob es über kurz oder lang dem Osten und vor allen Dingen - vergessen Sie das nicht allen Menschen von Rügen bis zum Bayerischen Wald wirklich besser gehen wird, werte Kolleginnen und Kollegen der CSU/CDU, diese Frage müssen Sie den Wählerinnen und Wählern und Ihrem Kanzlerkandidaten schon selbst beantworten. ({0}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Staatsminister Rolf Schwanitz.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nach den Zielen gefragt worden. Ich habe hier ein Zitat von Ministerpräsident Stoiber aus einer Sendung des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 1997. ({0}) Damals ging es noch gar nicht um uns, sondern es ging, Frau Bergmann-Pohl, um den Streit mit Ihrem damaligen Chef, Herrn Seehofer. Damals hat der Ministerpräsident zum Thema Risikostrukturausgleich - das war ja damals ein heißer Streitpunkt bei Ihnen - Folgendes gesagt: Zunächst muss ich einmal wissen, ob die neuen Länder in der Frage der Gesundheitspolitik alles tun ... , bevor wir selber zur Kasse gebeten werden. ({1}) Ich möchte das zunächst einmal regionalisieren. Das ist doch ein Stück Wettbewerb zwischen den Ländern. ({2}) Als Erstes stelle ich fest: Das Prinzip „Raus aus einem gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich“, den Sie damals ja gar nicht hingekriegt haben, den wir aber seit 1999 richtigerweise aufgebaut haben, hat eine lange Tradition. Das ist Politik aus Bayern, aus München, die der Ministerpräsident immer schon verfochten hat. ({3}) Zweite Bemerkung: Wir sollten uns - ich nehme den Gedanken von Frau Fuchs gern auf - auch noch einmal über die Konsequenzen unterhalten. Die Summe, die für 2002 in dem gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich als Transfer für die neuen Bundesländer zu erwarten sein wird, entspricht nach allen Zahlen, die in der Kalkulation enthalten sind, einem Volumen von rund 2,6 Milliarden Euro, die die ostdeutschen gesetzlichen Krankenkassen dringend brauchen. Diese Mittel waren auch Voraussetzung dafür, dass entschuldet werden konnte und dass die überhöhten Versicherungsbeiträge in Ostdeutschland - 1998 waren die Beiträge noch wesentlich höher als in den alten Bundesländern - endlich an ein gesamtdeutsches Niveau angeglichen werden konnten. ({4}) Das ist die Situation. Wir haben bei Wegfallen dieses Transfers heute nicht mehr die Möglichkeit, die Neuverschuldung zu erhöhen. Die Konsequenz ist völlig klar: Die 2,6 Milliarden Euro müssten von den Beitragszahlern hereingeholt werden, die eine Hälfte von den Arbeitnehmern, die andere Hälfte von den Arbeitgebern. Das ist ein ganz einfaches Rechenbeispiel, wenn man die spezifischen wirtschaftlichen Einkommensverhältnisse und die ökonomische Situation in den neuen Bundesländern berücksichtigt. Diese Situation hat auch Konsequenzen für die Wettbewerbssituation an den Standorten des Ostens. Meine Damen und Herren, da können wir lange Sprüche klopfen. Wir haben gegenwärtig ein Beitragsvolumen von 13,5 bis 14,9 Prozent in den neuen Bundesländern. Im Extremfall kann das ein Ansteigen auf einen Beitragssatz von 20 Prozent in den neuen Bundesländern bedeuten. ({5}) - Informieren Sie sich einmal bei Ihren Kollegen in den Ländern. Dann hören Sie, was die Konsequenzen sind. Es gibt in der gesetzlichen Krankenversicherung in Ostdeutschland einen Anstieg von 30 bis 40 Prozent. ({6}) Was das für die Wettbewerbsfähigkeit bedeutet, ist völlig klar. Das ist ein glatter Schlag gegen die Wettbewerbssituation der ostdeutschen Regionen und Unternehmen. ({7}) Das hat eine lange Tradition, nicht nur wegen des Spruches „Das ist die Botschaft, die wir aus Bayern schon ewig kennen: Im Zweifelsfalle gegen den Osten“. ({8}) Das ist die Botschaft und das steckt in der Klage drin. ({9}) Seit ich diese Woche Montag von der Pressekonferenz mit Herrn Stoiber, Herrn Nooke - Herr Nooke hat ja leider den Saal verlassen - und den beiden anderen Büchsenspannern ({10}) gehört und gelesen habe, dass es bei dieser Klage bleibt, weiß ich natürlich auch, was die Ankündigungen bedeuten. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war zu lesen, Stoiber fordere für die ostdeutschen Länder die Möglichkeit zu Alleingängen - das war die programmatische Ansage -, ein Mittelstandsprogramm und Sonderrechte Ost. Jetzt weiß ich, wie die Sonderrechte Ost aussehen: Made in München und in Bayern. ({11}) Ich empfehle Ihnen in aller Deutlichkeit jenseits des Parteibuchs: Führen Sie Gespräche mit den Kollegen von der CDU in Sachsen und Thüringen und fragen Sie sie, wie sie diese Klage finden. ({12}) Ich bin gespannt, wie Sie sich verhalten, wenn sich die ostdeutschen Länder in einer Erwiderung gegen diesen Schlag gegen Ostdeutschland, der aus München kommt, gemeinsam positionieren. Vielen Dank. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich erteile dem Kollegen Volker Kauder von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Gesundheitsministerin, ich bin einigermaßen erstaunt darüber, ({0}) dass Sie sich ans Rednerpult stellen und versuchen, der deutschen Öffentlichkeit klar zu machen, dass die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Hessen und Bayern versuchen, sich aus der Solidarität davonzustehlen. ({1}) Genau das Gegenteil ist der Fall. ({2}) Gerade wir in Baden-Württemberg haben im Zuge der Wende und der Einheit für Deutschland gezeigt, was Solidarität bedeutet. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass es diese Solidarität auch zwischen West und Ost gibt, und haben bei unseren Diskussionen um den Länderfinanzausgleich nie die Solidarität aufgekündigt. Viel mehr geht es immer um die Frage, was gerecht ist und was nicht. ({3}) Das hätten Sie eigentlich so deutlich sagen müssen, statt so zu tun, als ob sich jemand aus der Solidarität davonschleichen will. ({4}) Es ist nicht gerecht, wenn die Beiträge der Krankenkassen im Westen steigen und der im Osten sinken, weil aus dem Westen - aus Baden-Württemberg und anderen Ländern - große Beiträge in dessen Kassen fließen. Wir - die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern und Hessen - haben dem Risikostrukturausgleich zugestimmt, als er eingeführt worden ist. Wir haben danach der ersten Stufe des Ost-West-Ausgleichs ebenfalls zugestimmt. Herr Schwanitz, wenn Sie schon zitieren, dann müssen Sie das auch richtig tun. Edmund Stoiber hat nämlich gesagt, dass er den Risikostrukturausgleich im Grundsatz für richtig halte; es gebe aber eine Überkompensation. ({5}) Um genau diese Überkompensation geht es. Ich frage die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungskoalition, wie sie eigentlich den Menschen im Lande klar machen wollen, dass es gerecht ist, dass die einen ihre Beiträge auf Kosten der anderen senken können. Dies kann nicht das richtige Ergebnis sein. Das können Sie im Grunde genommen auch gar nicht wollen. Der RisikostrukturausStaatsminister Rolf Schwanitz gleich hat inzwischen eine Summe angenommen, die größer als die des Länderfinanzausgleichs insgesamt ist. Frau Kollegin Schmidt, gerade als Vertreterin dieser Bundesregierung wäre ich mit Aussagen, was das Bundesverfassungsgericht für richtig oder falsch halten wird, ausgesprochen vorsichtig. Es könnte Ihnen gehen wie Ihrem Kollegen Scharping, dass Sie nämlich vor dem Bundesverfassungsgericht auf einmal zu einer ganz anderen Einsicht kommen müssten. ({6}) Im Übrigen halte ich es auch für ausgesprochen merkwürdig, wenn Vertreter der Bundesregierung jemanden, der vor dem Bundesverfassungsgericht eine Sachfrage klären lassen will, hier gleich als jemanden hinstellen will, der in höchstem Maße Unrecht tut. ({7}) Aber, Frau Kollegin Schmidt, wenn ich daran denke, wie Sie mit dem Bundesverfassungsgericht umgehen, wundert mich das schon gar nicht mehr. Das ist der bekannte Weg: Wer vor das Bundesverfassungsgericht geht, ist schon ein schlechter Mensch. Wie Sie mit dem Bundesverfassungsgericht umgehen, hat Herr Schily inzwischen gezeigt. Es ist unerträglich, was Sie hier vorführen und was für eine Politik Sie in diesem Land machen. ({8}) Herr Kollege Schwanitz, die Situation der Krankenkassen in den neuen Ländern wäre viel besser, wenn Sie Ihren Job richtig machen würden. Daran liegt es. ({9}) Gestern Abend hat Professor Donsbach in einer Diskussion gesagt, was mit Ihrer Regierung los ist. Er sagte, Herr Schröder möge zwar sympathisch sein, er sei aber ein sympathischer Verlierer. Das gilt für Sie alle: Sie sind Verlierer. ({10}) - Herr Donsbach hat gesagt, Herr Schröder sei ein sympathischer Versager. - Sie versagen in der Politik in den neuen Ländern zu 100 Prozent. Darin liegt das eigentliche Problem. ({11}) Wenn wir eine bessere Situation bei der Arbeitslosigkeit und eine bessere Situation in der Wirtschaft hätten, sodass die Menschen nicht die neuen Länder verlassen würden, dann hätten wir auch diese Probleme nicht. Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen, Frau Schmidt - das haben Sie ganz verschwiegen -: Woher kommt denn ein Teil der Mindereinnahmen in den Kassen der neuen Länder? Sie haben doch die Kassen dort in eine schlechtere Situation gebracht, indem Sie Beiträge von den Arbeitslosenhilfebeziehern gekürzt haben, wodurch weniger Beiträge in die Kasse fließen. ({12}) Wir haben leider Gottes aufgrund der miserablen Politik dieser Bundesregierung mehr Arbeitslose in den neuen Ländern. Das muss alles geändert werden. ({13}) Von Vertretern dieser Bundesregierung lassen wir aus Baden-Württemberg uns, was die Solidarität anbelangt, überhaupt nichts sagen. ({14}) Herr Schwanitz, erinnern Sie sich einmal daran, was damals Herr Schröder - zu dem Zeitpunkt noch nicht Bundeskanzler, sondern noch Ministerpräsident - über die neuen Länder gesagt hat: „Wir können sie doch nicht nach Polen abtreten“, lautete einer seiner Sprüche.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Kauder, ich muss Sie jetzt an die Redezeit erinnern.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war seine Solidarität. Da kann ich nur sagen: Sie haben allen Grund, erst einmal Solidarität zu beweisen. Machen Sie Ihren Job richtig. Sie haben noch sechs Monate Zeit. Dann wird es in den neuen Ländern auch besser aussehen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) - Ich muss bei Ihnen schon lange Schmerzensgeld beantragen. Das geht aber von meiner Redezeit ab. Herr Kauder, was mit Ihrer Regierung los war, das haben Ihnen die Wählerinnen und Wähler 1998 gezeigt. Sie werden es Ihnen in diesem Jahr wieder zeigen. Sie werden weiterhin in der Opposition bleiben. Wenn wir Ihre Rede, Herr Kauder, verschicken - das werden wir tun -, dann werden auch die Bürgerinnen und Bürger wissen, wes Geistes Kind Sie sind und was für eine Politik Sie in diesem Hause vertreten. ({1}) Es ist schon verwunderlich: Da möchte der Ministerpräsident eines Ihrer Länder am 22. September Kanzler für ganz Deutschland werden. Sein derzeitiges Handeln - es sind schon viele darauf eingegangen - zeigt aber sein wahres Gesicht. Zurzeit kämpft er ganz energisch für die Spaltung unserer Gesellschaft. ({2}) Statt die Sozialmauern zwischen den beiden Teilen Deutschlands schneller niederzureißen, wie Sie es immer angekündigt haben, sollen neue Sozialmauern aufgebaut werden. Das ist die Wahrheit. ({3}) Statt Brücken zwischen wohlhabenden und weniger wohlhabenden Regionen zu bauen, baut er neue Mauern auf. ({4}) - Meine Damen und Herren von der Opposition, regen Sie sich doch nicht so auf! Ich werde noch viel Schlimmeres sagen, zum Beispiel: Dieser Kandidat liebt den Osten nicht. ({5}) Worum geht es im Einzelnen? Ich möchte versuchen, die Diskussion zu versachlichen. ({6}) Die Landesregierungen von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen haben beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage gegen den Risikostrukturausgleich eingereicht. Die Klage richtet sich - hören Sie gut zu; ich zitiere aus der Klageschrift - „gegen die gesamte Regelung des RSA mit länderübergreifender Wirkung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch zwingendes Bundesgesetz“ sowie „gegen seine Ausgestaltung, die gezielt Transfers von den Krankenkassen des alten Bundesgebiets zu denen des Beitrittsgebiets hervorruft“. Das ist der Inhalt der Klage. ({7}) Hier geht es also nicht nur um die Klärung verfassungsrechtlicher Belange der Bund-Länder-Beziehungen und auch nicht nur um die Interessen der einzelnen Kassen und Regionen. ({8}) Diese Klage ist vielmehr ein Angriff ({9}) auf ein Herzstück unseres Sozialstaates im Allgemeinen sowie auf die solidarische und soziale Krankenversicherung im Besonderen. Das ist der Punkt. ({10}) Ich möchte Ihnen in Erinnerung rufen, was die Regelungen des RSA konkret beinhalten. Beim RSA geht es um Gerechtigkeit, um die gerechte Verteilung der Mitgliedsbeiträge zwischen den einzelnen Krankenkassen und indirekt auch zwischen den Regionen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. ({11}) Der RSA verfolgt aber auch andere Ziele, zum Beispiel die Schaffung vergleichbarer Wettbewerbschancen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung und den Ausgleich unterschiedlicher, durch die Krankenkassen nicht zu verantwortender Risikostrukturen. ({12}) Es geht also um eine soziale Krankenversicherung, in der Solidarität und Wettbewerb miteinander kombiniert werden sollen und müssen. Wer wie die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Hessen meint - jetzt kommt die Antwort auf Ihre Frage, die Sie dazwischengerufen haben -, die GKV sei eine Einbahnstraße, in der man immer die Vorfahrt habe, und der Sozialstaat sei nur eine Einrichtung zum eigenen Vorteil, ({13}) der sollte das Wort Solidarität niemals in den Mund nehmen, ({14}) der sollte auch nicht von sozialer Marktwirtschaft oder chancengleichem Wettbewerb reden. Eine soziale Spaltung - das möchte ich ausdrücklich sagen - darf es nicht geben. Eine solche Spaltung werden wir zu verhindern wissen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen keinen Bruch der Gesellschaft. Wir wollen keine neuen Mauern zwischen Ost und West. Wir wollen aber auch keine neuen Mauern zwischen Nord und Süd. Wir wollen keine neuen Mauern zwischen armen und reichen Menschen innerhalb unserer Gesellschaft. Wir wollen keine Krankenkassen für gut und für schlecht verdienende Menschen. Wir wollen keine Spaltung der Generationen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. ({15}) Wir werden sicherstellen, dass die hochwertige medizinische Behandlung und Versorgung in Deutschland ({16}) für alle Bevölkerungsgruppen erhalten bleibt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Danke. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Ulf Fink für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Schmidt-Zadel, Sie hätten ja die Gelegenheit gehabt, etwas für die Gesundheitsversorgung im Osten Deutschlands zu tun und sie zu verbessern. ({0}) Wir haben Ihnen im Vermittlungsausschuss dargelegt, dass die ambulante ärztliche Versorgung im Osten Deutschlands auf das Schwerste gefährdet ist. In Guben und in vielen anderen Städten Ostdeutschlands können die Arztstellen nicht mehr besetzt werden, weil die ärztlichen Leistungen im Osten Deutschlands ausgesprochen mickrig vergütet werden. ({1}) Wir haben Sie aufgefordert, in zwei Stufen die Vergütungen für die ärztlichen Leistungen in Ost und West anzugleichen. Wer hat das abgelehnt? Sie haben das abgelehnt. Hier hätten Sie etwas tun können. ({2}) Sie haben es versäumt, dort etwas für die Menschen im Osten Deutschlands zu tun, wo es sie interessiert. ({3}) Wie wollen Sie es rechtfertigen, dass die Ärzte, die in der ambulanten Versorgung im Osten Deutschlands arbeiten, weniger als 80 Prozent dessen verdienen, was ihre Kollegen im Westen Deutschlands bekommen, obwohl sie viel mehr arbeiten müssen, weil die Menschen im Osten Deutschlands kranker sind? Hier wären Sie gefordert gewesen. Aber Sie haben nichts getan. Sie lassen das einfach zu. Trotzdem behaupten Sie, Sie täten etwas für den Osten. ({4}) Ich habe schon der Zeitung entnommen, was diese Aktuelle Stunde soll. ({5}) Sie soll den Kanzlerkandidaten der Union irgendwie in die Ecke drücken und zeigen, er tue nur etwas für den Westen und nicht für den Osten. Meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, dieser Versuch ist kläglich misslungen. ({6}) Die Argumente sind eindeutig. Klar ist doch: Wir haben den Risikostrukturausgleich in unserer Regierungszeit überhaupt erst eingeführt. ({7}) Dass Kassen miteinander im Wettbewerb stehen, haben wir durchgesetzt. Dass dann ein Risikostrukturausgleich vorgenommen werden muss, ist klar. Auch das haben wir durchgesetzt. Wir waren es, die 1998 die Ausweitung dieses Risikostrukturausgleichs zugunsten des Ostens durchgesetzt haben. ({8}) Uns vorzuwerfen, dass wir kein Verständnis dafür haben, ist wirklich absurd. Dann ist etwas passiert, was schlecht war. Als Sie 1999 die Ausweitung des Risikostrukturausgleichs in die Debatte gebracht haben, haben Sie zuerst versucht, das mit dem damaligen Gesundheitsreformgesetz zu koppeln, mit dem Sie die Budgetierung wieder eingeführt haben. Auf diese Art und Weise haben Sie versucht, die Stimmen der Ostländer zu erpressen. Das war der erste Versuch. Er ist misslungen. ({9}) Anschließend haben Sie im Vermittlungsausschuss enorm aufs Tempo gedrückt. Wir wollten die weitere Ausweitung, aber wir wussten, dass die Sache problematisch ist, dass dabei zu leicht eine Überkompensierung herauskommen kann. ({10}) Damals hat Bernhard Vogel, der thüringische Ministerpräsident, gesagt: Wir haben uns im Vermittlungsausschuss lange dafür eingesetzt, noch etwas Zeit zu bekommen, um über die Argumente Baden-Württembergs diskutieren zu können. Aber Sie haben das nicht zugelassen. Sie haben es also letztlich zu verantworten, dass wir uns damals nicht haben einigen können, was die Sache von allen Seiten niet- und nagelfest gemacht hätte und was auch im Interesse des Ostens gewesen wäre. Sie haben es so gelassen mit der Konsequenz, dass Sie sich jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht damit auseinander setzen müssen. ({11}) Sie haben versucht, eine Politik zu betreiben, die die Leute in die Ecke drückt, und jetzt besteht diese Situation. ({12}) Es ist doch völlig klar, dass wir am Risikostrukturausgleich interessiert sind. ({13}) Ich bin Brandenburger Abgeordneter. Vor allem aber sind wir daran interessiert, dass die Regelung auch Bestand hat, und deshalb darf es nicht zu einer Überkompensierung kommen. ({14}) Wenn man Solidarität will - wir wollen Solidarität -, ({15}) dann muss die Sache aber auch wirklich gerecht sein. Wenn es tatsächlich dazu kommt, dass auf der einen Seite bei AOKen im Westen die Beitragssätze massiv gesteigert werden müssen, auf der anderen Seite beispielsweise Sachsen in den Genuss von Mitteln kommt, aufgrund derer die Beitragssätze unter das Niveau derjenigen von Westkassen gesenkt werden können, ist die Sache problematisch; das müssen doch auch Sie erkennen. Das hätten Sie vermeiden können, wenn Sie damals nicht diesen unangemessenen Zeitdruck verursacht hätten. Es wäre wichtiger, deutlich zu machen, was man konkret für die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung im Osten tun kann, ({16}) und endlich mit der verfehlten Politik aufzuhören, West und Ost gegeneinander auszuspielen. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Götz-Peter Lohmann.

Götz Peter Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte gern erst noch die Argumente meines hoch geschätzten Kollegen Zöller gehört, aber die Reihenfolge ist nun einmal festgelegt. ({0}) Ich glaube allerdings nicht, dass ich meine Argumente dann hätte ändern müssen. In einem Punkt muss ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, aber zustimmen: Der RSAfunktioniert jetzt noch nicht optimal. ({1}) Wir müssen die Ausgleichsmechanismen mit Sicherheit Zug um Zug verbessern, ({2}) aber nicht so, wie Sie das mithilfe Ihrer Klage - der Text wurde zum Teil zitiert - zu erreichen beabsichtigen. Ich möchte auf einen Vorschlag aus Mecklenburg-Vorpommern, dem Land, aus dem ich komme, hinweisen. Wir fordern einen kassenartenspezifischen, obligatorischen Finanzausgleich innerhalb der Regionalkassen Ost; das ist ein denkbarer Weg. ({3}) Die Klage der süddeutschen Länder ist nach meinem Dafürhalten kein Beitrag zur Überwindung der noch immer unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den alten und in den neuen Bundesländern. ({4}) Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, mich mit den Argumenten anerkannter Experten im Hinblick auf den RSA, wie er jetzt funktioniert, zu beschäftigen. Ich bin zum Beispiel der Frage nachgegangen, was bei Einführung der Morbiditätsorientierung und der von uns eingeleiteten so genannten Disease-Management-Programme mit meinem Bundesland passiert wäre, das unbestrittenermaßen leider noch immer eine gewisse Strukturschwäche aufweist. Ohne RSAlägen die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenkassen - man bedenke, dass diese Kassen viele Ältere und Kranke versichern - bei über 30 Prozent. Sie hören richtig! Eine dramatische Rationierung der Leistungen für diese Versicherten wäre die Folge. Ohne RSA würden die Versicherten in den neuen Bundesländern, also nicht nur die in meinem Bundesland, aufgrund der dortigen Bevölkerungsstruktur massiv benachteiligt. ({5}) Ohne RSA würden die Lohnnebenkosten deutlich steigen, und zwar nur deswegen, weil die Alters- und Morbiditätsverteilung in diesen Ländern, zum Beispiel bei der Beitragsbemessung, ungerechtfertigterweise nicht berücksichtigt würden. Ohne RSA würde ein reiner Risikoselektionswettbewerb einsetzen; Alte und Kranke würden die Kasse nicht mehr wechseln. Das wären die schlimmen Auswirkungen. Ich gestatte mir in den nur fünf mir zur Verfügung stehenden Minuten, einen Vergleich anzustellen. Nach der Wiedervereinigung war es zunächst notwendig, den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in Ost und West dadurch Rechnung zu tragen, dass in allen Bereichen der gesetzlichen Sozialversicherungen unterschiedliche Regelungen im Rahmen getrennter Rechtskreise getroffen wurden. Zum Beispiel im Bereich des Rentenrechts vollzog und vollzieht sich die Angleichung ohne weitere rechtliche Eingriffe allein aufgrund der tatsächlichen Lohnentwicklung - zwar nur allmählich und langsam, aber immerhin. Anders verhält es sich in der gesetzlichen Krankenversicherung: Die Angleichung der unterschiedlichen Regelungen in den beiden Rechtskreisen kann sich nicht allein aufgrund der tatsächlichen Entwicklung ergeben; vielmehr sind wegen der Besonderheiten dieses Gebietes gesetzliche Maßnahmen notwendig. ({6}) Es ist klar, dass das noch immer relativ niedrige Lohnniveau im Osten sowohl auf der Einnahmenseite als auch bei den ermittelten Normkosten zu erheblichen, aber systemkonformen und deshalb gerechtfertigten Transferleistungen führen wird. Dabei will ich allerdings ausdrücklich lobend erwähnen, dass die bundesweit organisierten Ersatzkassen diesen Ausgleich auf freiwilliger Basis schon heute umfassend durchführen. ({7}) Gerade deshalb war es geboten, diesen Ausgleich von Gesetzes wegen auf die Regionalkassen zu erstrecken, auch wenn dies im Westen zu Beitragserhöhungen führt. Zugleich wissen wir, dass der 1992 im Gesundheitsstrukturgesetz erstmals rechtlich beschlossene RSA, den wir in dieser Legislaturperiode ein Stück weit den sich ändernden Verhältnissen angepasst haben, noch keinen idealen Risikoausgleich darstellt. Deshalb ist das mit dem gesamtdeutschen RSA angestrebte Ziel noch nicht im gewünschten Umfang zu erreichen. Durch einen Abbau des gesamtdeutschen RSA, den die Länder Bayern, Hessen und Baden-Württemberg wollen, würde allerdings eine neue Sozialmauer in Deutschland errichtet. Das wollen wir nicht. Sie müssen sich nicht wundern, dass die Hauptzielrichtung der Normenkontrollklage der süddeutschen Länder vor dem Bundesverfassungsgericht den Eindruck erweckt - wahrscheinlich ist das auch so gemeint -, dass die zurzeit leider nicht geringer werdenden Probleme in den ostdeutschen Ländern im Rahmen des Risikostrukturausgleichs nicht mehr länger mitgetragen werden sollen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt hat der Kollege Wolfgang Zöller von der CDU/CSU - endlich - das Wort.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Versuche von Rot-Grün, unserem Kanzlerkandidaten irgendetwas - sei es noch so widersinnig - anzuhängen, werden immer peinlicher. ({0}) Das Ziel und nicht der Sinn der von der SPD beantragten Aktuellen Stunde macht dies offensichtlich. Der Text und der Zeitpunkt beweisen, welches Ziel Rot-Grün hat. Ich komme zunächst auf den Text zu sprechen. Die von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde hat das Thema: Haltung der Bundesregierung zur Klage der Bayerischen Staatsregierung gegen die Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung ({1}) Tatsache ist jedoch, dass der Ministerrat in seiner Sitzung im Juli 2001 beschlossen hat, zusammen mit dem Bundesland Hessen der Normenkontrollklage von Baden-Württemberg beizutreten. Die Steigerung wäre gewesen, wenn Sie dem Kanzlerkandidaten noch eine Cousine in Baden-Württemberg hätten nachweisen können. ({2}) Das Zweite ist der Termin. Die Klage wurde vor circa einem Jahr eingereicht und heute beantragen Sie eine Aktuelle Stunde. Wie lange brauchen Sie eigentlich, bis Sie aufwachen, wenn das so wichtig für Sie ist? ({3}) Ein Weiteres: Sie wollen der Bevölkerung einreden, Sie könnten uns unsolidarisches Verhalten unterstellen. Wie unredlich Ihr Ansinnen ist, kann ich an Zahlenbeispielen belegen. ({4}) Unter der CDU/CSU-Regierung ist beschlossen worden, allein 21 Milliarden DM zur Sanierung der ostdeutschen Krankenhäuser bereitzustellen. ({5}) - Und der FDP. Darauf möchte ich nicht verzichten, lieber Kollege Thomae. Des Weiteren haben CDU/CSU und FDP mit dem Finanzstärkungsgesetz zugunsten der Kassen in den neuen Ländern Finanzhilfen in Höhe von 1,2 Milliarden DM jährlich beschlossen. Rot-Grün dürften in diesem Zusammenhang wirklich die Letzten sein, die uns einen Mangel an Solidarität mit den neuen Ländern vorwerfen können. ({6}) Solidarität ist und bleibt das Markenzeichen der Union. ({7}) Der Umbau und die Modernisierung des Gesundheitswesens in den neuen Ländern waren eine der größten Leistungen der deutschen Sozialgeschichte. Auch das muss hier einmal angesprochen werden. ({8}) Eines muss man noch feststellen: Es wird hier in einer Art und Weise diskutiert, als ginge es darum, den Solidaritätsausgleich abzuschaffen. ({9}) - Das haben Sie gesagt. - Darum geht es aber gar nicht. Es geht nicht darum, ob es einen Solidaritätsausgleich gibt, sondern darum, wie er gerecht gestaltet wird. Das ist ein wesentlicher Unterschied. ({10}) Frau Kollegin, warum haben Sie eigentlich Angst vor einer rechtlichen Überprüfung? ({11}) Götz-Peter Lohmann ({12}) Zurzeit sind mehr als 300 gerichtliche Verfahren im Zusammenhang mit dem Risikostrukturausgleich mit einer Bilanzsumme von über 50 Milliarden Euro anhängig. Das muss man sich einmal überlegen. Es müsste auch in Ihrem Interesse sein, dass diese Rechtsunsicherheit beseitigt wird. ({13}) Wie wollen Sie im Übrigen den Menschen erklären, dass zum Beispiel eine Kasse dafür, dass sie rund 25 Millionen Euro für Versicherte, die im Ausland sind, ausgibt, über den Risikostrukturausgleich mehr als 500 Millionen Euro erhält? ({14}) Können Sie mir das erklären? Das kann niemand erklären. Wie wollen Sie den Versicherten erklären, dass zum Beispiel eine West-AOK ihre Beitragssätze auf 14,9 Prozent erhöhen muss, während zur gleichen Zeit eine OstAOK - jetzt kommt das Entscheidende - durch die Überkompensierung ihre Beiräge auf 12,9 Prozent senken kann? Das hat mit Spaltung nichts zu tun. ({15}) Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. ({16}) Wer behauptet, bei uns ginge es darum, die Solidarität auszuhöhlen, macht dies entweder in Unkenntnis der tatsächlichen Zahlen oder böswillig; bei manchen muss ich Letzteres annehmen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf für die CDU/CSU feststellen: Wir wollen eine gerechte Mittelverteilung, weil wir wissen, dass Solidarität auf Dauer nur dann Bestand hat, wenn sie auf Gerechtigkeit basiert. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Hansjörg Schäfer.

Dr. Hansjörg Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben die große nationale Verpflichtung, alles zu tun, damit es den neuen Ländern besser geht, als es gegenwärtig der Fall ist. Frau Fuchs, Sie haben das zitiert. Dies sagt der Kandidat. Recht hat er. Aber eine Nummer kleiner wäre vielleicht etwas ehrlicher, wenn man seine Handlungen als bayerischer Ministerpräsident anschaut. ({0}) Da nämlich tut er etwas ganz anderes. Da führt er in Karlsruhe Klage gegen den Risikostrukturausgleich. ({1}) Das größte Risiko für die Struktur im Osten ist, glaube ich, Herr Stoiber selbst. ({2}) Auf 20 Prozent würden die Krankenkassenbeiträge hochschnellen, wenn es nach seinem Willen ginge. ({3}) Glücklicherweise geht es nicht nach seinem Willen und es wird auch nicht danach gehen. Bei Ihren Vorschlägen fühlt man sich manchmal so etwas an die Rezepte der Lega Nord erinnert, da dadurch quasi die Regionalisierung der Krankenkassen eingeläutet wird. ({4}) Dies ist der Abschied von der im Grundgesetz vorgegebenen Solidarität. Die Folgen eines Erfolgs dieser Klage bzw. eine entsprechende politische Umsetzung wären eine drastische Reduzierung der Nettolöhne im Osten und eine noch drastischere Beeinträchtigung der Infrastruktur in den neuen Ländern. Ob das dem Kandidaten Stimmen bringt, wage ich zu bezweifeln. ({5}) Wir haben schon einmal erlebt, dass jemand, der blühende Landschaften versprochen hat, einen riesigen Schuldenberg hinterlassen hat. Dies werden die Menschen im Osten nicht vergessen. Herr Geisler, Sozialminister von Sachsen und ein Kollege aus der Union, wehrte sich gegen den bayerischen Ministerpräsidenten mit gutem Grund; denn Herr Stoiber schreckt nicht einmal vor falschen Tatsachenbehauptungen zurück. Er hat nämlich in den Raum gestellt, dass dort eine Überkompensation durch den Risikostrukturausgleich stattfinde. ({6}) - Nein. ({7}) Schon jetzt liegen die Kassenbeiträge im Osten um 0,7 Prozent höher. Bei einem Erfolg dieser Klage würden sie noch weiter steigen. Es ist eine spannende Frage, was die Versicherten in den neuen Ländern zu diesem Vorgehen sagen würden. ({8}) Völlig zu Recht sehen die Menschen in den neuen Ländern im Risikostrukturausgleich ein wesentliches Stück Gerechtigkeit, da er im Geist der gegenseitigen Solidarität chronisch Kranken im Osten die gleiche Behandlung zu vergleichbaren Beiträgen wie im Westen zukommen lässt. ({9}) Der RSA ist unentbehrlich für einen wirtschaftlichen Einsatz der finanziellen Mittel. Er hat sich bisher grundsätzlich gut bewährt. Er hat allen Versicherten gute Leistungen möglichst kostengünstig zur Verfügung gestellt, auch den Bayern, den Baden-Württembergern und den Hessen. Ein bisheriger Mangel war jedoch, dass er lediglich Alter, Geschlecht, Invalidität und Einkommensunterschiede berücksichtigt hat. Das hat sich mit der Reform geändert. Jetzt orientiert sich der Risikostrukturausgleich auch an der Morbidität. Das heißt, die Selektion von gesunden Versicherten und damit verbundene Beitrags- und Wettbewerbsvorteile sind ein Stück von gestern. Ab 1. Januar 2007 soll die direkte Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich eingebettet werden. ({10}) Schon jetzt wird ein Risikopool die Aufwendungen für stationäre Versorgung, Arzneimittelversorgung, nicht ärztliche Kosten der ambulanten Dialyse und Kranken- und Sterbegeld ab einem Schwellenwert von rund 20 000 Euro ausgleichen. Wir nennen das eine solidarische und gesamtdeutsche Lastenverteilung. Erstmals werden DiseaseManagement-Programme zu einer besseren Versorgung der chronisch Kranken führen. ({11}) Der Koordinierungsausschuss der Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung hat bereits die Empfehlung abgegeben, Diabetes mellitus, chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen, Brustkrebs und koronare Herzkrankheit in den Katalog aufzunehmen. Weitere Vorschläge werden Stück für Stück folgen. Krankenkassen, die sich darum kümmern, diese chronisch Kranken besser zu versorgen, sollen keine Nachteile haben - auch nicht in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. ({12}) Entgegen allen Vorwürfen und Unterstellungen haben wir das Recht auf einen Kassenwechsel erweitert. Versehen mit einer Bindungsfrist von 18 Monaten kann jeder seinen Wechsel zu einer anderen Kasse am Ende des übernächsten Kalendermonats vornehmen. Außerdem bleibt es beim Sonderkündigungsrecht bei einer Beitragserhöhung. ({13}) Das ist eine Menge Neues und bringt vor allem eine Menge neuer Vorteile für die Versicherten in ganz Deutschland. Dagegen zu klagen war unsolidarisch, sachlich falsch und, wie ich meine, auch dumm. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner ist der Kollege Thomas Sauer für die SPD-Fraktion.

Thomas Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003215, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem Wortgeklingel, es ginge nur um Gerechtigkeit, was wir hier von der Länderbank und auch von der CDU/CSU gehört haben, muss man, wie ich glaube, die Sache einmal wieder auf den Punkt zurückführen und sagen, um was es den Antragstellern aus Bayern, Baden-Württemberg und Hessen wirklich geht. ({0}) Es geht ihnen darum, weniger Geld für die ostdeutschen Krankenkassen zu bezahlen. Das ist die Gerechtigkeit, von der Sie reden. Dass Sie, Herr Fink, sich gleichzeitig hier hinstellen und eine höhere Vergütung von Ärzten im Osten fordern, wodurch die Ausgaben stiegen, zeigt, wie unseriös Ihre Gesundheitspolitik in Wirklichkeit ist. ({1}) - Sie haben mich dort noch nicht gesehen, Herr Fink? Das liegt daran, dass ich im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie bin. Deswegen möchte ich gerne schwerpunktmäßig einige ökonomische Aspekte in das Thema, das wir heute hier miteinander diskutieren, einführen. Ich möchte vorwegschicken: Ich glaube genauso wenig wie Frau Ministerin Schmidt, dass die Antragsteller Hessen, Baden-Württemberg und Bayern mit ihrer Klage beim Bundesverfassungsgericht Erfolg haben werden. ({2}) Es wäre auch, gesetzt den Fall, die drei Bundesländer hätten Erfolg, ein wahrer Scheinsieg für die Bürgerinnen und Bürger in beiden Teilen Deutschlands. Vordergründig meint man ja, in populistischer Weise die Interessen der bayerischen Beitragszahler zu vertreten, indem man behauptet, sie von vermeintlich unberechtigten Lasten zu befreien. In Wirklichkeit aber würde diese Politik mit dazu beitragen, die ökonomische Schieflage zwischen Ost und West weiter zu verstärken, anstatt sie zu reduzieren, ({3}) und damit in wesentlich höherem Umfang und in einem weit größeren Zeithorizont Transferzahlungen von West nach Ost auslösen. Ein Erfolg Stoibers in dieser Angelegenheit hätte zwangsläufig höhere Sozialversicherungsbeiträge in den neuen Bundesländern zur Folge. Experten schätzen, dass in Einzelfällen Krankenversicherungsbeiträge bis zu 20 Prozent realistisch wären. Lesen Sie einmal das, was der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Herr Ringstorff, dazu sagt. ({4}) Wir müssen mit einem sofortigen Anstieg um einen Viertel Prozentpunkt und perspektivisch kurzfristig mit um 1,5 Prozentpunkte höheren Krankenversicherungsbeiträgen rechnen. Ich frage Sie: Wie sollen die nach wie vor mit Schulden belasteten und mit objektiv schlechterer Beitragskraft ausgestatteten ostdeutschen Krankenkassen so in einen fairen Wettbewerb mit anderen Kassen eintreten können? Eine Spreizung der Beitragssätze würde im Gegenteil das Abwandern von ostdeutschen Beitragszahlern verstärken und die Krankenkassen erneut unter Beitragsdruck setzen. Funktionierender Wettbewerb setzt faire Ausgangsbedingungen auch für die ostdeutschen Krankenkassen voraus. Aber das ist aus meiner Sicht noch nicht einmal das größte ökonomische Problem. ({5}) Höhere Krankenkassenbeiträge in den neuen Bundesländern, wie Sie sie durch den Antrag beim Bundesverfassungsgericht herbeiklagen wollen, wären eine unerträgliche zusätzliche Belastung für die ostdeutsche Ökonomie insgesamt. ({6}) Wer den Risikostrukturausgleich aushebeln will, wie Bayern, ({7}) darf den Menschen nicht verschweigen, dass dies mit steigenden Lohnnebenkosten einhergeht. Niedrigere Nettolöhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit eine niedrigere Konsumkraft sind die Folge. Das bekäme die ostdeutsche Wirtschaft, der ostdeutsche örtliche Handwerker und der Einzelhandel, zu spüren, ({8}) die keine Verschlechterung ihrer ökonomischen Rahmenbedingungen mehr verträgt. ({9}) Wenn Sie nicht wissen, wie die ökonomische Situation in den neuen Bundesländern ist, dann gehen Sie hin und schauen Sie sie sich an. ({10}) Höhere Sozialabgaben bedeuten auch Standortnachteile für die Unternehmen und damit sinkende Investitionen in den neuen Bundesländern. Da nützt es nichts, wenn Sie hier pöbeln und schreien. Sie werden mit Ihrer Politik dazu beitragen, dass sich die Angleichung der Lebensbedingungen in den neuen Ländern weiter verzögert. Das wollen wir nicht. ({11}) Wer die rasche Angleichung der Lebensverhältnisse möchte, kann das, was Bayern vorschlägt, nicht wollen - dies gilt im Übrigen auch für die Bayern selbst -; denn ein strukturell gestörter Einigungsprozess hat doch auch längere und zudem höhere Transfers von West nach Ost zur Konsequenz. Es ist volkswirtschaftliches Einmaleins, dass diese Transfers deutlich höher zu beziffern wären als die Mittel, die man auf unsolidarische Weise vermeintlich einzusparen hofft. Diese Forderung mag bei manchen Wählern in den westlichen Ländern populär sein, weil damit Vorurteile bedient werden können. Aber mit diesen Vorurteilen werden Sie nicht durchkommen. Ich glaube, die Menschen in Ostdeutschland haben erkannt, ({12}) nicht nur an diesem Beispiel des Risikostrukturausgleichs, sondern auch am Beispiel des Länderfinanzausgleichs oder des Umsatzsteuerausgleichs, dass Stoiber nur Partikularinteressen Bayerns vertritt, aber nicht Politik für ganz Deutschland macht. ({13}) Ich bin, nicht nur aus sozial- und gesundheitspolitischen, sondern auch aus wirtschaftspolitischen Gründen, ({14}) froh über die klare Haltung der Bundesregierung in dieser Frage. Wir brauchen Mechanismen, die unterschiedliche Risiken und Ausgangslagen bei den Krankenkassen in den Ländern berücksichtigen. Wer dies infrage stellt, ({15}) fügt den Ländern Schaden zu, die unter höherer Arbeitslosigkeit, geringerer Wirtschaftskraft und unterdurchschnittlichen Löhnen und Gehältern leiden. Wenn es Herrn Stoiber mit dem Prozess der deutschen Einigung ernst ist, dann sollte er die Klage gegen den Risikostrukturausgleich zurückziehen. Das wäre ein Zeichen, dass es ihm nicht allein um kurzfristige Regionalinteressen und um die Lufthoheit in weißblauen Bierzelten, sondern um unser ganzes Land geht. Vielen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - Elfter Kinder- und Jugendbericht - mit der Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 14/8181 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Sportausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Christine Bergmann.

