Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen ist auf gutem Weg. Ich freue mich, dass
sich heute ein breiter parlamentarischer Konsens abzeichnet. Dies ist gerade bei einem Vorhaben für behinderte
Menschen sehr wichtig. Für die gute und konstruktive ZuPräsident Wolfgang Thierse
sammenarbeit über Parteigrenzen hinweg - diese fand ich
wirklich beeindruckend - möchte ich mich an dieser
Stelle recht herzlich bedanken.
({0})
Ich tue dies auch im Namen behinderter Menschen, die
eine rasche Realisierung ihres Bürgerrechts auf gleiche
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingefordert haben.
In meinen Dank möchte ich aber auch die Verbände und
Landesregierungen einbeziehen. Der frühzeitige offene
Austausch von Informationen und Stellungnahmen hat
entscheidend dazu beigetragen, den Entwurf noch besser
zu machen. Gerade auch die praktische Ausgestaltung des
neuen Instruments der Zielvereinbarung hat vom Fachwissen und den Erfahrungen der Verbände sehr profitiert.
Meine Damen und Herren Abgeordnete, lassen Sie uns
immer daran denken: Menschen mit Behinderungen
gehören in die Mitte unserer Gesellschaft. Zurzeit leben
etwa 6,6 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland.
Davon sind nur 4,5 Prozent oder 300 000 von Geburt an
behindert. Die meisten werden es im Laufe ihres Lebens,
etwa durch Unfälle oder durch Altern. Diese Fakten machen uns deutlich: Jeden von uns kann es betreffen und jeder von uns soll mithelfen.
8 Prozent unserer Bevölkerung sind schwerbehindert.
Das zeigt, dass die Behindertenpolitik kein Randbereich
politischen Handelns sein kann; bei Entscheidungen muss
sie im Zentrum stehen.
({1})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert von der
PDS-Fraktion?
Ich möchte gerne geschlossen vortragen und
den Gesetzentwurf insgesamt einführen.
Wenn ich heute über das Gleichstellungsgesetz spreche,
ist es kein Zufall, dass gerade zwei Vertreter vom
Forum behinderter Juristinnen und Juristen anwesend
sind. Sie haben auf der Grundlage eines Entwurfs des Forums behinderter Juristinnen und Juristen in einer Projektgruppe des Bundesarbeitsministeriums mit uns gemeinsam
den Gesetzentwurf erarbeitet, der heute dem Parlament
vorliegt. Was hier ganz praktisch wirkt: Menschen mit
Behinderungen gestalten ihren Lebensbereich selbst.
({0})
Diese aktive Mitgestaltung ist für mich eine neue Qualität in der Gesetzgebung, die vielleicht auch in anderen Bereichen aufgegriffen werden sollte. Behinderte Menschen
nicht als Objekt zu verstehen, die betreut werden müssen,
sondern als Menschen zu sehen, die ihr Leben selbst in die
Hand nehmen und aktiv mitgestalten - dies war bereits
beim Sozialgesetzbuch IX unser zentrales Anliegen und es
ist auch beim Gleichstellungsgesetz Programm.
({1})
Deshalb spielen Zielvereinbarungen künftig eine wichtige Rolle. Unternehmen und Verbände behinderter Menschen sollen in eigener Verantwortung Vereinbarungen
treffen können, wie und in welchen Zeiträumen Barrierefreiheit vor Ort konkret verwirklicht werden soll. So sind
flexible Regelungen möglich, die den jeweiligen Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechen und auch angepasst
werden können. Dies muss allerdings noch in vielen Bereichen mit Leben erfüllt werden, damit das Gesetz in der
Praxis ein wirksames Instrument werden kann.
Die Verbände der behinderten Menschen werden
selbstständig und in eigener Verantwortung als Verhandlungspartner der Wirtschaft ihre Ziele und Vorstellungen
einbringen können. Der Staat begleitet diesen Prozess.
Dies ist für behinderte Menschen die deutlichste Form des
Paradigmenwechsels vom Objekt zum Subjekt.
Lassen Sie mich einige wenige Schwerpunkte des
neuen Gesetzentwurfs benennen:
Beispiel behinderte Frauen: Über 3 Millionen schwerbehinderte Frauen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen sollen nicht mehr sagen können, sie
seien doppelt benachteiligt, nämlich als behinderte Menschen und Frauen, denn der Frauenfördergrundsatz trägt
im Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen diesem Anliegen in besonderem Maße Rechnung. Die Belange behinderter Frauen sind zu berücksichtigen und besondere Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung
behinderter Frauen zulässig und wünschenswert.
({2})
Nehmen Sie Gebäude und Gaststätten: Rollstuhlnutzerinnen und Rollstuhlnutzern sowie blinden und gehörlosen Menschen soll es möglich sein, selbstständig in die
Gebäude des Bundes zu kommen und sich orientieren zu
können. Auch die Möglichkeit, eine Gaststätte barrierefrei erreichen zu können, gehört selbstverständlich dazu.
Daher müssen Gaststätten in neu errichteten Gebäuden
künftig barrierefrei sein. Dazu müssen beispielsweise
ebenerdige Eingänge für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer mit Aufzügen oder Rampen versehen sowie
Behindertentoiletten eingerichtet werden. Da die Barrierefreiheit schon in die Planung einfließt, sparen wir im
Übrigen auch Kosten.
Nehmen Sie den Verkehr: Nahverkehr, Bahnverkehr
oder Luftverkehr - das sind drei Begriffe für Bewegungsfreiheit und Mobilität für die meisten Menschen. Künftig
sollen behinderte Menschen hier möglichst wenig Barrieren vorfinden, damit auch sie selbstbestimmt von ihrem
Recht auf Mobilität Gebrauch machen können. Auch hiervon profitiert die Gesamtgesellschaft.
({3})
Beispiel Informationstechnik: Das Internet ist nicht nur
Informationsbasis, sondern auch Betätigungsfeld und Arbeitsmöglichkeit. Insbesondere blinden und sehbehinderten Menschen soll hier ein Zugang, zum Beispiel durch
textunterlegte Benutzeroberflächen, ermöglicht werden.
Beispiel Behörden: Durch das Gleichstellungsgesetz
für behinderte Menschen wird das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes für Behörden konkretisiert. So
wird es künftig etwa nicht mehr möglich sein, dass eine
Behörde die Ausübung eines Berufs aufgrund einer Behinderung untersagt. Diese nur pauschal vorgetragende
Begründung würde gegen das Benachteiligungsverbot
verstoßen, wonach behinderte Menschen nicht ohne
zwingenden Grund unterschiedlich behandelt werden
dürfen. Hör- und sprachbehinderte Menschen etwa haben
künftig das Recht, im Verwaltungsverfahren mit allen
Bundesbehörden in der Gebärdensprache zu kommunizieren. Die Kosten hierfür tragen die Behörden.
Konkrete Verbesserungen sieht das Gesetz auch für sehbehinderte Menschen vor. Sie können künftig Bescheide,
beispielsweise vom Arbeitsamt, auf Wunsch zusätzlich in
Brailleschrift oder auf einem Tonträger erhalten. Blinde
Menschen sollen künftig mithilfe von Wahlschablonen bei
den Bundestags- und Europawahlen wählen können. Damit können sie ihr Bürgerrecht auf eine selbstständige
Wahl weitgehend durchsetzen, wozu natürlich ebenfalls
gehört, dass Wahllokale möglichst barrierefrei zugänglich
sein müssen.
({4})
Dies alles wird komplettiert durch ein Verbandsklagerecht für anerkannte Verbände. Sie können künftig, insbesondere in Fällen von allgemeiner Bedeutung, die
Gleichstellung behinderter Menschen auch gerichtlich
geltend machen.
Meine Damen und Herren, das Selbstverständnis von
behinderten Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten
tief greifend geändert, Gott sei Dank. Dies ist ein Paradigmenwechsel, der Teilhabe und Selbstbestimmung vor
die Fürsorge gestellt hat. Behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen haben Fähigkeiten, die sie wie
jeder Mensch unter Beweis stellen können und wollen.
Behinderte Menschen wollen nicht länger Objekt sozialer
Leistungen sein; sie fordern zu Recht Selbstbestimmung
ein. Mit diesem Gesetz kommen wir diesem Ziel sehr entgegen.
({5})
Dabei darf man aber auch nicht vergessen: Sie brauchen weiterhin Unterstützung und Solidarität. Deshalb
gilt mein Dank Ihnen allen. In beeindruckender Weise und
mit breiter parlamentarischer Mehrheit sagt der Deutsche
Bundestag behinderten Menschen heute diese Solidarität
zu.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort
Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf die heutige Verabschiedung des Bundesgleichstellungsgesetzes war vor
einigen Tagen in einer Pressemitteilung zu lesen: „Der
Bundestag hat seine Hausaufgaben getan.“ In Anbetracht
der Tatsache, dass man das ja in fast allen politischen Bereichen heute nicht mehr sagen kann und nicht hört, ist das
wirklich ein Kompliment für uns.
({0})
Deshalb kann ich auch für die CDU/CSU-Fraktion sagen:
Wir begrüßen das Gesetzesziel ausdrücklich und werden
diesem Gesetz zustimmen.
Ganz grob betrachtet können wir uns freuen, dass es
gelungen ist, ein weiteres Gesetz für Menschen mit Behinderungen in großer Einigkeit in diesem Hohen Haus zu
verabschieden. Für das sachliche und konstruktive Miteinander bei diesem Gesetzgebungsverfahren möchte ich
allen Beteiligten ausdrücklich danken. In diesen Dank
schließe ich im Besonderen die Verbände ein, die uns in
dieser Diskussion sehr konstruktiv und eigentlich vorausmarschierend begleitet haben. Ich nenne insbesondere das Forum behinderter Juristinnen und Juristen,
das einen Vorschlag geliefert hat, der letztendlich die
Grundlage für unsere Arbeit geworden ist.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage „im Groben“, weil bei genauer Betrachtung natürlich einiges kritisch angemerkt werden muss. Schon bei der ersten Lesung habe ich darauf hingewiesen, dass die materielle
Substanz des Gesetzes sehr überschaubar ist. Auch wenn
ich den Wert und die Tatsache als solche, dass es jetzt ein
Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen
gibt, nicht unterschätzen möchte, so sind die Regelungsinhalte doch sehr begrenzt.
Es war zu erwarten, dass durch die Beratungen im Bundesrat diesbezüglich keine Erweiterungen vorgenommen
wurden. So wurde in der Tat einiges zurückgenommen
und in der Regelungshoheit der Länder belassen. Ich
denke hier beispielsweise an die Handlungsspielräume
bei der Ausgestaltung der Barrierefreiheit im Gaststättenbereich und im Personennahverkehr. Aus Gründen des
Föderalismus ist dies zu akzeptieren und auch zu verstehen. Allerdings wissen wir, dass sich dahinter ein
Grund verbirgt, der uns in Tat skeptisch machen muss.
Dabei handelt es sich nämlich um die zu befürchtenden
Kosten, die auf die Investoren oder auf die Länder und die
Kommunen zukommen würden.
Dieser Umstand wirft die Frage auf, wie es in den Ländern weitergehen wird. Denn das Argument der Kosten
wird nicht allein dadurch aufgehoben, dass jetzt die Landesgesetzgeber an der Reihe sind, sondern auch sie werden sich mit den Kosten auseinander setzen müssen, wenn
sie Regelungen treffen. Deswegen können wir lediglich
abwarten, wie die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern erfolgt. Ich hoffe nur, dass die Möglichkeiten für
eine größere Barrierefreiheit ergriffen werden. Denn bekanntlich liegt der Hauptregelungsinhalt in den Länderbauverordnungen.
Insofern hätte ich mir - vor allen Dingen auch wegen
der Vorbildwirkung des Bundesgleichstellungsgesetzes gewünscht, nach Möglichkeiten zu suchen, einen zeitlichen Horizont für die Umsetzung der Barrierefreiheit von
Neu-, Um- und Erweiterungsbauten zu setzen. Wir unterstützen deshalb den Entschließungsantrag, in dem hinsichtlich der Umsetzung die Prüfung der Notwendigkeit
von Fristsetzungen gefordert wird.
Viel diskutiert wurde in der Gesetzesberatung § 13, das
so genannte Verbandsklagerecht. Ich bin mir darüber im
Klaren, dass manche Verbände gerne eine weiter gehende
Regelung gewollt hätten. Ich meine aber auch, dass der
Kompromiss, den wir inzwischen gefunden haben, in der
Sache zweckdienlich ist. Denn mit einem gut gemeinten
Gesetz, das in seiner Wirkung am Ende das Gesetzesvorhaben konterkariert, ist niemandem geholfen, weil es die
Akzeptanz zur Umsetzung des Gesetzes schmälert.
Ich meine, mit der Möglichkeit von Feststellungsklagen steht die öffentliche Hand sehr wohl stark genug unter Druck, ihrer Aufsichtspflicht gerecht zu werden und
dafür Sorge zu tragen, dass Investitionen und Um-, Erweiterungs- und Neubauten barrierefrei vorgenommen
werden, ohne die unmittelbaren Investitionen zu gefährden. Ich unterstütze auch ausdrücklich den Weg, der in der
Frage der Zielvereinbarung gewählt worden ist, um auch
im privatrechtlichen Teil mehr Barrierefreiheit herzustellen, weil es sich dabei um einen Weg handelt, bei dem die
Organisationen mitwirken können und selber gefordert
sind, und weil es damit ein Miteinander sehr konkreter
Regelungen geben kann, die auf die Bedingungen vor Ort
abgestellt sind.
Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Minister, meine ich, dass
die Frage der barrierefreien Informationstechnik in
§ 11 nicht unbedingt zufrieden stellend, sondern sehr
zurückhaltend geregelt worden ist. Das ist einer der Paragraphen, der die Bundesregierung selbst etwas gekostet
hätte, und schon ist man in der Umsetzung etwas zurückhaltender.
({2})
Denn wenn Sie sagen, Sie bestimmen die Art von Informationen und entscheiden, wo und wann Sie Barrierefreiheit im Internet und Intranet schaffen, halte ich das für
sehr einschränkend und nicht unbedingt im Sinne der Betroffenen.
({3})
Insgesamt fällt auf, Herr Minister, dass Sie immer dann
reden, wenn es um die Verkündung schöner Gesetze geht.
Wenn es aber etwas kritisch wird, halten Sie sich in Debatten vornehm zurück.
({4})
Ein Weiteres dürfen wir beim genauen Hinsehen zu
diesem Gesetz nicht vergessen. Wir wissen aus den Erfahrungen aus anderen Bereichen - ich denke vor allen
Dingen an unsere Versuche, mithilfe von Gleichstellungsgesetzen mehr für die Gleichberechtigung von Frauen zu
erreichen -, dass die Reichweite von Gesetzen sehr begrenzt ist. In der Frage der Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen in unserer Gesellschaft geht es nämlich
nicht zuletzt um Einstellungsfragen. Die Frage, wie offen
wir wirklich sind, allen die Teilhabe und ein Mitspracherecht zu ermöglichen, und alles, was mit Einstellungsfragen, Überzeugungen und Akzeptanz zu tun hat, entzieht
sich gesetzlicher Verordnungen. Hier sind wir selber gefordert, vor Ort konkrete Begegnungen herbeizuführen,
um sehr viel mehr Toleranz, Akzeptanz und Teilhabe in
unseren Einstellungen sicherzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie schon beim Sozialgesetzbuch IX hat die CDU/CSU-Fraktion - das gilt
wohl auch genauso gut für die FDP-Fraktion - bewiesen,
dass wir an der Sache orientiert und sehr wohl zu einem
konstruktiven Miteinander bereit sind. Wenn wir merken,
dass wir uns bei den gefundenen Kompromissen wiederfinden, werden wir solche Vorhaben gemeinsam mit Ihnen
verabschieden.
({5})
Ich erwähne das deshalb, weil uns allzu gern und allzu
schnell so etwas wie Fundamentalopposition und Blockadepolitik vorgeworfen wird. Dazu muss ich Ihnen sagen: Sie verabschieden eben zu viele Vorhaben, zu denen
wir Ihnen schlicht und ergreifend nicht unsere Hand reichen können.
({6})
Das hat leider Gottes auch mit Bereichen zu tun, die
mittelbar und unmittelbar auch sehr konkret auf dieses
Thema einwirken. Eines habe ich schon angesprochen,
nämlich die Barrierefreiheit bei der Ausgestaltung von
Gebäuden, Einrichtungen und Straßen und im Personennahverkehr, wofür vor allem die Länder und Kommunen
in der Pflicht sind. Rot-Grün hat bei Regierungsantritt
versprochen, den Kommunen mehr Geld zu lassen, damit
sie zu mehr kommunaler Selbstverwaltung in der Lage
sind. Aber genau das Gegenteil ist passiert.
({7})
Die finanziellen Spielräume der Kommunen werden immer enger
({8})
und die Diskussionen um die Kommunalfinanzen werden
sehr scharf geführt, weil die Kommunen mit dem Rücken
an der Wand stehen. Angesichts dessen brauchen Sie sich
nicht zu wundern, wenn die Kommunen nicht bereit sind,
mehr für Barrierefreiheit zu tun. Sie haben dazu einfach
nicht die finanziellen Spielräume.
({9})
Wenn Sie für Menschen mit Behinderungen wirklich etwas erreichen wollen, sind Sie gefordert, auch in diesem
Punkte etwas zu tun.
({10})
Dies gilt noch mehr für den Arbeitsmarkt. Sie haben
es geschafft, dass kaum noch jemand in Deutschland
bereit ist, einen zusätzlichen Arbeitsplatz zu schaffen und
Menschen einzustellen.
({11})
Die Unternehmen sind durch mehr Bürokratie so eingeengt und in ihren finanziellen Spielräumen so beschnitten,
dass man nicht erwarten kann, dass die Bereitschaft
wächst, vielleicht auch jemanden einzustellen, bei dessen
Beschäftigung man einen erhöhten Aufwand hat.
({12})
Vor diesem Hintergrund müssen wir sehr genau aufpassen, wie Sie Ihr Programm „50 000 Arbeitsplätze für
Schwerbehinderte“ umsetzen, und überprüfen, welche
Arbeitsplätze für Behinderte geschaffen werden. Ihnen ist
nämlich nicht geholfen, wenn sie am Ende nur in kurzfristigen Maßnahmen beschäftigt sind und nach einem oder
zwei Jahren erneut arbeitslos sind und wieder in den Statistiken stehen.
Allerdings haben Sie, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, inzwischen alles dafür getan, dass kaum noch
jemand in Deutschland einer Statistik Vertrauen schenkt.
({13})
Das Vertrauen in Statistik ist inzwischen so verdorben,
dass man schon gar nicht weiß, worauf man sich überhaupt verlassen kann. Hier haben Sie das Vertrauen der
Menschen vollständig verspielt.
({14})
Wir werden also aufpassen, ob Sie das Problem der Arbeitslosigkeit von Menschen mit schweren Behinderungen am Ende nicht auf ein rein statistisches Problem reduzieren.
Wir wollen, dass das Bundesgleichstellungsgesetz
nach Geist und Inhalt in allen Bereichen Erfolg hat. Hier
gibt es in der Tat noch viel zu tun. Wo Sie konstruktive
Vorschläge machen, werden wir Sie unterstützen. Deshalb
werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute
ist ein historischer Tag für Behinderte in Deutschland.
Das mag man bei diesem Gesetz ruhig sagen. Das ist eine
Zäsur im Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu den behinderten Menschen, die in unserem Land leben. Das
Gleichstellungsgesetz vollzieht einen tiefgreifenden Perspektivwechsel in der Behindertenpolitik: weg vom Objekt der Fürsorge hin zu gleichberechtigten Bürgern, die
ihre Rechte durchsetzen können. Seit vielen Jahren haben
wir Grüne für einen solchen emanzipatorischen Politikwechsel gearbeitet.
Das Gleichstellungsgesetz hat zum Ziel, behinderten
Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Der Perspektivwechsel, den wir
1994 mit der Grundgesetzänderung vorgenommen haben,
wird nun erfahrbare Lebenswirklichkeit und Rechtsalltag.
Das ist ein ganz entscheidender Durchbruch.
Ich freue mich, dass Frau Nolte gesagt hat, die Union
stimme heute zu, und sich bei den Verbänden dafür bedankt hat, dass sie so gut mit uns zusammengearbeitet haben. Bei Rot-Grün finden die Verbände eben Gehör.
({0})
Wir haben das durchgesetzt, was die Verbände seit 1994
pausenlos vorgetragen haben, weil damals nach der
Grundgesetzänderung eine Katerstimmung aufkam, da
nichts, aber auch gar nichts passierte, um das, was in der
Verfassung steht, auch Verfassungswirklichkeit werden
zu lassen. Wir haben das angepackt, darauf können wir
wirklich stolz sein.
({1})
Mit dem Gleichstellungsgesetz für Behinderte wird
Barrierefreiheit im umfassenden Sinne verwirklicht. Der
Bund geht mit gutem Beispiel voran. Alle zivilen Neubauten des Bundes werden in Zukunft barrierefrei gestaltet sein und bei allen größeren Umbauten muss die Barrierefreiheit berücksichtigt werden. Ich wünsche mir, dass
sich die deutsche Wirtschaft hier entsprechend verhält.
Hier sind aber auch die Länder gefragt. Sie müssen das im
Landesbaurecht genauso umsetzen, wie das der Bund im
Rahmen seiner eigenen Regelungskompetenz mit dem
vorliegenden Gesetz tut.
Wir haben den ideologischen Streit darüber beendet, ob
sich eine Minderheit, nämlich die Gehörlosen, in diesem
Land in ihrer Sprache verständigen dürfen. Wir haben die
deutsche Gebärdensprache als Sprache anerkannt. Damit
unterliegt sie dem Diskriminierungsschutz, den die Sprache nach Art. 3 des Grundgesetzes ausdrücklich genießt.
({2})
Ich bin froh, dass es uns nach der anfänglich zögerlichen
Haltung des Beauftragten der Bundesregierung für die
Belange der Behinderten in der Arbeitsgruppe gelungen
ist, die notwendige Überzeugungsarbeit zu leisten. Heute
steht die Koalition wie ein Mann oder wie eine Frau hinter der gesetzlichen Anerkennung der deutschen
Gebärdensprache als Sprache. Das ist ein guter Fortschritt und zeigt vor allen Dingen, dass wir in dieser GeClaudia Nolte
sellschaft Verschiedenheit akzeptieren: Wir akzeptieren,
dass die Menschen unterschiedlich sind. Trotzdem haben
sie die gleichen Rechte. Niemand muss seine Andersartigkeit leugnen, um die gleichen Rechte zu haben.
Es ist gut, dass es nun Aufgabe der Behörden ist, dafür
zu sorgen, dass sich die Gehörlosen in ihrer Sprache verständlich machen können. Das wird wahrscheinlich neue
Arbeitsplätze für Gebärdendolmetscher schaffen, die oftmals gut ausgebildet sind, aber bislang kaum Möglichkeiten hatten, mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten
Geld zu verdienen, weil keine solide Infrastruktur für die
Gehörlosen geschaffen worden war. Ich glaube, der vorliegende Gesetzentwurf wird einen wichtigen Beitrag
dazu leisten, dass sich die Gruppe der Gehörlosen mit diesem Staat und mit dieser Gesellschaft besser verständigen
kann; denn die entsprechenden Voraussetzungen werden
nun geschaffen.
({3})
Wir haben im Gaststättengesetz vorgesehen, dass alle
neuen Gaststätten, die nach dem In-Kraft-Treten des vorliegenden Gesetzes gebaut werden, barrierefrei gestaltet
werden. Ansonsten gibt es keine Zulassung, es sei denn,
es sprechen unzumutbare Härten dagegen. Die Länder
werden entsprechende Verordnungen erlassen müssen.
Über die Barrierefreiheit gab es im Ausschuss einen
langen Streit insbesondere mit den Gaststättenverbänden,
die dies nicht wollten und meinten, man könne doch wenigstens die Kleingaststätten von dieser Regelung ausnehmen. Auch im Bundesrat gab es solche Stimmen. Ich
vermag nicht einzusehen, warum ein Behinderter mit seinem Rollstuhl nicht auch an die Pommesbude fahren können soll. Ich vermag auch nicht einzusehen, warum es
große Mühe machen soll, wenn man eine neue Gaststätte
baut, von Anfang an daran zu denken, dass Behinderte zu
den Gästen dieser Gaststätte gehören werden. Die Sicherstellung der Barrierefreiheit ist ein großer Erfolg dieses
Gesetzes und bedeutet, dass sich Behinderte selbstverständlicher und selbstständiger im Lebensalltag unseres
Landes werden bewegen können.
({4})
Wir haben mit Zielvereinbarungen für alle gesellschaftlichen Bereiche die Möglichkeit geschaffen, rechtsverbindlich durchzusetzen, dass sich Vertreter der Behindertenverbände und Vertreter der Wirtschaft gemeinsam
an einen Tisch setzen, um in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich Barrierefreiheit herzustellen. Wir
haben damit etwas gemacht, was der Gesetzgeber selten
tut: Die gesellschaftlichen Kenntnisse und das Wissen der
Betroffenen werden bei der Lösung von Problemen vor
Ort genutzt werden; denn aufgrund der Zielvereinbarungen können die kompetenten Akteure miteinander
vernünftige Lösungen vor Ort finden, ohne dass der Gesetzgeber mit komplizierten und abstrakten Regeln, die
sich, wie wir wissen, nicht immer für alle Lebensbereiche
als tauglich erweisen, überregulierend eingreift. Wir haben die entsprechenden Mechanismen geschaffen. Die
Verbände können sie jetzt nutzen.
Im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs, haben
wir die Anbieterseite dort, wo der Bund eine originäre Gesetzgebungskompetenz hat, im Eisenbahnrecht und im
Luftverkehrsgesetz, rechtsverbindlich verpflichtet, ihren
Bereich barrierefrei umzugestalten. Wir appellieren an die
deutsche Verkehrswirtschaft, nach dem In-Kraft-Treten
des vorliegenden Gesetzes bei neuen Aufträgen keine
Verkehrsmittel mehr anzuschaffen, die nicht barrierefrei
sind. Jede Mark, die heute noch in ein nicht barrierefreies
Verkehrsmittel fließt, ist, meine ich, eine verlorene Mark,
ist Geldverschwendung. Allen sei zur Mahnung gesagt: In
der nächsten Wahlperiode werden wir uns zum 31. Dezember 2004 von der Bundesregierung darüber berichten
lassen, wie weit es mit der Umsetzung in allen Bereichen
steht. Wenn wir feststellen müssen, dass es nicht schnell
genug geht, dann könnte es durchaus sein, dass der Deutsche Bundestag den Nachzüglern mit einer Fristsetzung
im Gesetz auf die Sprünge hilft. Wir wollen das aber eigentlich im Guten versuchen und deshalb belassen wir es
zunächst einmal bei den Zielvereinbarungen. Ich hoffe,
dass wir damit schnell zu guten Ergebnissen kommen.
Das Gesetz insgesamt ist davon geprägt, dass wir den
Behindertenverbänden mehr Möglichkeiten geben wollen, die Rechte der Behinderten durchzusetzen. Wir setzen nicht auf den Staat, sondern auf das Engagement der
Betroffenen sowie der Bürgerinnen und Bürger. Mit dem
Verbandsklagerecht geben wir ihnen das Instrument
in die Hand, um ihre Rechte auch tatsächlich gesellschaftlich durchzusetzen - gegen Staat und gegen Wirtschaft gleichermaßen. Also: Die Arbeit hört nicht auf. Die
Behindertenverbände werden einiges zu tun bekommen.
Rot-Grün können sie dabei an ihrer Seite wissen. Auch
mit dem begleitenden Entschließungsantrag wird dieses
Signal gesetzt.
Ich möchte zum Schluss meiner Rede den Behindertenverbänden danken, die uns so gut begleitet haben,
sowie dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen,
die die erste Vorlage für dieses Gesetz geschaffen haben,
das wir in der Koalitionsarbeitsgruppe aufgegriffen haben. Ich möchte besonders zwei alten Freunden aus der
BAG Behindertenpolitik der Grünen danken, die beim Arbeitsstab des Behindertenbeauftragten für dieses Gesetz
wirklich sehr gute Arbeit geleistet haben. Vielen Dank an
Dr. Frehe und Dr. Jürgens, ohne deren kompetenten Rat
wir wahrscheinlich nicht so weit gekommen wären.
({5})
Ich möchte auch dem gesamten Arbeitsstab des Behindertenbeauftragten und dem Arbeitsministerium danken,
weil die Zusammenarbeit nach anfänglichem Stottern immer besser geklappt hat und wir zu einem guten Abschluss
gekommen sind.
Ich bin froh darüber, dass die Oppositionsfraktionen,
zumindest CDU/CSU und FDP - von der PDS weiß ich es
noch nicht so genau -, diesem Gesetz zustimmen werden.
Es ist ein gutes Signal, dass es uns gelungen ist, unter rotgrüner Mehrheit einen gesellschaftlichen Konsens dafür
zu organisieren, dass ein solches Gesetz notwendig ist.
({6})
Volker Beck ({7})
In der letzten Wahlperiode fehlte dieser Konsens leider.
Ich finde es immer gut, wenn man auch in der Opposition
dazulernt.
Auch wenn die Bänke des Bundesrats hier zurzeit leer
sind, möchte ich an den Bundesrat appellieren, diesem
Reformwerk für behinderte Menschen keine Steine in den
Weg zu legen. Behinderte Menschen, ihre Angehörigen
und Freunde warten seit langem auf das Gesetz. Wenn
sich die Länder hier verweigern würden, wäre eine historische Chance für unsere Gesellschaft vertan. Wir sind
daher optimistisch, dass sich die Bundesländer ihrer Verantwortung für die behinderten Bürgerinnen und Bürger
bewusst sind und dieses Gesetz ohne weitere Sperenzchen
schnell passieren lassen. Das muss jetzt ins Gesetzblatt,
damit es noch in dieser Wahlperiode wirksam werden
kann. Wir hoffen bei diesem Gesetz auf Gemeinsamkeit
mit dem Bundesrat, nachdem wir für die Behinderten hier
im Deutschen Bundestag die große Gemeinsamkeit der
demokratischen Parteien gefunden haben.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die FDP ist die politische
Kraft in Deutschland, die größtmögliche Freiheit bei einem Höchstmaß an Eigenverantwortung für jeden einzelnen Menschen anstrebt.
({0})
Diese Prinzipien - eine solche grundlegende Bemerkung
muss in einer Debatte einmal erlaubt sein -, verbunden
mit dem Prinzip der Toleranz, sind auch Richtschnur einer liberalen Politik für Menschen mit Behinderungen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, behinderte Menschen sind ganz normale Bürger unseres Landes. Deswegen ist Behindertenpolitik für uns Liberale
keine Spartenpolitik, sondern Bürgerrechtspolitik.
({2})
Im Mittelpunkt einer liberalen Behindertenpolitik steht
also der Mensch, der Mensch mit seiner Behinderung,
aber nicht die Behinderung als solche. Deswegen wollen
wir Behindertenpolitik nicht für, sondern mit behinderten
Menschen machen.
({3})
Behinderte Menschen müssen wesentlich mitgestalten
können.
Menschen mit Behinderungen müssen mit klaren
Rechten und mit fairen Chancen ausgestattet werden.
Gerade behinderte Menschen und - nicht zu vergessen deren Angehörige wollen mehr Gestaltungsspielraum für
ihr Leben. Sie wollen weg vom Gängelband des Staates.
({4})
In jedem Lebensabschnitt und in jeder Lebenssituation
müssen sie die Chance erhalten, ihr Leben so zu gestalten,
wie sie es möchten und können. Das heißt: Wir brauchen
eine durchgängige Förderung und Integration, beginnend
bei der Frühförderung; wir brauchen integrative Kindergärten und Gruppen, in denen die soziale Kompetenz auch
der nicht behinderten Kinder geschult wird.
({5})
Ich höre mit Sorge, dass es bei der Umsetzung des SGB IX
zu einem Streit über die Finanzierung der Frühförderung
gekommen ist. Das kann und darf dieses Haus nicht hinnehmen.
({6})
Wir brauchen integrative Schulen, in denen behinderte Kinder in die Lage versetzt werden, im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten Wissen zu erlangen und
Kulturtechniken zu erlernen.
({7})
Das bedeutet fast immer zusätzliche Förderung und auch
pflegerischen Aufwand in der Schule. Mit anderen Worten: Das kostet Geld. Wenn wir Teilhabe ernst nehmen,
dann müssen wir dies zur Verfügung stellen.
({8})
Behinderte Jugendliche brauchen Berufsbildung. Das
bestehende Netz von Berufsbildungswerken muss ausgebaut werden. Behinderte brauchen, wann immer möglich
- es wird nicht in jedem Einzelfall möglich sein -, die
Chance auf einen Zugang zum ersten Arbeitsmarkt.
Integration auch im Alltag, das heißt behindertengerechtes Wohnen und Mobilität im unmittelbaren Umfeld sowie auf Reisen. Für Teilhabe gibt es keine Altersgrenze. Im Gegenteil: Viele Behinderungen treten im
Alter erstmals auf. Hierzu werden wir vermehrt spezielle
Pflegeangebote brauchen. Es geht keinesfalls, dass die
Finanzierung der Pflege behinderter Menschen aus Kostengründen in die Pflegeversicherung abgeschoben wird.
({9})
Ich habe hier versucht, in wenigen Worten zu skizzieren: Der Anspruch auf Förderung und Teilhabe gilt für
alle Formen von Behinderungen. Einzelne Gruppen von
behinderten Menschen, die keine Lobby haben oder sich
nicht so gut artikulieren können - ich denke hierbei etwa
an Schwerst- und Mehrfachbehinderte - dürfen nicht benachteiligt werden. Im Gegenteil: Sie bedürfen unserer
besonderen Aufmerksamkeit und Unterstützung.
Volker Beck ({10})
Mit anderen Worten: Echte Teilhabe heißt, dass wir die
behinderten Menschen in die Mitte unserer Gesellschaft
stellen. Es entspricht einer guten und mittlerweile
langjährigen Tradition, behindertenpolitische Vorhaben
über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg im Konsens
zu beschließen. Diese Tradition begann mit der Ergänzung von Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes. Sie setzte sich
in dieser Legislaturperiode fort, zunächst beim Schwerbehindertengesetz, dann - nach anfänglichen Schwierigkeiten - beim SGB IX. Sie findet heute ihren - vorläufigen - Abschluss mit der Verabschiedung des Gesetzes
zur Gleichstellung behinderter Menschen.
Ich weise auch darauf hin: Der Weg wird fortgesetzt
werden.
({11})
Ich denke dabei nicht nur an ein Leistungsgesetz, dessen
Prüfung wir aus Anlass der Verabschiedung des SGB IX
in einer Entschließung bereits verabredet haben, sondern
vor allem an ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz, welches mit gutem Willen selbst in dieser Legislaturperiode noch verabschiedet werden könnte.
({12})
Heute beschließen wir zunächst einmal das Gesetz zur
Gleichstellung behinderter Menschen, und das, wie absehbar ist, mit einer großen Mehrheit dieses Hauses. Ich
appelliere an die PDS, sich der gemeinsamen Haltung des
Hauses anzuschließen und insoweit nicht auf Maximalforderungen zu beharren. Gerade weil Sie, Herr Kollege
Seifert, sich wirklich immer wieder als engagierter Streiter für die Belange der behinderten Menschen gezeigt haben, wäre es schade, wenn Ihre Seite heute nicht zustimmen würde.
({13})
Ich glaube, diese Haltung hilft den behinderten Menschen letztendlich nicht. Verständnis für die Bedürfnisse
und Wünsche sowie für die Situation behinderter Menschen lässt sich auf Dauer nur erreichen, wenn wir die
Schritte zur Verbesserung der Teilhabe im Konsens gehen.
Das heißt ganz konkret, dass diejenigen, die Beiträge dazu
leisten sollen, etwa die Unternehmer, die Inhaber von
Gaststätten - über Beispiele dieser Art ist hier diskutiert
worden -, im Dialog überzeugt werden müssen. Dieser
Gesetzentwurf sieht dies stärker als bisher vor, Stichwort
Zielvereinbarungen. Ich denke auch an die Regelungen
im Gaststättenrecht. Wir, die FDP, sind ein bisschen stolz,
dass es im Prozess der Entstehung dieses Gesetzes gelungen ist, diese Punkte zu verbessern.
({14})
Für die Zustimmung der FDP-Fraktion zum Gleichstellungsgesetz war entscheidend, dass wichtige Bedenken berücksichtigt worden sind und dass sich die rotgrüne Koalition in einer Reihe von Punkten von
Illusionärem verabschiedet hat. Ich will beispielhaft drei
Punkte nennen.
Die FDP möchte, wie ich bereits sagte, dass behinderte
Menschen ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben führen können. In diese Vorstellung passte
das Verbandsklagerecht in seiner ursprünglich geplanten Form nicht hinein.
({15})
Wir möchten - bei allem Respekt vor dem Engagement
der Menschen in den Behindertenverbänden - nicht, dass
Funktionäre darüber entscheiden, was gut oder schlecht
für behinderte Menschen ist. Vielmehr wollen wir erreichen, dass behinderte Menschen in ihren Angelegenheiten
selbst entscheiden können.
({16})
Deswegen war die Reduzierung der in § 13 des Behindertengleichstellungsgesetzes enthaltenen Verbandsklage zu einer subsidiären Feststellungsklage gegenüber der
Prozessstandschaft in § 12 des Behindertengleichstellungsgesetzes ein zentrales Anliegen der FDP. Hier sind
Sie, Herr Beck und meine Damen und Herren von der
Koalition, nach massivem Widerstand auch aus dem Bundesrat letztlich eingeschwenkt. Das ist auch gut so; denn
Gewinner sind letztlich die behinderten Menschen, deren
Wille und Partizipation bei der Durchsetzung ihrer Rechte
jetzt gefragt sind. Nicht neue Bevormundung, sondern
letztendlich die Freiheit des Einzelnen, Rechte zu verfolgen, sind das Ziel der FDP gewesen.
({17})
Die nunmehr gefundene Regelung, dass anerkannte
Verbände in bestimmten Fällen Klage auf Feststellung eines Verstoßes erheben können, wenn es sich um Fälle allgemeiner Bedeutung handelt, findet unsere Zustimmung.
Das ist auch eine Frage der Prozessökonomie; denn Sinn
dieser Form der Verbandsklage ist es, eine Prozessflut
durch Führung eines Musterprozesses zu verhindern. Ich
denke, damit ist insgesamt ein guter Ausgleich der Interessen gefunden worden.
({18})
Die Präklusionsregelung bei der Zielvereinbarung in
§ 5 Abs. 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes, die
namentlich kleine und mittlere Unternehmen vor einer
Fülle von Verhandlungsbegehren schützen soll, war in
Ihrem Referentenentwurf nicht enthalten. Aber auch an
dieser Stelle haben Sie bereits frühzeitig erkannt, dass es
angesichts der großen Zahl der Behindertenverbände zur
Entlastung der Unternehmen einer Regelung bedarf, die
den Anspruch der Verbände auf Verhandlungsführung begrenzt. Die jetzige Regelung ist ausgewogen und mit Augenmaß formuliert.
In Art. 41 des Entwurfs haben Sie, wie es in der Anhörung des Ausschusses dringend angeraten worden ist,
einen Verordnungsvorbehalt der Länder in das Gaststättengesetz aufgenommen, der die kleinen und mittelgroßen Gaststätten vor allzu großen finanziellen Belastungen bei der Herstellung von Barrierefreiheit schützen
soll. Ich bin sehr dafür, Herr Beck, dass der Zugang für
behinderte Menschen bei Neubauten gleich berücksichtigt wird. Aber es wird bei vorhandener Bausubstanz nicht
in jedem Einzelfall mit vertretbarem finanziellen Aufwand möglich sein, Barrierefreiheit herbeizuführen.
({19})
So viel zum Gleichstellungsgesetz.
Darüber hinaus ist bedauerlich, dass sich die Koalition
dem Antrag der FDP, die Informationsangebote der
Bundesregierung vorbildlich barrierefrei zu gestalten,
nicht angeschlossen hat.
({20})
An dieser Stelle hat die Bundesregierung eine große
Chance vertan, den privaten Anbietern von Informationen
zu zeigen, dass es technisch machbar und sinnvoll ist, behinderte Menschen in die Nutzung der Angebote einzubeziehen. Wir meinen, der Staat sollte immer mit gutem
Beispiel vorangehen. Es gibt auch in diesem Hohen Haus
noch Defizite. Die Bundestagsdrucksachen beispielsweise werden im Internet im PDF-Format zum Download
bereitgestellt. Aber das PDF-Format bietet bei den allermeisten in Gebrauch befindlichen Lesegeräten nicht die
Möglichkeit, dass sich behinderte Menschen diese Texte
vorlesen lassen. Eine einfache TXT- oder ASCII-Datei
könnte gelesen werden. Ich rege deswegen an, dass diese
zusätzlich zu den PDF-Formaten ins Netz gestellt werden.
Damit ist wirklich kein Aufwand verbunden. Aber es ist
ein kleiner Mosaikstein, der zur gleichberechtigten Teilhabe im Alltag führt.
({21})
Nun höre ich gelegentlich, die Bundesregierung habe
weite Teile ihres Angebotes ohnehin bereits barrierefrei
gestaltet. Aber selbst wenn das so sein sollte, spricht dies
nicht gegen die Annahme unseres Antrags. Im Gegenteil:
Der Deutsche Bundestag würde damit sein Engagement
für behinderte Menschen eher noch unterstreichen.
({22})
Die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag stimmt
dem Gleichstellungsgesetz zu. Ich denke, das ist ein guter
Tag für die behinderten Menschen und ihre Angehörigen
in unserem Land. Es zeigt, wir machen mit der Umsetzung des Benachteiligungsverbotes in Art. 3 Abs. 3 unserer Verfassung ernst. Ich sage voraus: Dem Gleichstellungsgesetz werden weitere Schritte folgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße auch ganz herzlich diejenigen behinderten Menschen, die heute im
Reichstag sind oder im Fernsehen diese Diskussion verfolgen.
Als wir vor fast acht Jahren hier in diesem Haus das
Grundgesetz änderten, gehörte ich zu denen, die mit den
vielen Menschen, die hier waren, feierten und sagten:
Wir haben einen großen Sieg errungen. Leider zeigt die
Praxis, dass manche den Satz, dass niemand wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden darf, nicht lesen. Manche lesen offenbar, dass niemand beim Benachteiligen
behindert werden darf. Ich wünsche mir, dass das mit
diesem Gesetz nicht wieder so eintritt.
Ich habe die Befürchtung, dass das Gesetz, weil es so
schwach ausgestaltet ist, nicht die Wirkung, die es entfalten soll, entfalten kann. Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen und meine lieben behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger, empfehle ich meiner
Fraktion, sich der Stimme zu enthalten. Wir sind natürlich
in keiner Weise gegen ein Gleichstellungsgesetz. Herr
Kolb, Sie haben es gesagt: Natürlich kämpfen wir seit Jahren mit großem Nachdruck und Engagement dafür. Es gibt
durchaus auch Kolleginnen und Kollegen in unserer Fraktion, die für das Gesetz stimmen möchten. Wenn sie das
tun, ist das in Ordnung, aber es wäre mehr erreichbar. Das
ist mein Problem.
Herr Bundesminister Riester, Sie haben hier besonders
hervorgehoben, dass die Einwände und die Vorschläge
der Behindertenorganisationen in diesem Gesetz
berücksichtigt worden seien. Ich habe etwas anderes erlebt: Ich habe erlebt, dass nach der Anhörung die Einwände und Vorschläge der Behinderer - der Wirtschaftsverbände, der Länder und der Juristenorganisationen berücksichtigt und deren Änderungsvorschläge in das Gesetz eingebaut wurden. Verschlechterungen haben Sie zugelassen, aber die Änderungen zum Besseren, die die Behindertenorganisationen verlangten, zum Beispiel die
Einführung eines Behinderungsbegriffs, der von einem
defektologischen Verständnis weg und hin zur Einbeziehung der sozialen Dimension käme - den gibt es bereits
und der könnte verwendet werden -, haben Sie nicht eingebaut.
Nun haben Sie sich immerhin durchgerungen - aus allen Fraktionen des Bundestages gibt es dafür Zustimmung; ich sage ausdrücklich, dass wir dem gern zustimmen -, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die in den
nächsten zwei Jahren überlegen soll, ob denn der Behinderungsbegriff gut ist oder verändert werden soll. Jeder,
der sich damit beschäftigt, weiß, dass wir bereits einen
besseren Begriff haben als den, den Sie benutzen. Nun
gut, lassen wir die Arbeitsgruppe arbeiten; wir werden
genügend Druck ausüben, dass sie ordentlich arbeitet.
Es kann aber nicht sein - das ist der Geburtsmangel
dieses Gesetzes -, dass ein Gesetz, das Menschen mit Behinderungen mit Menschen ohne Behinderungen gleichstellen soll, nicht vorsieht, erstere dafür zumindest zeitweilig ein bisschen besser zu stellen. Das ist der Sinn von
Gleichstellungsgesetzen.
({0})
Es kann nicht sein, dass genau die Forderungen, die die
betroffenen behinderten Menschen und ihre Organisationen aufstellen, in den Skat gedrückt werden, um das einmal lax zu sagen, und die Forderungen, die von denen aufDr. Heinrich L. Kolb
gestellt werden, die bis jetzt alles verhindert bzw. behindert haben, berücksichtigt werden. Gleichstellung verlangt zumindest eine zeitweilige Besserstellung derjenigen, die benachteiligt sind. Das ist mit diesem Gesetz
nicht in ausreichendem Maße erreicht worden.
Wenn die Länder dieses Gesetz scheitern lassen sollten, dann wäre das unverantwortlich; das will ich ausdrücklich sagen. Aber hier im Bundestag hätte mehr erreicht werden müssen.
Erlauben Sie mir zum Schluss meiner kurzen Ansprache, einer Freude Ausdruck zu verleihen. Heute sind zwei
behinderte Menschen, mit denen ich mich in der Behindertenszene sehr oft streite, aber auch sehr gut
zusammenarbeite, Dr. Andreas Jürgens und Horst Frehe,
in den Bundestag gekommen, die erstmalig hier im Saal,
wenn auch in der letzten Reihe der Regierungsbank, aber
immerhin, an der Debatte teilnehmen können. Sie hatten
an der Ausarbeitung des Gesetzes großen Anteil. Ich freue
mich, dass die Regierung begriffen hat, dass die Einbeziehung der Betroffenen zum Kriterium jeglicher Politik,
jeglicher Gesetzesarbeit werden muss.
({1})
Das sehe ich beim Zivilrecht und auch bei anderen
Gesetzen allerdings leider noch nicht. Welches Gesetz betrifft denn behinderte Menschen nicht? Ob wir über den
öffentlichen Nah- und Fernverkehr, über Finanzen, über
Bauen oder über Familienpolitik reden, immer müssten
auch die Organisationen der behinderten Menschen
selbstverständlich einbezogen werden. Das ist leider noch
nicht der Fall.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie können noch viel lernen, vor allen Dingen, solche Vorhaben
umzusetzen. Ich wünsche Ihnen bei diesem Lernprozess
viel Erfolg. Sie können sicher sein: Ich werde Ihnen, wo
immer ich kann, helfen. Meine Fraktion ist dabei an meiner Seite.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort
Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
Ihnen zu Beginn von einem Erlebnis berichten. Im letzten
Sommer kam ich an einem sehr heißen Tag gemeinsam
mit einem Referenten, der Rollstuhlfahrer ist, von einem
Behindertenkongress. Wir fuhren mit der Bahn. Die
Rampe zum Bahnsteig war schwierig zu bewältigen, aber
akzeptabel. Als der Zug kam, war kein Schaffner zur
Stelle, der in der Lage gewesen wäre, die Rampe auszufahren, die den Niveauunterschied zwischen Bahnsteig
und Bahn auszugleichen hilft. So musste mein Begleiter
sozusagen Anlauf nehmen und in recht spektakulärer
Weise den Abstand zwischen Bahnsteig und Bahn überwinden. Danach standen wir im Fahrradabteil, da dieses
die breiteste Tür hatte. Ich musste erst einmal einige
Fahrräder wegräumen. Der Gang zur Toilette war nicht
möglich. Aber mein Begleiter kannte das schon; er hatte
vorsorglich den ganzen Tag nichts getrunken.
Wir alle kennen solche Erlebnisse. Das ist der Grund
dafür, dass wir verschiedene Gesetze - heute das Gleichstellungsgesetz - endlich auf den Weg gebracht haben.
({0})
Wir haben eben nicht nur davon gesprochen, liebe Frau
Nolte und Herr Kolb, sondern wir haben es getan.
Wir sind 1998 angetreten, um den Reformstau aufzulösen. Das haben wir Schritt für Schritt bewältigt. Die
Behindertenpolitik ist ein gutes Beispiel dafür. In 16 Jahren wurde vieles ausgesessen. Wir haben in dreieinhalb
Jahren viel bewegt.
({1})
Unsere Bilanz der Behindertenpolitik beschreibt
sehr deutlich den Paradigmenwechsel, von dem man in
diesem Fall wirklich sprechen kann. Der zentrale Punkt
ist, dass wir weg von der Fürsorge und hin zur Teilhabe
kommen. Das haben wir mit dem Gesetz zur Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit in Gang gesetzt. 24 000 Menschen
haben aufgrund des Gesetzes und der Förderung inzwischen einen Arbeitsplatz gefunden. Frau Nolte, wir begleiten diesen Prozess vor Ort sehr aufmerksam und fragen auch nach, ob Etikettenschwindel oder wirkliche
Vermittlung stattfindet. Wir haben das Mietrecht reformiert und mit dem Sozialgesetzbuch IX, Rehabilitation
und Teilhabe, behinderten Menschen endlich zu mehr
Rechten verholfen. Heute verabschieden wir das Gesetz
zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze.
Herr Minister Riester hat es betont: 4,5 Prozent der
6,6 Millionen Menschen in Deutschland, die schwerbehindert sind, sind es von Geburt an, die anderen werden es
im Laufe ihres Lebens durch Unfall, Alter oder Krankheit.
Alles, was wir für Menschen mit Behinderungen tun, tun
wir für mobilitätseingeschränkte Menschen, für ältere
Mitbürger und Mitbürgerinnen und im Übrigen auch für
Mütter und Väter mit Kinderwagen. Insofern müssen wir
immer wieder betonen, dass es um die Teilhabe vieler
geht.
Was hier schon erwähnt worden ist, war der gute Stil
der Zusammenarbeit mit den Verbänden und mit den
Ministerien. Mein Dank geht an das Forum behinderter
Juristinnen und Juristen. Auch die Arbeit, die der Bundesbeauftragte für Behinderte hier geleistet hat, muss Erwähnung und auch Dank finden.
({2})
Ich hätte mir ebenfalls an der einen oder anderen Stelle
einige präzisere Formulierungen gewünscht. Wichtig ist
aber, dass wir den bürgerrechtlichen Anspruch auf
Chancengleichheit in Gang gesetzt haben, der 1994 im
Grundgesetz festgeschrieben wurde.
Es ist schon gesagt worden, dass das Kernstück - in
einem umfassenden Sinne - die barrierefrei gestaltete
Umwelt ist. Davon sind Neubauten, Gaststätten, der Nahund Bahnverkehr sowie die Flughäfen betroffen. Das bedeutet aber auch, dass wir eine kontrastreiche Gestaltung
der Lebensumwelt für Sehbehinderte schaffen müssen.
Zielvereinbarungen bezüglich Gebärdendolmetscher und
Gebärdensprache sind schon erwähnt worden. In diesem
Bereich kann Politik vor Ort lebendig umgesetzt werden.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Wir haben vor allem die doppelte Benachteiligung der
3 Millionen schwerbehinderter Frauen im Gesetz endlich
aufgegriffen. Wir fordern und fördern die Gleichstellung
behinderter Frauen.
In diesem Zusammenhang darf ich noch erwähnen,
dass es das Wort der Ministerin für Justiz gibt, dass im
Zuge einer Strafrechtsreform § 179 des Strafgesetzbuches, der den sexuellen Missbrauch von widerstandsunfähigen Personen betrifft, in den Fokus gerückt wird.
Der Staat und die Gesellschaft dürfen auch diesen Missbrauch nicht dulden. Hier wird die Politik mit der Veränderung von Gesetzen ihre Verantwortung wahrnehmen.
({3})
Ich möchte zum Schluss sagen, dass wir unsere bisherige Arbeit als Start begreifen und nicht als Ziel. Die
größten Barrieren sind nach wie vor im Kopf. Unsere Gesetze helfen, sie abzubauen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Niemand darf wegen
seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Als der Verfassungsgeber 1994 Art. 3 des Grundgesetzes um diesen
Satz ergänzt hat, hat er der Gesetzgebung wie der Verwaltung gleichsam einen Auftrag erteilt, dieses Benachteiligungsverbot nunmehr auch tatsächlich durchzusetzen. Ein kleiner, wenn auch nicht unwichtiger Baustein ist
die heutige Verabschiedung eines Gleichstellungsgesetzes.
Gleichstellungsgesetz ist - bei allem Lob, das sich RotGrün heute Vormittag selber spendet ({0})
eigentlich ein sehr hochtrabender Titel; denn er verspricht
mehr - das ist bei Rot-Grün so üblich -, als wirklich drinsteht.
({1})
Es geht nämlich letztlich nur um einen kleinen Aspekt
von Gleichstellung, nämlich um die Verankerung der
Barrierefreiheit, dass sich Menschen mit Behinderung
im Alltag möglichst vollständig diskriminierungsfrei bewegen können und dass sie ungehinderten Zugang zu Informationsmöglichkeiten haben.
Nun ist in den vergangen Jahren bereits vieles geschehen, um öffentliche Gebäude und öffentliche Verkehrsmittel für Behinderte barrierefrei zugänglich zu machen.
Trotzdem muss man leider immer wieder feststellen, dass
das Gegenteil geschieht. Beispielsweise ist im SGB IX,
das wir verabschiedet haben, vorgeschrieben, dass so genannte Servicestellen zur Beratung von Behinderten eingerichtet werden sollen.
({2})
Eine Servicestelle, die für meinen Wahlkreis zuständig ist,
kann man aber nicht mit dem Rollstuhl erreichen.
({3})
- Das habe ich doch gemacht. - Man fragt sich daher, was
diese Servicestelle überhaupt soll.
({4})
- Es ist die Landesversicherungsanstalt, die diese Servicestelle eingerichtet hat.
({5})
Von ganz besonderer Bedeutung ist, dass im Gleichstellungsgesetz festgeschrieben ist, dass öffentliche Verkehrsmittel ohne besondere Erschwernisse - so ist die
Formulierung - für behinderte Menschen zugänglich sein
müssen.
Beim Aus- und Neubau öffentlicher Verkehrsmittel,
der ja gerade nach der Bahnreform einen zusätzlichen
Schwung bekommen hat, spielt der barrierefreie Zugang
eine große Rolle. Zur Forderung des Gleichstellungsgesetzes - das wir heute verabschieden -, Barrierefreiheit
möglichst überall zu gewährleisten, passt es allerdings
zum Beispiel nicht, dass die Bundesregierung mit ihrem
Entwurf zu einer Novelle des Regionalisierungsgesetzes
die Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr zusammenstreichen will.
({6})
Gleichstellung behinderter Menschen erreicht man eben
nicht allein mit den nackten Paragraphen eines Gleichstellungsgesetzes, sondern nur mit einer insgesamt zielgerichteten Politik. Wenn der eine Minister einen Paragraphen in ein Gesetz hineinschreibt und der andere in
seinem praktischen Handeln genau das Gegenteil davon
tut - so wie es bei dieser Regierung üblich ist -,
({7})
wird die Gleichstellung noch lange auf sich warten lassen.
({8})
Die eigentliche Bewährung des Gleichstellungsgesetzes kommt - wie man gerade beim öffentlichen Personennahverkehr sehen kann - erst in der Praxis. Dass die
Herstellung der Gewährleistung echter Barrierefreiheit,
die Stellung von Gebärdendolmetschern in Verwaltungsverfahren, die Verwendung von Wahlschablonen
oder barrierefreie Internetauftritte und -angebote auch
Geld kosten, dürfte jedem klar sein. In diesem Zusammenhang liest sich jene Formulierung in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung besonders schön, wo es zu den Kosten heißt - ich
zitiere -:
Die dem Bund durch die Annahme des Gesetzentwurfs entstehenden Mehrausgaben sollen unter Beachtung der finanzpolitischen Leitlinien der Bundesregierung innerhalb der betroffenen Einzelpläne
erwirtschaftet werden.
({9})
Was das dank Eichel und dem blauen Brief aus Brüssel
bedeutet, kann sich jeder vorstellen.
({10})
Es steht zu vermuten, dass gerade bei dieser Bundesregierung trotz Gesetzes die Gleichstellung noch ziemlich
lange auf sich warten lässt.
({11})
Hauptmangel des Gleichstellungsgesetzes ist, dass es
eben nur ein Teilgesetz ist. Die wesentlich wichtigeren
Aspekte der Gleichstellung behinderter Menschen betreffen nämlich die zivilrechtlichen Regelungen, die Frage
der Geschäftsfähigkeit, die Berücksichtigung der Behinderung bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen und
den Schutz vor Diskriminierung im Miet- und Arbeitsrecht. Dieser gesamte Komplex ist schon im Vorfeld aus
dem Gesetzentwurf ausgegliedert worden und soll nun in
einem so genannten Antidiskriminierungsgesetz geregelt
werden. Wie man hört - wir werden sehen, ob sich das
auch bewahrheitet -, will die Bundesregierung im kommenden Monat endlich einen Regierungsentwurf zu einem Antidiskriminierungsgesetz vorlegen. Ich finde nach
wie vor, es wäre besser gewesen, wenn wir beide Gesetze
zusammen beraten hätten. So hätten wir das Thema der
Gleichstellung behinderter Menschen einheitlich in den
Blick nehmen und regeln können.
({12})
Ein Blick in den bereits bekannten Diskussionsentwurf
für ein Antidiskriminierungsgesetz zeigt, dass vor allem
die geplanten Neuregelungen zur Geschäftsfähigkeit auch
ihre Fallstricke haben. Das betrifft vor allem die Abgrenzung zu den dort nicht definierten „Geschäften des täglichen Lebens“. Die geplante Neuregelung könnte sich
auch schnell als Bumerang für Menschen mit geistiger
Behinderung erweisen, der im Ergebnis bewirkt, dass diejenigen, die bisher ohne Probleme ohne einen gesetzlichen Betreuer ausgekommen sind, plötzlich einen
Betreuer zur Regelung ihrer vermögensrechtlichen Angelegenheiten erhalten. Ebenfalls unklar bleibt, wie es sich
denn mit einem geistig Behinderten verhält, der zum Beispiel in der Mitgliederversammlung der Lebenshilfe mit
stimmt oder der in seinem Sportverein, in dem er Mitglied
ist, einen Vorstand mit wählt oder einen Haushalt mit verabschiedet. Dann könnte es sich schnell zeigen, dass der
Feind des Guten nicht das Böse,
({13})
sondern das gut Gemeinte ist.
Gleichstellungsgesetz, Antidiskriminierungsgesetz,
Paragraphen und Vorschriften sind bekanntlich die eine
Sache. Für die Gleichstellung und Gleichberechtigung behinderter Mitmenschen in unserer Gesellschaft ist etwas
anderes viel wichtiger und bedeutender: Haben sich
Gleichstellung, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung behinderter Menschen im Bewusstsein der Menschen, im täglichen Umgang und im Alltagsleben wirklich
durchgesetzt?
Was dieses Bewusstsein anbelangt, stehen wir in
Deutschland vor entscheidenden Weichenstellungen.
Gestern waren wir Abgeordnete von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung zu einem Parlamentarierabend eingeladen. Topthema war eine Stellungnahme der Lebenshilfe, die uns an
diesem Abend besonders nahe gebracht werden sollte und
aus der ich nun zitieren möchte:
In einem schleichenden Prozess zeichnet sich - gewissermaßen als Kehrseite des medizinischen Fortschritts und neuer gentechnologischer Entwicklungen - eine Abwertung der Stellung behinderter
Menschen ab. Parallel zu neuen wissenschaftlichen
Erkenntnissen und Methoden im Bereich der pränatalen Diagnose, der Präimplantationsdiagnostik, der
Stammzellenforschung usw. werden ethische Leitlinien entwickelt, die im Ergebnis bewirken können,
dass zwischen lebenswerten und lebensunwerten
Formen menschlichen Daseins unterschieden wird.
({14})
Hier sind Entwicklungen zu befürchten, die dem Bild
einer menschlichen Gesellschaft entgegenstehen.
Verfassungen und Gesetze allein können keine grundlegenden Veränderungen in der Einstellung zu unseren
behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern bewirken.
Das Denken und Handeln jedes einzelnen Bürgers müssen sich ändern. Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und
fehlende Sensibilität müssen zurückgedrängt werden.
({15})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem vorgelegten Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes zu. Wir
sollten über dieses Gesetz hinaus dafür werben, dass Offenheit und Rücksichtnahme, Verständnis und Zuwendung für die behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger
Tag für Tag größer werden.
Vielen Dank.
({16})
Peter Weiß ({17})
Ich erteile der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit einer Behinderung zu leben bedeutet für
Frauen in unserer Gesellschaft eine doppelte Benachteiligung. Denn zum einen werden sie aufgrund ihres Frauseins behindert und zum anderen aufgrund der Behinderung. Der Buchtitel „Geschlecht: behindert. Besonderes
Merkmal: Frau“ charakterisiert diese Situation besonders
treffend.
Um Chancengleichheit für behinderte Frauen durchzusetzen, muss deshalb sowohl die Benachteiligung zwischen den Geschlechtern als auch die zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen zum Thema gemacht
werden. In Deutschland leben 4 Millionen behinderte
Mädchen und Frauen. Das heißt, jede zehnte Frau lebt mit
einer körperlichen, seelischen oder psychischen Beeinträchtigung. Ihre Lebensrealitäten sind jedoch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung immer noch unbekannt.
Auch gesetzliche Regelungen legten bislang den
Schwerpunkt zumeist auf die Lebenssituation behinderter
Männer. Statistiken sind auch heute noch überwiegend
nicht geschlechtsspezifisch. Das bedeutet: Frauen kommen dort nicht vor.
Damit ist nun - Gender Mainstreaming sei Dank Schluss. Dieses Prinzip, auf das sich das Bundeskabinett
im Juni 2000 verpflichtet hat, bedeutet, dass die unterschiedliche Wirkung auf Männer und Frauen in jedem Gesetz und bei jeder Maßnahme berücksichtigt werden
muss. Genau das ist hier geschehen.
Frau Nolte, Sie sagen, Gesetze bewirkten nichts.
({0})
Darauf muss ich entgegnen, dass Bewusstseinswandel
durch Gesetze gefördert wird.
({1})
Das Gleichstellungsgesetz verpflichtet die Bundesregierung zu regelmäßigen Berichten über die Maßnahmen, die aufgrund des Gesetzes in Angriff genommen
werden, über die Entwicklung der Zielvereinbarungen zur
Barrierefreiheit und über den Stand der Gleichstellung.
Der Gesetzentwurf schreibt ausdrücklich vor, dass die Berichte eine nach Alter und Geschlecht differenzierte Darstellung und Bewertung leisten müssen. Damit ist endlich
die Voraussetzung geschaffen, spezifische Benachteiligungen behinderter Frauen gezielt angehen zu können.
Aussitzen und Ignoranz haben nun keine Chance mehr.
Das Gleichstellungsgesetz setzt ein klares Signal. An
herausgehobener Stelle, nämlich in Artikel 1 § 2, heißt es
ausdrücklich:
Zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern sind die besonderen Belange
behinderter Frauen zu berücksichtigen und bestehende Benachteiligungen zu beseitigen.
Folgerichtig haben wir auch einen Fördergrundsatz verankert, der es den Trägern öffentlicher Gewalt zur Pflicht
macht, bei allen Maßnahmen nach diesem Gesetzentwurf
die besonderen Belange behinderter Frauen zu berücksichtigen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Er wird das
Bewusstsein in der Gesellschaft verändern.
Das Gleichstellungsgesetz markiert - das haben meine
Kollegin Kühn-Mengel und der Kollege Volker Beck
schon gesagt - einen deutlichen Paradigmenwechsel in
der Behindertenpolitik. Mit diesem Gesetz werden
Emanzipation und Selbstbestimmung gefördert. Auch
darum ist es für Frauen besonders wichtig.
({2})
- Das ist kein Quatsch, Frau Kollegin.
Als nächster Schritt muss danach ein Gesetz zum
Schutz vor Diskriminierung im Arbeitsleben folgen; denn
auch hier liegen gerade für Frauen besondere Benachteiligungen vor. Diesen Bereich werden wir angehen. Die
Bundesregierung hat sich in der EU für eine Richtlinie zur
Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf engagiert,
die behinderte Menschen ausdrücklich einschließt.
Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf haben wir zwar einen guten Rahmen gesetzt; aber
Gesetze werden erst dann lebendig, wenn sie von einem
großen Teil der Gesellschaft gelebt werden. Dabei kommt
den Verbänden behinderter Menschen eine wichtige Rolle
zu. Ich freue mich, dass wir einige Vertreter dieser Verbände heute unter uns haben. Ihre Stellung wird durch das
Recht der Verbandsklage deutlich gestärkt. Das bietet
große Chancen für die Vereinigungen behinderter Frauen,
ihren Forderungen wirkungsvoller Gehör zu verschaffen.
({3})
Deshalb kann ich alle behinderten Menschen, die Verbände und alle engagierten Frauen und Männer nur bitten,
ihre Ziele auch künftig mit Vehemenz an uns heranzutragen, damit dieses Gesetz mit Leben erfüllt wird, damit wir
Barrierefreiheit im Alltag schaffen: nicht nur auf den
Bahnsteigen, sondern auch in den Köpfen der Menschen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es nach
dem vor kurzem in Kraft getretenen SGB IX und dem
heute vorliegenden Gleichstellungsgesetz noch schaffen,
die Gleichstellung von Personen mit Behinderung im
Strafrecht umzusetzen, dann können wir mit Fug und
Recht behaupten: Diese rot-grüne Bundesregierung hat in
dreieinhalb Jahren mehr für Menschen mit Behinderung
getan als die letzte Bundesregierung in 16 Jahren.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile der Kollegin Heidemarie Ehlert, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfes ist unter anderem die Beseitigung und Vermeidung der Benachteiligung behinderter Menschen. Die
gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am
Leben in der Gesellschaft und eine selbstbestimmte Lebensführung setzen aber eben nicht nur Barrierefreiheit
voraus.
({0})
- Aber auch.
Machen wir uns nichts vor: Ohne Geld wird es eben
kaum einem behinderten Menschen möglich sein, am
gesellschaftlichen Leben wirklich gleichberechtigt teilzunehmen. Ein kleiner, aber nicht unwichtiger Schritt wäre
deshalb die längst überfällige Anhebung der Behindertenpauschbeträge nach § 33 b des Einkommensteuergesetzes.
({1})
Es gibt nun einmal einen behinderungsbedingten
Mehraufwand bei der Beschaffung von Kleidung, Hausrat, Pflegemitteln und vor allen Dingen bei der
Gewährleistung der Mobilität. Diese Kosten sind in den
vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Aber der Behindertenpauschbetrag wurde letztmalig 1975 - ich wiederhole: 1975 -, also vor 27 Jahren, geändert. In der Begründung hieß es damals, dass sich die wirtschaftlichen
Verhältnisse wesentlich geändert hätten. Ich frage Sie, ob
sich in den 27 Jahren nicht doch erneut irgendetwas an
den Verhältnissen geändert hat.
({2})
Betroffene haben wiederholt auf die wachsende Diskrepanz zwischen den Pauschbeträgen und den tatsächlichen Veränderungen bei den Aufwendungen hingewiesen. Für bestimmte Gruppen der Bevölkerung wurde ein
entsprechender Anpassungsbedarf akzeptiert. Der Gesetzgeber handelte. Ich will hier nur auf die Kostenpauschale für uns Abgeordnete verweisen.
Meine Damen und Herren, die Anpassung der Pauschbeträge kann nur ein erster Schritt sein.
({3})
Danach müsste eine Überprüfung der Umwandlung der
Pauschbeträge für behinderte Menschen in echte Freibeträge bzw. direkte Zuschüsse
({4})
sowie eine Um- und Neustrukturierung der Nachteilsausgleiche für behinderte Menschen erfolgen.
({5})
Durch die Pauschbeträge werden behinderte Menschen
bzw. Familien mit behinderten Angehörigen, die von den
entsprechenden Steuergrenzen bzw. Freigrenzen nicht erfasst werden, ausgeschlossen. Es wäre Ausdruck eines
guten politischen Willens, behinderten Menschen entsprechende Nachteilsausgleiche einzuräumen. So könnte
übrigens auch die Sozialhilfe von bestimmten Leistungen
entlastet werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie gesagt: Die
Anhebung der Pauschbeträge für behinderte Menschen
löst nicht alle Probleme. Was uns aber recht ist, sollten wir
den behinderten Menschen erst recht zugestehen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile der Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
muss doch etwas anders anfangen, als ich es mir vorgenommen hatte.