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005290

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die K-Frage dieser Regierung war von Anfang an die Kinderfrage: ({0}) Wie können wir Kinder in der Gesellschaft und das Zusammenleben mit Kindern in den Familien besser fördern? Das ist die entscheidende K-Frage, um die es eigentlich in der Gesellschaft gehen muss. Wir haben zu Beginn der Legislaturperiode klare Aussagen hierzu gemacht und wir haben alle Versprechungen eingelöst. Ich will ein paar Punkte nennen: Wir haben die Familien wirtschaftlich gestärkt. Ich will nicht alle Einzelheiten nennen, aber erwähnen, dass die Familienleistungen in dieser Legislaturperiode um 11 Milliarden Euro angehoben wurden. Das kann sich wahrlich sehen lassen und ist ein großer Fortschritt. ({1}) Wir haben zweitens die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beträchtlich verbessert. Denken Sie an die Regelungen zur Elternzeit und zu dem Teilzeitanspruch! Wir haben diese, meine Damen und Herren von der rechten Seite dieses Hauses, gegen Ihren Willen durchgesetzt. Sie haben damals nicht zugestimmt. Wir haben drittens die Rechte der Kinder in unserer Gesellschaft gestärkt. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Auch dieses Gesetz wurde gegen den Widerstand vonseiten der CDU/CSU verabschiedet. Herr Haupt, Sie waren auf unserer Seite. Ich erwähne dies, damit Sie mich nicht wieder kritisieren. ({2}) Ich kann Ihnen sagen - Sie haben das vielleicht verfolgt -: Wir haben bereits Ergebnisse einer wissenschaftlichen Begleituntersuchung vorliegen. Die Begleitkampagne für dieses Gesetz, an der sich viele beteiligt haben, wofür ich sehr dankbar bin, war sehr erfolgreich. Wir haben es geschafft, das Klima in der Gesellschaft zu verbessern. Wir werden auch weiterhin daran arbeiten. ({3}) Die Familien in diesem Land wissen - das zeigen alle Umfragen -, dass ihre Interessen bei dieser Regierung gut aufgehoben sind; denn unsere Familienpolitik orientiert sich an der Vielfalt der Familienformen und an den Lebenswünschen der Menschen. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben. Wir wollen sie in ihrem Vorhaben, nach eigenen Wünschen zu leben, unterstützen. Der vorliegende Elfte Kinder- und Jugendbericht steht unter dem Leitmotiv „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Die Sachverständigenkommission fordert einen Perspektivwechsel. Sie stellt den Ausbau der sozialen Infrastruktur für junge Menschen und ihre Familien in den Mittelpunkt. Eine familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt und eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur sollen Vorrang haben vor dem weiteren Ausbau individueller finanzieller Transferleistungen. So sagt es auch die Sachverständigenkommission. Wir können uns diesen Prioritäten nur anschließen. Alle, die offenen Auges durch die Welt laufen, wissen, was der Bericht fundiert analysiert: Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen hat sich grundlegend geändert. Deswegen ist ein neues Ineinandergreifen von privater und öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern notwendig. Eines ist aber klar: Die Familie ist und bleibt für die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen der zentrale Ort des Aufwachsens. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass neben der Familie auch öffentliche Einrichtungen wie Kita, Schule und Jugendeinrichtungen, aber natürlich auch die Medien, die Peer-Groups, neue Informations- und Kommunikationstechnologien das Aufwachsen der Kinder immer stärker beeinflussen. Was heißt nun öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern? An dieser Stelle lohnt ein genaues Studium des Elften Kinder- und Jugendberichts, auch für die Damen und Herren von der Union. Ich denke, dass Sie lesen gelernt haben. Sie gehören ja noch der Vor-PISAGeneration an. ({4}) Lesen fördert bekanntlich die Erkenntnis. Hier wird keineswegs einer Verstaatlichung der Erziehung das Wort geredet, was Sie uns immer so gerne in die Schuhe schieben wollen. Das Gegenteil ist zutreffend. Vizepräsidentin Petra Bläss Die Kommission fordert die Stärkung elterlicher Kompetenz durch ein neues Ineinandergreifen von privater und öffentlicher Verantwortung, durch Verbesserung der sozialen Infrastruktur. Hier liegen wir auf der gleichen Linie. Wir haben in dieser Legislaturperiode politisch bereits gehandelt und wir werden auch weiter handeln. Die nächsten Schritte werden sein: Kinderbetreuungseinrichtungen qualitativ und quantitativ auszubauen, ({5}) die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter zu verbessern, die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe auf der Höhe der Zeit zu halten und die Integration von Kindern mit schlechten Startbedingungen und mit Migrationshintergrund zu verbessern. Das stärkt Kinder und Jugendliche und entlastet auch die Familien. In dieser Frage sind wir auf einem sehr guten Weg, Frau Lenke. ({6}) Nun ist ja PISA in aller Munde. Es ist ja schon fast so, dass mit „Pisa“ nicht mehr die Stadt mit dem schiefen Turm verbunden wird, sondern Fragen der Lesekompetenz. Aber eines hat unser Thema mit dem schiefen Turm gemein: Er ist ja so schief, weil die Fundamente nicht stimmen. Da musste man nachbessern. Wenn wir uns die Studie durchlesen, kommen wir auch zu der Erkenntnis, dass die Fundamente schwach sind, dass es nämlich bei der frühkindlichen Bildung und im Grundschulbereich fehlt. Das hat übrigens auch das „Forum Bildung“ in seinen Empfehlungen, die schon vor der PISA-Studie herausgekommen sind, sehr nachdrücklich gefordert. Man findet diese Empfehlung, sich in Bezug auf die Bildung auf den vorschulischen und frühkindlichen Bereich zu konzentrieren, ferner in dem Sachverständigenbericht, der uns bereits im Sommer des letzten Jahres auf den Tisch gelegt wurde. Das bedeutet, dass wir den Bildungsauftrag unserer Kindertagesstätten sehr viel ernster nehmen müssen. Wir müssen Kinder dort auch kindgerecht auf das Lernen vorbereiten; denn hier wird der Grundstein für spätere Bildungs- und Lebenschancen gelegt. Das hat sehr weitreichende Konsequenzen, da das auch heißt, dass wir uns sehr viel mehr mit der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern auseinander setzen müssen. Sie sollen diesen Auftrag, der hier klar formuliert wird und den wir unterstützen, auch wirklich wahrnehmen können. Wenn wir den Begriff der öffentlichen Verantwortung für die Kinder und die Familien ernst nehmen, lautet die Aufgabe, ein flächendeckendes und bedarfsgerechtes Angebot an Kindertageseinrichtungen im Westen zu schaffen und im Osten zu erhalten. ({7}) Nun wissen wir, Frau Lenke: Das fällt in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich der Länder und Kommunen. Es ist aber nötig, dass man das immer wieder sagt. Sie wissen, dass wir mit dem Zweiten Familienfördergesetz den Ländern zwei Milliarden ihres Anteils bei der Finanzierung des Kindergeldes erlassen haben. Diese Mittel konnten für solche Zwecke verwendet werden. ({8}) Ich denke, vor dem Hintergrund der großen Bedeutung des Themas sind in Zukunft auch gemeinsame Anstrengungen aller staatlichen Ebenen - das sage ich ganz bewusst - wie auch der Wirtschaft erforderlich. Sie darf sich gern daran beteiligen. ({9}) Was eine gute Kinderbetreuungseinrichtung wert ist, wissen junge Eltern genau. Kinder müssen gut aufgehoben sein und gefördert werden, wenn die Eltern einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen. Damit verbessert man ja das Familieneinkommen. Hier sind wir bei dem zweiten großen Punkt, der auch in dem Bericht angesprochen wird: Ein eigenes Einkommen - das ist eine Binsenweisheit - senkt das Armutsrisiko für Familien. Es sind in dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der Ihnen ja schon vor einiger Zeit auf den Tisch gelegt wurde, klar die Zusammenhänge festgestellt worden, dass es dann, wenn Familien ihr Einkommen nicht selber erwirtschaften können, finanziell eng wird. Das kann man durch Transfers gar nicht ausgleichen. Deswegen ist die Schaffung eines Kinderbetreuungsangebotes auch so wichtig. Auch für uns haben der Ausbau der Infrastruktur für Familien und zielgenaue Hilfen für Familien, mit denen wir sie aus der Armut herausbekommen, Vorrang vor Leistungen, die mit der Gießkanne verteilt werden - und das noch nicht einmal sozial gerecht. ({10}) Das haben Sie ja, meine Damen und Herren von der Union, mit Ihrem Familiengeld im Auge. Ich weiß allerdings gar nicht, ob in der Union überhaupt noch über das Familiengeld geredet wird. ({11}) Um das Familiengeld ist es ziemlich still geworden. Prominente Stimmen sagen ja auch: Die 30 Milliarden sind vielleicht doch nicht ohne weiteres zu finanzieren. Andere reden von einem Zukunftsprojekt - wann auch immer diese Zukunft eintreten soll. Ganz interessant ist, was Jürgen Borchert - er ist Ihnen ja bekannt; ({12}) das ist der Sozialrichter, der jetzt für Ministerpräsident Koch in Hessen arbeitet - sagt. Er bezeichnet in seinem „Wiesbadener Entwurf“ das Familiengeld als „Irrweg“. Ich zitiere wörtlich: Dass sich die Union auf die Forderung nach einem Familiengeld festlegen will, beweist, dass sie aus ihrer ... unrühmlichen familienpolitischen Vergangenheit offenbar nicht lernen will. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. ({13}) Im Elften Kinder- und Jugendbericht wird betont, wie wichtig gleiche Chancen hinsichtlich des Zugangs zu den sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen unserer Gesellschaft sind. Hier hat unsere Jugendpolitik eine gute Bilanz aufzuweisen. Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit haben wir - Sie wollen das alles ja nicht wahrnehmen - das JUMP-Programm eingeführt, in den neuen Ländern Ausbildungsplätze geschaffen, eine Bildungsoffensive gestartet und eine BAföG-Reform durchgeführt. Wir tun hier also alles dafür, dass alle Jugendlichen - da nehme ich gern die Empfehlung der Kommission auf - die Chance haben, einen Schulabschluss zu machen und eine Berufsausbildung zu absolvieren, und dass Jugendliche - das nehmen wir sehr ernst -, die die erste Chance nicht gepackt haben, eine zweite Chance bekommen. ({14}) Öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern heißt aber auch, sich die Frage zu stellen, wie bei Kindern und Jugendlichen Werte wie Solidarität - wir haben gerade darüber diskutiert; Sie könnten einiges dazu beitragen -, Gerechtigkeit und soziale Kompetenz geweckt und nachhaltig verankert werden können. Also, wer lehrt sie Einfühlungsvermögen und Mitgefühl? Wer vermittelt Zivilcourage und das Gefühl für soziale Verantwortung, den Willen zur Mitgestaltung? Das sind ja nicht automatisch nachwachsende Rohstoffe. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Werte bzw. diese Orientierungen vermittelt werden. Natürlich sind in erster Linie die Familien dafür zuständig; aber nicht nur die Familien, sondern auch die gesellschaftlichen Institutionen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Worte zur Arbeit in den 75 000 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland sagen - das ist mir sehr wichtig -: Wer über Erziehung und Bildung spricht, darf diesen außerschulischen Bereich nicht vergessen. Denn diese Einrichtungen leisten einen unabdingbaren Beitrag zur Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen und unterstützen Eltern dabei, ihrem Erziehungsauftrag besser gerecht zu werden. Allen, die dort täglich hauptoder ehrenamtlich arbeiten, möchte ich an dieser Stelle einmal herzlich Danke sagen. ({15}) Die Leistungen, die im Kinder- und Jugendhilfegesetz angeboten werden, haben sich bewährt. Offenbar aber - jetzt komme ich zum Thema Solidarität - sieht das die bayerische Landesregierung nicht so. ({16}) - Ja, schon wieder. - Morgen wird im Bundesrat von Bayern und dem Saarland ein Antrag eingebracht, der vorsieht, Leistungen gemäß dem KJHG zu kürzen ({17}) - ja, auch ich habe mich erschreckt -, und zwar Leistungen für seelisch behinderte Jugendliche und Leistungen für junge Volljährige, also für diejenigen, die älter als 18 sind, aber eigentlich Anspruch auf Leistungen gemäß dem Kinder- und Jugendhilfegesetz hätten. Ich habe diesen Antrag vorhin auf den Tisch bekommen. Wie ist das hier eigentlich mit der Solidarität? Hier geht es um die Solidarität mit den Schwächeren in der Gesellschaft. ({18}) Das heißt, Bayern will sich hier ein Stück aus der öffentlichen Mitverantwortung zurückziehen. Das ist die reale Politik, die sich hinter den schönen Worten aus Bayern verbirgt. Nun möchte ich zum Schluss ein Thema ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt. Das ist die Teilhabe von Jugendlichen an unserer Demokratie. Kinder und Jugendliche, die sich einbringen und mitbestimmen können, machen die elementare Erfahrung, dass sie wichtig sind und dass sie ihre Lebenswelt selbst mitgestalten können. Ich glaube, dass es hinsichtlich der Demokratie überhaupt kein besseres Lernprogramm geben kann, als diese Erfahrung zu machen. ({19}) Aber das ist, wie wir wissen, noch nicht überall selbstverständlich. Um dieser Beteiligung neue Impulse zu geben, haben wir die „Bundesinitiative Beteiligungsbewegung“ gestartet, an der sich die Länder und viele Jugendverbände beteiligen. Das Motto ist: „Ich mache Politik.“ Wir werden zum Abschluss dieser Kampagne in Berlin Mitte März drei Politiktage durchführen, zu denen wir ungefähr 5 000 Jugendliche erwarten. Ich bedanke mich bei allen Abgeordneten über die Fraktionen hinweg, die ihre Bereitschaft erklärt haben, hier mitzumachen. Es ist ein gutes Signal an die Jugendlichen, dass die Abgeordneten in Workshops mitarbeiten und in Foren mitdiskutieren. Ich bin sicher, dass dieser Bericht, durch den wir uns in unserer Arbeit sehr bestätigt fühlen - wir wissen auch, dass wir noch einiges zu tun haben; aber das werden wir in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen -, neue Entwicklungen auf allen Ebenen anstoßen wird. Ich möchte den Sachverständigen für ihre sehr fundierte Arbeit herzlich danken. Zum Schluss darf ich nur noch sagen: Auf uns können sich Kinder, Jugendliche und Familien in Deutschland weiterhin verlassen. Danke. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, den unsere frühere Bundesjugendministerin Claudia Nolte vorgelegt hatte, enthielt viele Vorschläge, wie die Situation von Kindern und Jugendlichen verbessert werden kann. Dieser Bericht war eine gute Grundlage zur Weiterentwicklung der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Die jetzige Regierungskoalition aus SPD und Grünen hat es jedoch verpasst, diese Vorschläge aufzugreifen. Ich erinnere mich sehr gut an die Diskussion zum Zehnten Bericht Anfang September 1998, als für Sie, die Sie damals in der Opposition waren, aus wahltaktischen Gründen nur ein Thema im Vordergrund stand, nämlich die Kinderarmut. Sie hatten jetzt vier Jahre Zeit, um das, was Sie damals beklagt haben, zu ändern. Aber die jüngsten statistischen Zahlen zeigen: Kinderarmut ist nicht geringer geworden. Es gibt nach wie vor 1 Million sozialhilfebedürftige Kinder in Deutschland. Das ist die Wahrheit. ({0}) Ich sage Ihnen, dass die Kinderarmut leider auch in diesem Jahr zunehmen wird. Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für Kinder von Alleinerziehenden und Familien mit mehr als drei Kindern haben sich erheblich verschlechtert. ({1}) Durch die Steuerbeschlüsse haben Sie die Alleinerziehenden benachteiligt. ({2}) Ihre am Dienstag angekündigten so genannten Nachbesserungen ändern daran nichts. Sie wollen damit nur die Alleinerziehenden vor der Wahl besänftigen. Aber nach der Wahl trifft die Alleinerziehenden trotz Änderung die volle Härte. Familien mit mehreren Kindern haben Sie bei der Kindergelderhöhung ganz vergessen. Aber vielleicht gibt es in der Verwandtschaft des Kanzlers noch eine kinderreiche Familie, die vor das Bundesverfassungsgericht zieht, um eine Änderung zu erreichen. ({3}) Der Elfte Kinder- und Jugendbericht bestätigt deutlich den Zusammenhang zwischen den Chancen von Kindern und deren Lebensumfeld. ({4}) Die dort beschriebene Situation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland zeigt, dass die Familien und die Kinder, die bereits von der Sozialhilfe leben, von Ihnen mit Ihrer verfehlten Familien- und Steuerpolitik in erheblichem Maße belastet werden. ({5}) Schlimmer noch: Alleinerziehende und kinderreiche Familien haben Sie von einer weitergehenden Förderung ausgeschlossen. ({6}) In § 1 Abs. 2 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes steht - ich zitiere -: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Kinder- und Jugendhilfe kann nur dann eingreifen, wenn die Eltern bei der Erreichung dieser Ziele Unterstützung benötigen. Mit der Erziehung ihrer Kinder leisten Eltern einen vielfach unterschätzten Beitrag für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Dies verkennt der von Ihnen vorgelegte Bericht. ({7}) Es gilt, die Eltern in ihrem Erziehungsauftrag und in ihrer großen Verantwortung zu unterstützen und zu ermutigen. ({8}) Wir wollen die dafür notwendigen Rahmenbedingungen verbessern. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört aber weit mehr als Kinder- und Jugendhilfe. Erziehungsverantwortung in unserer Gesellschaft erfordert Menschen, die Zeit, Liebe, Ausdauer und Geduld für die junge heranwachsende Generation haben ({9}) und diesen jungen Menschen zu einem gesunden Selbstwertgefühl verhelfen. Ziele einer solchen kompetenten Erziehung sind Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Soziale Werte und kommunikative Fähigkeiten machen aus Kindern und Jugendlichen verantwortungsbewusste und mündige Bürger. Eigenverantwortung meint, dass der junge Mensch am Ende seines Heranwachsens in der Lage sein soll, selbst für seine eigenen Bedürfnisse aufzukommen. Er muss sich selbst und der Gesellschaft gegenüber für seine Handlungen und Entscheidungen einstehen können. Dabei müssen wir Kinder und Jugendliche unterstützen. Sie sollen ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln und ihren Platz innerhalb des Rechts- und Wertesystems finden. Zu diesen - für manche oft schwer erreichbaren Erziehungszielen können Kinder und Jugendliche nur hingeführt werden, wenn wir ihre Eltern, sie selbst und die sie umgebende Umwelt stark machen. Die Lösungsansätze zur Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern bleiben bei SPD und Grünen jedoch oberflächlich. ({10}) Wir fordern eine Verbesserung der Kooperation zwischen dem Elternhaus und den Einrichtungen, die an der Erziehung der Kinder beteiligt sind. Die Zusammenarbeit von Ehe-, Familien- und Erziehungsberatungsstellen ist absolut notwendig und förderungswürdig. Die Frage, wie man Kinder, Jugendliche und Eltern erreichen kann, die die Hilfsangebote des SGB VIII nicht in Anspruch nehmen, bleibt in dem Bericht völlig unbeantwortet. Hier müssen neue Wege der Vermittlung und Information eingeschlagen werden. Präventive Maßnahmen sind für eine zielgerichtete und sinnvolle Kinder- und Jugendhilfe absolut notwendig. Entscheidend für den Zugang und die Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind Niederschwelligkeit, gute Erreichbarkeit, Vertrauen zu den Bildungs- und Beratungseinrichtungen sowie ausreichende Angebote zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen. ({11}) Die Eltern haben zu gewährleisten, dass der Anspruch des Kindes auf Erziehung erfüllt wird. Andere Erziehungsträger und auch der Gesetzgeber leiten ihre Befugnisse und Verpflichtungen bei der Erziehung der Kinder nur vom Erziehungsauftrag der Eltern ab. Deshalb sind wir den Eltern und den Kindern gegenüber verpflichtet, Erziehungsauftrag und -anspruch zu unterstützen. ({12}) Das wird oft allzu schnell vergessen und oft auch anders interpretiert. Zum Erziehungsauftrag der Eltern kommt der staatliche Erziehungsauftrag der Schulen hinzu. Deshalb hat vor der öffentlichen Jugendhilfe die Schule die größte Bedeutung für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Die für das deutsche Schulwesen erschreckenden Ergebnisse der PISA-Studie haben Lehrer, Eltern, Bildungspolitiker und die gesamte Öffentlichkeit wachgerüttelt. ({13}) Der Elfte Kinder- und Jugendbericht verkennt die Chance, die Kinder- und Jugendhilfe als Ergänzung der elterlichen und der schulischen Erziehung zu nutzen. Dies wäre jedoch in Auswertung der PISA-Studie und für einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik von entscheidendem Interesse gewesen. Es muss eine neue Diskussion um den Bildungs- und Erziehungsbegriff einsetzen, an dem sich Schulen und Erziehungsträger ausrichten sollen. Wertorientierte Persönlichkeitsbildung darf nicht mit spaßbetonter Selbstverwirklichung verwechselt werden. Zu erlernende Kompetenzen und tatsächliche Leistungen müssen an die Alltagsbewältigung gebunden sein. Frau Ministerin, Sie haben vorhin die Bildungspolitik angeführt. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, dass ich in die Länder schaue. Dabei stelle ich fest, dass die Ergebnisse in der Bildungspolitik gerade in den von Ihnen regierten Ländern am schlechtesten sind. ({14}) Ihre jugendpolitische Bilanz ist äußerst kläglich. Auch Erziehungsratschläge der Kanzlergattin reichen nicht aus, um den Auftrag der Jugendhilfe und den Bildungsauftrag der Schulen in Deutschland zu erfüllen. ({15}) Jugendhilfe darf nicht isoliert von anderen Politikbereichen gesehen und betrieben werden. Die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und Familien ist eine Aufgabe, die uns alle angeht. Dieses Ziel muss übergreifend und kooperativ angegangen und bewältigt werden. Diesem Ziel und diesem gesellschaftlichen Auftrag entspricht die familienpolitische Offensive der CDU/CSU „Faire Politik für Familien“. Die heutigen und von RotGrün zu verantwortenden Rahmenbedingungen für Familien werden der Situation von Kindern und Familien nicht gerecht. Was wir brauchen, ist ein gesellschaftlicher Aufbruch in Richtung auf einen fairen Umgang mit unseren Familien. Es geht um die Verbesserung der Strukturen sowie um eine gerechte und verlässliche finanzielle Förderung von Familien. Deshalb setzt die CDU/CSU auf ein familienpolitisches Gesamtkonzept, das die Situation der Familien umfassend verbessert. Dazu gehört einmal die finanzielle Gerechtigkeit für Familien; gleichwertig gehören dazu die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit einem bedarfsgerechten Angebot an Kinderbetreuung sowie die Stärkung der Elternkompetenz. Das Familiengeld ist ein neues zukunftorientiertes Konzept, das eine nachhaltige Familienförderung im Auge hat und das über das bisherige Kinder- und Erziehungsgeld deutlich hinausgehen wird, um die Kinder endlich aus der Sozialhilfe zu holen. ({16}) - Es ist ja schön, dass Sie sich so aufregen. Das heißt, Sie alle fühlen sich getroffen. So soll es auch sein. ({17}) Wir haben 1 Million Kinder in der Sozialhilfe. Das Familiengeld erkennt die Leistungen der Familie für die Gesellschaft an, baut finanzielle Benachteiligungen von Familien ab, verbessert die Förderung junger Familien und ist gerecht, weil alle Kinder gleich behandelt werden. ({18}) - Ja, das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass alle Kinder gerecht behandelt werden müssen. Was haben Sie getan? - Sie haben Dritt- und Viertkinder beim Kindergeld überhaupt nicht berücksichtigt und die Alleinerziehenden benachteiligt. ({19}) Die Alleinerziehenden finanzieren das Kindergeld. Das ist Ihre „gerechte“ Politik. Mit unserer Initiative „Elternkompetenz stärken“ soll die Erziehungskompetenz der Eltern verbessert und dadurch die Entwicklung von Kindern unterstützt werden. Frau Ministerin, ich nenne nur ein Beispiel, wie die Jugendhilfe in Bayern aussieht und wie mit ihr in die Zukunft investiert wird: Im Bereich der berufsbezogenen Jugendhilfe haben wir mit 5 Millionen Euro aus dem Jugendhilfeetat und 1,1 Millionen Euro aus dem Arbeitsmarktfonds circa 80 Einrichtungen der berufsbezogenen Jugendhilfe gefördert und können damit auch die Kommunen ein Stück weit entlasten. Das ist die Wahrheit, Frau Ministerin. Diese Maßnahmen zielen auf die soziale und berufliche Integration junger Menschen sowie auf deren persönliche Stabilisierung. Solche Schlußfolgerungen und eine konkrete Politik - das vermissen wir in Ihrem Bericht. Johann Wolfgang von Goethe sagte: Das Schicksal eines jeden Volkes und jeder Zeit hängt von den Menschen unter 25 Jahren ab. Fordern Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, das Schicksal nicht heraus. Unsere Jugend hat eine bessere Politik verdient. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ekin Deligöz.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Eichhorn, es wundert mich sehr, dass ausgerechnet Sie mit dem Zehnten Kinder- und Jugendbericht anfangen. Soweit ich mich erinnern kann, hat die Debatte über den Zehnten Kinder- und Jugendbericht hier im Plenum im Frühjahr 1999 stattgefunden, weil Sie sich 1998 geweigert haben, die Ergebnisse überhaupt öffentlich bekanntzugeben und darüber im Plenum zu debattieren sowie zu den Ergebnissen zu stehen. ({0}) Ein Ergebnis war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die Situation der Alleinerziehenden nicht gerade verbessert hat. Das war das Ergebnis Ihrer verfehlten Politik und nicht dessen, was wir daraus haben machen müssen. ({1}) Noch ein Wort zu Ihrem großartigen Modell für Familien: Sie versprechen das Blaue vom Himmel und zaubern dann noch 30 Milliarden schwuppdiwupp aus irgendwelchen Schüttel-dich-Bäumchen her. Für mich gehört zur Generationengerechtigkeit aber auch, dass wir keine Haushaltspolitik auf Kosten unserer Kinder machen, indem wir die Staatsverschuldung immer weiter erhöhen. ({2}) Einen Haushalt aufstellen heißt für mich: Prioritäten setzen im Sinne von Familien und Kindern und nicht zu ihren Lasten. ({3}) Wir reden heute über den Elften Kinder- und Jugendbericht. Eines, was die Ministerin sehr richtig gesagt hat, ({4}) was bei Ihnen aber nicht angekommen ist, kann man nicht oft genug wiederholen: Die Lebensformen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben sich verändert. ({5}) Wir haben heute eine Vielfalt von Lebensformen, wir haben Ein-Erzieher-Familien, wir haben klassische Ehepartnerschaften, wir haben Eltern, wir haben Alleinerziehende, wir haben Patchwork-Familien, wir haben nichteheliche Partnerschaften mit Kindern oder auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kindern. ({6}) Das ist bei Ihnen nicht angekommen. Wir halten nach wie vor an der Definition fest: Für uns ist Familie dort, wo Kinder sind. ({7}) Aber nicht nur die Familien haben sich verändert, auch die Gesellschaft hat sich verändert. Die Anforderungen an unsere Kinder und Jugendlichen sind gestiegen. Sie wachsen in einer immer komplizierteren und komplexeren Welt auf. Sie müssen viel mehr Wissen aufnehmen und verarbeiten. Sie müssen schon sehr früh folgenreiche Entscheidungen treffen. ({8}) Wir verlangen unseren Kindern in ihrer Sozialisation sehr viel ab. Unsere Kinder haben Chancen wie nie zuvor, sie werden aber auch mit Risiken konfrontiert wie nie zuvor. Gerade darauf muss eine Politik reagieren und eingehen. Sie muss diese Entwicklungen erkennen und darauf reagieren. Wenn wir hier über den Elften Kinder- und Jugendbericht sprechen, reden wir auch über eine grundlegende Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Dieser Bericht erkennt die Maßnahmen der vergangenen drei Jahre an. Er erkennt sie nicht nur an, sondern sagt: Weiter so in diesem Bereich, weil all die Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen angekommen sind. Das haben Sie bei Ihren Studien wahrscheinlich überlesen. Es steht noch etwas in diesem Bericht: Der Bericht lobt die Institutionen und die Träger. Der Bericht lobt ausdrücklich das Engagement, was er mit dem Anwachsen öffentlicher Verantwortung umschreibt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Wir als Politiker müssen uns klar machen, welche Arbeit in den Kommunen vor Ort und in den Ländern im Bereich der Jugendhilfe geleistet wird. Wir als Politiker können zum Teil nur zuschauen, aber wir sind als Politiker gefordert, den Ländern und Kommunen die bestmöglichen Rahmenbedingungen für ihre Arbeit zu bieten. ({9}) Die rot-grüne Koalition hat ihre Kompetenz in der Zukunftsherausforderung auch an anderen Stellen unter Beweis gestellt. Wir haben zahlreiche Initiativen und Programme auf den Weg gebracht, von denen ich nur ein paar aufzähle: das Programm „Chancen im Wandel“, das Programm „Soziale Stadt“ oder auch „JUMP“, das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit, für Ausbildung und Erwerbstätigkeit von Jugendlichen. Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen in Kraft gesetzt, von der Kindergelderhöhung bis zur steuerlichen Entlastung von Familien. Sie haben gerade übrigens behauptet, das würde bei den Familien nicht ankommen. Ich sage Ihnen: Am Ende dieser Wahlperiode wird eine durchschnittlich verdienende vierköpfige Familie um 1 500 Euro im Jahr entlastet, die Ökosteuer mit einkalkuliert. ({10}) Auch das ist bei Ihnen noch nicht angekommen. ({11}) Wir haben auch eines getan, woran Sie noch nie gedacht haben: Wir haben nicht nur gefragt, was gut für die Eltern ist, sondern wir haben in den Mittelpunkt unserer Politik die Frage gestellt: Was ist gut für die Kinder? Wir haben die Kinder in den Mittelpunkt unserer Politik gestellt und eine ganze Reihe von Kinderrechten verfasst: das Recht auf gewaltfreie Erziehung, die Reform des Unterhaltsrechts, das Kinderrechteverbesserungsgesetz, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Inzwischen sind Kinder in diesem Land nicht mehr Objekte der Politik und der Gesetze, sondern sie haben eine deutliche Subjektstellung in der Politik, in den Gesetzen und in den Rahmenbedingungen. Sie stehen im Mittelpunkt dieser Debatte und sollten auch im Mittelpunkt Ihrer Debatte stehen, wenn Sie Kinderpolitik wirklich ernst nehmen. ({12}) - Ich kenne das Grundgesetz. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Kommen wir zurück zu den Ergebnissen des Kinderund Jugendberichts. Was sagt uns der Kinder- und Jugendbericht? Darin werden zwei Punkte festgestellt. Erstens. In der Tat gibt es in diesem Land Armut, aber auch Reichtum. Der jungen Generation geht es bessser als mancher Generation zuvor. Sie stellen eine starke Konsumkraft dar. Aber es gibt auch Armut und sie trifft vor allem Kinder. ({13}) Genau an dieser Stelle wollen wir zupacken. Genau dafür haben wir Grüne eine Kindergrundsicherung vorgeschlagen, mit der wir nicht nur Familien aus der Armutsfalle herausholen, sondern auch Anreize zur Erwerbstätigkeit bieten wollen. Wir wollen nicht, dass Menschen in die Sozialhilfe hineinkommen, weil sie ein Kind bekommen. Zweitens. Aus mehreren Gründen wird der Ausbau der sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche gefordert. Dazu gehört auch die Kinderbetreuung. Wir sind dabei, in der Koalition darüber zu verhandeln - übrigens auch im Sinne der Alleinerziehenden -, ({14}) dass die Kosten für Kinderbetreuung in Deutschland vom ersten Euro und vom ersten Cent als Sonderausgabe abgesetzt werden können, damit Kinderbetreuung - auch durch Tagesmütter - für Familien finanzierbar bleibt. ({15}) Wir möchten aber im Bereich der Kinderbetreuung weitermachen. Wir sind in der Koalition gerade gemeinsam dabei und haben unseren Willen dazu bekundet. Wir brauchen Konzepte, bei denen Bund, Länder und Gemeinden zusammenarbeiten, bei denen es um Bedarfsorientierung und um maximale Flexibilität, aber auch um Quantität und Qualität geht. Das dürfen wir nicht vernachlässigen. Die bayerische Sozialministerin hat vor kurzem erklärt, man müsse damit beginnen, bei der Kinderbetreuung marktwirtschaftlich zu denken. ({16}) - Nein, das dürfen wir nicht. Gerade bei unseren Kindern dürfen wir es uns nicht erlauben, marktwirtschaftlich zu denken. Denn jeder Pfennig, den wir in sie investieren, ist eine Investition in unsere eigene Zukunft und unsere eigene Gesellschaft. ({17}) Deshalb dürfen wir das nicht. Ganz im Gegenteil: Gerade dort müssen wir im Sinne unserer eigenen Zukunft und unserer eigenen Kinder auch einmal volkswirtschaftlich denken. ({18}) Deshalb möchten wir die Betreuungsaspekte aufgreifen und uns in diesem Bereich viel stärker engagieren. Ich möchte noch etwas ansprechen. Wir werden morgen in diesem Rahmen über das Zuwanderungsgesetz reden. Wir werden dann auch über Integration reden. Ich möchte allen Gegnern dieses Gesetzes zu bedenken geben: Wenn wir die Integration ernst nehmen, müssen wir bei den Kindern und Jugendlichen anfangen. ({19}) Wo findet die Integration besser statt als in den Schulen und Kindergärten, wo Kinder und Familien zusammenkommen? Von daher verstehe ich nicht, wie es sich gerade Bayern leisten kann, die Klassenstärke auch dort, wo es Migranten, Ausländerkinder und sozial Benachteiligte gibt, auf 34 festzulegen. ({20}) Das heißt, in der ersten Klasse sind 34 Kinder, die Lesen und Schreiben lernen. Auf diese 34 Kinder kommt ein Lehrer, der sie unterrichten und auf sie eingehen soll. Wie das unter der großen Verantwortung der Integration realisierbar sein soll, ist mir schleierhaft. Wir müssten gerade in der Bildungspolitik anfangen, und zwar mit kleineren Klassen, mehr Lehrern und einer stärkeren Aufwertung der Erziehungsarbeit. ({21}) - Ich nehme mir ein Beispiel an Bayern, wie Sie es sagen. Ich nehme mir nämlich ein Negativbeispiel an Bayern. Genau so sollte man es nämlich nicht machen. Daran sollte man sich orientieren, um keine Fehler zu machen. ({22}) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur FDP-Fraktion machen. Wie ich eben gesehen habe, haben Sie einen Entschließungsantrag vorgelegt. Es freut mich, dass die ganzen Konzepte, die von der SPD und den Grünen erstellt worden sind, inzwischen auch bei der FDP angekommen sind und dass Sie unsere Ergebnisse mit aufgenommen haben. ({23}) Aber eines machen Sie nicht: Sie kommen über diese Debatte nicht hinaus. Wenn Sie wirklich schlüssige Konzepte hätten, hätten Sie auch Ihren Teil an der familienpolitischen Debatte, aber nicht, indem Sie unsere Konzepte gut abschreiben. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte für wenige Minuten den Eindruck, ich sei in der falschen Debatte - als ob es hier um Bayern oder nicht Bayern ginge. Ich werde mich dem Wahlkampfritual und dem Schema „Gutmensch - Bösmensch“ nicht anschließen. Ich bemühe mich jetzt um einen sachlichen Beitrag, weil mir Kinder- und Jugendpolitik einfach viel zu ernst ist, um damit billige Effekte hier zu erreichen. Wir sind uns doch alle einig: Kinder und Jugendliche sind der Reichtum unserer Gesellschaft. Daher begrüßen wir als FDP-Fraktion, dass der Elfte Kinder- und Jugendbericht das wissenschaftliche Erkenntnisfundament für das weitere kinder- und jugendpolitische Handeln verbreitert hat. Wir danken an dieser Stelle ganz ausdrücklich der Kommission für die von ihr geleistete Arbeit. Grundsätzlich ist den Feststellungen und Schlussfolgerungen der Kommission zuzustimmen. Kinder und Jugendliche wachsen heute anders auf als früher. Die Familie bleibt der zentrale Ort, aber der Einfluss der Öffentlichkeit sowie von Einrichtungen wie Kitas, Schulen, aber auch der Medien und moderner Kommunikationssysteme steigt doch. Deshalb muss es zu einem Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendpolitik kommen. Die Gesellschaft als Ganzes muss ihrer zunehmenden Verantwortung für das Heranwachsen der jungen Generation gerecht werden, ohne die Bedeutung der Familien dabei zu relativieren oder ihre Entscheidungsfreiheit zu sehr einzuschränken. Es geht darum, die Kinder und Jugendlichen selbst in den Mittelpunkt dieser Politik zu stellen. Kinder- und Jugendpolitik ist nach diesem Verständnis eben nicht mehr vorrangig Sozialpolitik, sondern Querschnittspolitik, die sich an den jungen Menschen selbst orientiert und sich in viele gesellschaftliche Bereiche eingliedert. Gefordert sind deshalb nicht unzureichende Versuche von Reformen an den sozialen Sicherungssystemen, sondern eine grundlegende Modernisierung des Sozialstaates. Die FDP begrüßt deshalb ganz ausdrücklich den von den Experten verlangten Perspektivwechsel hin zu einer politischen Gestaltung und Sicherung der sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche sowie für ihre Familien. Gefordert ist ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern, ist ein Wechselspiel von privater und öffentlicher Verantwortung. Die Eltern müssen in der Erfüllung ihrer familiären Aufgaben durch die Gesellschaft als Ganzes gestärkt und unterstützt werden, damit die jungen Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können. Pluralisierung, Individualisierung und neue Lebensentwürfe haben zu vielfältigen Lebensformen und Lebensstilen geführt. Neben der klassischen Eltern-KindFamilie gibt es heute zunehmend diverse andere Lebensgemeinschaften von Erwachsenen und Kindern. Wir definieren Familie daher als das Zusammenleben mit Kindern. Kinder dürfen keine Nachteile erfahren wegen der Familienform, in der sie leben. ({0}) Kinder haben einen Anspruch auf Erziehung, Förderung und Bildung. Ein zentraler Bereich dafür sind Kindertageseinrichtungen. Deutschland schneidet im internationalen Vergleich der Kindertagesbetreuung schlecht ab. Besonders beim Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren und für Grundschulkinder bestehen gravierende Defizite. Es bestehen aber nicht nur quantitative, sondern vor allem qualitative Herausforderungen an die Kinderbetreuung. Der Qualifikation und der Qualifizierung der Betreuungskräfte gebührt deshalb zunehmend besonderes Augenmerk. Wir Liberale fordern: Im Rahmen des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz muss halbtägige Kinderbetreuung zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr kostenlos sein. Die Kosten für die Kommunen sind im Bund-Länder-Finanzausgleich zu berücksichtigen. Zudem muss, Frau Deligöz, für mehr Markt und Wettbewerb gesorgt werden. Dies kann durch Einführung eines Gutscheinsystems wie der so genannten Kita-Card erreicht werden. Die Eltern können sich als Nachfrager auf dem Markt der Anbieter selbst die von ihnen gewünschte Betreuungsleistung aussuchen. So kann einfach ein breiteres, flexibleres Angebot an staatlichen und privaten Kinderbetreuungsplätzen geschaffen werden. Bildung wird für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen immer wichtiger. Bildung ist unser wichtigster Rohstoff. Investitionen in die Bildung sind am wichtigsten für unsere Zukunft. Auch hier ist nicht nur die Familie, sondern auch die Gesellschaft ganz besonders gefordert. Die Bildung unserer Kinder muss so früh wie möglich beginnen; denn Bildungsdefizite aus der frühen Kindesentwicklung können von der Schule nur schwer kompensiert werden. Daher sind Kindertageseinrichtungen zu Stätten einer frühkindlichen Förderung mit einem klaren Bildungskonzept zu entwickeln. Notwendig ist eine vorschulische Erziehung, in der spielerisch bereits mit Lesen, Schreiben und Rechnen begonnen wird und durch die sowohl musische als auch motorische Anlagen gefördert werden. Der Schwerpunkt der Bildungspolitik muss auf den Elementar- und Grundschulbereich verlagert werden. Wichtig ist eine frühere Einschulung mit Eingangstests und Sprachförderung. Dabei müssen Lernschwächen und Hochbegabungen erkannt werden. Deutschland verschwendet seine Talente, weil sie nicht erkannt, nicht gefördert und nicht gefordert werden. ({1}) Ganztagsschulen auf der Grundlage eines pädagogischen Konzeptes sollten flächendeckend eingerichtet werden. Dabei muss der Bund Unterstützung leisten, zum Beispiel im Rahmen eines Staatsvertrages. Ausbildung und Qualifizierung der Jugend entscheiden über die Zukunft unserer Gesellschaft. Ausbildung und Arbeit sind für die Jugendlichen selbst mehr als nur die Grundlage für ein wirtschaftlich unabhängiges Leben. Sie haben auch eine zentrale Bedeutung für die Identitätsfindung, die Selbstverwirklichung und -bestimmung und sind entscheidend für die Verteilung der Lebenschancen von jungen Menschen. Deshalb muss der bisherigen Fehlsteuerung im Bildungs- und Ausbildungssystem entschieden sowie mit vielfältigen und unkonventionellen Ideen und Ansätzen entgegengewirkt werden. Reformen in der Bildungspolitik sowie in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind gerade im Hinblick auf die Zukunft der jungen Menschen dringend geboten. Dazu gehören zum Beispiel flexiblere Regelungen für das Berufsbildungssystem, eine generelle Verkürzung der Ausbildungszeiten und eine bessere Anpassung der Berufsbilder an die Anforderungen der Wirtschaft. Aber eine verbesserte Bildungspolitik mit hohen Qualitätsstandards muss die Förderung und Forderung von Hochbegabten genauso sicherstellen wie die von Lern- und Leistungsschwachen sowie von Behinderten. ({2}) Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer kulturell heterogenen Umwelt auf. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist dabei zugleich Herausforderung und Chance. Diese jungen Menschen können Brücken und Vermittler zwischen den Kulturen sein. Voraussetzung ist aber, dass sie über umfassende Kompetenzen in der deutschen Sprache verfügen und mit der deutschen Kultur vertraut sind. Neben den staatlichen Bildungseinrichtungen kommt hier der Kinder- und Jugendhilfe eine besondere Verantwortung zu. Die FDP unterstützt gerade im Zusammenhang mit der Debatte, die in unserer Gesellschaft über die Zuwanderung geführt wird, die Forderung der Experten, dass allen Kindern und Jugendlichen, die auf deutschem Boden leben, das Recht auf Bildung und Erziehung zusteht. ({3}) Handlungsgrundlage ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz, in dem gefordert wird: Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung. Das heißt, Einschränkungen aufgrund des Staatsangehörigkeitsprinzips sowie des Rechts- bzw. Aufenthaltsstatus der Eltern oder der Kinder müssen aufgehoben werden. Die deutsche Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderkonvention muss endlich zurückgenommen werden. ({4}) Politik für junge Menschen als Querschnittsaufgabe ist eine reizvolle Herausforderung für alle gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen, insbesondere im Hinblick auf die Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch für jeden Einzelnen. Für eine solche Politik lohnt sich jede Mühe. Deshalb hat meine Fraktion als erste und bislang einzige einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vorweg feststellen, dass zum ersten Mal die Arbeiten an einem Kinderund Jugendbericht innerhalb einer Legislaturperiode begonnen und auch abgeschlossen wurden. Dafür zollen wir nicht nur der Bundesregierung, die an dem Elften Kinder- und Jugendbericht zügig mitgearbeitet hat, sondern auch allen Mitgliedern der Expertenkommission, die diesen Bericht erstellt haben, Anerkennung. ({0}) Es ist wichtig, dass wir aus dem vorliegenden Bericht die richtigen Schlussfolgerungen für unsere Arbeit ziehen. Neu in dem vorliegenden Bericht ist - dazu wurde schon einiges gesagt -, dass die Kinder- und Jugendhilfe als Bestandteil der allgemeinen Infrastruktur behandelt wird. Sie gehört demnach zur sozialpolitischen Grundversorgung in unserem Land. Die Kinder- und Jugendhilfe richtet sich dann nicht mehr nur an die schwierigen oder auffälligen, sondern an alle Kinder und Jugendlichen. Damit wird die Stellung der Kinder- und Jugendpolitik als Querschnittspolitik unterstrichen. Die Expertenkommission fordert ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Der Staat muss die Rahmenbedingungen für Familien, Kinder und Jugendliche schaffen, ohne dabei die Eigenverantwortung der Familien zu schmälern. Damit wird vor allem die Kinder- und Jugendarbeit in den Kommunen aufgewertet. Die Kommission fordert eine Aufstockung der Mittel für Kinderund Jugendarbeit in den kommunalen Etats. Das unterstützen wir als PDS-Fraktion ausdrücklich. Von uns gab es einen Antrag, in dem zum Beispiel gefordert wurde, einen eigenständigen Haushaltstitel für Kinder- und Jugendarbeit neu auszubringen. Auch dieser Frage sollten wir uns in der Diskussion wieder stellen. Zu einem neuen Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern gehört auch, dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe allen Kindern und allen Jugendlichen, die auf deutschem Boden leben, gleichermaßen zustehen. Kinderrechte müssen auch Vorrang vor dem Asylrecht haben. In Deutschland werden Kinder im Asylverfahren bereits mit 16 Jahren wie Erwachsene behandelt und müssen das komplizierte Verfahren, zum Teil sogar die Abschiebehaft, durchlaufen. Kinder, die mit ihren Eltern nach Deutschland kommen und über lange Zeit, oft über Jahre, lediglich den Status der Duldung haben, können die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nicht in Anspruch nehmen. In einigen Bundesländern können sie nicht einmal eine Schule besuchen. Sie bleiben sozial ausgegrenzt. Damit muss Schluss sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sinne sollten wir auch noch einmal über die Rücknahme der Vorbehalte der Bundesregierung gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention nachdenken. Ich kann mich daran entsinnen, dass Sie von der Regierungskoalition bei der Vorlage des Zehnten Kinder- und Jugendberichts gerade das gefordert haben. Ein Wort zur Kinderbetreuung. Eine öffentliche Verantwortung für die Entwicklung und Erziehung von Kindern erfordert auch einen Umbau und Ausbau der Formen der Kinderbetreuung. Weitere Verbesserungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch zur Entschärfung materieller Notlagen von Familien müssen vorangetrieben werden. Auch zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gibt es einen Antrag der PDS-Fraktion, dessen wir uns in der Diskussion unbedingt wieder annehmen sollten. In diesem Zusammenhang kann ich die Forderung der Kommission nach flexiblen Öffnungszeiten und Ausbau von Betreuungsangeboten für unter 3-Jährige und über 6-Jährige nur unterstützen. Der Aufbau eines flächendeckenden und bedarfsgerechten Angebots der Kindertageseinrichtungen in den alten Bundesländern sowie der Erhalt der entsprechenden Strukturen in den neuen Bundesländern sind notwendige Schritte dazu. Die Tatsache, dass die Betreuungsangebote im Osten noch immer vorbildlich sind, obwohl das Angebot reduziert wurde, hängt ausschließlich mit den gesunkenen Geburtenzahlen zusammen. Viele Eltern und Erzieherinnen bzw. Erzieher in den neuen Bundesländern kämpfen bereits dafür, dass gerade nicht eine Angleichung an westdeutsche Verhältnisse stattfindet. Sie würden sich über ein positives Signal seitens der Bundesregierung natürlich freuen. Ein neues Verständnis von öffentlicher Erziehung, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, schließt aber auch ein, dass noch einmal über eine finanzielle Beteiligung des Bundes - eine Forderung, die wir schon lange vertreten - nachgedacht wird. Neu müssen auch die Aufgaben der Kinderbetreuung definiert werden. Zu der Betreuungsaufgabe kommen Erziehungs- und Bildungsaufgaben hinzu. Lernen beginnt - auch das wurde schon vielfach angemerkt - nicht erst mit sechs Jahren. Mit einer frühen Bildung kann zum Beispiel auch sozialer Ungleichheit gegengesteuert werden. Mit Blick auf die Ergebnisse der PISA-Studie ist es bedauerlich, dass diese Möglichkeit bisher so vernachlässigt wurde. Bildung umfasst mehr als nur WissensverKlaus Haupt mittlung; dabei geht es auch - darin sind wir uns alle einig - um das Erlernen sozialer Kompetenzen. Soziale Ungleichheit bedeutet auch - das ist nachgewiesen - ungleiches gesundheitliches Wohlbefinden. Im Bericht wurde festgestellt, dass die Gesundheitsprävention in der Kinder- und Jugendhilfe bisher kein Thema war. Die Gesundheitsprävention muss aber zu den Aufgaben der Familienhilfe und der Bildungseinrichtungen gehören. Kinder müssen nicht nur lernen, sich gesund zu ernähren. Die Zustände an deutschen Schulen zeigen deutlich den Bedarf einer Gesundheitserziehung. Kindern fehlt es an Bewegung. Nicht selten haben sie bereits Nikotin-, Alkohol- und Drogenprobleme. Immer weniger Eltern nehmen medizinische Präventionsangebote wahr. Früherkennungsuntersuchungen, Impfungen und Zahnprophylaxe werden kaum noch in Anspruch genommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. Wir sind bereit, an diesen Themen mitzuarbeiten. Eine neue Form der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern erfordert auch, Kindern den notwendigen Stellenwert einzuräumen. Erst kürzlich habe ich in einer Debatte wieder gesagt, dass Kinderrechte - das ist eine alte Forderung - nicht nur, was bestimmte Aufgaben angeht, eingehalten werden müssen, sondern dass sie auch im Grundgesetz, wie es zehn Bundesländer in ihren Verfassungen bereits getan haben, verankert werden müssen. Dazu liegt ein Vorschlag vor. Lassen Sie uns an die Arbeit gehen, nicht um politische Mehrheiten zu erringen, sondern um viele Verbesserungen für das Aufwachsen der Kinder in unserer Gesellschaft zu erreichen! Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Lieber Herr Haupt, ich möchte auf Bayern zu sprechen kommen, und zwar deshalb, weil Frau Eichhorn Ihre Vorstellung zum Familiengeld gerade so blumig „zukunftsweisend“ genannt hat. Mir liegt eine aktuelle Tickermeldung von Herrn Stoiber aus Bayern vor. Er hat gesagt, dieses Vorhaben sei gegenwärtig nicht finanzierbar. ({0}) Ich bin gespannt, was von der Familienpolitik, die Sie gerade gerühmt haben, übrig bleibt. Aber nun zum Kinder- und Jugendbericht. Richtig ist: Niemand kann den Staat und die Gesellschaft für sein Schicksal verantwortlich machen. Richtig ist aber auch: Niemand ist für sein Schicksal allein verantwortlich. Das heißt, eine Verzahnung von privater und öffentlicher Verantwortung wird unsere Zukunftsaufgabe sein. Das ist eine zentrale Erkenntnis des Elften Kinder- und Jugendberichts. Die Einleitung des Elften Kinder- und Jugendberichts trägt die Überschrift „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Diese Leitlinie ist meiner Ansicht nach richtig gewählt. Für uns Politiker und Politikerinnen bedeutet das, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass der Staat seine Verantwortung für das Aufwachsen tatsächlich übernehmen kann. Dafür müssen wir die soziale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche verbessern. Auch das ist eine zentrale Schlussfolgerung des Elften Kinderund Jugendberichts. ({1}) Für die Verbesserung der sozialen Infrastruktur liegen zwei wesentliche Gründe - sie wurden vielfach schon genannt; ich will sie dennoch wiederholen - auf der Hand: Erstens. Öffentliche Verantwortung ist da gefragt, wo sie Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen verhindern kann. Erst Ende letzten Jahres hat die PISAStudie - wir haben es gerade schon gehört - unserem Bildungssystem bescheinigt, dass es die Benachteiligungen nicht ausgleicht, sondern Ausgrenzungen verstärkt. Andere Länder haben schon längst erkannt, dass Kindertagesstätten und Ganztagsschulen die zentralen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen sind. Wir in Deutschland haben mit konservativer Bildungs- und Familienpolitik - das muss angemerkt werden - jahrzehntelang aufs falsche Pferd gesetzt. ({2}) Der Elfte Kinder- und Jugendbericht bestätigt, dass Ganztagsbetreuungsangebote mehr Bildungschancen ({3}) - Frau Fischbach, auch wenn Sie noch so viel schreien, dadurch wird es nicht richtiger - für Kinder und Jugendliche bedeuten. ({4}) Zweitens. Öffentliche Verantwortung ist da gefragt, wo Familien für die Erfüllung ihrer Erziehungsleistung Unterstützung brauchen. Der Bericht stellt klar, dass die Familie nach wie vor der zentrale Ort des Aufwachsens ist. Er zeigt aber auch auf, dass sich die Familien gewandelt haben. Mit unserer Politik haben wir diesem Wandel bereits Rechnung getragen. Wir haben bereits in der kurzen Regierungszeit öffentliche Verantwortung übernommen. Mit unserer Familienförderung, der Steuerreform und der Wohngeldreform haben wir die finanziellen Rahmenbedingungen für junge Menschen und ihre Familien spürbar verbessert. ({5}) - Doch, ich sage es Ihnen gleich. - Mit der BAföG-Reform haben wir die Bildungschancen von benachteiligten Jugendlichen, die unter der alten Regierung sträflich vernachlässigt wurden, verbessert. Die Flexibilisierung der Elternzeit und die Einführung des Rechtsanspruchs auf Teilzeitarbeit sind Meilensteine auf dem Weg zu einer familienfreundlichen Arbeitswelt und zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({6}) Sicherlich müssen hier weitere Maßnahmen ansetzen. Unsere bisherige Politik war und ist aber richtig. Daher werden wir auf diesem Weg weiter voranschreiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unbestritten ist: Es gibt Familien in sehr bedrückenden finanziellen Verhältnissen. Familien sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, so lautet eine der traurigen Lehren des Armutsund Reichtumsberichts und eine der traurigsten Erblasten der alten Regierung. ({7}) Frau Eichhorn, Ihre Sorgen um die Alleinerziehenden teile ich. Ich teile vor allem die Sorge um die 60 Prozent der Alleinerziehenden, die keine Steuern zahlen und auch nicht von dem Haushaltsfreibetrag, dessen Wegfall Sie oft kritisieren, profitieren. Hier ist öffentliche Verantwortung gefragt; denn Armut und Sozialhilfebezug bedeuten oft den Einstieg in einen Teufelskreis aus schlechten Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und damit der Verfestigung von Armut. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, den Familien den Ausbruch aus diesem Teufelskreis zu ermöglichen. Hierzu fordert der Elfte Kinder- und Jugendbericht einen Perspektivenwechsel ein, nämlich das zu Beginn beschriebene Verzahnen von privater und öffentlicher Verantwortung. Eltern sollen in erster Linie Verantwortung für sich selbst und ihre Kinder tragen. Das heißt, sie müssen in die Lage versetzt werden, Arbeit aufzunehmen, also Familie und Beruf zu vereinbaren. ({8}) Das heißt gleichzeitig, dass wir ein bedarfsdeckendes und flexibles Angebot an Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen bereitstellen müssen. Dieser Perspektivenwechsel hin zur Gestaltung und Schaffung einer besseren sozialen Infrastruktur ist eine der zentralen Aufgaben, die uns der Kinder- und Jugendbericht aufgibt. Wir begrüßen diesen Perspektivenwechsel; denn damit können wir erstens die Armut von jungen Menschen und ihren Familien vermeiden und zweitens ihre Selbsthilfekräfte stärken. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein Leistungsgesetz, das sich bewährt hat. Es ist die gesetzliche Regelung, mit der die Kinder- und Jugendhilfe vor Ort umgesetzt werden soll. Es sieht schon heute in § 24 die Möglichkeit für ein bedarfsgerechtes Angebot an Tageseinrichtungen vor, überlässt aber den Ländern und Kommunen die Entscheidung darüber, mit dem Ergebnis, dass die Ganztagsbetreuung gerade in den alten Bundesländern völlig unzureichend ist. Darum ist ein echter Perspektivenwechsel - Herr Haupt, da gebe ich Ihnen Recht hin zum Ausbau der sozialen Infrastruktur nur zu meistern, wenn sich neben den Ländern und Gemeinden auch der Bund beteiligt. Ich denke, dafür werden wir öffentliche Verantwortung übernehmen. Danke schön. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Dörflinger.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Elfte Kinder- und Jugendbericht enthält eine Bestandsaufnahme im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. In diesem Zusammenhang ist eines ganz wichtig - das ist in dieser Debatte noch nicht gesagt worden -, nämlich die Tatsache, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz vor über zehn Jahren zuzeiten der von der Union und der FDP geführten Bundesregierung unter dem seinerzeitigen Parlamentarischen Staatssekretär Anton Pfeifer entstanden ist. ({0}) Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dies sei ein modernes Gesetz. ({1}) - Sie haben seinerzeit nicht zugestimmt, sondern sich der Stimme enthalten. ({2}) Ich stelle in diesem Zusammenhang einmal die Frage, welches Gesetz aus dem vierjährigen grün-roten Intermezzo in der Zeit von 1998 bis 2002 im Jahre 2012 als ein zukunftsfähiges Gesetz betrachtet werden kann. Ich sage Ihnen: Es wird keines sein. ({3}) Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion mit den Regierungsfraktionen eint, was den Bericht der Bundesregierung angeht. Das ist die Feststellung, dass wir gemeinsam an § 69 Abs. 3 KJHG festhalten, nämlich der bisherigen - wahrscheinlich auch zukünftigen, weil sinnvollen - Gestaltung der Jugendhilfe auf der kommunalen Ebene mit einem eigenständigen Jugendamt und der bisherigen zweigliedrigen Struktur der Jugendhilfeausschüsse. 82 Prozent aller Träger der öffentlichen Jugendhilfe organisieren diese so. Das zeigt, dass sich das nicht nur bewährt hat, sondern auch sinnvoll ist. Allerdings weisen der Bericht der Kommission und die Stellungnahme der Bundesregierung in einigen Punkten deutliche Unterschiede auf. So habe ich den Eindruck gewonnen, dass hier ein Prozess der selektiven Wahrnehmung um sich greift; denn bestimmte Sachverhalte werden durchaus unterschiedlich dargestellt. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. Erstens. Es war schon von Ihrem Geniestreich, dem tollen Programm namens „Chancen im Wandel“, die Rede. Ich habe es mir heute Nachmittag extra noch einmal angesehen. ({4}) In den vielen Seiten dieses Programmes kommt der Name KJHG bzw. Kinder- und Jugendhilfegesetz nicht einmal vor. Das ist für ein jugendpolitisches Programm in der Tat ein starkes Stück. Folglich kommt der Begriff im Bericht der Sachverständigenkommission auch nicht vor. Zweite Bemerkung in diesem Zusammenhang: Der Bericht ist bezüglich der Situation in den neuen Bundesländern relativ ausführlich, die Stellungnahme der Bundesregierung relativ einsilbig. Da finde ich nur den bemerkenswerten Satz: Die Bundesregierung nimmt die von der Sachverständigenkommission dargestellten Folgen des Personalabbaus aufgrund der demographischen Entwicklung in den neuen Bundesländern zur Kenntnis, die insbesondere zu einer Entlassung jüngerer Fachkräfte geführt hätten … Das ist ein bisschen wenig, wenn die zuständige Bundesregierung derartige Entwicklungen lediglich zur Kenntnis nimmt. ({5}) Ich hätte erwartet, dass Sie sich beispielsweise mit dem Prozess der Abwanderung von Ost nach West, der direkte Auswirkungen auf die Kommunalfinanzen und die Personalentwicklung in ostdeutschen Kommunen hat, befassen und dagegen etwas tun, ({6}) anstatt dies nur zur Kenntnis zu nehmen. Aber das ist die Realität des Aufbaus Ost im dritten Jahr der Regierung Schröder. Drittes Beispiel: Integrationspolitik. Die Bundesregierung stellt in ihrer Stellungnahme fest - das entspricht auch den Tatsachen -, dass sie im Bereich des Bundesministeriums des Innern die Mittel für die Sprachförderung erhöht habe. Das ist richtig; sie hätte allerdings dazu sagen müssen, dass im Bereich des BMA und des für uns zuständigen Ministeriums in genau diesem Punkt die Mittel zurückgefahren wurden. Ich lese dann mit großem Erstaunen im Bericht der Bundesregierung, dass im Jahr mit der Umsetzung einzelner Elemente des neuen Sprachförderkonzepts wie die weitgehende Verzahnung der Sprachkursangebote für jugendliche Zuwanderinnen und Zuwanderer begonnen werden solle. Die Legislaturperiode ist fast um und ich stelle fest: Sie haben keinen diesbezüglichen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie haben noch nicht einmal eine vage Idee, wie das Ganze funktionieren soll, denn der Sprachverband in Mainz, der mit der Neuorganisation dieser Dinge beauftragt werden soll, sah sich nach eigenen Angaben außerstande, all das innerhalb eines einzigen Jahres umzusetzen. ({7}) Jetzt frage ich mich: Wie ist dieser Satz zu interpretieren? Ziehen Sie einige Dinge vor, machen also ein Vorschaltgesetz, oder kommt es zu einer Teilumsetzung oder handelt es sich nur um einen der vielen Sprüche, die wir seit 1998 von Ihnen gehört haben? ({8}) Vierter Punkt: Der Satz, Jugendpolitik sei auch eine Politik der Nachhaltigkeit, ist richtig und findet unsere Unterstützung. Richtig ist allerdings auch die Auffassung der Kommission, beispielsweise bezüglich der Sonderprogramme. Die Kommission befasst sich mit diesem Thema sehr kritisch; sie führt aus, dass der Effekt der Sonderprogramme, die auf zwölf, 14 oder 16 Monate angelegt sind, im Grunde verpufft, da diese Sonderprogramme nur den Effekt haben, dass in den neuen Bundesländern Träger entstehen, die nach Auslaufen dieser Sonderprogramme anschließend genauso schnell, wie sie gekommen sind, wieder von der Bildfläche verschwinden. Damit ist der eigentliche Effekt gleich null, ein kleiner Nebeneffekt ist aber, dass wir damit Haushaltsmittel verbraucht haben. ({9}) Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zu einem Punkt etwas sagen, der in diesem Hohen Hause gerne diskutiert wird, nämlich die Entwicklung beim JUMP-Programm. Auch in der Auffassung darüber unterscheiden sich der Bericht der Sachverständigenkommission und die Stellungnahme der Bundesregierung ganz erheblich. Ich zitiere jetzt nicht aus dem Bericht der Bundesregierung, weil das wenig spannend ist - die Regierung findet ihre eigene Politik natürlich toll -, sondern aus dem Bericht der Sachverständigenkommission: Bei allen positiven Effekten ist jedoch anzumerken, dass das Programm die Ursachen der Probleme am Ausbildungsmarkt nicht beseitigt, ({10}) sondern einer weiteren Verstaatlichung der Berufsausbildung Vorschub leistet und somit Gefahr läuft, einen Rückzug der Wirtschaft aus der Ausbildungsverantwortung zu fördern … Weiter unten wird dann auf eine Untersuchung des IAAB im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit Bezug genommen: Jeder dritte JUMP-geförderte Jugendliche mündet nach Abschluss der JUMP-Maßnahme in eine Arbeitslosigkeitsphase ein ... ({11}) Ich kann nicht erkennen, welcher Effekt, außer einem statistischen, durch dieses milliardenschwere Programm erzielt werden soll. ({12}) Ich stelle fest: Sie sind in wichtigen Fragen nicht zukunftsfähig. ({13}) Die Tatsache, dass Sie während der sechs Minuten, die ich jetzt rede, so aufgeregt reagiert haben, zeigt, dass ich den Finger offensichtlich auf die Wunde gelegt habe. Ich frage mich, wenn ich die Stellungnahme der Bundesregierung lese: Wo sind Ihre Perspektiven, wo sind Ihre Visionen, was Kinder- und Jugendhilfepolitik in Deutschland angeht? ({14}) Die Stellungnahme erschöpft sich weitgehend in einem Referieren dessen, was seit 1998 mehr oder weniger erfolgreich gelaufen ist. In meinem Wahlkreis zum Beispiel war in diesen Tagen im Zusammenhang mit der Verlängerung der Genehmigungsfristen bei Amadeus ein Thema: Wie stellen Sie sich zu einer Angleichung der Bestimmungen - das ist im Übrigen der Kern des Antrages der Bundesländer Bayern und Saarland im Bundesrat - in bestimmten Teilbereichen zwischen dem KJHG und dem Bundessozialhilfegesetz? Sie tragen die Kindergelderhöhung, die Sie - zweifelsohne mit unserer Unterstützung - vorgenommen haben, im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik wie eine Monstranz vor sich her. Da Ihr früherer Fraktionsvorsitzender schon mit dem Unterschied von brutto und netto seine Probleme hatte, ({15}) sage ich Ihnen: Sie müssen bei der Familienförderung natürlich eine Nettorechnung machen, beispielsweise bei Alleinerziehenden; Sie müssen den Wegfall des Haushaltsfreibetrages in diese Gesamtrechnung einbeziehen. Wenn man so weit ist, dass die eigene Schwester vor dem Bundesverfassungsgericht klagen muss, um den Bruder von der Falschheit seiner Politik zu überzeugen, dann sollte man aufgeben. ({16}) Sie referieren mehr oder weniger Erfolgloses. Wir haben ein anderes Konzept; Kollegin Eichhorn hat darauf hingewiesen. Das Konzept besteht aus drei Säulen. Wir werden es nach der Wahl am 22. September Zug um Zug umsetzen, weil wir nicht Mängel verwalten wollen, sondern im Interesse der Familien in Deutschland Zukunft gestalten. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Nein, nicht über Bayern; das lässt sich aber vielleicht an einer Stelle nicht verhindern. Ich habe den Anfang meiner Rede jetzt doch verändert; denn ich fand es bemerkenswert, dass Sie hier ein Bekenntnis zur Struktur des Kinder- und Jugendhilfegesetzes abgelegt haben. Auch dass Sie das Kinder- und Jugendhilfegesetz loben und das auf Ihre Fahne schreiben, ist in Ordnung. Aber eines war mit Sicherheit grundfalsch: dass wir uns enthalten hätten, weil wir es etwas weniger weitgehend hätten haben wollen. Wir hatten sicherlich Vorstellungen, die wir gerne verwirklicht hätten. Der gesamte Elfte Kinder- und Jugendbericht, Herr Dörflinger, handelt eigentlich von den Dingen, die zu verbessern sind. Dazu treten wir auch an. ({1}) Einmal abgesehen von dem hier monierten Wahlkampfstreit, in den dieser Bericht wirklich nicht einbezogen werden sollte, glaube ich, dass wir uns wahrscheinlich darüber einig sind, dass es zu keiner Zeit so hohe Ansprüche an eine nachwachsende Generation gab wie heute. Kinder und Jugendliche sollen die immer größere Wissensflut, die immer dynamischere technische Revolution beherrschen, lebenslang lernen, mehrsprachig, mobil und börsenfest sein, gleichzeitig sozial engagiert und durchsetzungsfähig, Konflikte aber auf jeden Fall gewaltfrei lösen - mit anderen Worten: moderne Tausendsassa, eine Projektion all dessen, was die Erwachsenen gern selbst wären und woran sie doch meistens mehr oder weniger scheitern. Gleichzeitig werden heute wie seit 3 000 Jahren Klischees bedient, vor allem von Medien und Erwachsenen, die kaum noch Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben, als handele es sich insgesamt um eine Problemgruppe. Bereits auf babylonischen Schrifttafeln war zu lesen, die Jugend sei dumm, gewalttätig, faul und gottlos. Heute heißt das: Monsterkids, unkonzentriert, gewalttätig, hedonistische Konsumenten, bildungsfaul und ohne Wertorientierung. In der Tat wäre es besser, wenn wir Kinder und Jugendliche nicht ständig als Problemgruppe der Gegenwart, sondern schlicht als wichtigste Träger der Zukunft dieser Gesellschaft ernst nehmen und annehmen würden ({2}) und endlich aufhörten, so zu tun, als könne man den veränderten Realitäten des 21. Jahrhunderts, die uns zum Beispiel die angesprochene PISA-Studie deutlich vor Augen geführt hat, mit preußischen Erziehungsmethoden, mit dem Nürnberger Trichter und der Schule des 19. Jahrhunderts gerecht werden. Wir wollen allen, die in diesem Land aufwachsen, in das sie durch Zufall hineingeboren worden sind, und auch denjenigen, die hier zuwandern - meistens ohne gefragt zu werden -, das Beste mit auf den Weg geben. Darum geht es bei der Kinder- und Jugendhilfe, ({3}) damit die Kinder und Jugendlichen die Zukunft für sich gemeinsam, aber gerade auch im Interesse des Wohlstandes der älteren Generationen meistern können und damit sie unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und vom Geldbeutel ihrer Eltern lernen können, ihre Flügel auszubreiten und zu fliegen. „Wüchsen die Kinder fort, wie sie sich andeuten, hätten wir lauter Genies“, behauptete Goethe in „Dichtung und Wahrheit“. Das mag übertrieben oder sogar erschreckend klingen. Aber es ist etwas Wahres daran. Was hindert Mädchen und Jungen daran, so fort- bzw. aufzuwachsen, dass sie ihre Begabungen so gut wie möglich entwickeln können und dass ihre Neugier und Wissbegier befriedigt wird? Was können und sollen Eltern leisten? Welche Unterstützung liegt in der öffentlichen Verantwortung? Was muss die Politik tun, und zwar jenseits von Überforderungen, vor allen Dingen jenseits von Verstaatlichungs- genauso wie von Privatisierungsideologien, die weder den Problemstellungen noch den jungen Menschen in ihrer ganzen Vielfalt als soziale Wesen gerecht werden? Genau das ist das Thema des Elften Kinder- und Jugendberichts. Er ist der erste dementsprechende Bericht, der seit 1990 Anspruch und Wirklichkeit des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes im vereinten Deutschland umfassend beschreibt. Er ist im Übrigen auch der erste Bericht, der so rechtzeitig mit der Stellungnahme der Bundesregierung vorliegt, dass sich Parlament und Fachwelt ausführlich noch vor Ende der Wahlperiode damit beschäftigen und auch die richtigen Schlüsse daraus ziehen können. ({4}) Dafür gebührt unser Dank der Berichtskommission, den Praktikern und den Wissenschaftlern, die in nur zwei Jahren und - im Vergleich zu anderen Expertenberichten - mit dem für Jugendpolitik üblichen niedrigen Budget arbeiten mussten und eine fachlich und empirisch umfassende Grundlage für eine Neuorientierung der Kinderund Jugendhilfe vorgelegt haben. Gerhard Schröder hat gesagt, dass kein Kind in Deutschland am Rande stehen bleiben soll. ({5}) Das hat für uns Sozialdemokraten auch Priorität. Das bedeutet Chancengleichheit, auch das Recht auf eine zweite Chance, eine bedarfsgerechte Infrastruktur für Kinder und Familien, die Eltern - außer im Notfall - nicht ersetzt, sondern unterstützen und ergänzen soll. Das bedeutet verstärkte Anstrengungen bei der Integration der Zugewanderten und auch bei der Zusammenarbeit von Eltern, Schule und von außerschulischer Bildungsarbeit der Jugendhilfe und der Jugendarbeit. Ministerin Bergmann hat hier eindrucksvoll dargelegt, dass wir in den ersten dreieinhalb Jahren unserer Regierungszeit bereits wichtige Schritte einer kinderfreundlicheren und familienfördernden Politik umgesetzt haben. Es ist richtig, dass weitere Schritte folgen müssen und auch folgen werden. Das bedeutet auf keinen Fall Abbau oder Zuständigkeitslockerung im SGB III, sondern Sicherung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, die sich grundsätzlich bewährt hat: mit den pluralen freien Trägern, den wichtigsten Stützen der Zivilgesellschaft, den örtlichen Jugendämtern - deren Zweigliedrigkeit von Verwaltung und Kinder- und Jugendhilfeausschüssen sich grundsätzlich bewährt hat - und auch den Beratungs-, Fortbildungs- und Qualitätssicherungsaufgaben der Landesjugendämter. Wir werden alle Versuche abwehren, aus populistischen oder finanzpolitischen Gründen - wie jetzt wieder von Bayern und dem Saarland eingebracht - das Kinderund Jugendhilfegesetz, seine Zuständigkeiten und Strukturen zu durchlöchern. Darüber hinaus lässt sich sicherlich über die bessere Umsetzung und Nutzung der Potenziale vor Ort sowie über die Zielgenauigkeit gut streiten. Dazu gibt der Bericht wichtige Hinweise.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich muss Sie auch noch darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit schon abgelaufen ist. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Rede elegant mit der Beantwortung der Frage abschließen könnten.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich werde mich bemühen.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben den Gesetzentwurf angesprochen, den Bayern und das Saarland einbringen wollen. ({0}) Wären Sie vielleicht so nett, den hier versammelten Kollegen und Kolleginnen, die diesen Gesetzentwurf offensichtlich nicht kennen, seine Sinnhaftigkeit und seine familienpolitischen Auswirkungen darzustellen? ({1})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich verstehe, dass Sie diese Frage spontan stellen müssen, ({0}) weil dieser Antrag der Länder Bayern und Saarland am 22. Februar dieses Jahres, also ziemlich passend zur Debatte über den Elften Kinder- und Jugendbericht, hier eingegangen ist. ({1}) und völlig im Widerspruch zu dem steht, was gerade von Herrn Dörflinger gesagt worden ist. Denn es geht ja nicht um eine Anpassung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder an die Sozialhilfe. Was würde dies den Kommunen bringen, wenn es nicht Standardabbau bedeuten würde? Schließlich werden die Kosten in beiden Fällen zum größten Teil von den Kommunen getragen. Es geht um etwas ganz anderes, genauso wie bei der Frage des Abbaus von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe ({2}) bei volljährigen Jugendlichen, deren Hilfen aber vor ihrer Volljährigkeit begonnen haben. Es geht um Standardabbau. Es geht hier meiner Meinung nach darum, für weitere Versuche, mit dem Rasenmäher über das Kinderund Jugendhilfegesetz zu gehen, ein Einfallstor zu schaffen. Das haben wir in den letzten Jahren ständig gehört - wenn auch vielleicht nicht von den Kinder- und Jugendpolitikern, Frau Kollegin Eichhorn, sondern von vielen anderen, die immer den Abbau von sozialpädagogischen Hilfen und Strafrechtsverschärfungen für Kinder und Jugendliche gefordert haben. Das ist das Credo. Es gibt andere Beispiele, bei denen es ebenfalls um Standardabbau geht. Zugrunde liegt dem: Man denkt, dass bei der Kinder- und Jugendhilfe ein überzogenes Anspruchsdenken besteht und man ausufernde Tatbestände schafft. Frau Kollegin, das ist meines Erachtens bemerkenswert. ({3}) - Herr Kollege, ich habe mich mit dem Gesetzentwurf, der mir hier vorliegt, beschäftigt. ({4}) - Es wurde nach dem Gesetzentwurf gefragt, den die Länder Bayern und Saarland eingebracht haben, und diesen habe ich hier vorliegen. Ich bin der Meinung, zu einem neuen Generationenvertrag - damit habe ich meine Antwort abgeschlossen ({5}) gehören neben dem Abbau öffentlicher Schulden natürlich eine aufgabengerechte Finanzstruktur von Bund, Ländern und Kommunen und eine neue finanzpolitische Schwerpunktsetzung bei der wichtigsten Zukunftsinvestition in unserem Land, den Kindern und Jugendlichen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8181 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs- antrag der Fraktion der FDP, Drucksache 14/8383, soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 a und 8 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Dr. Heinz Riesenhuber, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Steuerliche Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter ({1}) verbessern - Drucksachen 14/5318, 14/8150 Berichterstattung: Abgeordnete Nina Hauer Hansgeorg Hauser ({2}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Steuer beim Aktientausch - Drucksachen 14/3009, 14/6398 Berichterstattung: Abgeordnete Nina Hauer Otto Bernhardt Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Nina Hauer.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! An die Adresse der CDU und der CSU möchte ich sagen: Wenn ich mich daran erinnere, wie Sie sich angestellt haben, als wir das Betriebsverfassungsgesetz erneuert haben, ({0}) um mehr Mitbestimmung in Deutschland zu sichern und sie vor allen Dingen zu modernisieren, ({1}) dann freue ich mich, dass mittlerweile auch Sie Anhänger einer größeren materiellen Mitarbeiterbeteiligung geworden sind. ({2}) Ich freue mich, dass Sie uns auf diesem Weg begleiten wollen. Ob allerdings der von Ihnen gewählte Weg der richtige ist, bezweifele ich. Es ist richtig, dass viele kleine Unternehmen, gerade junge Startups, aber auch bestehende Unternehmen, ihre Innenfinanzierung dadurch gewährleisten können, dass sie an ihre Mitarbeiter Aktienoptionen ausgeben. Denen möchten Sie helfen. Ihr Antrag zeigt, dass Sie nicht deutlich machen können, wie Sie ihnen eigentlich helfen wollen. Denn jede von Ihnen vorgeschlagene Möglichkeit - eigentlich eine sehr breite Angebotspalette - hat ihre Tücken. Ich greife einmal auf, uns als Gesetzgeber beispielsweise an der Schweiz zu orientieren. In der Schweiz werden Aktienoptionen dann besteuert, wenn sie gewährt werden. Wenn die Option nicht ausgeübt wird, entsteht ein persönlicher Nachteil, da Steuern gezahlt wurden. Dies ist eine Regelung, die für uns in Deutschland nicht infrage kommt. Ein anderes Beispiel sind die USA. Dort gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, mit Aktienoptionen umzugehen. Die eine ist: Bei Optionen, deren Marktpreis sofort festzustellen ist, findet schon bei der Gewährung eine Versteuerung statt. Hier besteht also das gleiche Problem wie in der Schweiz, das ich soeben dargestellt habe: Wenn man Aktienoptionen erhält, ist man steuerpflichtig. Wenn man sie nicht ausübt, ist zwar die Steuer gezahlt worden, aber ein Gewinn konnte nicht verbucht werden. Die andere Möglichkeit ist, dass man steuerpflichtig wird, wenn man die Aktienoption veräußert. Sie sagen, an dieser Regelung sollten wir uns orientieren. Da kann ich Ihnen nicht folgen. In den USA gibt es die gleiche Spekulationsfrist wie in Deutschland, nämlich zwölf Monate. Wenn Sie Ihre Aktien innerhalb dieser zwölf Monate verkaufen, sind Sie dort - so wie auch in der Bundesrepublik - zum Einkommensteuersatz steuerpflichtig. Wenn Sie Ihre Aktien nach Ablauf der Spekulationsfrist veräußern, müssen Sie in den USA 20 Prozent Ihres Gewinns versteuern. In Deutschland ist dieser steuerfrei. Worin in der Übernahme der in den USA bestehenden Regelung, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, eine Verbesserung bestehen soll, das ist mir nicht klar geworden. Die Beispiele, die Sie nennen, machen deutlich, dass es auch im Ausland keine steuerfreien Lösungen gibt und dass wir gut daran tun, die jetzige Regelung beizubehalten. Stellen Sie sich vor, Sie hätten 1998 zur Motivation Ihrer sich im Wahlkampf befindenden Partei Optionen auf einen Wahlsieg der CDU/CSU bei der Bundestagswahl erhalten: Diese Optionen wären heute nichts wert. Auch 1998 wären sie nichts wert gewesen. Aber Sie hätten schon bei der Gewährung dieser Optionen Steuern zahlen müssen. ({3}) - In dem vorliegenden Antrag wird immer noch dasselbe Problem beschrieben. Ich habe den Eindruck, dass Sie auf die Idee gekommen sind, mit höheren Steuereinnahmen das Haushaltsloch, das Sie uns hinterlassen haben, stopfen zu wollen. Diejenigen, denen geholfen werden soll, werden von dieser Regelung nicht profitieren. Denn eine Option auf die Zukunft ist natürlich immer mit einem Risiko verbunden; an dem soeben geschilderten Beispiel kann man das deutlich sehen. Wir wollen nicht, dass Mitarbeiter dieses Risiko tragen müssen und gleichzeitig auf Gehalt verzichten. Es gibt in alten und neuen Unternehmen gleichermaßen eine Reihe von Mitarbeitern, die sich darauf verlassen haben, dass ihre Optionen, die sie von ihrem Arbeitgeber erhalten haben, später etwas wert sind. Das ist nicht immer der Fall. Die Kurse sind ziemlich gesunken; die Optionen haben oftmals ihren Wert verloren. Die Gewährung von Aktienoptionen ist also für Mitarbeiter nicht immer automatisch ein gutes Geschäft. Sie birgt zudem das Risiko, dass diejenigen, die über kein hohes Einkommen verfügen, einen Teil ihres Einkommens verlieren, weil sie dafür Aktienoptionen erhalten, die ihnen keinen Gewinn bringen. Wir meinen, dass diese ungleiche Verteilung von Unternehmensrisiken nicht dadurch unterstützt werden sollte, dass wir dafür Steuergeschenke verteilen. Wer für sein Unternehmen eine solche Regelung treffen möchte, der kann das tun. An vielen Stellen hat sich die Ausgabe von Aktienoptionen, die materielle Beteiligung von Mitarbeitern am Erfolg ihres Unternehmens, bewährt. Wir unterstützen das. Aber wir meinen nicht, dass wir deswegen auf weitere Steuereinnahmen verzichten sollten und der Gesetzgeber verpflichtet ist, zu handeln, um seine Lenkungsfunktion wahrzunehmen. ({4}) Sie sagen, ein anderer Vorteil im Zusammenhang mit Aktienoptionen sei die Mitarbeitermotivation. Es gibt in unserem Land viele mittelständische Unternehmen, in denen Aktienoptionen nicht gewährt werden können, weil es sich bei diesen Unternehmen nicht um Aktiengesellschaften handelt oder keine Aktien ausgegeben werden können. Ich möchte nicht unterstellen - ich hoffe, das tun auch Sie nicht -, dass es dort keine motivierten Mitarbeiter gibt. Ich hoffe, dass Sie damit auch nicht meinen, dass dann, wenn die Kurse fallen, auch die Motivation sinkt. Das wäre für die deutsche Wirtschaft eine schwierige Situation und entspricht einfach nicht der Realität. Wir wollen mehr Chancen für eine materielle Teilhabe. Sie wissen, dass dieses Thema im Bündnis für Arbeit immer wieder aufgegriffen wird. ({5}) Wir wollen sicherstellen, dass eine der Grundlagen für das Modell der deutschen Marktwirtschaft, nämlich die Mitbestimmung, materiell ausgeweitet wird. Ob wir dafür allerdings Steuererleichterungen benötigen, das bezweifeln wir. Wir wollen andere Regelungen treffen, um Mitarbeiter zu beteiligen. Ich denke, dass die Modernisierung des deutschen Mitbestimmungsrechts ein erster Schritt war. ({6}) Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden uns diese Erneuerung danken. ({7}) Es ist schade, dass Sie sich daran nicht beteiligt haben. Dann wären solche Anträge, wie Sie sie heute stellen, mit Sicherheit glaubhafter. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Riesenhuber.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die Debatte kommt zu einem außerordentlich erfreulichen Zeitpunkt. Wir haben gestern dem „Tagesspiegel“ entnommen, dass die Bundesregierung beschlossen hat, dass dies die Wochen der Entscheidung sind. Der Kanzler will entscheiden. Wir haben gelernt, dass er sich jetzt als Macher präsentiert. Das finden wir gut. Wir bieten die Aktienoptionen als ein Thema zum gefälligen Gebrauch an. ({0}) Liebe Frau Hauer, vieles von dem, was Sie gesagt haben, war genauso anregend, wie es in Ihrer letzten Rede gewesen ist, die ich von Ihnen hören durfte. Ich darf versuchen, einige Punkte aufzuarbeiten. Wir sind uns nach wie vor einig - und es gibt, soweit ich es sehe, unter kundigen Leuten keinen Streit darüber -, dass dies ein ernstes Problem ist. Wir haben hier die Chance, mit Aktienoptionen sowohl den Unternehmern als auch den Mitarbeitern zusätzliche Möglichkeiten zu geben. Dies gilt speziell für Startups und technikorientierten Unternehmen. Nun bringen Sie den Einwand: Nicht alle sind Aktiengesellschaften, manche sind Mittelständler. - Sie wissen genau wie ich, dass dies auch bei nicht börsennotierten Aktiengesellschaften geht. Sie wissen, dass es Beteiligungsmodelle außerhalb der Aktien gibt, die man durchaus einbringen kann. Aber der spezielle Punkt, über den wir jetzt diskutieren, betrifft die Firmen, die sich beispielsweise im Neuen Markt engagiert haben, Firmen, die an technischen Ideen und der Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter, die sie entwickeln, verdienen. Diese Firmen sind eindeutig in der Situation, dass sie wegen unserer Besteuerung gegenüber anderen Ländern nicht konkurrenzfähig sind. ({1}) Nun sagen Sie, in den USA liege die Sache mit der Capital Gains Tax anders. Ich will das etwas verkürzen: Die Capital Gains Tax beträgt in den USA bis zu 20 Prozent. Bei uns liegt die Besteuerung, je nachdem, welchen Zeitpunkt Sie wählen, selbst nach dieser abominablen Steuerreform immer noch zwischen 45 und 50 Prozent. Zusätzlich zur Einkommensteuer gibt es noch den Solidaritätszuschlag. Manche von uns zahlen sogar Kirchensteuer. Was hieraus entsteht, ist ein erheblicher Unterschied in der Besteuerung. Die Frage, die hier ansteht, lautet: Wie kommen wir zu einer Situation, die uns sowohl in Bezug auf gute Mitarbeiter als auch in Bezug auf unseren Standort konkurrenzfähig macht? Unser Antrag - das hatten Sie in der letzten Debatte im Einzelnen kritisiert, heute haben Sie das nicht getan - hat sich wohlweislich nicht auf ein Modell festgelegt. Wir haben vielmehr die Ziele und die Kriterien des Problems so aufgearbeitet, dass man sich sein Modell auswählen und schneidern kann. Wir wollten vermeiden, dass man sich bei der Frage zerstreitet: Besteuern wir jetzt den Moment der Gewährung der Option oder der Ausübung der Option? Wir wollten vermeiden, dass man in eine theoretische Rabulistik über die faszinierende Frage eintritt, wo denn die Aktienoptionen zwischen Kapitalvermögenseinkünften einerseits und Lohneinkünften andererseits stehen. Über all diese faszinierenden Fragen kann man intellektuell über eine lange Zeit diskutieren. Uns aber geht es um Lösungen. Die Oberfinanzdirektion München hat ein wunderbares Konzept vorgeschlagen, das in Bayern gilt. Von Bayern lernen, heißt siegen lernen. Das weiß jeder. ({2}) Sie hat ein Modell vorgeschlagen, das offensichtlich innerhalb der seitherigen Gesetze funktional ist. Seit der letzten Debatte haben wir offenbar einen Fortschritt erreicht. Es ist einiges geschehen. Als wir unseren Antrag eingebracht haben, stand der Beschluss der Wirtschaftsministerkonferenz noch aus. Inzwischen hat sie beschlossen. Sie hat einstimmig beschlossen, dass die Situation bei der Besteuerung der Aktienoptionen verbessert werden soll, und zwar genau im Sinne des Antrags, den wir vorgelegt haben. Zusätzlich hat sie beschlossen, wie das geschehen soll. Einerseits sagt sie, wir sollten das über das Halbeinkünfteverfahren regeln - dies ist in anderen steuerlichen Zusammenhängen wohl etabliert -, andererseits sagt sie, wir sollten eine Wahlfreiheit über den Besteuerungszeitpunkt einführen. Inzwischen haben wir noch eine weitere Erkenntnis gewonnen. Der Bundesfinanzhof hat in seiner Souveränität schon vor dem angekündigten Zeitpunkt gesagt, dass er davon ausgeht, dass nur im Moment der Ausübung der Option besteuert werden kann. Damit ist die andere Hälfte der Möglichkeiten weg, es sei denn, wir würden uns, was wir dürfen, mit allen möglichen Leuten anlegen. Dies würde die Sache nicht beschleunigen. Wir brauchen aber schnelle Entscheidungen. Erfolgt die Besteuerung im Moment der Ausübung der Option, würde Folgendes passieren: Würde mit 50 Prozent besteuert - der Spitzensteuersatz kann hier schnell relevant werden -, müsste derjenige, der seine Option ausgeübt hat, einen Teil seiner Aktien - Sperrfristprobleme will ich gar nicht diskutieren - möglichst schnell verkaufen, um die Steuern überhaupt bezahlen zu können. Es wäre ein Witz, wenn man dann noch sagen würde, dass die Interessen des Unternehmens und die des Mitarbeiters identisch sind und dass der Mitarbeiter Teilhaber am Unternehmen ist. Dies könnte nicht mehr erreicht werden. Dieses Konzept ist also in sich widersinnig. Freunde, entschuldigen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren ({3}) - ich schätze die freundliche Verbundenheit in diesem intimen Kreis; ich sage aber nicht „Brüder und Schwestern“, sondern bleibe bei den „Freunden“ -, ({4}) was kann man in dieser Situation tun? Hierbei sollte man von erfahrenen Kollegen lernen. Es gab hier - jeder von uns weiß es - einen vorzüglichen wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD, nämlich unseren Freund Ernst Schwanhold. Derzeit ist er Landeswirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen. Er führt dort ein segensreiches Regiment. ({5}) Ernst Schwanhold hat in dieser Situation einen Vorschlag gemacht. Er sagt - dies hat er wenige Tage nach dem Urteil auf dessen Grundlage getan -, man solle so besteuern, als ob dies Kapitaleinkünfte seien, und zwar nach dem Halbeinkünfteverfahren. Dies ist wiederum eine Position, die mit der der Wirtschaftsministerkonferenz, die darüber am 1. und 2. März des vergangenen Jahres beraten hat, übereinstimmt. Sie steht übrigens auch in Übereinstimmung mit dem, was von den verschiedenen Verbänden im Laufe der Diskussion vertreten wurde. Wir stellen beglückt fest, dass sich die übergeordnete Weisheit der Union, in diesem Antrag Ziele und Kriterien festzustellen, sich aber nicht modellverliebt auf ein einzelnes Konzept zu kaprizieren, souverän bewährt hat. Es stellt sich jetzt in der Diskussion heraus, dass dieses Konzept rational, wohl begründet und sachlich handhabbar ist; auf diesem Konzept können wir aufbauen. ({6}) Lieber Herr Thiele, ich stelle mit Freuden fest, dass sich die Weitsichtigkeit der Liberalen hier wieder erwiesen hat. Der Kollege Solms hat dies in der ihm eigenen behutsamen Art in der letzten Debatte schon als eine mögliche Alternative zu bedenken gegeben. ({7}) Damit haben wir hier nicht nur eine gewisse sachliche Klärung - manchmal sind sachliche Klärungen bei politischen Entscheidungen ungemein hilfreich; nicht immer führt man sie durch -, ({8}) sondern auch einen Konsens bezüglich des Problems und dessen möglicher Lösung. Jetzt muss man es nur noch tun. Der jetzt vorliegende Vorschlag, das Halbeinkünfteverfahren anzuwenden und keine Wahlfreiheit mehr zuzulassen - dies entspricht der Empfehlung der Wirtschaftsministerkonferenz -, stimmt mit den Grundsätzen des Bundesfinanzhofes überein, passt steuersystematisch in die eingeführten Verfahren und entspricht dem Konsens zwischen dem Bundes- und den Landeswirtschaftsministern sowie den Vertretern - insbesondere den kundigen - aus den unterschiedlichen großen politischen Parteien. Offensichtlich können selbst die Verbände damit leben, was zwar nicht entscheidend, aber doch erfreulich ist zu wissen. Das heißt Folgendes: Die Sache ist reif zur Entscheidung. Nun gibt es hier besonders kluge Leute, die sagen, das sei heute überhaupt kein Problem mehr. Sie sagen: Schaut euch doch die Märkte an, die Kurse fallen und deswegen interessiert das keinen Menschen. - Schauen Sie in die Unternehmen und in die Betriebe. Die Unternehmen sind verdammt knapp an Geld und sie können nur überleben, wenn sie im Wettbewerb die besten Leute bekommen. Diese fragen nach wie vor nach den Aktienoptionen. Warum? Bei einer Firma, die einmal einen Kurs von 200 gesehen hat und jetzt bei 25 ist, denkt jeder, es müsse doch mit dem Teufel zugehen, wenn der Kurs bei einem Anziehen des Marktes nicht wieder steigt. Genau das ist der Geist, den man hier braucht. Manchmal schwirrt hier ein sehr pessimistischer Geist herum. Man wartet ab, bis sich die Konjunktur ändert, man wartet ab, was kommt, und will sehen, wie es sich entwickelt. Man braucht den Willen und die Freude am Erfolg. Die stolze SPD sprach einmal von „verliebt im Erfolg“. Heute denke ich eher an den heiligen Origines, der von der Akedia, der schwarzen Schwermut, dem Verzweifeln an der Güte Gottes, dem Glauben, dass man selbst nichts dafür tun kann, sprach, nicht aber von dem mutigen Unternehmungsgeist, das Seinige zu tun und dann auf Gottes Hilfe zu vertrauen. ({9}) Was jetzt hier ansteht, ist einerseits aus der Sicht der Unternehmen und ihrer Mitarbeiter eine faszinierende Chance, die sie nutzen wollen. Wir brauchen aber auch für den Markt eine Chance. Der Neue Markt ist in keinem erfreulichen Zustand. Jedes Signal, das hilfreich ist, ist ein gutes Signal. Deshalb, verehrte Frau Wolf, bin ich Ihnen so dankbar gewesen, dass Sie in der letzten Debatte gesagt haben, Überlegungen zu einer neuen Besteuerung von Fonds seien erledigt und vom Tisch. Das andere Signal mit der Wesentlichkeitsgrenze für Beteiligungen war ein schlechtes Signal, weil es die Business Angels völlig vergrämt hat, ohne das technisch auszuführen. Der Neue Markt und die jungen Unternehmen erwarten nicht, dass der Staat sie mit seiner Güte subventioniert und mit Subventionen glücklich macht. Sie erwarten, dass man sie konkurrenzfähig macht und ihnen Chancen gibt, in einer offenen Welt genauso gut zu arbeiten wie jede Konkurrenz an einem anderen Ort. ({10}) Sie erwarten, dass man sie nicht behindert. Was ist deshalb anzugehen? Wir haben eine reife Entscheidung. Wir brauchen die jungen Unternehmen, ihre Dynamik und ihren Technologietransfer jenseits jeder Bürokratie. Wir brauchen den Neuen Markt als Quelle von Eigenkapital, denn eine Eigenkapitalwirtschaft ist das, was in den kleinen und mittleren Unternehmen unter unseren Händen entstehen muss. Jetzt sind wir in der Situation: Wir sehen mit Freude, dass wir in einer Woche der Entscheidung sind. Der „Tagesspiegel“ hat es uns gesagt und die Bundesregierung hat es sich vorgenommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie bitte ein bisschen auf die Redezeit.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich, Frau Präsidentin, für diese Mahnung. Ich habe mich so sehr darauf konzentrieren müssen, nicht das Podium zu verlassen, dass ich die Zeit vergessen habe.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das ist ein sehr reger Vortrag.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben jetzt also die Woche der Entscheidung, wie wir gehört haben. Der Kanzler wird sich als Macher erweisen. Herbert Wehner sagte einmal über einen früheren SPD-Kanzler, er bade gerne lau. ({0}) Darüber habe ich kein Urteil und werde mich auch dessen enthalten. Ich würde mich aber freuen, wenn der Kanzler die Situation wahrnimmt, machtvoll dort zu entscheiden, wo sich alle einig sind und die Sache offensichtlich in Ordnung ist, weil jeder, der etwas davon versteht, mit Herzlichkeit und Begeisterung zustimmen kann, und zwar für eine strahlende Zukunft unseres Landes. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Riesenhuber, auch wenn ich nicht zu Ihren Freunden zähle, schätze ich doch den Unterhaltungswert Ihrer Beiträge. Nur - mit Verlaub -, der tatkräftige Kanzler wäre sehr schlecht beraten, wenn er in das Badewasser stiege, dass Sie ihm mit Ihrem Antrag bereitet haben, ({0}) weil dieses Badewasser nicht nur lau, sondern ganz kalt ist. Ich finde es faszinierend: Sie haben hier ein Plädoyer für die Unternehmen, die Aktienoptionen für Ihre Mitarbeiter brauchen, sowie für die jungen Unternehmen, die besonders darauf angewiesen sind, gehalten. Das können wir alles unterschreiben. ({1}) Das Problem ist, dass Sie hier den Eindruck erweckt haben, die Unternehmen seien im Moment daran gehindert. Das sind sie nicht, um das hier einmal ganz deutlich festzustellen. Sie können diese Aktienoptionen ausgeben. Es geht nur um die Frage, unter welchen Bedingungen die Mitarbeiter sie versteuern müssen. ({2}) Die Aktienoptionen selbst werden aber nicht verhindert. Sie haben hier mit Emphase gesagt: Wir brauchen Lösungen. Daraufhin habe ich noch einmal geprüft, ob ich bei der Vorbereitung auf diese Debatte Ihren Antrag irgendwie missverstanden habe, und mir ist aufgefallen: All das, was Sie hier skizziert haben, steht nicht im Antrag, sondern in dem Antrag stehen Kriterien und es steht darin, wir sollten einmal prüfen und wir sollten einmal sehen, wie es sonst in Europa ausschaut. Das ist alles schön und gut und lässt sich auch machen. ({3}) Nur, lieber Kollege Riesenhuber: Eine Lösung ist doch etwas anderes. Dann haben Sie noch gesagt: Wir wollen uns hier nicht in selbstverliebter Modellbastelei verlieren. ({4}) Nun ja, so sind aber Lösungen. Das sind dann doch die Mühen der Ebenen und es muss ein bisschen konkreter sein. Das ist genau das, was Ihr Antrag nicht bietet, weswegen wir auch gut beraten sind, ihn abzulehnen und schon gar nicht zu denken, das sei irgendetwas, was dem Kanzler bei seiner Tatkraft helfen könnte. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riesenhuber?