Frau Nolte, Sie nehmen einfach nicht wahr - dieses Gefühl habe ich -, dass es schon sehr viele Integrationsunternehmen und -abteilungen gibt, dass weitere entstehen und
bereits 21 977 schwerbehinderte Arbeitslose einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt bekommen haben.
({0})
Wir werden unser politisches Ziel, 50 000 schwerbehinderte Menschen in Arbeit zu bringen, erreichen.
({1})
Herr Kolb, ich gebe Ihnen Recht: Früher wurden Menschen tatsächlich aus Kostengründen in Pflegeheime abgeschoben. Auch für mich war das immer ein schwerwiegender Punkt. In § 40 a BSHG - lesen Sie es bitte nach haben wir geregelt, dass Personen nur mit ihrer Einwilligung ins Pflegeheim gehen können. Nur dann, wenn der
behinderte Mensch sagt, dass er in ein Pflegeheim gehen
will, ist es auch möglich - anders nicht mehr.
({2})
Herr Seifert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
PDS, ich muss es heute einfach sagen: 1989 war für mich
das Jahr, in dem die behinderten Menschen in der ehemaligen DDR befreit wurden.
({3})
Damals lebten sehr viele Menschen in einem Käfig. In den
gut zwölf Jahren haben wir sehr viel erreicht; auch das
muss deutlich gesagt werden. Wir wollen heute den richtigen Weg weitergehen.
({4})
Sie enthalten sich wieder. Sie nehmen sich zurück, wollen
keine Verantwortung tragen und schlagen wieder den goldenen Käfig vor. Wir wollen Arbeitsplätze für die
schwerbehinderten Menschen und wir wollen, dass sie
selbstständig entscheiden können, was und wie viel sie
tun. Ein Pauschbetrag kann die Selbstständigkeit mit Sicherheit fördern. Er kann aber, wenn man nur noch zu
Hause sitzt, auch behindern.
({5})
Was jetzt als Gesetzentwurf der Bundesregierung
vorliegt, ist so nahe an dem, was wir uns einmal vorgestellt haben, dass wir ausgesprochen zufrieden
sind.
Mit dieser Aussage hat Herr Dr. Jürgens vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen unserer Arbeit, der Arbeit von SPD und Grünen, ein beachtliches Zeugnis ausgestellt.
({6})
Er war nicht der einzige Sachverständige in der öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestages, der den vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich gelobt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
gleichzeitig freut es mich, dass Sie, nachdem wir uns auf
einen Entschließungsantrag geeinigt hatten, signalisiert
haben, unseren Entwurf mittragen zu wollen.
({7})
Damit wird sichergestellt, dass erstens die Diskussion
über den Begriff Behinderungen fortgeführt wird und
zweitens die Wirksamkeit des Gleichstellungsgesetzes
zur Schaffung von Barrierefreiheit im Verkehrswesen einer ständigen Überprüfung unterliegt.
Wir können mit Stolz sagen, dass das Gleichstellungsgesetz nicht nur von den Betroffenenverbänden unterstützt, sondern auch von einer breiten parlamentarischen
Mehrheit getragen wird. Die Zustimmung der Behindertenverbände zum vorliegenden Gesetzentwurf zeigt vor
allem eines: Der von uns angekündigte Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik hat tatsächlich stattgefunden.
({8})
Behindertenpolitik wird nicht mehr für unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger gemacht. Sie wird jetzt
von ihnen gemacht und gestaltet. Damit haben wir ein
Kernelement sozialdemokratischer Politik umgesetzt.
Das ist der richtige Weg.
({9})
Durch diesen Paradigmenwechsel wird der Fürsorgestaat in der Behindertenpolitik abgelöst. Das Prinzip
„Teilhabe statt Fürsorge“ garantiert die Chancen auf ein
selbstbestimmtes Leben. Schöne, behindertengerechte
Häuser sind natürlich ein Teil von Lebensqualität; niemand streitet das ab. Wer aber glaubt, dass Behindertenpolitik vor allem eine gut ausgestattete Fürsorge meint,
der irrt und dem muss ein Verharren in alten Denkmustern
bescheinigt werden. Menschen mit Behinderungen dürfen
nicht mehr als schutz- und hilfebedürftige Sorgenkinder
angesehen werden.
Zum selbstbestimmten Leben gehört mehr; dazu
gehört, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehmen
kann und entscheide, was ich will. Dazu gehört auch, dass
ich die Gesetze, die mich bis in mein Privatleben hinein
berühren, mitgestalten kann. Menschen mit Behinderungen - nicht der wohlmeinende, fürsorgliche Staat - wissen selbst am besten, was gut für sie ist. Das ist gemeint,
wenn wir von einem Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik sprechen.
Auch die öffentliche Anhörung zum Entwurf des
Gleichstellungsgesetzes war von diesem Paradigmenwechsel geprägt. Wir haben uns nicht einfach mit einer
breiten Zustimmung zufrieden gegeben. Vielmehr haben
wir die Anregungen und ergänzenden Vorschläge der
Sachverständigen und Verbände aufgegriffen und in unseren Gesetzentwurf einfließen lassen.
({10})
Ich nenne beispielhaft eine Änderung, die unmittelbar
das Resultat der öffentlichen Anhörung ist: Der Sachverständige Herr Krüger von der Aktion Psychisch
Kranke e.V. hob zu Recht hervor, dass psychisch Kranke
eine relativ große Gruppe unter den behinderten Menschen darstellen, die aber allgemein nicht wahrgenommen
wird. Das hat damit zu tun, dass diese Form der Behinderung relativ unbekannt ist. Sie wird gesellschaftlich ignoriert, auch weil sie nicht so sichtbar ist. Herr Krüger schlug
vor, in § 1 des Entwurfs im Zusammenhang mit der Zielsetzung des Gesetzes einen Passus aufzunehmen, der den
besonderen Bedürfnissen verschiedener Gruppen Behinderter Rechnung trägt. Diesen Vorschlag haben wir aufgegriffen und umgesetzt.
Sie wissen, dass ich an dieser Stelle bei jeder Gelegenheit die Gleichberechtigung behinderter Frauen eingefordert habe. Die Verbände behinderter Frauen haben in
der Anhörung daran erinnert, dass sie etwa seit 25 Jahren
immer wieder auf ihre besondere Benachteiligung als
Frau und als Behinderte hingewiesen haben; sie werden
im doppelten Sinne diskriminiert. Die Belange behinderter Frauen sind vom Gesetzgeber sehr lange ignoriert worden. Das hat jetzt ein Ende. Die Frauenförderung ist endlich in § 2 unseres Entwurfes festgeschrieben. Das freut
mich besonders.
({11})
Der genannte Paragraph unseres Gesetzentwurfes
zeigt, dass der Kampf behinderter Frauen für ein gleichberechtigtes Leben endlich auch beim Gesetzgeber registriert worden ist. Damit steht außer Frage: Wir werden
weiterhin alles dafür tun, um Diskriminierungen und Benachteiligungen behinderter Frauen zu beseitigen.
Gerade im Sexualstrafrecht - Frau Kühn-Mengel hat
es vorhin angeführt - ist dringend Aufklärung erforderlich. Auch hier werden wir in Zukunft handeln. Die Beseitigung der Diskriminierung kann aber nur im Rahmen
eines Gesamtkomplexes einer weiteren Überarbeitung
Silvia Schmidt ({12})
des Sexualstrafrechts vorgenommen werden. Die Diskus-
sionen zu einer entsprechenden Änderung des Strafrechts
werden zurzeit geführt.
Mir ist natürlich auch bewusst, dass Frauen und Män-
nern ein Wahlrecht einzuräumen ist, ob sie von einem
Mann oder von einer Frau gepflegt werden. Ich persönlich
werde mich weiterhin für eine Klärung im Pflege-Versi-
cherungsgesetz einsetzen.
Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir heute verab-
schieden, muss natürlich von den Ländern mitgetragen
und umgesetzt werden. Es müssen entsprechende Gleich-
stellungsgesetze auf Länderebene folgen. Meine Landes-
regierung in Sachsen-Anhalt - das sage ich mit Stolz -
Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Wird abgewählt)
hat hier, wie in vielen anderen Politikbereichen auch, bereits Pionierarbeit geleistet.
({13})
Sachsen-Anhalt hat mit seinem neuen Behindertengleichstellungsgesetz bewusst Maßstäbe gesetzt. Hier ist auch
die Kostenfrage kein Hindernis, sondern ein Ansporn,
Frau Nolte.
({14})
In diesem Gleichstellungsgesetz des Landes SachsenAnhalt wird, genauso wie in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf, das Diskriminierungsverbot eindeutig formuliert. Wenn alle anderen Bundesländer dem Beispiel
von Berlin und Sachsen-Anhalt folgen, kommen wir unserem Ziel, endlich die gleichberechtigte Teilhabe aller
Mitbürgerinnen und Mitbürger am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, einen großen Schritt näher.
Danke.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit zwei Fragen
beginnen. Die erste Frage: Ist durch den Gesetzentwurf
die gesellschaftliche Verpflichtung zur Beseitigung der
Benachteiligung und Diskriminierung von behinderten
Menschen deutlicher geworden? Ich frage weiter: Ist hinsichtlich der sozialrechtlichen Ansprüche alles getan worden, damit dem Anspruch der Menschen auf gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Rechnung getragen
wird?
({0})
Ich erinnere daran: Das SGB IX ist kein Leistungsgesetz geworden - das erkennen wir jetzt schon an dem Problem der Frühförderung - und es holt uns ein.
({1})
Wir wollen doch miteinander etwas erreichen und es hat
keinen Sinn, sich schon zu Beginn der Auseinandersetzung gegenseitig Vorwürfe zu machen. Darum bitte ich
herzlich.
({2})
Es geht um die Erschwernisse und die fehlenden Chancen
im Alltag. Wir möchten diese gemeinsam beseitigen. Frau
Nolte weiß sehr wohl, was sie sagt, und ich kann das auch
sehr wohl unterstützen.
Die öffentlich-rechtlichen Vereinbarungen und Vorschriften sollen darauf abgestellt werden. Die Träger der
öffentlichen Gewalt dürfen behinderte Menschen danach
nicht mehr benachteiligen. Dabei liegt eine Benachteiligung bereits vor, wenn behinderte und nicht behinderte
Menschen ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt werden und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unmittelbar und mittelbar nicht
gewährleistet ist.
Ich freue mich darüber, dass die neuen Bundesländer
angesprochen worden sind. Herr Beck - er ist leider nicht
mehr da ({3})
hat sehr kühn behauptet, in den 90er-Jahren sei nichts geschehen. Dazu muss ich ihm sagen: Sie waren leider nicht
dabei.
({4})
Das zeigt auch die Wählerzustimmung in den jungen Bundesländern Ihrer Partei gegenüber.
Ich muss auch Frau Kühn-Mengel ins Stammbuch
schreiben: Wir waren 1994 unterwegs, als in weiten Bereichen in den neuen Bundesländern die Netzwerke für
Behinderte aufgebaut wurden. Dort war nichts. Das kann
ich Ihnen sagen; denn ich war dabei.
({5})
Es ging - auch Herr Haack weiß das - um Berufsförderwerke, Bildungswerke, Werkstätten, Wohnungen, Pflegeeinrichtungen, Wohngemeinschaften und um die integrativen Modelle, wie sie soeben auch Frau Schmidt genannt
hat. Nur wer das nicht wahrhaben will, kann hier sagen,
es sei 16 Jahre nichts getan worden. Ich bedauere solche
Aussagen zutiefst; sie werden auch dem Anspruch der Behinderten nicht gerecht. Das sage ich Ihnen ganz offen.
({6})
Wir werden mit diesem Gesetz sicherlich nicht nur die
räumlichen Bedürfnisse der Rollstuhlfahrer und die
Gestaltung der Lebensumwelt für behinderte Menschen
Silvia Schmidt ({7})
verbessern. Es gilt vielmehr auch, die Kommunikation für
blinde und sehbehinderte Menschen in den elektronischen
Medien zu verbessern, was von Ihrer Initiative, Herr
Kolb, mit erfasst ist.
Ausgehend von diesem Verständnis geht es um die
Zielvereinbarungen mit den Verbänden behinderter Menschen und mit Unternehmen, durch die den Behinderten
ein Mitwirkungsrecht ermöglicht wird.
Für behinderte Menschen soll Barrierefreiheit im gesamten öffentlichen, durch Bundesrecht gestalteten Raum
sichergestellt werden. Das ist - lassen wir uns ehrlich miteinander umgehen - zunächst einmal eine Absicht; denn
wir müssen es draußen umsetzen. An dem Beitrag von
Herrn Weiß, dem man vorwarf, dass er nicht sofort die
Räumlichkeiten bei der Landesversicherungsanstalt ändert, wurde das schon deutlich. So geht es auch nicht.
Wir sollten miteinander behutsam an die Sache herangehen, damit wir nicht Erwartungshorizonte aufbauen,
die wir nicht erfüllen können. Damit würde die Politik
sich wiederum ein schlechtes Zeugnis ausstellen, wie wir
es bei den Statistiken schon erlebt haben.
Wir müssen auch die Folgen der Gesetze beachten und
die Kostenlawine einbeziehen. Ich bitte insbesondere die
Regierenden um große Zurückhaltung. Wenn für den Publikumsverkehr die vielen Bereiche - ob im Personennahverkehr oder in den kommunikativen Zonen in den
Städten - noch nicht geregelt sind, dann deshalb - darauf
weise ich ausdrücklich hin -, weil dies auch mit der Finanznot der Gemeinden zusammenhängt.
({8})
Ich muss das noch einmal deutlich machen - auch Frau
Nolte hat es bereits ausgeführt; da beißt die Maus keinen
Faden ab -: Daran sind nun einmal Ihre Bundesregierung
und der Finanzminister Eichel mit beteiligt.
({9})
Sie wollen doch wohl im September mit einer Leistung
vor die Bürgerschaft treten
({10})
und sich nicht auf die 16 Jahre davor berufen. Sie wollen
doch wohl die vier Jahre Ihrer Regierung vertreten. Es war
Ihr Problem, dass Sie die Gemeinden so im Stich gelassen
haben.
({11})
Nicht umsonst kommt der DGB zu der Feststellung,
dass der Entwurf in seiner jetzigen Fassung allein auf die
Hoffnung baue.
({12})
Es geht um diesen Gesetzentwurf. Sie können das im Ausschussbericht nachlesen.
Der zeitliche Horizont ist bereits von Frau Nolte angesprochen worden. Darauf bezieht sich der DGB.
({13})
- Ich habe soeben auf die großen Aufwendungen hingewiesen. Sie wissen sehr wohl, was in den 90er-Jahren geschehen ist.
({14})
Wir haben die Pflegeversicherung eingeführt und andere
große Maßnahmen auf den Weg gebracht. Dem können
Sie stundenlang hinterherlaufen.
({15})
Ich möchte allerdings nicht so weit gehen wie der Anwaltverein, der festgestellt hat, anstelle der Teilhabe behinderter Menschen würden durch den Gesetzentwurf
bürokratische Strukturen gefördert. Natürlich gibt es in
diesem Bereich Regelungs- und Handlungsbedarf. Dem
stimmen wir zu. Wir wissen sehr wohl - darauf habe ich
schon hingewiesen -, dass die Hauptlast vor Ort zu regeln
ist. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.
Ich möchte nicht auf die Probleme der Kommunen eingehen. Sie spielen gerade in diesen Wochen wieder eine
Rolle. Die Spitzenverbände tagen gerade hier. Herr
Gilges, vielleicht haben Sie heute Nachmittag, wenn die
Nordrhein-Westfalen hier sind, die Gelegenheit, sich zu
informieren. Genau dort, wo die Hauptgeschäftsstelle des
Städtetags zu Hause ist, sind Sie auch zu Hause, nämlich
in Köln. Sie können sich auch dort informieren.
Für hör- und sprachbehinderte Menschen soll die
Wahrnehmung eigener Rechte in den Behörden auch in
der Gebärdensprache ermöglicht und auch in diesem
Sinne Barrierefreiheit geschaffen werden. Ich will aber
deutlich darauf hinweisen, dass wir von dem Verbandsklagerecht nicht zu viel erwarten sollten. Denn wo das
Geld, die Verhältnisse und Möglichkeiten nicht vorhanden sind, lässt sich das auch durch die Klage nicht realisieren. Zum Beispiel ist es bei der Treppe zu einem Restaurant im Keller sehr wahrscheinlich nicht möglich, eine
rollstuhlgerechte Einrichtung zu schaffen.
({16})
- Ich wollte auf das Machbare zu sprechen kommen. Aber man kann dort durch Kontrastführungen und -verstärkungen sehr wohl etwas für Sehbehinderte tun. Das ist
durchaus möglich.
({17})
Der Gesetzentwurf geht in wesentlichen Teilen in die
richtige Richtung. Deshalb stimmen wir ihm auch zu.
Ich möchte allerdings noch eine weitere sehr wichtige
Barriere ansprechen. Das ist die Barriere in den Köpfen
der Menschen.
({18})
Nichts ist möglich, ohne dass wir auch darüber reden. Ich
bedaure zutiefst, dass bei der Einstellung von Behinderten gerade die öffentliche Hand sehr nachlässt.
({19})
Das gilt nicht nur für die Kommunen, sondern auch für die
Länder. Ich stelle erfreut fest, dass sich die Wirtschaft
bemüht, mehr behinderte Menschen einzustellen. Das ist
sehr positiv.
({20})
- Jawohl, die Wirtschaft stellt mehr behinderte Menschen
ein. Ich weiß, das war die Arbeitsverwaltung. Jetzt loben
Sie doch auch einmal die Arbeitsverwaltung. Sie haben ja
Herrn Jagoda in die Wüste geschickt.
({21})
Soeben haben Sie erklärt: 16 000 mehr. Das war aber die
Arbeitsverwaltung, das waren nicht Sie. Wir sind hier ja
auch nur Teil der Gesellschaft. Das wollte ich nur noch
einmal feststellen.
Eines bewegt mich, und zwar die Situation an den Bildungseinrichtungen - vom Kindergarten bis zu den Schulen in den verschiedensten Stufen -, die sich mit dem Begriff der Integration noch schwer tun. Hier ist noch
manches an Bildungsarbeit zu leisten. Ich meine, dass es
auch um Bildungsarbeit für die Nichtbehinderten geht.
Denn Nichtbehinderte, die mit einem behinderten Freund
oder einer behinderten Freundin zur Schule gehen, erfahren von dem Schicksal des anderen. Darum geht es mir in
dieser Gesellschaft auch. Wenn von PISA die Rede ist,
geht es um die entscheidende Wertefrage, wie ein Mensch
den anderen mitnimmt und wahrnimmt.
Ich halte es mit einem Satz, den der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker im Jahr der Behinderten gesagt
hat und den wir uns alle einprägen sollten: „Es ist kein
persönliches Verdienst, nicht behindert zu sein.“ Den beschwerlichen Weg mit den Behinderten gemeinsam zu
gehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
ist mindestens so wichtig - das sage ich ganz offen -, wie
alle äußeren Barrieren zu beseitigen.
({22})
Wenn wir das nicht schaffen, dann ist diese Gesellschaft
nicht imstande, sich im täglichen Leben wirklich auf Wertefragen zu besinnen.
Es ist sicherlich manches geschehen; das ist in vielen
Beiträgen deutlich geworden. Deshalb danke ich den vielen Initiativen der Behinderten und den vielen Menschen,
die vor Ort engagiert an dieser Sache arbeiten, auch für
die CDU/CSU-Fraktion sehr herzlich. Ich mache ihnen
Mut und wünsche uns allen, dass wir in dieser wichtigen
Frage, die ein großes gesellschaftliches Anliegen bleibt,
gemeinsam vorankommen. Außer Frage steht: Wer aufhört, daran weiterzuarbeiten, hat schon aufgegeben. Wir
geben nicht auf, wir machen weiter.
Schönen Dank.
({23})
Ich erteile das Wort
Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition, ich halte es für sehr
dreist, dass ausgerechnet Sie uns bei dieser Debatte unsere
Sparpolitik vorwerfen. Was ist denn der Hintergrund für
unsere Sparpolitik?
({0})
Die Sparpolitik von Rot-Grün ist doch darin begründet,
dass Sie uns einen unsäglichen Saustall hinterlassen haben, den wir jetzt aufräumen müssen.
({1})
Glauben Sie denn, dass wir ohne die Schuldenlast, die wir
1998 von Ihnen übernommen haben, solche Anstrengungen unternehmen müssten? Sie haben Politik auf Kosten
der nächsten Generationen betrieben und wollen es immer
noch nicht wahrhaben.
({2})
Noch viel dreister ist es, wenn Sie uns auch noch die
Situation der Kommunen vorwerfen. Als aktive Kommunalpolitikerin weiß ich selbst, wie es in den Kommunen
aussieht.
({3})
Dies aber der Bundesregierung vorzuwerfen ist wirklich
äußerst dreist.
({4})
Sie fordern ein Vorziehen der Steuerreform, obwohl
Sie ganz genau wissen, dass dies den Kollaps der Kommunalfinanzen bewirkte. Zugleich singen Sie hier das
Hohelied der Kommunen. Sie müssen sich einmal einig
werden, was Sie wollen: Wollen Sie sie in den Kollaps
treiben oder wollen Sie mit uns dafür sorgen, dass die
Steuerreform nicht vorgezogen wird?
({5})
- Das wird sich zeigen. - Vielleicht werden Sie sich in der
Union einmal einig, was Sie wollen. Das wissen Sie ja in
vielen Bereichen noch nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns alle darüber einig, dass sich der Blick der Politik auf die Menschen mit Behinderungen ändern muss. Viele haben von
einem Paradigmenwechsel gesprochen und gesagt,
dass wir von der Sichtweise wegkommen müssten, es
handele sich um Versorgungsfälle als Objekte staatlicher
Förderung. Vielmehr müssen wir erkennen, dass die Menschen im Mittelpunkt stehen, und dafür sorgen, dass alle
Menschen, unabhängig davon, ob sie behindert sind oder
nicht, die Gelegenheit erhalten, ihr Leben nach ihren
Möglichkeiten auszurichten.
Aber dann ist auch schon Schluss mit den Gemeinsamkeiten; denn im Gegensatz zu Ihnen, die darüber immer nur reden und das groß propagieren, handeln wir und
setzen wir diesen Anspruch auch tatsächlich um.
({6})
Allein in dieser Legislaturperiode - es werden noch viele
rot-grüne Legislaturperioden kommen - haben wir mit
der Neufassung des SGB IX die Ansprüche von Menschen
mit Behinderungen neu geordnet und die Anspruchsgrundlagen erweitert. Mit der Kampagne „50 000 Jobs für
Schwerbehinderte“ haben wir ein gutes Programm eingeleitet, um Menschen mit Behinderungen in Arbeit zu bringen. Natürlich werden wir genau hinschauen, Frau Nolte,
ob dieses Programm auch greift. Aber allein die Befürchtung, dass dies nicht der Fall sein könnte, darf uns doch
nicht davon abhalten, so etwas zu machen. So kann man
doch keine Politik machen.
({7})
- Es ist nicht immer unbedingt ein Vergnügen, Ihnen zuzuhören. Jedenfalls ist es kein guter Politikstil, ständig
Bedenken vorzutragen und die Hände in den Schoß zu legen. So erreicht man doch nie etwas.
({8})
Mit dem vorliegenden Gesetz zur Gleichbehandlung
behinderter Menschen werden Ziele wie die Herstellung
von Barrierefreiheit, die Gleichstellung von Frauen mit
Behinderung, die Förderung der Kommunikation und die
verbesserte Durchsetzung von Ansprüchen durch anerkannte Behindertenverbände verfolgt. Herr Weiß, wenn
Sie alles, was jetzt gemacht wird, nur als kleinen Fortschritt in der Behindertenpolitik ansehen, dann muss ich
sagen, dass Sie offensichtlich keine Ahnung vom Alltag
eines behinderten Menschen haben; denn ansonsten würden Sie über das jetzt eingeleitete Reformprojekt nicht
einfach so großzügig hinweggehen.
({9})
- Ich beschäftige mich wahrscheinlich sehr viel mehr mit
Behindertenpolitik, als Sie denken.
Ich kann aufgrund meines Erfahrungsschatzes sehr gut
ermessen, was barrierefreie Zugänge zu öffentlichen
Einrichtungen für behinderte Menschen bedeuten: Wenn
ich alleine an die Hürden denke, die ich zu bewältigen
habe, wenn ich mit dem Kinderwagen unterwegs bin,
kann ich mir gut vorstellen, dass diese Hürden für jemanden, der mit dem Rollstuhl unterwegs ist, unüberwindbar
sind.
Übrigens, Frau Nolte, der „Kürschner“ ist nicht immer
aktuell: Ich bin inzwischen Mutter eines 16 Monate alten
Sohnes. Ich sage das nur zu Ihrer Information, falls Sie
das noch nicht wissen sollten.
({10})
Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist erneut ein Beweis dafür, dass Rot-Grün nicht redet und dann die Umsetzung der entsprechenden Gesetze verzögert, wie Sie
das in der letzten Legislaturperiode gemacht haben, als
Sie an der Regierung waren. Wir handeln und packen an.
Ich würde mich freuen, wenn die Damen und Herren von
der Union dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen
und sich nicht wie in manchen Ausschüssen der Stimme
enthalten würden.
Jetzt sind die Länder am Zug. Das ist richtig. Aber wir
werden nicht einfach abwarten, wie Sie, Frau Nolte, es
vorhin gefordert haben. Wir werden den Prozess in den
Ländern, die durch entsprechende Verordnungen das
vorliegende Gesetz umsetzen müssen, sehr kritisch begleiten. Wir werden uns auf allen Ebenen dafür einsetzen.
Danke schön.
Kollegin Lambrecht,
gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Kolb?
Eine solche Zwischenfrage ist jetzt nicht mehr angebracht.
Danke.
({0})
Zu spät, Herr Kolb.
Ich erteile das Wort dem Behindertenbeauftragten der
Bundesregierung, Karl-Hermann Haack.
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich mit
meiner eigentlichen Rede beginne, möchte ich ein paar
Bemerkungen machen; denn es werden hier Weihrauchgefäße geschwenkt. Aber Weihrauch riecht nicht unbedingt gut. Mir hat einiges, was gesagt worden ist, nicht gepasst.
({0})
Ich möchte zuerst auf das eingehen, was Frau Nolte gesagt hat. Ich stelle fest: Als wir das SchwerbehindertenChristine Lambrecht
gesetz reformiert haben, um eine Grundlage für das JobAqtiv-Gesetz zu schaffen - dadurch sind bislang 24 000
neue Arbeitsplätze für Schwerbehinderte entstanden -,
haben die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP gegen
dieses Gesetz gestimmt. Das Mehr an Arbeitsplätzen für
schwerbehinderte Menschen geht also auf Rot-Grün
zurück.
({1})
Aber Sie kritisieren in der heutigen Debatte diese Art der
Arbeitsmarktpolitik.
Sie haben des Weiteren die Arbeitsmarktstatistiken
kritisiert. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Methoden zur
Erstellung der Arbeitsmarktstatistiken - ich habe mich
beim Bundesarbeitsminister rückversichert - sind dieselben wie die, die unter der Regierung von Helmut Kohl
16 Jahre angewandt worden sind.
({2})
Die rot-grüne Koalition hat die Methoden zur Erstellung
der Arbeitsmarktstatistik und die Kategorien seit 1998
nicht verändert. Sie haben also die Grundlagen für das
Schummeln gelegt, wenn es welche gibt.
({3})
Ich möchte jetzt auf das eingehen, was Sie, Herr Weiß,
über die gemeinsamen Servicestellen in Ihrem Wahlkreis
gesagt haben. Wenn diese Stellen in Ihrem Wahlkreis
nicht barrierefrei sind, dann stellt sich die Frage: Warum
haben Sie noch keine Dienstaufsichtsbeschwerde beim
Regierungspräsidenten eingereicht? Mein Rat: Kritisieren
Sie nicht uns, machen Sie lieber Ihre Arbeit im Wahlkreis!
({4})
Herr Kollege Schemken, ich finde das, was Sie zur
Frühförderung gesagt haben, dreist. Sie haben behauptet, dass die im SGB IX verankerten Frühförderungsstrukturen, die sich bewährt hätten, kaputtgeschlagen worden seien.
({5})
Wissen Sie, wer das gemacht hat? - Das war Bayern, namentlich Edmund Stoiber und Barbara Stamm. Als am
1. Juli 2001das SGB IX mit einer verbesserten Form der
Frühförderung in Kraft trat, schrieb Frau Stamm sofort einen Brief an die Träger der Frühförderung und teilte mit:
Wir verabschieden uns aus der Finanzierung. Sehen Sie
zu, woher Sie das Geld bekommen. Setzen Sie sich einmal mit den Krankenkassen in Verbindung.
({6})
Es war also Bayern, namentlich Stoiber und Stamm,
die uns die Probleme beschert haben, über die Sie sich
heute beschweren und die bis heute noch nicht gelöst sind.
({7})
Bisher ist lediglich ein Moratorium erreicht worden.
Das Dreisteste ist aber das, was gestern Abend geschehen ist! Frau Stamm saß beim parlamentarischen Abend
mit Vertretern der Lebenshilfe zusammen und beklagte
sich bei der Parlamentarischen Staatssekretärin, Frau
Mascher, über die eben dargestellten Probleme und forderte sie auf, diese zu lösen, also genau die Probleme, die
Frau Stamm, als sie noch Ministerin war und noch nicht
in die Wüste geschickt worden war, selber verursacht hat.
({8})
Das ist, finde ich, schon dreist. Auch das gehört zur Wahrheitsfindung dazu.
({9})
- Nein.
Nun zu Ihnen, Herr Seifert, und zu dem Behinderungsbegriff. Ich kann es nicht mehr hören. Der Behinderungsbegriff der WHO, auf den Sie sich beziehen, findet sich in einem umfangreichen Werk. Sie waren in
meinem Büro und da haben wir darüber geredet. Ich habe
Sie gefragt: Wie soll eigentlich ein Parlament in drei Zeilen in einem Gesetz formulieren, was bei der WHO in einem solchen Werk steht? Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass wir das nicht machen. Dann stellen Sie sich
doch nicht in der Öffentlichkeit hin und sagen, wir hätten
den falschen Behinderungsbegriff! Sogar die WHO ist
nicht in der Lage, einen vernünftigen Behinderungsbegriff zu formulieren.
({10})
Die reden und reden und fertigen Gutachten an. Das alles
findet sich dann in solch dicken Büchern wieder. Ich bin
aber ein Mann der Tat.
Damit komme ich zu Ihnen, Herr Beck.
({11})
- Ja, das muss jetzt gesagt werden. - Die Arbeitsgruppe
- Sie haben da geholfen - war fleißig, war nicht zögerlich,
hat wirklich gearbeitet.
({12})
Ich will hier vor der Öffentlichkeit sagen, was „Neuordnung der Lebensperspektive von Menschen mit Behinderungen“ bedeutet. Es bedeutet, sich mit vielen auseinanKarl-Hermann Haack
der zu setzen, um zu erreichen, dass man sich in acht sozialen Sicherungssystemen auf einen Behinderungsbegriff, auf Verfahren und alles Mögliche verständigt. Hinzu
kommt die Koordinierung von 14 Ministerien. Wir haben durchgezählt: Es sind tatsächlich 14 Ministerien. Es
gilt also, 14 Ministerien zu koordinieren, an einen Tisch
zu bekommen und sich darüber zu verständigen, wie man
es macht. Hinzu kommt des Weiteren eine heterogene
Verbandslandschaft, in der jeder Verband seine blaue
Blume gießt. Es gilt, auch mit den Verbänden stundenlang
zu reden und am Schluss zu sagen: Wir bedenken das, wir
machen das.
({13})
Wie haben wir all die Schwierigkeiten gelöst? - Wir
haben sie durch Fleiß und durch viel Aktivität gelöst.
({14})
Wir haben uns klar gemacht, dass wir dieses Ziel nur erreichen, indem wir - Herr Beck, Frau Kühn-Mengel und
Frau Schmidt haben es schon gesagt - die Beteiligten als
Experten in eigener Sache einbeziehen. Wir hätten es
nicht geschafft, wenn wir dieses produktive Verhältnis zu
der heterogenen Verbandslandschaft nicht hinbekommen
hätten; da sitzen stellvertretend Herr Frehe und Herr
Dr. Jürgens vom „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“.
({15})
Man mag über den Begriff des modernen Regierens
unseres Herrn Bundeskanzlers viel lächeln oder spotten,
aber wir haben bei dieser Reform vorgeführt, wie so etwas
geht. Wir haben das „Forum behinderter Juristinnen und
Juristen“ eingeladen, als Experten in eigener Sache für
uns einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, und den haben wir
zur Grundlage gemacht. Wir haben dann im Jahr 2000
in Düsseldorf einen Gleichstellungskongress veranstaltet
und haben die Wirtschaft sowie die Verbände dazu befragt. Wir haben auf diesem Gleichstellungskongress gelernt, dass Argumente nicht Zumutungen sind, sondern
dass man sich mit ihnen auseinander setzen muss. Wir haben also einen Lernprozess organisiert, und das Ergebnis
ist der Perspektivwechsel für Menschen mit Behinderungen im Alltag. Das ist ein Stück modernen Regierens, auf
das wir als rot-grüne Koalition stolz sein können.
({16})
In Zukunft kommt noch zweierlei auf uns zu. Erstens
müssen wir die 16 Bundesländer um etwas bitten. Herr
Clement hat in der „Frankfurter Rundschau“ eine Reform
des Föderalismus angemahnt. Da kann ich an die Adresse
meines geliebten Ministerpräsidenten Clement nur sagen:
({17})
Damit hat er eine schöne Aufgabe. Die 16 Bundesländer
können jetzt beweisen, ob sie ihre Landesbauordnungen
vereinheitlichen können. In der Bundesrepublik gibt es
Hotelketten, die sagen: Wir würden gern für Behinderte
investieren. Aber wenn wir uns die Landesbauordnungen
ansehen, dann kommen wir zu dem Schluss: Wir klappen
das Buch zu. Wir sehen nicht ein, dass die Bauordnungen
in Bayern, in Nordrhein-Westfalen, in Sachsen-Anhalt, in
Thüringen und in den anderen Ländern unterschiedlich
sind.
Die Vielfalt muss also durch Einheitlichkeit ersetzt
werden. Es kann nicht sein, dass es mit einem Bundesgleichstellungsgesetz und 16 Landesgleichstellungsgesetzen, die folgen werden, praktisch 17 unterschiedliche Lebenswelten für Menschen mit Behinderungen gibt. Das
wäre so, als wenn man das Pferd von hinten aufzäumt.
({18})
Daher appelliere ich an alle: Erstens. Wir müssen dafür
werben, dass man sich im föderativen System auf eine
einheitliche Definition des Begriffs Behinderung verständigt. Man sollte unsere Definition des Begriffs übernehmen, weil sie gut ist.
Zweitens. Man sollte unsere Definition des Begriffs
Barrierefreiheit übernehmen.
Drittens. Das Instrument der Zielvereinbarung - Stichwort „lernende Organisationen“ - sollte übernommen
werden, um vor Ort mit dem Thema Behinderung besser
umgehen zu können.
Viertens. Das Instrument der Verbandsklage sollte, so
wie wir es konzipiert haben, übernommen werden.
({19})
Perspektivisch bedeutet das, auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene eine Zielperspektive für die
Jahre 2002 bis 2006 zu erarbeiten. Im Rahmen meiner
Tätigkeit als Beauftragter für die Belange der Behinderten werde ich bis zum Ende dieser Legislaturperiode die
Grundlagen dafür schaffen. Wenn ich danach noch im
Amt bin, werde ich dieses Vorhaben energisch weiterverfolgen.
Herzlichen Dank.
({20})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung und den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und
zur Änderung anderer Gesetze auf den Drucksachen 14/8043 und 14/7420. Der Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8331, die genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze in
der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegen zwei ÄndeKarl-Hermann Haack
rungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/8381? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/8382? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS-Fraktion
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
({0})
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/8331 empfiehlt der Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung, eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8380. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf der Drucksache 14/8331 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit
dem Titel „Informationsangebot der Bundesregierung
barrierefrei gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf
Drucksache 14/5985 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 c: Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8313 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr
den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 3 auf:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Seehofer, Peter Rauen, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Bündnis fürArbeit gescheitert - Reformen endlich umsetzen
- Drucksache 14/8041 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlJosef Laumann, Matthias Wissmann, Brigitte
Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Politik für mehr Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus
- Drucksache 14/8363 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Bundestagswahlkampf 1998
und auch noch im Jahre 1999 haben die Bundesregierung
und die Fraktionen von Rot-Grün das Bündnis für Arbeit
wie eine Monstranz vor sich her getragen und den Eindruck erweckt, als könne man mit diesen Sonntagnachmittagsrunden einiger alter Herren in Deutschland die
Probleme auf unserem Arbeitsmarkt lösen.
({0})
Nach mehr als drei Jahren Gehampel im Bündnis für
Arbeit ist die traurige Realität in Deutschland: Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sinkt. Die Zahl der Konkurse steigt. Die
Jugendarbeitslosigkeit ist höher als vor drei Jahren.
({1})
Angesichts dieser Situation muss man doch einfach
festhalten, dass wir in Deutschland kein Bündnis für Arbeit haben, dass dieses Bündnis für den Arbeitsmarkt
nichts, aber auch gar nichts bewegt hat.
({2})
Fest steht, dass die Teilnehmer des Bündnisses zurzeit
über die Tarifpolitik tief zerstritten sind und dass von
Präsident Wolfgang Thierse
diesem Bündnis auch keine Impulse mehr zu erwarten
sind.
({3})
Wir haben die traurige Situation, dass wir 4,3 Millionen in der Statistik aufgeführte Arbeitslose haben,
({4})
dass zu diesen 4,3 Millionen laut Sachverständigenrat, lieber Kollege Andres, noch einmal 1,7 Millionen hinzuzuzählen sind, die in Deutschland in geförderter Arbeit sind.
({5})
Diese Zahl von 1,7 Millionen ist keine CDU-Zahl, sondern eine Zahl des Sachverständigenrates.
({6})
Meine Damen und Herren, es wird ja noch schlimmer.
Uns liegen die Statistiken zur wirtschaftlichen Entwicklung im vierten Quartal 2001 vor. Zum ersten Mal seit
1997 hat auch die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland
abgenommen. Wir haben auf der ganzen Linie eine fatale
Situation auf dem Arbeitsmarkt.
({7})
Jetzt sage ich Ihnen, dass Sie in der letzten Woche vor
allem versucht haben, einen Propagandatrick anzuwenden. Zwar ist die Art und Weise, wie bei den Arbeitsämtern Statistiken erstellt worden sind, nicht zu akzeptieren.
Aber es ist der Eindruck erweckt worden, als sei die Frage
der Vermittlung für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich. Ich glaube, wir könnten die modernste und intensivste Arbeitsvermittlung dieser Erde haben,
dennoch hätten wir eindeutig das Problem, dass in diesem
Land 5 bis 6 Millionen Arbeitsplätze fehlen.
({8})
Ich glaube, Sie müssen mit uns gemeinsam einmal darüber nachdenken, welche Struktur wir mittlerweile bei
der Arbeitslosigkeit haben. Mir bereitet es schon große
Sorgen, wenn mittlerweile 63 Prozent - also knapp zwei
Drittel - aller Arbeitslosen in Deutschland Arbeiterinnen
und Arbeiter sind - auch wenn ihre Bedeutung auf dem
Arbeitsmarkt abnimmt. Das hat objektiv damit zu tun
- das ist kein Problem allein der jetzigen Regierung, sondern hängt mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den
modernen Industrie- und Wissensgesellschaften zusammen -, dass die Arbeit in der Produktion für Menschen,
die in die neue EDV-Welt vielleicht nicht so gut hineinpassen, ohne Ende wegbricht.
({9})
Eines wird für mich jetzt, zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung, immer deutlicher: All diejenigen, die uns
in Seminaren immer eingeredet haben - manche mögen es
wirklich so gesehen haben -, dass Deutschland sich zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft entwickele,
sollen bitte einmal in die neuen Länder gehen. Da sieht
man, was für eine katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt entsteht, wenn es keine industriellen und handwerklichen Fertigungsstrukturen mehr gibt.
({10})
Deswegen ist es, wie ich glaube, ganz wichtig, dass die
Politik in Deutschland alles dafür tut, dass industrielle
Fertigungsstrukturen in unserem Land bestehen bleiben. Das hängt wiederum stark von der Gestaltung der
Rahmenbedingungen und der Abgabenhöhe in unserem
Land ab.
Dass es am Standort Deutschland kaum noch Eisengießereien gibt, liegt nicht alleine am Lohnniveau, sondern
auch daran, dass es für solche Industrien in Deutschland
viele Auflagen gibt, die man östlich unserer Grenzen nicht
kennt. Wenn wir solche Schwerindustriebereiche behalten
wollen, weil wir die dort angebotenen Arbeitsplätze für
einen Teil unserer Bevölkerung - das ist jetzt nur ein
Beispiel - unbedingt brauchen, sollten wir uns überlegen,
ob es gut ist, immer weitere Auflagen zu machen, oder ob
wir nicht eher vorsichtiger vorgehen sollten. Industrielle
Arbeitsplätze geben nämlich Menschen, die eine normale
Ausbildung haben, oft - jedenfalls im Gegensatz zu vielen Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich - die Möglichkeit, Existenz sichernde Einkommen zu erzielen.
So glaube ich, dass die Politik in Deutschland auch
dafür sorgen muss, dass ein Mensch, der acht Stunden am
Tag arbeitet, ein existenzsicherndes Einkommen erzielt.
({11})
Leider müssen wir feststellen, dass in einigen Gebieten in
den neuen Ländern, zum Beispiel im Erzgebirge, diese
Löhne zum Teil nicht mehr gezahlt werden. Dort ist der
Tarifvertrag das eine und die Realität etwas anderes.
Wenn Menschen für 3 bis 4 Euro zum Beispiel als Näherinnen arbeiten, kann hier nicht mehr von einem existenzsichernden Lohn gesprochen werden.
({12})
Deshalb ist es wichtig, dass wir im Bundestag ganz
schnell entscheiden. Wir müssen durch linear ansteigende
Sozialversicherungsbeiträge die Bezieher niedriger Einkommen bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlasten.
Wenn nämlich einer nur 1 Euro über der Grenze von
325 Euro verdient und dann sofort auf alles 20 Prozent
Abzüge hinnehmen muss, trägt dies zu einer überproportionalen Belastung gerade derjenigen bei, die zurzeit in
Bereichen arbeiten, in denen niedrige Einkommen gezahlt
werden. Deshalb fordere ich die Regierung auf, dass sie
hierbei mitmacht, indem sie unserem Antrag folgt, die
Sozialversicherungsbeiträge im Niedriglohnbereich degressiv zu gestalten.
({13})
Wir sollten nicht erst die Bundestagswahlen ins Land gehen lassen. Unabhängig davon, wer gewinnt - es müssen
erst einmal Koalitionsverhandlungen geführt werden. Das
heißt, dass sich an der Gesetzgebung vor Januar nächsten
Jahres nichts mehr ändern wird. So viel Zeit haben wir in
der Frage, wie ich finde, nicht.
Immer wieder wird vom DGB - aus dessen Sicht, wie
ich finde, auch zu Recht - die hohe Zahl der Überstunden
angeprangert. Die BDA hat zwar gerade eine Statistik veröffentlicht, wonach die Anzahl der Überstunden in
Deutschland sehr niedrig sei und im letzten Jahr im Schnitt
pro sozialversicherungspflichtigem Arbeitnehmer nur noch
gut 50 Überstunden angefallen seien. Dieser absolute Tiefstand hat sicherlich etwas mit der schlechten Konjunktur zu
tun, aber auch mit Tarifverträgen, die, wie früher, bezüglich
der Arbeitszeit sehr viel beweglicher gestaltet sind. Dennoch wäre es schön, wenn die Überstunden noch mehr abnähmen und dafür mehr Leute eingestellt würden. Wer aber
Überstunden reduzieren will, muss die Zeitarbeit als ein Instrument, damit Betriebe auch Spitzen bewältigen können,
von Reglementierungen, die es hierfür zurzeit noch gibt,
ein Stück weit bzw., wie ich meine, ganz befreien.
({14})
Das wäre ein ganz konkreter Beitrag; mithilfe dieses Instruments könnten in den Unternehmen zusätzliche
Arbeitsplätze entstehen und die Entwicklung hin zu mehr
Überstunden würde eingedämmt.
Noch ein Wort zur Bundesanstalt für Arbeit. Wahr ist:
Die Bundesregierung ist ihrer Fachaufsicht im Bereich der
Statistik nicht hinreichend nachgekommen, sonst hätte das
Ganze nicht passieren können. Wahr ist ebenso, dass Vorstand und Selbstverwaltung nicht funktioniert haben; im anderen Fall hätte es ebenfalls nicht passieren können. Deswegen haben wir heute einen Antrag eingebracht, in dem
wir eine klare Strukturierung der Bundesanstalt in Nürnberg
fordern, bei der die Verantwortlichen, aber auch die Kontrollgremien klar festgelegt werden. Die Idee, einen Verwaltungsrat zu bilden, ist richtig. Aber haben Sie den Mut
und machen Sie diesen neuen Verwaltungsrat nicht wieder
von einer Drittelparität abhängig, wie das heute der Fall ist.
({15})
Ich glaube, dass die in der Selbstverwaltung Tätigen
selber schuld sind, sie haben nämlich die Selbstverwaltung zum Ehrenfriedhof von Sozialfunktionären gemacht.
Deswegen ist sie vor die Wand gefahren.
({16})
Ich möchte Sie bitten, Fachleute in den Verwaltungsrat
zu berufen. Natürlich müssen Arbeitgeber und Gewerkschaften beteiligt werden, Fachleute, die von der Politik
unabhängig sind und uns raten können. Das heißt, dass
wir auch an der Spitze der Bundesanstalt für Arbeit keinen Spitzengenossen brauchen.
Schönen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss sagen, Kollege Laumann, die Rede war ein bisschen diffus. Sie
reichte vom Bündnis für Arbeit über die Eisengießereien
bis zur Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit.
({0})
Herzlichen Glückwunsch!
Ich habe mir Ihren Antrag angesehen, Kollege
Laumann. Die Unionsfraktion meint, der Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag Ratschläge bei der Organisation des Bündnisses für Arbeit erteilen zu müssen.
({1})
Durch permanente Wiederholung wird der Inhalt Ihrer
Forderungen aber nicht besser.
Sollten Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von der Union, es vergessen haben, noch einmal zur Erinnerung:
({2})
Im April 1996 scheiterte das von Helmut Kohl moderierte
Bündnis fürArbeit und Standortsicherung nach gerade
einmal drei Monaten. Es scheiterte, weil Sie entgegen anders lautenden Absprachen mit den Gewerkschaften massive Eingriffe in Arbeitnehmerschutzrechte vornehmen
wollten. Die christlich-liberale Regierung hat damit die
ausgestreckte Hand eines Bündnispartners, nämlich der
Gewerkschaften, bewusst ausgeschlagen. Sie haben dadurch den Ausstieg der Gewerkschaften provoziert. Das
Scheitern geht somit ganz eindeutig auf Ihre Kappe.
Ihre Politik hat sich doppelt gerächt; denn die Arbeitslosigkeit stieg unbeirrt weiter an und die Bürgerinnen und
Bürger in diesem Lande quittierten Ihre Politik 1998 bekanntermaßen mit Ihrer Abwahl.
({3})
Ich fasse zusammen: Wir müssen uns von Ihnen wirklich nicht sagen lassen, wie man ein Bündnis für Arbeit zu
organisieren hat.
({4})
Gesellschaftlicher Dialog und sozialer Ausgleich sind
elementare Bestandteile der politischen Gesamtkonzeption der rot-grünen Bundesregierung.
({5})
Gerade strukturelle Reformen, die Bestehendes infrage
stellen, benötigen eine breite Akzeptanz in der Gesellschaft. Wir wollen im Interesse der Menschen in unserem
Land den notwendigen Wandel, um den geänderten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen Rechnung zu tragen, aber wir machen ihn nicht gegen die Menschen, sondern mit ihnen.
Sie haben aus der Lektion der Wähler offensichtlich bis
heute keine Lehren gezogen. Gebetsmühlenartig spulen
Sie auch heute Ihre alten Rezepte der einseitigen Einschränkung der Arbeitnehmerschutzrechte ab. Das hat Ihnen bei der letzten Wahl nichts genützt und ich glaube
nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger Ihnen das am
22. September 2002 honorieren werden.
Wir haben nach Übernahme der Regierungsverantwortung ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit initiiert, das auf einen fairen Ausgleich
von Geben und Nehmen aller Beteiligten ausgerichtet ist
und niemanden einseitig übervorteilt. Nur indem wir alle
gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren, kann es gelingen,
die Herkulesaufgabe der Bekämpfung der noch immer
viel zu hohen Arbeitslosigkeit erfolgreich zu meistern.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Bündnis der Modernisierer hat sich dabei durchaus als Reformmotor erwiesen und nachweislich gute Ergebnisse
erzielt, die ich an dieser Stelle nicht alle auflisten will.
Sie wissen hoffentlich, dass sie auf der Internetseite
„www.buendnis.de“ nachzulesen sind.
Ich finde, dass sich das Ergebnis sehr wohl sehen lassen kann. Wir werden uns jedenfalls nicht von Ihnen von
unserem eingeschlagenen Weg abbringen lassen und unser Streben nach Verständigung zwischen den Bündnispartnern unbeirrt weiter fortsetzen.
Im Übrigen gilt: 94 Prozent der Bundesbürger teilen
diese positive Einschätzung des Bündnisses für Arbeit
und bewerten es nach einer Forsa-Umfrage mit der Note
gut.
({7})
Wir sind angetreten, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
({8})
Die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung ist deshalb von Kontinuität und Berechenbarkeit in der Mittelausstattung und durch Innovation bei den Maßnahmen
geprägt. Unsere arbeitsmarktpolitische Bilanz kann
sich trotz aller Schwierigkeiten sehen lassen.
({9})
Da können Sie die Zahlen fälschen und sich die Ihnen ins
Konzept passenden Zahlen heraussuchen, wie Sie wollen:
Die Arbeitslosigkeit lag im Durchschnitt des Jahres 2001
- ich rede jetzt über den Jahresdurchschnitt und nicht über
Monatszahlen - um knapp 430 000 niedriger als im Jahre
1998, im letzten Jahre Ihrer Regierung.
({10})
- Über die Zahlen dieses Jahres werden wir uns noch unterhalten. Warten Sie es ab, Herr Kolb! Ich habe Ihnen
schon gestern einiges dazu gesagt.
Angesichts des Vergleiches dieser Zahlen möchte ich
Sie daran erinnern, dass unter Norbert Blüm die Arbeitslosenstatistik 1998 massiv geschönt wurde.
({11})
366 000 Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollten das Bild in der Öffentlichkeit verbessern. Das nenne
ich Aktionismus und Verschwendung öffentlicher Gelder.
Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist in dieser Legislaturperiode um etwa 650 000 und
die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt um 1 160 000 gestiegen.
({12})
Im Jahr 2001, also in einem Jahr mit nur geringem Wachstum - über das Jahr 2002 unterhalten wir uns zu einem
späteren Zeitpunkt -, stieg die Zahl der Erwerbstätigen im
Jahresdurchschnitt immerhin um 70 000 Personen. In den
letzten vier Jahren unter Ihrer Verantwortung stieg die
Zahl der Erwerbstätigen lediglich um knapp 320 000, also
nur um knapp ein Viertel im Vergleich zu dieser Legislaturperiode. Auch die Mär, dass dieser Unterschied in
der Bilanz lediglich auf die statistischen Erfassung der
325-Euro-Jobs zurückzuführen ist, wird durch ständiges
Wiederholen nicht richtiger.
Das Statistische Bundesamt hat die Zahlen rückwirkend bis zum Jahre 1995 korrigiert. Das entspricht dem
üblichen Verfahren. Hören Sie gut zu, damit Sie nicht
ständig Falsches wiederholen: Die Zahl ist rückwirkend
bis 1995 korrigiert worden. Das heißt, die Zahlen hinsichtlich der Erwerbstätigen sind für uns real. Sie ergeben
sich aus Hochrechnungen, auch rückwirkend bis zu Ihrer
Regierungszeit. Das ist das übliche Verfahren des Statistischen Bundesamtes.
({13})
Ich fasse zusammen: Wir müssen uns von Ihnen wirklich
nicht sagen lassen, wie man Arbeitslosigkeit bekämpft.
Zynisch empfinde ich - diesen Vorwurf kann ich Ihnen
nicht ersparen - Ihre Verunglimpfung unseres Sofortprogramms zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit,
JUMP. Sie offenbaren damit, dass Ihnen die Zukunft unseres Landes - sie liegt nun einmal in den Händen unserer Kinder - schnuppe ist. Das Programm ist ein voller Erfolg. - Es ist übrigens ein Ergebnis des Bündnisses für
Arbeit. - Mehr als 400 000 Jugendliche und junge Erwachsene haben bereits daran teilgenommen. Wir werden es - so
ist es beschlossen - bis 2003 unvermindert fortsetzen.
({14})
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rauen?
Nein.
({0})
Ich möchte der Vollständigkeit halber erwähnen, dass
die Arbeitslosigkeit auch in diesem Bereich in den letzten
drei Jahren um 27 800 gesenkt worden ist. Die Ausbildungsbilanz ist in den letzten zwei Jahren erstmals seit
1995 positiv. Dies ist ebenfalls ein Ergebnis des Bündnisses für Arbeit.
({1})
Sie haben demgegenüber keine Rezepte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ihre Vorschläge sind unausgegoren, untereinander nicht abgestimmt und nicht finanzierbar.
({2})
Sie sind es, die Aktionismus verbreiten. Es waren die Spitzen Ihrer Fraktion und Ihr Kanzlerkandidat, die unbezahlbare Versprechen über weitere Steuersenkungen und
Konjunkturprogramme gemacht haben. Ob das die generelle Bezuschussung von Sozialversicherungsbeiträgen
- das haben wir eben noch einmal von Herrn Laumann
gehört - oder das so genannte Dreisäulenmodell ist: Sie
machen mit all diesen Vorschlägen Luftbuchungen.
({3})
Die angegebenen Beschäftigungseffekte ermitteln Sie
nach dem Motto „Pi mal Daumen mal Fensterkreuz“.
({4})
Tatsächlich dürfte es - sollte jemand tatsächlich Ihren
Vorschlägen folgen - eher zu einem Verdrängungsprozess
zulasten bestehender Jobs und zu Einnahmeausfällen in
der Sozialversicherung kommen. Auf die Auseinandersetzung freue ich mich. Ihr Dreisäulenprogramm geht von
einem Zuwachs der Beschäftigung um 800 000 aus. Damit wir uns richtig verstehen: Das werden Sie in den Ausschussdiskussionen ordentlich begründen müssen.
({5})
Wissen Sie, wie die 800 000 zustande gekommen sind?
Durch die Methode „Pi mal Daumen mal Fensterkreuz“.
Auch Ihre ganzen Berechnungen dazu, was das kostet, sind
getrickst und von hinten bis vorn erstunken und erlogen.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, während Sie
lamentieren und die Vergangenheit ignorieren, handeln
wir - verlässlich und entschlossen. Der Schuldenberg des
Bundes ist unter der alten Regierung von rund 180 Milliarden Euro in 1982 auf 770 Milliarden Euro in 1998 gewachsen. Fast jeder vierte Euro muss für Zinszahlungen
ausgegeben werden; dieses Geld fehlt uns für die Finanzierung von Reformen.
({7})
Trotz dieser fast erdrückenden Erblast haben wir viel zur
Stärkung des Standortes Deutschland und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung
getan. Es gibt dabei keinen Königsweg zum Abbau der
Arbeitslosigkeit, aber es gibt eine Summe von intelligenten Ansätzen.
({8})
Das Bündnis für Arbeit, das SGB-III-Vorschaltgesetz, die
Steuerreform, die Senkung der Lohnnebenkosten, die Erhöhung der Ausgaben für Bildung, die Verbesserung der
Rahmenbedingungen für Investitionen in Ost und West,
das Job-Aqtiv-Gesetz und die bundesweite Einführung
des Mainzer Modells ({9})
all diese Initiativen - ich habe nur die wichtigsten genannt sind im Bündnis für Arbeit diskutiert und angeschoben
und vom Bündnis für Arbeit in der parlamentarischen Beratung flankiert worden.
({10})
Ich nenne Ihnen noch ein Argument - von Ihnen kommen ja noch genug Redner an die Reihe -: Die Staatsquote
lag im Jahr 2001 mit 48,4 Prozent so niedrig wie seit 1990
nicht mehr. Noch einmal - ganz langsam für Sie zum Mitschreiben -: Die Staatsquote lag im Jahr 2001
({11})
mit 48,4 Prozent so niedrig wie seit Jahren nicht mehr. Die
Steuerreformmaßnahmen führen allein in diesem Jahr zu
einem Entlastungsvolumen von rund 28 Milliarden Euro
gegenüber 1998.
({12})
Ich könnte Ihnen weitere beeindruckende Einzelheiten
unserer Leistungsbilanz nennen.
({13})
Machen Sie das lieber
nicht; das kostet zu viel Zeit.
Ich will zum Schluss
noch eine Bemerkung machen. Herr Laumann, was die alten Männer und den Friedhof der Selbstverwaltung angeht: Die alten Männer werden sich selber mit Ihnen auseinander setzen.
Ich hätte mir gewünscht, dass das Bündnis für Arbeit,
insbesondere im letzten halben Jahr, zu noch kraftvolleren
und besseren Ergebnissen gekommen wäre. Wenn ich
aber die Bilanz von acht Bündnisrunden ziehe - ich weiß,
wovon ich rede, weil ich daran mitgewirkt habe -, dann
sehe ich: Diese Bilanz ist beeindruckend.
({0})
Das, was Sie machen, ist mauern und schlechtreden. Sie
haben keine vernünftigen Vorschläge. Deswegen werden
wir unsere Politik mit ruhiger Hand, aber entschieden
fortsetzen.
Schönen Dank.
({1})
Herr Staatssekretär,
„erstunken und erlogen“ ist zwar eine Redewendung, aber
keine sehr parlamentarische. Dabei will ich es belassen.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rainer Brüderle
für die FDP-Fraktion.
Rainer Brüderle ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das Bündnis für Arbeit ist Symbol
für den wirtschaftspolitischen Ansatz der grün-roten
Regierung, der auf Korporatismus, Syndikalismus, Kungelrunden und nicht auf Wettbewerb setzt.
({2})
Beides, Ihr Bündnis und Ihre Wirtschaftspolitik, sind gescheitert. Im Wahlkampf wurde das Bündnis noch als
Wunderwaffe durch die Landschaft getragen. Deshalb
wird es natürlich bis zum Ende der Legislaturperiode
durchgeschleppt - nicht aus Überzeugung. Vielmehr soll
es verdecken, dass man keine Lösungskonzepte für die
Beschäftigungskrise in Deutschland hat.
({3})
Grün-Rot spielt dieses Verantwortungspingpong im
Bündnis für Arbeit, um davon abzulenken, dass man in
Wahrheit keinen Weg hat.
({4})
Geben Sie diese erfolglose Umarmungsstrategie auf! Sie
kennen das ja vom Tanzen: Wenn man sich in den Armen
liegt, hat man die Hände nicht frei zum Arbeiten. Des
Kanzlers Wundermittel ist zum Rohrkrepierer geworden.
({5})
Es hat die Verantwortlichkeiten für die Beschäftigungskrise verwischt, anstatt sie zu benennen.
In den Bündnisrunden werden Beschlüsse zulasten
Dritter gefasst. Ein Beispiel ist die Qualifizierung. Sich
gegenseitig Ausbildungsplätze einzureden ist schön, aber
wertlos. Geschaffen werden sie nicht im Bündnis für Arbeit und in Diskussionsrunden, sondern insbesondere in
den kleinen und mittleren Betrieben, im Mittelstand vor
Ort.
({6})
Dem Mittelständler, dem Unternehmer müssen wir für
seine Ausbildungsleistungen Danke sagen, aber nicht den
Funktionären beim Kanzlerstammtisch.
Schauen wir uns einmal kurz die Bündnisgeschichte
an. Da gab es - mancher hier im Saal wird sich noch daran erinnern - die Forderung nach der Rente ab 60 Jahren. Diese wahnwitzige Idee wurde in der Bündnisrunde
geboren. Heute sprechen wir darüber, wie wir Menschen
dazu bewegen können, länger zu arbeiten. Heute sprechen
wir darüber, wie wir es älteren Arbeitslosen ermöglichen,
in das Erwerbsleben zurückzukehren.
({7})
Da wundert es nicht, dass die Kopfgeburt „Rente mit 60“
in den Bündnisgesprächen wieder begraben wurde. Das
ist der Öffentlichkeit als große Leistung dieser Bündnisrunde verkauft worden.
Die Methode ist die: Ich habe eine Schnapsidee, verkünde diese, erkenne wenig später, dass es eine Schnapsidee ist, und lasse mich für die nahe liegende Erkenntnis,
dass es eine Schnapsidee ist, öffentlich feiern.
({8})
Ähnlich ist es bei der grün-roten Steuerpolitik: Erst
nehmen Sie - bildhaft - dem Bauern das Schwein ab;
dann bekommt er von seinem Schwein drei Koteletts
zurück und soll sich auch noch huldvoll dafür bedanken.
Das ist Ihre Methode!
So ist ein System entwickelt worden, das zwar die
Politikverdrossenheit in Deutschland fördert, aber nicht
die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die entscheidenden
arbeitsmarktpolitischen Themen wurden aus der Bündnisrunde systematisch herausgehalten. Die Frage „Wie
gestalte ich Lohnfindungsprozesse so, dass sie den GegeParl. Staatssekretär Gerd Andres
benheiten vor Ort gerecht werden?“ oder die Frage „Wie
flexibilisiere ich den zubetonierten Arbeitsmarkt?“ hat die
Regierung mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften
leider nicht besprochen. Dabei waren die Teilnehmer der
Runde im Kanzleramt genau diejenigen, die für diesen
Fragekomplex zuständig gewesen wären.
({9})
Stattdessen sichert der Funktionärsstammtisch im
Kanzleramt überkommene Strukturen sowie das angestaubte Tarifkartell und verhindert wirkliche Lösungen.
Die Folge dieses Versagens kann man feststellen: Die
IG Metall - und jetzt auch Verdi - fordert 6,5 Prozent
mehr Lohn. Darüber kann man vielleicht mit einem Unternehmen wie Porsche reden, aber nicht mit den Mittelständlern, den Zulieferbetrieben, die zusehen müssen,
dass sie überhaupt über die Runden kommen. Das zeigt,
dass hier irreale Vorstellungen auf den Weg gebracht werden.
({10})
Auch in diesem Monat werden wir - zugegeben, Herr
Andres, nach Ihrer ungeliebten und aktuellen Statistik;
ich hätte auch Herrn Riester gerne angesprochen, aber er
ist leider nicht da - über 4,3 Millionen Arbeitslose haben.
Wenn Sie 20 bis 25 Prozent herausrechnen - dies geschieht wohl erst nach der Bundestagswahl; der Kanzler
hat die Notbremse gezogen -, dann müssten Sie, wenn Sie
ganz ehrlich sind, aber auch diejenigen hinzurechnen, die
in ABM und Fortbildungsstrukturmaßnahmen geparkt
werden. Dann kommen Sie nämlich auf 6 Millionen Arbeitslose. Das ist die Wahrheit in Deutschland!
({11})
Denn diese Menschen haben keine Beschäftigung auf
dem ersten Arbeitsmarkt.
Sie sollten sich überlegen, ob Sie die Statistik ändern,
zumal Sie mit Ihren Statistiktricksereien langsam auffliegen.
({12})
- Schon wieder Zurufe! - Über 1 Million neue Stellen will
Grün-Rot geschaffen haben. Diese Behauptung ist so
kühn wie falsch. Sie sollten wissen, dass die Zahl der Vollzeitbeschäftigten und die Zahl der Selbstständigen praktisch nicht gestiegen sind. Nur bei den Teilzeitbeschäftigten gab es einen Zuwachs. Der beruht zum großen Teil auf
der neuen Meldepflicht im Zusammenhang mit geringfügiger Beschäftigung und der neuen Regelung der 630Mark-Jobs.
({13})
Existierende Stellen werden nun statistikwirksam ausgewiesen. Das als Beschäftigungserfolg zu bewerten ist nun
wirklich dreist.
Es gibt nur einen Faktor, der die Situation klar wiedergibt: das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen. Das
zeigt eindeutig: Unterm Strich werden in Deutschland
nicht mehr Arbeitsplätze registriert und wird nicht mehr
gearbeitet als vor dem Regierungswechsel. Entweder
können Sie die Statistik nicht lesen oder Sie wollen die
Menschen bewusst irreführen. Richtig ist vielmehr, dass
die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland im letzten
Quartal im Jahr 2001 erstmals seit vier Jahren wieder
zurückgegangen ist. Das ist die Wahrheit. Zu behaupten,
Sie hätten 1 Million Arbeitsplätze geschaffen, ist wirklich
eine kaum zu überbietende Dreistigkeit.
({14})
Da Sie die Arbeitsmarktkatastrophe mit Heftpflaster,
Placebos und Herumgerenne nicht verbergen können, setzen Sie auf dirigistische Subventionsmodelle, die auch
schon der Modellregion im Grunde nichts gebracht haben,
anstatt mit unbürokratischen 630-DM-Jobs schnell Stellen zu schaffen. In ganz Rheinland-Pfalz mit seinen
4 Millionen Einwohnern wurden mit diesem Subventionsmodell 800 Arbeitsplätze geschaffen, von denen
ein großer Teil Mitnahmeeffekte sind.
({15})
- Sie sollten wegen Ihrer miserablen Politik schreien; Sie
haben Grund dazu. - Wie das Modell in Rheinland-Pfalz
zeigt, ist dies kein Weg, um die Situation zu verändern,
sondern beweist nur Ihre Hilflosigkeit, in der Sie mit Kosmetika aus dem Schminkkoffer versuchen, zu vertuschen,
dass dies kein richtiger Ansatz ist.
({16})
Das gilt auch für Ihr JUMP-Programm. 1 000 Millionen Euro, also 2 Milliarden DM, geben Sie pro Jahr
dafür aus. Anschließend findet nur jeder fünfte Jugendliche im ersten Arbeitsmarkt eine Stelle. Ein Drittel wird
wieder arbeitslos. JUMP ist damit für die meisten leider
ein Sprung ins Leere. So können die anstehenden Probleme eben nicht gelöst werden.
Ich bin froh, dass der Bundeskanzler vergangene Woche wichtige Vorschläge von uns zur Reform der Bundesanstalt für Arbeit aufgegriffen hat.
({17})
Damit ist man auch gut beraten. Die Forderung nach mehr
Wettbewerb in der Arbeitsvermittlung insbesondere durch
die Einführung von Gutscheinen für Arbeitslose hat bewiesen: Die FDP ist und bleibt der Motor der Modernisierung Deutschlands.
({18})
So froh, wie ich über diese Entwicklung bin, bin ich
wegen der üblichen Methode der grün-roten Regierung,
eine Kommission einzusetzen, skeptisch. Wenn du nicht
mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis. Es drängt
sich der Verdacht auf: Der Kanzler spielt mal wieder auf
Rainer Brüderle
Zeit, um über die Bundestagswahlvorperiode zu kommen.
Dabei ist jetzt das Lösen und nicht das Verschieben von
Problemen angesagt. Beim Thema Selbstverwaltung oder
beim Thema aktive Arbeitsmarktpolitik müssen schnelle
Entscheidungen her. Zeitschinderei ist in dieser Lage
nicht angemessen.
Sehr enttäuscht bin ich darüber, dass der Kanzler und
sein Arbeitsminister wieder zur Tagesordnung übergehen.
Von der Neuorganisation der Arbeitsverwaltung und -vermittlung dürfen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit
keine Wunder erwartet werden. Es gibt noch viel mehr zu
tun. Natürlich brauchen wir möglichst schnell neu justierte Arbeitsanreize, geringere Lohnnebenkosten und ein
liberaleres Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Zeitarbeit
hat als Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, aber auch als Puffer bei Nachfrageschwankungen
eine wichtige Funktion. Deshalb fordern wir, die Überlassung von Arbeitskräften auf 36 Monate zu verlängern und
das Gesetz insgesamt zu entbürokratisieren. Wir brauchen
schnellstens die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe sowie die Begrenzung der Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld auf höchstens 12 Monate.
Was wir definitiv nicht brauchen, sind wirkungslose
Alibiveranstaltungen. Sie garantieren zwar eine Medienresonanz, bringen aber den Arbeitslosen - das sind die Betroffenen, um die es geht - nichts.
({19})
Wir brauchen deshalb keinen Kanzler, der sich um die
Verbandsfunktionäre und die großen Konzerne kümmert,
sondern einen Kanzler, der sich der Interessen der Arbeitslosen und der vielen kleinen und mittleren Betriebe
im Lande annimmt.
({20})
Am 22. September ist der Freiheitstag; dann darf gewählt werden. Das Bündnis für Arbeit ist kläglich gescheitert, genauso wie die Konzertierte Aktion in den
70er-Jahren. Sie sollten aus der Geschichte und der Gegenwart lernen und sich von dieser Quasselrunde verabschieden. All dies ist kein Ersatz dafür, Rahmenbedingungen zu verändern und politisch mutig eine
Kurskorrektur vorzunehmen. Es ist nett, wenn man miteinander redet. Aber das trägt nicht zu einer Problemlösung bei.
Deshalb: Schluss mit der Theaterinszenierung! Schluss
mit dem falschen Ansatz! Nicht Syndikalismus und Zusammenglucken sind die Lösung, sondern ein direktes
Herangehen an die Probleme und ein Verändern der
Grundbedingungen, damit die Arbeitslosen endlich eine
Chance bekommen. Es bringt nichts, vor der Wahl mit der
Tünche durch die Landschaft zu marschieren, um die
Leute zu täuschen.
Danke.
({21})
Ich erteile der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Laumann, Konfuzius hat gesagt: Gehe nicht
durch eine Glastür, wenn sie geschlossen ist.
({0})
Bezogen auf die Arbeitsmarktpolitik möchte ich Ihnen
das auch raten. Ich glaube, Sie haben in den letzten Jahren - aber auch jetzt, beispielsweise durch Ihr Agieren im
Hinblick auf die Reform der Bundesanstalt für Arbeit sehr deutlich gemacht, dass Sie die Glastür zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik für sich zugeschlagen haben. Sie
müssen aufpassen, dass Sie sich daran nicht verletzen.
Sie stellen sich hier hin und formulieren wohlfeile Forderungen. Zum Beispiel fordern Sie das Bündnis für Arbeit - dabei waren Sie es, die das Bündnis für Arbeit in der
Vergangenheit nicht zustande gebracht haben - und sagen
gleichzeitig, dass es nicht gelungen, sondern gescheitert
ist. Das, was Sie nicht wahrnehmen wollen, ignorieren
Sie, zum Beispiel die Tatsache, dass mit dem Sofortprogramm für jugendliche Arbeitslose im Rahmen des
Bündnisses für Arbeit sehr vielen jugendlichen Arbeitslosen, nämlich über 300 000, geholfen worden ist.
Sie nehmen auch nicht wahr, dass das Bündnis für Arbeit gerade für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt - zum Beispiel durch die
veränderten Regelungen bezüglich der Altersteilzeit - einiges in Bewegung gebracht hat. Sie ignorieren das, weil
es Ihnen nicht passt, dass auf diesem Gebiet Erfolge errungen wurden; zum Beispiel konnte durch das Bündnis
für Arbeit auch eine Ausbildungsplatzinitiative erfolgreich auf den Weg gebracht werden.
Sie fordern mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit.
Ich erinnere daran, dass wir im letzten Jahr mit dem VWModell „5 000 mal 5 000“ ein solches Bündnis für Arbeit
auf den Weg gebracht haben. Dies geschah vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik Deutschland gültigen
Gesetze, zum Beispiel auch des Günstigkeitsprinzips, das
Sie angreifen. Dieses Bündnis für Arbeit verkörpert eine
moderne Industriepolitik, in der Qualifizierung, Integration von Arbeitslosen und eine vernünftige Entwicklung
der Löhne miteinander verbunden worden sind. Dies alles
geschah auf der Basis dessen, was heute vorliegt. Es ist
möglich, aber es liegt an den Tarifparteien, ob in den Betrieben Bündnisse für Arbeit geschlossen werden können
oder nicht. Das können wir vonseiten der Politik nicht ex
cathedra vorgeben.
Meine Damen und Herren, wer ein Bündnis für Arbeit
will - das gilt für die Opposition ganz genauso -, muss akzeptieren, dass wir in unserer Gesellschaft an dieser Stelle
ein Konsensverfahren brauchen. Es gibt das Beispiel aus
den Niederlanden. Dort hat es sehr lange gedauert, bis die
Tarifparteien überhaupt bereit waren, über heilige Kühe
zu reden. Das ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland sehr ähnlich. Wir befinden uns in einem Wahljahr.
Ich weiß, dass der Fortschritt beim Bündnis für Arbeit
Rainer Brüderle
- dort stoßen die Tarifparteien in der Diskussion aufeinander - deshalb eher eine Schnecke sein wird.
Das Bündnis für Arbeit, das in die Zukunft gerichtet
ist - das haben Sie nicht erreicht -, wird seine vernünftige
Arbeit dennoch fortsetzen können. Allerdings wird dazu
auch gehören, dass die einzelnen Parteien hin und wieder
über ihren eigenen Schatten springen. Ich wünsche mir,
dass die Arbeitgeber in diesem Jahr bereit sind, über einen
ordentlichen Überstundenabbau zu reden, und dass die
Gewerkschaften bereit sind, im Bündnis für Arbeit über
die Rahmenbedingungen für eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik zu reden.
({1})
Die CDU/CSU fordert - es wurde ein richtiger Katalog
vorgelegt - das Modell 40/40/40. Das bedeutet, dass der
Spitzensteuersatz 40 Prozent betragen soll und dass die
Sozialabgaben sowie die Staatsquote unter 40 Prozent liegen sollen. Ich zähle hier nicht auf - das hat der Staatssekretär schon gemacht -, was Sie uns hinterlassen haben.
Eines wissen Sie aber ganz genau: Wir haben mit der Ökosteuerreform zum Beispiel die Rentenbeiträge gesenkt
und auch die Staatsquote und die Steuersätze - übrigens
auch der Eingangssteuersatz; der interessiert Sie ja nicht
so sehr - bewegen sich nach unten.
({2})
Sie haben diesen Vorschlag, 40/40/40, gemacht. Ich
bitte Sie wirklich, dass Sie trotz des Wahljahres den Mut
fassen, der Bevölkerung zu sagen, dass dies, verbunden
mit der Abschaffung der Ökosteuer, nur realisiert werden kann, wenn die Mehrwertsteuer um mindestens zehn
Prozentpunkte steigt. Das heißt, dass Sie letzten Endes einer Erhöhung der Mehrwertsteuer das Wort reden, aber
nicht den Mut haben, das hier zu sagen. Ich finde, wir sollten an dieser Stelle ehrlich diskutieren.
({3})
Sie fordern die Rücknahme der neuen Regelung zur
Befristung der Beschäftigungsverhältnisse. Ich weiß
nicht, wie weit Ihr Gedächtnis reicht. Wenn wir zu dem
Vorschlag zurückkehren würden, den es früher gab, hätten wir im Moment keine Möglichkeit für befristete
Arbeitsverhältnisse. Ihre Regelung wäre nämlich ausgelaufen.
({4})
Wir haben eine befristete Regelung in eine langfristige,
planbare Regelung überführt.
({5})
Sie fordern die ganze Zeit in vielen einzelnen Punkten
das, was wir mit dem Job-Aqtiv-Gesetz auf den Weg gebracht haben. Ich nenne als Beispiel die Jobrotation. Sie
von der CDU/CSU-Fraktion erklären sich ja geradezu zu
Müttern der Jobrotation, haben aber nichts anderes zu tun
gehabt, als dieses Gesetz abzulehnen.
({6})
- Doch, Herr Laumann, Sie haben es abgelehnt. Rufen Sie
nicht dazwischen, machen Sie einfach die geschlossene
Glastüre auf und treten Sie in einen Wettbewerb um Reformen der Arbeitsmarktpolitik ein.
({7})
Sie haben gerade gestern ein Beispiel gegeben, dass
Sie blockieren wollen. Wir haben heute nach dem Desaster in der Bundesanstalt für Arbeit die Chance zu einem Neuanfang und zu einer neuen Struktur dieser Bundesanstalt. Was haben Sie denn gemacht? Sie wollen geradezu verhindern, dass wir die gesetzlichen Regelungen,
die wir für einen neuen Vorstand brauchen, schnell auf
den Weg bringen können. Sie wollen blockieren. Das haben Sie gestern im Ausschuss deutlich gemacht.
({8})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Laumann?
Ja.
Frau Kollegin
Dückert, Sie haben gerade Ihr Vorhaben bezüglich des
Gesetzgebungsverfahrens zur Reform der Bundesanstalt
für Arbeit angesprochen. Halten Sie es denn wirklich mit
den Rechten des Parlamentes für vereinbar, wenn auf der
einen Seite die Bundesregierung zwei Wochen braucht
- bis Donnerstag nächster Woche -, um den Gesetzentwurf zu formulieren, und auf der anderen Seite der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung am Freitag Mittag
mit einer kurzen Ladungsfrist übers Wochenende zu einer Fachanhörung für Montag, 11 Uhr, einlädt und am
Mittwoch ohne Vorlage votieren soll, damit die Sache
am Donnerstag im Plenum beraten werden kann? Das
heißt: Das Parlament hat weniger Beratungszeit, als die
Regierung zur Formulierung braucht. Glauben Sie wirklich als ehemalige Basisdemokratin, dass sich das mit
den Rechtsgrundsätzen einer Demokratie vereinbaren
lässt?
({0})
Herr Kollege Laumann, ich muss Ihnen sagen, ich fürchte
im Moment um Ihre Gesundheit.
({0})
Ich habe das auch schon gestern im Ausschuss getan.
Ich bin Ihnen trotzdem dankbar, dass Sie heute das vorführen, was Sie gestern schon vorgeführt haben.
Sie wissen ganz genau, dass wir das Verfahren nach
parlamentarischem Recht durchführen werden. Sie wissen aber auch, dass in dieser Republik jeder verstehen
wird, dass ein Verfahren in Bezug auf die Notwendigkeit,
die Bundesanstalt für Arbeit so schnell wie möglich in den
Stand zu setzen, das zu machen, was sie machen muss
- nämlich zu vermitteln, Leute aus der Arbeitslosigkeit
herauszuholen und in Arbeit zu bringen -, nicht aufgehalten werden darf. Wir müssen die Reform schnell verwirklichen, das heißt, wir müssen sehr schnell die rechtlichen
Grundlagen schaffen, damit der neue Vorstand arbeiten
kann. Wir müssen sehr schnell rechtliche Grundlagen
schaffen, um Dritte als Vermittler auf dem Arbeitsmarkt
zuzulassen und dafür Qualitätsstandards zu formulieren.
All das wird von Ihnen blockiert. Ich sage Ihnen aber eines: Wir werden das parlamentarisch ordentlich machen.
Wenn Sie blockieren wollen, werden wir es ohne Sie machen. Das ist überhaupt kein Problem, denn wir haben
zum Glück in diesem Bundestag die Mehrheit
({1})
und können daher die notwendigen Reformen auf den
Weg bringen.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Nein, ich würde gerne fortfahren.
Sie haben nicht nur gestern eine Blockade veranstaltet,
Sie haben auch in den Wochen davor gezeigt, wie rückwärtsgewandt Sie denken.
({0})
Das Problem bei der Bundesanstalt war offenbar, aber Sie
wollten überhaupt nicht einsehen, dass ein Neuanfang bei
der Bundesanstalt mit einer Änderung an der Spitze verbunden sein muss. Es geht nicht nur um das Konzept, sondern auch um einen personellen Neuanfang.
Sie müssen sich entscheiden, was Sie eigentlich wollen. Sie kritisieren die Personalie Florian Gerster, indem
Sie sagen, die Position müsse mit einem Wirtschaftler besetzt werden. Auf der einen Seite wollen Sie die alte
Struktur behalten, auf der anderen Seite kommen Sie hier
mit einzelnen Detailvorschlägen. Im Moment weiß man
nicht ganz genau, was Sie eigentlich wollen. Mit dem Vorschlag, Peter Hartz an die Spitze der Kommisson zu stellen, ist etwas eingeleitet worden, was den Reformprozess
in der Bundesanstalt für Arbeit sehr beschleunigen und
auch substanziell verankern kann.
Wir brauchen tatsächlich ein Konzept mit Kurz-, Mittel- und Langfriststrategien, das ist ganz klar. Sie haben in
Ihren Anträgen Vorschläge gemacht, denen man sich zuwenden kann. Aber zunächst einmal müssen wir bei den
Kurzfriststrategien - das habe ich in der Antwort auf die
Zwischenfrage schon gesagt - den Weg frei machen, damit die neuen Gremien ihre Arbeit aufnehmen können;
sonst können wir hier lange philosophieren. Die Bundesanstalt für Arbeit muss in die Lage versetzt werden, die
Reform ordentlich zu entwickeln und auf den Weg zu
bringen.
Sie schlagen vor, die Größe des Verwaltungsrats zu reduzieren. Das ist ein vernünftiger Vorschlag. Wir wollen
auch die Verantwortung der Sozialpartner in eben diesem
Verwaltungsrat verankern, aber natürlich muss er arbeitsfähig sein. Aber Sie schlagen weiter vor, dass allein dieser Verwaltungsrat die Kontrolle, also das betriebsinterne
und anstaltsinterne Controlling, unter seine Fittiche nehmen soll. Ich weiß nicht, ob das ein guter Vorschlag ist.
Ich denke, dass das Exekutivorgan, nämlich der Vorstand,
auch hier die Verantwortung übernehmen muss. Darüber
müssen wir noch reden.
Eines ist aber klar, meine Damen und Herren: Es wird
das kommen, was wir die ganze Zeit wollen. In der Arbeitsverwaltung wird es eine Reform an Haupt und Gliedern geben. Das ist eine große Chance für die zukünftige
Arbeitsmarktpolitik. Ich glaube aber auch, dass sich diese
Konzepte mit einer verschlankten Struktur, mit einer Entschlackung der Arbeitsverwaltung, mit der Umschichtung
von Personal von der Verwaltung hin zur Arbeitsvermittlung, mit der Dezentralisierung und nicht zuletzt auch mit
dem Aufbau und mit der Unterstützung von dritten Arbeitsvermittlern auseinander setzen müssen. Im Rahmen
einer solchen Strategie sollten wir zunächst einmal den
Prozess „Arbeitsamt 2000“ stoppen. Wir sollten erst genau hinschauen, ob dieser Prozess wirklich auf der Linie
der neuen Struktur der Arbeitsverwaltung liegt, nämlich
auf der Linie einer klaren Aufgabentrennung und Aufgabenteilung zwischen Leistung und Vermittlung.
Meine Damen und Herren, ich denke, dass wir auf einem guten Weg für einen Neuanfang sind. Ich lade Sie
von der Opposition herzlich ein, mit der Meckerei jetzt
einmal Schluss zu machen, die Ärmel mit aufzukrempeln
und in einen Wettbewerb um die besten Ideen für eine
Neustrukturierung der Arbeitsverwaltung einzutreten.
Danke schön.
({1})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Dr. Christa Luft für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Dückert, tatsächlich
sind die Ärmel noch aufzukrempeln, aber das gilt wohl
zuallererst für die Koalition, die jetzt noch die Regierung
stellt.
({0})
Eine ehrliche Bilanz über das Bündnis für Arbeit fällt
meiner Meinung nach außerordentlich trist aus.
({1})
Wenn die Ergebnisse der Forsa-Umfrage, Herr Kollege
Andres, so aussehen, dass das Bündnis mit „gut“ bewertet wird, muss man sich vielleicht auch einmal anschauen,
wem Forsa welche Fragen gestellt hat.
Das Hauptziel des Bündnisses, die Arbeitslosigkeit
signifikant zu senken, ist jedenfalls verfehlt worden. Darum kann man nicht herumreden. Die Arbeitslosenzahlen
steigen von Monat zu Monat wieder und die Zahl der
Erwerbstätigen ist erstmals seit 1997 rückläufig.
Der Osten Deutschlands ist von dieser Misere besonders stark betroffen. Dort erreicht die Arbeitslosigkeit mit
1,3 Millionen in diesem Jahr den höchsten Wert seit der
Wiedervereinigung. Die Arbeitslosenquote liegt mit
18 Prozent höher als im letzten Jahr der Vorgängerregierung. Daher kann in den neuen Ländern auch niemand
mehr die verbalen Verrenkungen von Regierungsmitgliedern ertragen, die ständig sagen, die Lage am Arbeitsmarkt sei zwar nicht gut, aber immerhin noch besser als
1998. Das stimmt für den Osten nicht. Deshalb sollten Sie
solche pauschalen Behauptungen künftig unterlassen.
({2})
Überhaupt hat die spezifische Situation der neuen Bundesländer im Bündnis für Arbeit so gut wie keine Rolle
gespielt. Das ist eine Hauptkritik, die geäußert werden
muss.
Mit der Steuerreform ist die Regierung im Bündnis
für Arbeit den Unternehmen weit entgegengekommen.
Sie ist mit massiven Entlastungen in Vorleistung getreten.
Die erhoffte Wirkung auf Wachstum und Beschäftigung
ist jedoch ausgeblieben.
({3})
Nichtsdestotrotz fordert die Union in ihrem Antrag, den
Spitzensteuersatz auf unter 40 Prozent zu senken, verbunden mit der Hoffnung, dies würde Wachstums- und
Beschäftigungseffekte bringen. Aber die Inlandsnachfrage wird mit der Senkung des Spitzensteuersatzes nicht
stimuliert und private Investitionen werden bekanntlich
nur dann getätigt, wenn die dadurch zu erwartenden Renditen höher sind als der Ertrag von Finanzanlagen.
Die öffentlichen Investitionen - das wissen wir leider
auch - sind in den letzten Jahren auf ein historisches Tief
gesunken. Dabei sieht man, wohin es führt, wenn die
Staatsquote abgesenkt wird, Herr Kollege Brüderle. Das
hat nicht nur positive Wirkungen, sondern hat sich auch
auf den investiven Bereich ausgewirkt, jedenfalls soweit
die öffentliche Hand betroffen ist.
Die Gewerkschaften haben im Bündnis für Arbeit
ebenfalls eine Vorleistung erbracht. Sie haben nämlich
mehrjährige Lohnzurückhaltung geübt und Reallohnverluste hingenommen. Auch das ist von den Unternehmen
nicht mit zusätzlichen Arbeitsplatzangeboten honoriert
worden. Im Gegenteil: Am Überstundenunwesen hat sich
nichts geändert. Ausbildungsplätze sind in ungenügendem Maße angeboten worden und Arbeitszeitverkürzung
ist überhaupt kein Thema mehr.
Das ist mir ein schönes Bündnis, in dem immer nur die
einen Zugeständnisse machen und die anderen sich aus
der Affäre ziehen. Statt auch von den Arbeitgebern substanzielle Eigenbeiträge zur Senkung der Arbeitslosigkeit
zu fordern, fällt der Union nichts weiter ein, als auf
flexiblere Arbeitsmärkte und weitere Einschnitte ins
Sozialsystem zu drängen. Übersehen wird, dass an die
40 Prozent der derzeitigen Beschäftigungsverhältnisse
bereits flexibel sind. Ich nenne nur die Stichworte Teilzeit,
Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse und 630-MarkJobs. Das sind alles keine existenzsichernden Beschäftigungsverhältnisse. Wohin soll die Flexibilität eigentlich
noch führen?
Humankapital ist die wichtigste Ressource der Gesellschaft. Das versichern wir uns täglich gegenseitig.
({4})
Diese Ressource muss man aber schützen und stimulieren. Dem Humankapital darf man nicht ständig mit Einschnitten und Sanktionen drohen.
Das von der Union und auch von der Koalition geforderte Kombilohnmodell, mit dem Arbeitslose in den
Niedriglohnsektor vermittelt werden sollen, wird auch
keine dauerhafte Abhilfe schaffen. Denn Arbeitsplätze für
Geringqualifizierte werden am schnellsten wieder abgebaut. Das Einzige, was entstehen wird, sind Mitnahmeeffekte bei den Arbeitgebern und Druck auf die Tarifpolitik. Das kann ja wohl nicht das Ziel sein.
({5})
Die neue Wunderwaffe soll nun die Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sein, mit anderen Worten: irgendwann die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe.
Man kann Wetten abschließen, dass danach die Neuregelung der Sozialhilfe auf dem Plan stehen wird. Das Bedarfsdeckungsprinzip und damit eine der Grundfesten des
Sozialstaatprinzips wird kippen.
In der Statistik sollen sozusagen die Arbeitslosen nun
auch in zwei Klassen eingeteilt werden. Angeblich gibt es
die Arbeitslosen, die keinen Job suchen und die man in
eine gesonderte Spalte bringen müsste. Jetzt aber sagt der
Arbeitsminister, dass er das nicht mehr vor der Bundestagswahl machen will. Wenn aber die Erkenntnis richtig
und belegbar ist, dass es Arbeitsunwillige gibt, dann verstehe ich nicht, weshalb man dies bis nach der Bundestagswahl verschieben will.
({6})
Es scheint so zu sein, dass man der Aussage selbst nicht
traut, dass Millionen von Menschen angeblich gar keinen
Job suchten. Ich halte das für ein Wahlkampfmanöver.
Mit all den eben genannten Versuchen wird die Massenarbeitslosigkeit nicht wirklich abgebaut. Wo Unternehmen fehlen, wie es in den neuen Bundesländern, aber
auch in strukturschwachen Regionen Westdeutschlands
der Fall ist, bringt auch die beste Vermittlung nichts. Da
hilft selbst die Streichung der Arbeitslosenhilfe nichts.
Dort braucht man eben mehr Unternehmensansiedlungen.
Wo Niedriglöhne als Ausweg gepriesen werden, sinkt
die Inlandsnachfrage, die gerade für kleine und mittlere
Unternehmen von großer Bedeutung ist.
Vordringlich sind aus unserer Sicht die Förderung von
Unternehmensansiedlungen und Existenzgründungen in
strukturschwachen Ost- und Westregionen sowie Investitionen in die kommunale Infrastruktur, um die Bauwirtschaft anzuregen.
({7})
Überfällig ist ein wirksamer Schutz der Handwerksbetriebe vor Insolvenz aufgrund schlechter Zahlungsmoral.
Hier besteht für Rot-Grün noch Handlungsbedarf, denn
das, was bisher zur Bekämpfung schlechter Zahlungsmoral beschlossen worden ist, reicht bei weitem nicht aus.
({8})
Dringlich sind auch die gesetzliche Einführung existenzsichernder Mindestlöhne und die Einschränkung der
Überstunden. Auch müssen endlich Regelungen her, um
arbeitsintensive Handwerksleistungen mit dem niedrigen
Mehrwertsteuersatz zu belasten. Das schafft Nachfrage
nach solchen Leistungen und damit neue Arbeitsplätze.
Für Existenzgründer wäre die Steuerfreistellung in den
ersten drei Jahren hilfreich, und zwar auch dann, wenn sie
bereits stattliche Gewinne einfahren; denn es ist gerade
angesichts der bevorstehenden Neuregelungen zu Basel II
wichtig, dass ihre Eigenkapitalbasis gestärkt wird. Für
kleine Unternehmen mit Jahresumsätzen bis zu 1 Million
Euro sollte die Soll-Steuerabführung erst fällig werden,
wenn die Rechnung bezahlt ist, und nicht schon dann,
wenn sie ausgestellt wird. Das könnte vielen Unternehmen das Überleben sichern.
({9})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
aber auch von der Union und der FDP, es gibt also auch
Alternativen zu dem, was Sie vorschlagen.
({10})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Die CDU/CSU hat ihren Antrag, über den wir heute debattieren, mit den Worten
„Politik für mehr Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus“ überschrieben.
({0})
Der Antrag ist schon in der Überschrift gehässig und
falsch.
({1})
Dennoch sahen wir der Debatte gelassen entgegen, denn
der Antrag zeigt die Konzeptionslosigkeit der größten
Oppositionspartei. Lautstärke allein, Kollege Laumann,
macht noch keine Musik. Sie gefallen sich offensichtlich
in der Rolle einer lautstarken Opposition. Dort sollen Sie
auch bleiben. Ich prophezeie Ihnen: Dort werden Sie auch
bleiben.
({2})
Meine Damen und Herren, das Bündnis für Arbeit war
in der Tat gescheitert, allerdings in der letzten Wahlperiode. Die alte Kohl-Regierung hatte es schon in der ersten
Runde an die Wand gefahren. Das war auch zu erwarten;
denn die damalige Koalition hatte dieses Bündnis für Arbeit nur auf öffentlichen Druck einberufen. Sie hatte an einem gesellschaftlichen Bündnis seinerzeit überhaupt kein
Interesse. Nur wegen der populären Forderung der IGMetall hat sie überhaupt zu dieser Gesprächsrunde eingeladen. So war das Bündnis für Arbeit zustande gekommen. Sie haben es dann ganz schnell abgebrochen, weil
Sie eine Kurswende vollzogen haben. Sie haben die ausgestreckte Hand der Gewerkschaften ausgeschlagen und
Ihre Hand nicht für sinnvolle Veränderungen in der Gesellschaft gereicht. Das ist Ihnen beim Wahlergebnis teuer
zu stehen gekommen.
({3})
Das gesellschaftliche Bündnis für Arbeit ist nach wie
vor populär. Die Menschen in Deutschland wollen ein
Bündnis für Arbeit, Wettbewerbsfähigkeit und Ausbildungsplätze. Sie wollen allerdings ehrliche Gespräche
und Kompromisse und keine einseitige Politik der
Schuldzuweisungen. Sie hingegen fordern damals wie
heute im Grunde eine Unterwerfung der Gewerkschaften
und den einseitigen Abbau von Arbeitnehmerrechten. Sie
wollen das Bündnis für Arbeit missbrauchen. Das ist mit
uns nicht zu machen.
({4})
Wir wollen den Umbau des Sozialstaates. Wir wollen
Reformen, die die Gesellschaft voranbringen, die den Arbeitsmarkt gestalten und die den Sozialstaat zukunftssicher machen.
({5})
Wir wollen keine Tricks. Wir wollen nicht einfach von der
linken in die rechte Tasche umverteilen. Wir wollen vielmehr mithilfe des Bündnisses für Arbeit vernünftige
Reformen auf den Weg bringen. Wir wollen, dass es ein
faires Geben und Nehmen gibt, dass es eine faire Basis für
die Gestaltung der Gesellschaft gibt. Ein gutes Beispiel
dafür ist übrigens das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Beschäftigung. Es stellt einen klaren gesellschaftlichen Fortschritt dar. Der Trend zur Teilzeitarbeit
wird dadurch unterstützt. Gleichzeitig erhalten die Arbeitgeber durch ein unbefristetes Gesetz zur befristeten
Einstellung Rechtssicherheit. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben den Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit bekämpft. Sie wollten verhindern, dass immer mehr Menschen, Frauen und auch fortschrittliche
Männer, teilzeitarbeiten. Sie wollten durch Ihre politischen Aktivitäten den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit
verhindern.
({6})
Das ist entlarvend und an Einseitigkeit nicht zu überbieten.
Das Bündnis für Arbeit hat eine Menge bewegt. Das
Wichtigste war - darauf ist schon hingewiesen worden der Ausbildungskonsens. Im Bereich der Ausbildungsplätze gibt es endlich einen Ausgleich zwischen Angebot
und Nachfrage. In den Zukunftsberufen des IT-Bereichs
ist die Zahl der Ausbildungsplätze dramatisch gestiegen.
Wir haben nicht vergessen, dass Altbundeskanzler Kohl
seine Versprechungen im Hinblick auf die Lehrstellen
nicht eingelöst hat. Alle sind gebrochen worden. Sie haben keine Erfolgsbilanz vorzuweisen! Seien Sie nicht neidisch und erkennen Sie endlich an, dass wir für die jungen
Menschen in diesem Land viel getan haben!
({7})
Durch das Jugendsoforthilfeprogramm JUMP sind
über 400 000 Jugendliche in Maßnahmen gebracht worden. Ich erinnere mich noch, wie Sie auch dieses Projekt
bekämpft und diffamiert haben. Wir haben jungen Menschen eine Chance gegeben. Wir sollten mehr die Gemeinsamkeiten zwischen uns pflegen, als ständig das
Trennende zu suchen. Letzteres hilft den Menschen in
diesem Land überhaupt nicht weiter.
({8})
Das Job-Aqtiv-Gesetz beruht im Kern auch auf dem,
was im Bündnis für Arbeit im Konsens vereinbart worden
ist: Jobrotation; vorbeugende Qualifizierung; Instrumente, mit denen älteren Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten gezielter geholfen werden kann. Die
Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik ist
- das ist etwas vollkommen Neues - im Job-Aqtiv-Gesetz
verankert worden. Damit werden neue Wege zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aufgezeigt.
Mit dem Job-Aqtiv-Gesetz haben wir übrigens auch
die Reform der Arbeitsvermittlung eingeleitet. Bereits
heute haben über 2 Millionen Arbeitslose einen Rechtsanspruch auf Vermittlungshilfen durch private Dienstleister. Auch das haben Sie abgelehnt, obwohl dies eine echte
Innovation ist. Aber dabei bleiben wir nicht stehen. Die
Bundesregierung hat jetzt einen Zweistufenplan vorgeschlagen. Es geht um kunden- und wettbewerbsorientierte
Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt. Wir wollen die
Bundesanstalt für Arbeit nicht zerschlagen. Wir wollen
vielmehr eine vernünftige Kooperation zwischen Arbeitsämtern, privaten Arbeitsvermittlern und Maßnahmeträgern. Wir wollen einen fairen Wettbewerb. Wir wollen
aber auch die Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit
unterstützen, die einen harten Job machen. Sie verdienen
unsere Solidarität gerade in der jetzigen Situation, weil
der überwiegende Teil der Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit sehr engagiert daran mitarbeitet, dass arbeitslose Menschen in Arbeit kommen.
({9})
Wir gehen - darauf ist schon hingewiesen worden - mit
Eile an die gesetzlichen Veränderungen heran. Eile ist
auch geboten; denn die Höhe der Arbeitslosenzahl und die
Vermittlungsdefizite zeigen, dass wir Neuregelungen für
die Bundesanstalt für Arbeit bald verabschieden müssen.
Mit dieser Eile tun sich die Oppositionsparteien, insbesondere die CDU/CSU, leider schwer. Ich möchte deutlich sagen: Wir haben keine Zeit; wir können nicht abwarten. Wir müssen zupacken, damit die Reform der
Arbeitsmarktpolitik auf der Ebene der Bundesanstalt für
Arbeit offensiv und schnell angegangen werden kann.
Natürlich wissen auch wir, dass die beste Reform der
Arbeitsvermittlung fehlende Arbeitsplätze nicht ersetzen
kann. Das hat die SPD auch nie behauptet. Aber es gibt
eine erhebliche Zahl von nicht besetzten Arbeitsstellen,
die durch eine offensivere Vermittlung besetzt werden
könnten. Dadurch könnte ein signifikanter Beitrag zum
Abbau der Arbeitslosigkeit geleistet werden.
({10})
Natürlich kann niemand, auch wir nicht, mit der derzeitigen Arbeitsmarktlage insgesamt zufrieden sein.
Miesmacherei hilft in diesem Zusammenhang aber überhaupt nicht weiter. Die Aussage „Schlusslicht in Europa“
ist einseitig und stark verkürzt. Bei der Arbeitslosenquote liegt Deutschland genau im Mittelfeld. Die EUstandardisierte Erwerbslosenquote ist übrigens nicht
höher, wie die Opposition weismachen will, sondern erheblich niedriger als die national berechnete Quote. Nach
der EU-standardisierten Statistik beträgt die Arbeitslosenquote bei uns im Januar 2002 - das sind die aktuellen Daten - 8,1 Prozent, während die nationale Statistik eine
Quote von 10,4 Prozent ausweist. Über eine Änderung der
Statistik nachzudenken liegt da geradezu auf der Hand.
Allerdings betone ich: Wir wollen einen ehrlichen Vergleich zu früheren Regierungszeiten ermöglichen. Einen
solchen Vergleich brauchen wir wahrlich nicht zu scheuen; immerhin liegt das Wachstum in der Ära Schröder mit
durchschnittlich 1,6 Prozent höher als in den letzten sechs
Jahren der Ära Kohl; damals waren es nur 1,3 Prozent.
Das macht Jahr für Jahr eine Zunahme um 70 000 Arbeitsplätze aus. Das macht deutlich, dass auch unsere wirtschaftspolitischen Aktivitäten zu mehr Arbeitsplätzen geführt haben.
({11})
Nun lassen Sie mich den aus meiner Sicht letzten wichtigen Punkt ansprechen. Sie sagen: Die demographische
Entwicklung hat bisher keine Entlastung gebracht; denn
sie wurde durch eine Zunahme der Frauenerwerbsarbeit
sowie durch Neueintritte aus der stillen Reserve und von
Jugendlichen überkompensiert. - Es ist nicht ein einzelner Faktor, so wie Sie es sagen. Die Zahl derjenigen, die
neu auf den Arbeitsmarkt kommen, ist viel größer als die
Zahl derjenigen, die aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden,
und das wirkt sich negativ auf die Zahl der freien Arbeitsplätze aus. Vor diesem Hintergrund haben wir eine ganz
gute Gesamtbilanz vorgelegt.
Das gilt auch für den Osten. Frau Luft hat da Unrecht.
Im Januar 1998 - lassen Sie mich das noch sagen - gab
es im Osten 1,59 Millionen Arbeitslose. Derzeit sind es
1,49 Millionen - leider zu viele, aber 100 000 mehr als
zur Zeit der Regierung Kohl.
({12})
- Weniger.
({13})
Das ist ein positives Beispiel, auf das man bei dieser Gelegenheit hinweisen darf.
({14})
Das Bündnis für Arbeit hat wichtige Grundlagen gelegt. Wir sollten es fortsetzen.
({15})
Nun erteile ich dem
Kollegen Matthias Wissmann für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen uns
immer wieder fragen, vor welchem Hintergrund wir diese
Debatte führen. Vertraut man den Zahlen des Statistischen
Bundesamts von gestern, dann befindet sich die Bundesrepublik Deutschland mitten in einer Rezession - mit
Trend nach unten. Nach einem Wachstum von minus
0,2 Prozent im dritten Quartal 2001 betrug für die letzten
drei Monate des Jahres 2001 das saisonbereinigte Wachstum minus 0,3 Prozent. Es gibt gegenwärtig keine Erholungstendenzen auf breiter Front, so sehr wir es uns gemeinsam auch wünschen würden.
({0})
Wir müssen uns einmal selbstkritisch fragen - vielleicht sollte das auch der eine oder andere in den rot-grünen Reihen tun -, ob denn das Bündnis für Arbeit beim
Bundeskanzler in den letzten beiden Jahren ein großer Erfolg war.
({1})
Hinter vorgehaltener Hand sagt nahezu jeder: Es war nicht
der erwartete Erfolg. Das letzte Treffen hat mit einem
Nullergebnis geendet: kein Kommuniqué, keine greifbaren Ergebnisse, keine Perspektive. Wir müssen uns in
den nächsten Jahren überlegen, glaube ich, ob wir einfach
so weitermachen können mit Hochglanzveranstaltungen
und medienwirksamen Gipfeltreffen.
Ich sage Ihnen deutlich: Bündnisse für Arbeit vor Ort
in Betrieben haben in den letzten Jahren sehr oft Sinn gemacht und dabei geholfen, Betriebe vor der Insolvenz zu
bewahren.
({2})
Bündnisse für Arbeit in der Form der letzten beiden Jahre
machen dagegen wenig Sinn. Sie führen nicht weiter. Sie
führen nicht zu positiven Ergebnissen.
Nahezu nirgendwo in Europa stagniert die Beschäftigungsentwicklung wie in Deutschland.
({3})
Nur in den südeuropäischen Ländern ist die Arbeitsmarktregulierung noch stärker als bei uns. In vergleichbaren Nachbarstaaten wie Dänemark oder den Niederlanden liegt die Bürokratiedichte nach den Berechnungen der
OECD - nicht nach meinen Berechnungen! - deutlich unter den Werten in Deutschland.
Deswegen unternehmen wir mit unserem Antrag bewusst den Versuch, uns nicht nur auf die Frage zu konzentrieren, was bei der Bundesanstalt für Arbeit jetzt erneuert werden muss - alle Erneuerungen sind notwendig -,
sondern wir stellen uns auch der Frage, wie wir die
Kernthemen, nämlich die Überbürokratisierung unserer
Wirtschaft, die Überregulierung des Arbeitsmarkts, das
Abtöten neuer Entwicklungen und den Mangel an Ermutigungen für Existenzgründer angehen. Diese Punkte verschulden einen erheblichen Teil der Arbeitslosigkeit. Neben der Reform der Bundesanstalt für Arbeit muss an
diesen Stellen gehandelt werden.
({4})
Wir bringen das hier deutlich zum Ausdruck.
Das Thema Statistiken wurde angesprochen. Es ist erfreulich, dass Sie sagen, dass Sie die Manipulation, die
möglicherweise geplant war, im Moment unterlassen
wollen.
({5})
Bereits nach geltendem Recht, nämlich nach § 428 SGB III,
sind rund 250 000 Menschen, die 58 Jahre und älter sind,
aus der Statistik klammheimlich herausgerechnet worden.
({6})
Die Statistik ist schon jetzt nicht wahrhaftig.
({7})
Gegenwärtig werden bereits 1,5 bis 2 Millionen Menschen nicht berücksichtigt, die, statistisch gesehen, nicht
arbeitslos gemeldet sind und trotzdem in erheblichen Nöten sind.
Wenn Sie Änderungen der Statistik vornehmen, dann
sollten es wahrhaftige Änderungen sein. Berücksichtigen
Sie nicht nur diejenigen Menschen, die gar keine Arbeit
mehr suchen, sondern auch diejenigen, die gerne Arbeit
hätten, aber in der Arbeitslosenstatistik nicht erfasst sind!
Sagen Sie die Wahrheit! Manipulieren Sie nicht!
({8})
Was muss sich ändern? Ich nenne vier Elemente:
Erstens. Wir glauben, dass an einigen wichtigen Stellen Regulierungen beseitigt werden müssen. Wer Überstunden abbauen will, der muss zum Beispiel mehr Möglichkeiten für Zeitarbeit schaffen. Die Befreiung der
Zeitarbeit von ihren bisherigen bürokratischen Hemmnissen würde mehr Zeitarbeitsverhältnisse schaffen und damit mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit
bringen. Diesen Menschen - das wissen wir aufgrund
Tausender von Fällen - würde eine Brücke in eine dauerhafte Beschäftigung ermöglicht werden.
({9})
Zweitens. Wir sind der Meinung, dass beschäftigungsfreundliche Regelungen für befristete Arbeitsverhältnisse geschaffen werden müssen, damit wir dafür sorgen
können, dass aus immer mehr befristeten Arbeitsverhältnissen dauerhafte Arbeitsverhältnisse werden können.
Drittens. Wir sind der Meinung, dass eine Reform des
Tarifvertragsrechts, vor allem eine Modernisierung des
Günstigkeitsprinzips, notwendig ist.
({10})
Es ist widersinnig, dass Unternehmen in Krisenzeiten gegen geltendes Recht verstoßen.
({11})
- Nehmen Sie das einmal ganz ruhig zur Kenntnis und
denken Sie darüber nach. Schreien ist meistens ein Ausdruck von inhaltlicher Schwäche!
({12})
Es ist widersinnig - das sage ich noch einmal -, dass
Unternehmen in Krisenzeiten gegen geltendes Recht verstoßen, wenn sie gemeinsam mit der Belegschaft vereinbaren, längere Arbeitszeiten gegen sichere Arbeitsplätze
zu tauschen. Solche betrieblichen Bündnisse bewahren
Unternehmen häufig vor der Pleite. Sie sorgen dafür, dass
Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ich will nicht, dass ein Arbeitgeberverband oder eine Gewerkschaftenzentrale
durch Einwirken von außen eine Einigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Betrieb unmöglich
machen können. Ich will, dass der Betrieb erhalten bleibt
und die Beschäftigung gesichert wird.
({13})
Deswegen brauchen wir entsprechende Änderungen.
Viertens. Wir müssen die privaten Vermittlungen auf
breitester Front stärken. Die Vorstellung, die in manchen
Köpfen herrscht, die Bundesanstalt für Arbeit müsse der
Marktführer bei der Vermittlung sein, ist falsch. Wir brauchen den echten Wettbewerb. Der Arbeitslose fragt nicht
danach, ob ihm das Arbeitsamt oder der private Arbeitsvermittler den Job vermittelt. Uns muss es darauf ankommen, dass die Vermittlung - sei es beim privaten Arbeitsvermittler oder beim Arbeitsamt - besser wird. Deswegen
müssen wir die noch vorhandenen Beschränkungen bei
der privaten Arbeitsvermittlung beseitigen. Es ist dringend notwendig, diesen Weg einzuschlagen.
({14})
Ich komme zum Schluss. Ohne leistungsfähige kleine
und mittlere Betriebe gelingt es uns nicht, Hunderttausende zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. In den letzten
zehn Jahren sind neun von zehn Arbeitsplätzen aus Betrieben mit einem bis hundert Beschäftigten gekommen.
Aber in Wahrheit ist die Belastung des Mittelstands, des
Handwerksbetriebs, des kleinen Selbstständigen mit
Bürokratie übermäßig hoch. Wir brauchen ein Entrümpelungsprogramm für die kleinen und mittleren Betriebe.
Wir brauchen die Beseitigung des Gesetzes zur Scheinselbstständigkeit. Wir brauchen die Beseitigung des
Zwangsteilzeitanspruchs. Wir brauchen eine grundlegende Reform des Niedriglohnsektors mit weniger Bürokratie, damit kleine und mittlere Betriebe atmen und
Arbeitsplätze schaffen können. Setzen Sie hier an; dann
schaffen Sie neue Arbeit.
({15})
Jetzt hat die Kollegin
Andrea Fischer für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon ein bisschen deprimierend, wie ritualisiert wir hier
diskutieren.
({0})
Wir alle haben jeweils die Zahlen an der Hand, die unsere
eigene These erhärten. Damit haben wir nur die alte
Volksweisheit bestätigt, dass man aus jeder Statistik das
machen kann, was man braucht.
Ja, es ist richtig, dass das Bündnis für Arbeit nicht genug geschafft hat. Genauso richtig ist es aber, dass das
Bündnis für Arbeit eine ganze Menge geschafft hat, mehr,
als hier in mancher Hinsicht behauptet wird.
({1})
Wenn es denn möglich ist, dass ein- und dasselbe Ergebnis so unterschiedlich bewertet wird, dann kann man
sagen: Das ist das übliche Ritual zwischen Opposition
und Regierung. Was soll’s?
Da wir hier aber über Arbeitslosigkeit reden und wissen, dass uns das in unserem Land am allermeisten plagt,
lohnt es sich, darüber nachzudenken, warum wir hier eigentlich so ritualisiert debattieren. Ich habe hier eben gesessen und gedacht: Im Prinzip habe ich das in der letzten
Legislaturperiode mit anders verteilten Rollen genauso
erlebt. Das kann es doch nicht sein.
Da ist dann auch die Kritik am Bündnis für Arbeit
wohlfeil, Kollege Laumann. Abgesehen davon hätte ich
gerade von Ihnen nicht erwartet, dass Sie so uncharmant
sind, von einem Bündnis, an dem zum Beispiel ich teilgenommen habe, zu behaupten, es sei ein Bündnis alter
Männer.
({2})
- Genau das hatte ich vom Kollegen Laumann nicht gedacht.
({3})
Natürlich müssen die Verbände daran beteiligt werden,
weil sie legitimiert sind, für größere Gruppen von Beschäftigten zu sprechen. Es ist nicht möglich, stattdessen
Individuen in das Bündnis aufzunehmen, sondern es bedarf einer demokratischen Legitimation.
Andererseits können in einem solchen Bündnis, an
dem Vertreter der Interessenverbände beteiligt sind, nur
gute Dinge gemacht werden, wenn alle Seiten bereit sind,
sich zu bewegen.
({4})
Bevor ich näher auf das Bündnis eingehe, komme ich
noch einmal auf das Ritual zwischen Opposition und Regierung zu sprechen. Wir alle müssen doch zugeben, dass
wir in unserem Land einen Konflikt zwischen der notwendigen Dynamik, die wir brauchen, um die Beschäftigungslosigkeit abzubauen, und unser aller Bedürfnis nach
sozialer Sicherheit haben. Der Kollege Laumann hat diese
Widersprüchlichkeit in seiner heutigen Rede sehr gut
deutlich gemacht, und zwar auch durch die Widersprüche,
die in seinen eigenen Forderungen enthalten waren.
({5})
- Nein, Herr Kollege Thönnes. Das ist ein Problem, das
wir alle haben. Das ist doch der Punkt, auf den ich aufmerksam machen will. Wir haben es anhand der ritualisierten Debatte gemerkt. Ich kann dazu auch eine eigene
Geschichte erzählen.
In der letzten Legislaturperiode waren die versicherungsfremden Leistungen eines der Hauptthemen, wenn
es um Sozialpolitik und auch um den Abbau von Arbeitslosigkeit ging. Davon reden wir nicht mehr; denn wir haben sie inzwischen sachgerecht finanziert. Nur haben wir
dafür die Ökosteuer eingeführt, die Sie immer kritisieren
und im Hinblick auf die Sie uns bis heute noch nicht gesagt haben, was Sie denn machen, wenn Sie sie wieder abschaffen, wie Sie das Ganze dann finanzieren wollen. Der
Konflikt ist doch gerade, dass man das eine nicht bekommen kann, ohne an anderer Stelle jemandem wehzutun.
Was habe ich als Ministerin alles erlebt, als ich um stabile Beiträge in der Krankenversicherung gekämpft habe.
Sie haben gefordert, die Abgaben zu senken. Ich habe mit
allen Mitteln dafür gekämpft, dass die Beiträge stabil bleiben.
({6})
Da haben Sie sich nicht einen Millimeter bewegt und haben alles bekämpft, was mit dazugehörte.
Es ist ein uraltes Problem, dass in diesem Land Bündnisse zulasten Dritter in der Beschäftigungspolitik gemacht werden, was sich insbesondere in der Vorruhestandspolitik ausdrückt, bei der der Sozialstaat eingreift,
um sozialverträglich den Abbau der Beschäftigung in den
Betrieben zu finanzieren. Das wissen wir alle. Trotzdem
stehen wir in diesem Konflikt und können da nicht einfach
heraus, weil wir über keine Alternativen für die Beschäftigten verfügen.
Es lohnt sich doch, sich über diese Widersprüche Rechenschaft zu geben, um endlich aus diesem Ritual ausbrechen zu können. Dann kommt man nämlich zu der Erkenntnis, dass jede Politik nur dann gut sein kann, wenn
alle bereit sind, sich zu bewegen.
An dem Bündnis für Arbeit wurde hier kritisiert, dass
Kartelle aufeinander treffen und das Ergebnis irgendwie
absehbar sei. So war es ja in der letzten Zeit, als es um die
Tarifpolitik ging. Der erste Schritt, da herauszukommen,
wäre zu sagen: Ich möchte von diesem Ritual nichts mehr
hören und will, dass sich endlich etwas bewegt; deshalb
lohnt es sich, zu schauen, ob die legitimen Interessen vertreten sind. Der zweite Schritt ist, zu einem neuen Verständnis von Lobbyismus zu kommen. Unter Lobbyismus
darf dann nicht mehr verstanden werden, die Interessen
der eigenen Klientel ungeschmälert durchzusetzen. Vielmehr muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass auch die
eigene Klientel dem Gemeinwohl verpflichtet ist und man
nicht ihr Interesse durchsetzen darf, egal was es ökonomisch oder auf dem Arbeitsmarkt kostet.
({7})
An diesem Punkt ist jede Regierung auf Akteure im eigenen Land angewiesen, die diese Gemeinwohlperspektive entfalten können und auch einmal über ihren eigenen
Schatten springen können. Das nennt man übrigens Führung. Das soll es auch bei Arbeitgeberverbänden und bei
Gewerkschaften geben.
({8})
Andrea Fischer ({9})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Fischer, dass das wichtigste Thema überhaupt, die Arbeitslosigkeit, immer wieder dieses Haus erreicht, ist so
normal wie notwendig. Gegensätzliche Positionen müssen dann eben immer wieder konfrontativ gegenübergestellt werden, bis wir bei der Bekämpfung der Volksseuche Arbeitslosigkeit weiterkommen.
Es befremdet mich schon sehr, wenn sich der Bundesarbeitsminister beim wichtigsten Thema überhaupt bis zur
Unsichtbarkeit tarnt und jetzt nicht einmal mehr da ist.
Das ist schon sehr befremdlich, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
({0})
- Nein, ich halte es für notwendig, dass der Arbeitsminister, wenn es um Arbeit geht, im Saal ist und sich den
Argumenten stellt.
Tricksen, täuschen, tarnen ({1})
das macht Rot-Grün zurzeit auf diesem Feld. Das soll
({2})
- ich komme sehr gerne zum Kern des Themas - vom desaströsen Befund ablenken. Zum desaströsen Befund
gehört, dass Sie bei der Lösung einer Kernfrage Ihres
Regierungshandelns fundamental versagt haben: Die
Arbeitslosigkeit steigt saisonal bereinigt seit 15 Monaten
({3})
- 16 Monate, danke - in diesem Land immer weiter an.
Das ist ein Skandal.
({4})
Anders, als der Kollege Brandner behauptet, haben wir
mittlerweile in den neuen Bundesländern eine Rekordarbeitslosigkeit. Anders, als der Kollege Brandner behauptet - er hat tatsächlich gewagt, das Wort „Wachstum“
in den Mund zu nehmen -, haben wir als einziges Land in
der Europäischen Union - insoweit will ich die Ausführungen des Kollegen Wissmann noch ergänzen - ein
Minuswachstum, wie man es früher einmal vornehm genannt hat. Bei uns herrscht Rezession, bei den anderen
nicht. Das muss doch etwas mit hausgemachten Bedingungen zu tun haben.
({5})
- Herr Brandner, doch, es ist so.
({6})
Sie müssten eigentlich in der Beschäftigungspolitik einen demographischen Gewinn einfahren, weil jedes
Jahr 200 000 mehr ältere Menschen den Arbeitsmarkt verlassen, als junge Arbeit und Ausbildung nachsuchen.
({7})
Die Arbeitslosigkeit steigt; ein demographischer Beschäftigungsgewinn ist nicht in Sicht. Das muss doch an den
Fehlern dieser Bundesregierung liegen.
({8})
Vernebelt wird mit Seitenthemen und Seitendebatten.
Zwar sind die Vermittlungszahlen ein wichtiges Thema,
aber die Art und Weise, wie mit dem Thema umgegangen
wurde, wann Kanzleramt, BMA und auch Rechnungshof
das Thema angepackt und wie das auf den Veröffentlichungstermin der desaströsen Arbeitslosenzahlen hingeführt hat, geht nicht an. Das hat schon sehr viel mit einer Inszenierung zu tun.
({9})
Diese Inszenierung wollten Sie fortführen, indem Sie
nach dem Motto „Arbeitslose wegdefinieren statt Beschäftigung schaffen“ brutal die Arbeitslosenstatistik manipulieren wollten. Dass Sie das nicht gemacht haben,
liegt an einem einzigen Umstand, den Sie gestern in der
Debatte eingestanden haben: dass die Opposition und die
mediale Öffentlichkeit ganz grell die Scheinwerfer auf
diesen Skandal gerichtet haben. Wäre das nicht der Fall
gewesen, hätten Sie es getan.
({10})
Das hatte Methode; denn wenn keine Arbeitslosenzahl
stimmt, die herangezogen werden könnte, gibt es auch
keine Arbeitslosenzahl, an der Sie sich messen lassen
könnten. Sie wollten damit durchkommen, dass Sie sozusagen die Bewertungsmaßstäbe abschaffen, nachdem Sie
das Ziel, die Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen zu unterschreiten - so anspruchsvoll war das Ziel ja gar nicht -,
nicht erreicht haben und auch keine Chance mehr haben,
es zu erreichen.
Herr Staatssekretär, ich kann das mit den angeblichen
zusätzlichen Erwerbstätigen nicht mehr hören. Herr
Brüderle - ich genieße es, mit meinem Studienkollegen
einmal übereinzustimmen - hat bereits darauf hingewiesen. Es muss eine Gegenprobe gemacht werden. Die Zahl
der zusätzlichen Erwerbstätigen muss mit der Statistik der
Arbeitsstunden abgeglichen werden. Das Arbeitszeitvolumen, die tatsächlich geleistete Arbeitszeit, ist das
Fundament für die Sozialversicherung, nicht die Jobs,
die man plötzlich durch neue statistische Methoden wie
Meldepflicht als Arbeitsplätze in die Statistik überführt.
Ich liefere die Zahl der Arbeitsstunden nach: 1998 wurden in der Bundesrepublik 56,7 Milliarden Arbeitsstunden geleistet, im Jahre 2001 waren es 56,5 Milliarden Arbeitsstunden. Das heißt, im letzten Jahr wurde weniger
gearbeitet als im Jahre 1998. Daran zeigt sich, dass Sie
nicht aussagefähige Zahlen heranziehen, um davon abzulenken, dass Sie in der Beschäftigungspolitik versagt
haben.
({11})
Sie wollten - das war Ihr Petitum - abgewählt werden,
wenn Sie die Arbeitslosigkeit nicht würden senken können. Die Arbeitslosigkeit steigt. Ihnen wird am 22. September geholfen werden.
Danke.
({12})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Luft das Wort.
Ich wollte die Behauptung des
Kollegen Brandner nicht unwidersprochen lassen, der in
seinem Redebeitrag gemeint hat, ich hätte den Osten
Deutschlands betreffend falsche Arbeitslosenzahlen genannt. Ich habe mir soeben noch einmal die Zahlen aus
dem Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland schicken lassen. Es zeigt sich, dass ich nicht Unrecht
hatte. Ich will die Zahlenreihe nicht komplett vorlesen,
nur so viel: 1991 waren es 913 000 Arbeitslose, 1994
schon 1 143 000. 1996 hatten wir 1 169 000 und 1997 bereits 1 364 000, 1998 schließlich 1 375 000. Von 1 500 000
ist nirgendwo in der Statistik etwas zu finden. Ich wollte
Ihren Eindruck korrigieren, auch ich würde meine Statistik selbst erfinden.
Nun darf der Herr
Kollege Brandner darauf antworten. Dann können Sie es
im Ausschuss vertiefen.
Selbstverständlich wird das
Angebot, das im Ausschuss zu vertiefen, gern angenommen. - Frau Luft, ich habe gesagt, dass wir im Januar 1998 - das ist der Vergleichsmonat, mit dessen Zahlen die Zahlen unserer Regierungszeit immer verglichen
werden - in den neuen Ländern 1,59 Millionen Arbeitslose hatten, dass die Arbeitslosenzahl in dem gleichen
Monat drei Jahre später auf 1,49 Millionen gesunken ist
und dass dies ein Minus von 100 000 bedeutet.
Wenn Sie berücksichtigen, dass die Zahl der ABM-Beschäftigten durch die Wahlkampfmaßnahme der Vorgängerregierung sehr hoch war, dann wissen Sie, dass die
Arbeitslosenzahlen - insgesamt gesehen - deutlich gesunken sind, seitdem wir die Regierungsverantwortung
übernommen haben.
({0})
Nun hat der Kollege
Franz Thönnes für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ich selbst trickse und tu, das
dichte ich auch anderen zu. Herr Kollege Weiß, so klang
vorhin Ihre Rede. Sie treffen uns aber an dieser Stelle
nicht.
Wir erklären Ihnen heute noch einmal deutlich, damit
Sie es endlich kapieren: In dieser Legislaturperiode wird
die Statistik nicht geändert. Sie wird in der nächsten
transparenter und klarer werden, damit deutlicher wird,
welche Vermittlungserfolge erzielt werden.
({0})
„Bündnis für Arbeit gescheitert - Reformen endlich
umsetzen“: Das ist der Titel Ihres Antrages vom 23. Januar 2002. Ich habe gedacht, dass dieser Titel eigentlich
aus dem April 1996 stammen müsste. Er hätte nämlich zu
Ihrer Politik gepasst, als Sie damals das Bündnis für
Arbeit gegen den Willen der Gewerkschaften und mit
Unterstützung der Arbeitgeber mutwillig an die Wand gefahren haben. Sie haben damals den Konsens durch die
Einschränkung der gesetzlich geregelten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und durch die Reduzierung des
Kündigungsschutzes bewusst zerstört. 80 Prozent der Betriebe und 20 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland
waren davon betroffen.
Sie haben die Einschränkung der Sozialauswahl bei
Kündigungen eingeführt und haben im späteren Verlauf
Einschnitte und Kürzungen in der Krankenversicherung
vorgenommen. Außerdem gab es durch die Reform der
Arbeitsförderung erhebliche Verschlechterungen. Das
Resultat ist eine Spitzenarbeitslosigkeit in Deutschland
gewesen. Wenn man alles das hinzurechnen würde, was
Sie heute hinzurechnen wollen, dann würden wir für den
Januar 1998 bei weit über 5,3 Millionen Arbeitslosen liegen. Diese Zahl müssen Sie also für Ihre Regierungszeit
gelten lassen. Wenn man noch die stille Reserve hinzurechnen würde - um es einmal klar zu sagen -, läge man
bei 7 Millionen und nicht in der Größenordnung, die Sie
heute andauernd zitieren.
({1})
Die Rentenversicherungsbeiträge sind von 17,5 Prozent
im Jahr 1992 auf 20,3 Prozent gestiegen. 200 000 junge Menschen standen 1997 ohne Lehrstelle da. Es gab
2,9 Millionen Sozialhilfeempfänger in Deutschland. Das
ist das Resultat Ihrer Politik gewesen. Deshalb brauchen
Sie uns heute nicht zu sagen, wie Bündnisse zu funktionieren haben.
({2})
Sie haben damals aus dem Bündnis für Arbeit ein
Bündnis gegen Arbeit und ein Bündnis gegen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht. Die verantwortlichen Versager von gestern präsentieren sich heute als
Schlaumeier und wollen uns zeigen, wie es geht. Ihre Rezepte von damals, die Sie heute wieder als Heilmittel präsentieren, sind jetzt genauso Gift für den Arbeitsmarkt wie
damals.
({3})
Das Bündnis für Arbeit ist durch hohe Erwartungen
geprägt worden. Das ist angesichts der Herausforderungen völlig verständlich. Ich denke, dass diese ErwartunGerald Weiß ({4})
gen bestehen bleiben müssen. Aber es ist auch deutlich geworden, was möglich ist: Auf dem Gebiet der Altersversorgung haben wir eine Rentenreform durchgeführt. Wir
haben erreicht, dass die Beiträge stabilisiert werden. Damit tragen wir zu einer Begrenzung der Lohnnebenkosten
bei, was Sie selbst wollen.
Wir haben die Beschäftigungschancen für ältere Arbeitnehmer verbessert. Das war ausdrücklich ein Votum
aus dem Kreis des Bündnisses für Arbeit. Wir haben die
Altersgrenze für den Eingliederungszuschuss von 55 auf
50 Jahre abgesenkt. Wir haben eine Vermittlungskampagne für ältere Arbeitnehmer durchgeführt. Ich sage hier
ganz deutlich: Die Älteren in der Gesellschaft gehören
nicht zum alten Eisen. Dazu wurden sie aber durch Ihre
Regierungspolitik abgestempelt.
({5})
Wir haben einen Ausbildungskonsens geschaffen, bei
dem die Zielvorstellung, bis zum Jahre 2003 60 000 Ausbildungsplätze im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie zu schaffen, bereits 2001 verwirklicht worden ist. Wir haben einen Überschuss von
4 000 Ausbildungsplätzen im letzten Jahr erreicht.
377 000 Jugendliche haben an dem Sofortprogramm für
Jugendliche teilgenommen. Das ist eine Investition in die
Zukunft gewesen. Junge Leute stehen bei dieser Koalition
nicht alleine da.
({6})
In Bezug auf Selbstständigkeit und Mittelstandsförderung sage ich: Wir haben das Meister-BAföG gerade
erst reformiert. 433 Millionen Euro stehen für die Förderung von Aus- und Weiterbildung zusätzlich zur Verfügung.
Bündnisse brauchen Beteiligung; Bündnisse brauchen
auch Teilhabe. Die Rezepte, die Sie, auch in diesem Antrag, vorlegen, sehen keine Teilhabe vor, sondern schlichtweg Ausgrenzung. Der Kollege Rauen beschreibt ja ganz
deutlich - bereits am 31. Juli des letzten Jahres -, was man
denn alles vorhat. Nach einem Wahlsieg würde die Union,
Rauen zufolge, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
wieder einschränken, die Schwelle für die Befreiung vom
Kündigungsschutz wieder von fünf auf zehn Beschäftigte
hochsetzen. Außerdem sollten der Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit, die Einschränkung bei der Befristung von
Arbeitsverhältnissen und die Neuregelung der so genannten 630-Mark-Jobs rückgängig gemacht werden.
({7})
Der Kollege Laumann sagt: Das Leistungsniveau von
Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wird schrittweise angeglichen. - Da gucken alle noch ein bisschen erstaunt. Der
Kollege Rauen sagt deutlich, was Sie wollen: Außerdem
solle der Druck auf Arbeitslose, eine Niedriglohnstelle anzunehmen, erhöht werden. Dazu sollten Arbeitslosen- und
Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt werden.
({8})
Da sagen Sie deutlich, wohin die Reise gehen soll. Sie
wollen Sozialleistungen einschränken; sie wollen Arbeitnehmerrechte einschränken. Es ist ein Hohn, wenn ich
heute die Pressemitteilung der CDA zu den Betriebsratswahlen lese, in der steht, Betriebsräte seien Interessenvertreter, die die Unterstützung der Union hätten und auch
bräuchten;
({9})
in den Betrieben müsse Solidarität und Gerechtigkeit
herrschen. Sie haben die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes abgelehnt; sie wollen die Verbesserung für
die Betriebsräte wieder zurückdrehen. Das ist die Wahrheit, die man draußen sagen muss.
({10})
Auch wenn wir jetzt in einem etwas schwierigen Fahrwasser sind, bleibt am Ende richtig: Sie haben nichts
gelernt. Sie setzen in Ihrer Politik weiterhin darauf,
Kürzungen vorzunehmen, sozialen Fortschritt zurückzunehmen und Arbeitnehmerrechte abzubauen. Sie sind
rückwärtsgewandt. Das gilt im Übrigen auch für all Ihre
tollen Vorschläge zu den Finanzen. Für die 3 Milliarden Euro, die Herr Stoiber aufwenden will, um Beschäftigung im Niedriglohnbereich zu organisieren, ist die Finanzierung völlig ungeklärt. Wie wollen Sie eigentlich bei
der Aufhebung der 325-Euro-Grenze, der geringfügigen
Beschäftigung, die 1,45 Milliarden Euro für die Rentenversicherungs- und die 1,15 Milliarden Euro für die Krankenversicherungsbeiträge finanzieren?
({11})
Das sind alles Luftbuchungen von Ihnen. Mit Ihrer
Politik treten wir den Marsch zurück in den Schuldenstaat
an. Das will diese Koalition nicht. Wir brauchen eine solide Finanzierung der Staatsfinanzen, eine solide Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Deswegen ist
dieser Bereich bei der Koalition in guten Händen.
({12})
Auch wenn wir jetzt in schwierigem Fahrwasser sind,
lassen wir uns von Ihrem Jammern nicht die letzten Mitteilungen über die Wirtschaftssituation, wie wir sie im
„Handelsblatt“ am 20. und 22. Februar lesen konnten,
schlechtreden: Positive Signale deuten eine Konjunkturwende an; an den Indikatoren lässt sich eine deutliche Erholung der Weltwirtschaft ablesen. Der Mittelstand plant
mehr Einstellungen. Das alles wird uns in unserer Arbeit
eher ermuntern.
In der Seefahrt gilt: Wenn man in schwieriges Fahrwasser kommt, hat man eine klare Orientierung anhand
der roten und der grünen Tonnen. Da kommt man gut
durch. Die schwarz-gelben Tonnen stehen für Wracks und
für Risiken. Schwarz und Gelb stehen also für Wracks und
Risiken, Rot und Grün für klaren Kurs. Das werden die
Menschen am 22. September auch honorieren.
({13})
Jetzt hat die Kollegin
Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es muss
schon bitter für den Kanzler sein: Im Jahr vier seiner Regierungszeit muss er sich eingestehen:
({0})
Versprechen nicht eingehalten, zentrale Ziele verfehlt,
fast alle Prestigeprojekte gescheitert.
({1})
Das Bündnis für Arbeit war ja ein Lieblingsprojekt von
ihm. Dazu sage ich: Lassen wir es in Frieden ruhen. Es
krankte von Anfang an an Harmoniesucht und Bedeutungslosigkeit.
({2})
Reden ist nie falsch; es ist der richtige Weg. Aber man darf
hier nicht wider besseres Wissen Erwartungen wecken,
von denen man von Anfang an weiß, dass sie nicht eingehalten werden. Hier hat Schröder als Moderator vollständig versagt. Er hat sein angeblich wichtigstes Projekt
einfach an die Wand gefahren. Statt seines Bündnisgeplauderes hätte er sich auf reformerische Entschlossenheit konzentrieren müssen. Dann hätte er viel mehr auf
den Weg gebracht, als bisher geschehen ist.
({3})
Dabei hätte er es doch so einfach gehabt. Ein Blick
nach Bayern, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, hätte genügt.
({4})
Durch das dortige Bündnis für Arbeit konnten 100 000 neue
Arbeitsplätze geschaffen werden.
({5})
Was hat denn Rot-Grün auf diesem Gebiet vorzuweisen?
4,3 Millionen registrierte Arbeitslose. Lieber Kollege
Thönnes, allein die demographische Entwicklung reduzierte die Nachfrage nach Arbeitsplätzen, dadurch haben
Sie 650 000 weniger Arbeitslose.
Was haben wir noch? Steigende Sozialbeiträge, steigende Steuern - laut ZDH haben die Steuererhöhungen,
die allein in diesem Jahr wirksam wurden, ein Volumen
von 10,5 Milliarden Euro - und steigende Schulden. Sie
behaupten zwar immer, Sie würden Sparmaßnahmen ergreifen; dabei gibt es am Ende dieser Legislaturperiode
- trotz der Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen - 50 Milliarden Euro mehr Schulden. Dann haben
wir noch die explodierenden Gesundheitskosten und ein
Wachstum von nur 0,6 Prozent: von der Konjunkturlokomotive in Europa zum allerletzten Schlafwagen! Das
ist peinlich; anders kann man das nicht bezeichnen. Ihre
Bilanz ist eine lange und breite Bremsspur.
({6})
Sie haben kein Alibi für diese katastrophale Entwicklung. Sie schieben die Schuld auf das Ausland bzw. auf die
weltwirtschaftliche Entwicklung, anstatt zu hinterfragen,
warum England und Spanien ein Wachstum von 2 Prozent
und wir von nur 0,6 Prozent haben. Nun kommen Sie
nicht mit dem angeblich verbesserten Ifo-Geschäftsklimaindex! Das ist kein erster Sonnenstrahl am düsteren
Konjunkturhimmel, wie behauptet worden ist. Impulse
sind nur vom Export zu erwarten.
Wie schaut es im Baubereich aus? Keine Impulse! Das
Klima im Einzelhandel hat sich sogar verschlechtert. Impulse im Inland wären wichtig. Aber davon ist weit und
breit nichts zu sehen. Stattdessen haben wir einen Kanzler, der auf die Selbstheilungskräfte der Konjunktur setzt.
Von allein passiert hier nichts.
({7})
Unser Arbeitsmarkt ist durch Ihr Zutun inzwischen so verkrustet, dass man ein sehr hohes Wachstum bräuchte, damit sich hier etwas bewegt.
Sie haben das Blaue vom Himmel versprochen, um den
blauen Brief der EU-Kommission abzuwehren. Jetzt
glauben Sie, mit einem blauen Auge davongekommen zu
sein, indem Sie Verträge zulasten Dritter abgeschlossen
haben. Woher wollen Sie denn das Geld nehmen, das
nötig ist, um Ihre in diesem Zusammenhang gemachten
abenteuerlichen Versprechungen, bis zum Jahre 2004 einen nahezu ausgeglichenen Haushalt vorzuweisen, einzulösen? Warum sagen Sie den Menschen im Lande nicht
vor der Wahl, wie Sie die dazu notwendigen Mittel beschaffen wollen?
({8})
Sie müssen doch etwas im Hinterkopf haben; Sie müssen sich doch irgendetwas gedacht haben! Wenn Sie die
Steuern erhöhen wollen, dann sagen Sie es. Sagen Sie
dann auch, welche Steuern Sie erhöhen wollen! Geben Sie
doch zu, dass Sie noch mehr Lasten auf Dritte, auf die Sozialversicherungen, auf die Länder und die Kommunen,
verlagern wollen, wie Sie es bisher getan haben!
({9})
Bisher haben Sie für den Haushalt 2004 neue Schulden
in Höhe von mehr als 10 Milliarden Euro eingeplant. Jetzt
machen Sie in Brüssel das Versprechen, keine neuen
Schulden mehr machen zu wollen. Wie wollen Sie das
denn umsetzen? Machen Sie dazu endlich einmal eine
klare Aussage! Sie haben in ihren Köpfen nur Halluzinationen.
({10})
Wir brauchen durchgreifende Reformen. Dazu sind Sie
nicht in der Lage; das bringen Sie nicht zuwege. Sie haben nicht den dazu notwendigen Mut, nicht die Kraft und
auch nicht die Fantasie.