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochverehrte Frau Kollegin Fischer, würden Sie mir darin beistimmen, dass ich in einer konstruktiven Weiterentwicklung aus dem Dialog mit Ernst Schwanhold und anderen hervorragenden Leuten (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Jetzt lobt er noch einmal! zu einem Konzept gekommen bin, das diesen Antrag noch weiter konkretisiert, sodass das, was ich Ihnen jetzt hier zu Füßen gelegt habe, eine vorzügliche Grundlage dafür sein kann, dass der Bundeskanzler hier entscheidet und sich den Wirtschaftsministern und vielen anderen kundigen Leuten anschließt?

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Riesenhuber, auch wenn ich jetzt noch einmal genau sehe, was da auf dem Boden liegt: ({0}) Wir stimmen einfach nicht über Ihre Rede ab, sondern über den Antrag. ({1}) Es tut mir Leid. Selbst wenn Sie dem Antrag mit Ihrer Rede jetzt mehr Gehalt verleihen wollten, ändert das nichts am Inhalt des Antrags, und den habe ich gerade referiert. Der Antrag ist hier Gegenstand der Abstimmung. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie noch eine zweite Zwischenfrage? Damit ist es dann aber auch gut. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nachdem Sie mir hier liebenswürdigerweise angedeutet haben, dass Sie bei einer Abstimmung über meine Rede zustimmen könnten, ({0}) darf ich damit die Frage stellen, ob Sie selbst bei einer formalen Ablehnung meines Antrags, die ich hier in Demut hinzunehmen bereit bin, sich in der Lage sehen, das inhaltliche Konzept, auf das sich jetzt alle billig und gerecht Denkenden geeinigt haben, mit all Ihrer Kraft und dem Einfluss Ihrer starken Fraktion zu unterstützen?

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde es wirklich für ein Missverständnis Ihrerseits halten, wenn Sie meinen, ich hätte schon gesagt, ich würde Ihrem Konzept zustimmen. Ich habe zunächst einmal natürlich auf den formalen Vorgang hingewiesen und bemerkt, dass der CDU-Antrag - im Grunde haben Sie das in Ihrer Rede auch durchaus zugegeben - schon sagt, dass alles, was man bei der Besteuerung und der Veränderung macht, seine Tücken haben wird. ({0}) Das trifft auch auf das von Ihnen vorgeschlagene Halbeinkünfteverfahren aus einem anderen Jahr - daran sollten Sie sich gut erinnern - zu, das ist bekanntermaßen ebenfalls nicht ohne Tücken. Was ich von Ihnen gar nicht gehört habe, ist eine auch nur halbwegs irgendwie faktengesättigte Annahme darüber, wie viel Geld das die Länder, die das so vollmundig gefordert haben, kosten könnte, vom Bund ganz zu schweigen. Deswegen müssen Sie mir nachsehen, dass ich für den heutigen Tag auch Ihre Rede nicht für abstimmungsreif halte. ({1}) Ich will noch einmal sagen, warum: Ich glaube auch nicht, dass das Thema mit dem heutigen Tag, wenn wir diesen beklagenswert mageren Antrag der CDU abgelehnt haben, erledigt ist. ({2}) Wenn man über eine steuerliche Veränderung in diesem Bereich nachdenken will, muss man sich darüber im Klaren sein, dass eine Einigung über die Frage, wie man das behandelt, am Ende trotzdem nicht über das Risiko, das die Arbeitnehmer tragen, entscheidet. Das Risiko bleibt bei Aktienoptionen hoch. Alle diejenigen, die am Neuen Markt in den letzten Jahren darauf gesetzt haben, dass das eine sehr lohnenswerte Form der Entlohnung sein könnte, können inzwischen ein trauriges Lied davon singen. Das Risiko können wir übrigens über die Besteuerung auch nicht wirklich abbauen, gerade weil eben offen ist, was diese Aktienoptionen zum Zeitpunkt der Besteuerung wert sind. Das Zweite ist, dass wir gerade angesichts dieser Unsicherheit natürlich nicht sagen können, ob es kostenneutral ist. Das hat sehr viel damit zu tun, wann die Besteuerung erfolgt. Ich kann mir auch sehr starke zyklische Schwankungen vorstellen, je nachdem, wo der DAX und die anderen einschlägigen Indikatoren gerade stehen. Ich meine nicht, dass wir ein für alle Mal sagen können, dass wir die Frage der Besteuerung von Aktienoptionen nicht mehr aufgreifen müssen. ({3}) Ich meine aber trotzdem, dass der Handlungsdruck auch nach der Klarstellung durch den Bundesfinanzhof zurzeit nicht in der geforderten Form besteht ({4}) - na gut, dazu, warum wir Ihrem Antrag nicht zustimmen können, habe ich wirklich genug gesagt -, zumal ich der Meinung bin, dass auch das von Herrn Riesenhuber skizzenhaft aufgezeichnete Konzept nicht nur darauf geprüft werden müsste, welche finanziellen Folgen es hätte, sondern auch darauf, ob es sich in der Tat als so günstig erweisen würde, wie es von allen gewollt ist. Wir wollen ja - darin stimme ich Ihnen wiederum zu -, dass die Unternehmen über Aktienoptionen als Mittel verfügen, um bestimmte Mitarbeiter anzuziehen. ({5}) Außerdem wollen wir das auch, weil wir es für richtig halten, dass Arbeitnehmer am Produktivkapital beteiligt werden und weil diese Beteiligung der Mitarbeiter auch etwas für die Unternehmenskultur bedeutet. In diesen Punkten stimme ich Ihnen zu. Aber nicht alles, was wir für gut halten, müssen wir auch gleich steuerlich begünstigen. Es geht - das halte ich für eines der größten Probleme dabei - um die Frage der Ungleichbehandlung von verschiedenen Einkunftsarten und um die Frage von anderen Verwerfungen, die sich daraus ergeben würden, wenn wir diese von uns gewünschte Einkunftsart besonders gut behandeln würden, und um das uralte Problem, dass wir immer dann, wenn wir eine Sache für schön, gut und gerecht halten, sofort auf die Idee kommen, man müsse sie steuerlich begünstigen. Ich meine, dass wir uns das nicht mehr so leisten können, wie wir alle uns über viele Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt hatten. ({6}) Dementsprechend muss man mehr Vorsicht an den Tag legen, als Sie es getan haben. Abschließend möchte ich in Kenntnis Ihres Antrags noch eines anmerken. Sie selbst verweisen in Ihrem Antrag darauf, dass es gute Gründe gibt, bei dieser Besteuerung darüber nachzudenken, dass eine europäische Harmonisierung erforderlich ist. Deswegen stellt sich die Frage, ob wir gut beraten sind, mit einer nationalen Regelung vorzupreschen, oder ob es nicht besser direkt auf europäischer Ebene geregelt werden sollte. Danke sehr. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Riesenhuber, bei Ihren Ausführungen ist mir als einziges Positives hier deutlich geworden, warum eine Raummikrofonanlage überhaupt einen Sinn haben kann. Denn wie man so um das Pult herumgehen kann ({0}) und trotzdem verstanden wird, ist eine Kunst eigener Art. Ich habe das Raummikrofon immer für falsch gehalten. Aber Kompliment dafür, wie Sie es gemacht haben. ({1}) Frau Kollegin Fischer, es geht um den Antrag der CDU/CSU-Fraktion. - Auf unseren Antrag komme ich gleich zu sprechen. - Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen, der die steuerlichen Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter so verbessert, dass sowohl für die Unternehmen als auch die Mitarbeiter die Anreize zur Nutzung dieses Entlohnungsinstruments erhöht werden. Ich weiß nicht, warum diesem Antrag nicht zugestimmt werden kann. ({2}) Denn genau das ist es, was wir benötigen, Frau Kollegin Fischer. - Frau Präsidentin, sie hört nicht zu. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dafür habe ich leider keine Zwangsmittel, Herr Thiele. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber allein wenn Sie das Wort ergreifen, Frau Präsidentin, ist die Aufmerksamkeit schon um einiges erhöht, sogar bei der Kollegin Fischer, die ich auch noch persönlich angesprochen habe. Deshalb wiederhole ich es noch einmal: Schauen Sie sich den Antrag noch einmal an! Der ist so unverfänglich formuliert, dass meiner Ansicht nach sogar die Grünen zustimmen könnten, wenn sie guten Willens wären. Denn mit diesem Antrag sollen sowohl für diejenigen, die investieren und die Betriebe gründen, Möglichkeiten eröffnet werden, ohne viel Eigenkapital die Firma zu gründen, als auch für diejenigen, die in den Unternehmen beschäftigt sind, Miteigentümer der Betriebe zu werden. Ich habe ein Schreiben der Deutschen Industrievereinigung Biotechnologie zu dieser Debatte über den Antrag - auch den der FDP-Fraktion - bekommen, in dem es heißt: Gerade für junge Wachstumsunternehmen aus der Biotechnologie und anderen Hochtechnologiefeldern erweisen sich die derzeit in Deutschland geltenden steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für Mitarbeiteraktienoptionen im weltweiten TechnologieAndrea Fischer ({0}) wettbewerb als äußerst nachteilig. Denn die Gewinnung, Motivation und Bindung der Mitarbeiter ist für diese Unternehmen von großer Bedeutung. Besonders wichtig ist dabei die Partizipierung der Mitarbeiter am Unternehmenserfolg. ... Bei Biotechnologieunternehmen werden üblicherweise alle Mitarbeiter in die Aktienoptionsprogramme einbezogen - also nicht nur das „Top-Management“. Frau Hauer, ich habe Ihre Rede gehört und auch Ihre Rede vom März letzten Jahres nachgelesen. Seinerzeit hatten Sie darauf hingewiesen, dass Sie dieses Thema in das Bündnis für Arbeit einbringen wollten, das die Probleme dann lösen werde. Das funktioniert überhaupt nicht. Erstens ist im Bündnis für Arbeit hierzu keine Lösung gefunden worden. Möglicherweise wurde die Lösungssuche auch nicht ernsthaft genug betrieben. Zweitens. Wer als Parlamentarier seine eigenen parlamentarischen Rechte an ein außerhalb des Parlaments stehendes Gremium in der Hoffnung abgibt, dort würden die Lösungen gefunden werden, die wir hier zu finden haben, hat ein Großteil seiner Abgeordnetentätigkeit leider überhaupt nicht verstanden. Hier tätig zu werden ist Aufgabe der gewählten Volksvertreter. ({1}) Der Antrag, den die FDP gestellt hat, ist sehr konkret. Über ihn kann direkt abgestimmt werden. In ihm geht es um den Aktientausch. Das heißt, die Aktien einer Aktiengesellschaft werden im Wege eines Aktientausches erworben, wie es bei Vodafone und Mannesmann geschehen ist. Nach heutiger Rechtslage hat dies zur Folge, dass ein fiktiver Veräußerungsgewinn auf den Bestand der Aktien besteuert wird, den der Einzelne hält, und bei den neuen Aktien, die er dafür erhält, die Spekulationsfrist erneut einsetzt. Insoweit haben wir hier eine Form der Doppelbesteuerung, die auch nicht im Sinne des Fiskus sein kann. Deshalb fordern wir als FDP, ganz konkret auf diese Doppelbesteuerung zu verzichten, um hier die Möglichkeit zu eröffnen, die der Kapitalmarkt nicht nur bei der Veräußerung von Unternehmen gegen Bares und mit entsprechendem Anteil bei den Aktieninhabern, sondern eben auch auf dem Wege des Tausches bietet. Diese Möglichkeiten brauchen junge Unternehmen, Start-up-Unternehmen, bei denen jeweils die Steuer zuschlägt, wenn es zum Aktientausch kommt. Wer so etwas sieht, denkt darüber nach, ob er sein Unternehmen in Deutschland gründet oder in ein anderes Land geht, nach Belgien, in die Vereinigten Staaten oder in andere Länder, die erheblich günstigere Bedingungen haben. Warum man aus kleinkariertem, rein fiskalischem Denken daran festhält, diese Unternehmen zu besteuern, damit Geld in die Staatskasse kommt, ist vollkommen unverständlich. So denkt sich Klein Hänschen die Welt, aber so funktioniert sie nicht. Wir brauchen Menschen, die hier investieren. Dazu benötigen wir für die Unternehmen und deren Mitarbeiter die entsprechenden Rahmenbedingungen. Insofern bedeutet leider auch in der Frage der Stock Options und des Aktientausches diese rot-grüne Wahlperiode vier Jahre verlorene Zeit für den Standort Deutschland. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am bemerkenswertesten fand ich an Ihrer Rede, Herr Riesenhuber, dass Sie so getan haben, als hätte die CDU/CSU ein in sich geschlossenes Steuerkonzept, mit dem sie sofort loslegen würde. In den letzten Tagen waren verschiedene Äußerungen zu lesen. Unter anderem wurde die Verschärfung der Besteuerung großer Konzerne gefordert. Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Sie versprechen viel, was in sich sehr widersprüchlich ist; dies zeigt auch der heute vorliegende Antrag. Mit Ihrem Antrag versuchen Sie, der Öffentlichkeit einen Bären aufzubinden, denn Sie tun so, als würden Aktienoptionen heute so wie alle anderen Einkünfte besteuert werden. Dem ist aber nicht so. Das ist also eine Auskunft wider besseres Wissen. Der Bundestag hat, wenn auch gegen die Stimmen der PDS, im vergangenen Jahr eine Unternehmensteuerreform verabschiedet, in deren Folge Unternehmensgewinne deutlich niedriger als Löhne und Gehälter besteuert werden. ({0}) Sie wollen mit Ihrem Antrag in die Wege leiten, dass Aktienoptionen noch niedriger besteuert werden. Hier ist von einer Gleichmäßigkeit der Besteuerung nichts zu bemerken. Vielmehr soll ein bestehendes Steuerprivileg noch stärker ausgebaut werden. ({1}) Es wurde argumentiert, dass dies wegen der Entwicklung der Unternehmen des Neuen Marktes notwendig sei. Wenn man sich aber die reale Entwicklung genau ansieht, dann stellt man fest, dass nur ein Bruchteil der Unternehmen des Neuen Marktes große Gewinne erzielt hat. Aber dem rasanten Aufstieg folgte ein rasanter Fall. Das liegt daran, dass Aktien oft nicht den wahren Wert eines Unternehmens widerspiegeln. Sie werden von vielen Faktoren beeinflusst. Eines hat die jüngste Vergangenheit auch gelehrt: Die Manager der entsprechenden Unternehmen konnten in der Vergangenheit - oftmals durch betrügerische Aktivitäten - rechtzeitig vor dem Sinken der Börsenkurse große Aktienpakete verkaufen, wodurch sich der Druck auf die Aktien des eigenen Unternehmens noch verschärfte. Diese Manager sind aus der Sache gut herausgekommen. Aber die Mitarbeiter, die sich für die Aktienoption entschieden hatten, blieben mit Verlust auf ihren Aktienoptionen sitzen. Hieran zeigt sich, dass es dumm wäre, Löhne und Gehälter der Gefahr von Spekulation und Betrug auszusetzen. Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich freiwillig für Aktienoptionen entscheiden, dann haben sie auch das Risiko zu tragen. Sie genießen schon heute entsprechende steuerliche Vergünstigungen. Aber einen weiteren Ausbau der steuerlichen Vergünstigungen werden wir von der PDS nicht unterstützen. ({2}) Wir meinen, Löhne und Gehälter sollen nicht der Gefahr von Spekulation und Betrug ausgesetzt werden; denn das würde letztlich auf einen Lohn- und Gehaltsraub hinauslaufen. Da meine Redezeit sehr begrenzt ist, möchte ich zum Schluss nur noch ganz kurz auf den FDP-Antrag eingehen. Herr Thiele, auch auf den Antrag Ihrer Fraktion trifft das zu, was ich gerade gesagt habe. Es ist doch schon beschlossen worden, dass Spekulationsgewinne nur noch zur Hälfte besteuert werden. Herr Mundorf hat in der gestrigen Ausgabe des „Handelsblatts“ - das ist wahrlich keine sozialistische Zeitung - festgestellt, dass Deutschland eine heimliche Steueroase sei, weil Zuwächse bei den Privatvermögen steuerlich fast gar nicht mehr erfasst würden. Mit Ihrem Antrag wollen Sie dafür sorgen, dass Deutschland auch in Zukunft eine Steueroase bleibt. Wir sollten nicht vergessen, dass auch die öffentliche Hand Geld benötigt. Gerade die PISA-Studie hat deutlich gemacht, dass es notwendig ist, in öffentliche Bereiche, insbesondere in die Bildung, zu investieren. Wenn aber der Staat keine Einnahmen mehr hat, wie soll er dann diese notwendigen Investitionen tätigen? Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/8150 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Steuerliche Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter ({0}) verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5318 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/6398 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Steuer beim Aktientausch“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3009 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Stiftungsrechts - Drucksache 14/8277 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll, ebenso wie mit dem gleich lautenden Regierungsentwurf vom 6. Februar dieses Jahres, das Stiftungsprivatrecht modernisiert werden. Das Stiftungswesen in Deutschland ist - das wissen wir - vielfältig. Stiftungen entfalten wertvolle Aktivitäten in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Damit werden ungemein wichtige Aufgaben erfüllt, die die öffentliche Hand oft gar nicht so leisten könnte. Das gilt gerade für den Sozialbereich sowie für Bildung und Forschung, aber auch für den kulturellen Bereich. Mit einer Reform des Stiftungsrechts wollen wir dieses bürgerschaftliche Engagement nachdrücklich unterstützen und Bürokratie abbauen. Zu einer Förderung der Stiftungskultur in Deutschland gehört auch ein modernes Stiftungsrecht. Die steuerlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen haben wir bereits mit dem Gesetz vom 14. Juli 2000 verbessert. Diese Reform hat mit dazu beigetragen, dass sich das Stiftungswesen in einer regelrechten Aufbruchstimmung befindet. Ich darf das an einigen Zahlen erläutern. Die Zahl der Neugründungen ist in den letzten Jahren ständig gestiegen. Wurden im Jahr 1998 noch 505 privatrechtliche Stiftungen errichtet, so waren es im Jahr 2000 schon 681. Nach aller Voraussicht wird in diesem Jahr die Zahl der Stiftungen die 10 000er-Grenze überschreiten. ({0}) Nach der Reform im steuerlichen Bereich richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf die Modernisierung des Stiftungsprivatrechts. Es geht im Kern darum, das Verfahren zur Errichtung von Stiftungen bürgerlichen Rechts einfacher zu gestalten, damit auch zu beschleunigen und einen gesetzlich ausdrücklich bestimmten Rechtsanspruch auf Anerkennung der Rechtsfähigkeit einer Stiftung einzuführen. Den Schwerpunkt des Entwurfs bilden die folgenden vier Punkte, die im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt werden sollen: Erstens. Der Entwurf enthält erstmals ein ausdrückliches Recht auf Stiftung. Im Bürgerlichen Gesetzbuch wird festgeschrieben, dass der Stifter einen Rechtsanspruch darauf hat, dass die Stiftung als rechtsfähig anerkannt wird, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Zweitens. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der Stiftung werden im Entwurf abschließend und - das füge ich mit Bedacht hinzu - erstmals bundeseinheitlich geregelt. ({1}) Dabei geht der Gesetzentwurf von dem Ansatz aus, die Stifterfreiheit wesentlich zu stärken. Deshalb werden die obligatorischen Anforderungen an das Stiftungsgeschäft und die Stiftungssatzung auf ein unverzichtbares Minimum reduziert. Drittens. Der Gesetzentwurf schreibt erstmals ausdrücklich fest, dass Stiftungen zu jedem gemeinwohlkonformen Zweck errichtet werden können. Das entspricht auch der allgemein anerkannten Rechtslage. Ich finde es richtig, dass man hierbei nicht von vornherein Einschränkungen macht. Wenn dem Gesetzgeber eine Stiftung besonders wertvoll ist, dann kann er das im steuerlichen Bereich honorieren. Das materielle Stiftungsrecht dagegen sollte aus unserer Sicht neutral sein. Viertens. Um den Grundsatz der Stiftungsfreiheit auch sprachlich deutlich zu machen, wurde der Begriff „Genehmigung der Stiftung“ durch den Begriff „Anerkennung der Stiftung“ ersetzt. Das ist nicht nur eine Änderung des Wortlauts - das wäre relativ einfach -, sondern das zeigt auch, dass der Gesetzgeber einen neuen Ausgangspunkt festlegt. Man wendet sich von der obrigkeitsrechtlichen Sicht der Dinge ab und einer fördernden und bürgernahen Sicht zu. ({2}) Wesentliche Voraussetzungen für eine Modernisierung des Stiftungsprivatrechts hat die Arbeitsgruppe der Länder und des Bundes zum Thema Stiftungsrecht erarbeitet. Das möchte ich hier noch einmal ausdrücklich anerkennen. Diese Arbeitsgruppe war von der Bundesministerin der Justiz, Frau Professor Däubler-Gmelin, einberufen worden. Sie sollte den Reformbedarf untersuchen. Sie wissen aufgrund des Berichts dieser Bund-Länder-Arbeitsgruppe, dass die Bestandsaufnahme ausgesprochen gut und gründlich war. Auch das Stiftungsrecht anderer Staaten ist ausgewertet worden. Erstmals hatten wir nun eine sichere Grundlage, um die einschlägigen Fragen beantworten zu können. Hier sind insbesondere die Sachkunde und die Hilfe der Verbände, die sich mit Stiftungen beschäftigen - ich will sie an dieser Stelle ausdrücklich als kooperativ und hilfreich bezeichnen -, zu erwähnen. ({3}) Auch andere, etwa Wissenschaftler, Rechtsanwälte, Notare und Richter, haben ihren Beitrag geleistet. Die Ergebnisse des Abschlussberichtes vom Oktober letzten Jahres sind in die Vorschläge für die Bundesgesetzgebung und für die Verwaltungspraxis der Länder - auch sie muss noch angesprochen werden - eingeflossen. Die Vorschläge der Kommission für die Gesetzgebung des Bundes werden nun durch den Regierungsentwurf und den heute zur Debatte stehenden Koalitionsentwurf zügig umgesetzt. Weitere Möglichkeiten zur Umsetzung liegen auch bei den Ländern. Ich hoffe, dass es bei den Ländern entsprechende Folgeschritte geben wird. Ich bin zuversichtlich, dass wir es mithilfe aller Fraktionen schaffen können, noch in dieser Legislaturperiode auch das materielle Stiftungsrecht neu zu ordnen. Das ist zwar kein revolutionärer Schritt; ({4}) aber nach 100 Jahren war es in der Tat an der Zeit, das Stiftungsrecht zu modernisieren. Ich wünsche mir, dass alle Fraktionen dieses Hohen Hauses dabei aktiv mitarbeiten. Vielen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten für die CDU/CSUFraktion. (Alfred Hartenbach [SPD]: Wolfgang, staatstragend!

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf kann die jahrelange fruchtbare Diskussion über die Erleichterung der Errichtung von Stiftungen und die Ermunterung, solche Stiftungen für gemeinnützige Zwecke zu gründen, noch in dieser Legislaturperiode ihren Abschluss finden. Es hat zwar etwas länger gedauert, bis aus den einzelnen Vorlagen etwas Gemeinsames wurde. Ich erinnere an den Gesetzentwurf der Grünen vom 1. Dezember 1997, an den Gesetzentwurf der FDP vom 28. Januar 1999, an den Gesetzesantrag des Landes Hessen vom 20. Dezember 1999 im Bundesrat, an den Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 9. November 1999, an den Gesetzesantrag der Länder Baden-Württemberg, Bayern, Saarland und Thüringen vom 19. April 2000, an die Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission, an den neuen Entwurf der FDP vom 4. April 2001 und schließlich - spät, Herr Kollege, aber nicht zu spät - an den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen von diesem Monat. Bei aller Unterschiedlichkeit der Intentionen und auch der Überlegungen beinhalten alle Gesetzentwürfe das Ziel, dafür zu sorgen, dass ein Stifter einen Anspruch auf Genehmigung oder Anerkennung einer Stiftung hat und dass bei Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen ein Anspruch darauf besteht, und zwar ohne Ermessensspielraum. Damit sollte und wird die privatrechtliche Stiftung die Rechtsfähigkeit nicht durch eine behördliche Genehmigung erlangen, sondern schlichtweg durch eine Anerkennung, auf die ein Anspruch besteht. Das ist in der Tat etwas anderes. Die teilweise erhobenen Forderungen nach einem einheitlichen Bundesstiftungsrecht, das den Ländern die Kompetenzen entzogen hätte, sind zu Recht fallen gelassen worden. Die Länderkompetenzen haben sich dort bewährt, wo von den Landesregierungen vernünftige Behörden dafür eingesetzt wurden. Daher wurde die Forderung, für die Anerkennung und Aufsicht zuständige Landesstiftungskammern oder eine Bundesstiftungskammer einzurichten, meiner Ansicht nach zu Recht fallen gelassen, weil sie nur neue, unnötige behördenähnliche Apparate, die von Stiftungen wiederum durch eine Zwangsmitgliedschaft zu finanzieren gewesen wären, erforderlich gemacht hätten. Lassen Sie mich am Rande sagen - ich habe das schon einmal in einer Diskussion zum Ausdruck gebracht -: Ich hätte der Errichtung einer Bundesstiftungskammer nur dann zugestimmt, wenn ich gleichzeitig zu ihrem Präsidenten designiert gewesen wäre. ({0}) - Sie sehen: Wir haben es nicht gemacht. Das war vielleicht ganz gut. So hat sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Rahmenbedingungen für Stiftungen geeinigt, deren Ziel es ist, neue Impulse für das gemeinwohlorientierte Stiftungswesen zu setzen, ohne diese Stiftungen, wie viele gern gesehen hätten, mit Präferenzen für das Kulturwesen auszustatten. Angesichts der Fülle der Gesetze, die auf den Bürger herniederkommen, ist es auch richtig gewesen - dazu stehe ich -, kein eigenes Stiftungsgesetz vorzulegen, sondern aus den Vorlagen der verschiedenen Parteien und Gruppierungen in Bund und Ländern die klarsten und deutlichsten Formulierungen zu übernehmen und in wenigen, geänderten Paragraphen in das BGB einzubringen. Kurz und knapp wurden die bestehenden neun Paragraphen geändert. Sie wurden dorthin gebracht, wo sie hingehören, unter anderem auch in die Nähe des Vereinsrechts, das auch weiterhin durch Verweisungen herangezogen werden wird. Dabei halte ich es für wichtig und richtig - die für Kultur zuständigen Kollegen mögen mir dies verzeihen; ich will die Kompetenz der anderen Kollegen nicht infrage stellen -, dass die Diskussionen insbesondere im Rechtsausschuss, also dort, wo sie hingehören, geführt werden. Auch können kaum Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, dass die Stiftungsregelungen zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes gehören und eine bundeseinheitliche Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz zu bejahen ist, weil ein einheitlicher Rahmen für die Stiftung der Zukunft geboten ist. Dazu gehört insbesondere - um es zu wiederholen - der Rechtsanspruch des Stifters, dass die Stiftung als rechtsfähig anerkannt werden muss, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen. Dies ist richtigerweise bundeseinheitlich in § 80 Abs. 2 BGB verankert worden. Damit ist dann auch der Streit zu Ende, ob - Herr Pick hat bereits darauf hingewiesen - die herrschende Meinung richtig ist, dass bereits nach dem geltenden Recht ein Anspruch auf Genehmigung zuerkannt wurde. Somit dient die jetzige Regelung der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. In den Beratungen sollte die Bedeutung des § 80 Abs. 2 im Übrigen noch konkretisiert werden. Der Halbsatz: „die dauernde nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert ist und die Stiftung das Gemeinwohl nicht gefährdet“ sollte klarer gefasst werden. Was ist unter dauernder nachhaltiger Erfüllung des Stiftungszwecks zu verstehen? Ein Ewigkeitscharakter kann auch einer auf unbegrenzte Dauer angelegten Stiftung nicht zukommen und es kann beim besten Willen nicht geprüft werden, ob eine heute ins Leben gerufene Stiftung in zehn, 50 oder 100 Jahren noch nachhaltig die Erfüllung des Stiftungszweckes absichert. Wenn sie darin steht, dass eine Stiftung auch auf Zweckerfüllung gerichtet sein kann und mit der Zweckerfüllung endet, sollte dies auch im Gesetz seinen Niederschlag finden. Der Rechtsanspruch auf Anerkennung wird bedenklich wieder in den Ermessensspielraum von Genehmigungen „herabgezont“, wenn die zuständige Behörde zu prüfen berechtigt ist, ob die Vermögensausstattung für die dauernde und nachhaltige Erfüllung ausreicht, und daneben auch noch in die Prüfung einbezieht, ob weiter ausreichende Zustiftungen bzw. Zuwendungen die Nachhaltigkeit für die Zukunft sozusagen garantieren. Hierdurch würde unter Umständen der Willkür bei der Anerkennung Tür und Tor geöffnet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Stifter hinterlässt eine Verfügung von Todes wegen, mit der eine Stiftung errichtet wird, um ein Denkmal zu initiieren, und stattet diese Stiftung mit 20 000 Euro aus. Es kann nun nicht Aufgabe der zuständigen Behörde sein, die Anerkennung der Stiftung davon abhängig zu machen, dass die Testamentsvollstrecker oder Stiftungsvorstände Pläne mit Kostenvoranschlägen etc. zur Anerkennung vorlegen. Für den Fall, dass das Geld für dieses Denkmal nicht ausreicht und Zustiftungen nicht möglich sind, haben wir die Bestimmung des § 87 BGB, nach der die zuständige Behörde der Stiftung eine andere Zweckbestimmung geben oder sie sogar aufheben kann. Diese Berechtigung hat sich nicht geändert, sodass auch eine Stiftung, die satzungsgemäß ihr Stiftungsvermögen verbrauchen kann, anzuerkennen ist, und zwar unabhängig davon, ob ein Beamter oder zuständiger Sachbearbeiter nachzuprüfen oder nachzurechnen hat, wie lange eine Stiftung etwa mit 100 000 Euro existieren kann. Wird die Stiftung vermögenslos, ist wiederum nach § 87 Abs. 1 BGB zu verfahren. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Pick, ich wäre dankbar, wenn wir uns in den Berichterstattergesprächen um eine wohl letztlich auch von Ihnen gewünschte klare Formulierung bemühten; denn wir alle sind wohl der Auffassung, dass die Stiftungen erleichtert und nicht erschwert werden sollen und insbesondere deren Errichtung beschleunigt werden soll. Lassen Sie mich auch sagen: Wir in Baden-Württemberg hätten keiner Regelung bedurft, weil die dort zuständigen Behörden, die Regierungspräsidien, kurze und schnelle Entscheidungen treffen. Wir wollen natürlich nicht, dass sich diese gute Praxis durch ein neues Gesetz ändert. ({1}) Ich habe gehört, dass die Praxis in anderen Ländern nicht so einfach gewesen ist. Dort ist bei den Entscheidungen ein Stau von bis zu einem Jahr möglich gewesen. Mit diesen meiner Ansicht nach notwendigen Verbesserungen wird auch die Stiftung von mehreren Personen, auch von juristischen Personen, die im Übrigen bisher längst möglich war und heute mit dem Schlagwort „Bürgerstiftungen“ in Verbindung gebracht wird, erleichtert; denn bei einer Bürgerstiftung sind die Anfangseinlagen häufig relativ gering und es sollen erst durch Publicity einer solchen Bürgerstiftung neue Stifter gewonnen werden. Auch hier darf nicht ein Sachbearbeiter die Erfolgsaussicht einer solchen Stiftung gegebenenfalls gar unter weltanschaulichen oder parteipolitischen Aspekten prüfen. Auch hier gilt, dass eine Bürgerstiftung, die ihren Zweck mangels Masse oder mangels Objekt nicht erfüllen kann, entsprechend umzuwandeln oder zu löschen ist. Zu Recht hat man sich auch nicht auf das Glatteis begeben, für die unterschiedlichen Stiftungen gemeinnütziger oder nicht gemeinnütziger Art verschiedene Voraussetzungen im Gesetzentwurf zu verlangen. Vielmehr ist letztlich der Anspruch auf Anerkennung gegeben, wenn das Gemeinwohl nicht gefährdet ist. Dadurch sind nach wie vor Unternehmensstiftungen, Familienstiftungen und andere Formen möglich. Sie werden richtigerweise über das Steuerrecht in gemeinnützige, teilgemeinnützige und nicht gemeinnützige Stiftungen unterteilt. Insoweit hat das im März 2000 verabschiedete Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen bereits Erfolge gezeitigt. Die Zahlen, die Herr Pick vorgelegt hat, sind ja beeindruckend. Einen Anschub für Stiftungsgründungen hat auch die Tatsache bewirkt, dass Zuwendungen bis zu einem Betrag von 20 450 Euro vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden können. Darüber, ob diese Höhe richtig ist und endgültig so bleiben sollte, kann man sicher diskutieren. Vielleicht sollte man auch darüber diskutieren, ob dieser Betrag bei Zuwendungen an zwei Stiftungen erhöht werden kann, damit nicht nur eine oder wenige populäre Stiftungen alles Geld bekommen, sondern auch viele andere Stiftungen in den Genuss von Zuwendungen kommen. Eins wollte ich auch noch einmal wiederholen, weil immer wieder gesagt wird, man stifte nur Steuern. Das ist natürlich nicht der Fall. Wer 20 000 Euro stiftet, muss diese 20 000 Euro erst einmal netto verdient haben. Dafür sind, wenn ich richtig gerechnet habe und vereinfacht einen Steuersatz von 50 Prozent zugrunde lege, 40 000 Euro zu verdienen. ({2}) - Sie sind noch dicke da. Lieber Alfred Hartenbach, du verwechselst Firmen und Privatpersonen. Ich rede von Privatpersonen. ({3}) - Streiten wir uns nicht. Ich habe jetzt aus Vereinfachungsgründen 50 Prozent zugrunde gelegt; ich würde mich freuen, wenn es weniger wären. Wenn ich also die 40 000 Euro zugrunde lege, dann wurden davon schon einmal 20 000 Euro an Steuern gezahlt. Stifte ich nun die anderen 20 000 Euro, dann kann ich von dem zu versteuernden Einkommen 20 000 Euro abziehen, zahle also 10 000 Euro weniger Steuern. Um also 20 000 Euro zu stiften, muss ich 30 000 Euro brutto verdient haben und habe davon hinterher nichts mehr. Man muss also dazu sagen, dass es sich hierbei nicht um eine Steuerersparnis im eigentlichen Sinne handelt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege von Stetten, Sie müssten jetzt bitte zum Schluss kommen. ({0})