({11})
Sie haben es geschafft, unser bürokratisiertes Hochsteuerland endgültig zuzubetonieren. Sie haben es verstanden,
den Arbeitsmarkt noch mehr zu verriegeln; auf die ganzen
Gesetze, die Sie zulasten des Mittelstands gemacht haben,
brauche ich nicht näher einzugehen.
Der jetzige Skandal geschönter Vermittlungsstatistiken
ist nicht nur eine Krise der Bundesanstalt fürArbeit, wie
Sie es jetzt darstellen wollen. Das ist auch eine Krise Ihrer Arbeitsmarktpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün.
({12})
Jetzt versucht sich der Kanzler der untätigen Hand
ganz plötzlich als Aktionsheld. Sicher ist eine Reform der
Bundesanstalt für Arbeit dringend notwendig. Sicher ist
es wichtig, zukünftig mehr auf private Vermittlung zu setzen. Aber das reicht bei weitem nicht aus, die Probleme,
die wir haben, zu lösen. Auch der beste Vermittler kann
keine neuen Stellen schaffen. Dabei nützt auch keine
blinde Hektik vor der Wahl. Nehmen Sie lieber Ihre lähmenden Fehlentscheidungen zurück. Der Arbeitsmarkt
muss in Bewegung kommen, damit sich endlich eine neue
Beschäftigungsdynamik entfaltet. So, wie Sie es machen,
geht es nicht. Sie können es einfach nicht.
({13})
Herr Thönnes hat mit großem Lob über das JUMP-Programm gesprochen. Inzwischen sind 3 Milliarden Euro in
dieses Programm investiert worden. Was ist dabei herausgekommen? Eine um 10 Prozent höhere Jugendarbeitslosigkeit als am Anfang Ihrer Regierungszeit.
({14})
Nach den neuesten Zahlen im Januar gibt es über
500 000 Arbeitslose unter 25 Jahren. Diese Zahl lag zu unserer Regierungszeit etwa um 10 Prozent niedriger.
({15})
Das ist typisch für Sie. Sie bringen teure Showveranstaltungen auf den Weg. Ansonsten steckt nichts dahinter.
({16})
Sie entfachen mit Steuergeldscheinen ein Strohfeuer,
sonst nichts. Dabei würgen Sie den Mittelstand ab, wo es
nur geht.
({17})
Bei Ihnen ist der Mittelstand vom Leistungsträger zum
Lastenträger geworden.
({18})
Wer wie Sie behauptet: „Die Mitte ist rot“, der muss
farbenblind sein; das muss ich Ihnen mit auf den Weg geben.
({19})
Für Sie ist der Mittelstand doch nur als Zielgruppe bei
Wahlen interessant. Schröder ist in der Neuen Mitte nie
angekommen. Politik der Mitte heißt, die wirtschaftliche
Leistungskraft unseres Landes zu stärken und zu fördern.
Sie aber haben uns zum Schlusslicht gemacht.
({20})
Schauen Sie sich an, was die Bundesbank dazu jüngst
geschrieben hat! Sie haben durch die Steuerreform die Reichen und die Starken gestärkt und die Schwachen und die
Kleinen geschwächt. - Dieser Satz kommt nicht von mir.
Das hat die Bundesbank in ihrem Bericht geschrieben.
({21})
Dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass es inzwischen zu einem olympischen Pleitenrekord gekommen
ist, dass es immer mehr Schattenwirtschaft gibt und die
Selbstständigenquote sinkt. Deswegen müssen wir wirklich wieder eine Politik der Mitte machen.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Das bedeutet: Bürokratieabbau, befristete Lohnzuschüsse, Sanktionen für Arbeitsunwillige und viele kleine Bündnisse für Arbeit. Mit
einem Wort gesagt: Die Politik der Mitte ist genau das Gegenteil von dem, was Rot-Grün macht.
Vielen Dank.
({0})
Frau Kollegin Wöhrl,
Sie waren so in Schwung, dass ich es nicht gewagt habe,
Sie zu unterbrechen und um Ruhe zu bitten. Ich hätte es
aber gerne getan.
Es ist das alte Lied, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Sie wollen wählen, aber vor der Wahl stehen noch zwei
Redner an. Es wäre solidarisch, dem Redner die Chance
zu geben durchzukommen.
In diesem Sinne erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss zunächst
einmal sagen: Herr Laumann, ich habe Ihre Arbeit immer
mit großem Interesse verfolgt. In Ihrer Rede waren auch
eine Reihe von interessanten Vorschlägen.
({0})
Aber Ihr Einstieg - das Bündnis für Arbeit sei eine
Quasselbude; Sonntagnachmittag träfen sich ein paar ältere Herren zum Gespräch - war unter Ihrem Niveau. Das
wissen Sie.
({1})
Frau Wöhrl hat eben voller Stolz auf die kleine Bündnisrunde in Bayern verwiesen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir ein Bündnis für Arbeit brauchen. Wenn wir
uns darüber einig sind und gemeinsam bedauern, dass dieses Bündnis 1996 gescheitert ist, dann sollten wir
zunächst einmal sagen: Dass es dieses Bündnis gibt, ist
richtig und vernünftig in einer Zeit, in der es um Strukturreformen geht. Strukturreformen - das wissen wir
alle - können wir nicht einfach ex cathedra durchsetzen.
Dazu brauchen wir einen Konsens. Dazu brauchen wir
alle Partner. Deshalb ist das Bündnis auch in Zukunft
wichtig und sollte nicht einfach beschädigt werden.
({2})
Ich möchte jetzt darauf hinweisen - das ist ein bisschen
untergegangen -, dass das ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ist. Herr Brüderle, die
Elemente, die Sie zu Recht angesprochen haben - es geht
darum, wie unser Land wettbewerbsfähig gemacht werden kann -, haben wir in diesem Bündnis zum Thema gemacht. Das ist anders als in früheren Jahren, als es nur um
Arbeitsthemen ging. Es geht auch darum, dass wir die
Wettbewerbsfähigkeit stärken. Zum Beispiel im Bereich
der Ausbildung haben wir große Fortschritte erzielt.
Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal rekapitulieren: Wir haben in diesen zwei Jahren gerade im
Ausbildungsbereich eine ganze Menge geschafft. Es wurden 44 Ausbildungsordnungen modernisiert und zehn
neue Berufe formuliert. Zum 1. August dieses Jahres wird
es mit zwölf modernisierten Ausbildungsverordnungen
und vier neuen Berufen noch einmal einen Schub geben.
Das alles sind klare Signale dafür, dass sich unser Land
modernisiert und dass dieses Land dabei ist, den Wettbewerbsbedingungen der Weltwirtschaft, die sich fundamental verändert haben, Rechnung zu tragen. Man kann
das nur schaffen, wenn man nicht dem Irrtum unterliegt,
dass es in Deutschland in Zukunft eine Blaupausengesellschaft gibt. Auch in Zukunft brauchen wir eine reale Fertigungsbasis mit leistungsfähigen Facharbeitern, Meistern und Technikern. Deshalb ist es wichtig, dass wir den
Konsens über die Modernisierungs- und Qualifizierungsoffensive gemeinsam voranbringen und das Bündnis für
Arbeit nicht einfach beerdigen.
({3})
Auch die Ergebnisse, die wir in der IT-Branche erzielt
haben, zum Beispiel mithilfe der Greencard, waren ein
wichtiger Fortschritt für unser Land. Durch die Öffnung
haben wir das Signal gesetzt, dass wir die besten Talente
bei uns haben wollen. Die Kampagne „Kinder statt Inder“
war deshalb daneben, weil nicht realisiert wurde, dass wir
auch in Ausbildung investieren, also in diejenigen, die als
gute Talente in den Betrieben und Forschungseinrichtungen bei uns in Deutschland tätig sind. In früheren Jahren
lagen viele Potenziale brach. Wir haben einen neuen Ansatz gesucht und bewusst gesagt: Deutschland ist ein offenes Land. Wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken wollen, brauchen wir die besten Talente der Welt und
müssen gleichzeitig unsere Leute gut ausbilden.
({4})
Es gab übrigens auch manche, die gesagt haben, wir
wollten mit der Greencard Billigarbeitskräfte nach
Deutschland holen. Das war nie das Motiv. Das Motiv
lautete: Lasst uns die guten Leute hierher holen, um mit
ihnen zusammen hier Jobs zu realisieren und dadurch
Arbeitsplätze für Deutschland zu schaffen. Ich glaube, wir
müssen diesen Weg weitergehen.
({5})
- Frau Präsidentin, ich merke, dass im Hause eine richtig
gute Stimmung ist.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, um gut zu verstehen, wäre es besser zuzuhören. - Herr Staatssekretär, ich habe keine Disziplinierungsmöglichkeiten; Sie müssen sich durchsetzen.
Ich weiß das.
Der Grund dafür ist ja, dass gleich abgestimmt werden
soll.
Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Ein Bündnis
für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, in dem
man sich darüber Gedanken macht, wie Strukturreformen
erreicht werden können, und in dem man bereit ist, in einem Konsensrahmen über Tabus zu sprechen, wird auch
in Zukunft wichtig sein. Die erforderlichen Strukturreformen, zum Beispiel am Arbeitsmarkt, bekommt man aber
nicht hin, wenn man das sozusagen nur einer Seite überlässt. Es müssen schon gemeinsame Anstrengungen unternommen werden.
Im Übrigen konnten wir ein anderes wichtiges Ergebnis erzielen: Wir haben im Bündnis über die Frage gesprochen - die bisher tabu war -, wie die Grundzüge einer beschäftigungsfördernden Tarifpolitik realisiert
werden können. Ich bin fest davon überzeugt, dass das
Gespräch, das darüber stattgefunden hat - unter Beachtung der Tarifautonomie -, dazu beigetragen hat, dass wir
in den letzten zwei Jahren 600 000 neue Jobs geschaffen
haben.
({0})
Diese neuen Arbeitsplätze sind nach der Bündnisrunde
zustande gekommen.
({1})
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass wir einen
Schritt weitergehen müssen, um das Bündnis noch besser
vorzubereiten. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir in
Deutschland nicht eine Stiftung für Arbeit, wie wir sie
aus den Niederlanden kennen, brauchen. Mit ihr zusammen könnte man versuchen, Konzepte und neue Ideen zu
entwickeln, um sie dann dem Bündnis vorzulegen. Eine
solche Stiftung für Arbeit würde nach meiner Auffassung
dem Bündnis helfen, damit es auch in Zukunft erfolgreich
sein kann. Sie wissen: Wir brauchen dieses Bündnis als
Plattform, um Reformen voranzubringen. Unser Land
braucht weiter Reformen. Das ist der Grund, warum wir
das Bündnis weiter brauchen und warum wir eine Regierung brauchen, die die Kraft aufbringt, die Reformen voranzubringen.
({2})
Benjamin Britten hat einmal gesagt: „Lernen ist wie
Rudern gegen den Strom. Wer aufhört, fällt zurück.“ Ich
glaube, wir dürfen nicht aufhören, wir müssen weiter rudern und gemeinsame Anstrengungen unternehmen, und
zwar auch über Parteigrenzen hinweg, um unser Land für
einen Wettbewerb fit zu machen, der sich international
verschärft hat. Dazu sind solche Plattformen, wie zum
Beispiel das Bündnis für Arbeit, in Zukunft noch dringender notwendig als in der Vergangenheit.
({3})
Mich hat, Herr Staatssekretär, die Meldung erreicht, dass das die letzte Rede in
Ihrer gegenwärtigen Funktion war. Ich nehme das zum
Anlass - insofern ist es schön, dass so viele Kolleginnen
und Kollegen anwesend sind -, Ihnen im Namen des
Deutschen Bundestages für Ihre engagierte Arbeit zu danken.
({0})
Als letzter Rednerin dieser Debatte erteile ich der Kollegin Erika Lotz das Wort. Erika, du musst dich durchsetzen. Ich kann im Augenblick an dieser Mikrofonanlage
nichts ändern.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich natürlich auch, dass
so viele Kolleginnen und Kollegen da sind. Mehr noch
würde ich mich freuen, wenn Sie mir zuhören.
({0})
Die Kollegin Andrea Fischer hat vorhin von „ritualisierten Reden“ gesprochen. Ich hätte mich gerne darauf
eingelassen, keine ritualisierte Rede zu halten. Aber nach
dem, was vonseiten der Opposition getönt worden ist, haben die Menschen ein Recht darauf, zu erfahren, wie die
Bundesregierung, die Koalition und die sie tragenden Parteien - also Rot-Grün - dazu stehen.
Frau Wöhrl, was Sie hier von sich gegeben haben, hat
bei mir den Eindruck erweckt, CDU/CSU und FDP scheinen sich nur in Schwarzmalerei wohlzufühlen. Wir haben
das ja auch schon in der letzten Legislaturperiode erlebt;
die für mich unsägliche Standortdiskussion hatte
schlimme Folgen für unser Land.
({1})
Sie verdrehen damit die Tatsachen. Wir haben die Steuern
gesenkt. Wir haben die Beiträge zur Rentenversicherung
gesenkt. Auch die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Die Familien sind entlastet worden. Sagen Sie doch die Wahrheit! Sie reden von einem Land, das so nicht existiert. Es
stimmt nicht, was Sie hier verbreiten.
({2})
Wenn Sie jetzt verlangen, dass die Menschen, die sich
in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befinden, stille Reserve sind oder sich in Fortbildung oder Umschulung befinden, in der Arbeitslosenstatistik als arbeitslos gezählt
werden, müssen Sie doch wissen, dass dies nach dem geltenden Recht gar nicht möglich ist. Als arbeitslos kann nur
derjenige gezählt werden, der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, haben Sie es denn nicht im letzten
Jahr der Regierung Kohl so gemacht? Dann hätte die Zahl
der Arbeitslosen im Januar 1998 - Herr Kollege Thönnes
hat schon darauf hingewiesen - nicht bei 4,8 Millionen,
sondern bei fast 7 Millionen gelegen.
({3})
Stattdessen haben Sie Wahlkampf-ABM gemacht und
Strukturanpassungsmaßnahmen durchgeführt, um das
wahre Ausmaß Ihrer Arbeitslosigkeit zu verschleiern.
Herr Brüderle, werfen Sie uns angesichts dessen hier nicht
Trickserei vor!
Wir haben nunmehr eine weltweite Konjunkturschwäche. Zum ersten Mal seit 30 Jahren sind Europa, die
Vereinigten Staaten und Japan gleichzeitig in der Krise.
Bei einem exportorientierten Land wie Deutschland
macht sich das in der Konjunktur bemerkbar. Ich will
noch einmal darauf hinweisen: Wir haben in der Zeit unserer Regierung 1,2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze
geschaffen und darauf sind wir stolz.
({4})
Sie fordern, den Spitzensteuersatz auf unter 40 Prozent
zu senken. Was sagen denn Länder und Kommunen dazu,
dass Sie ihnen insgesamt 15 Milliarden DM Steuern wegnehmen wollen? Wir haben eine große, umfassende Steuerreform verabschiedet. Der Spitzensteuersatz wird auf
42 Prozent gesenkt, aber dieser Satz wird dann auch gezahlt. Das ist doch der Unterschied zu Ihrer Zeit.
Sie fordern, die Sozialversicherungsbeiträge mittelfristig unter 40 Prozent zu senken. Wir haben 1999 mit
der ökologischen Steuerreform begonnen und dann auch
gleich die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkt,
seitdem inzwischen schon dreimal, nämlich von 20,3 Prozent auf 19,1 Prozent im Januar 2002. So etwas haben die
Menschen über viele Jahre nicht mehr erlebt.
({5})
Sie beschweren sich über steigende Krankenversicherungsbeiträge und gleichzeitig klagt Ihr Kanzlerkandidat
vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Risikostrukturausgleich. Die Beiträge der AOK in Ostdeutschland sind heute schon höher als im Westen. Wenn die
Beiträge dort noch weiter steigen sollen, führt das zu steigenden Lohnnebenkosten und bedeutet den Abbau von
Arbeitsplätzen im Osten. So viel, Frau Wöhrl, zum Blick
nach Bayern!
({6})
Zu dem, was ich bisher aufgezählt habe, kommt eine
ganze Reihe anderer Errungenschaften der letzten drei
Jahre hinzu, die die CDU den Menschen jetzt wieder wegnehmen will. Wir machen die Vermittlung mit dem JobAqtiv-Gesetz effektiver. Über 400 000 junge Menschen
haben das JUMP-Programm genutzt.
({7})
Damit sind weitere betriebliche Ausbildungsplätze geschaffen worden. Wir haben mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz den Anstoß zu mehr Teilzeitarbeit gegeben
und die Menschen, die geringfügig beschäftigt sind, wieder in den Schutz der Sozialversicherung zurück geholt.
Das alles wollen Sie wieder rückgängig machen. Das
müssen wir den Menschen sagen; denn das ist für sie
schädlich.
({8})
Sie versuchen, den Wählerinnen und Wählern einzureden,
dies alles müsse gemacht werden. Aber für die Menschen
ist der Schutz der Sozialversicherung wichtig und die
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt muss weiter bestehen
bleiben.
Wir waren bisher erfolgreich und haben ein weiterhin Erfolg versprechendes Konzept. Jetzt sind allerdings vor allem die Unternehmen gefordert. Eine freie
Stelle, von der allein der Arbeitgeber weiß, nutzt niemandem.
({9})
Die Unternehmen müssen ihre freien Stellen auch dem
Arbeitsamt melden und Überstunden müssen in Arbeitsplätze umgewandelt werden.
Wir sind keineswegs gescheitert. Das Bündnis für Arbeit ist ein Erfolg und wird ein Erfolg bleiben.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8041 und 14/8363 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahl des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über den Bundesrechnungshof wählen der Deutsche Bundestag und der
Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der
Bundesregierung den Präsidenten des Bundesrechnungshofes.
Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom
22. Februar 2002 vor, Herrn Professor Dr. Dieter Engels
zum Präsidenten des Bundesrechnungshofes zu wählen.
Herr Dr. Engels hat auf der Ehrentribüne Platz genommen; ich begrüße ihn hiermit sehr herzlich.
({0})
Nun bitte ich um Aufmerksamkeit für einige Hinweise
zum Wahlverfahren: Das Gesetz schreibt geheime Wahl
vor. Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 334 Stimmen, erforderlich. - So viele Abgeordnete sind anwesend;
das ist beruhigend. - Sie benötigen den weißen Wahlausweis sowie den blauen Stimmzettel mit Wahlumschlag.
Diese Stimmzettel mit Umschlag wurden verteilt. Sollten
Sie noch keinen Stimmzettel haben, besteht jetzt noch die
Möglichkeit, diesen von den Plenarassistenten zu erhalten.
Den für diese Wahl benötigten weißen Ausweis sowie
den gelben Wahlausweis für die später durchzuführende
Wahl des Vizepräsidenten nehmen Sie bitte, soweit Sie es
noch nicht getan haben, aus Ihrem Stimmkartenfach.
Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Wahl geheim ist. Sie dürfen Ihren Stimmzettel nur in einer der
Wahlkabinen ankreuzen und in den Umschlag legen. Die
Schriftführer sind verpflichtet, jeden zurückzuweisen, der
seinen Stimmzettel außerhalb der Wahlkabine ankreuzt
und in den Umschlag legt. Die Wahl kann in diesem Fall
jedoch vorschriftsmäßig wiederholt werden.
Bevor Sie den Stimmzettel in eine der aufgestellten
Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren weißen
Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne.
Ich weise darauf hin, dass der Nachweis der Teilnahme an
der Wahl nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht wird. Gültig sind nur Stimmen mit einem Kreuz bei
„Ja“, „Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind Stimmen auf nicht amtlichen Stimmzetteln sowie Stimmzettel,
die mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an diese
Wahl über Vorlagen ohne Aussprache abstimmen. Anschließend werden wir nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der Wahl des Präsidenten noch den Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes wählen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, jetzt
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sollen sich an die Urnen begeben, die an den Ausgängen zur Lobby hin aufgestellt sind. An der Urne 4 fehlt der zweite Schriftführer. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sollen nicht nach vorn kommen, sondern zu den Ausgängen. Dort stehen die Wahlurnen bereit.
Haben jetzt alle Schriftführerinnen und Schriftführer
ihre Position eingenommen? - Das ist der Fall. Dann
eröffne ich die Wahl.
({1})
Haben alle Mitglieder
des Hauses, auch die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, ihre Stimmzettel abgegeben? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann warten wir noch.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmzet-
tel abgegeben? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die
Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird
Ihnen später mitgeteilt werden.1)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
wieder einzunehmen und die Gespräche einzustellen;
denn vor uns liegt noch ein Abstimmungsmarathon, bevor
wir zur Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungs-
hofes kommen. - Es wäre gut, wenn die Parlamentari-
schen Geschäftsführer ihres Amtes walten würden und die
Kolleginnen und Kollegen animieren könnten, zu ihren
Plätzen zurückzukehren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können jetzt fort-
fahren. Die Umschläge mit grünen Stimmzetteln für die
Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes
werden von den Plenarassistentinnen und -assistenten in
Kürze ausgegeben.
Wir kommen nun zu den Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 q sowie
Tagesordnungspunkt 7 auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Wasserverbandsgesetzes
- Drucksache 14/8223 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes
- Drucksache 14/8286 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Entsorgung von Altfahrzeugen ({2})
- Drucksache 14/8343 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 10. März 2000 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Korea zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und zur Verhinderung der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 14/8213 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zu-
satzprotokoll Nr. 6 vom 21. Oktober 1999 zu der
Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17. Ok-
tober 1868
- Drucksache 14/8215 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 12. Juni 2001 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Französischen Republik
über den Bau und die Erhaltung von Grenz-
brücken über den Rhein, die nicht in der Bau-
last der Vertragsparteien liegen
- Drucksache 14/8216 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 2. Februar 1998 über die
Vorrechte und Befreiungen der Kommission
zum Schutz der Meeresumwelt der Ostsee
- Drucksache 14/8217 -
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Seite 21909 C
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Februar 1991 über die
Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen sowie zu der auf der zweiten
Konferenz der Parteien in Sofia am 27. Februar
2001 beschlossenen Änderung des Übereinkommens ({5})
- Drucksache 14/8218 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Gesundheit
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. November 2000 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Französischen Republik
über die Zusammenarbeit bei der Wahrnehmung schifffahrtspolizeilicher Aufgaben auf
dem deutsch-französischen Rheinabschnitt
- Drucksache 14/8219 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Innenausschuss
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. September 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über den Zusammenschluss der
deutschen Autobahn A 17 und der tschechischen
Autobahn D 8 an der gemeinsamen Staatsgrenze durch Errichtung einer Grenzbrücke
- Drucksache 14/8220 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. November 2000 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Republik Polen über den
Bau und die Erhaltung von Grenzbrücken im
nachgeordneten Straßennetz
- Drucksache 14/8224 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Finanzausschuss
l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz
der Öffentlichkeit vor angedrohten und vorgetäuschten Straftaten ({10})
- Drucksache 14/8201 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
m) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({12})
- Drucksache 14/8360 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
n) Erste Beratung des von den Abgeordneten Willi
Brase, Klaus Barthel ({14}), Hans-Werner
Bertl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
SPD sowie den Abgeordneten Christian Simmert,
Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard Loske, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes
- Drucksache 14/8359 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Jünger, Ulla Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Nullpromille für Fahranfänger und Fahranfängerinnen
- Drucksache 14/6809 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi
Knake-Werner, Dr. Evelyn Kenzler, Petra Bläss,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aufgaben des jüngsten Mitgliedes des Deut-
schen Bundestages
- Drucksache 14/8166 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, Carsten Hübner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Vizepräsidentin Petra Bläss
Bundeswehreinheiten aus der Golfregion zurückziehen
- Drucksache 14/8270 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({17})
Verteidigungsausschuss
7. Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Maria Böhmer, Margot von Renesse, Andrea
Fischer ({18}) und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung
des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit
Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler
Stammzellen ({19})
- Drucksache 14/8394 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({20})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 28 a
und b sowie 28 d bis 28 m. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache
vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines post- und
telekommunikationsrechtlichen Bereinigungsgesetzes
- Drucksache 14/7921 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({22})
- Drucksache 14/8342 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel ({23})
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Tschechischen Republik über soziale Sicherheit
- Drucksache 14/8212 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({25})
- Drucksache 14/8377 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt
auf Drucksache 14/8377, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen von Ihnen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung
der personellen Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und in den Unternehmen der
Deutschen Bundespost
- Drucksache 14/8044 ({26})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({27})
- Drucksache 14/8350 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Eduard Lintner
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({28}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/8351 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Hans Georg Wagner
Franziska Eichstädt-Bohlig
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/8350, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen von Ihnen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der GesetzVizepräsidentin Petra Bläss
entwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen von Ihnen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes und
des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen
- Drucksache 14/8012 ({29}) ({30})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({31})
- Drucksache 14/8341 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Bleser
Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Der
Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der PDSFraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({32}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Neunundneunzigste Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 14/7388, 14/7514 Nr. 2.1, 14/8149 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 14/7388 nicht
zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({33})
Übersicht 11 a
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/8229 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen über die
Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 356 zu Petitionen
- Drucksache 14/8229 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 356 ist bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 357 zu Petitionen
- Drucksache 14/8290 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch die Sammelübersicht 357 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 358 zu Petitionen
- Drucksache 14/8291 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 358 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 359 zu Petitionen
- Drucksache 14/8292 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 359 ist mit den Stimmen
des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 360 zu Petitionen
- Drucksache 14/8293 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 360 ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Tagesordnungspunkt 28 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 361 zu Petitionen
- Drucksache 14/8294 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 361 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({40}) zu dem Vierten Gesetz zur
Änderung des Bundeszentralregistergesetzes 4. BZRGÄndG
- Drucksachen 14/6814, 14/7837, 14/8191,
14/8358 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall.
Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist
ebenfalls nicht der Fall.
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/8358? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({41}) zu dem Gesetz zur Einführung des
diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für
Krankenhäuser ({42})
- Drucksachen 14/6893, 14/7421, 14/7461,
14/7824, 14/7862, 14/8239, 14/8362 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Wester
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall.
Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Auch das
ist nicht der Fall.
Wir kommen ebenfalls sofort zur Abstimmung. Der
Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 sei-
ner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen
Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustim-
men ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/8362? - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange-
nommen.1)
Das Ergebnis der Wahl liegt noch nicht vor; deshalb
unterbreche ich kurz die Sitzung.
({43})
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir kommen zurück zu Tagesordnungspunkt 5. Ich
gebe Ihnen jetzt das Ergebnis der Wahl des Präsidenten
des Bundesrechnungshofes bekannt. Abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben gestimmt 543 Abgeordnete.
({0})
Mit Nein haben gestimmt 22 Abgeordnete. 21 Kollegin-
nen und Kollegen haben sich der Stimme enthalten.
Herr Professor Dr. Dieter Engels hat damit die erfor-
derliche absolute Mehrheit von mindestens 334 Stimmen
erreicht.2) Ich spreche Herrn Professor Dr. Engels zu seiner Wahl durch den Deutschen Bundestag die Glückwünsche des gesamten Hauses aus.
({1})
Ich werde das Ergebnis der Wahl dem Herrn Bundeskanzler und dem Herrn Präsidenten des Bundesrates umgehend mitteilen.
Der ehemaligen Präsidentin des Bundesrechnungshofes, Frau Dr. Hedda von Wedel, spreche ich im Namen des
Deutschen Bundestages Dank für ihr jahrelanges verdienstvolles Wirken und alle guten Wünsche für ihre neue
Aufgabe aus.
({2})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech-
nungshofes
Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über den Bundes-
rechnungshof wählen der Deutsche Bundestag und der
Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der
Bundesregierung den Vizepräsidenten des Bundesrech-
nungshofes. Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben
vom 22. Februar 2002 vor, den Kollegen Norbert Hauser
zum Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes zu wäh-
len.
Ich gebe jetzt nochmals einige Hinweise zum Wahl-
verfahren. Sie benötigen nun den grünen Stimmzettel mit
Wahlumschlag. Sollten Sie noch keinen Stimmzettel ha-
ben, besteht jetzt die Möglichkeit, diesen von den Plenar-
assistentinnen und -assistenten zu erhalten. Außerdem
benötigen Sie den gelben Wahlausweis, den Sie bitte, so-
weit Sie das noch nicht getan haben, Ihrem Stimmkarten-
fach entnehmen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 4
2) Liste der Teilnehmer an der Abstimmung siehe Anlage 2
Die Wahl ist wiederum geheim. Das heißt, Sie dürfen
Ihren Stimmzettel nur in einer der Wahlkabinen ankreu-
zen und in den Wahlumschlag legen. Gültig sind nur
Stimmzettel mit dem Kreuz bei „Ja“, „Nein“ oder „Ent-
halte mich“. Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit
der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens
334 Stimmen, erforderlich. Übergeben Sie bitte, bevor Sie
den Wahlumschlag in eine der Wahlurnen werfen, Ihren
Wahlausweis einem der Schriftführer an der Wahlurne als
Nachweis der Teilnahme an der Wahl.
Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Haben Sie das
getan? - Ich eröffne die Wahl. Haben alle Mitglieder des
Hauses, auch die Schriftführerinnen und Schriftführer,
ihre Zettel abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall.
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen jetzt die Beratungen fort. Ich stelle fest, dass
es hier im Saal sehr übersichtlich geworden ist.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zur Klage der
Bayerischen Staatsregierung gegen die Reform
des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt.
({3})
- Bevor die Frau Ministerin anfängt, lege ich allen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen,
nahe, den Raum zu verlassen.
({4})
- Noch sitzen reichlich viele Kolleginnen und Kollegen
hier.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst
einmal zu den Fakten. Die Bayerische Staatsregierung sowie die CDU-geführten Landesregierungen von BadenWürttemberg und Hessen haben im August 2001 einen
Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht
eingereicht mit dem Ziel, das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung und die Solidarität zwischen
den alten und den neuen Bundesländern auszuhebeln.
({0})
Genau das wäre das Ergebnis, wenn die gesetzlichen Regelungen über den Risikostrukturausgleich zwischen den
Krankenkassen, insbesondere die Regelungen über die Aufhebung der Rechtskreistrennung zwischen Ost und West, für
verfassungswidrig und nichtig erklärt werden würden.
Ich sage Ihnen hier ganz deutlich: Zu klagen ist rechtsstaatlich legitim und auch in unserer Verfassung vorgesehen; politisch allerdings halte ich das Vorgehen, mit der die
Solidarität ausgehebelt würde, ehrlich gesagt für verwerflich.
({1})
- Herr Kollege Zöller, ein Gesundheitswesen, das auf dem
solidarischen Ausgleich, auf der Solidarität zwischen Jungen und Alten, Gesunden und Kranken basiert, das von
denen getragen wird, die mehr verdienen, das mit Familien mit Kindern solidarisch ist,
({2})
ein solches Gesundheitssystem, das jeden und jede ohne
Ansehen der Person und eventueller Vorerkrankungen in
den gesetzlichen Kassen versichert und versichern muss,
({3})
wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt werden,
kann diese Solidarität nur erhalten, wenn es dafür sorgt,
dass die solidarischen Leistungen zwischen den einzelnen
Kassen einigermaßen gerecht verteilt werden.
({4})
Das bedeutet Solidarität nicht nur in der einzelnen Kasse,
sondern auch zwischen den verschiedenen Kassenarten
und ebenso zwischen den Kassen in den alten und den
neuen Bundesländern.
({5})
Weil das so ist,
({6})
wurde 1992 mit der Einführung der generellen freien
Kassenwahl der Risikostrukturausgleich fraktions- und
länderübergreifend als einer der Eckpfeiler des neu geschaffenen Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen.
({7})
Dass nun die Parteien CDU, CSU und FDP, die 1992 unter ihrer Regierung ausdrücklich die Einführung des Risikostrukturausgleichs beschlossen haben, versuchen, diesen mithilfe des Verfassungsgerichts zu Fall zu bringen,
({8})
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Seite 21915 D
mutet schon einigermaßen sonderbar an.
({9})
Es darf nicht vergessen werden, dass sich dieser Normenkontrollantrag letztlich gegen einen auf Wirtschaftlichkeit und Qualität ausgerichteten Wettbewerb der gesetzlichen Krankenversicherungen richtet. Er befürwortet
nämlich in der Konsequenz Risikoselektion und Unwirtschaftlichkeit.
Eines ist ganz klar: Ohne den Risikostrukturausgleich
hätten die Krankenkassen kaum ein Interesse daran, einen
Wettbewerb bei der wirtschaftlichen Erbringung von
Leistungen zu führen. Sie hätten dann vielmehr vor allen
Dingen ein Interesse daran, junge und gesunde Versicherte aufzunehmen, die relativ geringe Kosten verursachen, um dadurch Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Das
kann nicht unsere Politik sein, weil damit vor allem die
Solidarität der Krankenkassen in den alten Ländern mit
denen in den neuen Ländern aufgekündigt würde. Das
wäre das Ergebnis einer solchen Politik.
({10})
Die Folge davon wäre, dass die im Krankenversicherungsbereich endlich gefallene Sozialmauer zwischen Ost
und West wieder errichtet würde. Die Krankenkassen in
den neuen Ländern würden in die desolate Finanzsituation zurückgestoßen. Letztendlich müssten die Patientinnen und Patienten dieses ausbaden.
({11})
Das wäre das Ergebnis. Oder anders ausgedrückt: Bayern,
Baden-Württemberg und Hessen wollen sich mit vorgeschobenen Argumenten der Solidarpflichten innerhalb der
GKV entziehen.
({12})
Sie kündigen im Ergebnis die Solidarität auf, die bisher im
Gesundheitswesen gegolten hat.
({13})
Es geht hier nicht um Peanuts.
({14})
1998, als SPD und Grüne die Verantwortung für die Gesundheitspolitik übernommen haben, waren die Krankenkassen in den neuen Ländern mit über 800 Millionen Euro
verschuldet.
({15})
Erst durch die Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs konnte bis Ende 2000 der Schuldenstand auf nur noch rund 200 Millionen Euro zurückgeführt werden.
({16})
Bis zum September 2001 konnte der Schuldenstand auf
unter 100 Millionen Euro reduziert werden. Dies und die
Sicherung der Leistungsfähigkeit sind durch die Zahlungen der Krankenkassen in den alten Ländern ermöglicht
worden, die allein im Jahre 2001 circa 2 Milliarden Euro
aufgebracht haben. Es ist eine gute Gelegenheit, sich an
dieser Stelle für den Solidaritätsbeweis einmal ausdrücklich bei den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern zu
bedanken, die diese Last mitgetragen haben.
({17})
Nach dem Willen von Bayern, Baden-Württemberg
und Hessen soll all dies ein Ende haben, obwohl die
AOKs in diesen drei Ländern in erheblicher Weise vom
Risikostrukturausgleich profitieren:
({18})
Alle drei AOKs haben im Jahr 2000 knapp 2 Milliarden Euro aus dem Risikostrukturausgleich erhalten. Nahezu die Hälfte davon entfiel auf die AOK Bayern.
({19})
Aber nicht nur über den Risikostrukturausgleich fließt
Geld an die AOK in Bayern. Von den Zuschüssen in Höhe
von rund 1 Milliarde Euro, die der Bund den Krankenversicherungen der landwirtschaftlichen Altenteiler gewährt, floss im Jahre 2000 rund ein Drittel nach Bayern.
Die neuen Länder erhielten davon nur 1,5 Millionen Euro.
Es ist schon sehr befremdlich, wenn sich jemand, der in
erheblicher Weise von der Solidarität anderer profitiert,
mit gerichtlicher Hilfe aus der eigenen Solidaritätsverpflichtung herausstehlen will.
({20})
Das mag vielleicht dem Sowohl-als-auch-Kanzlerkandidaten Stoiber gut anstehen.
({21})
Ein Handeln nach dem Motto, vor dem Verfassungsgericht die Solidarität aufzukündigen und im Rahmen des
RSA stillschweigend zu kassieren, ist aber ein doppeltes
Spiel. Das kann von uns nicht akzeptiert werden; denn die
Folgen liegen auf der Hand: Die Beitragssätze in den
neuen Ländern würden entweder astronomisch steigen
und damit weitere Arbeitsplätze gefährden
({22})
oder die Krankenkassen dort würden sich tief in eine
Schuldenfalle verstricken, aus der sie aus eigener Kraft
nicht mehr herausfänden. Das darf nicht sein, weil die
Menschen, die auf die Hilfe im Gesundheitswesen angewiesen sind, dabei die Leidtragenden wären. Das wäre der
erste Schritt in Richtung einer Zweiklassenmedizin, die
Sie vielleicht wollen.
({23})
Die Bundesregierung will keine neue Sozialmauer
zwischen Ost und West
({24})
und deshalb werden wir vor dem Bundesverfassungsgericht für den Erhalt der solidarischen Wettbewerbsordnung und für die Interessen der neuen Bundesländer
kämpfen. Ich bin sicher, dass das Gericht unseren Argumenten folgen wird.
Vielen Dank.
({25})
Das Wort hat jetzt der
hessische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Staatsminister Jochen Riebel.
Jochen Riebel, Staatsminister ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Kollegin Schmidt, ich bin ein bisschen enttäuscht: Ich
stehe zum ersten Mal vor dem Deutschen Bundestag und
habe erwartet, dass von Ihnen eine Rede gehalten wird,
die dem differenziert zu betrachtenden Thema auch gerecht werden wird.
({1})
Aber die Kollegin Schmidt hat versucht, eine Wahlkampfrede zu halten. Es war auch noch eine ganz
schlechte.
({2})
- Ich will Sie doch nicht belehren, Frau Kollegin. Ich selber bin bereit zu lernen und stehe hier als Lernender.
({3})
Ich will Ihnen einmal vorführen, dass ein Lernender
mit einem differenziert zu betrachtenden Thema auch differenziert umzugehen vermag.
({4})
Deswegen beginne ich mit der Aussage Ihrer Ministerin,
die gesagt hat: Bayern, Hessen, Baden-Württemberg profitieren vom Risikostrukturausgleich und wollen deswegen gegen ihn gerichtlich vorgehen. Diese Logik
({5})
ist einem kundigen Thebaner nicht nahe zu bringen.
({6})
Ich will zu Beginn ganz unmissverständlich feststellen:
Solidarität unter den Ländern sowie zwischen den Ländern und dem Bund ist für uns Hessen ein wichtiges Gut
und darin lassen wir uns von niemandem übertreffen.
({7})
Die Zielrichtung war doch offenkundig: Wenn hier der
Name eines Ministerpräsidenten fällt, der zugleich der
Kanzlerkandidat der CDU/CSU ist, dann ist die Absicht
erkannt. Man ist zwar nicht verstimmt; aber das Argument
wiegt anschließend umso leichter.
({8})
Ich will jetzt endlich zur Sache kommen.
({9})
Das ursprüngliche Ziel des Risikostrukturausgleiches war
der Ausgleich der finanziellen Auswirkungen unterschiedlicher Risikostrukturen der Krankenkassen, um
eine gerechte - man könnte auch sagen: gerechtere - Belastung der Versicherten zu erreichen und Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Kassen zu vermeiden - ein
unstreitiges und richtiges Ziel.
({10})
Allerdings stellt sich die Situation heute, Jahre später,
anders dar. Der Risikostrukturausgleich führt zu dem
abenteuerlichen Ergebnis, dass die Zahlerkassen zum Teil
höhere Beitragssätze haben als die Empfängerkassen.
({11})
Das dient dem beschriebenen Ziel, das ich für unstreitig
halte, nicht.
({12})
Der Risikostrukturausgleich hat sich von der ursprünglichen, sachgerechten und von keinem Insider bestrittenen
Zielsetzung zu einem gewaltigen bürokratischen Umverteilungssystem entwickelt, in dem mittlerweile Summen
bewegt werden - daran darf ich nur erinnern -, die diejenigen des Länderfinanzausgleiches deutlich überschreiten.
({13})
Im Kontext einer - erlauben Sie es mir doch zu sagen,
ohne dass Sie aufschreien - aus meiner Sicht verfehlten
und auch nicht zielgerichteten Gesundheitspolitik dieser
Bundesregierung stellt sich für viele Versicherte die Entwicklung in der Weise dar, dass sie sich einer stetig steigenden Beitragsbelastung bei gleichzeitig zunehmenden
Leistungskürzungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgesetzt sehen. Ziel einer Gesundheitspolitik und
einer Gesundheitsreform müsste es sein, vorhandene Reserven auszuschöpfen,
({14})
Ausgaben zu senken und damit das anerkannt richtige
System zu stabilisieren.
({15})
Der gegenwärtige Mechanismus des Risikostrukturausgleichs führt mit seinen Systemfehlern nicht nur zu der
objektiv absurden Konsequenz, dass die ausgabendeckenden Beitragssätze der günstigsten Ortskrankenkassen der Empfängerländer zum Teil erheblich unter dem
Beitragssatz von Ortskrankenkassen der Geberländer liegen, sondern auch dazu, dass der Bund seine Pflicht zum
Ausgleich - daran muss man erinnern - vernachlässigt
und auf die Länder abschiebt. Das sind gewaltige Umverteilungen von Geldströmen, die aus Sicht der Länder
- und zwar aller Länder; daran darf ich in aller Bescheidenheit erinnern - nicht hingenommen werden können.
Da die Länder und mit ihnen die dort ansässigen gesetzlichen Krankenkassen eine grundsätzliche Finanzautonomie haben, benötigt der Bund für die gesetzliche Anordnung von Finanztransfers zwischen diesen eine
besondere verfassungsrechtliche Ermächtigung. Dies
ist übrigens im Grundgesetz nicht vorgesehen. Art. 120
Abs. 1 des Grundgesetzes weist vielmehr als dauerhafte
Regel der Finanzverfassung dem Bund nur eine Zuschusspflicht in Bezug auf die gesetzlichen Krankenversicherungen zu. Aus meiner Sicht ist dies verfassungsrechtlich unumstritten.
Von dieser Zuschusspflicht befreit sich die Bundesregierung dadurch, dass sie den Transfer aus Mitteln der
Länderkassen organisiert. Schon dieser Sachverhalt an
sich ist für die Länder nicht hinnehmbar. Außergewöhnlich empörend ist es allerdings aus Sicht der Länder
Hessen, Baden-Württemberg und Bayern, dass die Bundesregierung sich erlaubt, den Vorwurf zu formulieren in diesem Zusammenhang hätte ich unterstellt, dass es die
Bundesgesundheitsministerin besser weiß; vielleicht ist
insoweit ein wie auch immer gearteter Fehler in ihr Redemanuskript geraten -, die Länder wollten sich aus ihrer
bundesstaatlichen Solidarität lösen, während in Wahrheit
die Bundesregierung von den Ländern verlangt, die
bundesgesetzlich verursachten Defizite von Sozialversicherungsleistungen mit eigenen Ländermitteln auszugleichen. Das entspricht nicht der tatsächlichen Verfassungslage; darauf ist hinzuweisen.
Durch den jetzt in Aussicht genommenen Risikostrukturausgleich wird die der Bundesregierung obliegende
Pflicht, den Ausgleich mithilfe von Haushaltsmitteln zu
schaffen, nicht nur ausschließlich auf die Gruppe der
Sozialversicherten verlagert, sondern auch der ursprünglich vorhandene, im Prinzip durchweg akzeptierte sachliche Differenzierungsgrund der Herstellung von Wettbewerbsgleichheit zunehmend aufgegeben.
Risikofaktoren wie die Höhe der beitragspflichtigen
Einnahmen, die Zahl der Familienversicherten, das Alter
und das Geschlecht der Versicherten sind aus unserer
Sicht gerade nicht dazu geeignet, Wettbewerbsgleichheit
herzustellen, weil sie für den Wettbewerb wesentliche
Faktoren, wie beispielsweise die Wirtschaftlichkeit der
Arbeit der Kassen oder das regionale Preis-, Lohn- und
Versorgungsniveau, überhaupt nicht einbeziehen bzw.
außen vorlassen.
Die hierbei bereits in der Vergangenheit entstandenen
Wettbewerbsverzerrungen werden durch das Gesetz zur
Reform des Risikostrukturausgleiches in der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht etwa gemildert, sondern weiter vertieft.
({16})
Dazu sage ich appellatorisch: Das kann eigentlich kein
Mitglied des Deutschen Bundestages so wollen.
Aufgrund der Berechnung des Beitragsbedarfes im
Bundesdurchschnitt werden die tatsächlichen Wettbewerbsbedingungen, unter denen die jeweilige Kasse
agiert, nicht erfasst. Der Risikostrukturausgleich ist bereits deshalb im Ansatz verfehlt. Er zielt eben nicht auf
eine tatsächliche Gleichheit der ökonomischen Wettbewerbsbedingungen, sondern lediglich auf eine rechnerische Gleichheit im Gesetz. Das ist entweder ein Denkfehler - das wäre aus meiner Sicht eine schlimme Sache oder politische Absicht. Das halte ich dann allerdings für
skandalös.
Das Ziel unseres Normenkontrollantrages ist es, die
Wettbewerbsverzerrungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu korrigieren. Wir wollen, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung faire Wettbewerbsbedingungen herrschen. Dies erfordert selbstverständlich und
ohne jede Frage einen Ausgleich der vorhandenen, von
der einzelnen Krankenkasse nicht zu beeinflussenden unterschiedlichen Risikostrukturen. Hierzu haben wir immer ausdrücklich unsere Bereitschaft erklärt.
({17})
Das ist der Wille der Länder.
Ich bitte, diese Argumente noch einmal zu wägen, weil
sie aus unserer Sicht gewichtiger sind als die, welche die
Frau Bundesgesundheitsministerin vorgetragen hat.
Herzlichen Dank.
({18})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Normenkontrollklage der Länder Bayern,
Baden-Württemberg und Hessen vor dem BVG gegen den
RSA soll vor allen Dingen die Rechtskreistrennung der
Ost- und Westkassen wieder einführen. Dieser Antrag der
Unionsländer zeigt, was der Kanzlerkandidat der Union
unter Chefsache Ost versteht. Für ihn bedeutet das EntsoStaatsminister Jochen Riebel ({0})
lidarisierung, der Aufbau neuer Mauern zwischen Ost und
West und in diesem Zusammenhang natürlich auch eine
Verschlechterung der Situation der ostdeutschen Wirtschaft, weil sich das auf die Beiträge auswirkt. Dabei wird
zudem die Frage der Lohnnebenkosten zu thematisieren
sein, was wir auch getan haben.
({1})
Fangen wir einmal von vorn an: Der Risikostrukturausgleich wurde 1992 mit den Stimmen derjenigen eingeführt, die jetzt dagegen klagen.
({2})
Der Risikostrukturausgleich ist ein zentraler Bestandteil
der Krankenversicherung geworden und gleicht die unterschiedlichen Bedingungen zwischen Ost und West aus.
Ich glaube, das ist die Grundlage für das, was jedenfalls
wir als regierungstragende Fraktion unter fairem Wettbewerb verstehen.
({3})
Durch die von uns eingeführte Aufhebung der Rechtskreistrennung wird der Ausgleich zwischen den Kassen
nunmehr bundeseinheitlich geregelt. Das ist fair und richtig. Dieser Schritt betrifft übrigens in elementarer Weise
auch das Zusammenwachsen der Menschen in Ost und
West.
Wenn man sich die zu erwartenden Transfers im Jahr
2002 ansieht, wird deutlich, dass es eben nicht nur einen
Ausgleich von West nach Ost gibt. Nein, von der Neugestaltung durch den momentanen Wettbewerb um gesunde,
junge und zahlungskräftige Mitglieder profitieren auch
- das ist hier gesagt worden - Kassen im Süden und Norden, weil die Kassen ansonsten nicht mithalten können.
Dazu gehört zum Beispiel die AOK Bayern, die allein im
Jahr 2000 circa 1 Milliarde Euro aus dem RSA bekommen
hat.
({4})
Natürlich hilft diese Neuregelung dem Osten. 1998 betrug der Schuldenberg der Ostkassen 800 Millionen Euro.
Das ist ein Betrag - das wissen Sie ganz genau -, den
diese Kassen aus eigener Kraft niemals hätten zurückzahlen können. Die Auswirkungen der Aufhebung des Ausgleichs sind im Haus bekannt. Ich möchte exemplarisch
nur die Schuldenfalle aufgrund der als Folge daraus steigenden Beiträge nennen. Die Frage der Lohnnebenkosten
- das sage ich noch einmal - ist auch eine Frage der Standortfaktoren in Ostdeutschland. Eigentlich müssten das die
unionsregierten Länder in Ost wie in West wissen.
Durch die Einführung des gesamtdeutschen RSA
konnte die Verschuldung - ich hatte den Betrag von
800 Millionen Euro genannt - auf 200 Millionen Euro gesenkt werden. Es sollte nicht vergessen werden, dass es
auch in den Ostländern so genannte Zahlerkassen gibt. Sie
haben jedoch durch die insgesamt niedrigeren Einkommen so geringe Einnahmen, dass sie dies innerhalb der
neuen Bundesländer nicht ausgleichen können. Ich glaube
nicht, dass das wünschenswert ist.
Darüber hinaus vergessen wir bitte auch nicht, dass es
eine Reihe von Menschen gab, die Kassenbeiträge im
Westen gezahlt haben, aber im Osten Leistungen bekamen. Wir haben deswegen das Wohnortprinzip eingeführt. Das ist ein weiterer Baustein beim Ausgleich zwischen Ost und West; aber scheinbar ist das dem
Kandidaten der Union und den Ministerpräsidenten von
Hessen und Baden-Württemberg ein Dorn im Auge. Das
verstehe ich nicht.
Sie von der Union sollten, wenn Sie es mit dem Zusammenwachsen von Ost und West wirklich ernst meinen
- dabei geht es nicht allein um Solidarität, sondern um
gleiche Wettbewerbsbedingungen und ökonomische Bedingungen für die Kassen -, Ihrem für die Bundestagswahl aufgestellten Spitzenkandidaten den Tipp geben,
diese Klage zurückzuziehen. Ihre Politik ist - das ist nur
ein Beispiel für viele andere - eine Politik gegen Ostdeutschland.
({5})
Damit werden Sie nicht durchkommen. Ziehen Sie Ihre
Klage zurück!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! 1992 haben wir unter
der damaligen Regierung von CDU/CSU und FDP den
Risikostrukturausgleich gemeinsam mit Ihnen eingeführt.
({0})
Es gab überhaupt keinen Zweifel: Wir wussten, dass wir
etwas machen mussten, um den Kassen, die im Wettbewerb Nachteile hatten, helfen zu können. Wir wollten den
Wettbewerb. Das war der entscheidende Punkt, warum
wir damals den Risikostrukturausgleich eingeführt haben.
Wir haben uns auf vier Kriterien festgelegt; Sie alle
wissen, dass intensiv diskutiert wurde. Ich denke, dass die
Kriterien - Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen, mitversicherte Familienangehörige, Alter und Geschlecht -,
die man ausgewählt hat, gut waren.
({1})
Die Entwicklung ist aber weitergegangen. Ich erinnere
daran, dass wir im Rahmen der Wiedervereinigung gesagt
haben, dass wir auch die Einnahmesituation in den neuen
Bundesländern berücksichtigen und einen Risikostrukturausgleich darauf ausrichten müssen. Auch das ist ein
wichtiger Faktor. Dabei gibt es für mich keine Diskussion.
Ihr Risikostrukturausgleich hat aber mittlerweile ein
Volumen von über 25 Milliarden, wobei die Tendenz steigend ist.
({2})
Er ist erheblich größer als der Länderfinanzausgleich. Von
daher muss man - das wissen Sie eigentlich auch - sehr
ernsthaft darüber nachdenken, ob man den Risikostrukturausgleich mit dieser wachsenden Tendenz so weiterführen
kann
({3})
oder wirklich ernsthafte Bemühungen für eine Reform
unternimmt.
({4})
Was tun Sie, meine Damen und Herren? Sie belasten
den Risikostrukturausgleich durch das letzte Gesetz noch
stärker.
({5})
Sie sprechen - niemand hat etwas dagegen - von DiseaseManagement-Programmen. Die Kopplung zwischen dem
Disease Management und dem Risikostrukturausgleich
halte ich persönlich aber für falsch und ich denke, viele
andere auch.
({6})
Ich sage Ihnen heute voraus: Diese Konzeption geht daneben. Sie werden es aufgrund der Organisation, der Verwaltung und der Überwachung nicht schaffen. Es stört
mich, dass das Bundesversicherungsamt aufgrund Ihrer
Pläne sehr viele Stellen schaffen muss. Auch jede einzelne
Krankenkasse und die Länder müssen dies.
Der Risikostrukturausgleich wird fast undurchschaubar. Wenn Sie ehrlich sind - das wissen Sie alle -,
({7})
dann geben Sie zu, dass es in der Bundesrepublik
Deutschland nur wenige Experten gibt, die den Risikostrukturausgleich wirklich noch durchschauen, analysieren und klar formulieren können.
({8})
Meine Damen und Herren, das hat keine Zukunft.
Ich plädiere für die solidarische Finanzierung, wie wir
sie gewollt haben. Sie dürfen durch den Risikostrukturausgleich nicht nur die Krankenkassen berücksichtigen.
Damit würden Sie einen falschen Weg gehen. Wir haben
vor einigen Wochen einen Antrag eingebracht, damit ein
Teil des Risikostrukturausgleichs auch zur Stabilisierung
der Lage der Ärzte und der Leistungserbringer genutzt
wird.
({9})
- Ja, in den neuen Ländern. - Damit lagen wir völlig richtig.
({10})
- Frau Schmidt-Zadel, Sie erkennen heute, dass viele Praxen nicht mehr besetzt werden können.
({11})
- Oh ja, das hat viel damit zu tun, weil die Honorierung in
den neuen Bundesländern zusammengebrochen ist. Die
Bürger werden erkennen, dass Sie mit Ihrer Politik, bezogen auf den Risikostrukturausgleich, nicht zielgerichtet
arbeiten,
({12})
sondern dass Sie freiberufliche Praxen vor die Hunde
gehen lassen und damit die medizinische Versorgung in
einzelnen Regionen wie Sachsen-Anhalt, MecklenburgVorpommern und Brandenburg ganz besonders benachteiligen.
({13})
Dies werden wir auch im Rahmen des Risikostrukturausgleichs anprangern.
({14})
Bevor wir in der De-
batte fortfahren, möchte ich Ihnen das von den Schrift-
führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes
bekanntgeben. Abgegebene Stimmen 586. Zwei Stimmen
waren ungültig. Mit Ja haben gestimmt 494. Mit Nein ha-
ben gestimmt 51 Abgeordnete. 39 Kolleginnen und Kol-
legen haben sich enthalten.1) Der Abgeordnete Norbert
Hauser hat damit das erforderliche Ergebnis, nämlich die
absolute Mehrheit von mindestens 334 Stimmen, erreicht.
Ich spreche unserem Kollegen Norbert Hauser im Namen des ganzen Hauses die Glückwünsche zu seiner Wahl
durch den Deutschen Bundestag aus.
({0})
Leider ist Herr Hauser nicht mehr da.
Ich werde das Ergebnis der Wahl dem Bundeskanzler
und dem Präsidenten des Bundesrates umgehend mitteilen.
1) Liste der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 3.
Des Weiteren möchte ich bekanntgeben, dass Staatsminister Jochen Riebel den Plenarsaal verlassen muss,
weil zeitgleich die Konferenz der Europaministerinnen
und Europaminister in Berlin tagt. Sie können ein Stück
der Rede der Kollegin Dr. Ruth Fuchs, der ich hiermit das
Wort erteile, allerdings noch mitbekommen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatsminister Riebel, so unerfahren
können Sie gar nicht sein, dass Sie nicht wissen, dass in diesem Hohen Hause schon lange Wahlkampf in den Aktuellen Stunden und Debatten gemacht wird. Ich muss Ihnen
ehrlich sagen: Ich finde das auch gar nicht schlimm, weil
Wahlkampf auch ein Stück Aufklärung mit sich bringt.
({0})
Die Politiker sollen die Menschen über das aufklären, was
sie sagen, und vor allem über das, was sie tun.
({1})
So gesehen, Frau Ministerin, war es sehr interessant,
von Ihnen die Haltung der Bundesregierung zu der angesprochenen Frage zu erfahren. Ich hoffe, Sie nehmen es
mir nicht übel, Frau Ministerin:
({2})
Für mich und für viele gibt es ein wesentlich größeres öffentliches Interesse an der Beantwortung folgender Fragen: Erstens. Was ist das Ziel des Normenkontrollantrages, der - wie schon gesagt worden ist - von Bayern,
Baden-Württemberg und Hessen - sozusagen in Solidarität der Starken untereinander - eingebracht worden ist?
Zweitens. Welche Folgen hätte ein Erfolg dieser Klage
für die medizinische Versorgung der Menschen in den
neuen Bundesländern? Vor allen Dingen: Welche Auswirkungen hätte das auf die ohnehin nicht als ideal zu bewertenden Rahmenbedingungen eines sich selbst tragenden
- ich betone: sich selbst tragenden - wirtschaftlichen Aufschwungs im Osten?
Eine weitere Frage steht seit letztem Montag mehr
denn je im Interesse der Öffentlichkeit; das haben Sie sich
selbst zuzuschreiben. Es stellt sich die Frage nach der
Glaubwürdigkeit von Aussagen des Kanzlerkandidaten
Edmund Stoiber.
({3})
In einem Bericht der „ARD“ war von ihm zu hören:
Es ist auch eine nationale Verpflichtung, dass es dem
Osten besser geht.
({4})
Recht hat er. Das steht auch seit 12 Jahren im Einigungsvertrag. Das ist prima und dazu können wir alle klatschen.
Wer aber dann gleichzeitig in der Funktion eines Ministerpräsidenten gegen den RSA klagt, macht genau das Gegenteil.
({5})
Er hofft auf Rechtsbeistand für den Ausstieg aus der Solidarität von West für Ost.
({6})
Wer so redet - mit welcher Begründung auch immer -,
zeigt, dass ihm die Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen zwischen Ost und West nur in Sonntagsreden oder im Wahlkampf etwas bedeutet, nicht aber im politischen Alltag.
Nun zum Ziel der Klage: Das Ziel - so steht es in der
Begründung - besteht darin, die gesetzlichen Regelungen
über den RSA in der gesetzlichen Krankenversicherung,
insbesondere die Regelung über die Aufhebung der
Rechtskreistrennung Ost-West, für verfassungswidrig zu
erklären. Wer das fordert, muss auch deutlich sagen, dass
er damit bewusst und gewollt die Solidarität der Kassen
West mit den Kassen Ost aufheben will. Wenn das nicht
so sein soll, hätten Sie das in der Klage anders formulieren müssen. Er muss auch sagen, dass dies in einer Zeit
geschehen soll, in der jeder verantwortungsbewusste Politiker weiß, dass die Krankenkassen in den neuen Bundesländern immer noch auf diese Solidarität angewiesen
sind.
Die bisher geleistete Solidarität der Versicherten aus
den alten Bundesländern ist hoch zu würdigen. Das
möchte ich hier als so genannter Ossi besonders hervorheben.
({7})
Ich weiß aber auch, dass sie nicht grundlos eingefordert
und vor allem nicht überfordert werden darf. Das ist auch
richtig. Ich weiß aber, dass eine Überforderung nicht eintreten kann; denn das garantiert eine Klausel in dem Gesetz zum RSA und die kann man nicht einfach wegdiskutieren. Wir können auch nicht das Bemühen aller
ostdeutschen Länder - ich betone: aller - wegdiskutieren,
selbst Formen für einen zusätzlichen Finanzausgleich untereinander zu finden. Das müsste auch jedem bekannt
sein. Es darf nicht nach dem Grundsatz gehen: Her mit der
Kohle und wir verbraten sie.
Gegenwärtig - das stimmt so und darüber muss man
sich klar sein - ist die Einnahmenseite der Ostkassen nicht
so, dass die notwendige gesundheitliche Versorgung aus
eigener Kraft zu leisten ist.
({8})
Die Ursachen dafür - sie sind nicht selbst verschuldet kennen wir! Ich nenne nur einige: ein sehr großer Anteil
von Rentnern, eine sehr hohe Arbeitslosenquote, viel
mehr Härtefälle und - machen wir uns doch nichts vor die Stagnation der Wirtschaft im Osten sowie vor allem
die immer weiter zunehmende Abwanderung gerade junger Menschen in die alten Bundesländer, um Arbeit zu finden, die ihr Übriges tut.
({9})
Meine Damen und Herren, bei Wegfall des Finanzausgleichs bleiben den Ostkassen wirklich nur zwei Wege ofVizepräsidentin Petra Bläss
fen - den dritten Weg will ich gar nicht erst andeuten,
denn der wäre furchtbar -: Entweder erhöhen sie rapide
die Beitragssätze auf 16, 17, 18 Prozent oder mehr - das
ist keine Phantasie, sondern das sind Zahlen,
({10})
die errechnet worden sind - oder sie nehmen, was sie eigentlich laut Gesetz gar nicht dürfen, eine drastische Erhöhung ihrer Verschuldung in Kauf. Welche Folgen das
für die Menschen und auch für den wirtschaftlichen Aufschwung hätte, ist schon von mehreren Kolleginnen und
Kollegen benannt worden. Meine Redezeit ist gleich zu
Ende, ich will das deshalb nicht wiederholen. Aber ob es
dann dem Osten oder - bitte vergessen wir das nicht, denn
da gibt es einen Zusammenhang -
Kollegin Fuchs, Sie
haben das Stichwort schon gegeben. Ich muss ein bisschen strenger sein, weil es eine Aktuelle Stunde ist.
Liebe Frau Präsidentin, es ist
der letzte Satz. Ich fange noch einmal an, weil er unterbrochen wurde.
Sie haben das große
Glück, dass die anderen Kolleginnen und Kollegen ihre
Redezeit nicht voll ausgeschöpft haben.
Ob es über kurz oder lang dem
Osten und vor allen Dingen - vergessen Sie das nicht allen Menschen von Rügen bis zum Bayerischen Wald
wirklich besser gehen wird, werte Kolleginnen und Kollegen der CSU/CDU, diese Frage müssen Sie den Wählerinnen und Wählern und Ihrem Kanzlerkandidaten schon
selbst beantworten.
({0})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der
Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nach
den Zielen gefragt worden. Ich habe hier ein Zitat von Ministerpräsident Stoiber aus einer Sendung des Bayerischen Rundfunks aus dem Jahr 1997.
({0})
Damals ging es noch gar nicht um uns, sondern es ging,
Frau Bergmann-Pohl, um den Streit mit Ihrem damaligen
Chef, Herrn Seehofer. Damals hat der Ministerpräsident
zum Thema Risikostrukturausgleich - das war ja damals
ein heißer Streitpunkt bei Ihnen - Folgendes gesagt:
Zunächst muss ich einmal wissen, ob die neuen Länder in der Frage der Gesundheitspolitik alles tun ... ,
bevor wir selber zur Kasse gebeten werden.
({1})
Ich möchte das zunächst einmal regionalisieren. Das
ist doch ein Stück Wettbewerb zwischen den Ländern.
({2})
Als Erstes stelle ich fest: Das Prinzip „Raus aus einem
gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich“, den Sie damals ja gar nicht hingekriegt haben, den wir aber seit 1999
richtigerweise aufgebaut haben, hat eine lange Tradition.
Das ist Politik aus Bayern, aus München, die der Ministerpräsident immer schon verfochten hat.
({3})
Zweite Bemerkung: Wir sollten uns - ich nehme den
Gedanken von Frau Fuchs gern auf - auch noch einmal
über die Konsequenzen unterhalten. Die Summe, die für
2002 in dem gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich als
Transfer für die neuen Bundesländer zu erwarten sein
wird, entspricht nach allen Zahlen, die in der Kalkulation
enthalten sind, einem Volumen von rund 2,6 Milliarden Euro, die die ostdeutschen gesetzlichen Krankenkassen dringend brauchen. Diese Mittel waren auch Voraussetzung dafür, dass entschuldet werden konnte und dass
die überhöhten Versicherungsbeiträge in Ostdeutschland
- 1998 waren die Beiträge noch wesentlich höher als in
den alten Bundesländern - endlich an ein gesamtdeutsches Niveau angeglichen werden konnten.
({4})
Das ist die Situation.
Wir haben bei Wegfallen dieses Transfers heute nicht
mehr die Möglichkeit, die Neuverschuldung zu erhöhen.
Die Konsequenz ist völlig klar: Die 2,6 Milliarden Euro
müssten von den Beitragszahlern hereingeholt werden,
die eine Hälfte von den Arbeitnehmern, die andere Hälfte
von den Arbeitgebern. Das ist ein ganz einfaches Rechenbeispiel, wenn man die spezifischen wirtschaftlichen Einkommensverhältnisse und die ökonomische Situation in
den neuen Bundesländern berücksichtigt. Diese Situation
hat auch Konsequenzen für die Wettbewerbssituation an
den Standorten des Ostens.
Meine Damen und Herren, da können wir lange
Sprüche klopfen. Wir haben gegenwärtig ein Beitragsvolumen von 13,5 bis 14,9 Prozent in den neuen Bundesländern. Im Extremfall kann das ein Ansteigen auf einen
Beitragssatz von 20 Prozent in den neuen Bundesländern
bedeuten.
({5})
- Informieren Sie sich einmal bei Ihren Kollegen in den
Ländern. Dann hören Sie, was die Konsequenzen sind. Es
gibt in der gesetzlichen Krankenversicherung in Ostdeutschland einen Anstieg von 30 bis 40 Prozent.
({6})
Was das für die Wettbewerbsfähigkeit bedeutet, ist völlig klar. Das ist ein glatter Schlag gegen die Wettbewerbssituation der ostdeutschen Regionen und Unternehmen.
({7})
Das hat eine lange Tradition, nicht nur wegen des Spruches „Das ist die Botschaft, die wir aus Bayern schon
ewig kennen: Im Zweifelsfalle gegen den Osten“.
({8})
Das ist die Botschaft und das steckt in der Klage drin.
({9})
Seit ich diese Woche Montag von der Pressekonferenz
mit Herrn Stoiber, Herrn Nooke - Herr Nooke hat ja leider den Saal verlassen - und den beiden anderen Büchsenspannern
({10})
gehört und gelesen habe, dass es bei dieser Klage bleibt,
weiß ich natürlich auch, was die Ankündigungen bedeuten. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war zu lesen, Stoiber fordere für die ostdeutschen Länder die Möglichkeit zu Alleingängen - das war die programmatische
Ansage -, ein Mittelstandsprogramm und Sonderrechte
Ost. Jetzt weiß ich, wie die Sonderrechte Ost aussehen:
Made in München und in Bayern.
({11})
Ich empfehle Ihnen in aller Deutlichkeit jenseits des
Parteibuchs: Führen Sie Gespräche mit den Kollegen von
der CDU in Sachsen und Thüringen und fragen Sie sie,
wie sie diese Klage finden.
({12})
Ich bin gespannt, wie Sie sich verhalten, wenn sich die
ostdeutschen Länder in einer Erwiderung gegen diesen
Schlag gegen Ostdeutschland, der aus München kommt,
gemeinsam positionieren.
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile dem Kollegen Volker Kauder von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Gesundheitsministerin, ich bin einigermaßen erstaunt darüber,
({0})
dass Sie sich ans Rednerpult stellen und versuchen, der
deutschen Öffentlichkeit klar zu machen, dass die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Hessen und
Bayern versuchen, sich aus der Solidarität davonzustehlen.
({1})
Genau das Gegenteil ist der Fall.
({2})
Gerade wir in Baden-Württemberg haben im Zuge der
Wende und der Einheit für Deutschland gezeigt, was Solidarität bedeutet. Wir haben uns immer dafür eingesetzt,
dass es diese Solidarität auch zwischen West und Ost gibt,
und haben bei unseren Diskussionen um den Länderfinanzausgleich nie die Solidarität aufgekündigt. Viel
mehr geht es immer um die Frage, was gerecht ist und was
nicht.
({3})
Das hätten Sie eigentlich so deutlich sagen müssen, statt
so zu tun, als ob sich jemand aus der Solidarität davonschleichen will.
({4})
Es ist nicht gerecht, wenn die Beiträge der Krankenkassen
im Westen steigen und der im Osten sinken, weil aus dem
Westen - aus Baden-Württemberg und anderen Ländern - große Beiträge in dessen Kassen fließen. Wir - die
Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern und
Hessen - haben dem Risikostrukturausgleich zugestimmt,
als er eingeführt worden ist. Wir haben danach der ersten
Stufe des Ost-West-Ausgleichs ebenfalls zugestimmt.
Herr Schwanitz, wenn Sie schon zitieren, dann müssen
Sie das auch richtig tun. Edmund Stoiber hat nämlich gesagt, dass er den Risikostrukturausgleich im Grundsatz
für richtig halte; es gebe aber eine Überkompensation.
({5})
Um genau diese Überkompensation geht es. Ich frage die
Vertreterinnen und Vertreter der Regierungskoalition, wie
sie eigentlich den Menschen im Lande klar machen wollen, dass es gerecht ist, dass die einen ihre Beiträge auf
Kosten der anderen senken können. Dies kann nicht das
richtige Ergebnis sein. Das können Sie im Grunde genommen auch gar nicht wollen. Der RisikostrukturausStaatsminister Rolf Schwanitz
gleich hat inzwischen eine Summe angenommen, die
größer als die des Länderfinanzausgleichs insgesamt ist.
Frau Kollegin Schmidt, gerade als Vertreterin dieser
Bundesregierung wäre ich mit Aussagen, was das Bundesverfassungsgericht für richtig oder falsch halten wird,
ausgesprochen vorsichtig. Es könnte Ihnen gehen wie
Ihrem Kollegen Scharping, dass Sie nämlich vor dem
Bundesverfassungsgericht auf einmal zu einer ganz anderen Einsicht kommen müssten.
({6})
Im Übrigen halte ich es auch für ausgesprochen merkwürdig, wenn Vertreter der Bundesregierung jemanden,
der vor dem Bundesverfassungsgericht eine Sachfrage
klären lassen will, hier gleich als jemanden hinstellen
will, der in höchstem Maße Unrecht tut.
({7})
Aber, Frau Kollegin Schmidt, wenn ich daran denke, wie
Sie mit dem Bundesverfassungsgericht umgehen, wundert mich das schon gar nicht mehr. Das ist der bekannte
Weg: Wer vor das Bundesverfassungsgericht geht, ist
schon ein schlechter Mensch. Wie Sie mit dem Bundesverfassungsgericht umgehen, hat Herr Schily inzwischen
gezeigt. Es ist unerträglich, was Sie hier vorführen und
was für eine Politik Sie in diesem Land machen.
({8})
Herr Kollege Schwanitz, die Situation der Krankenkassen in den neuen Ländern wäre viel besser, wenn Sie
Ihren Job richtig machen würden. Daran liegt es.
({9})
Gestern Abend hat Professor Donsbach in einer Diskussion gesagt, was mit Ihrer Regierung los ist. Er sagte, Herr
Schröder möge zwar sympathisch sein, er sei aber ein
sympathischer Verlierer. Das gilt für Sie alle: Sie sind Verlierer.
({10})
- Herr Donsbach hat gesagt, Herr Schröder sei ein sympathischer Versager. - Sie versagen in der Politik in den
neuen Ländern zu 100 Prozent. Darin liegt das eigentliche
Problem.
({11})
Wenn wir eine bessere Situation bei der Arbeitslosigkeit
und eine bessere Situation in der Wirtschaft hätten, sodass
die Menschen nicht die neuen Länder verlassen würden,
dann hätten wir auch diese Probleme nicht.
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen, Frau Schmidt
- das haben Sie ganz verschwiegen -: Woher kommt denn
ein Teil der Mindereinnahmen in den Kassen der neuen
Länder? Sie haben doch die Kassen dort in eine schlechtere Situation gebracht, indem Sie Beiträge von den Arbeitslosenhilfebeziehern gekürzt haben, wodurch weniger
Beiträge in die Kasse fließen.
({12})
Wir haben leider Gottes aufgrund der miserablen Politik
dieser Bundesregierung mehr Arbeitslose in den neuen
Ländern. Das muss alles geändert werden.
({13})
Von Vertretern dieser Bundesregierung lassen wir aus
Baden-Württemberg uns, was die Solidarität anbelangt,
überhaupt nichts sagen.
({14})
Herr Schwanitz, erinnern Sie sich einmal daran, was damals Herr Schröder - zu dem Zeitpunkt noch nicht Bundeskanzler, sondern noch Ministerpräsident - über die
neuen Länder gesagt hat: „Wir können sie doch nicht nach
Polen abtreten“, lautete einer seiner Sprüche.
Herr Kollege Kauder,
ich muss Sie jetzt an die Redezeit erinnern.
Das war seine Solidarität.
Da kann ich nur sagen: Sie haben allen Grund, erst einmal Solidarität zu beweisen. Machen Sie Ihren Job richtig. Sie haben noch sechs Monate Zeit. Dann wird es in
den neuen Ländern auch besser aussehen.
({0})
Jetzt spricht für die
SPD-Fraktion die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!
({0})
- Ich muss bei Ihnen schon lange Schmerzensgeld beantragen. Das geht aber von meiner Redezeit ab.
Herr Kauder, was mit Ihrer Regierung los war, das haben Ihnen die Wählerinnen und Wähler 1998 gezeigt. Sie
werden es Ihnen in diesem Jahr wieder zeigen. Sie werden weiterhin in der Opposition bleiben. Wenn wir Ihre
Rede, Herr Kauder, verschicken - das werden wir tun -,
dann werden auch die Bürgerinnen und Bürger wissen,
wes Geistes Kind Sie sind und was für eine Politik Sie in
diesem Hause vertreten.
({1})
Es ist schon verwunderlich: Da möchte der Ministerpräsident eines Ihrer Länder am 22. September Kanzler
für ganz Deutschland werden. Sein derzeitiges Handeln
- es sind schon viele darauf eingegangen - zeigt aber sein
wahres Gesicht. Zurzeit kämpft er ganz energisch für die
Spaltung unserer Gesellschaft.
({2})
Statt die Sozialmauern zwischen den beiden Teilen
Deutschlands schneller niederzureißen, wie Sie es immer
angekündigt haben, sollen neue Sozialmauern aufgebaut
werden. Das ist die Wahrheit.
({3})
Statt Brücken zwischen wohlhabenden und weniger
wohlhabenden Regionen zu bauen, baut er neue Mauern
auf.
({4})
- Meine Damen und Herren von der Opposition, regen Sie
sich doch nicht so auf! Ich werde noch viel Schlimmeres
sagen, zum Beispiel: Dieser Kandidat liebt den Osten
nicht.
({5})
Worum geht es im Einzelnen? Ich möchte versuchen,
die Diskussion zu versachlichen.
({6})
Die Landesregierungen von Bayern, Baden-Württemberg
und Hessen haben beim Bundesverfassungsgericht eine
Normenkontrollklage gegen den Risikostrukturausgleich
eingereicht. Die Klage richtet sich - hören Sie gut zu; ich
zitiere aus der Klageschrift - „gegen die gesamte Regelung des RSA mit länderübergreifender Wirkung in der
gesetzlichen Krankenversicherung durch zwingendes
Bundesgesetz“ sowie „gegen seine Ausgestaltung, die gezielt Transfers von den Krankenkassen des alten Bundesgebiets zu denen des Beitrittsgebiets hervorruft“. Das ist
der Inhalt der Klage.
({7})
Hier geht es also nicht nur um die Klärung verfassungsrechtlicher Belange der Bund-Länder-Beziehungen und
auch nicht nur um die Interessen der einzelnen Kassen
und Regionen.
({8})
Diese Klage ist vielmehr ein Angriff
({9})
auf ein Herzstück unseres Sozialstaates im Allgemeinen
sowie auf die solidarische und soziale Krankenversicherung im Besonderen. Das ist der Punkt.
({10})
Ich möchte Ihnen in Erinnerung rufen, was die Regelungen des RSA konkret beinhalten. Beim RSA geht es
um Gerechtigkeit, um die gerechte Verteilung der Mitgliedsbeiträge zwischen den einzelnen Krankenkassen
und indirekt auch zwischen den Regionen im Rahmen der
gesetzlichen Krankenversicherung.
({11})
Der RSA verfolgt aber auch andere Ziele, zum Beispiel
die Schaffung vergleichbarer Wettbewerbschancen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung und den Ausgleich unterschiedlicher, durch die Krankenkassen nicht
zu verantwortender Risikostrukturen.
({12})
Es geht also um eine soziale Krankenversicherung, in
der Solidarität und Wettbewerb miteinander kombiniert
werden sollen und müssen. Wer wie die Bundesländer
Bayern, Baden-Württemberg und Hessen meint - jetzt
kommt die Antwort auf Ihre Frage, die Sie dazwischengerufen haben -, die GKV sei eine Einbahnstraße, in
der man immer die Vorfahrt habe, und der Sozialstaat sei
nur eine Einrichtung zum eigenen Vorteil,
({13})
der sollte das Wort Solidarität niemals in den Mund nehmen,
({14})
der sollte auch nicht von sozialer Marktwirtschaft oder
chancengleichem Wettbewerb reden. Eine soziale Spaltung - das möchte ich ausdrücklich sagen - darf es nicht geben. Eine solche Spaltung werden wir zu verhindern wissen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen keinen Bruch der Gesellschaft. Wir wollen keine
neuen Mauern zwischen Ost und West. Wir wollen aber
auch keine neuen Mauern zwischen Nord und Süd. Wir
wollen keine neuen Mauern zwischen armen und reichen
Menschen innerhalb unserer Gesellschaft. Wir wollen
keine Krankenkassen für gut und für schlecht verdienende
Menschen. Wir wollen keine Spaltung der Generationen
innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung.
({15})
Wir werden sicherstellen, dass die hochwertige medizinische Behandlung und Versorgung in Deutschland
({16})
für alle Bevölkerungsgruppen erhalten bleibt. Nehmen
Sie das bitte zur Kenntnis.
Danke.
({17})
Der nächste Redner ist
der Kollege Ulf Fink für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Frau Schmidt-Zadel, Sie
hätten ja die Gelegenheit gehabt, etwas für die Gesundheitsversorgung im Osten Deutschlands zu tun und sie zu
verbessern.
({0})
Wir haben Ihnen im Vermittlungsausschuss dargelegt,
dass die ambulante ärztliche Versorgung im Osten
Deutschlands auf das Schwerste gefährdet ist. In Guben
und in vielen anderen Städten Ostdeutschlands können die
Arztstellen nicht mehr besetzt werden, weil die ärztlichen
Leistungen im Osten Deutschlands ausgesprochen
mickrig vergütet werden.
({1})
Wir haben Sie aufgefordert, in zwei Stufen die Vergütungen für die ärztlichen Leistungen in Ost und West anzugleichen. Wer hat das abgelehnt? Sie haben das abgelehnt.
Hier hätten Sie etwas tun können.
({2})
Sie haben es versäumt, dort etwas für die Menschen im
Osten Deutschlands zu tun, wo es sie interessiert.
({3})
Wie wollen Sie es rechtfertigen, dass die Ärzte, die in der
ambulanten Versorgung im Osten Deutschlands arbeiten,
weniger als 80 Prozent dessen verdienen, was ihre Kollegen im Westen Deutschlands bekommen, obwohl sie viel
mehr arbeiten müssen, weil die Menschen im Osten
Deutschlands kranker sind? Hier wären Sie gefordert gewesen. Aber Sie haben nichts getan. Sie lassen das einfach
zu. Trotzdem behaupten Sie, Sie täten etwas für den
Osten.
({4})
Ich habe schon der Zeitung entnommen, was diese Aktuelle Stunde soll.
({5})
Sie soll den Kanzlerkandidaten der Union irgendwie in
die Ecke drücken und zeigen, er tue nur etwas für den
Westen und nicht für den Osten. Meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, dieser Versuch ist
kläglich misslungen.
({6})
Die Argumente sind eindeutig. Klar ist doch: Wir haben den Risikostrukturausgleich in unserer Regierungszeit überhaupt erst eingeführt.
({7})
Dass Kassen miteinander im Wettbewerb stehen, haben
wir durchgesetzt. Dass dann ein Risikostrukturausgleich
vorgenommen werden muss, ist klar. Auch das haben wir
durchgesetzt. Wir waren es, die 1998 die Ausweitung dieses Risikostrukturausgleichs zugunsten des Ostens durchgesetzt haben.
({8})
Uns vorzuwerfen, dass wir kein Verständnis dafür haben,
ist wirklich absurd.
Dann ist etwas passiert, was schlecht war. Als Sie 1999
die Ausweitung des Risikostrukturausgleichs in die Debatte gebracht haben, haben Sie zuerst versucht, das mit
dem damaligen Gesundheitsreformgesetz zu koppeln, mit
dem Sie die Budgetierung wieder eingeführt haben. Auf
diese Art und Weise haben Sie versucht, die Stimmen der
Ostländer zu erpressen. Das war der erste Versuch. Er ist
misslungen.
({9})
Anschließend haben Sie im Vermittlungsausschuss
enorm aufs Tempo gedrückt. Wir wollten die weitere Ausweitung, aber wir wussten, dass die Sache problematisch
ist, dass dabei zu leicht eine Überkompensierung herauskommen kann.
({10})
Damals hat Bernhard Vogel, der thüringische Ministerpräsident, gesagt: Wir haben uns im Vermittlungsausschuss lange dafür eingesetzt, noch etwas Zeit zu bekommen, um über die Argumente Baden-Württembergs
diskutieren zu können. Aber Sie haben das nicht zugelassen.
Sie haben es also letztlich zu verantworten, dass wir
uns damals nicht haben einigen können, was die Sache
von allen Seiten niet- und nagelfest gemacht hätte und
was auch im Interesse des Ostens gewesen wäre. Sie haben es so gelassen mit der Konsequenz, dass Sie sich jetzt
vor dem Bundesverfassungsgericht damit auseinander
setzen müssen.
({11})
Sie haben versucht, eine Politik zu betreiben, die die
Leute in die Ecke drückt, und jetzt besteht diese Situation.
({12})
Es ist doch völlig klar, dass wir am Risikostrukturausgleich interessiert sind.
({13})
Ich bin Brandenburger Abgeordneter. Vor allem aber sind
wir daran interessiert, dass die Regelung auch Bestand
hat, und deshalb darf es nicht zu einer Überkompensierung kommen.
({14})
Wenn man Solidarität will - wir wollen Solidarität -,
({15})
dann muss die Sache aber auch wirklich gerecht sein.
Wenn es tatsächlich dazu kommt, dass auf der einen Seite
bei AOKen im Westen die Beitragssätze massiv gesteigert
werden müssen, auf der anderen Seite beispielsweise
Sachsen in den Genuss von Mitteln kommt, aufgrund derer die Beitragssätze unter das Niveau derjenigen von
Westkassen gesenkt werden können, ist die Sache problematisch; das müssen doch auch Sie erkennen. Das hätten
Sie vermeiden können, wenn Sie damals nicht diesen unangemessenen Zeitdruck verursacht hätten.
Es wäre wichtiger, deutlich zu machen, was man konkret für die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung im Osten tun kann,
({16})
und endlich mit der verfehlten Politik aufzuhören, West
und Ost gegeneinander auszuspielen.
({17})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Götz-Peter Lohmann.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte gern erst noch die Argumente meines hoch
geschätzten Kollegen Zöller gehört, aber die Reihenfolge
ist nun einmal festgelegt.
({0})
Ich glaube allerdings nicht, dass ich meine Argumente
dann hätte ändern müssen.
In einem Punkt muss ich Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Opposition, aber zustimmen: Der RSAfunktioniert jetzt noch nicht optimal.
({1})
Wir müssen die Ausgleichsmechanismen mit Sicherheit
Zug um Zug verbessern,
({2})
aber nicht so, wie Sie das mithilfe Ihrer Klage - der Text
wurde zum Teil zitiert - zu erreichen beabsichtigen. Ich
möchte auf einen Vorschlag aus Mecklenburg-Vorpommern, dem Land, aus dem ich komme, hinweisen. Wir fordern einen kassenartenspezifischen, obligatorischen Finanzausgleich innerhalb der Regionalkassen Ost; das ist
ein denkbarer Weg.
({3})
Die Klage der süddeutschen Länder ist nach meinem
Dafürhalten kein Beitrag zur Überwindung der noch immer unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den alten
und in den neuen Bundesländern.
({4})
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, mich mit den
Argumenten anerkannter Experten im Hinblick auf den
RSA, wie er jetzt funktioniert, zu beschäftigen. Ich bin
zum Beispiel der Frage nachgegangen, was bei Einführung der Morbiditätsorientierung und der von uns eingeleiteten so genannten Disease-Management-Programme
mit meinem Bundesland passiert wäre, das unbestrittenermaßen leider noch immer eine gewisse Strukturschwäche aufweist. Ohne RSAlägen die Beitragssätze der
gesetzlichen Krankenkassen - man bedenke, dass diese
Kassen viele Ältere und Kranke versichern - bei über
30 Prozent. Sie hören richtig! Eine dramatische Rationierung der Leistungen für diese Versicherten wäre die
Folge. Ohne RSA würden die Versicherten in den neuen
Bundesländern, also nicht nur die in meinem Bundesland,
aufgrund der dortigen Bevölkerungsstruktur massiv benachteiligt.
({5})
Ohne RSA würden die Lohnnebenkosten deutlich steigen,
und zwar nur deswegen, weil die Alters- und Morbiditätsverteilung in diesen Ländern, zum Beispiel bei der
Beitragsbemessung, ungerechtfertigterweise nicht berücksichtigt würden. Ohne RSA würde ein reiner Risikoselektionswettbewerb einsetzen; Alte und Kranke würden die
Kasse nicht mehr wechseln. Das wären die schlimmen
Auswirkungen.
Ich gestatte mir in den nur fünf mir zur Verfügung stehenden Minuten, einen Vergleich anzustellen. Nach der
Wiedervereinigung war es zunächst notwendig, den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in Ost und West dadurch Rechnung zu tragen, dass in allen Bereichen der
gesetzlichen Sozialversicherungen unterschiedliche Regelungen im Rahmen getrennter Rechtskreise getroffen
wurden. Zum Beispiel im Bereich des Rentenrechts vollzog und vollzieht sich die Angleichung ohne weitere
rechtliche Eingriffe allein aufgrund der tatsächlichen
Lohnentwicklung - zwar nur allmählich und langsam,
aber immerhin.
Anders verhält es sich in der gesetzlichen Krankenversicherung: Die Angleichung der unterschiedlichen Regelungen in den beiden Rechtskreisen kann sich nicht allein
aufgrund der tatsächlichen Entwicklung ergeben; vielmehr sind wegen der Besonderheiten dieses Gebietes gesetzliche Maßnahmen notwendig.
({6})
Es ist klar, dass das noch immer relativ niedrige Lohnniveau im Osten sowohl auf der Einnahmenseite als auch
bei den ermittelten Normkosten zu erheblichen, aber systemkonformen und deshalb gerechtfertigten Transferleistungen führen wird. Dabei will ich allerdings ausdrücklich lobend erwähnen, dass die bundesweit organisierten
Ersatzkassen diesen Ausgleich auf freiwilliger Basis
schon heute umfassend durchführen.
({7})
Gerade deshalb war es geboten, diesen Ausgleich von
Gesetzes wegen auf die Regionalkassen zu erstrecken, auch
wenn dies im Westen zu Beitragserhöhungen führt. Zugleich wissen wir, dass der 1992 im Gesundheitsstrukturgesetz erstmals rechtlich beschlossene RSA, den wir in dieser
Legislaturperiode ein Stück weit den sich ändernden Verhältnissen angepasst haben, noch keinen idealen Risikoausgleich darstellt. Deshalb ist das mit dem gesamtdeutschen
RSA angestrebte Ziel noch nicht im gewünschten Umfang
zu erreichen. Durch einen Abbau des gesamtdeutschen
RSA, den die Länder Bayern, Hessen und Baden-Württemberg wollen, würde allerdings eine neue Sozialmauer in
Deutschland errichtet. Das wollen wir nicht.
Sie müssen sich nicht wundern, dass die Hauptzielrichtung der Normenkontrollklage der süddeutschen Länder vor dem Bundesverfassungsgericht den Eindruck erweckt - wahrscheinlich ist das auch so gemeint -, dass die
zurzeit leider nicht geringer werdenden Probleme in den
ostdeutschen Ländern im Rahmen des Risikostrukturausgleichs nicht mehr länger mitgetragen werden sollen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Jetzt hat der Kollege
Wolfgang Zöller von der CDU/CSU - endlich - das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Versuche von
Rot-Grün, unserem Kanzlerkandidaten irgendetwas - sei
es noch so widersinnig - anzuhängen, werden immer
peinlicher.
({0})
Das Ziel und nicht der Sinn der von der SPD beantragten
Aktuellen Stunde macht dies offensichtlich. Der Text und
der Zeitpunkt beweisen, welches Ziel Rot-Grün hat.
Ich komme zunächst auf den Text zu sprechen. Die von
Ihnen beantragte Aktuelle Stunde hat das Thema:
Haltung der Bundesregierung zur Klage der Bayerischen Staatsregierung gegen die Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung
({1})
Tatsache ist jedoch, dass der Ministerrat in seiner Sitzung
im Juli 2001 beschlossen hat, zusammen mit dem Bundesland Hessen der Normenkontrollklage von
Baden-Württemberg beizutreten. Die Steigerung wäre gewesen, wenn Sie dem Kanzlerkandidaten noch eine Cousine in Baden-Württemberg hätten nachweisen können.
({2})
Das Zweite ist der Termin. Die Klage wurde vor circa
einem Jahr eingereicht und heute beantragen Sie eine Aktuelle Stunde. Wie lange brauchen Sie eigentlich, bis Sie
aufwachen, wenn das so wichtig für Sie ist?
({3})
Ein Weiteres: Sie wollen der Bevölkerung einreden,
Sie könnten uns unsolidarisches Verhalten unterstellen.
Wie unredlich Ihr Ansinnen ist, kann ich an Zahlenbeispielen belegen.
({4})
Unter der CDU/CSU-Regierung ist beschlossen worden,
allein 21 Milliarden DM zur Sanierung der ostdeutschen
Krankenhäuser bereitzustellen.
({5})
- Und der FDP. Darauf möchte ich nicht verzichten, lieber Kollege Thomae.
Des Weiteren haben CDU/CSU und FDP mit dem Finanzstärkungsgesetz zugunsten der Kassen in den neuen
Ländern Finanzhilfen in Höhe von 1,2 Milliarden DM
jährlich beschlossen. Rot-Grün dürften in diesem Zusammenhang wirklich die Letzten sein, die uns einen Mangel
an Solidarität mit den neuen Ländern vorwerfen können.
({6})
Solidarität ist und bleibt das Markenzeichen der Union.
({7})
Der Umbau und die Modernisierung des Gesundheitswesens in den neuen Ländern waren eine der größten
Leistungen der deutschen Sozialgeschichte. Auch das
muss hier einmal angesprochen werden.
({8})
Eines muss man noch feststellen: Es wird hier in einer
Art und Weise diskutiert, als ginge es darum, den Solidaritätsausgleich abzuschaffen.
({9})
- Das haben Sie gesagt. - Darum geht es aber gar nicht.
Es geht nicht darum, ob es einen Solidaritätsausgleich
gibt, sondern darum, wie er gerecht gestaltet wird. Das ist
ein wesentlicher Unterschied.
({10})
Frau Kollegin, warum haben Sie eigentlich Angst vor
einer rechtlichen Überprüfung?
({11})
Götz-Peter Lohmann ({12})
Zurzeit sind mehr als 300 gerichtliche Verfahren im Zusammenhang mit dem Risikostrukturausgleich mit einer
Bilanzsumme von über 50 Milliarden Euro anhängig. Das
muss man sich einmal überlegen. Es müsste auch in Ihrem
Interesse sein, dass diese Rechtsunsicherheit beseitigt
wird.
({13})
Wie wollen Sie im Übrigen den Menschen erklären,
dass zum Beispiel eine Kasse dafür, dass sie rund 25 Millionen Euro für Versicherte, die im Ausland sind, ausgibt,
über den Risikostrukturausgleich mehr als 500 Millionen
Euro erhält?
({14})
Können Sie mir das erklären? Das kann niemand erklären.
Wie wollen Sie den Versicherten erklären, dass zum
Beispiel eine West-AOK ihre Beitragssätze auf 14,9 Prozent erhöhen muss, während zur gleichen Zeit eine OstAOK - jetzt kommt das Entscheidende - durch die Überkompensierung ihre Beiräge auf 12,9 Prozent senken
kann? Das hat mit Spaltung nichts zu tun.
({15})
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
({16})
Wer behauptet, bei uns ginge es darum, die Solidarität
auszuhöhlen, macht dies entweder in Unkenntnis der
tatsächlichen Zahlen oder böswillig; bei manchen muss
ich Letzteres annehmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf für
die CDU/CSU feststellen: Wir wollen eine gerechte Mittelverteilung, weil wir wissen, dass Solidarität auf Dauer
nur dann Bestand hat, wenn sie auf Gerechtigkeit basiert.
({17})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Hansjörg Schäfer.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir haben die große nationale
Verpflichtung, alles zu tun, damit es den neuen Ländern
besser geht, als es gegenwärtig der Fall ist. Frau Fuchs,
Sie haben das zitiert. Dies sagt der Kandidat. Recht hat er.
Aber eine Nummer kleiner wäre vielleicht etwas ehrlicher, wenn man seine Handlungen als bayerischer Ministerpräsident anschaut.
({0})
Da nämlich tut er etwas ganz anderes. Da führt er in
Karlsruhe Klage gegen den Risikostrukturausgleich.
({1})
Das größte Risiko für die Struktur im Osten ist, glaube
ich, Herr Stoiber selbst.
({2})
Auf 20 Prozent würden die Krankenkassenbeiträge hochschnellen, wenn es nach seinem Willen ginge.
({3})
Glücklicherweise geht es nicht nach seinem Willen und es
wird auch nicht danach gehen.
Bei Ihren Vorschlägen fühlt man sich manchmal so etwas an die Rezepte der Lega Nord erinnert, da dadurch
quasi die Regionalisierung der Krankenkassen eingeläutet wird.
({4})
Dies ist der Abschied von der im Grundgesetz vorgegebenen Solidarität. Die Folgen eines Erfolgs dieser Klage
bzw. eine entsprechende politische Umsetzung wären
eine drastische Reduzierung der Nettolöhne im Osten und
eine noch drastischere Beeinträchtigung der Infrastruktur
in den neuen Ländern. Ob das dem Kandidaten Stimmen
bringt, wage ich zu bezweifeln.
({5})
Wir haben schon einmal erlebt, dass jemand, der blühende
Landschaften versprochen hat, einen riesigen Schuldenberg hinterlassen hat. Dies werden die Menschen im
Osten nicht vergessen.
Herr Geisler, Sozialminister von Sachsen und ein Kollege aus der Union, wehrte sich gegen den bayerischen
Ministerpräsidenten mit gutem Grund; denn Herr Stoiber
schreckt nicht einmal vor falschen Tatsachenbehauptungen zurück. Er hat nämlich in den Raum gestellt, dass dort
eine Überkompensation durch den Risikostrukturausgleich stattfinde.
({6})
- Nein.
({7})
Schon jetzt liegen die Kassenbeiträge im Osten um 0,7 Prozent höher. Bei einem Erfolg dieser Klage würden sie noch
weiter steigen. Es ist eine spannende Frage, was die Versicherten in den neuen Ländern zu diesem Vorgehen sagen
würden.
({8})
Völlig zu Recht sehen die Menschen in den neuen Ländern im Risikostrukturausgleich ein wesentliches Stück
Gerechtigkeit, da er im Geist der gegenseitigen Solidarität
chronisch Kranken im Osten die gleiche Behandlung zu
vergleichbaren Beiträgen wie im Westen zukommen lässt.
({9})
Der RSA ist unentbehrlich für einen wirtschaftlichen
Einsatz der finanziellen Mittel. Er hat sich bisher grundsätzlich gut bewährt. Er hat allen Versicherten gute Leistungen möglichst kostengünstig zur Verfügung gestellt,
auch den Bayern, den Baden-Württembergern und den
Hessen. Ein bisheriger Mangel war jedoch, dass er lediglich Alter, Geschlecht, Invalidität und Einkommensunterschiede berücksichtigt hat. Das hat sich mit der Reform
geändert. Jetzt orientiert sich der Risikostrukturausgleich
auch an der Morbidität. Das heißt, die Selektion von gesunden Versicherten und damit verbundene Beitrags- und
Wettbewerbsvorteile sind ein Stück von gestern. Ab 1. Januar 2007 soll die direkte Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich eingebettet werden.
({10})
Schon jetzt wird ein Risikopool die Aufwendungen für
stationäre Versorgung, Arzneimittelversorgung, nicht ärztliche Kosten der ambulanten Dialyse und Kranken- und
Sterbegeld ab einem Schwellenwert von rund 20 000 Euro
ausgleichen. Wir nennen das eine solidarische und gesamtdeutsche Lastenverteilung. Erstmals werden DiseaseManagement-Programme zu einer besseren Versorgung
der chronisch Kranken führen.
({11})
Der Koordinierungsausschuss der Spitzenorganisationen
der Selbstverwaltung hat bereits die Empfehlung abgegeben, Diabetes mellitus, chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen, Brustkrebs und koronare Herzkrankheit in
den Katalog aufzunehmen. Weitere Vorschläge werden
Stück für Stück folgen. Krankenkassen, die sich darum
kümmern, diese chronisch Kranken besser zu versorgen,
sollen keine Nachteile haben - auch nicht in Bayern,
Baden-Württemberg und Hessen.
({12})
Entgegen allen Vorwürfen und Unterstellungen haben
wir das Recht auf einen Kassenwechsel erweitert. Versehen mit einer Bindungsfrist von 18 Monaten kann jeder
seinen Wechsel zu einer anderen Kasse am Ende des
übernächsten Kalendermonats vornehmen. Außerdem
bleibt es beim Sonderkündigungsrecht bei einer Beitragserhöhung.
({13})
Das ist eine Menge Neues und bringt vor allem eine
Menge neuer Vorteile für die Versicherten in ganz
Deutschland. Dagegen zu klagen war unsolidarisch, sachlich falsch und, wie ich meine, auch dumm.
({14})
Letzter Redner ist der
Kollege Thomas Sauer für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem Wortgeklingel, es ginge nur
um Gerechtigkeit, was wir hier von der Länderbank und
auch von der CDU/CSU gehört haben, muss man, wie ich
glaube, die Sache einmal wieder auf den Punkt zurückführen und sagen, um was es den Antragstellern aus
Bayern, Baden-Württemberg und Hessen wirklich geht.
({0})
Es geht ihnen darum, weniger Geld für die ostdeutschen
Krankenkassen zu bezahlen. Das ist die Gerechtigkeit,
von der Sie reden. Dass Sie, Herr Fink, sich gleichzeitig
hier hinstellen und eine höhere Vergütung von Ärzten im
Osten fordern, wodurch die Ausgaben stiegen, zeigt, wie
unseriös Ihre Gesundheitspolitik in Wirklichkeit ist.
({1})
- Sie haben mich dort noch nicht gesehen, Herr Fink? Das
liegt daran, dass ich im Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie bin. Deswegen möchte ich gerne schwerpunktmäßig einige ökonomische Aspekte in das Thema,
das wir heute hier miteinander diskutieren, einführen.
Ich möchte vorwegschicken: Ich glaube genauso wenig wie Frau Ministerin Schmidt, dass die Antragsteller
Hessen, Baden-Württemberg und Bayern mit ihrer Klage
beim Bundesverfassungsgericht Erfolg haben werden.
({2})
Es wäre auch, gesetzt den Fall, die drei Bundesländer hätten Erfolg, ein wahrer Scheinsieg für die Bürgerinnen und
Bürger in beiden Teilen Deutschlands. Vordergründig
meint man ja, in populistischer Weise die Interessen der
bayerischen Beitragszahler zu vertreten, indem man behauptet, sie von vermeintlich unberechtigten Lasten zu
befreien. In Wirklichkeit aber würde diese Politik mit
dazu beitragen, die ökonomische Schieflage zwischen Ost
und West weiter zu verstärken, anstatt sie zu reduzieren,
({3})
und damit in wesentlich höherem Umfang und in einem
weit größeren Zeithorizont Transferzahlungen von West
nach Ost auslösen.
Ein Erfolg Stoibers in dieser Angelegenheit hätte
zwangsläufig höhere Sozialversicherungsbeiträge in den
neuen Bundesländern zur Folge. Experten schätzen, dass in
Einzelfällen Krankenversicherungsbeiträge bis zu 20 Prozent realistisch wären. Lesen Sie einmal das, was der
Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Herr
Ringstorff, dazu sagt.
({4})
Wir müssen mit einem sofortigen Anstieg um einen Viertel Prozentpunkt und perspektivisch kurzfristig mit um
1,5 Prozentpunkte höheren Krankenversicherungsbeiträgen rechnen.
Ich frage Sie: Wie sollen die nach wie vor mit Schulden belasteten und mit objektiv schlechterer Beitragskraft ausgestatteten ostdeutschen Krankenkassen so in
einen fairen Wettbewerb mit anderen Kassen eintreten
können? Eine Spreizung der Beitragssätze würde im Gegenteil das Abwandern von ostdeutschen Beitragszahlern
verstärken und die Krankenkassen erneut unter Beitragsdruck setzen.
Funktionierender Wettbewerb setzt faire Ausgangsbedingungen auch für die ostdeutschen Krankenkassen voraus. Aber das ist aus meiner Sicht noch nicht einmal das
größte ökonomische Problem.
({5})
Höhere Krankenkassenbeiträge in den neuen Bundesländern, wie Sie sie durch den Antrag beim Bundesverfassungsgericht herbeiklagen wollen, wären eine unerträgliche zusätzliche Belastung für die ostdeutsche Ökonomie
insgesamt.
({6})
Wer den Risikostrukturausgleich aushebeln will, wie
Bayern,
({7})
darf den Menschen nicht verschweigen, dass dies mit
steigenden Lohnnebenkosten einhergeht. Niedrigere
Nettolöhne für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und damit eine niedrigere Konsumkraft sind die Folge.
Das bekäme die ostdeutsche Wirtschaft, der ostdeutsche
örtliche Handwerker und der Einzelhandel, zu spüren,
({8})
die keine Verschlechterung ihrer ökonomischen Rahmenbedingungen mehr verträgt.
({9})
Wenn Sie nicht wissen, wie die ökonomische Situation in
den neuen Bundesländern ist, dann gehen Sie hin und
schauen Sie sie sich an.
({10})
Höhere Sozialabgaben bedeuten auch Standortnachteile für die Unternehmen und damit sinkende Investitionen in den neuen Bundesländern. Da nützt es nichts, wenn
Sie hier pöbeln und schreien. Sie werden mit Ihrer Politik
dazu beitragen, dass sich die Angleichung der Lebensbedingungen in den neuen Ländern weiter verzögert. Das
wollen wir nicht.
({11})
Wer die rasche Angleichung der Lebensverhältnisse
möchte, kann das, was Bayern vorschlägt, nicht wollen
- dies gilt im Übrigen auch für die Bayern selbst -; denn
ein strukturell gestörter Einigungsprozess hat doch auch
längere und zudem höhere Transfers von West nach Ost
zur Konsequenz. Es ist volkswirtschaftliches Einmaleins,
dass diese Transfers deutlich höher zu beziffern wären als
die Mittel, die man auf unsolidarische Weise vermeintlich
einzusparen hofft.
Diese Forderung mag bei manchen Wählern in den
westlichen Ländern populär sein, weil damit Vorurteile
bedient werden können. Aber mit diesen Vorurteilen werden Sie nicht durchkommen. Ich glaube, die Menschen in
Ostdeutschland haben erkannt,
({12})
nicht nur an diesem Beispiel des Risikostrukturausgleichs, sondern auch am Beispiel des Länderfinanzausgleichs oder des Umsatzsteuerausgleichs, dass Stoiber nur
Partikularinteressen Bayerns vertritt, aber nicht Politik für
ganz Deutschland macht.
({13})
Ich bin, nicht nur aus sozial- und gesundheitspolitischen, sondern auch aus wirtschaftspolitischen Gründen,
({14})
froh über die klare Haltung der Bundesregierung in dieser
Frage. Wir brauchen Mechanismen, die unterschiedliche
Risiken und Ausgangslagen bei den Krankenkassen in
den Ländern berücksichtigen. Wer dies infrage stellt,
({15})
fügt den Ländern Schaden zu, die unter höherer Arbeitslosigkeit, geringerer Wirtschaftskraft und unterdurchschnittlichen Löhnen und Gehältern leiden.
Wenn es Herrn Stoiber mit dem Prozess der deutschen
Einigung ernst ist, dann sollte er die Klage gegen den Risikostrukturausgleich zurückziehen. Das wäre ein Zeichen, dass es ihm nicht allein um kurzfristige Regionalinteressen und um die Lufthoheit in weißblauen
Bierzelten, sondern um unser ganzes Land geht.
Vielen Dank.
({16})
Die Aktuelle Stunde
ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - Elfter Kinder- und
Jugendbericht - mit der Stellungnahme der
Bundesregierung
- Drucksache 14/8181 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Christine Bergmann.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Die K-Frage dieser Regierung war von Anfang an die
Kinderfrage:
({0})
Wie können wir Kinder in der Gesellschaft und das Zusammenleben mit Kindern in den Familien besser fördern? Das ist die entscheidende K-Frage, um die es eigentlich in der Gesellschaft gehen muss.
Wir haben zu Beginn der Legislaturperiode klare Aussagen hierzu gemacht und wir haben alle Versprechungen
eingelöst. Ich will ein paar Punkte nennen: Wir haben die
Familien wirtschaftlich gestärkt. Ich will nicht alle Einzelheiten nennen, aber erwähnen, dass die Familienleistungen in dieser Legislaturperiode um 11 Milliarden Euro
angehoben wurden. Das kann sich wahrlich sehen lassen
und ist ein großer Fortschritt.
({1})
Wir haben zweitens die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beträchtlich verbessert. Denken Sie an die Regelungen zur Elternzeit und zu
dem Teilzeitanspruch! Wir haben diese, meine Damen
und Herren von der rechten Seite dieses Hauses, gegen
Ihren Willen durchgesetzt. Sie haben damals nicht zugestimmt.
Wir haben drittens die Rechte der Kinder in unserer
Gesellschaft gestärkt. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Auch dieses
Gesetz wurde gegen den Widerstand vonseiten der
CDU/CSU verabschiedet. Herr Haupt, Sie waren auf unserer Seite. Ich erwähne dies, damit Sie mich nicht wieder
kritisieren.
({2})
Ich kann Ihnen sagen - Sie haben das vielleicht verfolgt -: Wir haben bereits Ergebnisse einer wissenschaftlichen Begleituntersuchung vorliegen. Die Begleitkampagne für dieses Gesetz, an der sich viele beteiligt haben,
wofür ich sehr dankbar bin, war sehr erfolgreich. Wir haben es geschafft, das Klima in der Gesellschaft zu verbessern. Wir werden auch weiterhin daran arbeiten.
({3})
Die Familien in diesem Land wissen - das zeigen alle
Umfragen -, dass ihre Interessen bei dieser Regierung gut
aufgehoben sind; denn unsere Familienpolitik orientiert
sich an der Vielfalt der Familienformen und an den Lebenswünschen der Menschen. Wir wollen den Menschen
nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben. Wir wollen sie
in ihrem Vorhaben, nach eigenen Wünschen zu leben, unterstützen.
Der vorliegende Elfte Kinder- und Jugendbericht steht
unter dem Leitmotiv „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Die Sachverständigenkommission fordert einen Perspektivwechsel. Sie stellt den Ausbau der sozialen Infrastruktur für junge Menschen und ihre Familien in
den Mittelpunkt. Eine familienfreundliche Gestaltung der
Arbeitswelt und eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur sollen Vorrang haben vor dem weiteren Ausbau individueller finanzieller Transferleistungen. So sagt es auch
die Sachverständigenkommission. Wir können uns diesen
Prioritäten nur anschließen.
Alle, die offenen Auges durch die Welt laufen, wissen,
was der Bericht fundiert analysiert: Das Aufwachsen von
Kindern und Jugendlichen hat sich grundlegend geändert.
Deswegen ist ein neues Ineinandergreifen von privater
und öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von
Kindern notwendig. Eines ist aber klar: Die Familie ist
und bleibt für die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen
der zentrale Ort des Aufwachsens. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass neben der Familie auch öffentliche Einrichtungen wie Kita, Schule und Jugendeinrichtungen,
aber natürlich auch die Medien, die Peer-Groups, neue Informations- und Kommunikationstechnologien das Aufwachsen der Kinder immer stärker beeinflussen.
Was heißt nun öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern? An dieser Stelle lohnt ein genaues
Studium des Elften Kinder- und Jugendberichts, auch für
die Damen und Herren von der Union. Ich denke, dass Sie
lesen gelernt haben. Sie gehören ja noch der Vor-PISAGeneration an.
({4})
Lesen fördert bekanntlich die Erkenntnis. Hier wird keineswegs einer Verstaatlichung der Erziehung das Wort geredet, was Sie uns immer so gerne in die Schuhe schieben
wollen. Das Gegenteil ist zutreffend.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Die Kommission fordert die Stärkung elterlicher Kompetenz durch ein neues Ineinandergreifen von privater und
öffentlicher Verantwortung, durch Verbesserung der
sozialen Infrastruktur. Hier liegen wir auf der gleichen
Linie. Wir haben in dieser Legislaturperiode politisch bereits gehandelt und wir werden auch weiter handeln. Die
nächsten Schritte werden sein: Kinderbetreuungseinrichtungen qualitativ und quantitativ auszubauen,
({5})
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter zu verbessern, die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe auf der
Höhe der Zeit zu halten und die Integration von Kindern
mit schlechten Startbedingungen und mit Migrationshintergrund zu verbessern. Das stärkt Kinder und Jugendliche und entlastet auch die Familien. In dieser Frage sind
wir auf einem sehr guten Weg, Frau Lenke.
({6})
Nun ist ja PISA in aller Munde. Es ist ja schon fast so,
dass mit „Pisa“ nicht mehr die Stadt mit dem schiefen
Turm verbunden wird, sondern Fragen der Lesekompetenz. Aber eines hat unser Thema mit dem schiefen Turm
gemein: Er ist ja so schief, weil die Fundamente nicht
stimmen. Da musste man nachbessern. Wenn wir uns die
Studie durchlesen, kommen wir auch zu der Erkenntnis,
dass die Fundamente schwach sind, dass es nämlich bei
der frühkindlichen Bildung und im Grundschulbereich
fehlt. Das hat übrigens auch das „Forum Bildung“ in seinen Empfehlungen, die schon vor der PISA-Studie herausgekommen sind, sehr nachdrücklich gefordert. Man
findet diese Empfehlung, sich in Bezug auf die Bildung
auf den vorschulischen und frühkindlichen Bereich zu
konzentrieren, ferner in dem Sachverständigenbericht,
der uns bereits im Sommer des letzten Jahres auf den
Tisch gelegt wurde.
Das bedeutet, dass wir den Bildungsauftrag unserer
Kindertagesstätten sehr viel ernster nehmen müssen.
Wir müssen Kinder dort auch kindgerecht auf das Lernen
vorbereiten; denn hier wird der Grundstein für spätere
Bildungs- und Lebenschancen gelegt. Das hat sehr weitreichende Konsequenzen, da das auch heißt, dass wir uns
sehr viel mehr mit der Ausbildung von Erzieherinnen und
Erziehern auseinander setzen müssen. Sie sollen diesen
Auftrag, der hier klar formuliert wird und den wir unterstützen, auch wirklich wahrnehmen können.
Wenn wir den Begriff der öffentlichen Verantwortung für die Kinder und die Familien ernst nehmen, lautet die Aufgabe, ein flächendeckendes und bedarfsgerechtes Angebot an Kindertageseinrichtungen im Westen zu
schaffen und im Osten zu erhalten.
({7})
Nun wissen wir, Frau Lenke: Das fällt in erster Linie in
den Zuständigkeitsbereich der Länder und Kommunen.
Es ist aber nötig, dass man das immer wieder sagt. Sie
wissen, dass wir mit dem Zweiten Familienfördergesetz
den Ländern zwei Milliarden ihres Anteils bei der Finanzierung des Kindergeldes erlassen haben. Diese Mittel
konnten für solche Zwecke verwendet werden.
({8})
Ich denke, vor dem Hintergrund der großen Bedeutung
des Themas sind in Zukunft auch gemeinsame Anstrengungen aller staatlichen Ebenen - das sage ich ganz bewusst - wie auch der Wirtschaft erforderlich. Sie darf sich
gern daran beteiligen.
({9})
Was eine gute Kinderbetreuungseinrichtung wert ist,
wissen junge Eltern genau. Kinder müssen gut aufgehoben sein und gefördert werden, wenn die Eltern einer Erwerbsarbeit nachgehen wollen. Damit verbessert man ja
das Familieneinkommen. Hier sind wir bei dem zweiten
großen Punkt, der auch in dem Bericht angesprochen
wird: Ein eigenes Einkommen - das ist eine Binsenweisheit - senkt das Armutsrisiko für Familien. Es sind in dem
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der
Ihnen ja schon vor einiger Zeit auf den Tisch gelegt
wurde, klar die Zusammenhänge festgestellt worden, dass
es dann, wenn Familien ihr Einkommen nicht selber erwirtschaften können, finanziell eng wird. Das kann man
durch Transfers gar nicht ausgleichen. Deswegen ist die
Schaffung eines Kinderbetreuungsangebotes auch so
wichtig.
Auch für uns haben der Ausbau der Infrastruktur für
Familien und zielgenaue Hilfen für Familien, mit denen
wir sie aus der Armut herausbekommen, Vorrang vor
Leistungen, die mit der Gießkanne verteilt werden - und
das noch nicht einmal sozial gerecht.
({10})
Das haben Sie ja, meine Damen und Herren von der
Union, mit Ihrem Familiengeld im Auge. Ich weiß allerdings gar nicht, ob in der Union überhaupt noch über das
Familiengeld geredet wird.
({11})
Um das Familiengeld ist es ziemlich still geworden. Prominente Stimmen sagen ja auch: Die 30 Milliarden sind
vielleicht doch nicht ohne weiteres zu finanzieren. Andere
reden von einem Zukunftsprojekt - wann auch immer
diese Zukunft eintreten soll. Ganz interessant ist, was
Jürgen Borchert - er ist Ihnen ja bekannt;
({12})
das ist der Sozialrichter, der jetzt für Ministerpräsident
Koch in Hessen arbeitet - sagt. Er bezeichnet in seinem
„Wiesbadener Entwurf“ das Familiengeld als „Irrweg“.
Ich zitiere wörtlich:
Dass sich die Union auf die Forderung nach einem
Familiengeld festlegen will, beweist, dass sie aus ihrer ... unrühmlichen familienpolitischen Vergangenheit offenbar nicht lernen will.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
({13})
Im Elften Kinder- und Jugendbericht wird betont, wie
wichtig gleiche Chancen hinsichtlich des Zugangs zu den
sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen unserer Gesellschaft sind. Hier hat unsere Jugendpolitik eine
gute Bilanz aufzuweisen. Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit haben wir - Sie wollen das alles ja nicht
wahrnehmen - das JUMP-Programm eingeführt, in den
neuen Ländern Ausbildungsplätze geschaffen, eine
Bildungsoffensive gestartet und eine BAföG-Reform
durchgeführt. Wir tun hier also alles dafür, dass alle Jugendlichen - da nehme ich gern die Empfehlung der Kommission auf - die Chance haben, einen Schulabschluss zu
machen und eine Berufsausbildung zu absolvieren, und
dass Jugendliche - das nehmen wir sehr ernst -, die die
erste Chance nicht gepackt haben, eine zweite Chance
bekommen.
({14})
Öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von
Kindern heißt aber auch, sich die Frage zu stellen, wie bei
Kindern und Jugendlichen Werte wie Solidarität - wir
haben gerade darüber diskutiert; Sie könnten einiges dazu
beitragen -, Gerechtigkeit und soziale Kompetenz geweckt und nachhaltig verankert werden können. Also, wer
lehrt sie Einfühlungsvermögen und Mitgefühl? Wer vermittelt Zivilcourage und das Gefühl für soziale Verantwortung, den Willen zur Mitgestaltung? Das sind ja nicht
automatisch nachwachsende Rohstoffe. Wir müssen dafür
sorgen, dass diese Werte bzw. diese Orientierungen vermittelt werden. Natürlich sind in erster Linie die Familien
dafür zuständig; aber nicht nur die Familien, sondern auch
die gesellschaftlichen Institutionen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Worte
zur Arbeit in den 75 000 Einrichtungen der Kinder- und
Jugendhilfe in Deutschland sagen - das ist mir sehr wichtig -: Wer über Erziehung und Bildung spricht, darf diesen außerschulischen Bereich nicht vergessen. Denn diese
Einrichtungen leisten einen unabdingbaren Beitrag zur
Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen
und unterstützen Eltern dabei, ihrem Erziehungsauftrag
besser gerecht zu werden. Allen, die dort täglich hauptoder ehrenamtlich arbeiten, möchte ich an dieser Stelle
einmal herzlich Danke sagen.
({15})
Die Leistungen, die im Kinder- und Jugendhilfegesetz
angeboten werden, haben sich bewährt. Offenbar aber
- jetzt komme ich zum Thema Solidarität - sieht das die
bayerische Landesregierung nicht so.
({16})
- Ja, schon wieder. - Morgen wird im Bundesrat von Bayern und dem Saarland ein Antrag eingebracht, der vorsieht, Leistungen gemäß dem KJHG zu kürzen
({17})
- ja, auch ich habe mich erschreckt -, und zwar Leistungen für seelisch behinderte Jugendliche und Leistungen
für junge Volljährige, also für diejenigen, die älter als 18
sind, aber eigentlich Anspruch auf Leistungen gemäß dem
Kinder- und Jugendhilfegesetz hätten. Ich habe diesen
Antrag vorhin auf den Tisch bekommen.
Wie ist das hier eigentlich mit der Solidarität? Hier
geht es um die Solidarität mit den Schwächeren in der Gesellschaft.
({18})
Das heißt, Bayern will sich hier ein Stück aus der öffentlichen Mitverantwortung zurückziehen. Das ist die reale
Politik, die sich hinter den schönen Worten aus Bayern
verbirgt.
Nun möchte ich zum Schluss ein Thema ansprechen,
das mir besonders am Herzen liegt. Das ist die Teilhabe
von Jugendlichen an unserer Demokratie. Kinder und
Jugendliche, die sich einbringen und mitbestimmen können, machen die elementare Erfahrung, dass sie wichtig
sind und dass sie ihre Lebenswelt selbst mitgestalten können. Ich glaube, dass es hinsichtlich der Demokratie überhaupt kein besseres Lernprogramm geben kann, als diese
Erfahrung zu machen.
({19})
Aber das ist, wie wir wissen, noch nicht überall selbstverständlich. Um dieser Beteiligung neue Impulse zu
geben, haben wir die „Bundesinitiative Beteiligungsbewegung“ gestartet, an der sich die Länder und viele
Jugendverbände beteiligen. Das Motto ist: „Ich mache
Politik.“ Wir werden zum Abschluss dieser Kampagne in
Berlin Mitte März drei Politiktage durchführen, zu denen
wir ungefähr 5 000 Jugendliche erwarten. Ich bedanke
mich bei allen Abgeordneten über die Fraktionen hinweg,
die ihre Bereitschaft erklärt haben, hier mitzumachen. Es
ist ein gutes Signal an die Jugendlichen, dass die Abgeordneten in Workshops mitarbeiten und in Foren mitdiskutieren.
Ich bin sicher, dass dieser Bericht, durch den wir uns in
unserer Arbeit sehr bestätigt fühlen - wir wissen auch,
dass wir noch einiges zu tun haben; aber das werden wir
in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen -, neue Entwicklungen auf allen Ebenen anstoßen wird. Ich möchte
den Sachverständigen für ihre sehr fundierte Arbeit herzlich danken.
Zum Schluss darf ich nur noch sagen: Auf uns können
sich Kinder, Jugendliche und Familien in Deutschland
weiterhin verlassen.
Danke.
({20})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht, den unsere frühere Bundesjugendministerin Claudia Nolte vorgelegt hatte, enthielt
viele Vorschläge, wie die Situation von Kindern und Jugendlichen verbessert werden kann. Dieser Bericht war
eine gute Grundlage zur Weiterentwicklung der Kinder-,
Jugend- und Familienpolitik. Die jetzige Regierungskoalition aus SPD und Grünen hat es jedoch verpasst, diese
Vorschläge aufzugreifen.
Ich erinnere mich sehr gut an die Diskussion zum
Zehnten Bericht Anfang September 1998, als für Sie, die
Sie damals in der Opposition waren, aus wahltaktischen
Gründen nur ein Thema im Vordergrund stand, nämlich
die Kinderarmut. Sie hatten jetzt vier Jahre Zeit, um das,
was Sie damals beklagt haben, zu ändern. Aber die jüngsten statistischen Zahlen zeigen: Kinderarmut ist nicht geringer geworden. Es gibt nach wie vor 1 Million sozialhilfebedürftige Kinder in Deutschland. Das ist die
Wahrheit.
({0})
Ich sage Ihnen, dass die Kinderarmut leider auch in
diesem Jahr zunehmen wird. Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für Kinder von Alleinerziehenden
und Familien mit mehr als drei Kindern haben sich erheblich verschlechtert.
({1})
Durch die Steuerbeschlüsse haben Sie die Alleinerziehenden benachteiligt.
({2})
Ihre am Dienstag angekündigten so genannten Nachbesserungen ändern daran nichts. Sie wollen damit nur die
Alleinerziehenden vor der Wahl besänftigen. Aber nach
der Wahl trifft die Alleinerziehenden trotz Änderung die
volle Härte. Familien mit mehreren Kindern haben Sie bei
der Kindergelderhöhung ganz vergessen. Aber vielleicht
gibt es in der Verwandtschaft des Kanzlers noch eine kinderreiche Familie, die vor das Bundesverfassungsgericht
zieht, um eine Änderung zu erreichen.
({3})
Der Elfte Kinder- und Jugendbericht bestätigt deutlich
den Zusammenhang zwischen den Chancen von Kindern
und deren Lebensumfeld.
({4})
Die dort beschriebene Situation der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland zeigt, dass die Familien und die Kinder, die bereits von der Sozialhilfe leben, von Ihnen mit
Ihrer verfehlten Familien- und Steuerpolitik in erheblichem Maße belastet werden.
({5})
Schlimmer noch: Alleinerziehende und kinderreiche Familien haben Sie von einer weitergehenden Förderung
ausgeschlossen.
({6})
In § 1 Abs. 2 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes steht
- ich zitiere -:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche
Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende
Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche
Gemeinschaft.
Kinder- und Jugendhilfe kann nur dann eingreifen, wenn
die Eltern bei der Erreichung dieser Ziele Unterstützung
benötigen. Mit der Erziehung ihrer Kinder leisten Eltern
einen vielfach unterschätzten Beitrag für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Dies verkennt der von Ihnen
vorgelegte Bericht.
({7})
Es gilt, die Eltern in ihrem Erziehungsauftrag und in
ihrer großen Verantwortung zu unterstützen und zu ermutigen.
({8})
Wir wollen die dafür notwendigen Rahmenbedingungen
verbessern. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört aber
weit mehr als Kinder- und Jugendhilfe. Erziehungsverantwortung in unserer Gesellschaft erfordert Menschen,
die Zeit, Liebe, Ausdauer und Geduld für die junge heranwachsende Generation haben
({9})
und diesen jungen Menschen zu einem gesunden Selbstwertgefühl verhelfen.
Ziele einer solchen kompetenten Erziehung sind
Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Soziale
Werte und kommunikative Fähigkeiten machen aus Kindern und Jugendlichen verantwortungsbewusste und
mündige Bürger. Eigenverantwortung meint, dass der
junge Mensch am Ende seines Heranwachsens in der
Lage sein soll, selbst für seine eigenen Bedürfnisse aufzukommen. Er muss sich selbst und der Gesellschaft gegenüber für seine Handlungen und Entscheidungen einstehen
können. Dabei müssen wir Kinder und Jugendliche unterstützen.
Sie sollen ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln
und ihren Platz innerhalb des Rechts- und Wertesystems
finden. Zu diesen - für manche oft schwer erreichbaren Erziehungszielen können Kinder und Jugendliche nur hingeführt werden, wenn wir ihre Eltern, sie selbst und die sie
umgebende Umwelt stark machen. Die Lösungsansätze
zur Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern bleiben
bei SPD und Grünen jedoch oberflächlich.
({10})
Wir fordern eine Verbesserung der Kooperation zwischen
dem Elternhaus und den Einrichtungen, die an der Erziehung der Kinder beteiligt sind. Die Zusammenarbeit von
Ehe-, Familien- und Erziehungsberatungsstellen ist absolut notwendig und förderungswürdig.
Die Frage, wie man Kinder, Jugendliche und Eltern erreichen kann, die die Hilfsangebote des SGB VIII nicht in
Anspruch nehmen, bleibt in dem Bericht völlig unbeantwortet. Hier müssen neue Wege der Vermittlung und Information eingeschlagen werden. Präventive Maßnahmen
sind für eine zielgerichtete und sinnvolle Kinder- und Jugendhilfe absolut notwendig. Entscheidend für den Zugang und die Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind Niederschwelligkeit, gute
Erreichbarkeit, Vertrauen zu den Bildungs- und Beratungseinrichtungen sowie ausreichende Angebote zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen.
({11})
Die Eltern haben zu gewährleisten, dass der Anspruch
des Kindes auf Erziehung erfüllt wird. Andere Erziehungsträger und auch der Gesetzgeber leiten ihre Befugnisse und Verpflichtungen bei der Erziehung der Kinder
nur vom Erziehungsauftrag der Eltern ab. Deshalb sind
wir den Eltern und den Kindern gegenüber verpflichtet,
Erziehungsauftrag und -anspruch zu unterstützen.
({12})
Das wird oft allzu schnell vergessen und oft auch anders
interpretiert.
Zum Erziehungsauftrag der Eltern kommt der staatliche
Erziehungsauftrag der Schulen hinzu. Deshalb hat vor
der öffentlichen Jugendhilfe die Schule die größte Bedeutung für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen.
Die für das deutsche Schulwesen erschreckenden Ergebnisse der PISA-Studie haben Lehrer, Eltern, Bildungspolitiker und die gesamte Öffentlichkeit wachgerüttelt.
({13})
Der Elfte Kinder- und Jugendbericht verkennt die
Chance, die Kinder- und Jugendhilfe als Ergänzung der
elterlichen und der schulischen Erziehung zu nutzen. Dies
wäre jedoch in Auswertung der PISA-Studie und für einen
neuen Aufbruch in der Bildungspolitik von entscheidendem Interesse gewesen. Es muss eine neue Diskussion um
den Bildungs- und Erziehungsbegriff einsetzen, an dem
sich Schulen und Erziehungsträger ausrichten sollen.
Wertorientierte Persönlichkeitsbildung darf nicht mit
spaßbetonter Selbstverwirklichung verwechselt werden.
Zu erlernende Kompetenzen und tatsächliche Leistungen
müssen an die Alltagsbewältigung gebunden sein.
Frau Ministerin, Sie haben vorhin die Bildungspolitik
angeführt. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, dass ich in die
Länder schaue. Dabei stelle ich fest, dass die Ergebnisse
in der Bildungspolitik gerade in den von Ihnen regierten
Ländern am schlechtesten sind.
({14})
Ihre jugendpolitische Bilanz ist äußerst kläglich.
Auch Erziehungsratschläge der Kanzlergattin reichen
nicht aus, um den Auftrag der Jugendhilfe und den Bildungsauftrag der Schulen in Deutschland zu erfüllen.
({15})
Jugendhilfe darf nicht isoliert von anderen Politikbereichen gesehen und betrieben werden. Die Verbesserung
der Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und
Familien ist eine Aufgabe, die uns alle angeht. Dieses Ziel
muss übergreifend und kooperativ angegangen und bewältigt werden.
Diesem Ziel und diesem gesellschaftlichen Auftrag
entspricht die familienpolitische Offensive der CDU/CSU
„Faire Politik für Familien“. Die heutigen und von RotGrün zu verantwortenden Rahmenbedingungen für Familien werden der Situation von Kindern und Familien nicht
gerecht. Was wir brauchen, ist ein gesellschaftlicher Aufbruch in Richtung auf einen fairen Umgang mit unseren
Familien. Es geht um die Verbesserung der Strukturen sowie um eine gerechte und verlässliche finanzielle Förderung von Familien.
Deshalb setzt die CDU/CSU auf ein familienpolitisches Gesamtkonzept, das die Situation der Familien umfassend verbessert. Dazu gehört einmal die finanzielle
Gerechtigkeit für Familien; gleichwertig gehören dazu
die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit einem bedarfsgerechten Angebot an Kinderbetreuung sowie die Stärkung der Elternkompetenz. Das Familiengeld
ist ein neues zukunftorientiertes Konzept, das eine nachhaltige Familienförderung im Auge hat und das über das
bisherige Kinder- und Erziehungsgeld deutlich hinausgehen wird, um die Kinder endlich aus der Sozialhilfe zu
holen.
({16})
- Es ist ja schön, dass Sie sich so aufregen. Das heißt, Sie
alle fühlen sich getroffen. So soll es auch sein.
({17})
Wir haben 1 Million Kinder in der Sozialhilfe.
Das Familiengeld erkennt die Leistungen der Familie
für die Gesellschaft an, baut finanzielle Benachteiligungen von Familien ab, verbessert die Förderung junger Familien und ist gerecht, weil alle Kinder gleich behandelt
werden.
({18})
- Ja, das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass alle
Kinder gerecht behandelt werden müssen. Was haben Sie
getan? - Sie haben Dritt- und Viertkinder beim Kindergeld überhaupt nicht berücksichtigt und die Alleinerziehenden benachteiligt.
({19})
Die Alleinerziehenden finanzieren das Kindergeld. Das
ist Ihre „gerechte“ Politik.
Mit unserer Initiative „Elternkompetenz stärken“ soll
die Erziehungskompetenz der Eltern verbessert und dadurch die Entwicklung von Kindern unterstützt werden.
Frau Ministerin, ich nenne nur ein Beispiel, wie die Jugendhilfe in Bayern aussieht und wie mit ihr in die Zukunft investiert wird: Im Bereich der berufsbezogenen Jugendhilfe haben wir mit 5 Millionen Euro aus dem
Jugendhilfeetat und 1,1 Millionen Euro aus dem Arbeitsmarktfonds circa 80 Einrichtungen der berufsbezogenen
Jugendhilfe gefördert und können damit auch die Kommunen ein Stück weit entlasten. Das ist die Wahrheit, Frau
Ministerin. Diese Maßnahmen zielen auf die soziale und
berufliche Integration junger Menschen sowie auf deren
persönliche Stabilisierung. Solche Schlußfolgerungen
und eine konkrete Politik - das vermissen wir in Ihrem
Bericht.
Johann Wolfgang von Goethe sagte:
Das Schicksal eines jeden Volkes und jeder Zeit
hängt von den Menschen unter 25 Jahren ab.
Fordern Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, das Schicksal nicht heraus. Unsere Jugend
hat eine bessere Politik verdient.
({20})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ekin Deligöz.
Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Eichhorn, es wundert mich sehr, dass ausgerechnet
Sie mit dem Zehnten Kinder- und Jugendbericht anfangen. Soweit ich mich erinnern kann, hat die Debatte über
den Zehnten Kinder- und Jugendbericht hier im Plenum
im Frühjahr 1999 stattgefunden, weil Sie sich 1998 geweigert haben, die Ergebnisse überhaupt öffentlich bekanntzugeben und darüber im Plenum zu debattieren sowie zu den Ergebnissen zu stehen.
({0})
Ein Ergebnis war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die Situation der Alleinerziehenden
nicht gerade verbessert hat. Das war das Ergebnis Ihrer
verfehlten Politik und nicht dessen, was wir daraus haben
machen müssen.
({1})
Noch ein Wort zu Ihrem großartigen Modell für Familien: Sie versprechen das Blaue vom Himmel und zaubern
dann noch 30 Milliarden schwuppdiwupp aus irgendwelchen Schüttel-dich-Bäumchen her. Für mich gehört zur
Generationengerechtigkeit aber auch, dass wir keine
Haushaltspolitik auf Kosten unserer Kinder machen, indem wir die Staatsverschuldung immer weiter erhöhen.
({2})
Einen Haushalt aufstellen heißt für mich: Prioritäten setzen im Sinne von Familien und Kindern und nicht zu ihren
Lasten.
({3})
Wir reden heute über den Elften Kinder- und Jugendbericht. Eines, was die Ministerin sehr richtig gesagt hat,
({4})
was bei Ihnen aber nicht angekommen ist, kann man nicht
oft genug wiederholen: Die Lebensformen von Kindern
und Jugendlichen in Deutschland haben sich verändert.
({5})
Wir haben heute eine Vielfalt von Lebensformen, wir
haben Ein-Erzieher-Familien, wir haben klassische Ehepartnerschaften, wir haben Eltern, wir haben Alleinerziehende, wir haben Patchwork-Familien, wir haben
nichteheliche Partnerschaften mit Kindern oder auch
gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kindern.
({6})
Das ist bei Ihnen nicht angekommen. Wir halten nach wie
vor an der Definition fest: Für uns ist Familie dort, wo
Kinder sind.
({7})
Aber nicht nur die Familien haben sich verändert, auch
die Gesellschaft hat sich verändert. Die Anforderungen an
unsere Kinder und Jugendlichen sind gestiegen. Sie wachsen in einer immer komplizierteren und komplexeren
Welt auf. Sie müssen viel mehr Wissen aufnehmen und
verarbeiten. Sie müssen schon sehr früh folgenreiche Entscheidungen treffen.
({8})
Wir verlangen unseren Kindern in ihrer Sozialisation sehr
viel ab.
Unsere Kinder haben Chancen wie nie zuvor, sie werden aber auch mit Risiken konfrontiert wie nie zuvor. Gerade darauf muss eine Politik reagieren und eingehen. Sie
muss diese Entwicklungen erkennen und darauf reagieren. Wenn wir hier über den Elften Kinder- und Jugendbericht sprechen, reden wir auch über eine grundlegende
Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Dieser Bericht
erkennt die Maßnahmen der vergangenen drei Jahre an. Er
erkennt sie nicht nur an, sondern sagt: Weiter so in diesem
Bereich, weil all die Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen angekommen sind. Das haben Sie bei Ihren
Studien wahrscheinlich überlesen.
Es steht noch etwas in diesem Bericht: Der Bericht lobt
die Institutionen und die Träger. Der Bericht lobt ausdrücklich das Engagement, was er mit dem Anwachsen
öffentlicher Verantwortung umschreibt. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht hoch genug einzuschätzen.
Wir als Politiker müssen uns klar machen, welche Arbeit
in den Kommunen vor Ort und in den Ländern im Bereich
der Jugendhilfe geleistet wird. Wir als Politiker können
zum Teil nur zuschauen, aber wir sind als Politiker gefordert, den Ländern und Kommunen die bestmöglichen
Rahmenbedingungen für ihre Arbeit zu bieten.
({9})
Die rot-grüne Koalition hat ihre Kompetenz in der
Zukunftsherausforderung auch an anderen Stellen unter
Beweis gestellt. Wir haben zahlreiche Initiativen und Programme auf den Weg gebracht, von denen ich nur ein paar
aufzähle: das Programm „Chancen im Wandel“, das Programm „Soziale Stadt“ oder auch „JUMP“, das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit, für Ausbildung und
Erwerbstätigkeit von Jugendlichen.
Wir haben eine ganze Reihe von Maßnahmen in Kraft
gesetzt, von der Kindergelderhöhung bis zur steuerlichen Entlastung von Familien. Sie haben gerade übrigens behauptet, das würde bei den Familien nicht ankommen. Ich sage Ihnen: Am Ende dieser Wahlperiode wird
eine durchschnittlich verdienende vierköpfige Familie um
1 500 Euro im Jahr entlastet, die Ökosteuer mit einkalkuliert.
({10})
Auch das ist bei Ihnen noch nicht angekommen.
({11})
Wir haben auch eines getan, woran Sie noch nie gedacht haben: Wir haben nicht nur gefragt, was gut für die
Eltern ist, sondern wir haben in den Mittelpunkt unserer
Politik die Frage gestellt: Was ist gut für die Kinder? Wir
haben die Kinder in den Mittelpunkt unserer Politik gestellt und eine ganze Reihe von Kinderrechten verfasst:
das Recht auf gewaltfreie Erziehung, die Reform des Unterhaltsrechts, das Kinderrechteverbesserungsgesetz, um
nur ein paar Beispiele zu nennen. Inzwischen sind Kinder
in diesem Land nicht mehr Objekte der Politik und der
Gesetze, sondern sie haben eine deutliche Subjektstellung
in der Politik, in den Gesetzen und in den Rahmenbedingungen.
Sie stehen im Mittelpunkt dieser Debatte und sollten auch
im Mittelpunkt Ihrer Debatte stehen, wenn Sie Kinderpolitik wirklich ernst nehmen.
({12})
- Ich kenne das Grundgesetz. Das brauchen Sie mir nicht
zu sagen.
Kommen wir zurück zu den Ergebnissen des Kinderund Jugendberichts. Was sagt uns der Kinder- und Jugendbericht? Darin werden zwei Punkte festgestellt.
Erstens. In der Tat gibt es in diesem Land Armut, aber
auch Reichtum. Der jungen Generation geht es bessser als
mancher Generation zuvor. Sie stellen eine starke Konsumkraft dar. Aber es gibt auch Armut und sie trifft vor allem Kinder.
({13})
Genau an dieser Stelle wollen wir zupacken. Genau dafür
haben wir Grüne eine Kindergrundsicherung vorgeschlagen, mit der wir nicht nur Familien aus der Armutsfalle
herausholen, sondern auch Anreize zur Erwerbstätigkeit
bieten wollen. Wir wollen nicht, dass Menschen in die Sozialhilfe hineinkommen, weil sie ein Kind bekommen.
Zweitens. Aus mehreren Gründen wird der Ausbau der
sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche gefordert. Dazu gehört auch die Kinderbetreuung. Wir sind dabei, in der Koalition darüber zu verhandeln - übrigens
auch im Sinne der Alleinerziehenden -,
({14})
dass die Kosten für Kinderbetreuung in Deutschland vom
ersten Euro und vom ersten Cent als Sonderausgabe abgesetzt werden können, damit Kinderbetreuung - auch
durch Tagesmütter - für Familien finanzierbar bleibt.