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich am Ende, Frau Präsidentin. Wenn wir - davon bin ich überzeugt - zu einem guten Ergebnis kommen, haben wir eine bereits vom 44. Deutschen Juristentag 1968 geforderte Reform durchgeführt, indem wir die Vorschläge der dafür eingesetzten Steuerkommission teilweise in Normen gegossen haben. Ich hoffe, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen, damit das Gesetz noch in dieser Periode beschlossen werden kann. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Antje Vollmer für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stiftungsdebatten sind wirklich sehr schöne Debatten. Erstens kann man feststellen, dass sie auf Konsens abzielen, zweitens kann man in der Regel feststellen, dass die Laune bei ihnen gut ist, und drittens gibt es gerade bei den Stiftungsdebatten manchmal ganz ungewöhnliche Lösungsvorschläge. Selten ist ein Gesetzesvorschlag im Bundesrat sogar noch materiell verbessert worden. Das war bei der letzten Beratung dieses Gesetzes im steuerrechtlichen Teil der Fall. So haben dann alle das Gefühl, an einer guten Sache beteiligt zu sein. So habe ich auch die Rede des Kollegen von Stetten als sehr konstruktiv empfunden und freue mich über seine Unterstützung. Es ist also ein gutes Ergebnis parlamentarischer Arbeit. Gerade die Reform des Stiftungsrechtes - darauf sind wir stolz - ist ein Kernbestandteil rot-grüner Regierungstätigkeit. ({0}) Hier kommt aber nicht nur rot-grüne Regierungstätigkeit und rot-grünes Parlamentsverständnis zum Ausdruck, sondern vor allen Dingen das rot-grüne Verständnis von der Potenz der Bürgergesellschaft. Wenn man ihr nämlich Chancen zur Entfaltung gibt, dann wird sie diese Chancen auch ergreifen. Langsam erholt sich das Stiftungswesen hierzulande. Es wurde schon gesagt: Ende 2000 gab es immerhin schon wieder 9 700 Stiftungen in der Bundesrepublik. Ich war gerade auf einem Fundraising-Kongress; auch da wurde davon gesprochen, dass es schon über 10 000 seien und allein im letzten Jahr 1 000 neue Stiftungen entstanden seien. Wenn ich daran denke, was man damals hier darüber gesagt hat, dann muss ich festhalten: Wir haben erfolgreich agiert und aus der Mitte der Gesellschaft heraus ist erfolgreich geantwortet worden. ({1}) Für mich persönlich ist das ein wunderbarer Abschluss eines Prozesses, an dem ich fünf Jahre sehr intensiv gearbeitet habe. Es ging vor allen Dingen darum, das Stiftungswesen aus dem Elfenbeinturm der Gesellschaft zu entlassen und das Verständnis in der Gesellschaft für Stiftungen und Stifter und dafür, dass sie das tun dürfen, was sie tun wollen, zu entwickeln. Die Förderung der Stiftungen hat auch - das ist uns besonders wichtig - zu einer überraschenden Zahl von Bürgerstiftungen geführt. Im Sommer 2001 vermerkte der Bundesverband Deutscher Stiftungen in diesem Bereich die Überschreitung der Hundertermarke. Das zeigt, dass die Stiftungen nicht nur für die Gemeinschaft angelegt sind, sondern nun auch verstärkt von ihr, von neuen Gemeinschaften, errichtet werden. Das ist keineswegs ganz einfach; denn diese Bürgerstiftungen verzichten auf etwas, was die Einzelstifter haben: auf ihren eigenen Namen, auf die individuelle Handschrift. Sie finden sich häufig in Kommunen zusammen, um für die Kommune etwas Dauerhaftes im sozialen Bereich, im Jugendbereich oder im Kulturbereich zu schaffen. Deswegen ist es wichtig, dass nicht nur die Rechtspolitiker, sondern auch die Kulturpolitiker darüber mit entscheiden und mit bestimmen. Angesichts der Schwierigkeiten in der Theaterlandschaft in der Bundesrepublik muss man feststellen, dass gerade Bürgerstiftungen eine ideale Grundlage zur Sicherung der Theater wären, die immer wieder gefährdet sind. Es gibt eine Reihe weiterer Möglichkeiten, dieses Instrument in der Gesellschaft zum Nutzen der Kommunen weiterzuentwickeln, zum Beispiel auch zur Unterstützung von Museen, das heißt genau in den Bereichen, von denen wir alle wissen, dass sie teuer sind, dass sie aber auch frei sein und die Freiheit haben müssen, Durststrecken zu überwinden. Gerade dafür sind die Bürgerstiftungen ein wunderbares Instrument. ({2}) Alles blüht und gedeiht aufs Schönste. Aber nun haben wir uns auch noch, was man uns gar nicht zugetraut hatte, des zweiten Teils, nämlich der zivilrechtlichen Seite des Stiftungsrechtes, angenommen, und sei es nur, damit wir die Ehre haben, den ganzen Prozess und nicht nur den steuerrechtlichen Teil abgeschlossen zu haben. Ich finde diesen Abschluss wichtig, weil wir damit auf eine lange Praxiserfahrung reagieren. Dieser zweite Teil des Prozesses war durchaus schwierig, weil er nur zusammen mit den Ländern gestaltet werden konnte. Sie wissen - jedenfalls die, die an den internen Debatten teilgenommen haben -, dass es in den Ländern zunächst keine große Bereitschaft dazu gab, da das Stiftungsrecht eines der liebsten Kinder der Länder war. Bis die Länder bereit waren, sich auf eine bundeseinheitliche Regelung einzulassen, bedurfte es einer langen Diskussion. Das Bundesjustizministerium hat dafür gesorgt, dass diese Debatte stattfinden konnte. Schließlich sind wir zu einer guten Regelung gekommen, und zwar zu einer - das muss ich nun doch sagen -, die weit über das hinausgeht, was die FDP mit ihren sehr waghalsigen drei Vorschlägen, die in einigen Zeitungsartikeln sofort kritisch unter die Lupe genommen worden sind, angekündigt hatte. Wer also die Länder mit im Boot haben will, muss mit ihnen sprechen. ({3}) Man spürt auch in der Debatte in diesem Hause, dass mit den Ländern gesprochen worden ist. Der Gesetzentwurf enthält vier Neuregelungen: Erstens. Wir haben jetzt das, was es zunächst gar nicht geben sollte, nämlich das Recht auf Stiftung. Das heißt, wir nehmen in der Sache Abschied vom Konzessionsgedanken, von dem obrigkeitlichen Gedanken, dass der Staat für den Prozess des Stiftungserlasses sein Gütesiegel geben muss. Was eine gemeinnützige Stiftung ist - Sie haben das richtig gesagt -, kann man über das Steuerrecht klären; man muss es aber nicht im Akt der Einrichtung der Stiftung machen. Es gehört zu den grundlegenden Rechten des Einzelnen, dass er Stifter sein kann. Damit ist das Institut des Stiftens bürgerrechtlich ganz anders anerkannt. Zweitens. Wir haben eine abgeschlossene Liste der materiellen Voraussetzungen zur Errichtung einer Stiftung in das Gesetz aufgenommen. So ist ein Mindeststandard gewährleistet. Das bringt Übersichtlichkeit, Einfachheit und Transparenz im Stiftungswesen und ist damit stifterfreundlich. Deswegen und natürlich auch aufgrund der Debatte der letzten Jahre kann man feststellen, dass sich die Praxis erheblich vereinfacht hat. Auch ich habe am Anfang erfahren, dass Stiftungsprozeduren bis zu zwei Jahre gedauert haben. Die schnellste Gründung war die der Bundeskulturstiftung innerhalb von sechs oder sieben Tagen. So geht es also auch. Drittens. Stiftungszweck kann jedes Anliegen eines Stifters sein, das nicht gegen das Gemeinwohl verstößt. Nur so ist die Vielfalt der Stiftungen zu gewährleisten. Viertens. Stiftungen werden von den Behörden - auch das ist schon gesagt worden - nicht länger genehmigt, sondern sie werden anerkannt. So schließt sich der Kreis. Eine wahrhafte Modernisierung des Stiftungsrechts ist beabsichtigt. Ich begrüße diese Initiative ausdrücklich. Dennoch will ich betonen, dass es für mich persönlich einen Wermutstropfen gibt. ({4}) Wie bei allen schönen Dingen wünscht man sich immer noch ein bisschen mehr. Wir Grünen hätten uns ein Stiftungsregister gewünscht, aber nicht, weil es sich dabei um eine Behördenkammer gehandelt hätte oder weil der Posten eines Präsidenten oder einer Präsidentin zu vergeben gewesen wäre. ({5}) Dieses Register würde vielmehr dem legitimen Bedürfnis der Öffentlichkeit Rechnung tragen, über die privilegierte Rechtsform Stiftung mehr und Einheitlicheres zu erfahren, als die Stiftungen selbst oft bereit sind, bekannt zu geben. Wenn die Öffentlichkeit schon einen solchen Vertrauensvorschuss gibt, dann wäre es gut, wenn die Stiftungen selbst in der Öffentlichkeit für sich werben würden. Es handelt sich ja um sinnvolle Stiftungszwecke, die sich jeder Stifter sehr genau überlegt. Denn mit seinem Kapital finanziert er eine Stiftung, deren Zweck ein Leben lang erhalten bleibt. Es besteht also ein gewisser Druck für den Stifter oder für die Bürgerstiftung, sich den Zweck genau zu überlegen. Es wäre natürlich gut gewesen, wenn man zusätzlich zur Bekanntgabe des einmal festgelegten Stiftungszwecks auch eine jährliche öffentliche Rechenschaftslegung der Stiftungen wie in den USA vorgesehen hätte. ({6}) In den USA hat dies zu einer größeren Akzeptanz der Stiftungen geführt. Es hat ferner zu mehr Wettbewerb geführt, weil die Stiftungen untereinander darum wetteifern, wer die Gelder besser anlegt und wer erfolgreicher ist. Man kann dadurch die ganze Palette der Stiftungen, angefangen von den operativ tätigen bis hin zu den gemeinnützig tätigen Stiftungen, kennenlernen. Dadurch erfahren die Menschen, die an eine Stiftung herantreten wollen, Genaueres darüber, mit wem sie es zu tun haben. Die Vertreter der Länder haben dafür leider keine Notwendigkeit gesehen. Aber ich setze, optimistisch nach vorne blickend, darauf, dass es die Praxis zeigen wird. Was wir in der Zukunft noch brauchen werden, wird uns die Praxis lehren. Trotzdem ist festzuhalten: Was wir bisher in zwei großen Schritten erreicht haben, ist etwas, für das sich niemand in diesem Parlament schämen muss, sondern über das er sich freuen sollte. In diesem Sinne wollen wir die Anhörung durchführen. Ich glaube, dass wir dann sehr schnell zu einem Abschluss kommen können. Ich danke Ihnen. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Rainer Funke für die FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kurz vor Ende dieser Legislaturperiode liegt nun endlich in erster Lesung der Gesetzentwurf zur Änderung des materiellen Stiftungsrechts vor. ({0}) - Ja, endlich. ({1}) Sie haben sich das vor vier Jahren in Ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen. ({2}) Am Ende dieser Legislaturperiode wird es nunmehr wahr, dass Sie einen eigenen Gesetzentwurf zum Stiftungszivilrecht vorlegen, nachdem die FDP bereits am 4. April 2001 einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat. ({3}) - Das ist völlig richtig. Ich glaube aber, dass der Bundesgesetzgeber gerade auf diesem Gebiet nicht alles mit den Ländern abstimmen muss. Er kann vielmehr eigenständig überlegen - es handelt sich nämlich um eine Regelung im BGB und nicht um irgendwelche Ländergesetze -, wie dieser Flickenteppich im Stiftungsrecht beseitigt werden kann. Den Bock zum Gärtner zu machen ist noch nie gut gewesen. Man wundert sich, dass die Koalitionsfraktionen diese Kurzfassung des Stiftungszivilrechts - so will ich es einmal nennen - erst jetzt vorlegen. Denn es handelt sich hier ja nur um eine Klarstellung der §§ 80 und 81 des BGB. Mehr ist es nicht. ({4}) Auch wundert man sich darüber, dass die Grünen diesen Entwurf mittragen, nachdem sie ja bereits am 1. Dezember 1997 einen recht gut ausformulierten und ausführlichen Gesetzentwurf zur Förderung des Stiftungswesens vorgelegt haben, der von dem Hamburger Professor Dr. Rawert ausgearbeitet worden war. ({5}) Wieder einmal haben sich die Grünen bei ihrem Koalitionspartner und dem Bundesjustizministerium nicht durchsetzen können. ({6}) Daher verwundert es nicht, wenn Professor Dr. Rawert den jetzt vorgelegten Gesetzentwurf in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ völlig niedermacht. Sie werden den entsprechenden Artikel gelesen haben. Allerdings habe ich zu meinem eigenen Bedauern auch gelesen - das gebe ich zu, Frau Vollmer -, dass Professor Rawert auch unseren Entwurf kräftig angegriffen hat. ({7}) - Das ist in diesem Fall nicht notwendig. ({8}) Bei dem vorgelegten Gesetzentwurf handelt es sich um eine so genannte Paralleleinbringung, weil der Entwurf der Bundesregierung noch im Bundesrat liegt und noch nicht einmal in den Ausschüssen abschließend beraten worden ist. ({9}) Das mag auch an den unterschiedlichen Interessenlagen von Bund und Ländern liegen. Darüber haben wir ja eben auch schon kurz mittels unserer Zurufe diskutiert. ({10}) Der Entwurf der Bundesregierung bzw. der Koalitionsfraktionen ist nun einmal ein Minimalkonsens, auf den man sich geeinigt hat. Das ergibt sich auch aus den Ergebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die ihren Abschlussbericht am 19. Oktober 2001 vorgelegt hat. Dass es sich um einen Minimalkonsens handelt, sieht man dem Gesetzentwurf der Bundesregierung bzw. der Koalitionsfraktionen auch an. Ich glaube, da ist der Entwurf der FDP-Bundestagsfraktion schon dezidierter und entspricht auch mehr den praktischen Notwendigkeiten. ({11}) Immerhin ist dem Entwurf der Koalitionsfraktionen trotz all seiner Dürftigkeit zu konzedieren, dass eine Bundeskompetenz, entgegen der Auffassung der Bayerischen Staatsregierung, bejaht wird und dass nunmehr auch durch §§ 80 und 81 BGB klargestellt wird, welche Unterlagen für das Stiftungsgeschäft vom Stifter angefordert werden dürfen und müssen. Dadurch sind die Landesbehörden in ihrem Ermessen hinsichtlich weiterer Anforderungen eingeschränkt. Damit ist das unwürdige Spiel mancher Stiftungsaufsichtsbehörden beendet - natürlich nicht das der Stiftungsaufsichtbehörden von Baden-Württemberg, bei denen alles sehr viel besser sein wird -, ({12}) - doch, von Hamburg ja -, die immer wieder neue, zusätzliche Unterlagen vom Stifter anfordern und den Stiftungsvorstand in seiner Arbeit einschränken wollen. Häufig ist ja auch der Stiftungsvorstand ehrenamtlich tätig. Die Auflagen, die man von den Stiftungsaufsichtsbehörden bekommt, sind nicht immer hilfreich. Auch ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung davon Abstand genommen hat, die Stiftungen auf ausschließlich gemeinnützige Zwecke zu begrenzen. Wenn in der Begründung auf das Gemeinwohl abgestellt wird, ist damit offensichtlich gemeint, dass Stiftungen, die verfassungswidrige Zwecke verfolgen, verboten sind. Das ist auch unsere Auffassung, sollte dann aber im Gesetzestext klargestellt werden. Aber dazu haben wir sicherlich in den Berichterstattergesprächen ausreichend Zeit. Auch teilen wir die Auffassung der Koalitionsfraktionen, dass die Stifterfreiheit gestärkt werden soll. Gerade deswegen halten wir unseren Entwurf für dezidierter und pragmatischer und werden auch unsere Vorschläge bei den gemeinsamen Beratungen einbringen. Insgesamt ist der Entwurf der Koalitionsfraktionen noch sehr nachbesserungsbedürftig. Wir werden über die notwendigen Verbesserungen, die sich im Rahmen der Anhörungen und der Berichterstattergespräche ergeben haben, sicherlich noch miteinander diskutieren müssen. Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir freuen uns, dass die Koalitionsfraktionen ihre ersten Schrittchen in die richtige Richtung, also auf dem Weg zu einer Modernisierung des bürgerlichen Stiftungsrechts, gemacht haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Professor Dr. Heinrich Fink für die PDSFraktion das Wort.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Frage liegt nahe: Haben die Koalitionsfraktionen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Versprechen eingelöst, das sie bei Verabschiedung des neuen Stiftungssteuerrechts abgegeben haben? ({0}) Formal ja, inhaltlich nicht. Denn dafür ist das Ergebnis nicht ausreichend. Im Grunde gibt es nur einen handfesten praktischen Fortschritt, nämlich den, dass die Voraussetzungen für die Errichtung einer Stiftung nun bundeseinheitlich geregelt werden sollen. Bei den beiden anderen Änderungen im Rahmen des § 80 BGB handelt es sich leRainer Funke diglich um eine Angleichung des Gesetzestextes an eine bereits weitgehend bestehende Praxis. ({1}) Wenn ich dieses Ergebnis als nicht ausreichend bezeichne, so brauche ich es dafür nicht einmal an unserer Entschließung zu messen, die wir im Rahmen einer zu diesem Thema bereits erfolgten Debatte eingebracht haben. Die außerordentliche Begrenztheit des Vorgelegten wird bereits deutlich, wenn man es mit den Gesetzentwürfen des Bündnisses 90/Die Grünen von 1997 und mit dem ersten Gesetzentwurf der Koalition in dieser Legislaturperiode, der dann leider nicht eingebracht wurde, vergleicht. Dank der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft gibt es eine sehr aufschlussreiche Synopse dieser und weiterer Gesetzentwürfe. Würde der vorliegende Gesetzentwurf in diese Synopse aufgenommen, so würde er sich dort sehr kläglich ausnehmen. Mit unserem Entschließungsantrag vom 24. März 2000 hatten wir keineswegs eine exotische Stellung zur Reform des Stiftungswesens bezogen, sondern uns an Vorschlägen aus der damaligen breiten Expertendiskussion, wie sie insbesondere vom Maecenata Institut organisiert worden war, orientiert, selbstverständlich an solchen Vorschlägen, die mit unseren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zu vereinbaren sind. Lassen Sie mich aus unserem Entschließungsantrag die Passage zitieren, auf deren Basis wir nun auch den vorliegenden Gesetzentwurf bewerten. Es heißt dort: Diese zivilrechtlichen Rahmenbedingungen müssen dem Stiftungswesen größtmögliche Rechtssicherheit, Transparenz und Öffentlichkeit verleihen und es von bürokratischen Hemmnissen befreien. Gemessen an dieser grundsätzlichen Orientierung ist der vorgelegte Gesetzentwurf natürlich ein Torso. Am ehesten leistet er etwas für die Vereinfachung des Verfahrens zur Errichtung einer Stiftung und zur Klarstellung des Rechts auf Stiftung. Insofern begrüße ich natürlich die bundesweit einheitlichen und auf das Nötigste beschränkten Anforderungen für die Satzung und das Stiftungsgeschäft. Allerdings kann ich hinsichtlich des Rechts auf Stiftung durchaus der Argumentation der Bundesnotarkammer folgen, wonach den Stiftungsbehörden immer noch zu viele Ermessenserwägungen zugeschrieben werden. Meine Enttäuschung über den Gesetzentwurf besteht darin, dass für Transparenz, Publizität und Missbrauchsschutz keinerlei Regeln vorgesehen sind und alles beim Alten bleibt. Besonders den Verzicht auf die Einrichtung eines bundesweit einheitlich geführten staatlichen Stiftungsregisters „mit öffentlichem Glauben“, wie es in der Fachsprache heißt, halte ich in dieser Hinsicht für einen folgenschweren Fehler. Die Forderung nach Eintrag der Stiftungen in ein solches öffentlich zugängliches Register war vor zwei Jahren in der breiten Debatte zur Stiftungsreform eine durchgängige zentrale Forderung. Ebenso fehlt im Gesetzentwurf jegliche Andeutung in Richtung einer ebenfalls öffentlich zugänglichen, regelmäßigen Berichterstattung der Stiftungen über ihre Tätigkeit, insbesondere über Herkunft und Verwendung ihrer finanziellen Mittel. ({2}) Wenn über das Stiftungssteuerrecht der demokratisch verfassten Gesellschaft weniger Steuergelder zur Verfügung stehen, dann muss diese Gesellschaft das Recht haben, zu erfahren, wer was mit diesen entzogenen Steuergeldern gemacht hat. ({3}) Was ich gar nicht in den Vordergrund stellen möchte, was aber realistischerweise nicht völlig außer Acht gelassen werden kann: Es gibt keinerlei Regelung, um den Missbrauch von Stiftungen für privatnützige oder wirtschaftliche Zwecke zu verhindern. Auch das wäre für die gesellschaftliche Akzeptanz der Stiftungen sehr wichtig. ({4}) So gab es zwischenzeitlich aus der Expertengruppe des Maecenata Instituts heraus die mir sympathische Idee, den Begriff der Stiftung für die gemeinnützige Stiftung zu reservieren. Es mag bei Annahme dieses Entwurfes sein, dass der eine Stifter oder die andere Stifterin eher den Weg zu den Stiftungsbehörden findet. Ein neues gesellschaftliches Bewusstsein über bzw. Vertrauen in das Stiftungswesen wird mit diesem Entwurf für mich jedoch nicht erreicht. Das wiederum kann für Stifterinnen und Stifter, die sich als Mitglieder einer nicht elitären, sondern breiten Bürgergesellschaft verstehen, kein Anreiz sein. Ich resümiere, auch wenn ich von Ihnen Protest bekomme: Der Termin wurde gehalten, aber der Entwurf hat wenig Substanz und bringt damit wenig Veränderungen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Monika Griefahn.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann nur sagen: Wir kommen mit der erneuerten Initiative vom Stiftungsfrühling zum Stiftungssommer. ({0}) Was soll ein modernes Stiftungsrecht leisten? Es soll die Mäzene unserer Zeit in Deutschland ermutigen, einen Teil ihres Privatvermögens - wir sprechen von einer Summe von 7,2 Billionen DM oder 3,6 Billionen Euro für Zwecke zur Verfügung zu stellen, die dem Gemeinwohl dienen. Das sind die Vermögen, die in Deutschland irgendwo vorhanden sind. Wenn wenigstens ein Teil davon für Stiftungen bereitgestellt und damit zum Wohle aller eingesetzt wird, ist das ein riesiger Erfolg. Als Kulturpolitikerin freue ich mich besonders, wenn Stifter ihr Stiftungsvermögen für kulturelle Zwecke zur Verfügung stellen. Kulturförderung war von Anbeginn ein zentrales Anliegen der Mäzene. Der Begriff des Mäzens leitet sich von Gaius Maecenas ab - er lebte etwa von 70 bis 8 vor Christus -, einem vermögenden römischen Privatmann, der die Dichter Horaz und Vergil unterstützte. Mäzene handeln - gestern wie heute - eben nicht profitorientiert. Anders als ein Sponsor, der seine Produkte vermarkten will, wählen sie sich aus eigenem Interesse ein Fördergebiet. Es ist wichtig, dass dies nicht nur im Zusammenhang mit dem Produkt, sondern auch mit anderen Teilen des gesellschaftlichen Handelns steht. Es gehört im Übrigen auch zum Konzept der Nachhaltigkeit, dass Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur auf Wirtschaft ausgerichtet sind. Mit dem Stiftungssteuerrecht haben wir den Stiftungsfrühling eingeläutet. Der Stiftungssommer soll mit dem Stiftungszivilrecht folgen. Von Herrn Pick und Frau Vollmer wurden schon die Neugründungen der Stiftungen erwähnt. Ich möchte noch eine Zahl hinzufügen, die mich besonders beeindruckt hat: 1990 existierten nur 181 Stiftungen in Deutschland. Die Tatsache, dass allein im letzten Jahr 1 000 neue Stiftungen gegründet worden sind, ist, wie ich finde, ein enormer Erfolg. Dieses Gesetz bringt eine andere Stimmung im Lande. Auch das Stiftungssteuerrecht hat bereits eine andere Stimmung bewirkt. ({1}) Auch vom Bundesverband Deutscher Stiftungen wird dieses neue Stiftungssteuerrecht begrüßt. Es wird anerkannt, dass wir die Weichen richtig gestellt haben. Im Übrigen, Herr Fink, wird bei der Feststellung der Gemeinnützigkeit sowohl der Inhalt als auch die zweckgebundene Ausgabe staatlich überprüft. Das ist Inhalt des Gemeinnützigkeitsrechtes. ({2}) Ansonsten wird die Gemeinnützigkeit aberkannt. Es gibt bereits solche Fälle. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der schon durch das Steuerrecht geregelt ist. Damit dieser Trend zum Stiften anhält und sich noch verstärkt, muss das Stiftungsrecht transparent sein, das Recht auf Stiftung einräumen und - das ist sehr wichtig die Betonung weniger auf die Genehmigung und mehr auf die Anerkennung legen. Es ist doch anzuerkennen, dass jemand etwas für die Gemeinschaft tut und einen Teil seines Vermögens für die Gemeinschaft spendet. Deswegen braucht derjenige auch die Anerkennung der öffentlichen Stellen. Es ist doch auch gut, wenn wir das so machen. Das ist ein wichtiger Teil dieses Gesetzestextes. Für die weitere Stiftungsfreudigkeit wird entscheidend sein, wie zügig und reibungslos potenzielle Stifter ihr Vorhaben verwirklichen können. Früher mussten sie - das wurde bereits gesagt - von Pontius nach Pilatus laufen. Es hing ein wenig davon ab, wie viele Stiftungen der jeweilige Stiftungsreferent eines Landes noch haben wollte. Die Steuerabteilung gehörte nicht zu dieser Stelle. Mit dem erneuten Anlauf soll die Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden und den zivilrechtlichen Behörden verstärkt und verknüpft werden. Das ist ein wichtiger Teil; denn sehr häufig sind Menschen zum Rechtsanwalt oder zum Notar gegangen und haben gesagt, dass sie Geld haben und es gerne stiften möchten. Dieser hat ihnen eher abgeraten und entweder gesagt, dass sie es sein lassen sollen, da es sehr kompliziert ist, ({3}) oder aber, dass man sich aufgrund des komplizierten Prozesses auf zwei Jahre einzustellen habe. Die potenziellen Stifter haben sich bedankt und sich etwas anderes überlegt. Man muss es so sehen: Wahrscheinlich spenden sehr viele Menschen den amerikanischen Universitäten Geld, weil dort eine sehr offensive Stiftungspolitik betrieben wird. Hier in Deutschland wurde das Geld gesammelt. Es hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass es steuerlich absetzbar ist, weil ein Förderverein oder Ähnliches gegründet wurde. Ich denke, es wäre gut für uns und für die Verwirklichung von Vorhaben in Deutschland, wenn wir die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen würden, sodass sie das Geld hier anlegen können. Frau Vollmer erwähnte schon, dass das nicht überall so ist. Einige Länder sind ganz schnell. Die Kulturstiftung des Bundes in Halle ist vom Land Sachsen-Anhalt innerhalb von einer Woche anerkannt worden. Ich finde, es ist auch ganz wichtig, das zu erwähnen. ({4}) Stiftungen bieten engagierten Bürgern im kleinen und großen Rahmen die Möglichkeit, einen dauerhaften Beitrag zu leisten. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Bürgergesellschaft, die die gesellschaftliche Entwicklung über die staatliche Verantwortung hinaus mitgestalten will. Auf die Wortwahl kommt es dabei an. Stiftungen ergänzen und bereichern das bestehende staatliche Fördersystem. Ihr Vorteil liegt unter anderem darin, dass sie schneller und flexibler in ihren Entscheidungen sind und auch mit kleineren Beträgen schnell eingreifen können. Unser Hauptaugenmerk gilt daher den rechtsfähigen Stiftungen des bürgerlichen Rechts; denn sie haben ein Stiftungskapital, aus dessen Erträgen der Stiftungszweck verfolgt werden kann. Sie sind unabhängig, benötigen keine staatliche Zuwendung und sind der selbstbewusste Ausdruck der gesellschaftlichen Verantwortung ihrer Stifter. So untypisch sind Stiftungen für Deutschland gar nicht; denn es gab schon einmal bessere Zeiten für Stiftungen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier 100 000 Stiftungen. Doch die einst blühende Stiftungskultur wurde durch die Inflation und die Weltkriege zerstört. Erst in den letzten Jahren fing sie an, sich wieder zu entwickeln. Deshalb haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, eine Vielzahl von Zwecken und Formen zu fördern. Hinsichtlich der Zwecke haben wir schon eine Diversifikation feststellen können. Das Spektrum reicht von Stiftungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Aufbau von Rechtssystemen in Osteuropa zu begleiten und auf vielfältige Art zu unterstützen, bis hin zu kleinen PrivatstifMonika Griefahn tungen in Ostdeutschland oder auf dem flachen Land in Westdeutschland, die aus einer Altimmobilie lebendige kulturelle Begegnungszentren abseits der Großstädte zaubern. Ich finde, man kann auf die weitere Entwicklung wirklich gespannt sein. Wichtig sind dabei auch die Bürgerstiftungen. Sie sind auf einen geographischen Wirkungsraum beschränkt und verfolgen zahlreiche unterschiedliche Zwecke. Bürgerstiftungen sind in der Lage, eine große Vielfalt gemeinnütziger Aktivitäten in einem Gemeinwesen zu fördern, drängende soziale Probleme zu bekämpfen oder auch ganz einfach die Lebensqualität vor Ort zu erhöhen. Ich habe mir verschiedene Projekte angeschaut und war begeistert von dem, was irgendwo entstanden ist; das hätte sonst nicht entstehen können. Neben der angestrebten Breitenwirkung steht dabei die ehrenamtliche Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern an der Planung und der Verwirklichung der Projekte im Vordergrund. Die Bürgerstiftung Hannover war die erste ihrer Art in Deutschland. Sie hat sich das Ziel gesetzt, in den Bereichen Jugend, Kultur und Soziales Projekte zu initiieren und solche zu fördern, die dringend auf Hilfe angewiesen sind. Eines der ersten Projekte war die Einrichtung von Jugendgewaltlotsen. Wenn man bedenkt, dass die Stiftung 1998 eingerichtet wurde, erkennt man, dass das aktueller ist denn je. Es ist ein wirklich sehr konkretes Projekt vor Ort, im Stadtteil. Solche praktischen Möglichkeiten wären sonst vielleicht nicht vorhanden gewesen. Wenn ich sehe, dass Ende Juli 2001 die 100er-Marke überschritten wurde, denke ich, dass es auch ein Bedürfnis der Menschen ist, sich zu engagieren und dauerhaft zu verwirklichen. Sie wollen nicht nur einen Monatsbeitrag für Vereine oder einen Beitrag für irgendwelche Aktivitäten vor Ort, die sie selber durchführen, leisten, sondern sie wollen einen größeren Betrag stiften. Dazu hat die Reform des Stiftungssteuerrechts einen erheblichen Beitrag geleistet. Da kann ich als Beispiel die Bürgerstiftung Nürnberg nennen, die im Juli 2001 gegründet wurde und im Dezember 2001 bereits ihre erste Projektförderung bekannt gegeben hat. Im Internet hat sie dazu begründet, dass das „veränderte und ermutigende Stiftungsrecht“ - Zitat der Bürgerstiftung Nürnberg - als wesentlicher Impuls für die Gründung der Stiftung gewertet wurde und dass insbesondere der neue steuerfreie Stiftungshöchstbetrag von 40 000 DM und der Gründungshöchstbetrag von 600 000 DM unterstützend gewirkt haben. Das heißt, dass auch Leute an Stiftungen beteiligt werden konnten, die das sonst nicht konnten, weil sie keine großen Mäzene sind. Wir wollen neue Anreize zum Stiften geben und als Kulturpolitiker neue Geldquellen für Kultur erschließen. Dafür ist die Reform des Stiftungsrechts von eminenter Bedeutung. Sie steht deshalb auch im kulturpolitischen Teil der Koalitionsvereinbarung. Jede vierte Stiftung in Deutschland fördert kulturelle Projekte, wobei der Anteil der Kultur an den Stiftungszwecken kontinuierlich zunimmt. Über die Tatsache, dass in Deutschland jeden Tag statistisch gesehen zwei neue gemeinnützige Stiftungen gegründet werden, bin ich sehr erfreut und ermutigt. Keineswegs soll aber mit dieser positiven Bilanz der Rückzug des Staates aus der Kulturförderung eingeläutet werden. Privates finanzielles Engagement soll vielmehr noch stärker als bisher zum zweiten Standbein der Kultur werden. Das reformierte Stiftungsrecht hat damit eine Doppelwirkung, und zwar eine kulturpolitische und eine gesellschaftspolitische Funktion. Beide - Staat und Gesellschaft, das heißt die Menschen, die den Staat bilden sollen zusammenarbeiten. Der Staat bildet den geeigneten Rahmen, damit sich Menschen engagieren können. Genau das ist eines der wesentlichen Ziele, die wir verfolgen; denn Bedienung kann nicht sein, selbst mitzutun ist ein wesentlicher Anteil an Demokratie. Die Kulturstiftung des Bundes, die am 23. Januar im Kabinett beschlossen wurde und die in Halle angesiedelt werden soll, wird sich am 21. März 2002 konstituieren. Wenn ich sehe, dass der Schwerpunkt des Stiftungszwecks die Förderung innovativer Programme zeitgenössischer Kunst im internationalen Bereich ist, wird deutlich, dass das in den gesteckten Rahmen passt. Hier bilden auswärtige Kulturpolitik, Dialog der Kulturen und der Dialog im Inland wichtige Akzente. Damit wird deutlich, dass das neue Stiftungsrecht auch außenkulturpolitische Wirkung haben kann, indem Stifter eingeladen werden, sich an dieser privatrechtlichen Stiftung zu beteiligen. Das zivilgesellschaftliche Engagement wird somit auf allen Ebenen - innen und außen - gefördert. Die Koalition ist damit in ihrer kulturpolitischen Verantwortung einen wichtigen Schritt gegangen. Ich freue mich, dass andere mitmachen wollen. Das kann doch wirklich nur der Kultur und dem Bürgerengagement und somit uns allen gut tun. Danke schön. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr der Kollegin Professor Dr. Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002287, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wichtigste ist gesagt. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir in dieser Legislaturperiode sowohl auf der steuerrechtlichen als auch auf der zivilrechtlichen Ebene einen wichtigen Schritt getan haben. Warum sage ich das zu Beginn meiner Rede? Weil wir nicht Stiftungsfreudigkeit oder Bürgergesellschaft angestoßen haben, sondern auf sie reagieren. Anfang der 90er-Jahre ist es in Gang gekommen und es war allerhöchste Zeit, dass wir das, was die Bürgerinnen und Bürger selbst erkennen und an Motivation haben - selbst etwas zu tun, ortsnah und manchmal weit weg von Stiftungszwecken -, steuerrechtlich und zivilrechtlich fördern. ({0}) Es hat ein Umdenken von dem, was sie von der öffentlichen Hand erwarten - bis hinunter zu den Kommunen -, zu dem, was sie inzwischen wieder selbst tun wollen, stattgefunden; allerdings - das schlägt sich ja im zivilrechtlichen Teil nieder - selbstbestimmt und mitbestimmt. Insofern ist bei aller Bescheidenheit dessen, was dem Bund in der Bund-Länder-Kommission zugestanden wurde, dennoch ein Paradigmenwechsel eingetreten. Das alte Gesetz entspricht nicht dem veränderten Demokratisierungsprozess unserer Gesellschaft. Insofern ist es ein wichtiger Schritt. Worte sind oft ein ganz wichtiger Indikator - das ist heute Abend schon gesagt worden - für obrigkeitsstaatliches Denken oder für demokratisches Denken. Ich persönlich habe weniger Schwierigkeiten damit, dass eine Stiftungsbehörde natürlich auch bestimmte Dinge prüfen muss; denn es sind Finanzen, die zwar privates Einkommen betreffen, die aber in einem steuerlichen Zusammenhang stehen und von daher auch der Aufsicht und Kontrolle bedürfen. Das denke ich auch in Bezug auf die Gemeinnützigkeit. Ich nehme die Kritik von Herrn Rawert auf, der der Auffassung ist, die Kontrollen in Bezug auf die Gemeinwohlorientierung seien bei weitem überzogen. Dennoch kommt auch er zu dem Ergebnis, dass es eine Aufsichtsbehörde geben muss. ({1}) Ich möchte die Art, wie der zivilrechtliche Teil jetzt gefasst ist, noch einmal ansprechen. Als ich das las, habe ich gedacht: Wenn wir doch alle Gesetze so formulieren würden, dass die Menschen weniger Beratung brauchen, um ein Gesetz zu verstehen. ({2}) Das ist in diesem Gesetz wirklich gut gelungen. Wenn es auch im Steuerrecht irgendwann einmal so ist, wären wir ein großes Stück weiter. Damit komme ich zu zwei Punkten, die ich mir von diesem Gesetzentwurf gewünscht hätte. Das eine ist die Stiftungsbehörde, die ja auch der Stifterverband und der Kulturrat noch einmal angesprochen haben; das Zweite sind Kompetenzzentren, um die Beratung zu verstärken. Die Beratung liegt insbesondere dort, wo Fragen wie „Sind wir nun gemeinnützig oder nicht?“ oder „Welche Zwecke fallen unter die Gemeinnützigkeit?“ von den Bürgern und Bürgerinnen nicht automatisch beantwortet werden können. In diesem Zusammenhang ist auch die Auffassung der Bund-Länder-Kommission zu sehen, dass es nicht der Genehmigung aus einer Hand bedürfe, wozu auch die Ausstellung einer Finanzamtsbescheinigung gehören würde. Das haben Sie abgelehnt, aber diese Wünsche bleiben bestehen. Andernfalls ist mehr Beratung in diesem Bereich erforderlich. Diese beiden Dinge bleiben Desiderata. Trotzdem möchte ich sagen: Es ist nicht zu unterschätzen, dass sich die Bund-Länder-Kommission überhaupt bereit gefunden hat, Verbesserungsvorschläge zu machen; denn sie war noch zum Zeitpunkt der steuerrechtlichen Reform der Auffassung, dass es überhaupt keinen Reformbedarf gibt. Auch in ihrem Bericht sagt sie immer wieder: Eigentlich brauchen wir gar nichts. Alles ist - so heißt es dort - überwiegend einvernehmlich geregelt worden. Das mag so sein, aber ich sage ausdrücklich: Die Verfahren würden sehr viel schneller sein, sie würden beschleunigt. Und dass es nun einheitlich im BGB geregelt und nicht mehr auf 16 Länder verteilt ist, das ist ein Durchbruch. ({3}) Wir werden auch die nächsten Schritte noch schaffen. Nie bekommt man in einem Gesetz alles. Daran zu glauben, habe ich mir abgewöhnt. Der Entwurf sollte umfassend sein, aber man kommt in aller Regel, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur schrittweise zum Ziel. Deshalb darf man das, was wir noch nicht erreicht haben, nicht aus dem Auge verlieren. Ich möchte abschließend dennoch deutlich machen: Ja, wir können bei entsprechender Stärkung der Bürgergesellschaft auch in diesem Bereich der Stiftungen ein großes Stück weiterkommen. Ich erinnere aber an das, was der Staatsminister noch einmal festgestellt hat: Bei 15 bis 18 Milliarden, die aus den öffentlichen Haushalten für Kultur ausgegeben werden - ich sage bewusst: für Kultur -, entfallen nur 600 Millionen bis 1 Milliarde auf private Mittel. Sie sind bei der Sportförderung doppelt so hoch; das ist noch einmal ein anderer Punkt. Aber wir sollten nicht vergessen, dass das bürgerschaftliche Engagement oder auch einzelne Stifter die öffentliche Verantwortung für zentrale Bereiche - hier nenne ich als Mitglied des Kulturausschusses die Kultur - nicht ersetzen. ({4}) Ich beklage nicht wie Herr Rawert, dass die Festlegung, was eine Stiftung ist und welche Stiftung wir wollen - dass wir die gemeinnützige Stiftung wollen, ist klar -, in dem Gesetzentwurf nicht zu leisten war. Insofern ist noch weitere Arbeit notwendig. Gleichwohl bin ich unsicher, ob wir das je erreichen werden. Aber ich bin durchaus für eine Vielfalt von Stiftungen und nicht für eine Eingrenzung, die nur noch sehr wenig ermöglicht. Insofern ist dies zwar ein Zwischenschritt, aber ein wichtiger. Ich wünsche mir, dass wir die Bürgergesellschaft in einem Maße fördern, dass gerade das, was uns oft nicht am Schreibtisch einfällt, und auch neue Ideen in unseren Städten und Gemeinden verwirklicht werden können. Denn vieles ist eine Antwort auf Defizite, die bei uns bestehen. Das besagt auch ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Institutionen der Gesellschaft, zwischen Staat, Gesellschaft und den Einzelnen. Insofern haben Sie zwar mit der Kritik an dem, was fehlt, Recht, Herr Fink. Aber für mich ist entscheidend, dass wir in Gang gekommen sind. Dafür sage ich herzlichen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Stifterfreundinnen! Liebe Stifterfreunde! Für die weitere Beratung, liebe Herren Kollegen Funke und Fink, möchte ich einmal Karl Moor aus Schillers „Die Räuber“ zitieren, der gesagt hat: „Wo alles liebt, kann Karl allein nicht hassen.“ ({0}) Vielleicht sollten Sie beide sich das angesichts Ihrer etwas konträren Haltung für die weitere Beratung vornehmen. Ich glaube nämlich, dass wir dann - wie Sie es auch gesagt haben, Frau Süssmuth - zu einem guten und vernünftigen Ergebnis kommen werden. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode und auch in den vergangenen Legislaturperioden immer wieder einzelne Segmente herausgegriffen, sie modernisiert und dem gesellschaftlichen Wandel und auch europäischen Richtlinien angepasst, zuletzt das Schuldrecht, zurzeit das Schadenersatzrecht. Nun müssen wir feststellen - wir wissen es allerdings schon seit längerem -, dass auch das Stiftungsrecht allein schon hinsichtlich der Sprache nicht mehr den modernen gesellschaftlichen Anforderungen entspricht. In dem alten § 85 ist noch enthalten, dass die Verfassung einer Stiftung auf Reichsrecht beruhen kann. Das steht noch heute im Bürgerlichen Gesetzbuch. ({2}) Ich meine, es ist eine vornehme Pflicht, dies zu ändern,. Bisher war es so, dass diejenigen, die eine Stiftung wollten, dafür eine Genehmigung brauchten. Daran ist bereits mehrfach erinnert worden. Bei der Genehmigung handelt es sich um einen hoheitlichen Akt, der in unserer modernen Zeit sicherlich nicht willkürlich erfolgt ist, der aber immer, wie Sie es bereits ausgeführt haben, den Geruch des Obrigkeitsstaats hatte. Man kam immer mit gebückter und devoter Haltung, damit man auch ja eine Genehmigung erhielt. ({3}) - Sie haben doch eben am Beispiel Hamburg erklärt, wie das läuft: mit gebückter und devoter Haltung. ({4}) - Wir können ja später noch darüber reden. Wir ändern dies nun und gehen den zweiten Schritt. Frau Griefahn hat das etwas poetischer als Stiftungsfrühling und Stiftungssommer bezeichnet. Ich bin Jurist und behandele das ein bisschen nüchterner. Der erste Schritt war das Stiftungsförderungsgesetz vom 14. Juli 2000, das eine Erleichterung der steuerlichen Förderung vorgesehen und in der Tat, wie Sie alle ja auch festgestellt haben, seine Wirkung erzielt hat. Es hat zu dem erhofften Aufschwung beim Stifterinteresse und bei Stiftungen geführt. Diesen Aufschwung haben wir alle erhofft, weil wir wissen, dass Stiftungen auf Gebieten tätig werden können, auf denen der Staat nicht tätig sein sollte, nicht tätig sein kann oder vielleicht auch nicht tätig sein will, was aber nicht ausschließt, dass der Staat auf vielen dieser Gebiete die Pflicht hat, zu fördern, sofern seine Förderung gefragt ist. Es tut unserer Bürgergesellschaft sehr gut, wenn es auf dem privatrechtlichen Sektor zu mehr Stiftungen kommt und staatliches Handeln durch private Initiativen ersetzt wird. Ich sehe das, was wir jetzt in ganz wenigen Paragraphen vornehmen, als eine kleine Revolution an. Wir machen etwas ganz Neues - es ist vom Paradigmenwechsel die Rede gewesen -: Wir kommen zu einer bundesrechtlichen Verankerung des Anspruchs auf Anerkennung einer Stiftung. Dies ist ein großer Schritt aus dem bisherigen Genehmigungsverfahren heraus und in die Freiheit hinein. Auch ist die Zahl der Voraussetzungen gegenüber früher reduziert worden. Ich habe gelesen, dass man früher 14, 15 Punkte abgeprüft hat. Heute sind es nur noch wenige einfache Voraussetzungen, die jeder erfüllen kann, auch wenn er hin und wieder sicherlich des juristischen Rates durch den Notar oder Anwalt bedarf, was ja auch nicht verkehrt ist. Das Stiftungsgesetz bedarf der schriftlichen Form. Es muss die verbindliche Erklärung enthalten, ein Vermögen für einen bestimmten Zweck zu stiften. Mit dieser offenen Formulierung kommen wir insbesondere den Bürgerstiftungen entgegen, die möglicherweise nicht von vornherein die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung haben, sondern auf den späteren Beitritt weiterer Stiftungsmitglieder angewiesen sind, um den Stiftungszweck erfüllen zu können. Auch ist eine Satzung erforderlich. Davon können wir Deutschen uns nicht trennen. Ich hätte beinahe gesagt: Auch das ist gut so. Der Satz ist abgedroschen; deswegen sage ich: Das ist richtig so. ({5}) Wenn diese wenigen Voraussetzungen erfüllt sind und wenn der Stiftungszweck nicht das Gemeinwohl gefährdet, dann ist die Stiftung anzuerkennen. Lassen Sie mich nun noch einen Satz zum Gemeinwohl sagen, auch wenn meine Redezeit schon fast abgelaufen ist. Ich verspreche, dass ich in zwei Minuten fertig sein werde.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Da Sie nicht nur den Präsidenten, sondern auch die Schriftführer begrüßt haben, bekommen Sie zwei Minuten dazu. ({0})

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. Ich wusste, dass ich bei Ihnen immer ein offenes Ohr finde. Es ist richtig, dass man Stiftungen nicht anerkennen darf, die rechtswidrige, verfassungsfeindliche Zwecke verfolgen. Dabei genügt es schon - Herr Funke, Sie hatten die Verfassungswidrigkeit angesprochen -, wenn man glaubt, dass sich hier eine Stiftung entwickelt, die rechtswidrige Zwecke verfolgen kann. Nun möchte ich die Großzügigkeit des Präsidenten nicht länger ausnutzen. Wir haben heute alle in großer Einmütigkeit das Richtige gesagt. ({0}) Ich hoffe, dass die Zahl der Stifterinnen und Stifter aufgrund der vorgesehenen Erleichterungen deutlich ansteigt. Das gilt nicht nur für Stiftungen unter Lebenden, sondern auch für Stiftungen, die von Todes wegen, also auf der Grundlage von Testamenten und letztwilligen Verfügungen, errichtet werden. Es kann uns allen doch nur Recht sein, wenn ein großes Vermögen oder ein Teil davon und Sammlungen wertvoller Dinge der Allgemeinheit zugute kommen und nicht auf irgendwelchen Konten verschimmeln oder in irgendwelchen Kammern eingesperrt sind oder von den Kindern reicher Leute - als ich jung war, sprach man von der Jeunesse dorée; heute nennt man es den Jetset - verprasst werden. Dies wollen wir mit diesem Gesetz fördern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 20. März wird zu diesem Thema eine Expertenanhörung stattfinden. Ich lade alle, die noch mehr über das Stiftungsrecht erfahren wollen, herzlich dazu ein. Ich freue mich auf die Beratungen. Man sieht, hin und wieder passen Kultur und Justiz ganz gut zusammen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe nunmehr die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 14/8277 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Wolfgang Börnsen ({1}), Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Abschaffung der Kapazitätsbeschränkungen für Werften in Mecklenburg-Vorpommern - Drucksachen 14/6950, 14/8050 - Berichterstattung: Abgeordneter Walter Hirche b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar Staffelt, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Andrea Fischer ({3}), Werner Schulz ({4}), Kerstin Müller ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Faire Wettbewerbsbedingungen für die Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern - Drucksachen 14/7295, 14/8051 Berichterstattung: Abgeordneter Werner Schulz ({6}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als erster Rednerin der Kollegin Ilse Janz für die SPD-Fraktion.

Ilse Janz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Herren Schriftführer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das habe ich kommen sehen.

Ilse Janz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich habe gedacht, ich versuche es auch einmal. Schließlich haben Sie meinem Vorredner eine Verlängerung der Redezeit angeboten. Die ostdeutschen Werftenstandorte Wismar, Rostock, Stralsund und Wolgast gehören zu den modernsten in Europa. Durch konsequente Modernisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen ist es den Standorten in Mecklenburg-Vorpommern gelungen, den technologischen Anschluss an die Weltspitze zu finden. Möglich war dies auch durch öffentliche Investitionsbeihilfen. Mit der Gewährung von Zuschüssen ist jedoch eine bis zum Jahr 2005 andauernde Kapazitätsbeschränkung auf insgesamt 327 000 CGT jährlich verbunden. Hiermit sollte verhindert werden, dass sich die ostdeutschen Werften durch die Beihilfen weit reichende Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren europäischen Mitbewerbern verschaffen. Aber nicht die europäische Konkurrenz, sondern der globale Wettlauf um Marktanteile im Weltschiffbau war das Problem. Wir haben deshalb stets auf eine Änderung der Kapazitätsbeschränkung gedrängt, die den Schiffbauern viel mehr geschadet als genutzt hat. Die strengen Quoten, die den Schiffbauern in Mecklenburg-Vorpommern von der EU auferlegt worden sind, haben zu der kuriosen Situation geführt, dass trotz hervorragender Auftragslage auf einigen Werften Kurzarbeit angeordnet werden musste und dass die wirtschaftlich und innovativ arbeitenden Unternehmen für ihre Fortschritte in der Fertigung auch noch bestraft wurden. Die SPD hat sich mehrfach dafür ausgesprochen, diese Regelungen zu ändern und den ostdeutschen Werften ein tragfähiges Fundament für die Fortsetzung ihrer Arbeit zu geben. Die Bundesregierung hat deshalb im April 2000 die Lockerung der Kapazitätsgrenzen bei der EU beantragt. Leider wurde dieser Vorstoß abgelehnt. Vor gut einem Jahr wurde deshalb ein weiterer Anlauf mit dem Ziel einer flexibleren Handhabe der Beschränkungen unternommen. Die zähen und langwierigen Verhandlungen mit der EU-Kommission konnten letztendlich erfolgreich abgeschlossen werden. Dafür der Bundesregierung, insbesondere Minister Müller und dem maritimen Koordinator Gerlach, herzlichen Dank! ({0}) Ich möchte nicht verhehlen, dass nach meiner Meinung die Abschaffung der Beschränkung richtig gewesen wäre. Dennoch ist für die Werften und für die Beschäftigten der nun gefundene Kompromiss nach dem endlos langen Vorlauf ein Erfolg. Die Entscheidung der EU-Kommission sieht ein Bündel von Maßnahmen vor, die eine flexiblere Handhabung der Produktionsbeschränkungen ermöglichen und den Werften damit größere Spielräume eröffnen. Probleme hat es in der Vergangenheit unter anderem gegeben, wenn die jährlichen Quoten nicht exakt eingehalten werden konnten, weil sich beispielsweise die Abarbeitung eines Auftrages verzögerte. Die Folge war, dass die zur Verfügung stehende Produktionskapazität nicht vollständig ausgeschöpft werden konnte und der Rest ersatzlos wegfallen musste. Diese starre Regelung ist nun entscheidend modifiziert worden. Die EU-Kommission hat auf Antrag Deutschlands beschlossen, dass Kapazitäten innerhalb der Jahre übertragen und variabel ausgeschöpft werden dürfen. Damit wird den Werften die Möglichkeit eröffnet, wesentlich sinnvoller als bisher auf veränderte Produktionsabläufe zu reagieren. Ein weiterer Punkt der Kritik am bestehenden System war, dass Leistungen, die an andere Firmen vergeben wurden, auf die Kapazität der den Auftrag vergebenden Werft angerechnet wurden. Damit wurde die eigentlich von allen Seiten immer wieder geforderte Stärkung der Kooperation im Schiffbau unterlaufen. Auch diesbezüglich konnte durch die neue Regelung Abhilfe erreicht und konnte den Werften größerer betriebswirtschaftlicher Spielraum verschafft werden. Es ist jetzt möglich, genau definierte Leistungen wie Vorrichtungs- und Modellbau, Schlosserarbeiten, Tischlerarbeiten, Sanitärleistungen oder auch Gerüstbau, die an Dritte vergeben werden, aus der eigenen Produktion herauszurechnen. Eine weitere entscheidende Verbesserung liegt darin, dass nicht genutzte Kapazitäten übertragen werden dürfen. Hiermit wird die Vernetzung und Kooperation untereinander erleichtert und damit ein positiver Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der Schiffbauindustrie in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt geleistet. Wir können mit dem Erreichten zufrieden sein. Es bringt uns auch nicht weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Sie in Ihrem Antrag die gänzliche Aufhebung der Kapazitätsbeschränkungen fordern. Dies durchsetzen zu können erscheint angesichts der harten Auseinandersetzungen, die der jetzigen Regelung vorausgingen, schlicht unwahrscheinlich. Wer sich mit der Wettbewerbssituation im Schiffbau befasst, darf seinen Blick nicht nur auf die Situation in Deutschland und Europa richten. Die Lage auf dem Weltschiffbaumarkt ist nach wie vor durch die durch Südkorea ausgelösten Wettbewerbsverzerrungen geprägt. ({1}) Die Schiffbauberichte der EU belegen, dass die Südkoreaner ihre Schiffe im Schnitt 20 Prozent unter den Herstellungskosten am Markt anbieten. Bereits 60 Prozent der Containerschiffe kommen aus koreanischen Betrieben. Von den immer bedeutender werdenden Großcontainerschiffen sind es bereits 80 Prozent. Die aktuellen Zahlen verdeutlichen, dass sich diese Entwicklung fortsetzt und die koreanische Schiffbauproduktion auch weiterhin steigt. Ende des Jahres 1999 hatten die koreanischen Werften einen Auftragsbestand von 377 Schiffen mit 11 Millionen CGT. Ende des Jahres 2001 waren es bereits 497 Schiffe mit 16 Millionen CGT. Der Weltschiffbaumarkt leidet also nach wie vor unter Dumpingpreisen und von einem fairen Wettbewerb kann immer noch nicht die Rede sein. ({2}) In der Vergangenheit hat es zahlreiche Verhandlungen gegeben, um zu einem Abkommen zwischen Korea und der EU zu gelangen, das gleiche Wettbewerbsbedingungen garantiert - leider ohne Erfolg. ({3}) Trotzdem hat sich die EU-Kommission Ende des Jahres 2000 dazu entschlossen, die Beihilferegelungen für die Werftindustrie auslaufen zu lassen, da diese aus Sicht der Kommission nicht zu einer Lösung des Problems geführt haben. ({4}) Die SPD-Bundestagsfraktion und die Bundesregierung haben diese Entscheidung seinerzeit heftig kritisiert, ({5}) da den europäischen Werften hiermit die einzige Möglichkeit genommen wurde, zumindest einen Teil der Wettbewerbsverzerrungen auf dem Weltmarkt zu kompensieren. Unter dem Eindruck der sich immer weiter verschärfenden Situation auf dem Schiffbaumarkt hat die Kommission im vergangenen Jahr Eckpunkte für ein neues Beihilferegime vorgelegt. Staatliche Zuschüsse sollen demnach nur noch bei Produkten- und Chemikalientankern sowie Containerschiffen zugelassen werden. Hierbei treten nach Ansicht der Kommission die Wettbewerbsverzerrungen am deutlichsten zutage. Meiner Meinung nach ist diese Einschränkung nicht in Ordnung. ({6}) - Da können Sie ruhig einmal klatschen! ({7}) Wir alle wissen, dass die Südkoreaner ständig dabei sind, in neue Bereiche vorzustoßen, so auch in den Bau von Kreuzfahrtschiffen. Zwar sind sie in dem Bereich heute noch keine Konkurrenten - da können sie vieles noch nicht so gut wie wir Europäer -, aber wenn es die Strategen dort wollen, dann können sie es ganz schnell werden. Die Beihilfen, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat, sollen zeitlich befristet sein und als flankierende Maßnahme für ein WTO-Verfahren dienen, das die Kommission gegen Südkorea anstrengen will. Trotz aller Bemühungen vonseiten der Bundesregierung ist es bisher nicht gelungen, eine Mehrheit im Ministerrat zu erreichen. Solange Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und die skandinavischen Länder ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Vorschlag nicht aufgeben ({8}) - richtig, Herr Goldmann, vor allem Frankreich -, wird die Kommission vor der WTO kein Verfahren gegen Korea anstrengen. Noch ist nicht klar, wann der Ministerrat die abschließende Entscheidung trifft. Die Zeit drängt wirklich. Die Werften können nicht länger warten. Sie brauchen Planungssicherheit für die nächsten Jahre - für die Arbeitsplätze und für die Fertigung. ({9}) Deshalb unterstützen wir nachdrücklich alle Bemühungen der Bundesregierung, die zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für die europäischen Werften beitragen. Meines Erachtens muss die EU schon aus Glaubwürdigkeitsgründen das WTO-Verfahren umgehend - nicht erst später - einleiten. ({10}) Sie darf nicht auf die Entscheidung über eine Neuregelung warten. Der Bundestag hat seine finanziellen Hausaufgaben bereits erledigt. Sie alle wissen: In den Haushalt haben wir vorsorglich 4,8 Millionen Euro für das Jahr 2003 und je 9,6 Millionen Euro für die Jahre 2004 und 2005 eingestellt. Wir haben damit unter Beweis gestellt, dass uns die Förderung der maritimen Industrie sehr am Herzen liegt, und in Richtung Brüssel deutlich gemacht, dass wir gewillt sind, die Wettbewerbshilfe weiterhin zu zahlen. ({11}) Schiffbau ist eine nationale Aufgabe und hat seinen Schwerpunkt - entgegen der Meinung vieler - nicht nur an der Küste. Ein großer Anteil der Produktion kommt aus dem Binnenland und sichert dort viele Arbeitsplätze. Ich nenne nur Baden-Württemberg, das an den Zulieferungen von elektronischen Bauteilen, Getrieben oder Motoren einen Anteil von 22 Prozent hat. Auch Bayern hat einen Anteil von immerhin 15 Prozent an der Zulieferindustrie. Die aktuelle Lage zeigt, dass wir den eingeschlagenen Weg weitergehen müssen. Die Anzahl der Beschäftigten auf den Werften ist laut einer regelmäßig durchgeführten Umfrage der Universität Bremen und der IG Metall seit Jahren erstmals wieder angestiegen: Im vergangenen Jahr gab es ein Gesamtplus von 1,9 Prozent. Hier, im Bundestag, sollten wir gemeinsam ein Zeichen setzen und deutlich machen, dass der Schiffbau in Deutschland Zukunft hat. Auch wenn wir in diesem Hause oft über maritime Fragen verschiedener Auffassung waren, haben wir in Sachen Schiffbau meistens an einem Strang gezogen. Das gilt übrigens auch für Gewerkschaften und Schiffbauverbände, wie sich auf einer großen Schiffbaukonferenz, die die SPD-Bundestagsfraktion im April letzten Jahres durchgeführt hat, oder auch auf den maritimen Konferenzen des Bundeskanzlers in Emden und Rostock gezeigt hat. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, im Interesse der Beschäftigten auf den Werften möchte ich Sie deshalb bitten, unserem Antrag zuzustimmen und damit der Bundesregierung in den kommenden harten Auseinandersetzungen mit den EU-Partnern den Rücken zu stärken. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Wolfgang Börnsen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich anerkenne den Einsatz von Ilse Janz für die Küste. Ich teile ihre Einschätzung der augenblicklichen Lage aber nur in Ansätzen. Was die Kapazitätsbegrenzung für die Werften in den neuen Bundesländern angeht, so ist der Erfolg für die Peene-Werft ein Viertel neues Schiff pro Jahr. Der Betriebsrat beklagt ganz eindeutig, dass die Kapazitätsbeschränkung damit nicht aufgehoben worden ist. Einen Ausgleich zwischen den Werften hat es zwar gegeben, aber keine Verbesserung der Situation. Deswegen kämpft der Betriebsrat dort, ebenso wie die Betriebsräte anderer Werften, für mehr Offenheit und für mehr Wettbewerbsgerechtigkeit. Ilse Janz, in diesen Tagen ist es traurige Wirklichkeit, dass inzwischen auch Werftarbeiter zu den 4,3 Millionen Arbeitslosen in Deutschland gehören. Arbeiter von kleineren und mittleren Werften gehören dazu. Es ist ebenfalls traurige Wirklichkeit, dass wir in Deutschland im Jahr 2001 Aufträge für Schiffsneubauten im Umfang von nur 600 Millionen DM, also 300 Millionen Euro, bekommen haben. Korea erhielt für insgesamt 50 Milliarden Euro Aufträge für Schiffsneubauten. Diese Unterschiede können wir feststellen. Die Koreaner haben ihren Aufstieg zur Weltschiffbaunation vollzogen. Japan hat seine Situation stabilisiert. China ist auf dem Vormarsch und hat Deutschland überholt. Europa verliert Marktanteile. Insider der Branche sehen voraus, dass von den 100 Werften in Deutschland etwa 70 Prozent bald in Existenznot geraten. Kleinere Werften melden Arbeit für nur noch zwölf bis 18 Monate. Der Bundeskanzler hat die maritime Wirtschaft zur Chefsache erklärt. Doch die Politik der ruhigen Hand führte im Werftenbereich zu Stagnation, also zu Stillstand. ({0}) Es kam zu einer Krise der Vorzeigeindustrie, auch zum Schaden von Tausenden von Arbeitnehmern. ({1}) Die Strategie, die Angelegenheit des Wirtschaftsministeriums zur Chefsache zu erklären, hat auch die ureigene Kompetenz des Wirtschaftsministeriums eingeschränkt. Der dort vorhandene Fachverstand wurde nicht optimiert, sondern verprellt und demotiviert. ({2}) Wer anderen Aufgaben wegnimmt und sagt: „Ich kann das besser“ - dazu gehört auch, dass man unter der Verantwortung der sehr einsatzbereiten Parlamentarischen Staatssekretärin eine der Seeschiffahrt übergeordnete Behörde geschaffen hat -, der tut etwas, was nicht sein muss. Die Bilanz der ruhigen Hand ist für die Werften erschütternd: Zu Beginn der rot-grünen Regierungszeit nahmen die deutschen Werften noch einen Marktanteil von 7 Prozent ein; wir hatten den dritten Rang in der Welt. Damals war Schiffbau noch Sache des Wirtschaftsministers. ({3}) Im Jahre 2000 wurde es Chefsache. Das Engagement mit der maritimen Konferenz führte dazu, dass ein neues Schlagwort geprägt wurde, aber nicht zu neuem Handeln. Was passierte im Jahre 2001? - Deutschlands Anteil schrumpfte auf 5 Prozent und die Bundesrepublik fiel auf dem Weltmarkt für Schiffsneubau auf den fünften Platz zurück. ({4}) Es hat bereits einen weiteren Rückgang gegeben. Die Branche befindet sich in einem Besorgnis erregenden Niedergang. Hatten wir vor zehn Jahren noch 60 000 Werftarbeiter, so sind es heute nur noch 20 000. Statt dass die Hochtechnologie von der Küste durch Berlin und Brüssel gestützt wird, beraubt man sie der letzten Stützpfeiler. Ilse Janz hat selbstkritisch darauf aufmerksam gemacht. Am 5. Dezember 2000 wurde die Wettbewerbshilfe durch die EU endgültig gestrichen. Damit sind die deutschen und europäischen Werften dem Weltschiffbaumarkt völlig schutzlos ausgeliefert worden. Ein Jahr später, am 5. Dezember 2001, als man zum zweiten Mal darüber diskutiert hat, hat sich daran nichts geändert. Es ist ein schwarzer Tag für die Werften geblieben. Was mich besonders umtreibt, ist Folgendes: Am Tage der Verhandlung in Brüssel hat unserer Bundeswirtschaftsminister die Veranstaltung vor Beginn der Sitzung verlassen. ({5}) So schrieb die „Märkische Oderzeitung“: Man setzt keine nationalen Interessen durch, wenn man die Sitzung verlässt. ({6}) Allein gelassen wurden Deutschlands und Europas Werften auch im Kampf gegen Südkoreas Dumpingpreispolitik. Der Aufstieg dieses Landes zur Weltschiffbaunation Nummer eins, das seinen Marktanteil von 24 Prozent im Jahre 1998 auf heute über 40 Prozent ausbaute, hat seine Ursache in der staatlichen Preisstützung durch die Koreaner. Koreas Werften verkaufen ihre Schiffe 20 Prozent unter den Herstellungskosten. Da kann keine europäische oder deutsche Werft mithalten. Aber anstatt diese unvertretbare Wettbewerbsverzerrung zu geißeln, hat man nicht den Mut gehabt, die WTOKlage gegen Südkorea aufrechtzuerhalten, sondern man hat sie fallen gelassen. Das ist die Praxis. Es hat an Mut und an Maßnahmen gefehlt. Der Anteil Europas am Weltschiffbau ist seit 1998 von 26 Prozent auf 13 Prozent gesunken. Er hat sich also in drei Jahren halbiert. Das ist die Situation, vor der wir stehen. Als deutsche Interessenvertreter hätten wir auf einer Pro-Wettbewerbs-Politik bestehen müssen. Ungehört sind die Streiks der europäischen Werftarbeiter im letzten Jahr geblieben. Ungehört sind auch die Vorschläge des europäischen Werftenverbandes geblieben. Deswegen brauchen wir innerhalb der Bundesrepublik eine Wettbewerbsfairness unter den Bundesländern. Noch immer hat Schleswig-Holstein seinen Anteil von 60 Millionen DM nicht bezahlt; es gibt also eine Wettbewerbsverzerrung innerhalb Deutschlands. Es gibt aber auch eine Wettbewerbsverzerrung innerhalb Europas. In Spanien können Schiffe viel länger und günstiger abgeschrieben werden als in Deutschland. Spanien hat einen 20-prozentigen Preisvorteil. Dadurch hat Spanien Deutschland als Schiffbaunation in Europa vom ersten Platz abgelöst. Das heißt, wir brauchen für eine Schiffbaupolitik mehr Power, mehr Druck. Wenn sie wirklich Chefsache sein soll, dann muss sie auch Chefsache bleiben. Das ist sie im Augenblick aber nicht. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Kollegin Margareta Wolf. Wolfgang Börnsen ({0})