({15})
Wir möchten aber im Bereich der Kinderbetreuung
weitermachen. Wir sind in der Koalition gerade gemeinsam dabei und haben unseren Willen dazu bekundet. Wir
brauchen Konzepte, bei denen Bund, Länder und Gemeinden zusammenarbeiten, bei denen es um Bedarfsorientierung und um maximale Flexibilität, aber auch um
Quantität und Qualität geht. Das dürfen wir nicht vernachlässigen. Die bayerische Sozialministerin hat vor
kurzem erklärt, man müsse damit beginnen, bei der Kinderbetreuung marktwirtschaftlich zu denken.
({16})
- Nein, das dürfen wir nicht. Gerade bei unseren Kindern
dürfen wir es uns nicht erlauben, marktwirtschaftlich zu
denken. Denn jeder Pfennig, den wir in sie investieren, ist
eine Investition in unsere eigene Zukunft und unsere eigene Gesellschaft.
({17})
Deshalb dürfen wir das nicht. Ganz im Gegenteil: Gerade
dort müssen wir im Sinne unserer eigenen Zukunft und
unserer eigenen Kinder auch einmal volkswirtschaftlich
denken.
({18})
Deshalb möchten wir die Betreuungsaspekte aufgreifen
und uns in diesem Bereich viel stärker engagieren.
Ich möchte noch etwas ansprechen. Wir werden morgen in diesem Rahmen über das Zuwanderungsgesetz reden. Wir werden dann auch über Integration reden. Ich
möchte allen Gegnern dieses Gesetzes zu bedenken geben: Wenn wir die Integration ernst nehmen, müssen wir
bei den Kindern und Jugendlichen anfangen.
({19})
Wo findet die Integration besser statt als in den Schulen
und Kindergärten, wo Kinder und Familien zusammenkommen? Von daher verstehe ich nicht, wie es sich gerade
Bayern leisten kann, die Klassenstärke auch dort, wo es
Migranten, Ausländerkinder und sozial Benachteiligte
gibt, auf 34 festzulegen.
({20})
Das heißt, in der ersten Klasse sind 34 Kinder, die Lesen
und Schreiben lernen. Auf diese 34 Kinder kommt ein
Lehrer, der sie unterrichten und auf sie eingehen soll. Wie
das unter der großen Verantwortung der Integration realisierbar sein soll, ist mir schleierhaft. Wir müssten gerade
in der Bildungspolitik anfangen, und zwar mit kleineren
Klassen, mehr Lehrern und einer stärkeren Aufwertung
der Erziehungsarbeit.
({21})
- Ich nehme mir ein Beispiel an Bayern, wie Sie es sagen.
Ich nehme mir nämlich ein Negativbeispiel an Bayern.
Genau so sollte man es nämlich nicht machen. Daran
sollte man sich orientieren, um keine Fehler zu machen.
({22})
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur FDP-Fraktion machen. Wie ich eben gesehen habe, haben Sie einen
Entschließungsantrag vorgelegt. Es freut mich, dass die
ganzen Konzepte, die von der SPD und den Grünen erstellt worden sind, inzwischen auch bei der FDP angekommen sind und dass Sie unsere Ergebnisse mit aufgenommen haben.
({23})
Aber eines machen Sie nicht: Sie kommen über diese Debatte nicht hinaus. Wenn Sie wirklich schlüssige Konzepte hätten, hätten Sie auch Ihren Teil an der familienpolitischen Debatte, aber nicht, indem Sie unsere
Konzepte gut abschreiben.
({24})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich hatte für wenige Minuten den Eindruck,
ich sei in der falschen Debatte - als ob es hier um Bayern
oder nicht Bayern ginge. Ich werde mich dem Wahlkampfritual und dem Schema „Gutmensch - Bösmensch“
nicht anschließen. Ich bemühe mich jetzt um einen sachlichen Beitrag, weil mir Kinder- und Jugendpolitik einfach viel zu ernst ist, um damit billige Effekte hier zu erreichen.
Wir sind uns doch alle einig: Kinder und Jugendliche
sind der Reichtum unserer Gesellschaft. Daher begrüßen
wir als FDP-Fraktion, dass der Elfte Kinder- und Jugendbericht das wissenschaftliche Erkenntnisfundament
für das weitere kinder- und jugendpolitische Handeln verbreitert hat. Wir danken an dieser Stelle ganz ausdrücklich
der Kommission für die von ihr geleistete Arbeit.
Grundsätzlich ist den Feststellungen und Schlussfolgerungen der Kommission zuzustimmen. Kinder und Jugendliche wachsen heute anders auf als früher. Die Familie bleibt der zentrale Ort, aber der Einfluss der
Öffentlichkeit sowie von Einrichtungen wie Kitas, Schulen, aber auch der Medien und moderner Kommunikationssysteme steigt doch. Deshalb muss es zu einem Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendpolitik
kommen. Die Gesellschaft als Ganzes muss ihrer zunehmenden Verantwortung für das Heranwachsen der jungen
Generation gerecht werden, ohne die Bedeutung der Familien dabei zu relativieren oder ihre Entscheidungsfreiheit zu sehr einzuschränken.
Es geht darum, die Kinder und Jugendlichen selbst in
den Mittelpunkt dieser Politik zu stellen. Kinder- und Jugendpolitik ist nach diesem Verständnis eben nicht mehr
vorrangig Sozialpolitik, sondern Querschnittspolitik,
die sich an den jungen Menschen selbst orientiert und sich
in viele gesellschaftliche Bereiche eingliedert.
Gefordert sind deshalb nicht unzureichende Versuche
von Reformen an den sozialen Sicherungssystemen, sondern eine grundlegende Modernisierung des Sozialstaates. Die FDP begrüßt deshalb ganz ausdrücklich den von
den Experten verlangten Perspektivwechsel hin zu einer
politischen Gestaltung und Sicherung der sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche sowie für ihre Familien. Gefordert ist ein neues Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern, ist
ein Wechselspiel von privater und öffentlicher Verantwortung. Die Eltern müssen in der Erfüllung ihrer familiären Aufgaben durch die Gesellschaft als Ganzes gestärkt und unterstützt werden, damit die jungen Menschen
für sich selbst und füreinander Verantwortung tragen können.
Pluralisierung, Individualisierung und neue Lebensentwürfe haben zu vielfältigen Lebensformen und Lebensstilen geführt. Neben der klassischen Eltern-KindFamilie gibt es heute zunehmend diverse andere
Lebensgemeinschaften von Erwachsenen und Kindern.
Wir definieren Familie daher als das Zusammenleben mit
Kindern. Kinder dürfen keine Nachteile erfahren wegen
der Familienform, in der sie leben.
({0})
Kinder haben einen Anspruch auf Erziehung, Förderung und Bildung. Ein zentraler Bereich dafür sind Kindertageseinrichtungen. Deutschland schneidet im internationalen Vergleich der Kindertagesbetreuung schlecht
ab. Besonders beim Betreuungsangebot für Kinder unter
drei Jahren und für Grundschulkinder bestehen gravierende Defizite. Es bestehen aber nicht nur quantitative,
sondern vor allem qualitative Herausforderungen an die
Kinderbetreuung. Der Qualifikation und der Qualifizierung der Betreuungskräfte gebührt deshalb zunehmend
besonderes Augenmerk.
Wir Liberale fordern: Im Rahmen des Rechtsanspruchs
auf einen Kindergartenplatz muss halbtägige Kinderbetreuung zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr
kostenlos sein. Die Kosten für die Kommunen sind im
Bund-Länder-Finanzausgleich zu berücksichtigen. Zudem muss, Frau Deligöz, für mehr Markt und Wettbewerb
gesorgt werden. Dies kann durch Einführung eines Gutscheinsystems wie der so genannten Kita-Card erreicht
werden. Die Eltern können sich als Nachfrager auf dem
Markt der Anbieter selbst die von ihnen gewünschte Betreuungsleistung aussuchen. So kann einfach ein breiteres, flexibleres Angebot an staatlichen und privaten Kinderbetreuungsplätzen geschaffen werden.
Bildung wird für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen immer wichtiger. Bildung ist unser wichtigster
Rohstoff. Investitionen in die Bildung sind am wichtigsten für unsere Zukunft. Auch hier ist nicht nur die Familie, sondern auch die Gesellschaft ganz besonders gefordert. Die Bildung unserer Kinder muss so früh wie
möglich beginnen; denn Bildungsdefizite aus der frühen
Kindesentwicklung können von der Schule nur schwer
kompensiert werden. Daher sind Kindertageseinrichtungen zu Stätten einer frühkindlichen Förderung mit einem
klaren Bildungskonzept zu entwickeln. Notwendig ist
eine vorschulische Erziehung, in der spielerisch bereits
mit Lesen, Schreiben und Rechnen begonnen wird und
durch die sowohl musische als auch motorische Anlagen
gefördert werden. Der Schwerpunkt der Bildungspolitik
muss auf den Elementar- und Grundschulbereich verlagert werden. Wichtig ist eine frühere Einschulung mit
Eingangstests und Sprachförderung. Dabei müssen Lernschwächen und Hochbegabungen erkannt werden.
Deutschland verschwendet seine Talente, weil sie nicht
erkannt, nicht gefördert und nicht gefordert werden.
({1})
Ganztagsschulen auf der Grundlage eines pädagogischen
Konzeptes sollten flächendeckend eingerichtet werden.
Dabei muss der Bund Unterstützung leisten, zum Beispiel
im Rahmen eines Staatsvertrages.
Ausbildung und Qualifizierung der Jugend entscheiden über die Zukunft unserer Gesellschaft. Ausbildung
und Arbeit sind für die Jugendlichen selbst mehr als nur
die Grundlage für ein wirtschaftlich unabhängiges Leben.
Sie haben auch eine zentrale Bedeutung für die Identitätsfindung, die Selbstverwirklichung und -bestimmung
und sind entscheidend für die Verteilung der Lebenschancen von jungen Menschen. Deshalb muss der bisherigen
Fehlsteuerung im Bildungs- und Ausbildungssystem entschieden sowie mit vielfältigen und unkonventionellen
Ideen und Ansätzen entgegengewirkt werden. Reformen
in der Bildungspolitik sowie in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind gerade im Hinblick auf die Zukunft
der jungen Menschen dringend geboten. Dazu gehören
zum Beispiel flexiblere Regelungen für das Berufsbildungssystem, eine generelle Verkürzung der Ausbildungszeiten und eine bessere Anpassung der Berufsbilder
an die Anforderungen der Wirtschaft. Aber eine verbesserte Bildungspolitik mit hohen Qualitätsstandards muss
die Förderung und Forderung von Hochbegabten genauso
sicherstellen wie die von Lern- und Leistungsschwachen
sowie von Behinderten.
({2})
Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer kulturell heterogenen Umwelt auf. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist dabei zugleich Herausforderung und Chance. Diese jungen
Menschen können Brücken und Vermittler zwischen den
Kulturen sein. Voraussetzung ist aber, dass sie über umfassende Kompetenzen in der deutschen Sprache verfügen und mit der deutschen Kultur vertraut sind. Neben den
staatlichen Bildungseinrichtungen kommt hier der Kinder- und Jugendhilfe eine besondere Verantwortung zu.
Die FDP unterstützt gerade im Zusammenhang mit der
Debatte, die in unserer Gesellschaft über die Zuwanderung geführt wird, die Forderung der Experten, dass allen
Kindern und Jugendlichen, die auf deutschem Boden leben, das Recht auf Bildung und Erziehung zusteht.
({3})
Handlungsgrundlage ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz, in dem gefordert wird: Jeder junge Mensch hat ein
Recht auf Förderung seiner Entwicklung. Das heißt, Einschränkungen aufgrund des Staatsangehörigkeitsprinzips
sowie des Rechts- bzw. Aufenthaltsstatus der Eltern oder
der Kinder müssen aufgehoben werden. Die deutsche Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderkonvention muss endlich
zurückgenommen werden.
({4})
Politik für junge Menschen als Querschnittsaufgabe ist
eine reizvolle Herausforderung für alle gesellschaftlichen
Bereiche und Institutionen, insbesondere im Hinblick auf
die Modernisierung der Kinder- und Jugendhilfe, aber
auch für jeden Einzelnen. Für eine solche Politik lohnt
sich jede Mühe. Deshalb hat meine Fraktion als erste und
bislang einzige einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vorweg feststellen, dass zum ersten Mal die Arbeiten an einem Kinderund Jugendbericht innerhalb einer Legislaturperiode begonnen und auch abgeschlossen wurden. Dafür zollen wir
nicht nur der Bundesregierung, die an dem Elften Kinder- und Jugendbericht zügig mitgearbeitet hat, sondern
auch allen Mitgliedern der Expertenkommission, die diesen Bericht erstellt haben, Anerkennung.
({0})
Es ist wichtig, dass wir aus dem vorliegenden Bericht die
richtigen Schlussfolgerungen für unsere Arbeit ziehen.
Neu in dem vorliegenden Bericht ist - dazu wurde
schon einiges gesagt -, dass die Kinder- und Jugendhilfe
als Bestandteil der allgemeinen Infrastruktur behandelt
wird. Sie gehört demnach zur sozialpolitischen Grundversorgung in unserem Land. Die Kinder- und Jugendhilfe richtet sich dann nicht mehr nur an die schwierigen
oder auffälligen, sondern an alle Kinder und Jugendlichen. Damit wird die Stellung der Kinder- und Jugendpolitik als Querschnittspolitik unterstrichen.
Die Expertenkommission fordert ein neues Verständnis
von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen
von Kindern und Jugendlichen. Der Staat muss die Rahmenbedingungen für Familien, Kinder und Jugendliche
schaffen, ohne dabei die Eigenverantwortung der Familien zu schmälern. Damit wird vor allem die Kinder- und
Jugendarbeit in den Kommunen aufgewertet. Die Kommission fordert eine Aufstockung der Mittel für Kinderund Jugendarbeit in den kommunalen Etats. Das unterstützen wir als PDS-Fraktion ausdrücklich. Von uns gab
es einen Antrag, in dem zum Beispiel gefordert wurde, einen eigenständigen Haushaltstitel für Kinder- und Jugendarbeit neu auszubringen. Auch dieser Frage sollten
wir uns in der Diskussion wieder stellen.
Zu einem neuen Verständnis von öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern gehört auch,
dass die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe allen
Kindern und allen Jugendlichen, die auf deutschem Boden leben, gleichermaßen zustehen. Kinderrechte müssen auch Vorrang vor dem Asylrecht haben. In Deutschland werden Kinder im Asylverfahren bereits mit 16 Jahren
wie Erwachsene behandelt und müssen das komplizierte
Verfahren, zum Teil sogar die Abschiebehaft, durchlaufen. Kinder, die mit ihren Eltern nach Deutschland kommen und über lange Zeit, oft über Jahre, lediglich den Status der Duldung haben, können die Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe nicht in Anspruch nehmen. In einigen Bundesländern können sie nicht einmal eine Schule
besuchen. Sie bleiben sozial ausgegrenzt. Damit muss
Schluss sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sinne sollten wir auch noch einmal über die Rücknahme der Vorbehalte der Bundesregierung gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention nachdenken. Ich kann mich daran
entsinnen, dass Sie von der Regierungskoalition bei der
Vorlage des Zehnten Kinder- und Jugendberichts gerade
das gefordert haben.
Ein Wort zur Kinderbetreuung. Eine öffentliche Verantwortung für die Entwicklung und Erziehung von Kindern erfordert auch einen Umbau und Ausbau der Formen
der Kinderbetreuung. Weitere Verbesserungen zur
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch zur Entschärfung materieller Notlagen von Familien müssen vorangetrieben werden. Auch zur Vereinbarkeit von Familie
und Beruf gibt es einen Antrag der PDS-Fraktion, dessen
wir uns in der Diskussion unbedingt wieder annehmen
sollten. In diesem Zusammenhang kann ich die Forderung
der Kommission nach flexiblen Öffnungszeiten und Ausbau von Betreuungsangeboten für unter 3-Jährige und
über 6-Jährige nur unterstützen. Der Aufbau eines
flächendeckenden und bedarfsgerechten Angebots der
Kindertageseinrichtungen in den alten Bundesländern
sowie der Erhalt der entsprechenden Strukturen in den
neuen Bundesländern sind notwendige Schritte dazu.
Die Tatsache, dass die Betreuungsangebote im Osten
noch immer vorbildlich sind, obwohl das Angebot reduziert wurde, hängt ausschließlich mit den gesunkenen Geburtenzahlen zusammen. Viele Eltern und Erzieherinnen
bzw. Erzieher in den neuen Bundesländern kämpfen bereits dafür, dass gerade nicht eine Angleichung an westdeutsche Verhältnisse stattfindet. Sie würden sich über ein
positives Signal seitens der Bundesregierung natürlich
freuen.
Ein neues Verständnis von öffentlicher Erziehung,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, schließt aber auch ein, dass noch einmal
über eine finanzielle Beteiligung des Bundes - eine Forderung, die wir schon lange vertreten - nachgedacht wird.
Neu müssen auch die Aufgaben der Kinderbetreuung
definiert werden. Zu der Betreuungsaufgabe kommen
Erziehungs- und Bildungsaufgaben hinzu. Lernen beginnt - auch das wurde schon vielfach angemerkt - nicht
erst mit sechs Jahren. Mit einer frühen Bildung kann zum
Beispiel auch sozialer Ungleichheit gegengesteuert werden. Mit Blick auf die Ergebnisse der PISA-Studie ist es
bedauerlich, dass diese Möglichkeit bisher so vernachlässigt wurde. Bildung umfasst mehr als nur WissensverKlaus Haupt
mittlung; dabei geht es auch - darin sind wir uns alle einig - um das Erlernen sozialer Kompetenzen.
Soziale Ungleichheit bedeutet auch - das ist nachgewiesen - ungleiches gesundheitliches Wohlbefinden. Im
Bericht wurde festgestellt, dass die Gesundheitsprävention in der Kinder- und Jugendhilfe bisher kein Thema
war. Die Gesundheitsprävention muss aber zu den Aufgaben der Familienhilfe und der Bildungseinrichtungen
gehören. Kinder müssen nicht nur lernen, sich gesund zu
ernähren.
Die Zustände an deutschen Schulen zeigen deutlich
den Bedarf einer Gesundheitserziehung. Kindern fehlt
es an Bewegung. Nicht selten haben sie bereits Nikotin-,
Alkohol- und Drogenprobleme. Immer weniger Eltern
nehmen medizinische Präventionsangebote wahr. Früherkennungsuntersuchungen, Impfungen und Zahnprophylaxe werden kaum noch in Anspruch genommen.
Frau Kollegin,
achten Sie bitte auf die Zeit.
Ja.
Wir sind bereit, an diesen Themen mitzuarbeiten. Eine
neue Form der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern erfordert auch, Kindern den notwendigen Stellenwert einzuräumen. Erst kürzlich habe
ich in einer Debatte wieder gesagt, dass Kinderrechte
- das ist eine alte Forderung - nicht nur, was bestimmte
Aufgaben angeht, eingehalten werden müssen, sondern
dass sie auch im Grundgesetz, wie es zehn Bundesländer
in ihren Verfassungen bereits getan haben, verankert werden müssen. Dazu liegt ein Vorschlag vor.
Lassen Sie uns an die Arbeit gehen, nicht um politische
Mehrheiten zu erringen, sondern um viele Verbesserungen für das Aufwachsen der Kinder in unserer Gesellschaft zu erreichen!
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christel Humme.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Lieber Herr Haupt, ich möchte
auf Bayern zu sprechen kommen, und zwar deshalb, weil
Frau Eichhorn Ihre Vorstellung zum Familiengeld gerade
so blumig „zukunftsweisend“ genannt hat. Mir liegt eine
aktuelle Tickermeldung von Herrn Stoiber aus Bayern
vor. Er hat gesagt, dieses Vorhaben sei gegenwärtig nicht
finanzierbar.
({0})
Ich bin gespannt, was von der Familienpolitik, die Sie gerade gerühmt haben, übrig bleibt.
Aber nun zum Kinder- und Jugendbericht. Richtig ist:
Niemand kann den Staat und die Gesellschaft für sein
Schicksal verantwortlich machen. Richtig ist aber auch:
Niemand ist für sein Schicksal allein verantwortlich. Das
heißt, eine Verzahnung von privater und öffentlicher Verantwortung wird unsere Zukunftsaufgabe sein. Das ist eine
zentrale Erkenntnis des Elften Kinder- und Jugendberichts.
Die Einleitung des Elften Kinder- und Jugendberichts
trägt die Überschrift „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Diese Leitlinie ist meiner Ansicht nach richtig
gewählt. Für uns Politiker und Politikerinnen bedeutet
das, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass der Staat
seine Verantwortung für das Aufwachsen tatsächlich
übernehmen kann. Dafür müssen wir die soziale Infrastruktur für Kinder und Jugendliche verbessern. Auch
das ist eine zentrale Schlussfolgerung des Elften Kinderund Jugendberichts.
({1})
Für die Verbesserung der sozialen Infrastruktur liegen
zwei wesentliche Gründe - sie wurden vielfach schon genannt; ich will sie dennoch wiederholen - auf der Hand:
Erstens. Öffentliche Verantwortung ist da gefragt, wo
sie Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen
verhindern kann. Erst Ende letzten Jahres hat die PISAStudie - wir haben es gerade schon gehört - unserem Bildungssystem bescheinigt, dass es die Benachteiligungen
nicht ausgleicht, sondern Ausgrenzungen verstärkt. Andere Länder haben schon längst erkannt, dass Kindertagesstätten und Ganztagsschulen die zentralen Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen sind. Wir in Deutschland
haben mit konservativer Bildungs- und Familienpolitik
- das muss angemerkt werden - jahrzehntelang aufs
falsche Pferd gesetzt.
({2})
Der Elfte Kinder- und Jugendbericht bestätigt, dass
Ganztagsbetreuungsangebote mehr Bildungschancen
({3})
- Frau Fischbach, auch wenn Sie noch so viel schreien,
dadurch wird es nicht richtiger - für Kinder und Jugendliche bedeuten.
({4})
Zweitens. Öffentliche Verantwortung ist da gefragt, wo
Familien für die Erfüllung ihrer Erziehungsleistung Unterstützung brauchen. Der Bericht stellt klar, dass die Familie nach wie vor der zentrale Ort des Aufwachsens ist.
Er zeigt aber auch auf, dass sich die Familien gewandelt
haben. Mit unserer Politik haben wir diesem Wandel bereits Rechnung getragen. Wir haben bereits in der kurzen
Regierungszeit öffentliche Verantwortung übernommen.
Mit unserer Familienförderung, der Steuerreform und
der Wohngeldreform haben wir die finanziellen Rahmenbedingungen für junge Menschen und ihre Familien spürbar verbessert.
({5})
- Doch, ich sage es Ihnen gleich. - Mit der BAföG-Reform haben wir die Bildungschancen von benachteiligten
Jugendlichen, die unter der alten Regierung sträflich vernachlässigt wurden, verbessert. Die Flexibilisierung der
Elternzeit und die Einführung des Rechtsanspruchs auf
Teilzeitarbeit sind Meilensteine auf dem Weg zu einer familienfreundlichen Arbeitswelt und zur Vereinbarkeit von
Familie und Beruf.
({6})
Sicherlich müssen hier weitere Maßnahmen ansetzen.
Unsere bisherige Politik war und ist aber richtig. Daher
werden wir auf diesem Weg weiter voranschreiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unbestritten ist: Es
gibt Familien in sehr bedrückenden finanziellen Verhältnissen. Familien sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, so lautet eine der traurigen Lehren des Armutsund Reichtumsberichts und eine der traurigsten Erblasten
der alten Regierung.
({7})
Frau Eichhorn, Ihre Sorgen um die Alleinerziehenden
teile ich. Ich teile vor allem die Sorge um die 60 Prozent
der Alleinerziehenden, die keine Steuern zahlen und auch
nicht von dem Haushaltsfreibetrag, dessen Wegfall Sie oft
kritisieren, profitieren. Hier ist öffentliche Verantwortung
gefragt; denn Armut und Sozialhilfebezug bedeuten oft
den Einstieg in einen Teufelskreis aus schlechten Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und damit der Verfestigung von Armut. Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen
und Politiker, den Familien den Ausbruch aus diesem Teufelskreis zu ermöglichen.
Hierzu fordert der Elfte Kinder- und Jugendbericht
einen Perspektivenwechsel ein, nämlich das zu Beginn
beschriebene Verzahnen von privater und öffentlicher
Verantwortung. Eltern sollen in erster Linie Verantwortung für sich selbst und ihre Kinder tragen. Das heißt, sie
müssen in die Lage versetzt werden, Arbeit aufzunehmen,
also Familie und Beruf zu vereinbaren.
({8})
Das heißt gleichzeitig, dass wir ein bedarfsdeckendes
und flexibles Angebot an Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen bereitstellen müssen. Dieser Perspektivenwechsel hin zur Gestaltung und Schaffung einer besseren
sozialen Infrastruktur ist eine der zentralen Aufgaben, die
uns der Kinder- und Jugendbericht aufgibt. Wir begrüßen
diesen Perspektivenwechsel; denn damit können wir erstens die Armut von jungen Menschen und ihren Familien
vermeiden und zweitens ihre Selbsthilfekräfte stärken.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein Leistungsgesetz, das sich bewährt hat. Es ist die gesetzliche Regelung, mit der die Kinder- und Jugendhilfe vor Ort umgesetzt werden soll. Es sieht schon heute in § 24 die
Möglichkeit für ein bedarfsgerechtes Angebot an Tageseinrichtungen vor, überlässt aber den Ländern und
Kommunen die Entscheidung darüber, mit dem Ergebnis,
dass die Ganztagsbetreuung gerade in den alten Bundesländern völlig unzureichend ist. Darum ist ein echter Perspektivenwechsel - Herr Haupt, da gebe ich Ihnen Recht hin zum Ausbau der sozialen Infrastruktur nur zu meistern, wenn sich neben den Ländern und Gemeinden auch
der Bund beteiligt. Ich denke, dafür werden wir öffentliche Verantwortung übernehmen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Thomas Dörflinger.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Elfte Kinder- und Jugendbericht enthält eine Bestandsaufnahme im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. In diesem Zusammenhang ist eines
ganz wichtig - das ist in dieser Debatte noch nicht gesagt
worden -, nämlich die Tatsache, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz vor über zehn Jahren zuzeiten der von der
Union und der FDP geführten Bundesregierung unter dem
seinerzeitigen Parlamentarischen Staatssekretär Anton
Pfeifer entstanden ist.
({0})
Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dies sei ein modernes Gesetz.
({1})
- Sie haben seinerzeit nicht zugestimmt, sondern sich der
Stimme enthalten.
({2})
Ich stelle in diesem Zusammenhang einmal die Frage,
welches Gesetz aus dem vierjährigen grün-roten Intermezzo in der Zeit von 1998 bis 2002 im Jahre 2012 als ein
zukunftsfähiges Gesetz betrachtet werden kann. Ich sage
Ihnen: Es wird keines sein.
({3})
Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion mit den Regierungsfraktionen
eint, was den Bericht der Bundesregierung angeht. Das ist
die Feststellung, dass wir gemeinsam an § 69 Abs. 3
KJHG festhalten, nämlich der bisherigen - wahrscheinlich auch zukünftigen, weil sinnvollen - Gestaltung der
Jugendhilfe auf der kommunalen Ebene mit einem eigenständigen Jugendamt und der bisherigen zweigliedrigen Struktur der Jugendhilfeausschüsse. 82 Prozent aller
Träger der öffentlichen Jugendhilfe organisieren diese so.
Das zeigt, dass sich das nicht nur bewährt hat, sondern
auch sinnvoll ist.
Allerdings weisen der Bericht der Kommission und die
Stellungnahme der Bundesregierung in einigen Punkten
deutliche Unterschiede auf. So habe ich den Eindruck gewonnen, dass hier ein Prozess der selektiven Wahrnehmung um sich greift; denn bestimmte Sachverhalte
werden durchaus unterschiedlich dargestellt. Lassen Sie
mich ein paar Beispiele nennen.
Erstens. Es war schon von Ihrem Geniestreich, dem
tollen Programm namens „Chancen im Wandel“, die
Rede. Ich habe es mir heute Nachmittag extra noch einmal angesehen.
({4})
In den vielen Seiten dieses Programmes kommt der Name
KJHG bzw. Kinder- und Jugendhilfegesetz nicht einmal
vor. Das ist für ein jugendpolitisches Programm in der Tat
ein starkes Stück. Folglich kommt der Begriff im Bericht
der Sachverständigenkommission auch nicht vor.
Zweite Bemerkung in diesem Zusammenhang: Der
Bericht ist bezüglich der Situation in den neuen Bundesländern relativ ausführlich, die Stellungnahme der Bundesregierung relativ einsilbig. Da finde ich nur den
bemerkenswerten Satz:
Die Bundesregierung nimmt die von der Sachverständigenkommission dargestellten Folgen des Personalabbaus aufgrund der demographischen Entwicklung in den neuen Bundesländern zur Kenntnis,
die insbesondere zu einer Entlassung jüngerer Fachkräfte geführt hätten …
Das ist ein bisschen wenig, wenn die zuständige Bundesregierung derartige Entwicklungen lediglich zur Kenntnis
nimmt.
({5})
Ich hätte erwartet, dass Sie sich beispielsweise mit dem
Prozess der Abwanderung von Ost nach West, der direkte
Auswirkungen auf die Kommunalfinanzen und die Personalentwicklung in ostdeutschen Kommunen hat, befassen
und dagegen etwas tun,
({6})
anstatt dies nur zur Kenntnis zu nehmen. Aber das ist die
Realität des Aufbaus Ost im dritten Jahr der Regierung
Schröder.
Drittes Beispiel: Integrationspolitik. Die Bundesregierung stellt in ihrer Stellungnahme fest - das entspricht
auch den Tatsachen -, dass sie im Bereich des Bundesministeriums des Innern die Mittel für die Sprachförderung
erhöht habe. Das ist richtig; sie hätte allerdings dazu sagen müssen, dass im Bereich des BMA und des für uns zuständigen Ministeriums in genau diesem Punkt die Mittel
zurückgefahren wurden. Ich lese dann mit großem Erstaunen im Bericht der Bundesregierung, dass im Jahr
mit der Umsetzung einzelner Elemente des neuen
Sprachförderkonzepts wie die weitgehende Verzahnung der Sprachkursangebote für jugendliche Zuwanderinnen und Zuwanderer begonnen
werden solle. Die Legislaturperiode ist fast um und ich
stelle fest: Sie haben keinen diesbezüglichen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie haben noch nicht einmal eine vage
Idee, wie das Ganze funktionieren soll, denn der Sprachverband in Mainz, der mit der Neuorganisation dieser
Dinge beauftragt werden soll, sah sich nach eigenen Angaben außerstande, all das innerhalb eines einzigen Jahres
umzusetzen.
({7})
Jetzt frage ich mich: Wie ist dieser Satz zu interpretieren?
Ziehen Sie einige Dinge vor, machen also ein Vorschaltgesetz, oder kommt es zu einer Teilumsetzung oder handelt es sich nur um einen der vielen Sprüche, die wir seit
1998 von Ihnen gehört haben?
({8})
Vierter Punkt: Der Satz, Jugendpolitik sei auch eine
Politik der Nachhaltigkeit, ist richtig und findet unsere
Unterstützung. Richtig ist allerdings auch die Auffassung
der Kommission, beispielsweise bezüglich der Sonderprogramme. Die Kommission befasst sich mit diesem
Thema sehr kritisch; sie führt aus, dass der Effekt der Sonderprogramme, die auf zwölf, 14 oder 16 Monate angelegt sind, im Grunde verpufft, da diese Sonderprogramme
nur den Effekt haben, dass in den neuen Bundesländern
Träger entstehen, die nach Auslaufen dieser Sonderprogramme anschließend genauso schnell, wie sie gekommen sind, wieder von der Bildfläche verschwinden. Damit ist der eigentliche Effekt gleich null, ein kleiner
Nebeneffekt ist aber, dass wir damit Haushaltsmittel verbraucht haben.
({9})
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zu einem
Punkt etwas sagen, der in diesem Hohen Hause gerne diskutiert wird, nämlich die Entwicklung beim JUMP-Programm. Auch in der Auffassung darüber unterscheiden
sich der Bericht der Sachverständigenkommission und
die Stellungnahme der Bundesregierung ganz erheblich.
Ich zitiere jetzt nicht aus dem Bericht der Bundesregierung, weil das wenig spannend ist - die Regierung findet
ihre eigene Politik natürlich toll -, sondern aus dem Bericht der Sachverständigenkommission:
Bei allen positiven Effekten ist jedoch anzumerken,
dass das Programm die Ursachen der Probleme am
Ausbildungsmarkt nicht beseitigt,
({10})
sondern einer weiteren Verstaatlichung der
Berufsausbildung Vorschub leistet und somit Gefahr
läuft, einen Rückzug der Wirtschaft aus der
Ausbildungsverantwortung zu fördern …
Weiter unten wird dann auf eine Untersuchung des
IAAB im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit Bezug genommen:
Jeder dritte JUMP-geförderte Jugendliche mündet
nach Abschluss der JUMP-Maßnahme in eine
Arbeitslosigkeitsphase ein ...
({11})
Ich kann nicht erkennen, welcher Effekt, außer einem statistischen, durch dieses milliardenschwere Programm erzielt werden soll.
({12})
Ich stelle fest: Sie sind in wichtigen Fragen nicht zukunftsfähig.
({13})
Die Tatsache, dass Sie während der sechs Minuten, die ich
jetzt rede, so aufgeregt reagiert haben, zeigt, dass ich den
Finger offensichtlich auf die Wunde gelegt habe.
Ich frage mich, wenn ich die Stellungnahme der Bundesregierung lese: Wo sind Ihre Perspektiven, wo sind
Ihre Visionen, was Kinder- und Jugendhilfepolitik in
Deutschland angeht?
({14})
Die Stellungnahme erschöpft sich weitgehend in einem
Referieren dessen, was seit 1998 mehr oder weniger erfolgreich gelaufen ist.
In meinem Wahlkreis zum Beispiel war in diesen
Tagen im Zusammenhang mit der Verlängerung der
Genehmigungsfristen bei Amadeus ein Thema: Wie stellen Sie sich zu einer Angleichung der Bestimmungen
- das ist im Übrigen der Kern des Antrages der Bundesländer Bayern und Saarland im Bundesrat - in bestimmten Teilbereichen zwischen dem KJHG und dem Bundessozialhilfegesetz? Sie tragen die Kindergelderhöhung,
die Sie - zweifelsohne mit unserer Unterstützung - vorgenommen haben, im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik wie eine Monstranz vor sich her. Da Ihr früherer
Fraktionsvorsitzender schon mit dem Unterschied von
brutto und netto seine Probleme hatte,
({15})
sage ich Ihnen: Sie müssen bei der Familienförderung
natürlich eine Nettorechnung machen, beispielsweise bei
Alleinerziehenden; Sie müssen den Wegfall des Haushaltsfreibetrages in diese Gesamtrechnung einbeziehen.
Wenn man so weit ist, dass die eigene Schwester vor dem
Bundesverfassungsgericht klagen muss, um den Bruder
von der Falschheit seiner Politik zu überzeugen, dann
sollte man aufgeben.
({16})
Sie referieren mehr oder weniger Erfolgloses. Wir haben ein anderes Konzept; Kollegin Eichhorn hat darauf
hingewiesen. Das Konzept besteht aus drei Säulen. Wir
werden es nach der Wahl am 22. September Zug um Zug
umsetzen, weil wir nicht Mängel verwalten wollen, sondern im Interesse der Familien in Deutschland Zukunft
gestalten.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Nein, nicht über Bayern; das lässt sich aber vielleicht an
einer Stelle nicht verhindern.
Ich habe den Anfang meiner Rede jetzt doch verändert;
denn ich fand es bemerkenswert, dass Sie hier ein
Bekenntnis zur Struktur des Kinder- und Jugendhilfegesetzes abgelegt haben. Auch dass Sie das Kinder- und
Jugendhilfegesetz loben und das auf Ihre Fahne schreiben, ist in Ordnung. Aber eines war mit Sicherheit grundfalsch: dass wir uns enthalten hätten, weil wir es etwas
weniger weitgehend hätten haben wollen. Wir hatten sicherlich Vorstellungen, die wir gerne verwirklicht hätten.
Der gesamte Elfte Kinder- und Jugendbericht, Herr
Dörflinger, handelt eigentlich von den Dingen, die zu verbessern sind. Dazu treten wir auch an.
({1})
Einmal abgesehen von dem hier monierten Wahlkampfstreit, in den dieser Bericht wirklich nicht einbezogen werden sollte, glaube ich, dass wir uns wahrscheinlich darüber einig sind, dass es zu keiner Zeit so hohe
Ansprüche an eine nachwachsende Generation gab wie
heute. Kinder und Jugendliche sollen die immer größere
Wissensflut, die immer dynamischere technische Revolution beherrschen, lebenslang lernen, mehrsprachig, mobil
und börsenfest sein, gleichzeitig sozial engagiert und
durchsetzungsfähig, Konflikte aber auf jeden Fall gewaltfrei lösen - mit anderen Worten: moderne Tausendsassa,
eine Projektion all dessen, was die Erwachsenen gern
selbst wären und woran sie doch meistens mehr oder weniger scheitern.
Gleichzeitig werden heute wie seit 3 000 Jahren Klischees bedient, vor allem von Medien und Erwachsenen,
die kaum noch Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben, als handele es sich insgesamt um eine Problemgruppe. Bereits auf babylonischen Schrifttafeln war zu lesen, die Jugend sei dumm, gewalttätig, faul und gottlos.
Heute heißt das: Monsterkids, unkonzentriert, gewalttätig, hedonistische Konsumenten, bildungsfaul und
ohne Wertorientierung.
In der Tat wäre es besser, wenn wir Kinder und Jugendliche nicht ständig als Problemgruppe der Gegenwart, sondern schlicht als wichtigste Träger der Zukunft
dieser Gesellschaft ernst nehmen und annehmen würden
({2})
und endlich aufhörten, so zu tun, als könne man den veränderten Realitäten des 21. Jahrhunderts, die uns zum
Beispiel die angesprochene PISA-Studie deutlich vor
Augen geführt hat, mit preußischen Erziehungsmethoden,
mit dem Nürnberger Trichter und der Schule des 19. Jahrhunderts gerecht werden.
Wir wollen allen, die in diesem Land aufwachsen, in
das sie durch Zufall hineingeboren worden sind, und auch
denjenigen, die hier zuwandern - meistens ohne gefragt
zu werden -, das Beste mit auf den Weg geben. Darum
geht es bei der Kinder- und Jugendhilfe,
({3})
damit die Kinder und Jugendlichen die Zukunft für sich
gemeinsam, aber gerade auch im Interesse des Wohlstandes der älteren Generationen meistern können und damit
sie unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und vom
Geldbeutel ihrer Eltern lernen können, ihre Flügel auszubreiten und zu fliegen. „Wüchsen die Kinder fort, wie sie
sich andeuten, hätten wir lauter Genies“, behauptete
Goethe in „Dichtung und Wahrheit“. Das mag übertrieben
oder sogar erschreckend klingen. Aber es ist etwas Wahres daran.
Was hindert Mädchen und Jungen daran, so fort- bzw.
aufzuwachsen, dass sie ihre Begabungen so gut wie möglich entwickeln können und dass ihre Neugier und Wissbegier befriedigt wird? Was können und sollen Eltern leisten? Welche Unterstützung liegt in der öffentlichen
Verantwortung? Was muss die Politik tun, und zwar jenseits von Überforderungen, vor allen Dingen jenseits von
Verstaatlichungs- genauso wie von Privatisierungsideologien, die weder den Problemstellungen noch den jungen
Menschen in ihrer ganzen Vielfalt als soziale Wesen gerecht werden?
Genau das ist das Thema des Elften Kinder- und Jugendberichts. Er ist der erste dementsprechende Bericht,
der seit 1990 Anspruch und Wirklichkeit des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes im vereinten Deutschland
umfassend beschreibt. Er ist im Übrigen auch der erste
Bericht, der so rechtzeitig mit der Stellungnahme der
Bundesregierung vorliegt, dass sich Parlament und Fachwelt ausführlich noch vor Ende der Wahlperiode damit
beschäftigen und auch die richtigen Schlüsse daraus ziehen können.
({4})
Dafür gebührt unser Dank der Berichtskommission,
den Praktikern und den Wissenschaftlern, die in nur zwei
Jahren und - im Vergleich zu anderen Expertenberichten - mit dem für Jugendpolitik üblichen niedrigen Budget arbeiten mussten und eine fachlich und empirisch umfassende Grundlage für eine Neuorientierung der Kinderund Jugendhilfe vorgelegt haben.
Gerhard Schröder hat gesagt, dass kein Kind in
Deutschland am Rande stehen bleiben soll.
({5})
Das hat für uns Sozialdemokraten auch Priorität. Das bedeutet Chancengleichheit, auch das Recht auf eine
zweite Chance, eine bedarfsgerechte Infrastruktur für
Kinder und Familien, die Eltern - außer im Notfall - nicht
ersetzt, sondern unterstützen und ergänzen soll. Das bedeutet verstärkte Anstrengungen bei der Integration der
Zugewanderten und auch bei der Zusammenarbeit von Eltern, Schule und von außerschulischer Bildungsarbeit der
Jugendhilfe und der Jugendarbeit.
Ministerin Bergmann hat hier eindrucksvoll dargelegt,
dass wir in den ersten dreieinhalb Jahren unserer Regierungszeit bereits wichtige Schritte einer kinderfreundlicheren und familienfördernden Politik umgesetzt haben.
Es ist richtig, dass weitere Schritte folgen müssen und
auch folgen werden. Das bedeutet auf keinen Fall Abbau
oder Zuständigkeitslockerung im SGB III, sondern Sicherung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe,
die sich grundsätzlich bewährt hat: mit den pluralen
freien Trägern, den wichtigsten Stützen der Zivilgesellschaft, den örtlichen Jugendämtern - deren Zweigliedrigkeit von Verwaltung und Kinder- und Jugendhilfeausschüssen sich grundsätzlich bewährt hat - und auch den
Beratungs-, Fortbildungs- und Qualitätssicherungsaufgaben der Landesjugendämter.
Wir werden alle Versuche abwehren, aus populistischen oder finanzpolitischen Gründen - wie jetzt wieder
von Bayern und dem Saarland eingebracht - das Kinderund Jugendhilfegesetz, seine Zuständigkeiten und Strukturen zu durchlöchern.
Darüber hinaus lässt sich sicherlich über die bessere
Umsetzung und Nutzung der Potenziale vor Ort sowie
über die Zielgenauigkeit gut streiten. Dazu gibt der Bericht wichtige Hinweise.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Ich muss Sie
auch noch darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit schon abgelaufen ist. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Rede
elegant mit der Beantwortung der Frage abschließen
könnten.
Ich werde mich bemühen.
Herr Kollege, Sie
haben den Gesetzentwurf angesprochen, den Bayern und
das Saarland einbringen wollen.
({0})
Wären Sie vielleicht so nett, den hier versammelten Kollegen und Kolleginnen, die diesen Gesetzentwurf offensichtlich nicht kennen, seine Sinnhaftigkeit und seine familienpolitischen Auswirkungen darzustellen?
({1})
Frau Kollegin, ich verstehe, dass
Sie diese Frage spontan stellen müssen,
({0})
weil dieser Antrag der Länder Bayern und Saarland am
22. Februar dieses Jahres, also ziemlich passend zur Debatte über den Elften Kinder- und Jugendbericht, hier eingegangen ist.
({1})
und völlig im Widerspruch zu dem steht, was gerade von
Herrn Dörflinger gesagt worden ist.
Denn es geht ja nicht um eine Anpassung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder an die Sozialhilfe. Was würde dies den Kommunen bringen, wenn es
nicht Standardabbau bedeuten würde? Schließlich werden
die Kosten in beiden Fällen zum größten Teil von den
Kommunen getragen. Es geht um etwas ganz anderes, genauso wie bei der Frage des Abbaus von Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe
({2})
bei volljährigen Jugendlichen, deren Hilfen aber vor ihrer
Volljährigkeit begonnen haben. Es geht um Standardabbau. Es geht hier meiner Meinung nach darum, für
weitere Versuche, mit dem Rasenmäher über das Kinderund Jugendhilfegesetz zu gehen, ein Einfallstor zu schaffen.
Das haben wir in den letzten Jahren ständig gehört - wenn auch vielleicht nicht von den Kinder- und
Jugendpolitikern, Frau Kollegin Eichhorn, sondern von
vielen anderen, die immer den Abbau von sozialpädagogischen Hilfen und Strafrechtsverschärfungen für Kinder und Jugendliche gefordert haben. Das ist das Credo.
Es gibt andere Beispiele, bei denen es ebenfalls um Standardabbau geht. Zugrunde liegt dem: Man denkt, dass bei
der Kinder- und Jugendhilfe ein überzogenes Anspruchsdenken besteht und man ausufernde Tatbestände schafft.
Frau Kollegin, das ist meines Erachtens bemerkenswert.
({3})
- Herr Kollege, ich habe mich mit dem Gesetzentwurf,
der mir hier vorliegt, beschäftigt.
({4})
- Es wurde nach dem Gesetzentwurf gefragt, den die Länder Bayern und Saarland eingebracht haben, und diesen
habe ich hier vorliegen.
Ich bin der Meinung, zu einem neuen Generationenvertrag - damit habe ich meine Antwort abgeschlossen ({5})
gehören neben dem Abbau öffentlicher Schulden natürlich eine aufgabengerechte Finanzstruktur von Bund,
Ländern und Kommunen und eine neue finanzpolitische
Schwerpunktsetzung bei der wichtigsten Zukunftsinvestition in unserem Land, den Kindern und Jugendlichen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Damit schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8181 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP, Drucksache 14/8383, soll an
dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 a und 8 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl,
Dr. Heinz Riesenhuber, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Steuerliche Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter
({1}) verbessern
- Drucksachen 14/5318, 14/8150 Berichterstattung:
Abgeordnete Nina Hauer
Hansgeorg Hauser ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Steuer beim Aktientausch
- Drucksachen 14/3009, 14/6398 Berichterstattung:
Abgeordnete Nina Hauer
Otto Bernhardt
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Nina Hauer.
Verehrte Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! An die Adresse der CDU und der
CSU möchte ich sagen: Wenn ich mich daran erinnere,
wie Sie sich angestellt haben, als wir das Betriebsverfassungsgesetz erneuert haben,
({0})
um mehr Mitbestimmung in Deutschland zu sichern und
sie vor allen Dingen zu modernisieren,
({1})
dann freue ich mich, dass mittlerweile auch Sie Anhänger
einer größeren materiellen Mitarbeiterbeteiligung geworden sind.
({2})
Ich freue mich, dass Sie uns auf diesem Weg begleiten
wollen. Ob allerdings der von Ihnen gewählte Weg der
richtige ist, bezweifele ich.
Es ist richtig, dass viele kleine Unternehmen, gerade
junge Startups, aber auch bestehende Unternehmen, ihre
Innenfinanzierung dadurch gewährleisten können, dass
sie an ihre Mitarbeiter Aktienoptionen ausgeben. Denen
möchten Sie helfen. Ihr Antrag zeigt, dass Sie nicht deutlich machen können, wie Sie ihnen eigentlich helfen
wollen. Denn jede von Ihnen vorgeschlagene Möglichkeit
- eigentlich eine sehr breite Angebotspalette - hat ihre
Tücken.
Ich greife einmal auf, uns als Gesetzgeber beispielsweise an der Schweiz zu orientieren. In der Schweiz werden Aktienoptionen dann besteuert, wenn sie gewährt
werden. Wenn die Option nicht ausgeübt wird, entsteht
ein persönlicher Nachteil, da Steuern gezahlt wurden.
Dies ist eine Regelung, die für uns in Deutschland nicht
infrage kommt.
Ein anderes Beispiel sind die USA. Dort gibt es zwei
verschiedene Möglichkeiten, mit Aktienoptionen umzugehen. Die eine ist: Bei Optionen, deren Marktpreis sofort
festzustellen ist, findet schon bei der Gewährung eine
Versteuerung statt. Hier besteht also das gleiche Problem
wie in der Schweiz, das ich soeben dargestellt habe: Wenn
man Aktienoptionen erhält, ist man steuerpflichtig. Wenn
man sie nicht ausübt, ist zwar die Steuer gezahlt worden,
aber ein Gewinn konnte nicht verbucht werden.
Die andere Möglichkeit ist, dass man steuerpflichtig
wird, wenn man die Aktienoption veräußert. Sie sagen, an
dieser Regelung sollten wir uns orientieren. Da kann ich
Ihnen nicht folgen. In den USA gibt es die gleiche Spekulationsfrist wie in Deutschland, nämlich zwölf Monate.
Wenn Sie Ihre Aktien innerhalb dieser zwölf Monate
verkaufen, sind Sie dort - so wie auch in der Bundesrepublik - zum Einkommensteuersatz steuerpflichtig.
Wenn Sie Ihre Aktien nach Ablauf der Spekulationsfrist
veräußern, müssen Sie in den USA 20 Prozent Ihres Gewinns versteuern. In Deutschland ist dieser steuerfrei.
Worin in der Übernahme der in den USA bestehenden
Regelung, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, eine Verbesserung bestehen soll, das ist mir nicht klar geworden.
Die Beispiele, die Sie nennen, machen deutlich, dass es
auch im Ausland keine steuerfreien Lösungen gibt und
dass wir gut daran tun, die jetzige Regelung beizubehalten. Stellen Sie sich vor, Sie hätten 1998 zur Motivation
Ihrer sich im Wahlkampf befindenden Partei Optionen auf
einen Wahlsieg der CDU/CSU bei der Bundestagswahl
erhalten: Diese Optionen wären heute nichts wert. Auch
1998 wären sie nichts wert gewesen. Aber Sie hätten
schon bei der Gewährung dieser Optionen Steuern zahlen
müssen.
({3})
- In dem vorliegenden Antrag wird immer noch dasselbe
Problem beschrieben.
Ich habe den Eindruck, dass Sie auf die Idee gekommen
sind, mit höheren Steuereinnahmen das Haushaltsloch, das
Sie uns hinterlassen haben, stopfen zu wollen. Diejenigen,
denen geholfen werden soll, werden von dieser Regelung
nicht profitieren. Denn eine Option auf die Zukunft ist
natürlich immer mit einem Risiko verbunden; an dem soeben geschilderten Beispiel kann man das deutlich sehen.
Wir wollen nicht, dass Mitarbeiter dieses Risiko tragen
müssen und gleichzeitig auf Gehalt verzichten.
Es gibt in alten und neuen Unternehmen gleichermaßen eine Reihe von Mitarbeitern, die sich darauf verlassen haben, dass ihre Optionen, die sie von ihrem
Arbeitgeber erhalten haben, später etwas wert sind. Das
ist nicht immer der Fall. Die Kurse sind ziemlich gesunken; die Optionen haben oftmals ihren Wert verloren. Die
Gewährung von Aktienoptionen ist also für Mitarbeiter
nicht immer automatisch ein gutes Geschäft. Sie birgt zudem das Risiko, dass diejenigen, die über kein hohes Einkommen verfügen, einen Teil ihres Einkommens verlieren, weil sie dafür Aktienoptionen erhalten, die ihnen
keinen Gewinn bringen.
Wir meinen, dass diese ungleiche Verteilung von Unternehmensrisiken nicht dadurch unterstützt werden
sollte, dass wir dafür Steuergeschenke verteilen. Wer für
sein Unternehmen eine solche Regelung treffen möchte,
der kann das tun. An vielen Stellen hat sich die Ausgabe
von Aktienoptionen, die materielle Beteiligung von Mitarbeitern am Erfolg ihres Unternehmens, bewährt. Wir
unterstützen das. Aber wir meinen nicht, dass wir deswegen auf weitere Steuereinnahmen verzichten sollten
und der Gesetzgeber verpflichtet ist, zu handeln, um seine
Lenkungsfunktion wahrzunehmen.
({4})
Sie sagen, ein anderer Vorteil im Zusammenhang mit
Aktienoptionen sei die Mitarbeitermotivation. Es gibt in
unserem Land viele mittelständische Unternehmen, in denen Aktienoptionen nicht gewährt werden können, weil es
sich bei diesen Unternehmen nicht um Aktiengesellschaften handelt oder keine Aktien ausgegeben werden können.
Ich möchte nicht unterstellen - ich hoffe, das tun auch Sie
nicht -, dass es dort keine motivierten Mitarbeiter gibt.
Ich hoffe, dass Sie damit auch nicht meinen, dass dann,
wenn die Kurse fallen, auch die Motivation sinkt. Das
wäre für die deutsche Wirtschaft eine schwierige Situation und entspricht einfach nicht der Realität.
Wir wollen mehr Chancen für eine materielle Teilhabe.
Sie wissen, dass dieses Thema im Bündnis für Arbeit immer wieder aufgegriffen wird.
({5})
Wir wollen sicherstellen, dass eine der Grundlagen für das
Modell der deutschen Marktwirtschaft, nämlich die Mitbestimmung, materiell ausgeweitet wird. Ob wir dafür allerdings Steuererleichterungen benötigen, das bezweifeln
wir. Wir wollen andere Regelungen treffen, um Mitarbeiter zu beteiligen. Ich denke, dass die Modernisierung
des deutschen Mitbestimmungsrechts ein erster Schritt
war.
({6})
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden uns
diese Erneuerung danken.
({7})
Es ist schade, dass Sie sich daran nicht beteiligt haben.
Dann wären solche Anträge, wie Sie sie heute stellen, mit
Sicherheit glaubhafter.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Die Debatte kommt zu einem außerordentlich
erfreulichen Zeitpunkt. Wir haben gestern dem „Tagesspiegel“ entnommen, dass die Bundesregierung beschlossen hat, dass dies die Wochen der Entscheidung sind. Der
Kanzler will entscheiden. Wir haben gelernt, dass er sich
jetzt als Macher präsentiert. Das finden wir gut. Wir bieten die Aktienoptionen als ein Thema zum gefälligen Gebrauch an.
({0})
Liebe Frau Hauer, vieles von dem, was Sie gesagt haben, war genauso anregend, wie es in Ihrer letzten Rede
gewesen ist, die ich von Ihnen hören durfte. Ich darf versuchen, einige Punkte aufzuarbeiten. Wir sind uns nach
wie vor einig - und es gibt, soweit ich es sehe, unter kundigen Leuten keinen Streit darüber -, dass dies ein ernstes
Problem ist. Wir haben hier die Chance, mit Aktienoptionen sowohl den Unternehmern als auch den Mitarbeitern zusätzliche Möglichkeiten zu geben. Dies gilt
speziell für Startups und technikorientierten Unternehmen.
Nun bringen Sie den Einwand: Nicht alle sind Aktiengesellschaften, manche sind Mittelständler. - Sie wissen
genau wie ich, dass dies auch bei nicht börsennotierten
Aktiengesellschaften geht. Sie wissen, dass es Beteiligungsmodelle außerhalb der Aktien gibt, die man durchaus einbringen kann. Aber der spezielle Punkt, über den
wir jetzt diskutieren, betrifft die Firmen, die sich beispielsweise im Neuen Markt engagiert haben, Firmen, die
an technischen Ideen und der Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter, die sie entwickeln, verdienen. Diese Firmen sind eindeutig in der Situation, dass sie wegen unserer Besteuerung gegenüber anderen Ländern nicht konkurrenzfähig
sind.
({1})
Nun sagen Sie, in den USA liege die Sache mit der Capital Gains Tax anders. Ich will das etwas verkürzen: Die
Capital Gains Tax beträgt in den USA bis zu 20 Prozent.
Bei uns liegt die Besteuerung, je nachdem, welchen Zeitpunkt Sie wählen, selbst nach dieser abominablen Steuerreform immer noch zwischen 45 und 50 Prozent.
Zusätzlich zur Einkommensteuer gibt es noch den Solidaritätszuschlag. Manche von uns zahlen sogar Kirchensteuer. Was hieraus entsteht, ist ein erheblicher Unterschied in der Besteuerung.
Die Frage, die hier ansteht, lautet: Wie kommen wir zu
einer Situation, die uns sowohl in Bezug auf gute Mitarbeiter als auch in Bezug auf unseren Standort konkurrenzfähig macht? Unser Antrag - das hatten Sie in der
letzten Debatte im Einzelnen kritisiert, heute haben Sie
das nicht getan - hat sich wohlweislich nicht auf ein Modell festgelegt. Wir haben vielmehr die Ziele und die Kriterien des Problems so aufgearbeitet, dass man sich sein
Modell auswählen und schneidern kann.
Wir wollten vermeiden, dass man sich bei der Frage
zerstreitet: Besteuern wir jetzt den Moment der Gewährung der Option oder der Ausübung der Option? Wir
wollten vermeiden, dass man in eine theoretische Rabulistik über die faszinierende Frage eintritt, wo denn die
Aktienoptionen zwischen Kapitalvermögenseinkünften
einerseits und Lohneinkünften andererseits stehen. Über
all diese faszinierenden Fragen kann man intellektuell
über eine lange Zeit diskutieren. Uns aber geht es um Lösungen.
Die Oberfinanzdirektion München hat ein wunderbares Konzept vorgeschlagen, das in Bayern gilt. Von
Bayern lernen, heißt siegen lernen. Das weiß jeder.
({2})
Sie hat ein Modell vorgeschlagen, das offensichtlich innerhalb der seitherigen Gesetze funktional ist.
Seit der letzten Debatte haben wir offenbar einen
Fortschritt erreicht. Es ist einiges geschehen. Als wir
unseren Antrag eingebracht haben, stand der Beschluss
der Wirtschaftsministerkonferenz noch aus. Inzwischen
hat sie beschlossen. Sie hat einstimmig beschlossen,
dass die Situation bei der Besteuerung der Aktienoptionen verbessert werden soll, und zwar genau im Sinne
des Antrags, den wir vorgelegt haben. Zusätzlich hat sie
beschlossen, wie das geschehen soll. Einerseits sagt sie,
wir sollten das über das Halbeinkünfteverfahren regeln - dies ist in anderen steuerlichen Zusammenhängen wohl etabliert -, andererseits sagt sie, wir sollten
eine Wahlfreiheit über den Besteuerungszeitpunkt einführen.
Inzwischen haben wir noch eine weitere Erkenntnis gewonnen. Der Bundesfinanzhof hat in seiner Souveränität
schon vor dem angekündigten Zeitpunkt gesagt, dass er
davon ausgeht, dass nur im Moment der Ausübung der
Option besteuert werden kann. Damit ist die andere Hälfte
der Möglichkeiten weg, es sei denn, wir würden uns, was
wir dürfen, mit allen möglichen Leuten anlegen. Dies
würde die Sache nicht beschleunigen. Wir brauchen aber
schnelle Entscheidungen.
Erfolgt die Besteuerung im Moment der Ausübung der
Option, würde Folgendes passieren: Würde mit 50 Prozent besteuert - der Spitzensteuersatz kann hier schnell
relevant werden -, müsste derjenige, der seine Option
ausgeübt hat, einen Teil seiner Aktien - Sperrfristprobleme will ich gar nicht diskutieren - möglichst schnell
verkaufen, um die Steuern überhaupt bezahlen zu können.
Es wäre ein Witz, wenn man dann noch sagen würde, dass
die Interessen des Unternehmens und die des Mitarbeiters
identisch sind und dass der Mitarbeiter Teilhaber am Unternehmen ist. Dies könnte nicht mehr erreicht werden.
Dieses Konzept ist also in sich widersinnig.
Freunde, entschuldigen Sie, meine sehr verehrten
Damen und Herren
({3})
- ich schätze die freundliche Verbundenheit in diesem intimen Kreis; ich sage aber nicht „Brüder und Schwestern“, sondern bleibe bei den „Freunden“ -,
({4})
was kann man in dieser Situation tun? Hierbei sollte man
von erfahrenen Kollegen lernen. Es gab hier - jeder von
uns weiß es - einen vorzüglichen wirtschaftspolitischen
Sprecher der SPD, nämlich unseren Freund Ernst
Schwanhold. Derzeit ist er Landeswirtschaftsminister in
Nordrhein-Westfalen. Er führt dort ein segensreiches Regiment.
({5})
Ernst Schwanhold hat in dieser Situation einen Vorschlag
gemacht. Er sagt - dies hat er wenige Tage nach dem Urteil auf dessen Grundlage getan -, man solle so besteuern,
als ob dies Kapitaleinkünfte seien, und zwar nach dem
Halbeinkünfteverfahren. Dies ist wiederum eine Position,
die mit der der Wirtschaftsministerkonferenz, die darüber
am 1. und 2. März des vergangenen Jahres beraten hat,
übereinstimmt. Sie steht übrigens auch in Übereinstimmung mit dem, was von den verschiedenen Verbänden im
Laufe der Diskussion vertreten wurde.
Wir stellen beglückt fest, dass sich die übergeordnete
Weisheit der Union, in diesem Antrag Ziele und Kriterien
festzustellen, sich aber nicht modellverliebt auf ein einzelnes Konzept zu kaprizieren, souverän bewährt hat. Es
stellt sich jetzt in der Diskussion heraus, dass dieses Konzept rational, wohl begründet und sachlich handhabbar
ist; auf diesem Konzept können wir aufbauen.
({6})
Lieber Herr Thiele, ich stelle mit Freuden fest, dass
sich die Weitsichtigkeit der Liberalen hier wieder erwiesen hat. Der Kollege Solms hat dies in der ihm eigenen behutsamen Art in der letzten Debatte schon als eine mögliche Alternative zu bedenken gegeben.
({7})
Damit haben wir hier nicht nur eine gewisse sachliche
Klärung - manchmal sind sachliche Klärungen bei politischen Entscheidungen ungemein hilfreich; nicht immer
führt man sie durch -,
({8})
sondern auch einen Konsens bezüglich des Problems und
dessen möglicher Lösung.
Jetzt muss man es nur noch tun. Der jetzt vorliegende
Vorschlag, das Halbeinkünfteverfahren anzuwenden und
keine Wahlfreiheit mehr zuzulassen - dies entspricht der
Empfehlung der Wirtschaftsministerkonferenz -, stimmt
mit den Grundsätzen des Bundesfinanzhofes überein,
passt steuersystematisch in die eingeführten Verfahren
und entspricht dem Konsens zwischen dem Bundes- und
den Landeswirtschaftsministern sowie den Vertretern
- insbesondere den kundigen - aus den unterschiedlichen
großen politischen Parteien. Offensichtlich können selbst
die Verbände damit leben, was zwar nicht entscheidend,
aber doch erfreulich ist zu wissen. Das heißt Folgendes:
Die Sache ist reif zur Entscheidung.
Nun gibt es hier besonders kluge Leute, die sagen, das
sei heute überhaupt kein Problem mehr. Sie sagen: Schaut
euch doch die Märkte an, die Kurse fallen und deswegen
interessiert das keinen Menschen. - Schauen Sie in die
Unternehmen und in die Betriebe. Die Unternehmen sind
verdammt knapp an Geld und sie können nur überleben,
wenn sie im Wettbewerb die besten Leute bekommen.
Diese fragen nach wie vor nach den Aktienoptionen.
Warum? Bei einer Firma, die einmal einen Kurs von 200
gesehen hat und jetzt bei 25 ist, denkt jeder, es müsse doch
mit dem Teufel zugehen, wenn der Kurs bei einem Anziehen des Marktes nicht wieder steigt. Genau das ist der
Geist, den man hier braucht. Manchmal schwirrt hier ein
sehr pessimistischer Geist herum. Man wartet ab, bis sich
die Konjunktur ändert, man wartet ab, was kommt, und
will sehen, wie es sich entwickelt. Man braucht den Willen und die Freude am Erfolg. Die stolze SPD sprach einmal von „verliebt im Erfolg“. Heute denke ich eher an den
heiligen Origines, der von der Akedia, der schwarzen
Schwermut, dem Verzweifeln an der Güte Gottes, dem
Glauben, dass man selbst nichts dafür tun kann, sprach,
nicht aber von dem mutigen Unternehmungsgeist, das
Seinige zu tun und dann auf Gottes Hilfe zu vertrauen.
({9})
Was jetzt hier ansteht, ist einerseits aus der Sicht der
Unternehmen und ihrer Mitarbeiter eine faszinierende
Chance, die sie nutzen wollen. Wir brauchen aber auch für
den Markt eine Chance. Der Neue Markt ist in keinem erfreulichen Zustand. Jedes Signal, das hilfreich ist, ist ein
gutes Signal. Deshalb, verehrte Frau Wolf, bin ich Ihnen
so dankbar gewesen, dass Sie in der letzten Debatte gesagt
haben, Überlegungen zu einer neuen Besteuerung von
Fonds seien erledigt und vom Tisch. Das andere Signal
mit der Wesentlichkeitsgrenze für Beteiligungen war ein
schlechtes Signal, weil es die Business Angels völlig vergrämt hat, ohne das technisch auszuführen.
Der Neue Markt und die jungen Unternehmen erwarten nicht, dass der Staat sie mit seiner Güte subventioniert
und mit Subventionen glücklich macht. Sie erwarten, dass
man sie konkurrenzfähig macht und ihnen Chancen gibt,
in einer offenen Welt genauso gut zu arbeiten wie jede
Konkurrenz an einem anderen Ort.
({10})
Sie erwarten, dass man sie nicht behindert.
Was ist deshalb anzugehen? Wir haben eine reife Entscheidung. Wir brauchen die jungen Unternehmen, ihre
Dynamik und ihren Technologietransfer jenseits jeder
Bürokratie. Wir brauchen den Neuen Markt als Quelle
von Eigenkapital, denn eine Eigenkapitalwirtschaft ist
das, was in den kleinen und mittleren Unternehmen unter
unseren Händen entstehen muss. Jetzt sind wir in der Situation: Wir sehen mit Freude, dass wir in einer Woche der
Entscheidung sind. Der „Tagesspiegel“ hat es uns gesagt
und die Bundesregierung hat es sich vorgenommen.
Herr Kollege,
achten Sie bitte ein bisschen auf die Redezeit.
Ich bedanke
mich, Frau Präsidentin, für diese Mahnung. Ich habe mich
so sehr darauf konzentrieren müssen, nicht das Podium zu
verlassen, dass ich die Zeit vergessen habe.
Das ist ein sehr
reger Vortrag.
Wir haben jetzt
also die Woche der Entscheidung, wie wir gehört haben.
Der Kanzler wird sich als Macher erweisen. Herbert
Wehner sagte einmal über einen früheren SPD-Kanzler, er
bade gerne lau.
({0})
Darüber habe ich kein Urteil und werde mich auch dessen
enthalten. Ich würde mich aber freuen, wenn der Kanzler
die Situation wahrnimmt, machtvoll dort zu entscheiden,
wo sich alle einig sind und die Sache offensichtlich in
Ordnung ist, weil jeder, der etwas davon versteht, mit
Herzlichkeit und Begeisterung zustimmen kann, und zwar
für eine strahlende Zukunft unseres Landes.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Riesenhuber, auch wenn ich nicht zu Ihren
Freunden zähle, schätze ich doch den Unterhaltungswert
Ihrer Beiträge. Nur - mit Verlaub -, der tatkräftige Kanzler wäre sehr schlecht beraten, wenn er in das Badewasser
stiege, dass Sie ihm mit Ihrem Antrag bereitet haben,
({0})
weil dieses Badewasser nicht nur lau, sondern ganz kalt
ist. Ich finde es faszinierend: Sie haben hier ein Plädoyer
für die Unternehmen, die Aktienoptionen für Ihre Mitarbeiter brauchen, sowie für die jungen Unternehmen, die
besonders darauf angewiesen sind, gehalten. Das können
wir alles unterschreiben.
({1})
Das Problem ist, dass Sie hier den Eindruck erweckt haben, die Unternehmen seien im Moment daran gehindert.
Das sind sie nicht, um das hier einmal ganz deutlich festzustellen. Sie können diese Aktienoptionen ausgeben. Es
geht nur um die Frage, unter welchen Bedingungen die
Mitarbeiter sie versteuern müssen.
({2})
Die Aktienoptionen selbst werden aber nicht verhindert.
Sie haben hier mit Emphase gesagt: Wir brauchen Lösungen. Daraufhin habe ich noch einmal geprüft, ob ich
bei der Vorbereitung auf diese Debatte Ihren Antrag irgendwie missverstanden habe, und mir ist aufgefallen: All
das, was Sie hier skizziert haben, steht nicht im Antrag,
sondern in dem Antrag stehen Kriterien und es steht darin,
wir sollten einmal prüfen und wir sollten einmal sehen,
wie es sonst in Europa ausschaut. Das ist alles schön und
gut und lässt sich auch machen.
({3})
Nur, lieber Kollege Riesenhuber: Eine Lösung ist doch etwas anderes.
Dann haben Sie noch gesagt: Wir wollen uns hier nicht
in selbstverliebter Modellbastelei verlieren.
({4})
Nun ja, so sind aber Lösungen. Das sind dann doch die
Mühen der Ebenen und es muss ein bisschen konkreter
sein. Das ist genau das, was Ihr Antrag nicht bietet, weswegen wir auch gut beraten sind, ihn abzulehnen und
schon gar nicht zu denken, das sei irgendetwas, was dem
Kanzler bei seiner Tatkraft helfen könnte.
({5})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Riesenhuber?
Ja.
Hochverehrte
Frau Kollegin Fischer, würden Sie mir darin beistimmen,
dass ich in einer konstruktiven Weiterentwicklung aus
dem Dialog mit Ernst Schwanhold und anderen hervorragenden Leuten
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Jetzt
lobt er noch einmal!
zu einem Konzept gekommen bin, das diesen Antrag noch
weiter konkretisiert, sodass das, was ich Ihnen jetzt hier
zu Füßen gelegt habe, eine vorzügliche Grundlage dafür
sein kann, dass der Bundeskanzler hier entscheidet und
sich den Wirtschaftsministern und vielen anderen kundigen Leuten anschließt?
Lieber Kollege Riesenhuber, auch wenn ich jetzt
noch einmal genau sehe, was da auf dem Boden liegt:
({0})
Wir stimmen einfach nicht über Ihre Rede ab, sondern
über den Antrag.
({1})
Es tut mir Leid. Selbst wenn Sie dem Antrag mit Ihrer
Rede jetzt mehr Gehalt verleihen wollten, ändert das
nichts am Inhalt des Antrags, und den habe ich gerade referiert. Der Antrag ist hier Gegenstand der Abstimmung.
({2})
Gestatten Sie
noch eine zweite Zwischenfrage? Damit ist es dann aber
auch gut.
({0})
Nachdem Sie
mir hier liebenswürdigerweise angedeutet haben, dass Sie
bei einer Abstimmung über meine Rede zustimmen könnten,
({0})
darf ich damit die Frage stellen, ob Sie selbst bei einer formalen Ablehnung meines Antrags, die ich hier in Demut
hinzunehmen bereit bin, sich in der Lage sehen, das inhaltliche Konzept, auf das sich jetzt alle billig und gerecht
Denkenden geeinigt haben, mit all Ihrer Kraft und dem
Einfluss Ihrer starken Fraktion zu unterstützen?
Ich würde es wirklich für ein Missverständnis Ihrerseits halten, wenn Sie meinen, ich hätte schon gesagt,
ich würde Ihrem Konzept zustimmen. Ich habe zunächst
einmal natürlich auf den formalen Vorgang hingewiesen
und bemerkt, dass der CDU-Antrag - im Grunde haben
Sie das in Ihrer Rede auch durchaus zugegeben - schon
sagt, dass alles, was man bei der Besteuerung und der
Veränderung macht, seine Tücken haben wird.
({0})
Das trifft auch auf das von Ihnen vorgeschlagene Halbeinkünfteverfahren aus einem anderen Jahr - daran sollten Sie sich gut erinnern - zu, das ist bekanntermaßen
ebenfalls nicht ohne Tücken.
Was ich von Ihnen gar nicht gehört habe, ist eine auch
nur halbwegs irgendwie faktengesättigte Annahme darüber, wie viel Geld das die Länder, die das so vollmundig gefordert haben, kosten könnte, vom Bund ganz zu
schweigen. Deswegen müssen Sie mir nachsehen, dass
ich für den heutigen Tag auch Ihre Rede nicht für abstimmungsreif halte.
({1})
Ich will noch einmal sagen, warum: Ich glaube auch
nicht, dass das Thema mit dem heutigen Tag, wenn wir
diesen beklagenswert mageren Antrag der CDU abgelehnt haben, erledigt ist.
({2})
Wenn man über eine steuerliche Veränderung in diesem
Bereich nachdenken will, muss man sich darüber im Klaren sein, dass eine Einigung über die Frage, wie man das
behandelt, am Ende trotzdem nicht über das Risiko, das
die Arbeitnehmer tragen, entscheidet. Das Risiko bleibt
bei Aktienoptionen hoch. Alle diejenigen, die am Neuen
Markt in den letzten Jahren darauf gesetzt haben, dass das
eine sehr lohnenswerte Form der Entlohnung sein könnte,
können inzwischen ein trauriges Lied davon singen. Das
Risiko können wir übrigens über die Besteuerung auch
nicht wirklich abbauen, gerade weil eben offen ist, was
diese Aktienoptionen zum Zeitpunkt der Besteuerung
wert sind.
Das Zweite ist, dass wir gerade angesichts dieser Unsicherheit natürlich nicht sagen können, ob es kostenneutral ist. Das hat sehr viel damit zu tun, wann die Besteuerung erfolgt. Ich kann mir auch sehr starke zyklische
Schwankungen vorstellen, je nachdem, wo der DAX und
die anderen einschlägigen Indikatoren gerade stehen.
Ich meine nicht, dass wir ein für alle Mal sagen können, dass wir die Frage der Besteuerung von Aktienoptionen nicht mehr aufgreifen müssen.
({3})
Ich meine aber trotzdem, dass der Handlungsdruck auch
nach der Klarstellung durch den Bundesfinanzhof zurzeit
nicht in der geforderten Form besteht
({4})
- na gut, dazu, warum wir Ihrem Antrag nicht zustimmen
können, habe ich wirklich genug gesagt -, zumal ich der
Meinung bin, dass auch das von Herrn Riesenhuber skizzenhaft aufgezeichnete Konzept nicht nur darauf geprüft
werden müsste, welche finanziellen Folgen es hätte, sondern auch darauf, ob es sich in der Tat als so günstig erweisen würde, wie es von allen gewollt ist.
Wir wollen ja - darin stimme ich Ihnen wiederum zu -,
dass die Unternehmen über Aktienoptionen als Mittel verfügen, um bestimmte Mitarbeiter anzuziehen.
({5})
Außerdem wollen wir das auch, weil wir es für richtig
halten, dass Arbeitnehmer am Produktivkapital beteiligt
werden und weil diese Beteiligung der Mitarbeiter auch
etwas für die Unternehmenskultur bedeutet. In diesen
Punkten stimme ich Ihnen zu. Aber nicht alles, was wir für
gut halten, müssen wir auch gleich steuerlich begünstigen. Es geht - das halte ich für eines der größten Probleme
dabei - um die Frage der Ungleichbehandlung von verschiedenen Einkunftsarten und um die Frage von anderen Verwerfungen, die sich daraus ergeben würden, wenn
wir diese von uns gewünschte Einkunftsart besonders gut
behandeln würden, und um das uralte Problem, dass wir
immer dann, wenn wir eine Sache für schön, gut und gerecht halten, sofort auf die Idee kommen, man müsse sie
steuerlich begünstigen. Ich meine, dass wir uns das nicht
mehr so leisten können, wie wir alle uns über viele Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt hatten.
({6})
Dementsprechend muss man mehr Vorsicht an den Tag legen, als Sie es getan haben.
Abschließend möchte ich in Kenntnis Ihres Antrags
noch eines anmerken. Sie selbst verweisen in Ihrem Antrag darauf, dass es gute Gründe gibt, bei dieser Besteuerung darüber nachzudenken, dass eine europäische Harmonisierung erforderlich ist. Deswegen stellt sich die
Frage, ob wir gut beraten sind, mit einer nationalen Regelung vorzupreschen, oder ob es nicht besser direkt auf
europäischer Ebene geregelt werden sollte.
Danke sehr.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Riesenhuber, bei Ihren Ausführungen ist mir als einziges
Positives hier deutlich geworden, warum eine Raummikrofonanlage überhaupt einen Sinn haben kann. Denn wie
man so um das Pult herumgehen kann
({0})
und trotzdem verstanden wird, ist eine Kunst eigener Art.
Ich habe das Raummikrofon immer für falsch gehalten.
Aber Kompliment dafür, wie Sie es gemacht haben.
({1})
Frau Kollegin Fischer, es geht um den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion. - Auf unseren Antrag komme ich
gleich zu sprechen. - Die CDU/CSU-Fraktion fordert die
Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag
einzubringen, der die steuerlichen Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter so verbessert, dass sowohl für die Unternehmen als auch die Mitarbeiter die Anreize zur Nutzung
dieses Entlohnungsinstruments erhöht werden.
Ich weiß nicht, warum diesem Antrag nicht zugestimmt
werden kann.
({2})
Denn genau das ist es, was wir benötigen, Frau Kollegin
Fischer. - Frau Präsidentin, sie hört nicht zu.
({3})
Dafür habe ich
leider keine Zwangsmittel, Herr Thiele.
({0})
Aber allein wenn Sie das
Wort ergreifen, Frau Präsidentin, ist die Aufmerksamkeit
schon um einiges erhöht, sogar bei der Kollegin Fischer,
die ich auch noch persönlich angesprochen habe. Deshalb
wiederhole ich es noch einmal: Schauen Sie sich den Antrag noch einmal an! Der ist so unverfänglich formuliert,
dass meiner Ansicht nach sogar die Grünen zustimmen
könnten, wenn sie guten Willens wären. Denn mit diesem
Antrag sollen sowohl für diejenigen, die investieren und
die Betriebe gründen, Möglichkeiten eröffnet werden,
ohne viel Eigenkapital die Firma zu gründen, als auch für
diejenigen, die in den Unternehmen beschäftigt sind, Miteigentümer der Betriebe zu werden.
Ich habe ein Schreiben der Deutschen Industrievereinigung Biotechnologie zu dieser Debatte über den Antrag - auch den der FDP-Fraktion - bekommen, in dem es
heißt:
Gerade für junge Wachstumsunternehmen aus der
Biotechnologie und anderen Hochtechnologiefeldern erweisen sich die derzeit in Deutschland geltenden steuerrechtlichen Rahmenbedingungen für Mitarbeiteraktienoptionen im weltweiten TechnologieAndrea Fischer ({0})
wettbewerb als äußerst nachteilig. Denn die Gewinnung, Motivation und Bindung der Mitarbeiter ist für
diese Unternehmen von großer Bedeutung.
Besonders wichtig ist dabei die Partizipierung der
Mitarbeiter am Unternehmenserfolg. ...
Bei Biotechnologieunternehmen werden üblicherweise alle Mitarbeiter in die Aktienoptionsprogramme einbezogen - also nicht nur das „Top-Management“.
Frau Hauer, ich habe Ihre Rede gehört und auch Ihre
Rede vom März letzten Jahres nachgelesen. Seinerzeit
hatten Sie darauf hingewiesen, dass Sie dieses Thema in
das Bündnis für Arbeit einbringen wollten, das die Probleme dann lösen werde. Das funktioniert überhaupt
nicht. Erstens ist im Bündnis für Arbeit hierzu keine
Lösung gefunden worden. Möglicherweise wurde die Lösungssuche auch nicht ernsthaft genug betrieben. Zweitens. Wer als Parlamentarier seine eigenen parlamentarischen Rechte an ein außerhalb des Parlaments stehendes
Gremium in der Hoffnung abgibt, dort würden die Lösungen gefunden werden, die wir hier zu finden haben, hat
ein Großteil seiner Abgeordnetentätigkeit leider überhaupt nicht verstanden. Hier tätig zu werden ist Aufgabe
der gewählten Volksvertreter.
({1})
Der Antrag, den die FDP gestellt hat, ist sehr konkret.
Über ihn kann direkt abgestimmt werden. In ihm geht es
um den Aktientausch. Das heißt, die Aktien einer Aktiengesellschaft werden im Wege eines Aktientausches erworben, wie es bei Vodafone und Mannesmann geschehen
ist. Nach heutiger Rechtslage hat dies zur Folge, dass ein
fiktiver Veräußerungsgewinn auf den Bestand der Aktien
besteuert wird, den der Einzelne hält, und bei den neuen
Aktien, die er dafür erhält, die Spekulationsfrist erneut
einsetzt. Insoweit haben wir hier eine Form der Doppelbesteuerung, die auch nicht im Sinne des Fiskus sein
kann. Deshalb fordern wir als FDP, ganz konkret auf diese
Doppelbesteuerung zu verzichten, um hier die Möglichkeit zu eröffnen, die der Kapitalmarkt nicht nur bei der
Veräußerung von Unternehmen gegen Bares und mit entsprechendem Anteil bei den Aktieninhabern, sondern
eben auch auf dem Wege des Tausches bietet.
Diese Möglichkeiten brauchen junge Unternehmen,
Start-up-Unternehmen, bei denen jeweils die Steuer zuschlägt, wenn es zum Aktientausch kommt. Wer so etwas
sieht, denkt darüber nach, ob er sein Unternehmen in
Deutschland gründet oder in ein anderes Land geht, nach
Belgien, in die Vereinigten Staaten oder in andere Länder,
die erheblich günstigere Bedingungen haben. Warum man
aus kleinkariertem, rein fiskalischem Denken daran festhält, diese Unternehmen zu besteuern, damit Geld in die
Staatskasse kommt, ist vollkommen unverständlich. So
denkt sich Klein Hänschen die Welt, aber so funktioniert
sie nicht.
Wir brauchen Menschen, die hier investieren. Dazu
benötigen wir für die Unternehmen und deren Mitarbeiter
die entsprechenden Rahmenbedingungen. Insofern bedeutet leider auch in der Frage der Stock Options und des
Aktientausches diese rot-grüne Wahlperiode vier Jahre
verlorene Zeit für den Standort Deutschland.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am bemerkenswertesten fand ich
an Ihrer Rede, Herr Riesenhuber, dass Sie so getan haben,
als hätte die CDU/CSU ein in sich geschlossenes Steuerkonzept, mit dem sie sofort loslegen würde. In den letzten
Tagen waren verschiedene Äußerungen zu lesen. Unter
anderem wurde die Verschärfung der Besteuerung großer
Konzerne gefordert. Die Botschaft höre ich wohl, allein
mir fehlt der Glaube. Sie versprechen viel, was in sich
sehr widersprüchlich ist; dies zeigt auch der heute vorliegende Antrag.
Mit Ihrem Antrag versuchen Sie, der Öffentlichkeit einen Bären aufzubinden, denn Sie tun so, als würden Aktienoptionen heute so wie alle anderen Einkünfte besteuert
werden. Dem ist aber nicht so. Das ist also eine Auskunft
wider besseres Wissen. Der Bundestag hat, wenn auch gegen die Stimmen der PDS, im vergangenen Jahr eine
Unternehmensteuerreform verabschiedet, in deren
Folge Unternehmensgewinne deutlich niedriger als
Löhne und Gehälter besteuert werden.
({0})
Sie wollen mit Ihrem Antrag in die Wege leiten, dass Aktienoptionen noch niedriger besteuert werden. Hier ist von
einer Gleichmäßigkeit der Besteuerung nichts zu bemerken. Vielmehr soll ein bestehendes Steuerprivileg noch
stärker ausgebaut werden.
({1})
Es wurde argumentiert, dass dies wegen der Entwicklung der Unternehmen des Neuen Marktes notwendig sei.
Wenn man sich aber die reale Entwicklung genau ansieht,
dann stellt man fest, dass nur ein Bruchteil der Unternehmen des Neuen Marktes große Gewinne erzielt hat.
Aber dem rasanten Aufstieg folgte ein rasanter Fall. Das
liegt daran, dass Aktien oft nicht den wahren Wert eines
Unternehmens widerspiegeln. Sie werden von vielen Faktoren beeinflusst.
Eines hat die jüngste Vergangenheit auch gelehrt:
Die Manager der entsprechenden Unternehmen konnten
in der Vergangenheit - oftmals durch betrügerische Aktivitäten - rechtzeitig vor dem Sinken der Börsenkurse
große Aktienpakete verkaufen, wodurch sich der Druck
auf die Aktien des eigenen Unternehmens noch verschärfte. Diese Manager sind aus der Sache gut herausgekommen. Aber die Mitarbeiter, die sich für die
Aktienoption entschieden hatten, blieben mit Verlust auf
ihren Aktienoptionen sitzen. Hieran zeigt sich, dass
es dumm wäre, Löhne und Gehälter der Gefahr von
Spekulation und Betrug auszusetzen. Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich freiwillig für Aktienoptionen entscheiden, dann haben sie auch das Risiko zu tragen. Sie genießen schon heute entsprechende steuerliche
Vergünstigungen. Aber einen weiteren Ausbau der steuerlichen Vergünstigungen werden wir von der PDS nicht
unterstützen.
({2})
Wir meinen, Löhne und Gehälter sollen nicht der Gefahr
von Spekulation und Betrug ausgesetzt werden; denn das
würde letztlich auf einen Lohn- und Gehaltsraub hinauslaufen.
Da meine Redezeit sehr begrenzt ist, möchte ich zum
Schluss nur noch ganz kurz auf den FDP-Antrag eingehen. Herr Thiele, auch auf den Antrag Ihrer Fraktion trifft
das zu, was ich gerade gesagt habe. Es ist doch schon
beschlossen worden, dass Spekulationsgewinne nur noch
zur Hälfte besteuert werden. Herr Mundorf hat in der gestrigen Ausgabe des „Handelsblatts“ - das ist wahrlich
keine sozialistische Zeitung - festgestellt, dass Deutschland eine heimliche Steueroase sei, weil Zuwächse bei
den Privatvermögen steuerlich fast gar nicht mehr erfasst
würden. Mit Ihrem Antrag wollen Sie dafür sorgen, dass
Deutschland auch in Zukunft eine Steueroase bleibt. Wir
sollten nicht vergessen, dass auch die öffentliche Hand
Geld benötigt. Gerade die PISA-Studie hat deutlich gemacht, dass es notwendig ist, in öffentliche Bereiche, insbesondere in die Bildung, zu investieren. Wenn aber der
Staat keine Einnahmen mehr hat, wie soll er dann diese
notwendigen Investitionen tätigen?
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache
14/8150 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Steuerliche Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter ({0}) verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/5318 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/6398 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Keine Steuer beim Aktientausch“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3009 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und
der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Stiftungsrechts
- Drucksache 14/8277 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Eckhart Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll,
ebenso wie mit dem gleich lautenden Regierungsentwurf
vom 6. Februar dieses Jahres, das Stiftungsprivatrecht
modernisiert werden. Das Stiftungswesen in Deutschland ist - das wissen wir - vielfältig. Stiftungen entfalten
wertvolle Aktivitäten in allen Bereichen des öffentlichen
Lebens. Damit werden ungemein wichtige Aufgaben erfüllt, die die öffentliche Hand oft gar nicht so leisten
könnte. Das gilt gerade für den Sozialbereich sowie für
Bildung und Forschung, aber auch für den kulturellen Bereich. Mit einer Reform des Stiftungsrechts wollen wir
dieses bürgerschaftliche Engagement nachdrücklich unterstützen und Bürokratie abbauen. Zu einer Förderung
der Stiftungskultur in Deutschland gehört auch ein modernes Stiftungsrecht.
Die steuerlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen haben wir bereits mit dem Gesetz vom 14. Juli 2000
verbessert. Diese Reform hat mit dazu beigetragen, dass
sich das Stiftungswesen in einer regelrechten Aufbruchstimmung befindet.
Ich darf das an einigen Zahlen erläutern. Die Zahl der
Neugründungen ist in den letzten Jahren ständig gestiegen. Wurden im Jahr 1998 noch 505 privatrechtliche Stiftungen errichtet, so waren es im Jahr 2000 schon 681.
Nach aller Voraussicht wird in diesem Jahr die Zahl der
Stiftungen die 10 000er-Grenze überschreiten.
({0})
Nach der Reform im steuerlichen Bereich richtet sich
die Aufmerksamkeit nun auf die Modernisierung des Stiftungsprivatrechts. Es geht im Kern darum, das Verfahren zur Errichtung von Stiftungen bürgerlichen Rechts
einfacher zu gestalten, damit auch zu beschleunigen und
einen gesetzlich ausdrücklich bestimmten Rechtsanspruch auf Anerkennung der Rechtsfähigkeit einer Stiftung einzuführen.
Den Schwerpunkt des Entwurfs bilden die folgenden
vier Punkte, die im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt
werden sollen:
Erstens. Der Entwurf enthält erstmals ein ausdrückliches Recht auf Stiftung. Im Bürgerlichen Gesetzbuch wird
festgeschrieben, dass der Stifter einen Rechtsanspruch
darauf hat, dass die Stiftung als rechtsfähig anerkannt
wird, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.
Zweitens. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Anerkennung der Stiftung werden im Entwurf abschließend und - das füge ich mit Bedacht hinzu - erstmals bundeseinheitlich geregelt.
({1})
Dabei geht der Gesetzentwurf von dem Ansatz aus, die
Stifterfreiheit wesentlich zu stärken. Deshalb werden die
obligatorischen Anforderungen an das Stiftungsgeschäft
und die Stiftungssatzung auf ein unverzichtbares Minimum reduziert.
Drittens. Der Gesetzentwurf schreibt erstmals ausdrücklich fest, dass Stiftungen zu jedem gemeinwohlkonformen Zweck errichtet werden können. Das entspricht auch der allgemein anerkannten Rechtslage. Ich
finde es richtig, dass man hierbei nicht von vornherein
Einschränkungen macht. Wenn dem Gesetzgeber eine
Stiftung besonders wertvoll ist, dann kann er das im steuerlichen Bereich honorieren. Das materielle Stiftungsrecht dagegen sollte aus unserer Sicht neutral sein.
Viertens. Um den Grundsatz der Stiftungsfreiheit
auch sprachlich deutlich zu machen, wurde der Begriff
„Genehmigung der Stiftung“ durch den Begriff „Anerkennung der Stiftung“ ersetzt. Das ist nicht nur eine Änderung des Wortlauts - das wäre relativ einfach -, sondern
das zeigt auch, dass der Gesetzgeber einen neuen Ausgangspunkt festlegt. Man wendet sich von der obrigkeitsrechtlichen Sicht der Dinge ab und einer fördernden und
bürgernahen Sicht zu.
({2})
Wesentliche Voraussetzungen für eine Modernisierung
des Stiftungsprivatrechts hat die Arbeitsgruppe der
Länder und des Bundes zum Thema Stiftungsrecht erarbeitet. Das möchte ich hier noch einmal ausdrücklich
anerkennen. Diese Arbeitsgruppe war von der Bundesministerin der Justiz, Frau Professor Däubler-Gmelin,
einberufen worden. Sie sollte den Reformbedarf untersuchen. Sie wissen aufgrund des Berichts dieser Bund-Länder-Arbeitsgruppe, dass die Bestandsaufnahme ausgesprochen gut und gründlich war. Auch das Stiftungsrecht
anderer Staaten ist ausgewertet worden. Erstmals hatten
wir nun eine sichere Grundlage, um die einschlägigen
Fragen beantworten zu können. Hier sind insbesondere
die Sachkunde und die Hilfe der Verbände, die sich mit
Stiftungen beschäftigen - ich will sie an dieser Stelle ausdrücklich als kooperativ und hilfreich bezeichnen -, zu erwähnen.
({3})
Auch andere, etwa Wissenschaftler, Rechtsanwälte, Notare und Richter, haben ihren Beitrag geleistet. Die Ergebnisse des Abschlussberichtes vom Oktober letzten
Jahres sind in die Vorschläge für die Bundesgesetzgebung
und für die Verwaltungspraxis der Länder - auch sie muss
noch angesprochen werden - eingeflossen.
Die Vorschläge der Kommission für die Gesetzgebung
des Bundes werden nun durch den Regierungsentwurf
und den heute zur Debatte stehenden Koalitionsentwurf
zügig umgesetzt. Weitere Möglichkeiten zur Umsetzung
liegen auch bei den Ländern. Ich hoffe, dass es bei den
Ländern entsprechende Folgeschritte geben wird.
Ich bin zuversichtlich, dass wir es mithilfe aller Fraktionen schaffen können, noch in dieser Legislaturperiode
auch das materielle Stiftungsrecht neu zu ordnen. Das ist
zwar kein revolutionärer Schritt;
({4})
aber nach 100 Jahren war es in der Tat an der Zeit, das Stiftungsrecht zu modernisieren. Ich wünsche mir, dass alle
Fraktionen dieses Hohen Hauses dabei aktiv mitarbeiten.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten für die CDU/CSUFraktion.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Wolfgang,
staatstragend!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf kann die jahrelange fruchtbare Diskussion über die Erleichterung der Errichtung
von Stiftungen und die Ermunterung, solche Stiftungen
für gemeinnützige Zwecke zu gründen, noch in dieser Legislaturperiode ihren Abschluss finden.
Es hat zwar etwas länger gedauert, bis aus den einzelnen Vorlagen etwas Gemeinsames wurde. Ich erinnere an
den Gesetzentwurf der Grünen vom 1. Dezember 1997, an
den Gesetzentwurf der FDP vom 28. Januar 1999, an den
Gesetzesantrag des Landes Hessen vom 20. Dezember
1999 im Bundesrat, an den Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 9. November 1999, an den Gesetzesantrag der
Länder Baden-Württemberg, Bayern, Saarland und
Thüringen vom 19. April 2000, an die Ergebnisse der
Bund-Länder-Kommission, an den neuen Entwurf der
FDP vom 4. April 2001 und schließlich - spät, Herr Kollege, aber nicht zu spät - an den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen von
diesem Monat.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Intentionen und auch
der Überlegungen beinhalten alle Gesetzentwürfe das
Ziel, dafür zu sorgen, dass ein Stifter einen Anspruch auf
Genehmigung oder Anerkennung einer Stiftung hat und
dass bei Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen ein
Anspruch darauf besteht, und zwar ohne Ermessensspielraum. Damit sollte und wird die privatrechtliche Stiftung
die Rechtsfähigkeit nicht durch eine behördliche Genehmigung erlangen, sondern schlichtweg durch eine Anerkennung, auf die ein Anspruch besteht. Das ist in der Tat
etwas anderes.
Die teilweise erhobenen Forderungen nach einem einheitlichen Bundesstiftungsrecht, das den Ländern die
Kompetenzen entzogen hätte, sind zu Recht fallen gelassen worden. Die Länderkompetenzen haben sich dort bewährt, wo von den Landesregierungen vernünftige
Behörden dafür eingesetzt wurden. Daher wurde die Forderung, für die Anerkennung und Aufsicht zuständige
Landesstiftungskammern oder eine Bundesstiftungskammer einzurichten, meiner Ansicht nach zu Recht fallen gelassen, weil sie nur neue, unnötige behördenähnliche Apparate, die von Stiftungen wiederum durch eine
Zwangsmitgliedschaft zu finanzieren gewesen wären, erforderlich gemacht hätten.
Lassen Sie mich am Rande sagen - ich habe das schon
einmal in einer Diskussion zum Ausdruck gebracht -: Ich
hätte der Errichtung einer Bundesstiftungskammer nur
dann zugestimmt, wenn ich gleichzeitig zu ihrem Präsidenten designiert gewesen wäre.
({0})
- Sie sehen: Wir haben es nicht gemacht. Das war vielleicht ganz gut.
So hat sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Rahmenbedingungen für Stiftungen geeinigt, deren Ziel es ist,
neue Impulse für das gemeinwohlorientierte Stiftungswesen zu setzen, ohne diese Stiftungen, wie viele gern gesehen hätten, mit Präferenzen für das Kulturwesen auszustatten. Angesichts der Fülle der Gesetze, die auf den
Bürger herniederkommen, ist es auch richtig gewesen
- dazu stehe ich -, kein eigenes Stiftungsgesetz vorzulegen, sondern aus den Vorlagen der verschiedenen Parteien
und Gruppierungen in Bund und Ländern die klarsten und
deutlichsten Formulierungen zu übernehmen und in wenigen, geänderten Paragraphen in das BGB einzubringen.
Kurz und knapp wurden die bestehenden neun Paragraphen geändert. Sie wurden dorthin gebracht, wo sie
hingehören, unter anderem auch in die Nähe des Vereinsrechts, das auch weiterhin durch Verweisungen herangezogen werden wird.
Dabei halte ich es für wichtig und richtig - die für Kultur zuständigen Kollegen mögen mir dies verzeihen; ich
will die Kompetenz der anderen Kollegen nicht infrage
stellen -, dass die Diskussionen insbesondere im Rechtsausschuss, also dort, wo sie hingehören, geführt werden.
Auch können kaum Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, dass die Stiftungsregelungen zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes gehören
und eine bundeseinheitliche Regelung gemäß Art. 72
Abs. 2 Grundgesetz zu bejahen ist, weil ein einheitlicher
Rahmen für die Stiftung der Zukunft geboten ist. Dazu
gehört insbesondere - um es zu wiederholen - der Rechtsanspruch des Stifters, dass die Stiftung als rechtsfähig anerkannt werden muss, wenn die übrigen Voraussetzungen
vorliegen. Dies ist richtigerweise bundeseinheitlich in
§ 80 Abs. 2 BGB verankert worden.
Damit ist dann auch der Streit zu Ende, ob - Herr Pick
hat bereits darauf hingewiesen - die herrschende Meinung richtig ist, dass bereits nach dem geltenden Recht ein
Anspruch auf Genehmigung zuerkannt wurde. Somit
dient die jetzige Regelung der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.
In den Beratungen sollte die Bedeutung des § 80
Abs. 2 im Übrigen noch konkretisiert werden. Der Halbsatz: „die dauernde nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert ist und die Stiftung das Gemeinwohl
nicht gefährdet“ sollte klarer gefasst werden. Was ist unter dauernder nachhaltiger Erfüllung des Stiftungszwecks zu verstehen? Ein Ewigkeitscharakter kann auch
einer auf unbegrenzte Dauer angelegten Stiftung nicht zukommen und es kann beim besten Willen nicht geprüft
werden, ob eine heute ins Leben gerufene Stiftung in
zehn, 50 oder 100 Jahren noch nachhaltig die Erfüllung
des Stiftungszweckes absichert. Wenn sie darin steht, dass
eine Stiftung auch auf Zweckerfüllung gerichtet sein kann
und mit der Zweckerfüllung endet, sollte dies auch im Gesetz seinen Niederschlag finden.
Der Rechtsanspruch auf Anerkennung wird bedenklich
wieder in den Ermessensspielraum von Genehmigungen
„herabgezont“, wenn die zuständige Behörde zu prüfen
berechtigt ist, ob die Vermögensausstattung für die dauernde und nachhaltige Erfüllung ausreicht, und daneben
auch noch in die Prüfung einbezieht, ob weiter ausreichende Zustiftungen bzw. Zuwendungen die Nachhaltigkeit für die Zukunft sozusagen garantieren. Hierdurch
würde unter Umständen der Willkür bei der Anerkennung
Tür und Tor geöffnet.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Stifter hinterlässt
eine Verfügung von Todes wegen, mit der eine Stiftung errichtet wird, um ein Denkmal zu initiieren, und stattet
diese Stiftung mit 20 000 Euro aus. Es kann nun nicht
Aufgabe der zuständigen Behörde sein, die Anerkennung
der Stiftung davon abhängig zu machen, dass die Testamentsvollstrecker oder Stiftungsvorstände Pläne mit Kostenvoranschlägen etc. zur Anerkennung vorlegen. Für den
Fall, dass das Geld für dieses Denkmal nicht ausreicht und
Zustiftungen nicht möglich sind, haben wir die Bestimmung des § 87 BGB, nach der die zuständige Behörde der
Stiftung eine andere Zweckbestimmung geben oder sie
sogar aufheben kann. Diese Berechtigung hat sich nicht
geändert, sodass auch eine Stiftung, die satzungsgemäß
ihr Stiftungsvermögen verbrauchen kann, anzuerkennen
ist, und zwar unabhängig davon, ob ein Beamter oder zuständiger Sachbearbeiter nachzuprüfen oder nachzurechnen hat, wie lange eine Stiftung etwa mit 100 000 Euro
existieren kann. Wird die Stiftung vermögenslos, ist wiederum nach § 87 Abs. 1 BGB zu verfahren.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Pick, ich wäre dankbar, wenn wir uns in den Berichterstattergesprächen um
eine wohl letztlich auch von Ihnen gewünschte klare Formulierung bemühten; denn wir alle sind wohl der Auffassung, dass die Stiftungen erleichtert und nicht erschwert
werden sollen und insbesondere deren Errichtung beschleunigt werden soll.
Lassen Sie mich auch sagen: Wir in Baden-Württemberg
hätten keiner Regelung bedurft, weil die dort zuständigen
Behörden, die Regierungspräsidien, kurze und schnelle
Entscheidungen treffen. Wir wollen natürlich nicht, dass
sich diese gute Praxis durch ein neues Gesetz ändert.
({1})
Ich habe gehört, dass die Praxis in anderen Ländern
nicht so einfach gewesen ist. Dort ist bei den Entscheidungen ein Stau von bis zu einem Jahr möglich gewesen.
Mit diesen meiner Ansicht nach notwendigen Verbesserungen wird auch die Stiftung von mehreren Personen,
auch von juristischen Personen, die im Übrigen bisher
längst möglich war und heute mit dem Schlagwort „Bürgerstiftungen“ in Verbindung gebracht wird, erleichtert;
denn bei einer Bürgerstiftung sind die Anfangseinlagen
häufig relativ gering und es sollen erst durch Publicity einer solchen Bürgerstiftung neue Stifter gewonnen werden.
Auch hier darf nicht ein Sachbearbeiter die Erfolgsaussicht einer solchen Stiftung gegebenenfalls gar unter weltanschaulichen oder parteipolitischen Aspekten prüfen.
Auch hier gilt, dass eine Bürgerstiftung, die ihren Zweck
mangels Masse oder mangels Objekt nicht erfüllen kann,
entsprechend umzuwandeln oder zu löschen ist.
Zu Recht hat man sich auch nicht auf das Glatteis
begeben, für die unterschiedlichen Stiftungen gemeinnütziger oder nicht gemeinnütziger Art verschiedene Voraussetzungen im Gesetzentwurf zu verlangen. Vielmehr ist
letztlich der Anspruch auf Anerkennung gegeben, wenn
das Gemeinwohl nicht gefährdet ist. Dadurch sind nach
wie vor Unternehmensstiftungen, Familienstiftungen und
andere Formen möglich. Sie werden richtigerweise über
das Steuerrecht in gemeinnützige, teilgemeinnützige und
nicht gemeinnützige Stiftungen unterteilt. Insoweit hat
das im März 2000 verabschiedete Gesetz zur weiteren
steuerlichen Förderung von Stiftungen bereits Erfolge
gezeitigt. Die Zahlen, die Herr Pick vorgelegt hat, sind ja
beeindruckend.
Einen Anschub für Stiftungsgründungen hat auch die
Tatsache bewirkt, dass Zuwendungen bis zu einem Betrag
von 20 450 Euro vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden können. Darüber, ob diese Höhe richtig
ist und endgültig so bleiben sollte, kann man sicher diskutieren. Vielleicht sollte man auch darüber diskutieren,
ob dieser Betrag bei Zuwendungen an zwei Stiftungen erhöht werden kann, damit nicht nur eine oder wenige populäre Stiftungen alles Geld bekommen, sondern auch
viele andere Stiftungen in den Genuss von Zuwendungen
kommen.
Eins wollte ich auch noch einmal wiederholen, weil
immer wieder gesagt wird, man stifte nur Steuern. Das ist
natürlich nicht der Fall. Wer 20 000 Euro stiftet, muss
diese 20 000 Euro erst einmal netto verdient haben. Dafür
sind, wenn ich richtig gerechnet habe und vereinfacht einen Steuersatz von 50 Prozent zugrunde lege, 40 000 Euro
zu verdienen.
({2})
- Sie sind noch dicke da. Lieber Alfred Hartenbach, du
verwechselst Firmen und Privatpersonen. Ich rede von
Privatpersonen.
({3})
- Streiten wir uns nicht. Ich habe jetzt aus Vereinfachungsgründen 50 Prozent zugrunde gelegt; ich würde
mich freuen, wenn es weniger wären.
Wenn ich also die 40 000 Euro zugrunde lege, dann
wurden davon schon einmal 20 000 Euro an Steuern gezahlt. Stifte ich nun die anderen 20 000 Euro, dann kann
ich von dem zu versteuernden Einkommen 20 000 Euro
abziehen, zahle also 10 000 Euro weniger Steuern. Um
also 20 000 Euro zu stiften, muss ich 30 000 Euro brutto
verdient haben und habe davon hinterher nichts mehr.
Man muss also dazu sagen, dass es sich hierbei nicht um
eine Steuerersparnis im eigentlichen Sinne handelt.
Herr Kollege von
Stetten, Sie müssten jetzt bitte zum Schluss kommen.
({0})
Ich bin gleich am Ende, Frau Präsidentin.
Wenn wir - davon bin ich überzeugt - zu einem guten
Ergebnis kommen, haben wir eine bereits vom 44. Deutschen Juristentag 1968 geforderte Reform durchgeführt,
indem wir die Vorschläge der dafür eingesetzten Steuerkommission teilweise in Normen gegossen haben. Ich
hoffe, dass wir zu einem guten Ergebnis kommen, damit
das Gesetz noch in dieser Periode beschlossen werden
kann.
Danke schön.
({0})
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Antje Vollmer für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stiftungsdebatten sind wirklich sehr schöne Debatten. Erstens kann man feststellen, dass sie auf Konsens abzielen,
zweitens kann man in der Regel feststellen, dass die
Laune bei ihnen gut ist, und drittens gibt es gerade bei den
Stiftungsdebatten manchmal ganz ungewöhnliche Lösungsvorschläge. Selten ist ein Gesetzesvorschlag im
Bundesrat sogar noch materiell verbessert worden. Das
war bei der letzten Beratung dieses Gesetzes im steuerrechtlichen Teil der Fall. So haben dann alle das Gefühl,
an einer guten Sache beteiligt zu sein. So habe ich auch
die Rede des Kollegen von Stetten als sehr konstruktiv
empfunden und freue mich über seine Unterstützung. Es
ist also ein gutes Ergebnis parlamentarischer Arbeit.
Gerade die Reform des Stiftungsrechtes - darauf sind
wir stolz - ist ein Kernbestandteil rot-grüner Regierungstätigkeit.
({0})
Hier kommt aber nicht nur rot-grüne Regierungstätigkeit
und rot-grünes Parlamentsverständnis zum Ausdruck,
sondern vor allen Dingen das rot-grüne Verständnis von
der Potenz der Bürgergesellschaft. Wenn man ihr nämlich Chancen zur Entfaltung gibt, dann wird sie diese
Chancen auch ergreifen. Langsam erholt sich das Stiftungswesen hierzulande. Es wurde schon gesagt: Ende
2000 gab es immerhin schon wieder 9 700 Stiftungen in
der Bundesrepublik. Ich war gerade auf einem Fundraising-Kongress; auch da wurde davon gesprochen, dass
es schon über 10 000 seien und allein im letzten Jahr
1 000 neue Stiftungen entstanden seien. Wenn ich daran
denke, was man damals hier darüber gesagt hat, dann
muss ich festhalten: Wir haben erfolgreich agiert und aus
der Mitte der Gesellschaft heraus ist erfolgreich geantwortet worden.
({1})
Für mich persönlich ist das ein wunderbarer Abschluss
eines Prozesses, an dem ich fünf Jahre sehr intensiv gearbeitet habe. Es ging vor allen Dingen darum, das Stiftungswesen aus dem Elfenbeinturm der Gesellschaft zu
entlassen und das Verständnis in der Gesellschaft für Stiftungen und Stifter und dafür, dass sie das tun dürfen, was
sie tun wollen, zu entwickeln.
Die Förderung der Stiftungen hat auch - das ist uns besonders wichtig - zu einer überraschenden Zahl von Bürgerstiftungen geführt. Im Sommer 2001 vermerkte der
Bundesverband Deutscher Stiftungen in diesem Bereich
die Überschreitung der Hundertermarke. Das zeigt, dass
die Stiftungen nicht nur für die Gemeinschaft angelegt
sind, sondern nun auch verstärkt von ihr, von neuen Gemeinschaften, errichtet werden. Das ist keineswegs ganz
einfach; denn diese Bürgerstiftungen verzichten auf etwas, was die Einzelstifter haben: auf ihren eigenen Namen, auf die individuelle Handschrift. Sie finden sich
häufig in Kommunen zusammen, um für die Kommune
etwas Dauerhaftes im sozialen Bereich, im Jugendbereich
oder im Kulturbereich zu schaffen.
Deswegen ist es wichtig, dass nicht nur die Rechtspolitiker, sondern auch die Kulturpolitiker darüber mit entscheiden und mit bestimmen. Angesichts der Schwierigkeiten in der Theaterlandschaft in der Bundesrepublik
muss man feststellen, dass gerade Bürgerstiftungen eine
ideale Grundlage zur Sicherung der Theater wären, die
immer wieder gefährdet sind. Es gibt eine Reihe weiterer
Möglichkeiten, dieses Instrument in der Gesellschaft
zum Nutzen der Kommunen weiterzuentwickeln, zum
Beispiel auch zur Unterstützung von Museen, das heißt
genau in den Bereichen, von denen wir alle wissen, dass
sie teuer sind, dass sie aber auch frei sein und die Freiheit
haben müssen, Durststrecken zu überwinden. Gerade
dafür sind die Bürgerstiftungen ein wunderbares Instrument.
({2})
Alles blüht und gedeiht aufs Schönste. Aber nun haben
wir uns auch noch, was man uns gar nicht zugetraut hatte,
des zweiten Teils, nämlich der zivilrechtlichen Seite des
Stiftungsrechtes, angenommen, und sei es nur, damit wir
die Ehre haben, den ganzen Prozess und nicht nur den
steuerrechtlichen Teil abgeschlossen zu haben. Ich finde
diesen Abschluss wichtig, weil wir damit auf eine lange
Praxiserfahrung reagieren. Dieser zweite Teil des Prozesses war durchaus schwierig, weil er nur zusammen mit
den Ländern gestaltet werden konnte. Sie wissen - jedenfalls die, die an den internen Debatten teilgenommen haben -, dass es in den Ländern zunächst keine große Bereitschaft dazu gab, da das Stiftungsrecht eines der
liebsten Kinder der Länder war. Bis die Länder bereit waren, sich auf eine bundeseinheitliche Regelung einzulassen, bedurfte es einer langen Diskussion. Das Bundesjustizministerium hat dafür gesorgt, dass diese Debatte
stattfinden konnte. Schließlich sind wir zu einer guten Regelung gekommen, und zwar zu einer - das muss ich nun
doch sagen -, die weit über das hinausgeht, was die FDP
mit ihren sehr waghalsigen drei Vorschlägen, die in einigen Zeitungsartikeln sofort kritisch unter die Lupe genommen worden sind, angekündigt hatte.
Wer also die Länder mit im Boot haben will, muss mit
ihnen sprechen.
({3})
Man spürt auch in der Debatte in diesem Hause, dass mit
den Ländern gesprochen worden ist.
Der Gesetzentwurf enthält vier Neuregelungen:
Erstens. Wir haben jetzt das, was es zunächst gar nicht
geben sollte, nämlich das Recht auf Stiftung. Das heißt,
wir nehmen in der Sache Abschied vom Konzessionsgedanken, von dem obrigkeitlichen Gedanken, dass der
Staat für den Prozess des Stiftungserlasses sein Gütesiegel geben muss. Was eine gemeinnützige Stiftung ist - Sie
haben das richtig gesagt -, kann man über das Steuerrecht
klären; man muss es aber nicht im Akt der Einrichtung der
Stiftung machen. Es gehört zu den grundlegenden Rechten des Einzelnen, dass er Stifter sein kann. Damit ist das
Institut des Stiftens bürgerrechtlich ganz anders anerkannt.
Zweitens. Wir haben eine abgeschlossene Liste der materiellen Voraussetzungen zur Errichtung einer Stiftung in
das Gesetz aufgenommen. So ist ein Mindeststandard gewährleistet. Das bringt Übersichtlichkeit, Einfachheit und
Transparenz im Stiftungswesen und ist damit stifterfreundlich. Deswegen und natürlich auch aufgrund der
Debatte der letzten Jahre kann man feststellen, dass sich
die Praxis erheblich vereinfacht hat. Auch ich habe am
Anfang erfahren, dass Stiftungsprozeduren bis zu zwei
Jahre gedauert haben. Die schnellste Gründung war die
der Bundeskulturstiftung innerhalb von sechs oder sieben
Tagen. So geht es also auch.
Drittens. Stiftungszweck kann jedes Anliegen eines
Stifters sein, das nicht gegen das Gemeinwohl verstößt.
Nur so ist die Vielfalt der Stiftungen zu gewährleisten.
Viertens. Stiftungen werden von den Behörden - auch
das ist schon gesagt worden - nicht länger genehmigt,
sondern sie werden anerkannt. So schließt sich der Kreis.
Eine wahrhafte Modernisierung des Stiftungsrechts ist
beabsichtigt. Ich begrüße diese Initiative ausdrücklich.
Dennoch will ich betonen, dass es für mich persönlich einen Wermutstropfen gibt.
({4})
Wie bei allen schönen Dingen wünscht man sich immer
noch ein bisschen mehr. Wir Grünen hätten uns ein Stiftungsregister gewünscht, aber nicht, weil es sich dabei
um eine Behördenkammer gehandelt hätte oder weil der
Posten eines Präsidenten oder einer Präsidentin zu vergeben gewesen wäre.
({5})
Dieses Register würde vielmehr dem legitimen Bedürfnis
der Öffentlichkeit Rechnung tragen, über die privilegierte
Rechtsform Stiftung mehr und Einheitlicheres zu erfahren, als die Stiftungen selbst oft bereit sind, bekannt zu geben. Wenn die Öffentlichkeit schon einen solchen Vertrauensvorschuss gibt, dann wäre es gut, wenn die
Stiftungen selbst in der Öffentlichkeit für sich werben
würden. Es handelt sich ja um sinnvolle Stiftungszwecke,
die sich jeder Stifter sehr genau überlegt. Denn mit seinem
Kapital finanziert er eine Stiftung, deren Zweck ein Leben
lang erhalten bleibt. Es besteht also ein gewisser Druck
für den Stifter oder für die Bürgerstiftung, sich den Zweck
genau zu überlegen.
Es wäre natürlich gut gewesen, wenn man zusätzlich
zur Bekanntgabe des einmal festgelegten Stiftungszwecks
auch eine jährliche öffentliche Rechenschaftslegung der
Stiftungen wie in den USA vorgesehen hätte.
({6})
In den USA hat dies zu einer größeren Akzeptanz der Stiftungen geführt. Es hat ferner zu mehr Wettbewerb geführt,
weil die Stiftungen untereinander darum wetteifern, wer
die Gelder besser anlegt und wer erfolgreicher ist. Man
kann dadurch die ganze Palette der Stiftungen, angefangen von den operativ tätigen bis hin zu den gemeinnützig
tätigen Stiftungen, kennenlernen. Dadurch erfahren die
Menschen, die an eine Stiftung herantreten wollen, Genaueres darüber, mit wem sie es zu tun haben.
Die Vertreter der Länder haben dafür leider keine Notwendigkeit gesehen. Aber ich setze, optimistisch nach
vorne blickend, darauf, dass es die Praxis zeigen wird.
Was wir in der Zukunft noch brauchen werden, wird uns
die Praxis lehren. Trotzdem ist festzuhalten: Was wir bisher in zwei großen Schritten erreicht haben, ist etwas, für
das sich niemand in diesem Parlament schämen muss,
sondern über das er sich freuen sollte.
In diesem Sinne wollen wir die Anhörung durchführen.
Ich glaube, dass wir dann sehr schnell zu einem Abschluss
kommen können.
Ich danke Ihnen.
({7})
Es spricht jetzt der
Kollege Rainer Funke für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kurz vor Ende dieser Legislaturperiode
liegt nun endlich in erster Lesung der Gesetzentwurf zur
Änderung des materiellen Stiftungsrechts vor.
({0})
- Ja, endlich.
({1})
Sie haben sich das vor vier Jahren in Ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen.
({2})
Am Ende dieser Legislaturperiode wird es nunmehr wahr,
dass Sie einen eigenen Gesetzentwurf zum Stiftungszivilrecht vorlegen, nachdem die FDP bereits am 4. April 2001
einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat.
({3})
- Das ist völlig richtig. Ich glaube aber, dass der Bundesgesetzgeber gerade auf diesem Gebiet nicht alles mit den
Ländern abstimmen muss. Er kann vielmehr eigenständig
überlegen - es handelt sich nämlich um eine Regelung im
BGB und nicht um irgendwelche Ländergesetze -, wie dieser Flickenteppich im Stiftungsrecht beseitigt werden kann.
Den Bock zum Gärtner zu machen ist noch nie gut gewesen.
Man wundert sich, dass die Koalitionsfraktionen diese
Kurzfassung des Stiftungszivilrechts - so will ich es einmal nennen - erst jetzt vorlegen. Denn es handelt sich hier
ja nur um eine Klarstellung der §§ 80 und 81 des BGB.
Mehr ist es nicht.
({4})
Auch wundert man sich darüber, dass die Grünen
diesen Entwurf mittragen, nachdem sie ja bereits am
1. Dezember 1997 einen recht gut ausformulierten und
ausführlichen Gesetzentwurf zur Förderung des Stiftungswesens vorgelegt haben, der von dem Hamburger
Professor Dr. Rawert ausgearbeitet worden war.
({5})
Wieder einmal haben sich die Grünen bei ihrem Koalitionspartner und dem Bundesjustizministerium nicht
durchsetzen können.
({6})
Daher verwundert es nicht, wenn Professor Dr. Rawert
den jetzt vorgelegten Gesetzentwurf in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ völlig niedermacht. Sie werden
den entsprechenden Artikel gelesen haben. Allerdings
habe ich zu meinem eigenen Bedauern auch gelesen - das
gebe ich zu, Frau Vollmer -, dass Professor Rawert auch
unseren Entwurf kräftig angegriffen hat.
({7})
- Das ist in diesem Fall nicht notwendig.
({8})
Bei dem vorgelegten Gesetzentwurf handelt es sich um
eine so genannte Paralleleinbringung, weil der Entwurf
der Bundesregierung noch im Bundesrat liegt und noch
nicht einmal in den Ausschüssen abschließend beraten
worden ist.
({9})
Das mag auch an den unterschiedlichen Interessenlagen
von Bund und Ländern liegen. Darüber haben wir ja eben
auch schon kurz mittels unserer Zurufe diskutiert.
({10})
Der Entwurf der Bundesregierung bzw. der Koalitionsfraktionen ist nun einmal ein Minimalkonsens, auf
den man sich geeinigt hat. Das ergibt sich auch aus den
Ergebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die ihren
Abschlussbericht am 19. Oktober 2001 vorgelegt hat.
Dass es sich um einen Minimalkonsens handelt, sieht
man dem Gesetzentwurf der Bundesregierung bzw. der
Koalitionsfraktionen auch an. Ich glaube, da ist der Entwurf der FDP-Bundestagsfraktion schon dezidierter
und entspricht auch mehr den praktischen Notwendigkeiten.
({11})
Immerhin ist dem Entwurf der Koalitionsfraktionen
trotz all seiner Dürftigkeit zu konzedieren, dass eine Bundeskompetenz, entgegen der Auffassung der Bayerischen
Staatsregierung, bejaht wird und dass nunmehr auch
durch §§ 80 und 81 BGB klargestellt wird, welche Unterlagen für das Stiftungsgeschäft vom Stifter angefordert
werden dürfen und müssen. Dadurch sind die Landesbehörden in ihrem Ermessen hinsichtlich weiterer Anforderungen eingeschränkt.
Damit ist das unwürdige Spiel mancher Stiftungsaufsichtsbehörden beendet - natürlich nicht das der Stiftungsaufsichtbehörden von Baden-Württemberg, bei denen alles sehr viel besser sein wird -,
({12})
- doch, von Hamburg ja -, die immer wieder neue, zusätzliche Unterlagen vom Stifter anfordern und den Stiftungsvorstand in seiner Arbeit einschränken wollen. Häufig ist ja auch der Stiftungsvorstand ehrenamtlich tätig.
Die Auflagen, die man von den Stiftungsaufsichtsbehörden bekommt, sind nicht immer hilfreich.
Auch ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung davon Abstand genommen hat, die Stiftungen auf ausschließlich gemeinnützige Zwecke zu begrenzen. Wenn in
der Begründung auf das Gemeinwohl abgestellt wird, ist
damit offensichtlich gemeint, dass Stiftungen, die verfassungswidrige Zwecke verfolgen, verboten sind. Das ist
auch unsere Auffassung, sollte dann aber im Gesetzestext
klargestellt werden. Aber dazu haben wir sicherlich in den
Berichterstattergesprächen ausreichend Zeit.
Auch teilen wir die Auffassung der Koalitionsfraktionen, dass die Stifterfreiheit gestärkt werden soll. Gerade
deswegen halten wir unseren Entwurf für dezidierter und
pragmatischer und werden auch unsere Vorschläge bei
den gemeinsamen Beratungen einbringen.
Insgesamt ist der Entwurf der Koalitionsfraktionen
noch sehr nachbesserungsbedürftig. Wir werden über die
notwendigen Verbesserungen, die sich im Rahmen der
Anhörungen und der Berichterstattergespräche ergeben
haben, sicherlich noch miteinander diskutieren müssen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir freuen uns,
dass die Koalitionsfraktionen ihre ersten Schrittchen in
die richtige Richtung, also auf dem Weg zu einer Modernisierung des bürgerlichen Stiftungsrechts, gemacht haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich erteile
dem Kollegen Professor Dr. Heinrich Fink für die PDSFraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Frage liegt
nahe: Haben die Koalitionsfraktionen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Versprechen eingelöst, das sie bei
Verabschiedung des neuen Stiftungssteuerrechts abgegeben haben?
({0})
Formal ja, inhaltlich nicht. Denn dafür ist das Ergebnis
nicht ausreichend. Im Grunde gibt es nur einen handfesten
praktischen Fortschritt, nämlich den, dass die Voraussetzungen für die Errichtung einer Stiftung nun bundeseinheitlich geregelt werden sollen. Bei den beiden anderen
Änderungen im Rahmen des § 80 BGB handelt es sich leRainer Funke
diglich um eine Angleichung des Gesetzestextes an eine
bereits weitgehend bestehende Praxis.
({1})
Wenn ich dieses Ergebnis als nicht ausreichend bezeichne, so brauche ich es dafür nicht einmal an unserer
Entschließung zu messen, die wir im Rahmen einer zu
diesem Thema bereits erfolgten Debatte eingebracht haben. Die außerordentliche Begrenztheit des Vorgelegten
wird bereits deutlich, wenn man es mit den Gesetzentwürfen des Bündnisses 90/Die Grünen von 1997 und
mit dem ersten Gesetzentwurf der Koalition in dieser Legislaturperiode, der dann leider nicht eingebracht wurde,
vergleicht. Dank der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft gibt es eine sehr aufschlussreiche Synopse
dieser und weiterer Gesetzentwürfe. Würde der vorliegende Gesetzentwurf in diese Synopse aufgenommen, so
würde er sich dort sehr kläglich ausnehmen.
Mit unserem Entschließungsantrag vom 24. März 2000
hatten wir keineswegs eine exotische Stellung zur Reform
des Stiftungswesens bezogen, sondern uns an Vorschlägen aus der damaligen breiten Expertendiskussion, wie
sie insbesondere vom Maecenata Institut organisiert worden war, orientiert, selbstverständlich an solchen Vorschlägen, die mit unseren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zu vereinbaren sind. Lassen Sie mich aus
unserem Entschließungsantrag die Passage zitieren, auf
deren Basis wir nun auch den vorliegenden Gesetzentwurf bewerten. Es heißt dort:
Diese zivilrechtlichen Rahmenbedingungen müssen
dem Stiftungswesen größtmögliche Rechtssicherheit, Transparenz und Öffentlichkeit verleihen und es
von bürokratischen Hemmnissen befreien.
Gemessen an dieser grundsätzlichen Orientierung ist
der vorgelegte Gesetzentwurf natürlich ein Torso. Am
ehesten leistet er etwas für die Vereinfachung des Verfahrens zur Errichtung einer Stiftung und zur Klarstellung
des Rechts auf Stiftung. Insofern begrüße ich natürlich die
bundesweit einheitlichen und auf das Nötigste beschränkten Anforderungen für die Satzung und das Stiftungsgeschäft. Allerdings kann ich hinsichtlich des Rechts auf
Stiftung durchaus der Argumentation der Bundesnotarkammer folgen, wonach den Stiftungsbehörden immer
noch zu viele Ermessenserwägungen zugeschrieben werden.
Meine Enttäuschung über den Gesetzentwurf besteht
darin, dass für Transparenz, Publizität und Missbrauchsschutz keinerlei Regeln vorgesehen sind und alles beim
Alten bleibt. Besonders den Verzicht auf die Einrichtung
eines bundesweit einheitlich geführten staatlichen Stiftungsregisters „mit öffentlichem Glauben“, wie es in der
Fachsprache heißt, halte ich in dieser Hinsicht für einen
folgenschweren Fehler. Die Forderung nach Eintrag der
Stiftungen in ein solches öffentlich zugängliches Register
war vor zwei Jahren in der breiten Debatte zur Stiftungsreform eine durchgängige zentrale Forderung.
Ebenso fehlt im Gesetzentwurf jegliche Andeutung in
Richtung einer ebenfalls öffentlich zugänglichen, regelmäßigen Berichterstattung der Stiftungen über ihre
Tätigkeit, insbesondere über Herkunft und Verwendung
ihrer finanziellen Mittel.
({2})
Wenn über das Stiftungssteuerrecht der demokratisch verfassten Gesellschaft weniger Steuergelder zur Verfügung
stehen, dann muss diese Gesellschaft das Recht haben, zu
erfahren, wer was mit diesen entzogenen Steuergeldern
gemacht hat.
({3})
Was ich gar nicht in den Vordergrund stellen möchte,
was aber realistischerweise nicht völlig außer Acht gelassen werden kann: Es gibt keinerlei Regelung, um den
Missbrauch von Stiftungen für privatnützige oder wirtschaftliche Zwecke zu verhindern. Auch das wäre für die
gesellschaftliche Akzeptanz der Stiftungen sehr wichtig.
({4})
So gab es zwischenzeitlich aus der Expertengruppe des
Maecenata Instituts heraus die mir sympathische Idee,
den Begriff der Stiftung für die gemeinnützige Stiftung zu
reservieren.
Es mag bei Annahme dieses Entwurfes sein, dass der
eine Stifter oder die andere Stifterin eher den Weg zu den
Stiftungsbehörden findet. Ein neues gesellschaftliches
Bewusstsein über bzw. Vertrauen in das Stiftungswesen
wird mit diesem Entwurf für mich jedoch nicht erreicht.
Das wiederum kann für Stifterinnen und Stifter, die sich
als Mitglieder einer nicht elitären, sondern breiten Bürgergesellschaft verstehen, kein Anreiz sein.
Ich resümiere, auch wenn ich von Ihnen Protest bekomme: Der Termin wurde gehalten, aber der Entwurf hat
wenig Substanz und bringt damit wenig Veränderungen.
({5})
Für die
SPD-Fraktion spricht die Kollegin Monika Griefahn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann nur sagen: Wir kommen mit der
erneuerten Initiative vom Stiftungsfrühling zum Stiftungssommer.
({0})
Was soll ein modernes Stiftungsrecht leisten? Es soll
die Mäzene unserer Zeit in Deutschland ermutigen, einen
Teil ihres Privatvermögens - wir sprechen von einer
Summe von 7,2 Billionen DM oder 3,6 Billionen Euro für Zwecke zur Verfügung zu stellen, die dem Gemeinwohl dienen. Das sind die Vermögen, die in Deutschland
irgendwo vorhanden sind. Wenn wenigstens ein Teil davon für Stiftungen bereitgestellt und damit zum Wohle
aller eingesetzt wird, ist das ein riesiger Erfolg.
Als Kulturpolitikerin freue ich mich besonders, wenn
Stifter ihr Stiftungsvermögen für kulturelle Zwecke zur
Verfügung stellen. Kulturförderung war von Anbeginn ein
zentrales Anliegen der Mäzene. Der Begriff des Mäzens
leitet sich von Gaius Maecenas ab - er lebte etwa von
70 bis 8 vor Christus -, einem vermögenden römischen
Privatmann, der die Dichter Horaz und Vergil unterstützte.
Mäzene handeln - gestern wie heute - eben nicht profitorientiert. Anders als ein Sponsor, der seine Produkte
vermarkten will, wählen sie sich aus eigenem Interesse
ein Fördergebiet. Es ist wichtig, dass dies nicht nur im
Zusammenhang mit dem Produkt, sondern auch mit anderen Teilen des gesellschaftlichen Handelns steht. Es
gehört im Übrigen auch zum Konzept der Nachhaltigkeit,
dass Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur auf Wirtschaft
ausgerichtet sind.
Mit dem Stiftungssteuerrecht haben wir den Stiftungsfrühling eingeläutet. Der Stiftungssommer soll mit dem
Stiftungszivilrecht folgen. Von Herrn Pick und Frau
Vollmer wurden schon die Neugründungen der Stiftungen
erwähnt. Ich möchte noch eine Zahl hinzufügen, die mich
besonders beeindruckt hat: 1990 existierten nur 181 Stiftungen in Deutschland. Die Tatsache, dass allein im letzten Jahr 1 000 neue Stiftungen gegründet worden sind, ist,
wie ich finde, ein enormer Erfolg. Dieses Gesetz bringt
eine andere Stimmung im Lande. Auch das Stiftungssteuerrecht hat bereits eine andere Stimmung bewirkt.
({1})
Auch vom Bundesverband Deutscher Stiftungen wird
dieses neue Stiftungssteuerrecht begrüßt. Es wird anerkannt, dass wir die Weichen richtig gestellt haben. Im
Übrigen, Herr Fink, wird bei der Feststellung der
Gemeinnützigkeit sowohl der Inhalt als auch die zweckgebundene Ausgabe staatlich überprüft. Das ist Inhalt des
Gemeinnützigkeitsrechtes.
({2})
Ansonsten wird die Gemeinnützigkeit aberkannt. Es gibt
bereits solche Fälle. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der
schon durch das Steuerrecht geregelt ist.
Damit dieser Trend zum Stiften anhält und sich noch
verstärkt, muss das Stiftungsrecht transparent sein, das
Recht auf Stiftung einräumen und - das ist sehr wichtig die Betonung weniger auf die Genehmigung und mehr auf
die Anerkennung legen. Es ist doch anzuerkennen, dass
jemand etwas für die Gemeinschaft tut und einen Teil seines Vermögens für die Gemeinschaft spendet. Deswegen
braucht derjenige auch die Anerkennung der öffentlichen
Stellen. Es ist doch auch gut, wenn wir das so machen.
Das ist ein wichtiger Teil dieses Gesetzestextes.
Für die weitere Stiftungsfreudigkeit wird entscheidend
sein, wie zügig und reibungslos potenzielle Stifter ihr Vorhaben verwirklichen können. Früher mussten sie - das
wurde bereits gesagt - von Pontius nach Pilatus laufen. Es
hing ein wenig davon ab, wie viele Stiftungen der jeweilige Stiftungsreferent eines Landes noch haben wollte.
Die Steuerabteilung gehörte nicht zu dieser Stelle.
Mit dem erneuten Anlauf soll die Zusammenarbeit
zwischen den Steuerbehörden und den zivilrechtlichen
Behörden verstärkt und verknüpft werden. Das ist ein
wichtiger Teil; denn sehr häufig sind Menschen zum
Rechtsanwalt oder zum Notar gegangen und haben gesagt, dass sie Geld haben und es gerne stiften möchten.
Dieser hat ihnen eher abgeraten und entweder gesagt, dass
sie es sein lassen sollen, da es sehr kompliziert ist,
({3})
oder aber, dass man sich aufgrund des komplizierten Prozesses auf zwei Jahre einzustellen habe. Die potenziellen
Stifter haben sich bedankt und sich etwas anderes überlegt.
Man muss es so sehen: Wahrscheinlich spenden sehr
viele Menschen den amerikanischen Universitäten Geld,
weil dort eine sehr offensive Stiftungspolitik betrieben
wird. Hier in Deutschland wurde das Geld gesammelt. Es
hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass es steuerlich absetzbar ist, weil ein Förderverein oder Ähnliches
gegründet wurde. Ich denke, es wäre gut für uns und für
die Verwirklichung von Vorhaben in Deutschland, wenn
wir die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen
würden, sodass sie das Geld hier anlegen können.
Frau Vollmer erwähnte schon, dass das nicht überall so
ist. Einige Länder sind ganz schnell. Die Kulturstiftung
des Bundes in Halle ist vom Land Sachsen-Anhalt innerhalb von einer Woche anerkannt worden. Ich finde, es ist
auch ganz wichtig, das zu erwähnen.
({4})
Stiftungen bieten engagierten Bürgern im kleinen und
großen Rahmen die Möglichkeit, einen dauerhaften Beitrag zu leisten. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Bürgergesellschaft, die die gesellschaftliche Entwicklung
über die staatliche Verantwortung hinaus mitgestalten
will. Auf die Wortwahl kommt es dabei an. Stiftungen ergänzen und bereichern das bestehende staatliche Fördersystem. Ihr Vorteil liegt unter anderem darin, dass sie
schneller und flexibler in ihren Entscheidungen sind und
auch mit kleineren Beträgen schnell eingreifen können.
Unser Hauptaugenmerk gilt daher den rechtsfähigen
Stiftungen des bürgerlichen Rechts; denn sie haben ein
Stiftungskapital, aus dessen Erträgen der Stiftungszweck
verfolgt werden kann. Sie sind unabhängig, benötigen
keine staatliche Zuwendung und sind der selbstbewusste
Ausdruck der gesellschaftlichen Verantwortung ihrer Stifter.
So untypisch sind Stiftungen für Deutschland gar
nicht; denn es gab schon einmal bessere Zeiten für
Stiftungen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier
100 000 Stiftungen. Doch die einst blühende Stiftungskultur wurde durch die Inflation und die Weltkriege zerstört. Erst in den letzten Jahren fing sie an, sich wieder zu
entwickeln.
Deshalb haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, eine
Vielzahl von Zwecken und Formen zu fördern. Hinsichtlich der Zwecke haben wir schon eine Diversifikation
feststellen können. Das Spektrum reicht von Stiftungen,
die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Aufbau von
Rechtssystemen in Osteuropa zu begleiten und auf vielfältige Art zu unterstützen, bis hin zu kleinen PrivatstifMonika Griefahn
tungen in Ostdeutschland oder auf dem flachen Land in
Westdeutschland, die aus einer Altimmobilie lebendige
kulturelle Begegnungszentren abseits der Großstädte zaubern. Ich finde, man kann auf die weitere Entwicklung
wirklich gespannt sein.
Wichtig sind dabei auch die Bürgerstiftungen. Sie
sind auf einen geographischen Wirkungsraum beschränkt
und verfolgen zahlreiche unterschiedliche Zwecke. Bürgerstiftungen sind in der Lage, eine große Vielfalt gemeinnütziger Aktivitäten in einem Gemeinwesen zu fördern, drängende soziale Probleme zu bekämpfen oder
auch ganz einfach die Lebensqualität vor Ort zu erhöhen.
Ich habe mir verschiedene Projekte angeschaut und war
begeistert von dem, was irgendwo entstanden ist; das
hätte sonst nicht entstehen können.
Neben der angestrebten Breitenwirkung steht dabei die
ehrenamtliche Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern an
der Planung und der Verwirklichung der Projekte im Vordergrund. Die Bürgerstiftung Hannover war die erste ihrer Art in Deutschland. Sie hat sich das Ziel gesetzt, in den
Bereichen Jugend, Kultur und Soziales Projekte zu initiieren und solche zu fördern, die dringend auf Hilfe angewiesen sind. Eines der ersten Projekte war die Einrichtung von Jugendgewaltlotsen. Wenn man bedenkt, dass
die Stiftung 1998 eingerichtet wurde, erkennt man, dass
das aktueller ist denn je. Es ist ein wirklich sehr konkretes
Projekt vor Ort, im Stadtteil. Solche praktischen Möglichkeiten wären sonst vielleicht nicht vorhanden gewesen.
Wenn ich sehe, dass Ende Juli 2001 die 100er-Marke
überschritten wurde, denke ich, dass es auch ein Bedürfnis der Menschen ist, sich zu engagieren und dauerhaft zu
verwirklichen. Sie wollen nicht nur einen Monatsbeitrag
für Vereine oder einen Beitrag für irgendwelche Aktivitäten vor Ort, die sie selber durchführen, leisten, sondern sie
wollen einen größeren Betrag stiften. Dazu hat die Reform des Stiftungssteuerrechts einen erheblichen Beitrag
geleistet.
Da kann ich als Beispiel die Bürgerstiftung Nürnberg
nennen, die im Juli 2001 gegründet wurde und im Dezember 2001 bereits ihre erste Projektförderung bekannt
gegeben hat. Im Internet hat sie dazu begründet, dass das
„veränderte und ermutigende Stiftungsrecht“ - Zitat der
Bürgerstiftung Nürnberg - als wesentlicher Impuls für die
Gründung der Stiftung gewertet wurde und dass insbesondere der neue steuerfreie Stiftungshöchstbetrag
von 40 000 DM und der Gründungshöchstbetrag von
600 000 DM unterstützend gewirkt haben. Das heißt, dass
auch Leute an Stiftungen beteiligt werden konnten, die
das sonst nicht konnten, weil sie keine großen Mäzene
sind.
Wir wollen neue Anreize zum Stiften geben und als
Kulturpolitiker neue Geldquellen für Kultur erschließen.