Margareta Wolf-Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002831

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herren Schriftführer! Sehr geehrter Herr Börnsen, ich hatte bisher immer den Eindruck, dass wir gemeinsam, also die Bundesregierung zusammen mit dem Parlament, eine Schiffbaupolitik im Interesse und zum Wohle der deutschen Industrie betreiben. Ich finde es schade, dass das heute nicht so herübergekommen ist. Ich selbst hatte Gelegenheit, mit verschiedenen Schiffbauern zu reden. Sie sind voll des Lobes - das hat Frau Janz angesprochen - für die Arbeit des maritimen Koordinators, insbesondere im Hinblick auf das, was er zugunsten von mehr Wettbewerb in Brüssel zu erreichen versucht hat und auch erreicht hat. ({0}) Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der heutige Tag ist nicht nur ein schwarzer Tag. Das EU-Gericht hat nämlich heute in erster Instanz in Luxemburg über eine Klage des Kvaerner-Konzerns gegen zwei Kommissionsentscheidungen in Sachen Kapazitätsüberschreitung der Warnow-Werft in 1997 und 1998 entschieden. Das Gericht ist der Auffassung der klagenden Werft gefolgt, dass es sich bei den von der Kommission festgelegten und bis 2005 geltenden Kapazitätsbeschränkungen - Sie haben das angesprochen - um Begrenzungen der technischen Ausstattung der Werft handelt, die im Rahmen ihrer Modernisierungsinvestitionen einzuhalten waren, so genannte bottle necks, und um keine Produktionsbegrenzungen. Diese erst seit drei Stunden vorliegende Entscheidung bedarf natürlich zuerst einmal einer ausführlichen Prüfung. Es muss auch abgewartet werden, ob die Kommission gegen dieses ja sehr weit reichende Urteil, das ihrer bisherigen Position extrem widerspricht, beim EuGH in Berufung geht. Wenn das tatsächlich so sein sollte, wäre die Sachlage noch einmal anders zu beurteilen. Ich denke aber, dass es zunächst einmal ein sehr positives Zeichen für die deutsche Schifffahrt und gerade für die ostdeutschen Werften ist. ({1}) Herr Börnsen, Frau Janz hat darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung in Person von Herrn Gerlach vor dem Hintergrund der sehr starren Haltung der Kommission in Sachen Kapazitätsgrenzen zu Beginn des Jahres 2001 der Kommission einen neuen Vorschlag einer systemkonformen Neubewertung der bis 2005 weiter geltenden Kapazitätsgrenzen vorgelegt hat. Mit diesem Antrag sollte für die ostdeutschen Werften die Flexibilität geschaffen werden, die sie betriebswirtschaftlich - das sehen wir hier im Hause doch einheitlich so - dringend benötigen. Denn auch die ostdeutschen Werften mussten trotz der erfolgreichen Umstrukturierung ihre Fertigungstiefen weiter verringern, wie dies dem weltweiten Trend im Schiffbau entsprach. Aufgrund der dadurch erzielten hohen Produktivitätszuwächse hätten die Werften ihren schiffbaulichen Durchsatz erhöhen müssen, um die Beschäftigungssituation stabil zu halten. Angesichts der Kapazitätsbegrenzungen wurden aber - das haben Sie beide auch gesagt - die betriebswirtschaftlichen Spielräume für die ostdeutschen Werften immer enger. Diese Situation, die auch von der EU-Kommission nachvollzogen wurde, hat nach intensiven Verhandlungen von Herrn Gerlach dazu geführt, dass Ende Oktober 2001 die Entscheidung zugunsten einer betriebswirtschaftlich flexiblen Lösung getroffen wurde. Es wurde vorhin schon angedeutet: Ab 2001 dürfen die ostdeutschen Werften in einem Jahr nicht genutzte Kapazitäten auf das nächste Jahr oder eine andere ostdeutsche Werft übertragen bzw. an Dritte vergeben, also outsourcen; das hat Frau Janz hier schon dargestellt. Wir gehen davon aus, dass mit der jetzt erzielten Regelung eine belastbare Grundlage für den verbleibenden Zeitraum bis 2005 gefunden worden ist. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch kurz die Gelegenheit nutzen, Sie über den derzeitigen Stand der Verhandlungen der Bundesregierung in Brüssel zu informieren: Mitte letzten Jahres hat die EU-Kommission dem Ministerrat den Entwurf einer Verordnung vorgelegt, in der eine Doppelstrategie verfolgt wird: Einerseits soll gegen die Praxis Koreas im Rahmen der Welthandelsorganisation ein WTO-Verfahren durchgeführt werden, andererseits soll für den Zeitraum dieses Verfahrens eine Unterstützung der europäischen Schiffbauindustrie in gewissen Marktsegmenten ermöglicht werden. Dieser Verordnungsentwurf, der die uneingeschränkte Unterstützung der Bundesregierung erfährt - ich hoffe, auch dieses Hauses -, konnte leider bisher nicht verabschiedet werden, weil Frankreich ein Veto eingelegt hat. Die Franzosen haben ihre Zustimmung zu der Verordnung von der Einbeziehung von Gastankern in die Liste der unterstützungsfähigen Schiffstypen abhängig gemacht. Eine speziell zu diesem Zweck durchgeführte unabhängige Marktuntersuchung soll die Forderung der Franzosen bestätigen. Wir gehen mit dem maritimen Koordinator davon aus, dass spätestens bis Mitte des Jahres ein positives Votum im Ministerrat erreicht werden kann. Spätestens 2005 werden die mecklenburg-vorpommerschen Werften alle ihre betrieblichen Vorteile zur Geltung bringen können. Die Bundesregierung wird alles ihr Mögliche tun, um dies im Rahmen fairer Wettbewerbsbedingungen zu erreichen. Dies haben wir auch in der Vergangenheit versucht und dabei, wie ich finde, wichtige Schritte in die richtige Richtung getan. Ich hoffe selbstverständlich, dass sich die Position des EU-Gerichts, das heute in Luxemburg in erster Instanz entschieden hat, tatsächlich durchsetzt. Dann wären wir in Bezug auf die ostdeutschen Werften einen ganz wichtigen Schritt weiter, die dann nämlich den Frühling sähen und nicht bis zum 22. September nur schwarze Tage erleben müssten. Danke schön. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Hans-Michael Goldmann.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir hier nur im kleinen Kreis versammelt sind. Die maritime Wirtschaft hätte wirklich anderes verdient. ({0}) Wir, die wir in diesen Bereichen besonders engagiert sind, wissen, dass es um eine absolute Hightech-Technologie geht, die weit über die Küste hinaus Bedeutung hat. Nicht umsonst hat sich eine der letzten Weltausstellungen mit den Ozeanen und dem Wasser beschäftigt. Wasser, Ozeane und maritime Wirtschaft werden eine ganz wesentliche Säule unseres volkswirtschaftlichen Wohlergehens sein, wenn wir sie hegen und pflegen, und zwar auf allen Ebenen. Maritime Wirtschaft ist ein ganzheitlicher Prozess und man kann sich vielleicht in einem kleinen Schlenker fragen, ob die Reform des Seeunfalluntersuchungsgesetzes wirklich eine kluge Entscheidung ist oder ob es klug ist, zu entscheiden, dass die Donau nicht ausgebaut werden soll; denn im Prinzip bedeutet die Entscheidung für die A-Variante keinen Ausbau und bringt überhaupt keine Perspektive. Die Werften in Mecklenburg-Vorpommern sind nach der Wende enorm gefördert worden. Das hat durchaus Kritik bei denen hervorgerufen, die sich im Westen um den Markt gekümmert haben. Aber es war richtig, weil gerade die Werften in Mecklenburg-Vorpommern eine ganz zentrale Säule der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Region sind. ({1}) Sie mussten sich dafür auf Kapazitätsbegrenzungen einlassen, auf 327 000 CGT. Diese Kapazitätsgrenzen sollten bis 2005 gelten. Es ist gut, dass sie jetzt aufgeweicht worden sind. Ganz so voll des Lobes, wie es der eine oder andere ausgedrückt hat und wie es im Antrag steht, dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen das Problem auf ganz „hervorragende Weise“ gelöst hätten, waren die Vertreter der Werften bei der maritimen Konferenz in Rostock, an der ich teilgenommen habe, nicht. Sie waren schon ein bisschen enttäuscht, dass man Kapazitäten im Grunde genommen nur zwischen den Werften austauschen kann; denn das ist gar nicht das Problem. Die Werften in Mecklenburg-Vorpommern nutzen ja ihre Kapazität. ({2}) Eine Übertragung zwischen den Werften ist auch angesichts der Marktsituation - das sind ja nicht alles Brüder und Schwestern, sondern Wettbewerber - nicht sehr hilfreich. Aber gut, es ist entschieden, und wir können uns relativ schnell darauf einigen, Frau Janz: Die neuen Regelungen sind besser als die vorherigen. Sie sind jedoch überhaupt nicht die Lösung des Problems. Es hat zwei maritime Konferenzen gegeben, was ich sehr begrüßt habe, die erste in Emden - genau an der richtigen Stelle -, die zweite in Rostock, vielleicht an einer noch besseren Stelle, denn dort sind die Probleme sicherlich noch größer und verschärfter. ({3}) - Nein, Sie gehen die Probleme nicht an. Fragen Sie sich einmal ernsthaft, welches Signal folgender Sachverhalt ist - der Kollege Börnsen hat es schon angesprochen -: Im Jahr 2001 haben deutsche Werften Aufträge im Wert von rund 300 Millionen Euro akquiriert; da sind wir uns einig. Im gleichen Jahr haben sie aber für 3,9 Milliarden Euro ausgeliefert; das heißt, sie haben nur knapp ein Zehntel dessen, was sie ausgeliefert haben, akquirieren können. Das zeigt, sie haben riesige Probleme, an neue Aufträge zu kommen. ({4}) Sie kommen an diese neuen Aufträge auch deshalb nicht heran, weil die Rahmenbedingungen für Arbeit in Deutschland nicht sonderlich gut sind, weil es hohe Lohnund Lohnnebenkosten gibt, aber sie kommen vor allen Dingen nicht an neue Aufträge, weil die Koreaner falsch spielen. Das ist auch hinlänglich bekannt. Nun müsste man eigentlich die Werften in ihrem fairen Wettbewerbsgedanken unterstützen und als Bundesrepublik Deutschland über die europäische Ebene die Koreaner verklagen; eine solche Stellung sollten wir in Europa haben. Vor diesem Hintergrund ist es höchst erstaunlich, dass wir nicht bei der WTO Klage zugunsten unserer Werften gegen die Koreaner geführt haben. ({5}) Wir haben das im Grunde genommen denen übertragen, die in der Wettbewerbssituation standen, nämlich den Werften und den Reedereien. ({6}) - Frau Wetzel, ich will gar nicht bestreiten, dass sie den Antrag stellen müssen. ({7}) - Seien Sie einmal ganz friedlich. - Fragen Sie einmal die Werften, ob sie sich von der Bundesrepublik Deutschland und vom maritimen Koordinator in dieser Frage begleitet und unterstützt fühlen ({8}) oder ob sie der Meinung sind, dass man mehr hätte tun können. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Die Werften, mit denen ich spreche - das sind eine ganze Reihe -, sagen, dass sie von der Aktion der Bundesrepublik Deutschland, von dem maritimen Koordinator und vom Bundeskanzler in dieser Frage enttäuscht seien. ({9}) - Sie reden möglicherweise mit anderen Werften. Es kann sein, dass diese das anders sehen. Aber die Werften, mit denen ich rede - das sind so ziemlich alle Werften in der Bundesrepublik Deutschland -, sagen, dass sie sich in dieser Frage enttäuscht fühlen. Sie fühlen sich noch in Bezug auf eine weitere Frage enttäuscht - das wissen Sie auch -, nämlich in der Frage der CIRR-Zinsregelung. Die CIRR-Zinsregelung führt dazu, dass deutsche Werften erheblich benachteiligt werden. ({10}) Sie wissen ganz genau, dass es letztlich überhaupt nicht hilft, wenn die Bundesrepublik Deutschland Mittel zur Verfügung stellt, weil die Länder die Kofinanzierung auf die Beine stellen müssen. Einige Länder tun sich damit schwer - dazu gehört beispielsweise Schleswig-Holstein -, weil sie diese Ergänzungsmittel nicht zur Verfügung stellen können. ({11}) - Es hat keinen Zweck, wenn Sie dazwischenrufen, Frau Wetzel. Entweder melden Sie sich zu einer Zwischenfrage oder Sie nehmen Rücksicht auf mich und rufen nicht dauernd dazwischen; denn das irritiert ein wenig. ({12}) Frau Altmann, in diesem Punkt haben Sie Recht. Betrachten wir beispielsweise einmal die Sache mit Frankreich. Was haben Sie für einen Eindruck von der europäischen Allianz, die von Deutschland und Frankreich gebildet wird? ({13}) - Warum funktioniert sie denn nicht? Was haben die Franzosen gemacht? Haben wir denn nicht die Möglichkeit auf anderen Gebieten können wir mit den Franzosen Kooperationen durchaus eingehen; ({14}) ich denke beispielsweise an verschiedene Bereiche der Verkehrstechnik -, den Franzosen zu sagen, dass sie an dieser Stelle einmal still sein sollen und dafür sorgen sollen, dass wir im Bereich der Wettbewerbshilfe zu einer Lösung kommen, die dem Interesse der deutschen Werften Rechnung trägt? ({15}) - Frau Wetzel, es hat keinen Zweck zu glauben, in diesem Bereich sei alles in Ordnung. In diesem Bereich gibt es nämlich riesige Probleme. Wir müssen einfach erkennen, dass wir noch eine Menge Aufgaben zu bewältigen haben. Es macht daher keinen Sinn zu sagen, es sei alles eitel Sonnenschein, der maritime Koordinator werde es schon richten und die maritime Konferenz werde schon die richtigen Weichen stellen. Wir müssen auf diesem Gebiet weiter konsequent arbeiten. Sie haben einen kleinen Schritt getan. Aber weitere Schritte sind dringend notwendig. Hier bedarf es eines größeren Engagements Ihrerseits, damit die Weichen so gestellt werden, dass die maritime Wirtschaft die Chancen hat, die sie verdient. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDS-Fraktion spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS-Fraktion unterstützt den Antrag der Koalition. Wir anerkennen das Engagement der Bundesregierung und sind der Meinung, dass hinsichtlich der Kapazitätsbeschränkungen ein besseres Ergebnis bei der Kommission nicht möglich war. Wir sollten auch so ehrlich sein, das einzugestehen. ({0}) Alle, die anders darüber urteilen und jetzt dazwischenrufen, müssten sich fragen, was sie in der Vergangenheit getan haben. Wir sollten bei aller Kritik das Ergebnis nicht kleinreden. ({1}) Angesichts der harten Konkurrenz auch zwischen den westeuropäischen Standorten war mehr als die zugestandene Flexibilisierung offensichtlich nicht drin, zumal man auch hierzulande mittlerweile auch mit Kreuzfahrtschiffen erfolgreich ist, also in der einstigen Domäne anderer europäischer Werften punktet. ({2}) - Sie sind sehr wohl Bestandteil im Sinne von Wettbewerbsauseinandersetzungen. Wenn wir das eine wollen, dürfen wir das andere nicht aus dem Auge verlieren. Man muss solche Zusammenhänge schon sehen, Herr Goldmann. ({3}) - Aber diese Schiffe werden doch auf den deutschen Werften gebaut. Diese Tatsache muss man einfach sehen. ({4}) - Sie sollten sich erst mit der Materie beschäftigen, bevor Sie solch dummes Zeug reden. ({5}) Wir sollten uns gerade in diesem Bereich, was Kritik und Begehrlichkeiten gegenüber Brüssel anbelangt, zurückhalten. Ich hoffe, dass durch die Übernahme von Kvaerner durch Aker und die damit mögliche Kooperation zwischen Werften in Wismar und Warnemünde der Kompromiss zum Austausch von Kapazitäten auch Arbeitsplätze sichern hilft. Ich will deutlich sagen - da gebe ich Ihnen Recht, Herr Goldmann -: Die Möglichkeit des Kapazitätsaustausches ist ja nur die eine Seite. Diese Möglichkeit im Sinne des Überwindens von Egoismen, ({6}) auch im Sinne von Mehrproduktion zu nutzen, das ist die andere Seite. Ich denke, das muss man schon ansprechen. Zum Antrag der Koalitionsfraktionen: Ich meine, es wird höchste Zeit, dass er beschlossen und umgesetzt wird. Denn wir brauchen die darin geforderten konkreten Informationen und erwarten auch im Gefolge Initiativen der Bundesregierung zur „unverantwortlichen koreanischen Dumpingpreispolitik“. Hier liegt bekanntlich das Hauptproblem aller europäischen und damit auch der ostdeutschen Werften. Auf diesem Gebiet sind wir in den letzten Monaten nicht deutlich vorangekommen. Durch die fehlende Einigung des Industrieministerrates vom Dezember letzten Jahres wurden die befristeten Werftenhilfen weiter verschleppt. Diese sind aber als Flankierung der allseits erwünschten handelspolitischen Auseinandersetzungen unabdingbar. Ich weiß natürlich, dass Appelle an die Bundesregierung keine Ratsbeschlüsse verändern können. Aber manchmal wünschte ich mir, wie es auch Herr Goldmann gesagt hat, dass sie sich ein Beispiel am Verhalten Frankreichs nimmt. ({7}) Dort blockiert man, ohne mit der Wimper zu zucken, ein für andere Mitglieder existenzielles Projekt, um noch weitergehende Wünsche, hier: Beihilfen für Gastanker, aufsatteln zu können. ({8}) Es gibt doch durchaus auch französische Interessen, bei denen wir einmal sagen können, was wir wollen. Hier denke ich zum Beispiel an die Luft- und Raumfahrt. ({9}) Dies offen anzusprechen führt dann vielleicht auch zu einem Umdenken und dazu, dass elementare Bedürfnisse der führenden Schiffbaunation Westeuropas ernst genommen werden. Eine zweite Kritik richte ich insbesondere an den Bundeswirtschaftsminister. ({10}) Während sich sein Staatssekretär an der Schiffbaubeihilfefront bemüht, den zuständigen EU-Kommissar gewogen zu halten, räumt der Minister laufend neue Felsbrocken auf den ohnehin schon steinigen Weg. Damit meine ich zum Beispiel die angedachte Ministererlaubnis für die Fusion von Eon und Ruhrgas. Der uns allen bekannte EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti sagt dazu in der „Berliner Zeitung“ vom Montag dieser Woche: „Auf EU-Ebene haben wir keine Ministererlaubnis, und das finde ich richtig.“ Es ist keineswegs zu weit hergeholt, zwischen Energiepolitik und Schiffbau einen Zusammenhang herzustellen. Wer sich auf dem einen Feld wie ein Elefant im politischen Porzellanladen benimmt, braucht sich nicht zu wundern, wenn ihm auf einem anderen Feld der Wind ins Gesicht bläst. ({11}) Wer Wettbewerbspolitik zur Farce machen will, indem er beispielsweise ein Minister- kurzerhand zum Staatssekretärs-Erlaubnisverfahren erklärt und darin weder die Interessen der Verbraucher noch der Beschäftigten, sondern höchstens die der Anteilseigner eines bestimmten Konzerns verfolgt, der disqualifiziert sich für Forderungen in anderen Feldern der Wettbewerbspolitik. Es bleibt die Frage: Ist Eon wirklich so viel wert? Kollege Börnsen - Sie wissen, ich schätze Sie sehr -, auch für mich bleibt die Frage: Ist der Vorwahlkampf es wirklich wert, nun den langjährigen schiffbaupolitischen Konsens zwischen den Fraktionen aufzukündigen und einfach von Bord zu gehen? ({12}) Ich meine, damit erweisen wir den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo einen schlechten Dienst. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. Danke schön. ({13}) - Das sollten sie einmal nachlesen und sich nicht nur die „Bild“-Zeitung angucken!

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile der Kollegin Margrit Wetzel für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Transportvolumen auf den Meeren wächst jährlich um 7 Prozent. Trotzdem sind die Frachtraten wieder gefallen. ({0}) Die Reeder nehmen freiwillig Tonnage vom Markt, um so den Preisverfall durch Überkapazitäten aufzuhalten. Die Nachfrage ist, nicht nur durch den 11. September letzten Jahres, drastisch eingebrochen. ({1}) Denn wer nicht gut verdient, ordert auch keine neuen Schiffe. Selbst die Banken halten sich bei der Schiffsfinanzierung zurück. Die deutschen Werften haben in den letzten Jahren so viele Schiffsneubauten abgeliefert wie selten zuvor. Die Auftragsbücher sind noch bis Ende 2003 gefüllt, bei etlichen Werften deutlich länger. ({2}) Dieser noch gute Auftragsbestand ist auch das Ergebnis unserer verantwortungsvollen Beihilfepolitik. ({3}) Es war keine Überraschung, dass die auslaufenden Beihilferegelungen zu einem Nachfrageboom führten und umgekehrt eine Flaute im Anschluss daran erfolgen würde. Bund und Länder haben dem Schiffbau mit einer gewaltigen Kraftanstrengung bei der Krisenbewältigung gegen die koreanischen Dumpingpreise geholfen. ({4}) Ich spreche bewusst von einer Krise, denn Subventionen sind kein Dauerzustand. Die deutschen Werften wollen auch keine Subventionen, sondern faire Wettbewerbsbedingungen auf dem Weltmarkt. ({5}) Anfang Januar 2002 hat die OECD-Arbeitsgruppe Schiffbau endlich erkannt, dass sie ihre Anstrengungen deutlich verstärken muss, um zu einem neuen internationalen Weltschiffbauabkommen zu kommen. Wir fordern, dass alle Schiffbaunationen sich darauf verständigen, faire Produktions-, Bilanzierungs- und Arbeitsbedingungen einzuhalten und bei Verstößen auch schmerzhafte Sanktionen zu verhängen. Die USA müssen mitmachen und Korea muss weltweit geltende Bilanzierungsregeln akzeptieren und einhalten. Dazu gehört, dass auch der Kapitaldienst für Kredite einkalkuliert werden muss. Koreanische Werften beherrschen nach wie vor das Geschehen auf dem Weltmarkt. Sie sind hochpoduktiv und supermodern und lassen einen Serienschiffbau zu, von dem europäische Werften nur träumen. Die EU kann sich seit unerträglich langer Zeit nicht zu einer gemeinsamen solidarischen Haltung zur Stärkung der Schiffbauindustrie durchringen. Die Entscheidung über die befristete Fortsetzung der Schiffbauhilfen wurde wieder einmal vertagt, diesmal auf den Juni 2002. Sie muss aber endlich fallen, weil der Schiffbau Vorlauf und Zeit für die Akquisition auf dem internationalen Markt braucht. Die Hartnäckigkeit und die Geduld der Bundesregierung bei den mühsamen Verhandlungen in Brüssel verdienen deshalb unseren Dank, unsere Anerkennung und unser aller Unterstützung. ({6}) Das gilt auch für den Teilerfolg, der im Herbst letzten Jahres für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern nach unglaublich mühsamen Verhandlungen erzielt wurde. Natürlich wollen wir, dass die Kapazitätsbeschränkungen der ostdeutschen Werften ganz aufgehoben werden. Die Frage ist nur, was man de facto durchsetzen kann und ob man mit einem Teilerfolg weiterkommt. Die Übertragung nicht genutzter Kapazitäten und die Vergabe werfttypischer arbeitsintensiver Leistungen hatten inzwischen erkennbare positive Wirkungen: Die Kurzarbeit in Wismar konnte aufgehoben werden. Der Auftrag für den Bau einer Großsektion der „Aida-Aura“ wurde nach Warnemünde vergeben und sicherte dort Beschäftigung in Ausrüstungsberufen. „Durch Fremdvergabe konnte die Terminkette gehalten werden“, so darf ich Herrn Tabel aus Wismar zitieren. Der Auftrag für den Bau kleinerer Sektionen ging nach Stettin; Kooperation mit polnischen Werften heißt auch, Kostenvorteile ausnutzen zu können. Durch die Zusammenlegung von Aker und Kvaerner gehören die MTW und die Warnow-Werft inzwischen zum größten europäischen Schiffbaukonzern. Austausch, Synergieeffekte im Ausbildungs- und Personalbereich, ({7}) in Konstruktion, Fertigung, Materialplanung, Ausschreibung und Einkauf sind möglich. Die gemeinsame Produktpalette wird interessanter und die finanzielle Basis gesünder. Das sind beste Voraussetzungen für eine dauerhafte Standortsicherung. Darüber sollten wir uns freuen. ({8}) Die Einbindung des Konzerns in die Kooperationen von Euroyards nenne ich eine zukunftsweisende europäische Zusammenarbeit. Wir sollten an dieser Stelle erkennen, dass die europäischen Werften - das gilt für die deutschen ganz besonders - deutlich weiter sind als die europäische Schiffbaupolitik. Das muss einfach anerkannt werden. ({9}) Deshalb drücken wir der Peene-Werft, die bereits genannt worden ist, die Daumen für die Akquise von SARSchiffen für die Türkei und der Volkswerft in Stralsund für eine erfolgreiche Entwicklung intelligenter Produktionsabläufe, nachdem die Fertigungsorganisation und die Konstruktion schon neu ausgerichtet wurden. Weiterentwickeln müssen sich unsere Werften schon, wenn sie sich auf dem internationalen Markt behaupten wollen. Computergestützte Fertigung ist heute ein Muss. Aber wer sich einmal ein Bild von den Möglichkeiten der virtuellen Produktion gemacht hat, weiß von den technologischen Vorsprüngen und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Werften. Sie brauchen faire BeDr. Margrit Wetzel dingungen. Sie haben die Nase vorn, sind modern, hochproduktiv, innovativ und kreativ. ({10}) Wir haben einen starken, leistungsfähigen Standort Küste. Die Kooperation mit den deutschen und den europäischen Partnern in Verbindung mit der Spezialisierung auf Kernkompetenzen und der Marktführerschaft in der Fertigungslogistik, das ist die Zukunft. Schiffe werden ständig weiterentwickelt. Serienvorteile - auch wenn es nur Bauteile wie Rohrleitungen oder Systemkomponenten sind - müssen mit der Erfüllung individueller Wünsche, mit technologischer Qualität, mit Liefertermintreue und mit der individuellen Betreuung im Vertrauensverhältnis zwischen Werft und Kunde verbunden werden. ({11}) Da sind unsere Werften superstark. Sie bilden große Netzwerke für den nachhaltigsten Verkehrsträger, den wir überhaupt haben. Auf diese Werften können wir stolz sein. ({12}) Sie haben die volle Unterstützung der Regierung und die Regierung hat für ihren unermüdlichen Dauereinsatz die volle Unterstützung des Parlaments. ({13}) Herr Goldmann, einen letzten Satz kann ich mir nicht verkneifen: Es waren allesamt Wirtschaftsminister der FDP, die es Haushaltsjahr für Haushaltsjahr versäumt haben, in den Haushalt Mittel für die Schiffbauhilfen einzustellen. ({14}) Jedes Mal gab es langwierige Verhandlungen mit den Oppositionsfraktionen; damals waren wir eine. Nun haben wir uns durchgesetzt. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schlage vor, dass wir in der Debatte fortfahren. Das Wort hat der Kollege Ulrich Adam. Er spricht für die CDU/CSU-Fraktion.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Dunkle Wolken am Konjunkturhimmel von Mecklenburg-Vorpommern“ - so lautet eine Überschrift in der „Ostsee-Zeitung“ vom 19. Februar dieses Jahres. Dies ist auch die Aussage von Professor Thomas Lange von der Deutschen Bank. Genau in diesem Zusammenhang sprechen wir heute über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion: Abschaffung der Kapazitätsbeschränkungen für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern. Jedem hier im Saal ist sicherlich bekannt, dass der Schiffbau für unser Land Mecklenburg-Vorpommern vor dem Hintergrund der momentan wirtschaftlich angespannten Situation besonders wichtig ist. Daher hat es nichts mit Miesmachen zu tun, was uns die Bundes- und auch die Landesregierung immer wieder vorwerfen, wenn wir die gegenwärtige Situation realistisch beschreiben. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht. Die Arbeitslosenzahlen sind immens hoch und steigen weiter. ({0}) Die Zahlen belegen dies: Bundesweit legt das Bruttoinlandsprodukt 2001 nur um 0,6 Prozent zu. Bei den Ländern bildet das von SPD und PDS regierte MecklenburgVorpommern mit minus 1,2 Prozent das Schlusslicht. Die Baubranche - ein besonders wichtiger Wirtschaftszweig liegt am Boden. 487 Firmen gingen 2001 Pleite. Das waren so viele wie nie zuvor in einem Jahr. ({1}) Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Mecklenburg-Vorpommern ist bedrückend. Es gibt keinen Anlass, die Situation schönzureden. Seit drei Jahren verharrt der Arbeitsmarkt im Land in tiefer Stagnation. ({2}) Allein in meinem Wahlkreis, dem Kreis Ostvorpommern, liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei 23,7 Prozent und im Kreis Demmin sogar bei 29,5 Prozent. ({3}) Die Prognosen für diesen Monat sehen deutlich schlechter aus. ({4}) Wegen dieser negativen Entwicklung müsste eigentlich alles getan werden, um einen weiteren Arbeitsplatzabbau zu stoppen. Aber die Bundes- und die Landesregierung unternehmen nichts. Mit seinem Prima-KlimaKlub erteilt Ringstorff seinem Arbeitsminister Holter vielmehr einen regelrechten Persilschein. ({5}) Auch die PDS im Land ist nur noch daran interessiert, den Parteifreund zu stützen. Die Arbeitslosenzahlen kümmern sie schon lange nicht mehr. ({6}) - Entschuldigung, das hat sehr viel mit dem Thema zu tun. Von der konstant hohen Arbeitslosigkeit im Land sind vor allen Dingen sehr junge Menschen betroffen. Auf die fehlenden beruflichen Perspektiven reagieren die Jugendlichen mit Abwanderung in die alten Länder.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Adam, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kutzmutz?

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön. ({0})

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Nein, Herr Goldmann, es ist eine ganz einfache Frage. - Herr Adam, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Sie haben gesagt, Landesregierung und Bundesregierung müssten alles tun, damit diese negative Entwicklung gestoppt wird. Meine Frage ist: Könnten Sie mir ganz kurz erklären, was Sie unter „alles“ verstehen? ({0})

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unter „alles“ ist zu verstehen, dass die Landes- und die Bundesregierung mehr tun sollen. Im Augenblick tun sie nichts. ({0}) In meinen folgenden Ausführungen werde ich Ihnen das beweisen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Adam, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Janz?

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön. ({0})

Ilse Janz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann man nicht einfach vorlesen, weil er die ganze Zeit vom Häuserbau, aber weniger vom Schiffbau redet. Deswegen möchte ich gerne fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass zurzeit - ich habe die aktuellen Zahlen vorhin vorgetragen - im Schiffbau 1,9 Prozent mehr Leute eingestellt worden sind. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie hier vortragen. ({0})

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie müssen dann bitte dazu sagen, in welchen Ländern das passiert, Frau Kollegin. Das ist mit Sicherheit nicht in Mecklenburg-Vorpommern so. ({0}) - Nein, das ist nicht der Fall. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Aufgrund der beschriebenen Situation können wir es den Menschen gar nicht verdenken, wenn sie ihre Chancen andernorts suchen. Das ist doch unser Problem. Der zunehmende Fortzug kennzeichnet in jedem Fall die strukturell katastrophale Situation in MecklenburgVorpommern. Ich frage mich, was noch passieren muss, damit die Bundesregierung begreift: ({1}) Der Arbeitsmarkt im Osten braucht nicht in erster Linie organisierte Abwanderungshilfen in Form von Kopfprämien und Einwanderungshilfen im Westen, ({2}) sondern eine organisierte Stärkung des Wirtschaftsstandorts neue Länder. ({3}) Wer angesichts der beginnenden Spirale aus Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Abwanderung tatenlos bleibt, ({4}) gefährdet die Zukunft des Landes Mecklenburg-Vorpommern. ({5}) Die Beschreibung der aktuellen wirtschaftlichen Situation zeigt ganz deutlich: Bei dieser Arbeitslosenquote und bei diesem schlechten Wirtschaftswachstum sind die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern umso mehr auf eine starke Werftindustrie angewiesen. ({6}) In dieser Situation nutzen den Menschen, deren Existenz in weiten Teilen vom Schiffsbau abhängt, keine langwierigen Verhandlungen der Bundesregierung mit Brüssel, an deren Ende eine regelrechte Farce als Erfolg verkauft wird; denn die zwischenzeitlich erzielte Flexibilisierung für die Werften ist schlichtweg eine Farce. ({7}) Die Werfen sind voll ausgelastet. Deshalb bringt das Weiterreichen von nicht verbrauchten Kapazitäten ins nächste Jahr oder zwischen den Werften nichts. ({8}) Die Überschüsse können nur ins nächste Jahr übertragen und nicht kumuliert werden. In der Praxis sind die Regelungen nur sehr bürokratisch umzusetzen und damit weit gehend wirkungslos. ({9}) - Das ist wahr. Das wurde mir erst gestern von den Geschäftsleitungen verschiedener Werften in MecklenburgVorpommern bestätigt. ({10}) - Hören Sie doch zu! - Bei der Möglichkeit der Flexibilisierung durch - ich zitiere - „Berücksichtigung von an Dritte vergebenen Leistungen“ kommt es zudem zu Verwirrungen. Von dieser Möglichkeit ist lediglich eine Reihe aufgelisteter Leistungen betroffen. Diese sind derart eingeschränkt, dass die Leute auf den Werften gar nicht genau wissen, was im Nachhinein anerkannt wird und was nicht. ({11}) Die Gefahr von Sanktionen im Nachgang eines möglicherweise unerlaubten Überschreitens der Quote verunsichert die Menschen. So überlegen sie sich erst einmal genau, ob sie von dieser Möglichkeit überhaupt Gebrauch machen können und ob es überhaupt umzusetzen ist. Die neuen Maßnahmen sind somit reiner Bürokratismus. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte ein wenig an die Zeit. ({0})

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

So stellte der Betriebsratschef der Wolgaster Peene-Werft, Manfred Hoppach, zu Recht fest: ({0}) Die erweiterten Regelungen sind so kompliziert, dass die Geschäftsführung wahrscheinlich extra noch jemanden dafür einstellen muss. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schiffbau ist nun einmal das wichtigste Standbein im industriellen Bereich an der nordöstlichen Küste. Gerade weil es in den anderen Bereichen - ich habe zum Beispiel die Baubranche bereits genannt - Schwierigkeiten gibt, dürfen den Menschen hier keine Steine in den Weg gelegt werden. Sie haben die Möglichkeit, auf den Werften im Land erfolgreich zu arbeiten und Aufträge anzunehmen. Sie haben - das wurde schon gesagt - die modernsten Standorte mit höchstem technologischen Stand. Durch die CGT-Beschränkungen werden sie dieser Möglichkeiten aber beraubt. ({2}) Ein florierender Wirtschaftszweig wird durch die wirtschaftsfeindlichen Beschränkungen in die Mangel genommen und somit in weiten Teilen arbeitsunfähig gemacht. Wir erwarten daher, dass sich die Bundes- und die Landesregierung endlich mit Erfolg engagieren, ({3}) damit die Werften in Mecklenburg-Vorpommern zukünftig entsprechend ihrer Fähigkeiten am Markt konkurrieren können. Wie soll man den Menschen denn begreiflich machen, dass einerseits Milliarden in die Standorte investiert wurden, ihnen aber andererseits für diese lange Zeit Beschränkungen auferlegt werden? Das versteht doch kein Mensch. ({4}) Ich stimme dem Vorstandssprecher des Verbandes für Schiffbau und Meerestechnik e. V., Werner Schöttelndreyer, zu, der diesen Vorgang als „Bonsaieffekt“ bezeichnet. Wir bauen zwar wunderschöne Werften, halten sie aber möglichst klein. Das kann es ja wohl nicht sein. Im Jahre 2000 - also fünf Jahre nach der Festsetzung der Beschränkung - bestand die Möglichkeit, diese zu modifizieren. Die Mindestforderung war eine Anhebung der Obergrenze um 20 Prozent mit einer zeitlichen Staffelung bis zum endgültigen Auslaufen. Dies hätte mindestens erreicht werden müssen. Die Bundesregierung hat hier jedoch versagt. Sie hat in Brüssel nur halbherzig für die Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern gekämpft. Auch die Landesregierung hat nicht genügend Druck ausgeübt. Herr Schröder hat mal wieder bewiesen, dass er die Probleme im Nordosten nicht erkennt und die Realität nicht wahrnimmt. ({5}) Das ist die traurige Bilanz der Verhandlungen mit Brüssel. Obwohl Bundeskanzler Schröder die maritime Wirtschaft ebenso wie den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt hat, hat er drei Jahre lang nichts zur Besserung der Situation unternommen. Symptomatisch war zum Beispiel die zweite Maritime Konferenz am 6. November 2001. Dort war Herr Schröder bereits groß angekündigt, hat dann aber nicht den Weg nach Rostock gefunden. Für alle Anwesenden hat er damit deutlich gezeigt, wie ernst es ihm mit der Chefsache Ost wirklich ist. ({6}) Der Kanzler kann jedoch noch beweisen, dass ihm die Sache ernst ist, indem er sich für die Auftragsvergabe an die Werften in Mecklenburg-Vorpommern durch das Bundesverteidigungsministerium einsetzt und sich bei der Übernahme von Aufträgen von NATO-Ländern nicht weiterhin restriktiv verhält. So könnten wir einem weiteren wichtigen Ziel näher kommen: Die Höhe der Auftragsvergabe an Unternehmen in den neuen Ländern muss der Stationierungsdichte der Bundeswehr in den neuen Ländern entsprechen. Auch hier sind wir bei weitem noch nicht am Ziel angelangt. ({7}) Ich will Ihnen zum Abschluss sagen: Schon heute ist eines klar: Nach dem Gespräch der ostdeutschen Abgeordneten unserer Fraktion mit dem Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber, steht fest: Die Interessen des LanUlrich Adam des Mecklenburg-Vorpommern sind nach dem 22. September 2002 bei einem Bundeskanzler Stoiber besser aufgehoben, als dies gegenwärtig der Fall ist. ({8}) - Hören Sie zu! - Schließlich hat er bewiesen, wie ein agrarisch geprägtes Land - wie dies auch bei Mecklenburg-Vorpommern der Fall ist - mit einer guten Politik zu einem der reichsten Länder Deutschlands werden kann. ({9}) Genau aus diesem Grund haben wir uns in MecklenburgVorpommern auch schon in den 90er-Jahren das Ziel gesetzt, Bayern des Nordens zu werden. Genau dies wird uns mit einem Bundeskanzler Stoiber und einem Ministerpräsidenten Rehberg gelingen. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine geschätzten Vorredner von der Oppositionsbank, ich glaube, wenn man Ihre Morgen- und Abendreden miteinander vergleicht - wobei ich mit „Morgenreden“ das meine, was Sie von sich gegeben haben, als Sie noch auf der Regierungsbank saßen -, dann muss man feststellen, dass das so recht nicht zusammenpasst. Genau das, was Sie heute beklagen, haben Sie uns als Erblast hinterlassen. ({0}) - Warten Sie ab. Ich werde Ihrem Gedächtnis ein wenig nachhelfen. Ich hatte eigentlich vor, mehr zur Sache zu sprechen, aber ich glaube, die Sachinformationen sind ausreichend ausgetauscht. Ich werde mir also eine Retrospektive erlauben, selbst wenn Ihnen das nicht so ganz passt. ({1}) Es ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sich der Bundestag mit der Situation des Schiffbaus in MecklenburgVorpommern befasst. In einem stimmen wir wohl überein: In Mecklenburg-Vorpommern stehen heute europaweit die modernsten und produktivsten Werften, die nicht nur allein für die nördliche Region wichtig sind; denn Schiffbau ist eine nationale Aufgabe. ({2}) Diese Werften sind Ergebnis eines schmerzhaften Prozesses der Umstrukturierung, in den auch erhebliche finanzielle Mittel geflossen sind. Auch in diesem Punkt besteht Konsens. Ich möchte Sie aber daran erinnern: Die Hauptlast dieses Prozesses haben vor allem die Beschäftigen getragen. ({3}) Sie und diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, haben den eigentlichen Preis für den Erhalt der Werftenstandorte gezahlt. Wie groß die Einschnitte seit den vergangenen zwölf Jahren gewesen sind, mögen einige simple Zahlen belegen: ({4}) - Hören Sie mir ein Weilchen zu, dann können wir weiter reden. - Waren im Kombinat Schiffbau zum Ende - ({5}) - Das Gros in Ihrer Amtszeit, das werde ich Ihnen nachweisen. ({6}) Waren im Kombinat Schiffbau zum Ende der DDR noch 55 000 Beschäftigte, ({7}) sind es jetzt noch 4 500. ({8}) Das Gros der Arbeitsplätze wurde in Ihrer Ära abgebaut. ({9}) Waren am 30. Juni 1990 in der Warnemünder WarnowWerft, heute Kvaerner, noch 5 770 Schiffbauer in Arbeit und Lohn, so sind es jetzt, und zwar nicht erst seit heute und gestern, nur noch 1 150. Es lohnt sich doch, über die vielen Einzelschicksale, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, nachzudenken. ({10}) Dass dieser Abbau vor allem sozial flankiert wurde, war das Verdienst von Gewerkschaften und SPD. Diese Leistungen verdienen hier auch einmal Anerkennung. ({11}) Den Hauptpreis haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber für politische Fehlentscheidungen und Schlampereien während der Zeit der Regierung Kohl, vor allen Dingen in den Jahren 1992 bis 1995, zu zahlen gehabt, ({12}) als, erstens, durch eine überhastete Privatisierung durch die Treuhand ein tragfähiges Sanierungskonzept der DMS zerschlagen wurde, obwohl eine Sanierung vor PrivatisieUlrich Adam rung - das war immer unsere Forderung - noch Sinn gehabt hätte, ({13}) und, zweitens, durch schlampiges und verantwortungsloses Handeln der Treuhand, später BvS, unter der Sachund Fachaufsicht des damaligen Finanzministers Waigel ein Fördermittelmissbrauch zulasten der ostdeutschen Werften möglich wurde, an dem Mecklenburg-Vorpommern noch heute zu tragen hat. ({14}) Das war der Auslöser dafür, dass die EU-Kommission jetzt mit Argusaugen auf die ostdeutschen Werftenstandorte und die Einhaltung der Kapazitätsobergrenzen achtet. ({15}) Da ist in der Zeit Kohl gar nichts gelaufen, da hat sich in Brüssel nichts bewegt. Wenn sich die jetzige Bundesregierung von Anfang an die Aufgabe gestellt hat, für die ostdeutschen Werften eine Lockerung der Kapazitätsobergrenzen durchzusetzen und dieses Ziel im Vorjahr auch erreicht hat, dann kann das nur ein Schritt sein, da gebe ich Ihnen Recht. Aber Sie vergessen immer das Entscheidende. Es geht ja nicht nur um das Übertragen von Kapazitäten, sondern es geht vor allen Dingen auch um das Herausrechnen von nicht schiffbautypischen Leistungen, was schon Entlastung schafft. ({16}) In diesem Sinne ist natürlich der heutige Spruch des Europäischen Gerichtshofes ein gutes Zeichen. Diese Entscheidung wird von uns nachdrücklich begrüßt. Dem maritimen Koordinator der Bundesregierung möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich für sein engagiertes und erfolgreiches Handeln danken. ({17}) Zwei maritime Konferenzen, ({18}) denen in Kürze eine dritte folgen wird, ({19}) zeigen im Übrigen, dass die Bundesregierung den maritimen Sektor und den Schiffbau aufwertet und ernst nimmt. ({20}) Wenn Sie jetzt an diesen Ergebnissen herummäkeln, müssen Sie sich doch einfach einmal fragen lassen, welche Erblasten an ungelösten Problemen uns Ihre Partei, die Partei von Waigel, Breuel, Stoiber-Berater Rehberg und anderen, hinterlassen hat. ({21}) In Ihrer Zeit ist da nichts gelaufen. Es wäre gut, wenn Sie sich an Ihren Taten messen lassen würden. An Ihren Taten soll man Sie messen und nicht an Ihren Morgen- und Abendreden. Danke schön. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8050 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Abschaffung der Kapazitätsbeschränkungen für Werften in Mecklenburg-Vorpommern. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8051 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Faire Wettbewerbsbedingungen für die Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({0}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege ({2}) - Drucksache 14/8276 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Margot von Renesse. ({4})

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich im Bundestag angefangen habe, begleitete die Diskussion über den Abbau des Gebirges von Unrecht - um es einmal so zu nennen -, das uns aus der nationalsozialistischen Zeit hinterlassen worden ist und das uns, wie ich befürchte, noch lange beschäftigen wird, schon relativ schnell nach dem Eintritt in den Rechtsausschuss meine Arbeit. Dann habe ich erlebt, wie nach einer gewaltigen Schinderei 1998 ein Gesetz in Kraft treten konnte, nach dem die Betroffenen, über die wir auch heute reden - die „Deserteure“, „Wehrkraftzersetzer“ und „Feiglinge“ -, die Möglichkeit hatten, in einer Einzelentscheidung ihre ungerechten Urteile aufheben zu lassen. ({0}) Das war ein gewaltiger Fortschritt. Es gibt niemanden - Herr Beck, wir wissen das, weil wir das gemeinsam erfahren haben -, der einen solchen Antrag gestellt hat und dem es nicht widerfahren ist, dass dieser aufgehoben worden ist. Deswegen habe ich - das muss ich zugeben - das Anliegen der Betroffenen zunächst nicht verstanden. Ich muss dafür um Entschuldigung bitten. Aber ich meine, dass wir in der Tat noch einmal darüber nachdenken müssen, was eigentlich der Hintergrund einer solchen Entscheidung, wie wir sie heute treffen werden, ist. ({1}) - Nein, es ist nicht reiner Wahlkampf. ({2}) Es geht möglicherweise gar nicht mehr um individuelle Schicksale, nicht nur um die Anerkennung des einzelnen Unrechts; so verstehe ich das heutige Anliegen. Damit ist zugleich gesagt, dass das, was den Betroffenen widerfahren ist, nicht ein einzelnes ungerechtes Urteil ist, sondern dass sie Opfer einer Mordmaschinerie wurden, einer Verfolgung, die groß angelegt war und in der sie nur kleine Rädchen waren. Wir kennen die Zahl der Verurteilungen und die entsprechenden Strafzumessungen, wenn man davon überhaupt reden kann. Als das Gesetz, das wir jetzt ergänzen und vervollständigen, beraten wurde, haben wir im Rechtsausschuss lange darüber nachgedacht, welche Vorbehalte es eigentlich dagegen gibt. Ich weiß doch, Herr Geis und Herr Gehb, dass Sie mit dem Nationalsozialismus nichts im Sinn haben ({3}) und dass es Ihre Sache nicht ist, diejenigen zu rechtfertigen, die damals Täter waren, auch wenn sie sich Richter nannten. Aber was sind die Ängste, die hinter den Vorbehalten lagen? Ich meine, es geht in jedem Fall um die Gegenwart. Es gibt die juristische Scheu davor, von Gerichten gefällte Urteile aufzuheben und den Gerichten nachträglich zu sagen, es sei Unrecht. ({4}) Es gibt einen großen Vorbehalt dagegen, weil man sich nicht vorstellen kann, dass es möglich ist, alle paar Generationen erneut eine gewandelte Rechtsauffassung zu überprüfen und daraufhin Urteile aufzuheben. Aber ich meine in der Tat, dass das, was wir 1998 gemacht haben, die Weichen in die Richtung gestellt hat, dass man es in diesem Ausnahmefall mit Recht tun konnte. Denn dies waren keine Urteile, weil sie im Gewand des Gerichts und der Justiz ganz andere Akte waren, nämlich Demonstrationen von Menschenverachtung und Vernichtung. ({5}) Darüber sind wir uns einig. Dann gibt es aber noch andere Probleme. Ich habe gehört, was Sie mehrfach im Rechtsausschuss und auch hier im Plenum dazu gesagt haben, Herr Geis, und meine, dass darin die heutigen Vorbehalte liegen. Ich habe gerade eben einen Brief bekommen, in dem jemand ein Denkmal für Deserteure fordert. Darum geht es bei dem vorliegenden Gesetzentwurf gerade nicht. Aber die Sorge, dass das Desertieren heilig gesprochen wird, scheint ganz deutlich hinter den Vorbehalten zu stecken. ({6}) - Sehen Sie, ich habe das doch richtig wiedergegeben. ({7}) Wir, die wir dieses Gesetz verabschieden, verbinden keine solche Absicht damit. Das Desertieren - vor allem das Verurteiltwerden - war unter den damaligen Bedingungen etwas völlig anderes als das, was es heute wäre. ({8}) In der Begründung dieses Gesetzes haben wir dies sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: Wir haben eine andere Armee, wir haben einen anderen Staat, wir haben eine andere Möglichkeit, sich dem Wehrdienst zu entziehen, wenn man glaubt, dass er mit dem eigenen Gewissen nicht vereinbar ist. Dieser Respekt vor dem Einzelnen bestand damals nicht; darin besteht der Unterschied. ({9}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Der Unterschied besteht auch darin, dass man dem heutigen Staat mit Recht dienen kann. Ich will nicht sagen, dass man für ihn sein Leben verlieren soll; als „stolze Trauer“ würde ich so etwas nie bezeichnen. Aber es ist jedenfalls sinnvoll, diesem Staat mit seinem Leben zu dienen. Der zweite Vorbehalt ist, soweit ich es beurteilen kann, folgender: Die dahinter stehenden Ängste betreffen auch die Frage, was mit unseren Vätern oder Großvätern ist, die in der Wehrmacht waren. Sind sie durch den Freispruch der „Wehrkraftzersetzer, Deserteure und Feiglinge“ verurteilt? Wir kennen die Diskussion um die Wehrmachtausstellung und wissen, dass es in der Wehrmacht massenhaft Unrecht gab. Aber niemand käme auf die Idee, zu behaupten, jeder Deserteur sei ein Held und Widerstandskämpfer gewesen. Ebenso wenig käme jemand auf die Idee, zu behaupten, jeder Wehrmachtsangehörige sei ein Verbrecher oder Menschenschinder gewesen. Das sind Einzelurteile, die sich jeder vorbehalten kann. Ich halte diese Ängste für unberechtigt. Sie sind verständlich; aber mit diesem Gesetz ist weder eine Verurteilung auf der anderen Seite noch das Heldentum auf dieser Seite gemeint. Es gibt für „Wehrkraftzersetzer“ kein Denkmal, aber einen pauschalen Freispruch. Danke sehr. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein wenig bin ich schon darüber verwundert, dass wir heute diesen Gesetzentwurf diskutieren. Von verschiedenen Seiten des Hauses - auch von mir - wurde in den vergangenen Monaten immer wieder nach einem Gesetzentwurf gefragt; doch die Bundesregierung hatte es offensichtlich überhaupt nicht eilig, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Ihr Desinteresse, wenn nicht gar ihre Ablehnung, war mit Händen zu greifen. Nun liegt ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vor. Bevor ich auf die in ihm angesprochenen Themenfelder im Einzelnen eingehen werde, erlauben Sie mir bitte eine ernst gemeinte Vorbemerkung. Ich will, um es höflich auszudrücken, meiner Irritation darüber Ausdruck verleihen, dass die Koalitionsfraktionen meinen, mit ihrem Entwurf den Beschluss des Bundestages vom 7. Dezember 2000 erfüllt zu haben. Frau von Renesse, wir haben im Berichterstattergespräch zusammengesessen; es ging dabei um eine Aufforderung an die Bundesregierung. Ich erinnere mich nicht, Herr Beck, dass wir SPD und Grüne einstimmig aufgefordert hätten, einen Gesetzentwurf vorzulegen. ({0}) Es mag ja nur eine Stilfrage sein und über Stilfragen wundere ich mich in diesem Hause schon lange nicht mehr. Aber die Indizien sprechen sehr dafür, dass es mehr als eine Frage des Stils oder der Zeitknappheit ist. ({1}) Ich habe eher den Eindruck, die Bundesregierung fasst die pauschale Aufhebung der NS-Urteile mit spitzen Fingern an und delegiert diese in ihren Augen unliebsame und im Falle der Deserteure auch in der Sache nicht berechtigte Pauschalaufhebung an die Regierungsfraktionen. ({2}) Anders kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass der Adressat unserer einstimmigen Bitte, die Bundesregierung, durch die „Abgeordneten Alfred Hartenbach, ... Volker Beck ...“ ersetzt worden ist. Ich erinnere daran, dass sich der Vertreter des Justizministeriums schon zu Zeiten der jetzigen Ministerin im Rechtsausschuss des Bundesrates bei der Behandlung des Hamburger Gesetzentwurfs zur Aufhebung der Urteile, die nach §§ 175 und 175 a Reichsstrafgesetzbuch gefällt worden sind, lang und breit darüber ausgelassen hat, warum diese Aufhebung überflüssig und unsinnig sei. ({3}) Ich erinnere ferner daran, dass nicht ein einziger Vertreter der Bundesregierung bei den beiden Plenardebatten, die zu dem schon zitierten Beschluss vom 7. Dezember 2000 geführt haben, das Wort ergriffen hat. War das wirklich reiner Zufall? Ich darf auch daran erinnern, wie lückenhaft der Entschädigungsbericht der Regierung - das lässt ein gewisses Desinteresse vermuten - ausgefallen ist. Man meinte, uns Abgeordneten beispielsweise keine Zahlenangaben zu dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz mitteilen zu müssen. Dabei war schon während unserer Regierungszeit einem liberalen Kollegen mitgeteilt worden, dass nur 14 von 23 gestellten Anträgen derjenigen, die wegen Homosexualität verurteilt worden waren, fristgerecht bis Ende 1959 eingegangen waren. Das Haus von Finanzminister Eichel hätte uns - das hätte nur eines geringen Aufwands bedurft auch mitteilen können, dass die Hälfte der 22 Anträge auf AKG-Härteleistungen abgelehnt wurde. Ich möchte meine Aufzählung nicht weiter fortsetzen. Alles in allem habe ich nicht den Eindruck, dass die Bundesregierung aus tiefster Überzeugung hinter dem vorliegenden Gesetzentwurf steht und mit großem Engagement an die damit zusammenhängenden sachlichen und materiellen Fragen herangeht. Ich selbst habe schon in der Vergangenheit gesagt - das gilt auch für meine gesamte Fraktion -, dass ich gut mit der bisherigen Regelung und der bisherigen Praxis hätte leben können. Neben der Generalklausel im NS-Aufhebungsgesetz aus dem Jahre 1998 gibt es eine Regelung, die der Einzelfallgerechtigkeit dient. Ich habe damals des Weiteren den Widerspruch angesprochen, der sich ergibt, wenn die Urteile, die zwischen 1935 und 1945 gefällt worden sind, aufgehoben werden, während diejenigen, die zwischen 1945 und 1969 verurteilt worden sind, weiter unter dem Stigma der strafbewehrten Homosexualität leiden müssen. ({4}) Dieser Widerspruch wird auch von vielen Rechtswissenschaftlern kritisiert, wohlgemerkt, Herr Hartenbach, von Rechtswissenschaftlern, nicht von Amtsrichtern. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Gehb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hartenbach?

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das ist mir lieber, als wenn er mich von der Seite anspricht. Dann kann ich ihm eine entsprechende - weniger polemische - Replik geben. Lieber Herr Hartenbach, bitte sehr.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich ausgesprochen höflich bei Ihnen. - Herr Dr. Gehb, ich möchte Sie fragen, ob Ihnen der Unterschied zwischen nationalsozialistisch gefärbten und von nationalsozialistischem Ungeist durchdrungenen Urteilen, die im Zeitraum von 1935 bis 1945 gefällt wurden und die von dem Willen geprägt waren, die Homosexuellen zu vernichten, und den Urteilen, die von rechtsstaatlichen Gerichten gefällt worden sind, bekannt ist. Wissen Sie diesen Unterschied richtig zu würdigen? Würden Sie, wenn Sie das tatsächlich zu würdigen wüssten, noch immer eine solche Behauptung aufstellen, wie Sie es eben getan haben? ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte das, was man bei großzügiger Auslegung als Frage auffassen kann, gerne beantworten. Selbstverständlich ist mir dieser Unterschied bekannt. Diesem Unterschied wird auch durch das Gesetz Rechnung getragen. Diese Urteile sollen ja nicht bis in alle Ewigkeit perpetuiert werden. Sie können auf Antrag aufgehoben werden. Das ist der Unterschied. Im Übrigen muss ich dem Kollegen von Klaeden Recht geben: Ihre Frage hatte durchaus einen unterstellenden Charakter. Ich möchte Ihnen das angesichts der späten Tageszeit, aufgrund derer Sie vielleicht etwas erschlafft sind, nachsehen, Herr Hartenbach. ({0}) Um die Schärfe herauszunehmen, möchte ich sagen, dass meine Fraktion zu dem Beschluss steht, den wir nach hartem Ringen im Beisein von Frau von Renesse, Herrn Beck und Herrn van Essen einstimmig gefasst haben. Ich habe damals zur NS-Zeit sowie zur Zeit nach 1945 ausführlich und, wie ich meine, differenziert Stellung genommen. Das muss ich heute im Detail nicht wiederholen. Wer Nachholbedarf an historischer Bildung zum Thema „Homosexuelle und NS-Zeit“ hat, der kann beispielsweise zum Sammelband von Jellonek und Lautmann greifen, der gestern in der Landesvertretung des Saarlandes vorgestellt wurde. Die CDU/CSU-Fraktion zollt - das lasse ich mir auch nicht absprechen; Sie haben uns das Gott sei Dank konzediert - den homosexuellen Opfern der NS-Zeit durchaus Respekt und Anerkennung. Wir tragen den Beschluss vom 7. Dezember 2000 mit und wollen damit ganz bewusst unseren geschundenen und verfemten Mitbürgern ihre Würde wiedergeben. Bevor ich auf den zweiten Themenkomplex zu sprechen komme, möchte ich auch hier eine ernst gemeinte Vorbemerkung machen. Nach dem vorliegenden Entwurf sollen Urteile pauschal aufgehoben werden, die auf mehr als 40 Paragraphen des Militärstrafgesetzbuchs - auf mehr als 40 Vorschriften! - beruhen. Exemplarisch werden im Text sieben Tatbestände benannt. Ich bitte Sie, mir nachzusehen, dass ich bisher nicht in der Bibliothek war, um in dem alten Militärstrafgesetzbuch zu stöbern. Diesbezüglich existiert eine Bringschuld derjenigen, die den Gesetzentwurf eingebracht haben; sie müssen eine sachgerechte Beratung in diesem Hause ermöglichen. Das ist, wie ich eben schon gesagt habe, zumindest auch eine Frage des Stils. Der rechtspolitische Sprecher unserer Fraktion, mein Kollege Norbert Geis, der auch heute Abend anwesend ist, hat diesem Haus zuletzt vor vier Wochen mit großem Engagement und guten Gründen dargelegt, warum - das ist ganz entscheidend - eine Pauschalaufhebung der Urteile gegen Deserteure unserer Ansicht nach nicht möglich ist: Sie würde zu neuem Unrecht führen. Bei der Vorbereitung meines Beitrags - ich bin eigentlich nur als Redner eingesprungen - bin ich auch über Worte von Ihnen gestolpert, Frau von Renesse, und zwar aus dem vergangenen Mai. Ich darf Sie einmal wörtlich zitieren: Nach einem in der Tat quälend langen Beratungsprozess hat der Bundestag in der letzten Legislaturperiode alles nachgeliefert, was den Wehrdienstverweigerern, Fahnenflüchtigen und „Wehrkraftzersetzern“ des Zweiten Weltkrieges schon lange zugestanden hätte: volle Rehabilitierung und Anspruch auf Entschädigungsleistung. Der Antrag der PDS - um den ging es nämlich damals ist daher, wie man bei Gericht sagt, in der Hauptsache erledigt. ({1}) Frau von Renesse, ich neige bei Ihnen häufig zu spontanem Beifall, gelange bei längerem Nachdenken allerdings auch häufig zu einer Frage. Hier frage ich mich: Was hat sich in den letzten Monaten in der Hauptsache eigentlich verändert? Hier besteht doch ein Erklärungsbedarf. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gab es für die Opfer der NS-Militärjustiz die volle Rehabilitierung und auch Anspruch auf eine Entschädigungsleistung, die anders als bei den homosexuellen NS-Opfern erfreulicherweise auch einkommensunabhängig war. Fußend auf diesem berühmten Beschluss des Jahres 1997 kam es zum NS-Aufhebungsgesetz und aus für mich nachvollziehbaren, fast zwingenden Gründen auch zur Einzelfallprüfung, jedenfalls für Deserteure. Ich darf alle Seiten des Hauses daran erinnern, dass der ehemalige Vorsitzende des Rechtsausschusses, der allseits noch bekannte Horst Eylmann, als es um die Gemeinsamkeit zwischen den Fraktionen ging, unwidersprochen feststellte - auch das darf ich wörtlich zitieren -: Niemand hat bisher ausdrücklich bestritten, dass in seltenen Ausnahmefällen eine Desertion im Zweiten Weltkrieg auch unter Anlegung heutiger Wertmaßstäbe als Unrecht bewertet werden kann, so wenn eine Desertion mit der Tötung eines Kameraden einherging oder dadurch erst ermöglicht wurde. ({2}) Daraus kann ich doch nur schließen, dass man der Auffassung war - das gilt wohl nicht nur für uns Christdemokraten -, dass es Deserteure gab, die aus durchaus ehrenhaften Motiven handelten und Opfer wurden, und andere, die aus verwerflichen Motiven handelten. Folgerichtig kam die Einzelfallprüfung zum Zuge. Ebenso gilt für uns die Einzelfallprüfung für Richter der Militärjustiz. Damals gab es bestimmt „Blutrichter“, aber auch andere, die nach bestem Wissen und Gewissen handelten. Eine pauschale Verdammung ist nicht angebracht. Weder eine pauschale Verurteilung noch eine pauschale Aufhebung ist angebracht. Deshalb halten wir die Einzelfallprüfung weiter für sachlich geboten. Offen gesagt: Ich fühle mich auch bestätigt, wenn ich mir die Begründung des Gesetzentwurfs ansehe. Darin lese ich - das hat mich allerdings auch nicht erstaunt -, dass sich die bisherige Regelung für den Bereich Desertion bewährt hat. ({3}) Es ist bisher kein Fall bekannt geworden, in dem eine beantragte Urteilsaufhebung verweigert worden wäre. Im Übrigen schwingt bei der Pauschalaufhebung gerade im Bereich Desertion/Fahnenflucht eine Gefahr mit - Sie haben zu Recht gesagt, Frau von Renesse, dass Sie das nicht intendiert haben -, und zwar mit Blick auf den Empfängerhorizont. Die Pauschalaufhebung könnte fälschlicherweise dahin verstanden werden, dass sich diejenigen, die weiter gekämpft haben, die also nicht desertiert sind, auch heute noch sozusagen als die Blödmänner vorkommen müssen. ({4}) Das Entscheidende ist der Empfängerhorizont. Das ist typisch bei Willenserklärungen: Es kommt nicht auf den Horizont des Erklärenden, sondern - das kann niemand in Abrede stellen - auf den des Empfängers der Erklärung an. Zum Schluss möchte ich zwei Punkte klar und eindeutig unterstreichen: Erstens. Eine Rehabilitierung der Deserteure der deutschen Wehrmacht kann nicht im Geringsten - das will auch niemand - auf Fahnenflüchtige der Bundeswehr übertragen werden. Die Bundeswehr ist die Armee eines Rechtsstaats. Ihren Soldaten ist es gesetzlich verboten, verbrecherische Befehle zu befolgen. Darauf zielte Ihr Einwand, Herr Beck. ({5}) Zweitens. Mit der Rehabilitierung der Deserteure des Zweiten Weltkriegs ist überhaupt keine Herabwürdigung derjenigen deutschen Soldaten verbunden, die tapfer weitergekämpft haben, weil sie glaubten, dazu ihrem Staat und ihrem Heimatland gegenüber verpflichtet zu sein. ({6}) Ich denke, dass alles Übrige dem Gespräch zwischen den Generationen und der Geschichtsschreibung überlassen werden sollte. ({7}) Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin von Renesse das Wort.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gehb, es ist immer problematisch, eine Rede abzulesen. Dann hat man offensichtlich wenig Möglichkeiten, auf das reagieren zu können, was man hätte hören können, wenn man zugehört hätte. Ich habe mich für diese Rede nämlich entschuldigt. Das ist Ihnen offensichtlich entgangen. Mein Verständnis - ich hatte es damals aus den von mir genannten Gründen nicht - entstand überhaupt erst aufgrund der Gespräche mit den Betroffenen. Den Betroffenen geht es nicht - das habe ich gesagt - um die Gerechtigkeitsprüfung im Einzelfall, weil es ihnen als nicht genügend erscheint, als Opfer eines Unrechtsurteils zu gelten, was etwa die Aufhebung oder die Wiederaufnahme des Verfahrens mit sich brächte. Sie wollen, dass festgestellt wird, dass sie Opfer einer Maschinerie der Verfolgung geworden sind. Übrigens, auch Sie haben - mit unserer Zustimmung - die Waldheim-Urteile aufgehoben, ohne damit zu sagen, dass die Betroffenen einen Orden verdienen. Mir ging es darum, das klarzustellen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Erwiderung hat der Kollege Gehb das Wort.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin von Renesse, Sie wissen, dass auch ich eher zu denjenigen gehöre, die komplett frei reden, sich jedenfalls keine Reden aufschreiben lassen. Ich hänge nicht am Manuskript, sondern habe Ihnen sehr wohl zugehört. Die Tatsache, dass Sie sich entschuldigt haben, kann die Tatsache, dass dies noch vor kurzem Ihre Auffassung war, nicht vergessen machen. Nur darauf habe ich rekurriert. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, das Entscheidende gerade in solchen Debatten, in denen es um die Aufarbeitung von historischem Unrecht geht, ist, dass das, was man in der Vergangenheit glaubte über dieses Unrecht sagen zu müssen, im Lichte der Perspektiven der Betroffenen und im Lichte der historischen Wahrheit überprüft wird. Es gehört gerade zur Größe dieses Hauses, dass es uns gelungen ist, nachdem man lange Zeit die Augen vor dem ganzen Ausmaß des NS-Unrechts bei der Entschädigung wie bei der Rehabilitierung verschlossen hat, falsche Entscheidungen der Vergangenheit zu korrigieren. Deshalb kann man bei der Debatte um die Rehabilitierung der Deserteure und der Homosexuellen sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wie lang und wie quälend waren die Debatten in diesem Hause in der letzten Legislaturperiode über die Rehabilitierung der Deserteure, über das NS-Unrechtsaufhebungsgesetz? Ich möchte den Grundgedanken NS-Unrechtsaufhebungsgesetz in Erinnerung rufen: Das alles ging auf die Initiative einer Schule zurück - die nach Dietrich Bonhoeffer benannt war -, die sich danach erkundigt hat, ob dessen Verurteilung noch gültig sei. Nach monatelangen Recherchen fand man in der Tat heraus, dass es ein bayerisches Kontrollratsgesetz gab, nach dem dieses Urteil aufgehoben war. ({0}) Wir, die Abgeordneten des Bundestages, haben daraufhin gesagt: Es ist unwürdig, dass man dem Einzelfall nachgehen muss und dass es kein Bundesgesetz gibt, das diese Urteile pauschal aufhebt. Genau dieser Gedanke ist auf die Gruppe der Homosexuellen und der Deserteure anzuwenden. Auch diese Menschen wollen nicht nochmals zum Staatsanwalt gehen und um Freispruch bitten müssen, nachdem sie vor 50 oder 60 Jahren zu Unrecht verurteilt wurden. ({1}) Es täte dieser Debatte wirklich gut, wenn wir nach der Ausschussberatung - wir werden gemeinsam das Militärstrafgesetzbuch durcharbeiten und gründlich beraten wieder, wie im Dezember 2000, eine gemeinsame Entscheidung für die Homosexuellen und für die Wehrmachtsdeserteure treffen könnten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Selbstverständlich.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Beck, würden Sie mir zubilligen, dass das Urteil wegen Desertion gegen den Deserteur, dessen Name bekannt ist und der desertiert ist, obwohl ihm der Auftrag erteilt worden ist, Flüchtlinge, die aus dem Osten vor den anrückenden Feinden geflüchtet sind, auf sein Schiff zu nehmen, um sie zusammen mit anderen Schiffen nach Deutschland zu bringen, und der dies nicht getan hat, sondern mit seinem Schiff, ohne Flüchtlinge aufzunehmen, mit 18 weiteren Kameraden nach Norwegen geflüchtet ist, auch nach heutigen Maßstäben rechtens ist?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Entscheidung dieses Deserteurs war sicher nicht gut. Es geht aber nicht darum - Frau von Renesse hat es betont -, hier zu klären, ob ein einzelner Deserteur ein Held oder vielleicht auch nur ein Feigling war. Vielmehr geht es um die Frage, ob das Dritte Reich als Staat grundsätzlich legitimerweise mit strafrechtlichen Mitteln den Gehorsam seiner Soldaten durchsetzen durfte. Meiner Auffassung nach, Herr Geis, hatte das Dritte Reich diese Legitimität nicht. Es hatte keinen Anspruch darauf, dass seine Soldaten ihm gehorchten, weil es einen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg führte, weil es eine illegitime Staatsführung hatte, die an Verbrechertum nicht zu überbieten war. Deshalb war der Strafanspruch dieses Staates in diesen Fragen grundsätzlich verwirkt. ({0}) Darum geht es. Es geht nicht darum, die Militärrichter, die im Einzelfall nur Recht und Gesetz ausgelegt haben und nicht über das übliche Maß hinausgegangen sind, zu verurteilen. Es geht auch nicht darum, über Soldaten oder Offiziere der Wehrmacht, wie meinen Vater, den Stab zu brechen, die meinten, bis zum Ende für ihr Vaterland kämpfen zu müssen. Wer sind wir von der jüngeren Generation, dass wir wüssten, wie wir in dieser Zeit gehandelt hätten? Eines aber will ich Ihnen auch sagen: Es gab nicht nur Feiglinge bei den Deserteuren, sondern es gab auch viele Leute, die aus Feigheit weiter in den Krieg gegangen sind, weiter das Morden in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern verteidigt haben und mit jedem Tag, den sie die deutsche Front im Osten länger gehalten haben, dafür gesorgt haben, dass weitere Juden in die Gaskammern kamen, weitere Menschen gemordet und verschleppt wurden und dass durch die Todesmärsche weitere Menschen zu Tode kamen. ({1}) - Darum geht es bei dieser Problematik. Wir reden hier über das Dritte Reich. Wer über das Dritte Reich redet, kann ja wohl zu Auschwitz nicht schweigen, Herr Gehb. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Nachfrage?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön. Vielleicht lernen wir ja noch etwas.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Beck, würden Sie mir zustimmen, dass die völkerrechtliche Unterscheidung in „ius ad bellum“, nämlich das Recht zum Krieg, und „ius in bello“, das Recht im Krieg, für alle Kriege gilt, auch, für den letzten Krieg? Meinen nicht auch Sie, dass auch in einem nicht berechtigten Angriffskrieg Recht Geltung haben kann, dass selbst - in der DDR war es ja genauso unter einem Unrechtsregime Recht gelten kann und dass die Vorschrift der Desertion einen Doppelcharakter hat, nämlich zum einen den völlig unberechtigten Anspruch des Staates auf Gefolgschaft - da stimme ich Ihnen zu -, zum anderen aber auch eine Schutzwirkung, wie in dem Fall, den ich vorhin genannt, und zwar sowohl gegenüber Flüchtlingen als auch natürlich gegenüber den eigenen Kameraden, gegenüber der eigenen Truppe, die dann, wenn Deserteure davongelaufen sind, in höchste Gefahr kommen? Diese Doppelbedeutung der Vorschrift Desertion - § 64 Wehrstrafgesetzbuch - existiert nämlich unabhängig davon, ob Hitler ein Diktator war oder nicht! Er war ein Diktator; darüber brauchen wir nicht zu streiten.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn wir das so betrachten, Herr Geis, dann wäre jede Sabotagehandlung gegen die Kriegsführung des Dritten Reiches zu Recht zu bestrafen, ({0}) weil sie im Zweifelsfall, wenn sie erfolgreich ist, dazu führt, dass das Leben von anderen kämpfenden Einheiten bedroht wird. Das ist die Struktur von Widerstandshandlungen in einer solchen politischen und militärischen Auseinandersetzung. Aus diesem moralischen Dilemma kommt kein Mensch dieser Zeit heraus. Wir sollten die Frage in der Tat so lösen, dass wir fragen, ob Entscheidungen bezüglich dieses Punktes angesichts dieses Staates legitim waren. Etwas anderes ist es - das bleibt so; Herr Gehb hatte ja diese Frage angesprochen -, wenn ein Deserteur bei seiner Desertion einen Kameraden erschossen hat, um fliehen zu können. Dann bleibt die Verurteilung wegen Mordes oder Totschlags an seinem Kameraden auch nach der Aufhebung der Desertionsurteile bestehen. ({1}) Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb ist es ungerechtfertigt, unsere Initiative auf diese Art und Weise zu denunzieren. ({2}) Ich bin froh, dass sich zumindest Rot-Grün, die PDS und vielleicht sogar die FDP hier im Hause einig darüber sind, diesen Schritt gemeinsam zu gehen. Ich bin deshalb froh, weil ich Menschen wie Ludwig Baumann kenne, die noch leben und in der Bundesrepublik Deutschland ein schlechtes Leben hatten, weil ihnen die Strafverfolgung aus der Zeit des Dritten Reiches in Form von gesellschaftlicher Ächtung in unserem Land wieder begegnet ist. Ich bin froh für Menschen wie den deutschstämmigen Elsässer Pierre Seel, der, nachdem er seinen Freund im Konzentrationslager verloren hatte und selbst ins KZ gekommen war, weil er homosexuell war - ich rate allen einmal, seinen erschütternden Lebensbericht nachzulesen -, noch zu seinen Lebzeiten erfährt, dass wir sagen: Deine Verurteilung war Unrecht. Wir wollen nicht, dass die Opfer dieses Unrechtsregimes zu Bittstellern werden und 50 oder 60 Jahre, nachdem ihnen dieses Unrecht widerfahren ist, vor Gericht darum betteln müssen, dass ihnen endlich Recht widerfährt. ({3}) Herr Gehb, Sie haben vorhin angesprochen, dass es wenige Homosexuelle gab, die bis 1959 einen Antrag auf Entschädigung nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz gestellt haben. ({4}) Ich weiß nicht genau, was Sie uns damit sagen wollten. Der Grund, warum sich Homosexuelle bis 1969 nicht mit Entschädigungsansprüchen an den deutschen Staat gewandt haben, lag in der skandalösen Tatsache, dass der 1935 von den Nationalsozialisten verschärfte § 175 bis 1969 in der Bundesrepublik Deutschland unverändert fortgegolten hat. Wer damals sein Recht auf Entschädigung eingefordert hätte, hätte sich gleichzeitig indirekt der Staatsanwaltschaft ans Messer geliefert. Diese Kontinuität der Verfolgung der Homosexualität bis 1969 ist in der Tat ein Unrecht und war menschenrechtswidrig. Der Deutsche Bundestag hat im Dezember 2000 gesagt: Wir wollen, dass die Urteile aus dem Dritten Reich aufgehoben werden, und für die Kontinuität der Verfolgung der Homosexualität entschuldigen wir uns bei der homosexuellen Minderheit, weil wir sehen, dass dieses Hohe Haus lange Jahre in dieser Frage geirrt hat. Ich finde, es ehrt die Demokratie, dass sie zu solchen selbstkritischen Äußerungen in der Lage ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Achten Sie jetzt bitte auf die Zeit!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, damit haben wir das Thema moralisch und juristisch angemessen behandelt. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von Renesse ist im Augenblick nicht mehr da. Ich wollte sie eigentlich auf ihre Entschuldigung ansprechen. Ich muss sagen, dass die Auffassung, die sie damals bei der Debatte über einen PDS-Entwurf bezüglich des die Homosexualität betreffenden Teils vertreten hat, auch meine persönliche Auffassung war, und zwar deswegen, weil ich der Meinung bin, dass die Generalklausel in § 1 des NS-Aufhebungsgesetzes alle Verurteilungen wegen Homosexualität im Dritten Reich erfasst hat. Ich darf daran erinnern, was ich damals gesagt habe - das ist auch weiter meine Überzeugung -: Wir werden kein einziges Urteil finden, bei dem der nationalsozialistische Wille, Homosexuelle zu vernichten, nicht durchgeschlagen hat. Hier ist zwar angesprochen worden, dass möglicherweise Blutrichter und andere für Urteile Verantwortung trugen. Ich bin aber ganz sicher, dass dieser Gedanke immer durchgeschlagen hat. Deshalb habe ich immer die Auffassung vertreten und vertrete sie auch weiter, dass schon seit dem damaligen Beschluss klar ist, dass keine Urteile gegen Homosexuelle mehr bestehen, sondern alle durch die Generalklausel aufgehoben sind. Deshalb frage ich hier kritisch: Ist das, was wir jetzt machen, kontraproduktiv? Ist nicht damals schon etwas erreicht worden, was durch diesen Gesetzentwurf jetzt infrage gestellt wird? Diese Frage muss man ehrlich beantworten. Die zweite Frage, die man sicherlich stellen muss, bezieht sich auf die Desertion. Ich habe meine persönliche Sympathie für eine generelle Aufhebung der Urteile hier mehrfach deutlich gemacht. Trotzdem will ich auch in diesem Zusammenhang Fragen stellen. Diese Fragen muss man stellen; denn ich glaube, dass sich Frau von Renesse auch deshalb für ihre Ausführungen von damals nicht entschuldigen muss, weil - wie auch in dem heutigen Gesetzentwurf steht - sich die Regelung im Wesentlichen bewährt hat und keine Fälle bekannt geworden sind, in denen ein Antrag von der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden wäre. Es gibt einen zweiten Aspekt, den ich in diese Diskussion einführen will, weil er, glaube ich, nachdenkenswert ist. Ich war ja früher beruflich bei der Generalstaatsanwaltschaft tätig. In diesem Zusammenhang darf ich zwischendurch sagen, Herr Beck: Sie haben behauptet, dass erst aufgrund einer Nachfrage geklärt worden sei, was mit Bonhoeffer gewesen sei. Diese Frage ist lange geklärt. Ich war selbst damit befasst. Wir haben sehr sorgfältig geprüft, ob es im Hinblick darauf irgendwelche offenen Fragen gibt. Damals war ich noch nicht Abgeordneter, sondern Oberstaatsanwalt. Wir hatten also früh Klarheit und ich bin froh darüber. Ich kann mich daran erinnern, dass wir Unrechtsurteile der DDR aufheben mussten. Ich weiß, wie vielen Betroffenen es ganz außerordentlich wichtig war, dass sie amtlich bescheinigt bekamen, dass ihnen Unrecht zugefügt worden war, weil eine Überprüfung ergab, dass alles, was ihnen angetan worden war, nicht rechtsstaatlich war. Es könnte durchaus sein, dass das in diesem Bereich genauso ist. Ludwig Baumann sagt uns das Gegenteil. Aber ich meine, dass wir darüber nachdenken müssen. Dritte Bemerkung. Wir haben uns für die Zeit von 1945 bis 1969 entschuldigt. Wir wissen, welche rechtlichen Schwierigkeiten es gibt, für die Urteile dieser Zeit eine generelle Aufhebung herbeizuführen. Aber statt das zu tun, was wir jetzt machen, nämlich beispielsweise im Bereich der Homosexualität das wieder infrage zu stellen, was wir durch die Generalklausel als wirklich wichtigen Schritt erreicht haben, sollte man eher überlegen, was wir für die Opfer tun können, die noch zwischen 1945 und 1969 ganz entsetzlich gelitten haben. ({0}) Da läge mein persönlicher Schwerpunkt, um das ganz deutlich zu sagen. Wie dem auch sei: Wir werden beraten und das hoffentlich in sachlicher Weise tun; die heutige Debatte war Gott sei Dank in weiten Teilen sachlich. Wir als FDP werden uns jedenfalls dabei einbringen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt gebe ich Herrn Gehb für eine Richtigstellung das Wort zu einer Kurzintervention. Ich bitte aber im Übrigen darum, jetzt keine langen Reden und Gegenreden mehr zu führen, weil die Debatte schon lang genug ist.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, ich werde das nicht ausnutzen. Herr Beck, Sie haben sich wahrscheinlich verhört und deshalb will ich das richtig stellen. Ich habe nicht das Beispiel gebracht, dass ein Deserteur einen anderen getötet hat; das wäre ja ein Tötungsdelikt. Ich habe Herrn Eylmann zitiert; es ist also manchmal doch ganz gut, wenn man sich das eine oder andere aufschreibt und das dann zitieren kann: ... auch unter Anlegung heutiger Wertmaßstäbe als Unrecht bewertet werden kann, - jetzt kommt die Passage so wenn eine Desertion mit der Tötung eines Kameraden einherging oder dadurch erst ermöglicht wurde. Das betraf also nicht den Fall, dass der andere ihn erschossen hat. Eine zweite Richtigstellung, Herr Beck. Sie haben mir eine Frage gestellt, deswegen kann ich Ihnen die Antwort nicht schuldig bleiben. Mit dem Beispiel der Anträge bis 1959 wollte ich mitnichten erneut das Schamgefühl verletzen; ich habe vielmehr - in der Antwort auf die Frage eines liberalen Abgeordneten - die lückenhaften Entschädigungsberichte der jetzigen Regierung im Verhältnis zu unserer Regierung moniert. Das und nichts anderes wollte ich damit zum Ausdruck bringen. Ich gehe davon aus, dass Sie sich verhört haben - auch wenn nicht, habe ich das an dieser Stelle richtig gestellt. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christina Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor mehr als einem Jahr hat der Bundestag einstimmig anerkannt, dass es sich bei der Verurteilung schwuler Männer nach §§ 175 und 175 a Nr. 4 Reichsstrafgesetzbuch um typisch nationalsozialistisches Unrecht handelt. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, ihre Rehabilitierung und die der Opfer der NSMilitärjustiz durch entsprechende gesetzliche Regelungen sicherzustellen. Es ist gut - das sei eindeutig gesagt -, dass jetzt endlich ein Gesetzentwurf vorliegt. Aber es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, dass dafür so viel Zeit ins Land gehen musste. ({0}) Über 55 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft wird nun endlich die jahrzehntelange Diskriminierung dieser Opfergruppen der NS-Unrechtsjustiz beendet. Die betreffenden Personen werden rehabilitiert; ihnen und ihren Angehörigen wird ihre Würde zurückgegeben. Wir begrüßen das ausdrücklich. Die Beratungen in den Ausschüssen sollten jetzt zügig vonstatten gehen. Ich denke, dass wir uns weiteren Zeitverlust nicht erlauben können. Es leben ohnehin nur noch wenige der Betroffenen. Allein schon deswegen ist Eile geboten. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass sich RotGrün mit dem Gesetzentwurf so viel Zeit gelassen hat. Bei der Beratung in den Ausschüssen sollten wir prüfen - das als Anregung für die Beratung -, ob nicht auch die Urteile wegen Kriegsverrats nach § 57 des Militärstrafgesetzbuches aufgehoben werden sollten. Der mit Todesstrafe bedrohte - wie es hieß - Landesverrat im Felde war im faschistischen Aggressionskrieg eine ehrenwerte und mutige Tat. Auch bei den schwulen Opfern der NS-Justiz bleibt eine schmerzliche Lücke. Es ist nicht zu vermitteln, dass die Urteile nach den §§ 175 und 175 a, die zwischen 1935 und 1945 gefällt wurden, klar als Unrecht eingestuft und aufgehoben werden sollen, andererseits die Urteile, die nach exakt den gleichen, von den Nazis verschärften Paragraphen noch bis 1969 in der alten Bundesrepublik gefällt wurden, Bestand haben sollen. ({1}) Ich möchte daran erinnern, dass das eindeutige Votum des Bundestages vom Dezember 2000 eine individuelle und eine kollektive Entschädigung der Opfer der NSJustiz vorsah. Es ist weder zu erklären noch zu entschuldigen, dass der Gesetzentwurf das ignoriert. Es ist nicht hinnehmbar, dass die staatliche Politik des bewussten und systematischen Ausschlusses Homosexueller aus den Leistungen des Bundesentschädigungsgesetzes sowie des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes bis heute nicht korrigiert worden ist. Die Bundesregierung und die Behörden haben bisher der biologischen Lösung der Entschädigungsfrage Vorschub geleistet. Diese Politik soll jetzt offenbar ungerührt fortgesetzt werden. Das empfinde ich als einen Skandal. ({2}) In der Verweigerung von Entschädigungsleistungen offenbart sich die Halbherzigkeit, mit der die rot-grüne Bundesregierung die Rehabilitierung der verfolgten Homosexuellen sowie der Opfer der NS-Militärjustiz betreibt. Wir fordern die Bundesregierung erneut auf, dem Willen des Bundestages entsprechend, unverzüglich konkrete Vorschläge zur Entschädigung vorzulegen. Es muss eine Form des kollektiven Ausgleichs geschaffen werden für das erlittene Unrecht, für die notwendige Arbeit des Erinnerns und Gedenkens sowie für die Propagierung der Menschenrechte homosexueller Frauen und Männer. Daran führt kein Weg vorbei, wenn Rot-Grün in der Frage der Rehabilitierung der homosexuellen Opfer des NSRegimes ernst genommen werden will. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung hat jetzt der Herr Staatssekretär Pick das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob man das Thema angemessen behandelt, wenn man mäkelig ist. Die Bundesregierung ist im Dezember 2000 in der Tat ersucht worden - so heißt es in dem Beschluss -, eine Ergänzung zu den bestehenden gesetzlichen Grundlagen der Rehabilitierung vorzulegen. ({0}) Dabei sind verschiedene Komplexe genannt worden. Das betrifft die nach den §§ 175 und 175 a Reichsstrafgesetzbuch und zusätzlich die nach dem Militärstrafgesetzbuch Verurteilten. Weil hier also eine Lücke besteht, ist es angemessen, darauf zu reagieren. Darüber müssen wir uns unterhalten. Ich finde, das ist der richtige Ansatz. Dass die Bundesregierung hinter diesem Antrag der Koalition steht, ist selbstverständlich. Ich stehe nicht an zu sagen: Der Antrag ist in unserem Haus erarbeitet worden. Er ist zudem mit denen abgestimmt worden, die im Rahmen eines Gesetzesvorhabens gehört werden. Um den Prozess zu beschleunigen - deswegen ist so verfahren worden. Wenn ich die Regierungspraxis von früher betrachte, dann muss ich sagen, dass das nicht etwas ganz Neues ist. ({1}) Ich möchte darauf hinweisen, dass die Betroffenen das durchaus anders sehen. Ich habe einen Brief vom 22. FeDr. Jürgen Gehb bruar, in dem ein Betroffener an die Bundesministerin der Justiz schreibt: Wir Wehrmachtdeserteure danken Ihnen ganz herzlich, dass wir noch in dieser Legislaturperiode gesetzlich rehabilitiert werden sollen. Als ich dies heute einem 87-jährigen Betroffenen sagte, hat er geweint. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, den Betroffenen kommt es in der Tat in erster Linie darauf an - das ist auch meine Antwort auf Frau Schenk -, rehabilitiert zu werden, und nicht in erster Linie auf finanzielle Ausgleichsmaßnahmen. Ich finde, hier muss man Verständnis für die Betroffenen haben. Ansonsten, denke ich, tut man ihnen Unrecht. ({2}) - Herr Geis, es besteht insofern eine andere Lage, die wir ändern wollen, als wir dies bisher nur für Einzelfälle vorgesehen haben. Es gibt weder im Bereich des § 175 noch des § 175 a des Reichsstrafgesetzbuches eine pauschale Rehabilitierung, ({3}) Es ist von den Betroffenen - daher mag die relativ geringe Zahl kommen - wohl immer als Zumutung empfunden worden, sich einer Einzelfallprüfung zu unterziehen. Das mag man verstehen oder auch nicht. ({4}) Ich denke, das muss man zumindest nachvollziehen können. ({5}) Das wollen wir mit diesem Entwurf ändern. Sie wissen, dass homosexuelle Bürger während der NS-Diktatur schlimme Dinge zu erleiden hatten. ({6}) Ich möchte in Erinnerung rufen, wie die Rechtsprechung der Nationalsozialisten in ihrer erheblich verschärften Spruchpraxis der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie bereitwillig nachkam. Zwischen 1935 und 1945 wurden circa 50 000 Verurteilungen nach den §§ 175 und 175 a des Reichsstrafgesetzbuches ausgesprochen. Darüber hinaus wurden Tausende wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt. Die Mehrzahl von ihnen wurde ermordet. Im Übrigen waren Homosexuelle weiteren Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Diese Verfolgungsmaßnahmen sind offenbares nationalsozialistisches Unrecht gewesen. ({7}) Deswegen wollen wir die bisherigen Einzelfallprüfungen abschaffen und diese Urteile generell aufheben. Auch die Urteile gegen die von den Militärgerichten der Nationalsozialisten verurteilten Soldaten wollen wir generell aufheben. Mir liegt die Liste vor, die in der Tat in sehr dürren Paragraphen und Zitaten auch in dem Gesetzentwurf enthalten ist. Es gab Tatbestände wie „Übergabe an den Feind“, „unerlaubte Entfernung“, „Abkommen von der Truppe“, „Dienstpflichtverletzung aus Furcht“ oder „Feigheit“. Es bestand ein ganzer Haufen von solchen Tatbeständen, von denen einer zum Beispiel „Heiraten ohne Erlaubnis“ lautete. Meine Damen und Herren, soll man die aus solchen Tatbeständen resultierenden Urteile nicht generell aufheben können? Ich finde, dies ist eine Aufgabe, die uns noch bevorsteht. Über diese Frage sollten wir uns sachlich und auch ohne Emotionen unterhalten. Wir wollen diese Urteile, die von den Militärgerichten der Nationalsozialisten gesprochen worden sind, aufheben. Sie wissen, dass in dieser Zeit Zehntausende nicht nur von Soldaten, sondern auch von Zivilpersonen getötet worden sind oder wegen der Tatbestände Kriegsdienstverweigerung, Desertion/Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung Opfer von Verurteilungen geworden sind. Aus meinem Bereich weiß ich, dass es in der Nähe von Mainz mehrere Fälle gibt, in denen einige Stunden vor dem Ankommen der Amerikaner Wehrmachtsangehörige die weiße Fahne gehisst haben und noch in letzter Stunde von den entsprechenden Gerichten aufgehängt worden sind. ({8}) Auch das war aus der Sicht der nationalsozialistischen Ideologie Feigheit vor dem Feind. ({9}) Auch das, denke ich, gehört in diesen Zusammenhang. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist das dunkelste Kapitel unserer Geschichte. Mit diesem Gesetz unternehmen wir den Versuch eines weiteren wichtigen Schrittes zur Rehabilitierung der Opfer des NS-Regimes. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 6 auf: 12. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Klaus Riegert, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Übergangslösung für Umsatzbesteuerung von Sportanlagen - Drucksachen 14/7285, 14/8385 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Norbert Barthle ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von Alt-Sportanlagen - Drucksache 14/8375 - Die Kollegen Danckert, Schild, Barthle, Hermann, Kinkel und Ehlert haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu können.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so. Die Fraktion der FDP hat übrigens ihren Antrag auf Drucksache 14/7813 zurückgezogen. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/8385. Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7285 mit dem Titel „Übergangslösung für Umsatzbesteuerung von Sportanlagen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS zur Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von Alt-Sportanlagen, Drucksache 14/8375. Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit einstimmig angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Brigitte Adler, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Hans-Josef Fell, Dr. Angelika KösterLoßack, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Deutsche Exportinitiative - Erneuerbare Energien - Drucksache 14/8278 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Wir haben für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Rolf Hempelmann.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Klimaproblematik beschäftigt uns seit einer Reihe von Jahren. Spätestens seit der Klimakonferenz in Rio de Janeiro vor zehn Jahren ist deutlich geworden - das ist auf weiteren Konferenzen durch zahlreiche Studien und Prognosen immer wieder bestätigt worden -, dass wir enorme Anstrengungen unternehmen müssen, um den Herausforderungen der globalen Klimaveränderungen gerecht zu werden. Die vom Intergovernmental Panel on Climate Change, vom IPCC, vorgelegten Prognosen zur Entwicklung des Weltklimas legen eine große Verantwortung auf die führenden Industrienationen. Sie müssen zukünftig alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um das Weltklima zu schützen, damit eine weitere Verschärfung der Klimaproblematik verhindert wird. Einer der wichtigsten Bausteine eines notwendigen globalen Klimaschutzes ist die möglichst rasche Verbreitung modernster Technologien vor allem im Energiebereich. Im Kioto-Protokoll wurden hierzu in Form des Clean Development Mechanism und des Joint Implementation geeignete Instrumente geschaffen. Ein enormes Potenzial für die zukünftige Energieversorgung, das jedoch bislang unzureichend genutzt wird, bergen erneuerbare Energien, Energien aus Wind, Wasser, Sonne, Biomasse, Erdwärme und Meeresströmungen. Dies ist eine Aufzählung, die man sich auf der Zunge zergehen lassen kann. Dieses Potenzial ist schon nach dem jetzigen Stand der Technik enorm. ({0}) Auf nationaler Ebene ist es uns gelungen, sehr erfolgreiche Ansätze zur Verbreitung der erneuerbaren Energien zu schaffen, zum Beispiel durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz. In der Tat ist dieses Gesetz eines der erfolgreichsten Projekte der Bundesregierung. ({1}) Es ist auf seinem Gebiet auch im internationalen Vergleich das erfolgreichste Gesetz. Man muss sich ein- mal klar machen: 40 Prozent der weltweiten Windenergie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer 1) Anlage 5 werden in Deutschland generiert und 25 Prozent der Photovoltaik finden in Deutschland statt. Ich denke, das ist etwas, auf das wir durchaus stolz sein können. ({2}) Im Übrigen möchte ich denjenigen, die vielleicht in anderen Wirtschaftszweigen ihre Prioritäten setzen, sagen: Die Windkraft ist zum Beispiel der größte Stahlauftraggeber und Stahlnachfrager in der Bundesrepublik Deutschland. Im Bereich der erneuerbaren Energien - das sage ich denjenigen, die uns mehr an der Frage messen, wie viele Arbeitsplätze wir geschaffen haben - sind in Deutschland in den letzten Jahren allein durch das EEG 120 000 Arbeitsplätze entstanden. ({3}) Schön, nicht wahr? Es freut uns, dass Sie das genauso sehen. Alle Prognosen zeigen allerdings, dass auf internationaler Ebene ein enormer Handlungsbedarf besteht. Es ist deutlich geworden, dass der Energiebedarf in Entwicklungs- und Schwellenländern in den nächsten Jahrzehnten enorm ansteigen wird. Die Verfügbarkeit von ausreichender und kostengünstiger Energie ist für das wirtschaftliche Wachstum dieser Länder von entscheidender Bedeutung. In vielen dieser Entwicklungs- und Schwellenländer bestehen hervorragende Standortbedingungen für die erneuerbaren Energien. Das gilt es zu nutzen. Leider sind die politischen Akteure und Investoren in diesen Ländern über die Einsatzmöglichkeiten und die Wirtschaftlichkeit erneuerbarer Energien oft unzureichend informiert. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass bislang nur wenige Anlagen in diesen Ländern installiert wurden. Deutsche Anbieter verfügen über weltweit führende Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien. Viele dieser Technologien bieten sich besonders für den Einsatz in Schwellen- und Entwicklungsländern an. Leider aber ist der Export der Technologie erneuerbarer Energien bisher nur ungenügend in Gang gekommen, obwohl - das habe ich eben schon angedeutet - Deutschland zu den weltweit führenden Ausfuhrnationen gehört. Die Entwicklungen auf dem deutschen Markt haben dafür gesorgt, dass die Branche in den letzten Jahren stark expandieren konnte. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen sind in diesem Bereich entstanden. Im Vergleich zu ihren ausländischen Konkurrenten haben sie eine Reihe von finanziellen und organisatorischen Nachteilen zu bewältigen, um auch auf internationalen Märkten tätig sein zu können. So ist es beispielsweise vielen dieser Unternehmen gegenwärtig aus Kapitalmangel nicht möglich, Vorfeldakquisitionen durchzuführen, die notwendigen Kontakte herzustellen und auf den internationalen Märkten präsent zu sein. Zusätzliche Schwierigkeiten bereiten unzureichende Informationen über die heterogene und unübersichtliche Nachfragestruktur vieler Entwicklungs- und Schwellenländer. Darüber hinaus besteht Handlungsbedarf bei der Vermittlung von Informationen über Exportfinanzierungsmöglichkeiten. Dabei verfügt Deutschland durchaus über leistungsfähige Instrumente zur finanziellen Unterstützung dieser Unternehmen. Ein effizientes System zur Ausfuhrgewährleistung ist zum Beispiel die Hermes Kreditversicherungs-AG. Ein gutes Instrument zur Investitionsgarantie haben wir über Price Waterhouse Coopers umgesetzt. ({4}) Wir haben in dieser Legislaturperiode einen wichtigen Schritt zu einer stärkeren ökologischen Ausrichtung unseres Ausfuhrgewährleistungssystems getan, indem neue Leitlinien für das Hermes-Verfahren in Kraft getreten sind. ({5}) Diesen Weg müssen wir konsequent weiter beschreiten, damit auch die Branche der Technologien für erneuerbare Energien davon profitieren kann. Kommerzielle Finanzierungen von Projekten für erneuerbare Energien kommen bisher oftmals nicht zustande, weil die Kosten der Kreditwürdigkeitsprüfung im Verhältnis zu dem meist relativ geringen Auftragsvolumen sehr hoch sind. Deshalb müssen die bestehenden staatlichen Unterstützungsmaßnahmen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen besser nutzbar gemacht werden. Es gibt zwar zahlreiche gute Programme zur finanziellen Förderung von Projekten zum Export erneuerbarer Energien auf Länder-, auf Bundesebene und auf europäischer Ebene, aber die Unternehmen stehen vor dem Problem, das richtige Programm für ihr spezielles Vorhaben auszuwählen; denn ein zentrales Informationssystem besteht nicht. Wir benötigen also eine effizientere Struktur zur koordinierten Verbreitung deutscher Spitzenprodukte im Bereich erneuerbarer Energien, damit die Branche internationale markt- und wettbewerbsfähig werden kann. ({6}) Dann kann die Bundesrepublik auch hier ihrer internationalen Verantwortung im Klimaschutzprozess besser gerecht werden. Ziel muss es deshalb sein, ein konzertiertes Vorgehen in den Politikbereichen Klimaschutz, Außenwirtschaftsförderung und Entwicklungspolitik zu gewährleisten. Wir sind der Auffassung, dass Entwicklungszusammenarbeit und Exportförderung zwar grundsätzlich unterschiedlichen Leitlinien folgen. Jedoch können bei effizienter Verzahnung erhebliche, aber bislang leider noch ungenutzte Synergieeffekte erzielt werden. Sowohl in der Entwicklungszusammenarbeit als auch in der Privatwirtschaft besteht bereits eine in den meisten Bereichen gut funktionierende institutionelle Infrastruktur. Als Beispiele will ich hier vor allem die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW, sowie den Ausstellungs- und Messeausschuss der Deutschen Wirtschaft, AUMA, nennen. Die gemeinsame Nutzung dieser bereits bestehenden Infrastruktur durch die Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Privatwirtschaft birgt beträchtliche Potenziale zur Effizienzsteigerung, zum Beispiel die koordinierte Betreuung des Anlagebetriebes oder die Ausbildung von Fachkräften. Allein die Koordination und die effiziente Nutzung dieser Infrastruktur kann im Bereich der erneuerbaren Energien zu einer Steigerung des Exports führen. Damit können wir einen Beitrag dazu leisten, dass der Anteil erneuerbarer Energien an der globalen Energieversorgung gesteigert wird. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, über die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie initiierte Deutsche Energie-Agentur, dena, eine „Deutsche Exportinitiative Erneuerbare Energien“ zu schaffen. Diese Initiative soll vor allem die Aufgabe erfüllen, als Kompetenzzentrum mit Know-how und als Kooperationspartner zwischen den bestehenden nationalen und multilateralen Institutionen und der Wirtschaft zu fungieren. „Die Deutsche Exportinitiative Erneuerbare Energien“ soll zu diesem Zweck bestehende Aktivitäten programmatisch bündeln sowie Daten im Hinblick auf Marktchancen zielgerichtet aufbereiten und der Branche zur Verfügung stellen. Dazu soll sie die Informationen sammeln und auswerten, die zum Beispiel von den deutschen Botschaften, den Außenhandelskammern in den Zielländern und der Bundesagentur für Außenwirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Diese Informationen sollen aufbereitet und auf die Branche zugeschnitten an die Akteure weitervermittelt werden. Auf diese Weise kann der Branche die notwendige Hilfestellung bei der Suche nach möglichen Zielmärkten sowie nach Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten gegeben werden. Es können neue Finanzierungsinstrumente und am lokalen Bedarf angepasste Programme entwickelt werden. Meine Damen und Herren, auch die bestehenden Aktivitäten und Initiativen deutscher Ministerien und Institutionen können über die dena zukünftig besser vernetzt werden. Ich denke, dass wir mit dieser Initiative eine Chance haben, sowohl den Export zu fördern als auch dem Klimaschutz zu dienen. Wir bitten deshalb um eine breite Zustimmung und um die Unterstützung unseres Antrages. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill. - Ich sehe ihn im Moment nicht.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben an der falschen Stelle gesucht. ({0}) - Ich bin aber noch kein abgebrannter Brennstab. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das, was der Kollege Hempelmann am Schluss vorgetragen hat, wirft die Frage auf, ob es eigentlich des Deutschen Bundestages bedarf, um die Bundesregierung zur Koordinierung ihrer bestehenden Institutionen zu zwingen. ({1}) Wenn das so gut ist, wie es hier vorgetragen wurde, dann stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung das eigentlich nicht tut. ({2}) Die zweite Frage betrifft die Koordinierung und die neuen Finanzierungsinstrumente. Ich würde in dem Antrag gern die Stelle lesen, an der das Geld zur Verfügung gestellt wird, das notwendig ist, um finanzieren zu können, was hier formuliert wurde. ({3}) - Es sind viele Seiten vollgeschrieben. Nur hilft es nicht. Ich will eine Reihe von kleinen Bemerkungen, die einem bei der Analyse dieses Textes ohne Schwierigkeiten einfallen, vortragen: Bei der Verabschiedung des Energiewirtschaftsgesetzes im Jahre 1998 habe ich vor dem Hintergrund einer Analyse des Deutsche Windenergie-Instituts in Wilhelmshaven bereits darauf hingewiesen, dass wir in der Frage des Exports im Grunde genommen unsere Fähigkeiten erhöhen müssen. Das, was in dem Antrag zum Export von erneuerbaren Energien und deren Perspektiven steht, hat mit einer sauberen Analyse der Probleme, die für den Export bestehen, nicht einmal im Ansatz etwas zu tun. ({4}) Es ist nicht erkennbar, welche Schwierigkeiten außerhalb Deutschlands bestehen und wovon sie bei der Beschreibung dieses Antrags hätten ausgehen müssen. Die fehlende Analyse der Exportschwierigkeiten in Bezug auf die aufnehmenden Länder zeigt eine deutliche Schwäche dieses Antrags. Es gibt ein Zweites: Dänemark und Deutschland gelten nach wie vor als Länder, die die meiste Windenergie erzeugen. So nebenbei: Die interessante Frage ist, warum die dänische Regierung die Windenergieförderung jetzt total einstellt. ({5}) Der Hintergrund, lieber Rolf Hempelmann, ist doch, dass Dänemark 500 Megawatt exportiert hat und 85 Megawatt selbst aufgebaut hat, während wir 500 Megawatt selbst aufgebaut und 85 Megawatt exportiert haben. Wenn man damals nachgefragt hat, woran das denn liegt, hat das DEWI im Grunde genommen nicht die Kapitalfrage, sondern allenfalls eine Abdeckung in der Frage der Akquisition als Problem gesehen. Ich denke, dass das fehlende Kapital nicht das Problem ist, sondern insgesamt - das gilt übrigens auch für andere Bereiche - das Dienstleistungsangebot, das aus Planung, Investment, Betrieb und Finanzierung besteht. Wenn man sich mit RWE, Starzacher bei der RAG oder Siemens - den weltweit tätigen Unternehmen, die dies im Übrigen in Abstimmung mit der Bundesregierung tun - über diese Fragen unterhält, kommt man zu anderen Problemanalysen, als sie Gegenstand dieses Antrages sind. ({6}) - Also Herr Fell, wissen Sie, Sie sollten eines zur Kenntnis nehmen: Sie sind nicht die Einzigen in diesem Hause, die von diesen Dingen etwas verstehen, Sie tun nur so, als ob Sie die Einzigen wären, die die Wahrheit in ihrem Besitz haben. Aber das treiben wir Ihnen noch aus. ({7}) Die Probleme der Empfängerländer liegen ganz woanders. Sie liegen in der Frage des Kapitalbedarfs, des Human Capital, und unter anderem in der Frage der ökonomischen Realitäten. Sie liegen in der Wirtschaftlichkeit. Auf der Weltenergiekonferenz haben wir gehört, dass eine der entscheidenden Fragen ist, ob wir die 180 Milliarden Dollar an Subventionen, die auf dieser Welt für fossile Energien gezahlt werden, wegbekommen. Erinnern Sie sich an die Darstellung der Beispiele der GTZ für Ägypten, wo die normale Öl- und Gasversorgung subventioniert wird. Solange dies der Fall ist, wird es ausgesprochen schwierig sein, in diesen Ländern, die durchaus interessant sind, erneuerbare Energie zu installieren. Schauen Sie sich einmal das an, was Ihre eigene Regierung gemacht hat. Ich nenne nur einige Stichpunkte: G 8, Task-Force für erneuerbare Energien, 1 Milliarde Menschen auf dieser Erde mit erneuerbaren Energien versorgen, Milliarden Dollar jedes Jahr, um überhaupt sinnvolle Investitionen zu erreichen. Wenn Sie sich die Unterlagen von Monterrey, wie sie Ihre eigene Bundesregierung vorgetragen hat, anschauen, dann werden Sie feststellen, dass weder die staatliche Entwicklungshilfe noch das, was an Privatkapital aus Deutschland zur Verfügung gestellt werden kann, auch nur ansatzweise in die Nähe dessen kommt, was die G 8 und Ihre Bundesregierung für die erneuerbaren Energien im Sinne einer globalen Energieversorgung haben aufschreiben lassen. Das heißt, diese Bundesregierung und die G 8 setzen die eigene Task-Force-Analyse auch nicht ansatzweise um. Es ist unglaubwürdig, weil der Kapitalbedarf in diesem Antrag eigentlich überhaupt keine Rolle spielt. Das Zweite, was in Ihrem Antrag interessanterweise fehlt, ist die Forschungskooperation. Wenn Sie sich mit dem Solarverbund und anderen Leuten über diese Frage unterhalten, dann spielen nicht Investitionen eine entscheidende Rolle, sondern die Entwicklung der Solargroßkraftwerke und der thermischen Kraftwerke sowie die Frage, ob es zu einer Forschungs- und Entwicklungskooperation etwa mit den südlichen Mittelmeeranrainern kommt. Auf die Forschungskooperation gehen Sie in Ihrem Antrag überhaupt nicht ein. Ich empfinde das als einen eklatanten Mangel einer globalen und umfassenden Strategie. Im Übrigen will ich in diesem Zusammenhang nur auf die Absenkung der Entwicklungshilfe in den Industrieländern hinweisen, die Kofi Annan heute Morgen beklagt hat. Unser Land hat dazu einen Beitrag geleistet, weil Sie weniger an Entwicklungshilfe zahlen als das, was wir noch 1998 im Haushalt bereitgestellt hatten. ({8}) Sie müssen doch einmal vorlegen, was Ihre Bundesregierung in Monterrey durch Entwicklungshilfe finanzieren wird. Das wird dem, was Sie hier aufgeschrieben haben, in keiner Weise gerecht. Das wissen wir doch alle. Deswegen sage ich am Schluss: Wer in der zweiten und dritten Lesung gegen diesen Antrag stimmen wird, stimmt mitnichten gegen eine aktive Klimapolitik; er verhindert nur, dass noch mehr Bürokratie entsteht und noch mehr Geld an der falschen Stelle ausgegeben wird. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute geht es um eine Exportoffensive für erneuerbare Energien. Herr Grill, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, muss ich sagen: Ich glaube, Sie haben in keinster Weise verstanden, worum es in diesem Antrag geht, ({0}) weil Sie völlig am Thema vorbeigeredet haben. Ich werde versuchen, das deutlich zu machen. ({1}) Warum wollen wir eine Exportoffensive für erneuerbare Energien? Es kommt wieder das Argument: Wir haben doch ausreichende Instrumente zur Exportförderung, zur Förderung der Außenwirtschaft. Warum jetzt eine spezifische Förderung für eine Branche? Natürlich kann man sagen: Das ist eine kleine, mittelständische Industrie, die besondere Unterstützung braucht - anders als zum Beispiel Siemens. Das ist aber noch keine ausreichende Begründung für eine besondere branchenspezifische Außenförderung. Man kann auch sagen: Diese Branche besteht, anders als andere Branchen, aus sehr vielen jungen Unternehmen und jungen Unternehmern mit geringer Kapitaldecke. Die Unternehmen fangen erst an und sind nicht über lange Zeit gewachsen. Es gibt für sie auch keine Greencard, wenn sie Leute zum Beispiel für die Exportförderung suchen. Das könnte schon eher ein Argument sein. Das wichtigste Argument ist jedoch: Durch das EEG sind wir weltweit Vorreiter geworden. Deutschland hat die meisten Windkraftanlagen und die größten Photovoltaikfabriken in der Welt. Unsere These ist: Wir wollen unter anderem den USA, aber auch allen anderen, die Klimaschutz immer nur als Bürde sehen, zeigen, dass ein Vorreiten im Klimaschutz Innovationspolitik und damit auch gut für den Standort Deutschland ist. ({2}) Dazu gehört eben auch, dass man aus der Vorreiterrolle Kapital schöpft und auf den Exportmärkten der Welt tatsächlich zusätzlich verdient. Deutschland ist übrigens immer besonders schlecht, wenn es darum geht, Forschungsergebnisse am Markt umzusetzen und weltweit zu vermarkten. Herr Grill, Sie haben gesagt, man könne es nicht durch die Bedingungen in anderen Ländern erklären. ({3}) Von der dänischen Produktion werden 70 Prozent exportiert und 30 Prozent im Inland nachgefragt, während es bei uns genau umgekehrt ist. Die Bedingungen für die dänischen Erbauer von Windkraftanlagen sind im Ausland genauso schwierig wie im Inland. Auch deswegen ist zum Beispiel Ihre Argumentation falsch. ({4}) Diese Branche ist die innovativste Branche überhaupt, Wir haben die besten Windkraft-, Biomasse- und Photovoltaikanlagen der Welt. Ich möchte, dass diese junge Branche ein zweites Standbein bekommt, um unabhängig zu werden, auch wenn es in Deutschland einmal ein bisschen langsamer gehen sollte, was natürlich nicht passiert, solange die Grünen regieren. Wir wollen das für diese junge Branche entwickeln, sodass die Unternehmen ein bisschen sicherer auf zwei Beinen stehen können. Es geht nicht darum - auch dabei haben Sie wieder nichts verstanden, Herr Grill - neue Instrumente zu kreieren, ({5}) Ich möchte Ihnen vielmehr ein Bild mitgeben. ({6}) - Ich möchte eine ernsthafte Diskussion darüber führen. Ich glaube auch, dass ich Sie gewinnen und überzeugen kann. - Das Bild, das man für unseren Ansatz vielleicht heranziehen könnte, ist, die bestehenden Außenwirtschaftsförderungsinstrumente wie eine Spinne im Netz zu vernetzen. Dabei denke ich auch an die von Ihnen aufgeworfene Debatte über die Kapitalmobilisierung, sodass Investitionen mit privatem Kapital erfolgen können. ({7}) Die dena soll eben nicht eine neue Außenwirtschaftsförderungsinstitution werden - deswegen brauchen wir auch nicht viel Geld -, sondern sie soll ganz gezielt darauf achten, dass die bestehenden Instrumente den Erfordernissen der erneuerbaren Energien angepasst werden. Sie soll die Botschaften und die Außenhandelskammern sensibilisieren, die Hermesbürgschaften unter dem Aspekt der erneuerbaren Energien überdenken und Informationen über einzelne Länder unter dem spezifischen Aspekt der erneuerbaren Energien sammeln - und zwar in Zusammenarbeit mit den bestehenden Institutionen, die normalerweise diese Recherche betreiben -, damit Unternehmen anfragen können, wo es sich lohnt. Bei der Forschungsförderung haben wir die Kooperation wesentlich verbessert. Aber sie zum Beispiel im Hinblick auf die besonderen Erfordernisse der erneuerbaren Energien noch einmal zu betrachten und zu verbessern ist Aufgabe dieser besonderen Exportförderung, bei der es sich eher um eine Vernetzung als um ein neues Instrument handelt. Ich meine, dass es für den Export große Chancen gibt, zum einen in Länder, die jetzt von Deutschland lernen und ähnliche Instrumente aufbauen, wie etwa Frankreich - wir müssen uns natürlich vornehmen, dass die deutsche Industrie dabei ordentlich mitmischt -, aber auch in Schwellenund Entwicklungsländer, wo sich erneuerbare Energien tatsächlich schon heute rechnen, weil es keine entwickelten Stromnetze gibt. Die müsste man erst bauen. Dann sind unter ökonomischen Gesichtspunkten eine Biomasseanlage oder eine Windkraftanlage häufig billiger als ein Großkraftwerk und eine neue Netzinfrastruktur. ({8}) An dieser Stelle anzusetzen und, wie gesagt, wie eine Spinne im Netz bestehende Außenwirtschaftsförderungsinstrumente zu vernetzen, um für eine innovative Industrie, in der Deutschland Vorreiter in der Welt ist, Exportchancen zu schaffen, ist Inhalt der Exportinitiative. Ich hoffe und wünsche, dass wir im Ausschuss in Ruhe darüber diskutieren können und dass ich Sie von der Opposition von diesem Instrument überzeugen kann. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Walter Hirche das Wort.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man den Antrag sieht, könnte man sagen: Je dringlicher das Thema, desto später am Abend wird es behandelt. Lieber Kollege Hempelmann, wenn die Regierung richtig arbeiten würde, dann hätten Sie diesen Antrag mit Sicherheit nicht stellen müssen. ({0}) Sie haben offenbar den Eindruck, dass die Regierung an verschiedenen Punkten nicht richtig arbeitet. Der Beweis dafür ist vielleicht, dass das adressierte Ministerium - das Wirtschaftsministerium - in dieser Debatte gar nicht vertreten ist. ({1}) - Das kann sein, wenn Sie so umfangreiche Papiere vorlegen. Es stehen Sätze in dem Antrag, die die Welt umkrempeln. Wenn darin zum Beispiel steht, dass in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern „hervorragende Standortbedingungen für erneuerbare Energiegewinnung“ vorhanden sind, muss ich sagen: Das ist eine umwerfende Erkenntnis. Seit vielen Jahren wird - etwa in der GTZ darüber diskutiert, wie man im Sonnengürtel der Erde Mittel einsetzen und wie man die Passatwinde in Marokko für die Energieerzeugung nutzen kann. Alle diese Diskussionen finden statt. Dafür ist Ihr Antrag nicht notwendig. Aber es ist natürlich eine Selbstverständlichkeit - das kann man nur unterstreichen -, dass es sinnvoll wäre, Windkraftanlagen mit Gewinn ins Ausland zu verkaufen. Das wäre besser, als hoch subventionierte Anlagen im Binnenland dort zu errichten, wo sie nicht hingehören, und die Landschaft vollzupflastern. ({2}) Von daher sehe ich durchaus eine Alternative. ({3}) - Die Institutionen gibt es doch, die Sie hier neu schaffen wollen. Vor zehn Jahren haben wir in Wilhelmshaven das Deutsche Windenergie-Institut gegründet. Es betreibt seit vielen Jahren Ausbildung, Weiterbildung und Beratung im Ausland. Ich freue mich heute noch, dass ich es vor zwölf Jahren an diesem Standort gegründet habe. Daran können Sie sehen, wie sehr Ihr Antrag veraltet ist. ({4}) Zweitens gibt es längst ein Institut für die Exportförderung, das Internationale Transferzentrum für Umwelttechnik GmbH - ITUT - in Leipzig. Es hat wohl aus Ihrer Sicht die Fehler, dass es im Osten Ostdeutschlands liegt und von der vorigen Bundesregierung eingerichtet wurde. Dieses Institut soll zusammen mit den Außenhandelskammern genau das machen, was Sie mit Ihrem Antrag neu erfinden wollen. Gucken Sie mal in die Projektlisten mit Stand vom 30. Januar dieses Jahres. Als Ziel des ersten Programms ist aufgeführt: „Erarbeitung firmenspezifischer Marktstudien und Verbesserung der Absatzmöglichkeiten für erneuerbare Energien“. Das Institut macht schon all das, was Sie als neue Aufgabe der Energieagentur zuweisen wollen. ({5}) In Wirklichkeit wollen Sie neue Stellen ausweisen, ({6}) wozu Sie Gelder anbieten, die überhaupt nicht vorhanden sind. Wenn Ihnen das alles ein Anliegen wäre, hätten Sie seit Jahren dieses Institut nutzen können. Herr Kollege Hempelmann, ich empfinde es als besonders pikant, dass Sie diesen Antrag eingebracht haben; denn dieser Antrag distanziert sich von der Exportförderung für fossile und nukleare Energietechniken. Wollen Sie, der Sie aus einem Bergbaugebiet kommen, jetzt davon Abstand nehmen, verbesserte fossile Techniken etwa nach China zu verkaufen, die den Wirkungsgrad chinesischer Kohlekraftwerke von heute auf morgen von 15 Prozent auf das Dreifache steigern könnten, ohne dass dafür Subventionen erforderlich wären? ({7}) - Im Antrag steht, dass man sich von den fossilen und nuklearen Techniken distanziert. Lieber Kollege Schmidt, als Geschäftsführer können Sie natürlich nicht alles Wort für Wort lesen. Diesen Antrag jedenfalls haben Sie nicht richtig gelesen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, die Ihnen eine Schlussantwort ermöglicht? Ihre Redezeit ist nämlich schon vorbei.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne. - Ich bedanke mich beim Kollegen Hempelmann, dass er mir diese Gelegenheit gibt.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hirche, gerade ist schon ein entsprechender Zwischenruf gemacht worden. Ich möchte von Ihnen einmal hören, welcher Stelle des Antrags Sie entnehmen, dass eine Distanzierung vom Export von Energietechnologien beabsichtigt sei, die zum Beispiel in Kraftwerken eingesetzt werden, in denen fossile Energien zur Verstromung eingesetzt werden. Ich nehme an, dass Sie das mit „fossile Energietechniken“ gemeint haben. Ich füge an dieser Stelle hinzu - Sie wissen das auch und haben sich deswegen darüber gewundert, dass das Gegenteil der Fall ist -: Wir wollen alle Instrumente und alle Technologien zur Effizienzsteigerung einsetzen, jedenfalls auch die, die in Kraftwerken für fossile Energieträger eingesetzt werden. Aber in diesem Antrag liegt der Schwerpunkt auf erneuerbare Energien, weil wir gesehen haben, dass das in anderen Bereichen funktioniert, wir hier aber ein Defizit haben.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hempelmann, ich werde Ihnen das gerne im Ausschuss zeigen. Dort können wir darüber im Einzelnen sprechen. ({0}) - Sollen wir jetzt etwa Textexegese betreiben? ({1}) Ich werde Ihnen das im Ausschuss beweisen. Ich habe das Beispiel deswegen angeführt, weil Sie in Ihrem Antrag das Schwergewicht nicht darauf legen, den Export dort zu steigern, wo es sinnvoll ist und wo die Kosten vertretbar sind. Vielmehr wollen Sie unbedingt hoch subventionierte Techniken aus Deutschland an die Entwicklungsländer verkaufen. Dabei ignorieren Sie, dass sie wahrscheinlich diese Anlagen nicht kaufen werden, weil sie einfach nicht in der Lage sind, 17 Pfennig pro Kilowattstunde für die Stromerzeugung zu zahlen. ({2}) Die Kosten werden hier unterschätzt. Insofern ist es besonders traurig, dass in diesem Antrag ein falscher Schwerpunkt enthalten ist und der Schwerpunkt nicht auf dem Bereich fossiler und nuklearer Energietechniken liegt. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weltweit haben die CO2-Emissionen zwischen 1990 und 1998 um rund 8 Prozent zugenommen. Das geht nicht nur auf das Konto der USA und der EU-Staaten, sondern auch auf das vieler Entwicklungsländer. Ihr Anteil am Ausstoß von Klimagasen ist pro Kopf zwar weit geringer. Aber hier macht es die Masse: Die CO2-Emissionen in den Nicht-Annex-IStaaten sind nämlich in diesem Zeitraum um fast 30 Prozent angestiegen. Sie machen inzwischen 43 Prozent der globalen Emissionen aus und sie steigen weiter. Deshalb - hier stimmen wir mit dem Koalitionsantrag völlig überein - ist ein Technologietransfer ein wichtiger, ja ein unverzichtbarer Bestandteil internationaler Klimapolitik. ({0}) Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass allein die USA mehr als 50 Prozent dessen an CO2 in die Luft blasen, was alle Entwicklungsländer zusammen emittieren. Daher wären die Vereinigten Staaten - das ist eine Anregung von unserer Seite - eigentlich das Zielland Nummer eins für den Transfer moderner Energietechnologien. ({1}) Klar ist, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer sicherlich ein Anrecht auf wachsenden Wohlstand haben. Klar ist aber auch, dass unser Wohlstandsmodell - wenn ich diesen schwammigen Begriff einmal verwenden darf - nicht Vorbild für diese Länder sein kann, weil es sich kaum für eine nachhaltige Entwicklung eignet. Mit Pro-Kopf-Ausstößen, die zehn- bis zwanzigmal höher sind als die in Afrika, sollten wir die Welt nicht beglücken. Deshalb ist es richtig, wenn wir die energieeffizientesten, die regional flexibelsten und preiswertesten Energietechniken in diese Regionen exportieren. Hier liegt allerdings der Hase im Pfeffer: Im Antrag ist nämlich nur von Exportförderung in allen ihren Facetten die Rede. Von der Finanzierung der Exporte - einige Kollegen haben das bereits angesprochen; leider muss ich ihnen Recht geben ist keine Rede. Das heißt nicht, dass Wind- und Solarkraftwerke, Biomassetechnologien oder KWKs komplett verschenkt werden sollen. Wenn aber der globale Klimawandel ein so wichtiges Problem ist - ich denke, darüber sind wir uns einig -, dann wäre doch wenigstens ein Bekenntnis zur finanziellen Unterstützung dieser Technologien nicht nur für die Hersteller, sondern auch für die Abnehmer angebracht. Ich weise auch darauf hin, dass die Bundesrepublik nach wie vor nur 0,23 Prozent ihres Sozialproduktes in die Entwicklungszusammenarbeit steckt. Das 0,7-ProzentZiel liegt leider in weiter Ferne. Das wird wahrscheinlich auch weiterhin so bleiben; denn im Regierungsentwurf zur Nachhaltigkeitsstrategie gibt es keinerlei Aussagen darüber, wann dieser Wert erreicht werden soll. Das, was im Antrag steht, ist deshalb nicht falsch. Wir unterstützen die vorgeschlagenen Maßnahmen, auch weil es in der Natur der regenerativen Energien liegt, dass vor allem kleinere Unternehmen gefördert werden müssen, die mit dem gigantischen fossil-atomaren Komplex konkurrieren müssen. Wir werden aber keinen Prozess mittragen, der sich langfristig nur auf eine neue Runde zur Wirtschaftsförderung beschränkt, der also die finanzielle Unterstützung für die Entwicklungsländer außen vor lässt; denn uns geht es um nachhaltige Entwicklung in der ganzen Welt. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8278 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre - Drucksache 14/7193 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Kollegen Manzewski, Dr. Freiherr von Stetten, Beck, van Essen und die Kollegin Pau möchten ihre Reden zu Protokoll geben1). Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 14/7193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zu- satzpunkt 7 auf: 16. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes - Drucksache 14/8245 - ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes - Drucksache 14/8374 - Die Kollegen Weisskirchen, Schmidt, van Essen sowie die Kolleginnen Grießhaber und Dr. Kenzler wollen ihre Reden zu Protokoll geben2). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 16: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP zur Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes. Wer stimmt für den Antrag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 7: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8374 zur Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der PDSFraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Monika Balt, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtelefondienst - Drucksachen 14/5831, 14/6931 Berichterstattung: Abgeordneter Elmar Müller ({2}) Die Kollegen Barthel, Müller, Fischer und Funke ha- ben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dür- fen3). - Das geschieht so. Aber der Kollege Jüttemann möchte sprechen und erhält deswegen das Wort. ({3})

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leider geht gerade die letzte Kolle- gin aus dem zuständigen Ausschuss hinaus. Die Kollegen des Ausschusses scheinen sich für das Thema nicht zu in- teressieren. Die Telekom hat in dieser Woche die Erhöhung ihrer Grundgebühren bekannt gegeben. Das passt zwar irgend- wie nicht zu der in diesem Hohen Hause viel beschwore- nen These, dass Liberalisierung und Privatisierung zu fal- lenden Preisen führen, aber das ist die Realität. Es trifft natürlich die sozial Schwachen. Wen sonst? Denen hat der Konzern bereits 1999 eine Ohrfeige verpasst, die bis heute nachwirkt. Die Telekom hat den bis dahin gültigen Sozialtarif - wie sie es selbst genannt hat - vereinfacht; in Wirklichkeit hat sie ihn teilweise und für viele Betrof- fene sogar vollständig abgeschafft. Zur Erklärung so viel: Seit den frühen 70er-Jahren wurde denjenigen, die einen Anspruch auf den Sozialtarif hatten, ein bestimmter Betrag der Grundgebühr erlassen. Nach der so genannten Vereinfachung muss die Grundge- bühr von jedem voll bezahlt werden; der Sozialtarif hat sich in ein Gesprächsguthaben für Standardverbindungen im Netz der Deutschen Telekom verwandelt. Verbraucher und Interessenverbände haben das ebenso wie viele Be- troffene scharf kritisiert; denn natürlich haben gerade viele sozial bedürftige Menschen ihr Telefon nur, um an- gerufen werden zu können. Für diese Leute hat sich der Sozialtarif erledigt. Wenn sie selbst anrufen, wollen sie das vielleicht nicht unbedingt über den nicht immer güns- tigen Anbieter Telekom erledigen. Mit dem Sozialtarif werden sie aber dazu gezwungen. Der Vorgang ist wie die Erhöhung der Grundgebühren eine der negativen Folgen der Privatisierung. Regierung und Regulierungsbehörde argumentieren, man könne der Telekom nicht die Art und Weise eines So- zialtarifs diktieren; schließlich sei das eine freiwillige Leistung des Konzerns und der Tarif unterliege nicht der Genehmigungspflicht. Das ist ja gerade der wunde Punkt. Vor der Privatisierung handelte es sich bei dem Sozialta- rif um eine Pflichtleistung und es gab einen Kreis von Personen, die einen rechtlichen Anspruch auf diese Leis- tung hatten. Irgendetwas wird sich die damalige Bundesregierung ja wohl dabei gedacht haben, als sie Anfang der 70er- Jahre diesen Sozialtarif eingeführt hat. „Irgendetwas“ sage ich deshalb, weil die genauen Motive für die Ein- führung des Sozialtarifs - hierbei handelt es sich offenbar Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer 3) Anlage 8 1) Anlage 6 2) Anlage 7 um einen Treppenwitz der Privatisierung - nicht mehr ergründet werden können. Laut Antwort der Bundesregierung auf meine diesbezügliche Frage existieren nirgendwo mehr Aufzeichnungen darüber. Wörtliches Zitat des Parlamentarischen Staatssekretärs Mosdorf: Die seinerzeitige Motivation der Deutschen Bundespost lässt sich demnach nicht mehr erforschen. So einfach ist das, jedenfalls für die Regierung, die übrigens auch über die Höhe des gewährten Sozialtarifs in der Zeit vor 1993 angeblich nichts mehr weiß. Ich gebe zu: Ich hätte gedacht, dass in so einem Staatswesen ein bisschen mehr Ordnung herrscht. Vor allem kommt es darauf an, dass wir den Betroffenen heute wieder einen Rechtsanspruch auf den Sozialtarif zurückgeben, auch um dem Sozialen in der Marktwirtschaft in diesem Punkt den ihm gebührenden Rang zu verschaffen. Diesem Ziel dient unser vorliegender Antrag. Dennoch sind sich laut Beschlussempfehlung alle darin einig, ihn abzulehnen. Im Wirtschaftsausschuss ist für diese Ablehnung von niemandem auch nur ein einziges Argument vorgebracht worden. Im Unterausschuss für Telekommunikation und Post hat einzig Frau Hustedt Stellung bezogen und erklärt, der von der PDS geforderte Rechtsanspruch dürfe nicht auf die Telekom begrenzt sein, sondern müsse sich auf alle Anbieter erstrecken. Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Hätten Sie unseren kurzen Antrag gelesen, hätten Sie festgestellt, dass wir genau das fordern. Außerdem hat sich noch Herr Mannherz vom Bundesministerium für Wirtschaft geäußert. Er trug das alberne Argument vor, der Wettbewerb selbst könne die sozialen Abfederungen viel besser gewährleisten als gesetzliche Regelungen. Dazu muss man nichts sagen, weil diese Behauptung von der Praxis einfach widerlegt wird - siehe Grundgebührerhöhung. In vornehmes Schweigen hat sich bisher die SPD gehüllt. Das Einzige, was von ihr zu diesem Thema zu hören war, steht in ihrem Antrag „Wettbewerb und Regulierung im Telekommunikationssektor“ auf Bundestagsdrucksache 14/5693. Da heißt es - ich zitiere -: Abgesehen von punktuellen Problemen mit Telefonzellen und dem Sozialtarif der DTAG war bisher die flächendeckende Versorgung mit TK-Dienstleistungen zu erschwinglichem Preis nicht gefährdet. Welche Lösungen haben Sie für diese punktuellen Probleme? Stimmen Sie unserem Antrag zu oder schaffen Sie eine andere Lösung! Denn von nichts kommt bekanntlich nichts. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Jüttemann, zwischen allen Fraktionen - also auch mit der PDS - ist eine Absprache getroffen worden. Dies ist im Konsens geschehen. Derjenige, der aus dem Konsens aussteigt und noch redet, sollte nicht die anderen dafür beschimpfen, dass sie nicht sprechen. Das ist nicht gut. Wir haben hier mittlerweile fast 13 Stunden ununterbrochen, also ohne Pause, diskutiert. Das ist der Grund, warum alle anderen auf ihre Chance, zu reden, verzichtet haben. Ich sage das nur für das nächste Mal. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/6931 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtelefondienst“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5831 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen worden. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. März 2002, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.