Dafür ist die Reform des Stiftungsrechts von eminenter
Bedeutung. Sie steht deshalb auch im kulturpolitischen
Teil der Koalitionsvereinbarung. Jede vierte Stiftung in
Deutschland fördert kulturelle Projekte, wobei der Anteil
der Kultur an den Stiftungszwecken kontinuierlich zunimmt. Über die Tatsache, dass in Deutschland jeden Tag
statistisch gesehen zwei neue gemeinnützige Stiftungen
gegründet werden, bin ich sehr erfreut und ermutigt.
Keineswegs soll aber mit dieser positiven Bilanz der
Rückzug des Staates aus der Kulturförderung eingeläutet
werden. Privates finanzielles Engagement soll vielmehr
noch stärker als bisher zum zweiten Standbein der Kultur
werden. Das reformierte Stiftungsrecht hat damit eine
Doppelwirkung, und zwar eine kulturpolitische und eine
gesellschaftspolitische Funktion. Beide - Staat und Gesellschaft, das heißt die Menschen, die den Staat bilden sollen zusammenarbeiten. Der Staat bildet den geeigneten
Rahmen, damit sich Menschen engagieren können. Genau das ist eines der wesentlichen Ziele, die wir verfolgen;
denn Bedienung kann nicht sein, selbst mitzutun ist ein
wesentlicher Anteil an Demokratie.
Die Kulturstiftung des Bundes, die am 23. Januar im
Kabinett beschlossen wurde und die in Halle angesiedelt
werden soll, wird sich am 21. März 2002 konstituieren.
Wenn ich sehe, dass der Schwerpunkt des Stiftungszwecks die Förderung innovativer Programme zeitgenössischer Kunst im internationalen Bereich ist, wird deutlich, dass das in den gesteckten Rahmen passt. Hier bilden
auswärtige Kulturpolitik, Dialog der Kulturen und der
Dialog im Inland wichtige Akzente. Damit wird deutlich,
dass das neue Stiftungsrecht auch außenkulturpolitische
Wirkung haben kann, indem Stifter eingeladen werden,
sich an dieser privatrechtlichen Stiftung zu beteiligen.
Das zivilgesellschaftliche Engagement wird somit auf
allen Ebenen - innen und außen - gefördert. Die Koalition ist damit in ihrer kulturpolitischen Verantwortung einen wichtigen Schritt gegangen. Ich freue mich, dass andere mitmachen wollen. Das kann doch wirklich nur der
Kultur und dem Bürgerengagement und somit uns allen
gut tun.
Danke schön.
({5})
Ich gebe
nunmehr der Kollegin Professor Dr. Rita Süssmuth,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wichtigste ist gesagt. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir in dieser Legislaturperiode sowohl auf der steuerrechtlichen als auch auf
der zivilrechtlichen Ebene einen wichtigen Schritt getan
haben. Warum sage ich das zu Beginn meiner Rede? Weil
wir nicht Stiftungsfreudigkeit oder Bürgergesellschaft angestoßen haben, sondern auf sie reagieren.
Anfang der 90er-Jahre ist es in Gang gekommen und es
war allerhöchste Zeit, dass wir das, was die Bürgerinnen
und Bürger selbst erkennen und an Motivation haben
- selbst etwas zu tun, ortsnah und manchmal weit weg von
Stiftungszwecken -, steuerrechtlich und zivilrechtlich
fördern.
({0})
Es hat ein Umdenken von dem, was sie von der öffentlichen Hand erwarten - bis hinunter zu den Kommunen -,
zu dem, was sie inzwischen wieder selbst tun wollen,
stattgefunden; allerdings - das schlägt sich ja im zivilrechtlichen Teil nieder - selbstbestimmt und mitbestimmt.
Insofern ist bei aller Bescheidenheit dessen, was dem
Bund in der Bund-Länder-Kommission zugestanden
wurde, dennoch ein Paradigmenwechsel eingetreten. Das
alte Gesetz entspricht nicht dem veränderten Demokratisierungsprozess unserer Gesellschaft. Insofern ist es ein
wichtiger Schritt. Worte sind oft ein ganz wichtiger Indikator - das ist heute Abend schon gesagt worden - für
obrigkeitsstaatliches Denken oder für demokratisches
Denken.
Ich persönlich habe weniger Schwierigkeiten damit,
dass eine Stiftungsbehörde natürlich auch bestimmte
Dinge prüfen muss; denn es sind Finanzen, die zwar privates Einkommen betreffen, die aber in einem steuerlichen Zusammenhang stehen und von daher auch der Aufsicht und Kontrolle bedürfen. Das denke ich auch in
Bezug auf die Gemeinnützigkeit. Ich nehme die Kritik
von Herrn Rawert auf, der der Auffassung ist, die Kontrollen in Bezug auf die Gemeinwohlorientierung seien
bei weitem überzogen. Dennoch kommt auch er zu dem
Ergebnis, dass es eine Aufsichtsbehörde geben muss.
({1})
Ich möchte die Art, wie der zivilrechtliche Teil jetzt gefasst ist, noch einmal ansprechen. Als ich das las, habe ich
gedacht: Wenn wir doch alle Gesetze so formulieren würden, dass die Menschen weniger Beratung brauchen, um
ein Gesetz zu verstehen.
({2})
Das ist in diesem Gesetz wirklich gut gelungen. Wenn es
auch im Steuerrecht irgendwann einmal so ist, wären wir
ein großes Stück weiter.
Damit komme ich zu zwei Punkten, die ich mir von
diesem Gesetzentwurf gewünscht hätte. Das eine ist die
Stiftungsbehörde, die ja auch der Stifterverband und der
Kulturrat noch einmal angesprochen haben; das Zweite
sind Kompetenzzentren, um die Beratung zu verstärken.
Die Beratung liegt insbesondere dort, wo Fragen wie
„Sind wir nun gemeinnützig oder nicht?“ oder „Welche
Zwecke fallen unter die Gemeinnützigkeit?“ von den Bürgern und Bürgerinnen nicht automatisch beantwortet werden können.
In diesem Zusammenhang ist auch die Auffassung der
Bund-Länder-Kommission zu sehen, dass es nicht der
Genehmigung aus einer Hand bedürfe, wozu auch die
Ausstellung einer Finanzamtsbescheinigung gehören
würde. Das haben Sie abgelehnt, aber diese Wünsche bleiben bestehen. Andernfalls ist mehr Beratung in diesem
Bereich erforderlich. Diese beiden Dinge bleiben Desiderata. Trotzdem möchte ich sagen: Es ist nicht zu unterschätzen, dass sich die Bund-Länder-Kommission überhaupt bereit gefunden hat, Verbesserungsvorschläge zu
machen; denn sie war noch zum Zeitpunkt der steuerrechtlichen Reform der Auffassung, dass es überhaupt
keinen Reformbedarf gibt. Auch in ihrem Bericht sagt sie
immer wieder: Eigentlich brauchen wir gar nichts. Alles
ist - so heißt es dort - überwiegend einvernehmlich geregelt worden.
Das mag so sein, aber ich sage ausdrücklich: Die Verfahren würden sehr viel schneller sein, sie würden beschleunigt. Und dass es nun einheitlich im BGB geregelt
und nicht mehr auf 16 Länder verteilt ist, das ist ein
Durchbruch.
({3})
Wir werden auch die nächsten Schritte noch schaffen.
Nie bekommt man in einem Gesetz alles. Daran zu glauben, habe ich mir abgewöhnt. Der Entwurf sollte umfassend sein, aber man kommt in aller Regel, von wenigen
Ausnahmen abgesehen, nur schrittweise zum Ziel. Deshalb darf man das, was wir noch nicht erreicht haben,
nicht aus dem Auge verlieren.
Ich möchte abschließend dennoch deutlich machen: Ja,
wir können bei entsprechender Stärkung der Bürgergesellschaft auch in diesem Bereich der Stiftungen ein
großes Stück weiterkommen. Ich erinnere aber an das,
was der Staatsminister noch einmal festgestellt hat: Bei
15 bis 18 Milliarden, die aus den öffentlichen Haushalten
für Kultur ausgegeben werden - ich sage bewusst: für
Kultur -, entfallen nur 600 Millionen bis 1 Milliarde auf
private Mittel. Sie sind bei der Sportförderung doppelt so
hoch; das ist noch einmal ein anderer Punkt. Aber wir sollten nicht vergessen, dass das bürgerschaftliche Engagement oder auch einzelne Stifter die öffentliche Verantwortung für zentrale Bereiche - hier nenne ich als
Mitglied des Kulturausschusses die Kultur - nicht ersetzen.
({4})
Ich beklage nicht wie Herr Rawert, dass die Festlegung, was eine Stiftung ist und welche Stiftung wir wollen - dass wir die gemeinnützige Stiftung wollen, ist
klar -, in dem Gesetzentwurf nicht zu leisten war. Insofern ist noch weitere Arbeit notwendig. Gleichwohl bin
ich unsicher, ob wir das je erreichen werden. Aber ich bin
durchaus für eine Vielfalt von Stiftungen und nicht für
eine Eingrenzung, die nur noch sehr wenig ermöglicht. Insofern ist dies zwar ein Zwischenschritt, aber ein wichtiger.
Ich wünsche mir, dass wir die Bürgergesellschaft in einem Maße fördern, dass gerade das, was uns oft nicht am
Schreibtisch einfällt, und auch neue Ideen in unseren
Städten und Gemeinden verwirklicht werden können.
Denn vieles ist eine Antwort auf Defizite, die bei uns bestehen. Das besagt auch ein partnerschaftliches Verhältnis
zwischen den Institutionen der Gesellschaft, zwischen
Staat, Gesellschaft und den Einzelnen. Insofern haben Sie
zwar mit der Kritik an dem, was fehlt, Recht, Herr Fink.
Aber für mich ist entscheidend, dass wir in Gang gekommen sind. Dafür sage ich herzlichen Dank.
({5})
Nun spricht
für die SPD-Fraktion der Kollege Alfred Hartenbach.
Verehrter Herr Präsident!
Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Stifterfreundinnen! Liebe Stifterfreunde! Für
die weitere Beratung, liebe Herren Kollegen Funke und
Fink, möchte ich einmal Karl Moor aus Schillers „Die
Räuber“ zitieren, der gesagt hat: „Wo alles liebt, kann
Karl allein nicht hassen.“
({0})
Vielleicht sollten Sie beide sich das angesichts Ihrer etwas
konträren Haltung für die weitere Beratung vornehmen.
Ich glaube nämlich, dass wir dann - wie Sie es auch gesagt haben, Frau Süssmuth - zu einem guten und vernünftigen Ergebnis kommen werden.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der
Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode und auch in den
vergangenen Legislaturperioden immer wieder einzelne
Segmente herausgegriffen, sie modernisiert und dem gesellschaftlichen Wandel und auch europäischen Richtlinien angepasst, zuletzt das Schuldrecht, zurzeit das Schadenersatzrecht. Nun müssen wir feststellen - wir wissen
es allerdings schon seit längerem -, dass auch das Stiftungsrecht allein schon hinsichtlich der Sprache nicht
mehr den modernen gesellschaftlichen Anforderungen
entspricht. In dem alten § 85 ist noch enthalten, dass die
Verfassung einer Stiftung auf Reichsrecht beruhen kann.
Das steht noch heute im Bürgerlichen Gesetzbuch.
({2})
Ich meine, es ist eine vornehme Pflicht, dies zu ändern,.
Bisher war es so, dass diejenigen, die eine Stiftung
wollten, dafür eine Genehmigung brauchten. Daran ist bereits mehrfach erinnert worden. Bei der Genehmigung
handelt es sich um einen hoheitlichen Akt, der in unserer
modernen Zeit sicherlich nicht willkürlich erfolgt ist, der
aber immer, wie Sie es bereits ausgeführt haben, den Geruch des Obrigkeitsstaats hatte. Man kam immer mit
gebückter und devoter Haltung, damit man auch ja eine
Genehmigung erhielt.
({3})
- Sie haben doch eben am Beispiel Hamburg erklärt, wie
das läuft: mit gebückter und devoter Haltung.
({4})
- Wir können ja später noch darüber reden.
Wir ändern dies nun und gehen den zweiten Schritt.
Frau Griefahn hat das etwas poetischer als Stiftungsfrühling und Stiftungssommer bezeichnet. Ich bin Jurist und
behandele das ein bisschen nüchterner.
Der erste Schritt war das Stiftungsförderungsgesetz
vom 14. Juli 2000, das eine Erleichterung der steuerlichen
Förderung vorgesehen und in der Tat, wie Sie alle ja auch
festgestellt haben, seine Wirkung erzielt hat. Es hat zu
dem erhofften Aufschwung beim Stifterinteresse und bei
Stiftungen geführt. Diesen Aufschwung haben wir alle erhofft, weil wir wissen, dass Stiftungen auf Gebieten tätig
werden können, auf denen der Staat nicht tätig sein sollte,
nicht tätig sein kann oder vielleicht auch nicht tätig sein
will, was aber nicht ausschließt, dass der Staat auf vielen
dieser Gebiete die Pflicht hat, zu fördern, sofern seine
Förderung gefragt ist. Es tut unserer Bürgergesellschaft
sehr gut, wenn es auf dem privatrechtlichen Sektor zu
mehr Stiftungen kommt und staatliches Handeln durch
private Initiativen ersetzt wird.
Ich sehe das, was wir jetzt in ganz wenigen Paragraphen vornehmen, als eine kleine Revolution an. Wir machen etwas ganz Neues - es ist vom Paradigmenwechsel
die Rede gewesen -: Wir kommen zu einer bundesrechtlichen Verankerung des Anspruchs auf Anerkennung einer Stiftung. Dies ist ein großer Schritt aus dem bisherigen Genehmigungsverfahren heraus und in die Freiheit
hinein. Auch ist die Zahl der Voraussetzungen gegenüber
früher reduziert worden. Ich habe gelesen, dass man
früher 14, 15 Punkte abgeprüft hat. Heute sind es nur noch
wenige einfache Voraussetzungen, die jeder erfüllen
kann, auch wenn er hin und wieder sicherlich des juristischen Rates durch den Notar oder Anwalt bedarf, was ja
auch nicht verkehrt ist.
Das Stiftungsgesetz bedarf der schriftlichen Form. Es
muss die verbindliche Erklärung enthalten, ein Vermögen
für einen bestimmten Zweck zu stiften. Mit dieser offenen
Formulierung kommen wir insbesondere den Bürgerstiftungen entgegen, die möglicherweise nicht von vornherein die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung
haben, sondern auf den späteren Beitritt weiterer Stiftungsmitglieder angewiesen sind, um den Stiftungszweck
erfüllen zu können. Auch ist eine Satzung erforderlich.
Davon können wir Deutschen uns nicht trennen. Ich hätte
beinahe gesagt: Auch das ist gut so. Der Satz ist abgedroschen; deswegen sage ich: Das ist richtig so.
({5})
Wenn diese wenigen Voraussetzungen erfüllt sind und
wenn der Stiftungszweck nicht das Gemeinwohl gefährdet, dann ist die Stiftung anzuerkennen.
Lassen Sie mich nun noch einen Satz zum Gemeinwohl sagen, auch wenn meine Redezeit schon fast abgelaufen ist. Ich verspreche, dass ich in zwei Minuten fertig
sein werde.
Da Sie nicht
nur den Präsidenten, sondern auch die Schriftführer begrüßt haben, bekommen Sie zwei Minuten dazu.
({0})
Danke schön. Ich wusste,
dass ich bei Ihnen immer ein offenes Ohr finde.
Es ist richtig, dass man Stiftungen nicht anerkennen
darf, die rechtswidrige, verfassungsfeindliche Zwecke
verfolgen. Dabei genügt es schon - Herr Funke, Sie hatten die Verfassungswidrigkeit angesprochen -, wenn man
glaubt, dass sich hier eine Stiftung entwickelt, die rechtswidrige Zwecke verfolgen kann.
Nun möchte ich die Großzügigkeit des Präsidenten
nicht länger ausnutzen. Wir haben heute alle in großer
Einmütigkeit das Richtige gesagt.
({0})
Ich hoffe, dass die Zahl der Stifterinnen und Stifter aufgrund der vorgesehenen Erleichterungen deutlich ansteigt. Das gilt nicht nur für Stiftungen unter Lebenden,
sondern auch für Stiftungen, die von Todes wegen, also
auf der Grundlage von Testamenten und letztwilligen Verfügungen, errichtet werden. Es kann uns allen doch nur
Recht sein, wenn ein großes Vermögen oder ein Teil davon und Sammlungen wertvoller Dinge der Allgemeinheit zugute kommen und nicht auf irgendwelchen Konten
verschimmeln oder in irgendwelchen Kammern eingesperrt sind oder von den Kindern reicher Leute - als ich
jung war, sprach man von der Jeunesse dorée; heute nennt
man es den Jetset - verprasst werden. Dies wollen wir mit
diesem Gesetz fördern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 20. März wird zu
diesem Thema eine Expertenanhörung stattfinden. Ich
lade alle, die noch mehr über das Stiftungsrecht erfahren
wollen, herzlich dazu ein. Ich freue mich auf die Beratungen. Man sieht, hin und wieder passen Kultur und Justiz
ganz gut zusammen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe
nunmehr die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/8277 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine
anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Adam, Wolfgang Börnsen ({1}),
Gunnar Uldall, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Abschaffung der Kapazitätsbeschränkungen
für Werften in Mecklenburg-Vorpommern
- Drucksachen 14/6950, 14/8050 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Walter Hirche
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar Staffelt, Gerd
Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Andrea Fischer
({3}), Werner Schulz ({4}), Kerstin Müller
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Faire Wettbewerbsbedingungen für die Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern
- Drucksachen 14/7295, 14/8051 Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Schulz ({6})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ist das
Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als erster Rednerin der Kollegin Ilse Janz für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Herren
Schriftführer! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Das habe ich
kommen sehen.
Herr Präsident, ich habe gedacht, ich
versuche es auch einmal. Schließlich haben Sie meinem
Vorredner eine Verlängerung der Redezeit angeboten.
Die ostdeutschen Werftenstandorte Wismar, Rostock,
Stralsund und Wolgast gehören zu den modernsten in
Europa. Durch konsequente Modernisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen ist es den Standorten in
Mecklenburg-Vorpommern gelungen, den technologischen Anschluss an die Weltspitze zu finden. Möglich war
dies auch durch öffentliche Investitionsbeihilfen. Mit der
Gewährung von Zuschüssen ist jedoch eine bis zum Jahr
2005 andauernde Kapazitätsbeschränkung auf insgesamt 327 000 CGT jährlich verbunden. Hiermit sollte verhindert werden, dass sich die ostdeutschen Werften durch
die Beihilfen weit reichende Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren europäischen Mitbewerbern verschaffen. Aber
nicht die europäische Konkurrenz, sondern der globale
Wettlauf um Marktanteile im Weltschiffbau war das Problem. Wir haben deshalb stets auf eine Änderung der Kapazitätsbeschränkung gedrängt, die den Schiffbauern viel
mehr geschadet als genutzt hat.
Die strengen Quoten, die den Schiffbauern in Mecklenburg-Vorpommern von der EU auferlegt worden sind,
haben zu der kuriosen Situation geführt, dass trotz hervorragender Auftragslage auf einigen Werften Kurzarbeit
angeordnet werden musste und dass die wirtschaftlich
und innovativ arbeitenden Unternehmen für ihre Fortschritte in der Fertigung auch noch bestraft wurden. Die
SPD hat sich mehrfach dafür ausgesprochen, diese Regelungen zu ändern und den ostdeutschen Werften ein tragfähiges Fundament für die Fortsetzung ihrer Arbeit zu geben. Die Bundesregierung hat deshalb im April 2000 die
Lockerung der Kapazitätsgrenzen bei der EU beantragt.
Leider wurde dieser Vorstoß abgelehnt. Vor gut einem
Jahr wurde deshalb ein weiterer Anlauf mit dem Ziel einer flexibleren Handhabe der Beschränkungen unternommen. Die zähen und langwierigen Verhandlungen mit der
EU-Kommission konnten letztendlich erfolgreich abgeschlossen werden. Dafür der Bundesregierung, insbesondere Minister Müller und dem maritimen Koordinator
Gerlach, herzlichen Dank!
({0})
Ich möchte nicht verhehlen, dass nach meiner Meinung
die Abschaffung der Beschränkung richtig gewesen wäre.
Dennoch ist für die Werften und für die Beschäftigten der
nun gefundene Kompromiss nach dem endlos langen Vorlauf ein Erfolg. Die Entscheidung der EU-Kommission
sieht ein Bündel von Maßnahmen vor, die eine flexiblere
Handhabung der Produktionsbeschränkungen ermöglichen und den Werften damit größere Spielräume eröffnen.
Probleme hat es in der Vergangenheit unter anderem
gegeben, wenn die jährlichen Quoten nicht exakt eingehalten werden konnten, weil sich beispielsweise die Abarbeitung eines Auftrages verzögerte. Die Folge war, dass
die zur Verfügung stehende Produktionskapazität nicht
vollständig ausgeschöpft werden konnte und der Rest ersatzlos wegfallen musste. Diese starre Regelung ist nun
entscheidend modifiziert worden. Die EU-Kommission
hat auf Antrag Deutschlands beschlossen, dass Kapazitäten innerhalb der Jahre übertragen und variabel ausgeschöpft werden dürfen. Damit wird den Werften die Möglichkeit eröffnet, wesentlich sinnvoller als bisher auf
veränderte Produktionsabläufe zu reagieren.
Ein weiterer Punkt der Kritik am bestehenden System
war, dass Leistungen, die an andere Firmen vergeben
wurden, auf die Kapazität der den Auftrag vergebenden
Werft angerechnet wurden. Damit wurde die eigentlich
von allen Seiten immer wieder geforderte Stärkung der
Kooperation im Schiffbau unterlaufen. Auch diesbezüglich konnte durch die neue Regelung Abhilfe erreicht und
konnte den Werften größerer betriebswirtschaftlicher
Spielraum verschafft werden. Es ist jetzt möglich, genau
definierte Leistungen wie Vorrichtungs- und Modellbau,
Schlosserarbeiten, Tischlerarbeiten, Sanitärleistungen
oder auch Gerüstbau, die an Dritte vergeben werden, aus
der eigenen Produktion herauszurechnen.
Eine weitere entscheidende Verbesserung liegt darin,
dass nicht genutzte Kapazitäten übertragen werden dürfen. Hiermit wird die Vernetzung und Kooperation untereinander erleichtert und damit ein positiver Beitrag zur
Wettbewerbsfähigkeit der Schiffbauindustrie in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt geleistet.
Wir können mit dem Erreichten zufrieden sein. Es
bringt uns auch nicht weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Sie in Ihrem Antrag die
gänzliche Aufhebung der Kapazitätsbeschränkungen fordern. Dies durchsetzen zu können erscheint angesichts der
harten Auseinandersetzungen, die der jetzigen Regelung
vorausgingen, schlicht unwahrscheinlich.
Wer sich mit der Wettbewerbssituation im Schiffbau
befasst, darf seinen Blick nicht nur auf die Situation in
Deutschland und Europa richten. Die Lage auf dem Weltschiffbaumarkt ist nach wie vor durch die durch Südkorea ausgelösten Wettbewerbsverzerrungen geprägt.
({1})
Die Schiffbauberichte der EU belegen, dass die Südkoreaner ihre Schiffe im Schnitt 20 Prozent unter den Herstellungskosten am Markt anbieten. Bereits 60 Prozent der
Containerschiffe kommen aus koreanischen Betrieben.
Von den immer bedeutender werdenden Großcontainerschiffen sind es bereits 80 Prozent. Die aktuellen Zahlen
verdeutlichen, dass sich diese Entwicklung fortsetzt und
die koreanische Schiffbauproduktion auch weiterhin
steigt. Ende des Jahres 1999 hatten die koreanischen
Werften einen Auftragsbestand von 377 Schiffen mit
11 Millionen CGT. Ende des Jahres 2001 waren es bereits
497 Schiffe mit 16 Millionen CGT. Der Weltschiffbaumarkt leidet also nach wie vor unter Dumpingpreisen und
von einem fairen Wettbewerb kann immer noch nicht die
Rede sein.
({2})
In der Vergangenheit hat es zahlreiche Verhandlungen
gegeben, um zu einem Abkommen zwischen Korea und
der EU zu gelangen, das gleiche Wettbewerbsbedingungen garantiert - leider ohne Erfolg.
({3})
Trotzdem hat sich die EU-Kommission Ende des Jahres
2000 dazu entschlossen, die Beihilferegelungen für die
Werftindustrie auslaufen zu lassen, da diese aus Sicht der
Kommission nicht zu einer Lösung des Problems geführt
haben.
({4})
Die SPD-Bundestagsfraktion und die Bundesregierung
haben diese Entscheidung seinerzeit heftig kritisiert,
({5})
da den europäischen Werften hiermit die einzige Möglichkeit genommen wurde, zumindest einen Teil der Wettbewerbsverzerrungen auf dem Weltmarkt zu kompensieren.
Unter dem Eindruck der sich immer weiter verschärfenden Situation auf dem Schiffbaumarkt hat die Kommission im vergangenen Jahr Eckpunkte für ein neues
Beihilferegime vorgelegt. Staatliche Zuschüsse sollen
demnach nur noch bei Produkten- und Chemikalientankern sowie Containerschiffen zugelassen werden. Hierbei
treten nach Ansicht der Kommission die Wettbewerbsverzerrungen am deutlichsten zutage.
Meiner Meinung nach ist diese Einschränkung nicht in
Ordnung.
({6})
- Da können Sie ruhig einmal klatschen!
({7})
Wir alle wissen, dass die Südkoreaner ständig dabei sind,
in neue Bereiche vorzustoßen, so auch in den Bau von
Kreuzfahrtschiffen. Zwar sind sie in dem Bereich heute
noch keine Konkurrenten - da können sie vieles noch
nicht so gut wie wir Europäer -, aber wenn es die Strategen dort wollen, dann können sie es ganz schnell werden.
Die Beihilfen, die die EU-Kommission vorgeschlagen
hat, sollen zeitlich befristet sein und als flankierende
Maßnahme für ein WTO-Verfahren dienen, das die Kommission gegen Südkorea anstrengen will. Trotz aller
Bemühungen vonseiten der Bundesregierung ist es bisher
nicht gelungen, eine Mehrheit im Ministerrat zu erreichen. Solange Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und die skandinavischen Länder ihre ablehnende
Haltung gegenüber dem Vorschlag nicht aufgeben
({8})
- richtig, Herr Goldmann, vor allem Frankreich -, wird
die Kommission vor der WTO kein Verfahren gegen
Korea anstrengen. Noch ist nicht klar, wann der Ministerrat die abschließende Entscheidung trifft.
Die Zeit drängt wirklich. Die Werften können nicht
länger warten. Sie brauchen Planungssicherheit für die
nächsten Jahre - für die Arbeitsplätze und für die Fertigung.
({9})
Deshalb unterstützen wir nachdrücklich alle Bemühungen
der Bundesregierung, die zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen für die europäischen Werften beitragen. Meines Erachtens muss die EU schon aus
Glaubwürdigkeitsgründen das WTO-Verfahren umgehend - nicht erst später - einleiten.
({10})
Sie darf nicht auf die Entscheidung über eine Neuregelung warten.
Der Bundestag hat seine finanziellen Hausaufgaben
bereits erledigt. Sie alle wissen: In den Haushalt haben wir
vorsorglich 4,8 Millionen Euro für das Jahr 2003 und je
9,6 Millionen Euro für die Jahre 2004 und 2005 eingestellt. Wir haben damit unter Beweis gestellt, dass uns die
Förderung der maritimen Industrie sehr am Herzen liegt,
und in Richtung Brüssel deutlich gemacht, dass wir gewillt sind, die Wettbewerbshilfe weiterhin zu zahlen.
({11})
Schiffbau ist eine nationale Aufgabe und hat seinen
Schwerpunkt - entgegen der Meinung vieler - nicht nur
an der Küste. Ein großer Anteil der Produktion kommt aus
dem Binnenland und sichert dort viele Arbeitsplätze. Ich
nenne nur Baden-Württemberg, das an den Zulieferungen
von elektronischen Bauteilen, Getrieben oder Motoren einen Anteil von 22 Prozent hat. Auch Bayern hat einen Anteil von immerhin 15 Prozent an der Zulieferindustrie.
Die aktuelle Lage zeigt, dass wir den eingeschlagenen
Weg weitergehen müssen. Die Anzahl der Beschäftigten
auf den Werften ist laut einer regelmäßig durchgeführten
Umfrage der Universität Bremen und der IG Metall seit
Jahren erstmals wieder angestiegen: Im vergangenen Jahr
gab es ein Gesamtplus von 1,9 Prozent.
Hier, im Bundestag, sollten wir gemeinsam ein Zeichen setzen und deutlich machen, dass der Schiffbau in
Deutschland Zukunft hat. Auch wenn wir in diesem Hause
oft über maritime Fragen verschiedener Auffassung waren, haben wir in Sachen Schiffbau meistens an einem
Strang gezogen. Das gilt übrigens auch für Gewerkschaften und Schiffbauverbände, wie sich auf einer großen
Schiffbaukonferenz, die die SPD-Bundestagsfraktion im
April letzten Jahres durchgeführt hat, oder auch auf den
maritimen Konferenzen des Bundeskanzlers in Emden
und Rostock gezeigt hat.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
im Interesse der Beschäftigten auf den Werften möchte
ich Sie deshalb bitten, unserem Antrag zuzustimmen und
damit der Bundesregierung in den kommenden harten
Auseinandersetzungen mit den EU-Partnern den Rücken
zu stärken.
Vielen Dank.
({13})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Wolfgang
Börnsen.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich anerkenne den Einsatz von Ilse Janz für die Küste. Ich teile
ihre Einschätzung der augenblicklichen Lage aber nur in
Ansätzen. Was die Kapazitätsbegrenzung für die Werften in den neuen Bundesländern angeht, so ist der Erfolg
für die Peene-Werft ein Viertel neues Schiff pro Jahr. Der
Betriebsrat beklagt ganz eindeutig, dass die Kapazitätsbeschränkung damit nicht aufgehoben worden ist. Einen
Ausgleich zwischen den Werften hat es zwar gegeben,
aber keine Verbesserung der Situation. Deswegen kämpft
der Betriebsrat dort, ebenso wie die Betriebsräte anderer
Werften, für mehr Offenheit und für mehr Wettbewerbsgerechtigkeit.
Ilse Janz, in diesen Tagen ist es traurige Wirklichkeit,
dass inzwischen auch Werftarbeiter zu den 4,3 Millionen Arbeitslosen in Deutschland gehören. Arbeiter von
kleineren und mittleren Werften gehören dazu. Es ist
ebenfalls traurige Wirklichkeit, dass wir in Deutschland
im Jahr 2001 Aufträge für Schiffsneubauten im Umfang
von nur 600 Millionen DM, also 300 Millionen Euro, bekommen haben. Korea erhielt für insgesamt 50 Milliarden Euro Aufträge für Schiffsneubauten. Diese Unterschiede können wir feststellen. Die Koreaner haben ihren
Aufstieg zur Weltschiffbaunation vollzogen. Japan hat
seine Situation stabilisiert. China ist auf dem Vormarsch
und hat Deutschland überholt. Europa verliert Marktanteile. Insider der Branche sehen voraus, dass von den
100 Werften in Deutschland etwa 70 Prozent bald in Existenznot geraten. Kleinere Werften melden Arbeit für nur
noch zwölf bis 18 Monate.
Der Bundeskanzler hat die maritime Wirtschaft zur
Chefsache erklärt. Doch die Politik der ruhigen Hand
führte im Werftenbereich zu Stagnation, also zu Stillstand.
({0})
Es kam zu einer Krise der Vorzeigeindustrie, auch zum
Schaden von Tausenden von Arbeitnehmern.
({1})
Die Strategie, die Angelegenheit des Wirtschaftsministeriums zur Chefsache zu erklären, hat auch die ureigene
Kompetenz des Wirtschaftsministeriums eingeschränkt.
Der dort vorhandene Fachverstand wurde nicht optimiert,
sondern verprellt und demotiviert.
({2})
Wer anderen Aufgaben wegnimmt und sagt: „Ich kann das
besser“ - dazu gehört auch, dass man unter der Verantwortung der sehr einsatzbereiten Parlamentarischen
Staatssekretärin eine der Seeschiffahrt übergeordnete
Behörde geschaffen hat -, der tut etwas, was nicht sein
muss.
Die Bilanz der ruhigen Hand ist für die Werften erschütternd: Zu Beginn der rot-grünen Regierungszeit nahmen die deutschen Werften noch einen Marktanteil von
7 Prozent ein; wir hatten den dritten Rang in der Welt. Damals war Schiffbau noch Sache des Wirtschaftsministers.
({3})
Im Jahre 2000 wurde es Chefsache. Das Engagement mit
der maritimen Konferenz führte dazu, dass ein neues
Schlagwort geprägt wurde, aber nicht zu neuem Handeln.
Was passierte im Jahre 2001? - Deutschlands Anteil
schrumpfte auf 5 Prozent und die Bundesrepublik fiel auf
dem Weltmarkt für Schiffsneubau auf den fünften Platz
zurück.
({4})
Es hat bereits einen weiteren Rückgang gegeben. Die
Branche befindet sich in einem Besorgnis erregenden
Niedergang. Hatten wir vor zehn Jahren noch 60 000
Werftarbeiter, so sind es heute nur noch 20 000. Statt dass
die Hochtechnologie von der Küste durch Berlin und
Brüssel gestützt wird, beraubt man sie der letzten Stützpfeiler. Ilse Janz hat selbstkritisch darauf aufmerksam gemacht.
Am 5. Dezember 2000 wurde die Wettbewerbshilfe
durch die EU endgültig gestrichen. Damit sind die deutschen und europäischen Werften dem Weltschiffbaumarkt
völlig schutzlos ausgeliefert worden. Ein Jahr später, am
5. Dezember 2001, als man zum zweiten Mal darüber diskutiert hat, hat sich daran nichts geändert. Es ist ein
schwarzer Tag für die Werften geblieben.
Was mich besonders umtreibt, ist Folgendes: Am Tage
der Verhandlung in Brüssel hat unserer Bundeswirtschaftsminister die Veranstaltung vor Beginn der Sitzung
verlassen.
({5})
So schrieb die „Märkische Oderzeitung“: Man setzt keine
nationalen Interessen durch, wenn man die Sitzung verlässt.
({6})
Allein gelassen wurden Deutschlands und Europas
Werften auch im Kampf gegen Südkoreas Dumpingpreispolitik. Der Aufstieg dieses Landes zur Weltschiffbaunation Nummer eins, das seinen Marktanteil von
24 Prozent im Jahre 1998 auf heute über 40 Prozent ausbaute, hat seine Ursache in der staatlichen Preisstützung
durch die Koreaner. Koreas Werften verkaufen ihre
Schiffe 20 Prozent unter den Herstellungskosten. Da kann
keine europäische oder deutsche Werft mithalten.
Aber anstatt diese unvertretbare Wettbewerbsverzerrung zu geißeln, hat man nicht den Mut gehabt, die WTOKlage gegen Südkorea aufrechtzuerhalten, sondern man
hat sie fallen gelassen. Das ist die Praxis. Es hat an Mut
und an Maßnahmen gefehlt. Der Anteil Europas am Weltschiffbau ist seit 1998 von 26 Prozent auf 13 Prozent gesunken. Er hat sich also in drei Jahren halbiert. Das ist die
Situation, vor der wir stehen. Als deutsche Interessenvertreter hätten wir auf einer Pro-Wettbewerbs-Politik bestehen müssen.
Ungehört sind die Streiks der europäischen Werftarbeiter im letzten Jahr geblieben. Ungehört sind auch die
Vorschläge des europäischen Werftenverbandes geblieben. Deswegen brauchen wir innerhalb der Bundesrepublik eine Wettbewerbsfairness unter den Bundesländern.
Noch immer hat Schleswig-Holstein seinen Anteil von
60 Millionen DM nicht bezahlt; es gibt also eine Wettbewerbsverzerrung innerhalb Deutschlands. Es gibt aber
auch eine Wettbewerbsverzerrung innerhalb Europas. In
Spanien können Schiffe viel länger und günstiger abgeschrieben werden als in Deutschland. Spanien hat einen
20-prozentigen Preisvorteil. Dadurch hat Spanien
Deutschland als Schiffbaunation in Europa vom ersten
Platz abgelöst. Das heißt, wir brauchen für eine Schiffbaupolitik mehr Power, mehr Druck. Wenn sie wirklich
Chefsache sein soll, dann muss sie auch Chefsache bleiben. Das ist sie im Augenblick aber nicht.
({7})
Ich gebe das
Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Kollegin
Margareta Wolf.
Wolfgang Börnsen ({0})
Sehr geehrter
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren Schriftführer! Sehr
geehrter Herr Börnsen, ich hatte bisher immer den Eindruck, dass wir gemeinsam, also die Bundesregierung zusammen mit dem Parlament, eine Schiffbaupolitik im Interesse und zum Wohle der deutschen Industrie betreiben.
Ich finde es schade, dass das heute nicht so herübergekommen ist.
Ich selbst hatte Gelegenheit, mit verschiedenen Schiffbauern zu reden. Sie sind voll des Lobes - das hat Frau
Janz angesprochen - für die Arbeit des maritimen Koordinators, insbesondere im Hinblick auf das, was er zugunsten von mehr Wettbewerb in Brüssel zu erreichen
versucht hat und auch erreicht hat.
({0})
Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der
heutige Tag ist nicht nur ein schwarzer Tag. Das EU-Gericht hat nämlich heute in erster Instanz in Luxemburg
über eine Klage des Kvaerner-Konzerns gegen zwei
Kommissionsentscheidungen in Sachen Kapazitätsüberschreitung der Warnow-Werft in 1997 und 1998 entschieden. Das Gericht ist der Auffassung der klagenden Werft
gefolgt, dass es sich bei den von der Kommission festgelegten und bis 2005 geltenden Kapazitätsbeschränkungen
- Sie haben das angesprochen - um Begrenzungen der
technischen Ausstattung der Werft handelt, die im Rahmen ihrer Modernisierungsinvestitionen einzuhalten waren, so genannte bottle necks, und um keine Produktionsbegrenzungen.
Diese erst seit drei Stunden vorliegende Entscheidung
bedarf natürlich zuerst einmal einer ausführlichen Prüfung. Es muss auch abgewartet werden, ob die Kommission gegen dieses ja sehr weit reichende Urteil, das ihrer
bisherigen Position extrem widerspricht, beim EuGH in
Berufung geht. Wenn das tatsächlich so sein sollte, wäre
die Sachlage noch einmal anders zu beurteilen. Ich denke
aber, dass es zunächst einmal ein sehr positives Zeichen
für die deutsche Schifffahrt und gerade für die ostdeutschen Werften ist.
({1})
Herr Börnsen, Frau Janz hat darauf hingewiesen, dass
die Bundesregierung in Person von Herrn Gerlach vor
dem Hintergrund der sehr starren Haltung der Kommission in Sachen Kapazitätsgrenzen zu Beginn des Jahres
2001 der Kommission einen neuen Vorschlag einer systemkonformen Neubewertung der bis 2005 weiter geltenden Kapazitätsgrenzen vorgelegt hat. Mit diesem Antrag
sollte für die ostdeutschen Werften die Flexibilität geschaffen werden, die sie betriebswirtschaftlich - das sehen wir hier im Hause doch einheitlich so - dringend
benötigen. Denn auch die ostdeutschen Werften mussten
trotz der erfolgreichen Umstrukturierung ihre Fertigungstiefen weiter verringern, wie dies dem weltweiten
Trend im Schiffbau entsprach. Aufgrund der dadurch erzielten hohen Produktivitätszuwächse hätten die Werften
ihren schiffbaulichen Durchsatz erhöhen müssen, um die
Beschäftigungssituation stabil zu halten.
Angesichts der Kapazitätsbegrenzungen wurden aber
- das haben Sie beide auch gesagt - die betriebswirtschaftlichen Spielräume für die ostdeutschen Werften immer enger. Diese Situation, die auch von der EU-Kommission nachvollzogen wurde, hat nach intensiven
Verhandlungen von Herrn Gerlach dazu geführt, dass
Ende Oktober 2001 die Entscheidung zugunsten einer betriebswirtschaftlich flexiblen Lösung getroffen wurde. Es
wurde vorhin schon angedeutet: Ab 2001 dürfen die ostdeutschen Werften in einem Jahr nicht genutzte Kapazitäten auf das nächste Jahr oder eine andere ostdeutsche
Werft übertragen bzw. an Dritte vergeben, also outsourcen; das hat Frau Janz hier schon dargestellt. Wir gehen
davon aus, dass mit der jetzt erzielten Regelung eine belastbare Grundlage für den verbleibenden Zeitraum bis
2005 gefunden worden ist.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch kurz die Gelegenheit nutzen, Sie über den derzeitigen Stand der Verhandlungen der Bundesregierung in Brüssel zu informieren: Mitte letzten Jahres hat die EU-Kommission dem
Ministerrat den Entwurf einer Verordnung vorgelegt, in
der eine Doppelstrategie verfolgt wird: Einerseits soll
gegen die Praxis Koreas im Rahmen der Welthandelsorganisation ein WTO-Verfahren durchgeführt werden,
andererseits soll für den Zeitraum dieses Verfahrens eine
Unterstützung der europäischen Schiffbauindustrie in gewissen Marktsegmenten ermöglicht werden. Dieser
Verordnungsentwurf, der die uneingeschränkte Unterstützung der Bundesregierung erfährt - ich hoffe, auch dieses
Hauses -, konnte leider bisher nicht verabschiedet
werden, weil Frankreich ein Veto eingelegt hat. Die Franzosen haben ihre Zustimmung zu der Verordnung von der
Einbeziehung von Gastankern in die Liste der unterstützungsfähigen Schiffstypen abhängig gemacht. Eine speziell zu diesem Zweck durchgeführte unabhängige Marktuntersuchung soll die Forderung der Franzosen
bestätigen. Wir gehen mit dem maritimen Koordinator davon aus, dass spätestens bis Mitte des Jahres ein positives
Votum im Ministerrat erreicht werden kann.
Spätestens 2005 werden die mecklenburg-vorpommerschen Werften alle ihre betrieblichen Vorteile zur Geltung
bringen können. Die Bundesregierung wird alles ihr Mögliche tun, um dies im Rahmen fairer Wettbewerbsbedingungen zu erreichen. Dies haben wir auch in der Vergangenheit versucht und dabei, wie ich finde, wichtige
Schritte in die richtige Richtung getan.
Ich hoffe selbstverständlich, dass sich die Position des
EU-Gerichts, das heute in Luxemburg in erster Instanz
entschieden hat, tatsächlich durchsetzt. Dann wären wir in
Bezug auf die ostdeutschen Werften einen ganz wichtigen
Schritt weiter, die dann nämlich den Frühling sähen und
nicht bis zum 22. September nur schwarze Tage erleben
müssten.
Danke schön.
({2})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Hans-Michael
Goldmann.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir hier nur im kleinen Kreis versammelt sind. Die maritime Wirtschaft hätte wirklich anderes verdient.
({0})
Wir, die wir in diesen Bereichen besonders engagiert sind,
wissen, dass es um eine absolute Hightech-Technologie
geht, die weit über die Küste hinaus Bedeutung hat. Nicht
umsonst hat sich eine der letzten Weltausstellungen mit
den Ozeanen und dem Wasser beschäftigt. Wasser, Ozeane und maritime Wirtschaft werden eine ganz wesentliche Säule unseres volkswirtschaftlichen Wohlergehens
sein, wenn wir sie hegen und pflegen, und zwar auf allen
Ebenen.
Maritime Wirtschaft ist ein ganzheitlicher Prozess und
man kann sich vielleicht in einem kleinen Schlenker fragen, ob die Reform des Seeunfalluntersuchungsgesetzes
wirklich eine kluge Entscheidung ist oder ob es klug ist,
zu entscheiden, dass die Donau nicht ausgebaut werden
soll; denn im Prinzip bedeutet die Entscheidung für die
A-Variante keinen Ausbau und bringt überhaupt keine
Perspektive.
Die Werften in Mecklenburg-Vorpommern sind nach
der Wende enorm gefördert worden. Das hat durchaus
Kritik bei denen hervorgerufen, die sich im Westen um
den Markt gekümmert haben. Aber es war richtig, weil gerade die Werften in Mecklenburg-Vorpommern eine ganz
zentrale Säule der wirtschaftlichen Entwicklung dieser
Region sind.
({1})
Sie mussten sich dafür auf Kapazitätsbegrenzungen
einlassen, auf 327 000 CGT. Diese Kapazitätsgrenzen
sollten bis 2005 gelten. Es ist gut, dass sie jetzt aufgeweicht worden sind.
Ganz so voll des Lobes, wie es der eine oder andere
ausgedrückt hat und wie es im Antrag steht, dass SPD und
Bündnis 90/Die Grünen das Problem auf ganz „hervorragende Weise“ gelöst hätten, waren die Vertreter der Werften bei der maritimen Konferenz in Rostock, an der ich
teilgenommen habe, nicht. Sie waren schon ein bisschen
enttäuscht, dass man Kapazitäten im Grunde genommen
nur zwischen den Werften austauschen kann; denn das ist
gar nicht das Problem. Die Werften in Mecklenburg-Vorpommern nutzen ja ihre Kapazität.
({2})
Eine Übertragung zwischen den Werften ist auch angesichts der Marktsituation - das sind ja nicht alles Brüder
und Schwestern, sondern Wettbewerber - nicht sehr hilfreich.
Aber gut, es ist entschieden, und wir können uns relativ schnell darauf einigen, Frau Janz: Die neuen Regelungen sind besser als die vorherigen. Sie sind jedoch überhaupt nicht die Lösung des Problems. Es hat zwei
maritime Konferenzen gegeben, was ich sehr begrüßt
habe, die erste in Emden - genau an der richtigen Stelle -,
die zweite in Rostock, vielleicht an einer noch besseren
Stelle, denn dort sind die Probleme sicherlich noch größer
und verschärfter.
({3})
- Nein, Sie gehen die Probleme nicht an. Fragen Sie sich
einmal ernsthaft, welches Signal folgender Sachverhalt ist
- der Kollege Börnsen hat es schon angesprochen -: Im
Jahr 2001 haben deutsche Werften Aufträge im Wert von
rund 300 Millionen Euro akquiriert; da sind wir uns einig.
Im gleichen Jahr haben sie aber für 3,9 Milliarden Euro
ausgeliefert; das heißt, sie haben nur knapp ein Zehntel
dessen, was sie ausgeliefert haben, akquirieren können.
Das zeigt, sie haben riesige Probleme, an neue Aufträge zu kommen.
({4})
Sie kommen an diese neuen Aufträge auch deshalb nicht
heran, weil die Rahmenbedingungen für Arbeit in
Deutschland nicht sonderlich gut sind, weil es hohe Lohnund Lohnnebenkosten gibt, aber sie kommen vor allen
Dingen nicht an neue Aufträge, weil die Koreaner falsch
spielen. Das ist auch hinlänglich bekannt. Nun müsste
man eigentlich die Werften in ihrem fairen Wettbewerbsgedanken unterstützen und als Bundesrepublik Deutschland über die europäische Ebene die Koreaner verklagen;
eine solche Stellung sollten wir in Europa haben. Vor diesem Hintergrund ist es höchst erstaunlich, dass wir nicht
bei der WTO Klage zugunsten unserer Werften gegen die
Koreaner geführt haben.
({5})
Wir haben das im Grunde genommen denen übertragen,
die in der Wettbewerbssituation standen, nämlich den
Werften und den Reedereien.
({6})
- Frau Wetzel, ich will gar nicht bestreiten, dass sie den
Antrag stellen müssen.
({7})
- Seien Sie einmal ganz friedlich. - Fragen Sie einmal die
Werften, ob sie sich von der Bundesrepublik Deutschland
und vom maritimen Koordinator in dieser Frage begleitet
und unterstützt fühlen
({8})
oder ob sie der Meinung sind, dass man mehr hätte tun
können.
Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Die Werften, mit denen
ich spreche - das sind eine ganze Reihe -, sagen, dass sie
von der Aktion der Bundesrepublik Deutschland, von dem
maritimen Koordinator und vom Bundeskanzler in dieser
Frage enttäuscht seien.
({9})
- Sie reden möglicherweise mit anderen Werften. Es kann
sein, dass diese das anders sehen. Aber die Werften, mit
denen ich rede - das sind so ziemlich alle Werften in der
Bundesrepublik Deutschland -, sagen, dass sie sich in dieser Frage enttäuscht fühlen.
Sie fühlen sich noch in Bezug auf eine weitere Frage enttäuscht - das wissen Sie auch -, nämlich in der Frage der
CIRR-Zinsregelung. Die CIRR-Zinsregelung führt dazu,
dass deutsche Werften erheblich benachteiligt werden.
({10})
Sie wissen ganz genau, dass es letztlich überhaupt nicht
hilft, wenn die Bundesrepublik Deutschland Mittel zur Verfügung stellt, weil die Länder die Kofinanzierung auf die
Beine stellen müssen. Einige Länder tun sich damit schwer
- dazu gehört beispielsweise Schleswig-Holstein -, weil sie
diese Ergänzungsmittel nicht zur Verfügung stellen können.
({11})
- Es hat keinen Zweck, wenn Sie dazwischenrufen, Frau
Wetzel. Entweder melden Sie sich zu einer Zwischenfrage
oder Sie nehmen Rücksicht auf mich und rufen nicht dauernd dazwischen; denn das irritiert ein wenig.
({12})
Frau Altmann, in diesem Punkt haben Sie Recht.
Betrachten wir beispielsweise einmal die Sache mit
Frankreich. Was haben Sie für einen Eindruck von der
europäischen Allianz, die von Deutschland und Frankreich gebildet wird?
({13})
- Warum funktioniert sie denn nicht? Was haben die Franzosen gemacht? Haben wir denn nicht die Möglichkeit auf anderen Gebieten können wir mit den Franzosen Kooperationen durchaus eingehen;
({14})
ich denke beispielsweise an verschiedene Bereiche der
Verkehrstechnik -, den Franzosen zu sagen, dass sie an
dieser Stelle einmal still sein sollen und dafür sorgen sollen, dass wir im Bereich der Wettbewerbshilfe zu einer
Lösung kommen, die dem Interesse der deutschen Werften Rechnung trägt?
({15})
- Frau Wetzel, es hat keinen Zweck zu glauben, in diesem
Bereich sei alles in Ordnung. In diesem Bereich gibt es
nämlich riesige Probleme. Wir müssen einfach erkennen,
dass wir noch eine Menge Aufgaben zu bewältigen haben.
Es macht daher keinen Sinn zu sagen, es sei alles eitel
Sonnenschein, der maritime Koordinator werde es schon
richten und die maritime Konferenz werde schon die richtigen Weichen stellen.
Wir müssen auf diesem Gebiet weiter konsequent arbeiten. Sie haben einen kleinen Schritt getan. Aber weitere Schritte sind dringend notwendig. Hier bedarf es eines größeren Engagements Ihrerseits, damit die Weichen
so gestellt werden, dass die maritime Wirtschaft die
Chancen hat, die sie verdient.
({16})
Für die
PDS-Fraktion spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die PDS-Fraktion unterstützt den Antrag der
Koalition. Wir anerkennen das Engagement der Bundesregierung und sind der Meinung, dass hinsichtlich der
Kapazitätsbeschränkungen ein besseres Ergebnis bei
der Kommission nicht möglich war. Wir sollten auch so
ehrlich sein, das einzugestehen.
({0})
Alle, die anders darüber urteilen und jetzt dazwischenrufen, müssten sich fragen, was sie in der Vergangenheit getan haben. Wir sollten bei aller Kritik das Ergebnis nicht
kleinreden.
({1})
Angesichts der harten Konkurrenz auch zwischen den
westeuropäischen Standorten war mehr als die zugestandene Flexibilisierung offensichtlich nicht drin, zumal
man auch hierzulande mittlerweile auch mit Kreuzfahrtschiffen erfolgreich ist, also in der einstigen Domäne anderer europäischer Werften punktet.
({2})
- Sie sind sehr wohl Bestandteil im Sinne von Wettbewerbsauseinandersetzungen. Wenn wir das eine wollen,
dürfen wir das andere nicht aus dem Auge verlieren. Man
muss solche Zusammenhänge schon sehen, Herr
Goldmann.
({3})
- Aber diese Schiffe werden doch auf den deutschen
Werften gebaut. Diese Tatsache muss man einfach sehen.
({4})
- Sie sollten sich erst mit der Materie beschäftigen, bevor
Sie solch dummes Zeug reden.
({5})
Wir sollten uns gerade in diesem Bereich, was Kritik
und Begehrlichkeiten gegenüber Brüssel anbelangt,
zurückhalten. Ich hoffe, dass durch die Übernahme von
Kvaerner durch Aker und die damit mögliche Kooperation zwischen Werften in Wismar und Warnemünde der
Kompromiss zum Austausch von Kapazitäten auch
Arbeitsplätze sichern hilft. Ich will deutlich sagen - da
gebe ich Ihnen Recht, Herr Goldmann -: Die Möglichkeit
des Kapazitätsaustausches ist ja nur die eine Seite. Diese
Möglichkeit im Sinne des Überwindens von Egoismen,
({6})
auch im Sinne von Mehrproduktion zu nutzen, das ist die
andere Seite. Ich denke, das muss man schon ansprechen.
Zum Antrag der Koalitionsfraktionen: Ich meine, es
wird höchste Zeit, dass er beschlossen und umgesetzt
wird. Denn wir brauchen die darin geforderten konkreten
Informationen und erwarten auch im Gefolge Initiativen
der Bundesregierung zur „unverantwortlichen koreanischen Dumpingpreispolitik“. Hier liegt bekanntlich das
Hauptproblem aller europäischen und damit auch der ostdeutschen Werften. Auf diesem Gebiet sind wir in den
letzten Monaten nicht deutlich vorangekommen.
Durch die fehlende Einigung des Industrieministerrates vom Dezember letzten Jahres wurden die befristeten
Werftenhilfen weiter verschleppt. Diese sind aber als
Flankierung der allseits erwünschten handelspolitischen
Auseinandersetzungen unabdingbar. Ich weiß natürlich,
dass Appelle an die Bundesregierung keine Ratsbeschlüsse verändern können. Aber manchmal wünschte ich
mir, wie es auch Herr Goldmann gesagt hat, dass sie sich
ein Beispiel am Verhalten Frankreichs nimmt.
({7})
Dort blockiert man, ohne mit der Wimper zu zucken, ein
für andere Mitglieder existenzielles Projekt, um noch weitergehende Wünsche, hier: Beihilfen für Gastanker, aufsatteln zu können.
({8})
Es gibt doch durchaus auch französische Interessen, bei
denen wir einmal sagen können, was wir wollen. Hier
denke ich zum Beispiel an die Luft- und Raumfahrt.
({9})
Dies offen anzusprechen führt dann vielleicht auch zu einem Umdenken und dazu, dass elementare Bedürfnisse
der führenden Schiffbaunation Westeuropas ernst genommen werden.
Eine zweite Kritik richte ich insbesondere an den Bundeswirtschaftsminister.
({10})
Während sich sein Staatssekretär an der Schiffbaubeihilfefront bemüht, den zuständigen EU-Kommissar gewogen zu halten, räumt der Minister laufend neue Felsbrocken auf den ohnehin schon steinigen Weg. Damit
meine ich zum Beispiel die angedachte Ministererlaubnis für die Fusion von Eon und Ruhrgas. Der uns allen
bekannte EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti sagt
dazu in der „Berliner Zeitung“ vom Montag dieser Woche: „Auf EU-Ebene haben wir keine Ministererlaubnis,
und das finde ich richtig.“
Es ist keineswegs zu weit hergeholt, zwischen Energiepolitik und Schiffbau einen Zusammenhang herzustellen. Wer sich auf dem einen Feld wie ein Elefant im politischen Porzellanladen benimmt, braucht sich nicht zu
wundern, wenn ihm auf einem anderen Feld der Wind ins
Gesicht bläst.
({11})
Wer Wettbewerbspolitik zur Farce machen will, indem
er beispielsweise ein Minister- kurzerhand zum Staatssekretärs-Erlaubnisverfahren erklärt und darin weder die Interessen der Verbraucher noch der Beschäftigten, sondern
höchstens die der Anteilseigner eines bestimmten Konzerns verfolgt, der disqualifiziert sich für Forderungen in
anderen Feldern der Wettbewerbspolitik.
Es bleibt die Frage: Ist Eon wirklich so viel wert? Kollege Börnsen - Sie wissen, ich schätze Sie sehr -, auch für
mich bleibt die Frage: Ist der Vorwahlkampf es wirklich
wert, nun den langjährigen schiffbaupolitischen Konsens
zwischen den Fraktionen aufzukündigen und einfach von
Bord zu gehen?
({12})
Ich meine, damit erweisen wir den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo einen schlechten
Dienst. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Danke schön.
({13})
- Das sollten sie einmal nachlesen und sich nicht nur die
„Bild“-Zeitung angucken!
Ich erteile
der Kollegin Margrit Wetzel für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Transportvolumen
auf den Meeren wächst jährlich um 7 Prozent. Trotzdem
sind die Frachtraten wieder gefallen.
({0})
Die Reeder nehmen freiwillig Tonnage vom Markt, um so
den Preisverfall durch Überkapazitäten aufzuhalten.
Die Nachfrage ist, nicht nur durch den 11. September
letzten Jahres, drastisch eingebrochen.
({1})
Denn wer nicht gut verdient, ordert auch keine neuen
Schiffe. Selbst die Banken halten sich bei der Schiffsfinanzierung zurück.
Die deutschen Werften haben in den letzten Jahren so
viele Schiffsneubauten abgeliefert wie selten zuvor. Die
Auftragsbücher sind noch bis Ende 2003 gefüllt, bei etlichen Werften deutlich länger.
({2})
Dieser noch gute Auftragsbestand ist auch das Ergebnis
unserer verantwortungsvollen Beihilfepolitik.
({3})
Es war keine Überraschung, dass die auslaufenden Beihilferegelungen zu einem Nachfrageboom führten und
umgekehrt eine Flaute im Anschluss daran erfolgen
würde.
Bund und Länder haben dem Schiffbau mit einer gewaltigen Kraftanstrengung bei der Krisenbewältigung gegen die koreanischen Dumpingpreise geholfen.
({4})
Ich spreche bewusst von einer Krise, denn Subventionen
sind kein Dauerzustand. Die deutschen Werften wollen
auch keine Subventionen, sondern faire Wettbewerbsbedingungen auf dem Weltmarkt.
({5})
Anfang Januar 2002 hat die OECD-Arbeitsgruppe
Schiffbau endlich erkannt, dass sie ihre Anstrengungen
deutlich verstärken muss, um zu einem neuen internationalen Weltschiffbauabkommen zu kommen. Wir fordern,
dass alle Schiffbaunationen sich darauf verständigen,
faire Produktions-, Bilanzierungs- und Arbeitsbedingungen einzuhalten und bei Verstößen auch schmerzhafte
Sanktionen zu verhängen. Die USA müssen mitmachen
und Korea muss weltweit geltende Bilanzierungsregeln
akzeptieren und einhalten.
Dazu gehört, dass auch der Kapitaldienst für Kredite
einkalkuliert werden muss. Koreanische Werften beherrschen nach wie vor das Geschehen auf dem Weltmarkt.
Sie sind hochpoduktiv und supermodern und lassen einen
Serienschiffbau zu, von dem europäische Werften nur
träumen.
Die EU kann sich seit unerträglich langer Zeit nicht zu
einer gemeinsamen solidarischen Haltung zur Stärkung
der Schiffbauindustrie durchringen. Die Entscheidung
über die befristete Fortsetzung der Schiffbauhilfen wurde
wieder einmal vertagt, diesmal auf den Juni 2002. Sie
muss aber endlich fallen, weil der Schiffbau Vorlauf und
Zeit für die Akquisition auf dem internationalen Markt
braucht. Die Hartnäckigkeit und die Geduld der Bundesregierung bei den mühsamen Verhandlungen in Brüssel
verdienen deshalb unseren Dank, unsere Anerkennung
und unser aller Unterstützung.
({6})
Das gilt auch für den Teilerfolg, der im Herbst letzten
Jahres für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern nach
unglaublich mühsamen Verhandlungen erzielt wurde.
Natürlich wollen wir, dass die Kapazitätsbeschränkungen der ostdeutschen Werften ganz aufgehoben werden.
Die Frage ist nur, was man de facto durchsetzen kann und
ob man mit einem Teilerfolg weiterkommt.
Die Übertragung nicht genutzter Kapazitäten und die
Vergabe werfttypischer arbeitsintensiver Leistungen hatten inzwischen erkennbare positive Wirkungen: Die
Kurzarbeit in Wismar konnte aufgehoben werden. Der
Auftrag für den Bau einer Großsektion der „Aida-Aura“
wurde nach Warnemünde vergeben und sicherte dort Beschäftigung in Ausrüstungsberufen. „Durch Fremdvergabe konnte die Terminkette gehalten werden“, so darf ich
Herrn Tabel aus Wismar zitieren. Der Auftrag für den Bau
kleinerer Sektionen ging nach Stettin; Kooperation mit
polnischen Werften heißt auch, Kostenvorteile ausnutzen
zu können.
Durch die Zusammenlegung von Aker und Kvaerner
gehören die MTW und die Warnow-Werft inzwischen
zum größten europäischen Schiffbaukonzern. Austausch,
Synergieeffekte im Ausbildungs- und Personalbereich,
({7})
in Konstruktion, Fertigung, Materialplanung, Ausschreibung und Einkauf sind möglich. Die gemeinsame Produktpalette wird interessanter und die finanzielle Basis
gesünder. Das sind beste Voraussetzungen für eine dauerhafte Standortsicherung. Darüber sollten wir uns freuen.
({8})
Die Einbindung des Konzerns in die Kooperationen
von Euroyards nenne ich eine zukunftsweisende europäische Zusammenarbeit. Wir sollten an dieser Stelle erkennen, dass die europäischen Werften - das gilt für die
deutschen ganz besonders - deutlich weiter sind als die
europäische Schiffbaupolitik. Das muss einfach anerkannt werden.
({9})
Deshalb drücken wir der Peene-Werft, die bereits genannt worden ist, die Daumen für die Akquise von SARSchiffen für die Türkei und der Volkswerft in Stralsund für
eine erfolgreiche Entwicklung intelligenter Produktionsabläufe, nachdem die Fertigungsorganisation und die
Konstruktion schon neu ausgerichtet wurden.
Weiterentwickeln müssen sich unsere Werften schon,
wenn sie sich auf dem internationalen Markt behaupten
wollen. Computergestützte Fertigung ist heute ein Muss.
Aber wer sich einmal ein Bild von den Möglichkeiten der
virtuellen Produktion gemacht hat, weiß von den technologischen Vorsprüngen und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Werften. Sie brauchen faire BeDr. Margrit Wetzel
dingungen. Sie haben die Nase vorn, sind modern, hochproduktiv, innovativ und kreativ.
({10})
Wir haben einen starken, leistungsfähigen Standort
Küste. Die Kooperation mit den deutschen und den europäischen Partnern in Verbindung mit der Spezialisierung
auf Kernkompetenzen und der Marktführerschaft in der
Fertigungslogistik, das ist die Zukunft. Schiffe werden
ständig weiterentwickelt. Serienvorteile - auch wenn es
nur Bauteile wie Rohrleitungen oder Systemkomponenten sind - müssen mit der Erfüllung individueller Wünsche, mit technologischer Qualität, mit Liefertermintreue
und mit der individuellen Betreuung im Vertrauensverhältnis zwischen Werft und Kunde verbunden werden.
({11})
Da sind unsere Werften superstark. Sie bilden große Netzwerke für den nachhaltigsten Verkehrsträger, den wir
überhaupt haben. Auf diese Werften können wir stolz sein.
({12})
Sie haben die volle Unterstützung der Regierung und die
Regierung hat für ihren unermüdlichen Dauereinsatz die
volle Unterstützung des Parlaments.
({13})
Herr Goldmann, einen letzten Satz kann ich mir nicht
verkneifen: Es waren allesamt Wirtschaftsminister der
FDP, die es Haushaltsjahr für Haushaltsjahr versäumt haben, in den Haushalt Mittel für die Schiffbauhilfen einzustellen.
({14})
Jedes Mal gab es langwierige Verhandlungen mit den Oppositionsfraktionen; damals waren wir eine. Nun haben
wir uns durchgesetzt.
({15})
Ich schlage
vor, dass wir in der Debatte fortfahren. Das Wort hat der
Kollege Ulrich Adam. Er spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Dunkle Wolken am Konjunkturhimmel
von Mecklenburg-Vorpommern“ - so lautet eine Überschrift in der „Ostsee-Zeitung“ vom 19. Februar dieses
Jahres. Dies ist auch die Aussage von Professor Thomas
Lange von der Deutschen Bank. Genau in diesem Zusammenhang sprechen wir heute über den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion: Abschaffung der Kapazitätsbeschränkungen für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern.
Jedem hier im Saal ist sicherlich bekannt, dass der
Schiffbau für unser Land Mecklenburg-Vorpommern vor
dem Hintergrund der momentan wirtschaftlich angespannten Situation besonders wichtig ist. Daher hat es
nichts mit Miesmachen zu tun, was uns die Bundes- und
auch die Landesregierung immer wieder vorwerfen, wenn
wir die gegenwärtige Situation realistisch beschreiben.
Die wirtschaftliche Lage ist schlecht. Die Arbeitslosenzahlen sind immens hoch und steigen weiter.
({0})
Die Zahlen belegen dies: Bundesweit legt das Bruttoinlandsprodukt 2001 nur um 0,6 Prozent zu. Bei den Ländern bildet das von SPD und PDS regierte MecklenburgVorpommern mit minus 1,2 Prozent das Schlusslicht. Die
Baubranche - ein besonders wichtiger Wirtschaftszweig liegt am Boden. 487 Firmen gingen 2001 Pleite. Das waren so viele wie nie zuvor in einem Jahr.
({1})
Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Mecklenburg-Vorpommern ist bedrückend. Es gibt keinen Anlass,
die Situation schönzureden. Seit drei Jahren verharrt der
Arbeitsmarkt im Land in tiefer Stagnation.
({2})
Allein in meinem Wahlkreis, dem Kreis Ostvorpommern,
liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei 23,7 Prozent und
im Kreis Demmin sogar bei 29,5 Prozent.
({3})
Die Prognosen für diesen Monat sehen deutlich schlechter aus.
({4})
Wegen dieser negativen Entwicklung müsste eigentlich alles getan werden, um einen weiteren Arbeitsplatzabbau zu stoppen. Aber die Bundes- und die Landesregierung unternehmen nichts. Mit seinem Prima-KlimaKlub erteilt Ringstorff seinem Arbeitsminister Holter
vielmehr einen regelrechten Persilschein.
({5})
Auch die PDS im Land ist nur noch daran interessiert, den
Parteifreund zu stützen. Die Arbeitslosenzahlen kümmern
sie schon lange nicht mehr.
({6})
- Entschuldigung, das hat sehr viel mit dem Thema zu tun.
Von der konstant hohen Arbeitslosigkeit im Land sind
vor allen Dingen sehr junge Menschen betroffen. Auf die
fehlenden beruflichen Perspektiven reagieren die Jugendlichen mit Abwanderung in die alten Länder.
Herr Kollege Adam, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kutzmutz?
Bitte schön.
({0})
Nein, Herr Goldmann, es ist
eine ganz einfache Frage. - Herr Adam, ich habe Ihnen
sehr aufmerksam zugehört. Sie haben gesagt, Landesregierung und Bundesregierung müssten alles tun, damit
diese negative Entwicklung gestoppt wird. Meine Frage
ist: Könnten Sie mir ganz kurz erklären, was Sie unter „alles“ verstehen?
({0})
Unter „alles“ ist zu verstehen, dass die Landes- und die Bundesregierung mehr tun
sollen. Im Augenblick tun sie nichts.
({0})
In meinen folgenden Ausführungen werde ich Ihnen das
beweisen.
({1})
Herr Kollege Adam, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der
Kollegin Janz?
Bitte schön.
({0})
Das kann man nicht einfach vorlesen, weil er die ganze Zeit vom Häuserbau, aber weniger
vom Schiffbau redet. Deswegen möchte ich gerne fragen,
ob Ihnen bekannt ist, dass zurzeit - ich habe die aktuellen
Zahlen vorhin vorgetragen - im Schiffbau 1,9 Prozent
mehr Leute eingestellt worden sind. Das ist das Gegenteil
von dem, was Sie hier vortragen.
({0})
Sie müssen dann bitte
dazu sagen, in welchen Ländern das passiert, Frau Kollegin. Das ist mit Sicherheit nicht in Mecklenburg-Vorpommern so.
({0})
- Nein, das ist nicht der Fall. Das kann ja wohl nicht wahr
sein.
Aufgrund der beschriebenen Situation können wir es
den Menschen gar nicht verdenken, wenn sie ihre Chancen andernorts suchen. Das ist doch unser Problem. Der
zunehmende Fortzug kennzeichnet in jedem Fall die
strukturell katastrophale Situation in MecklenburgVorpommern. Ich frage mich, was noch passieren muss,
damit die Bundesregierung begreift:
({1})
Der Arbeitsmarkt im Osten braucht nicht in erster Linie
organisierte Abwanderungshilfen in Form von Kopfprämien und Einwanderungshilfen im Westen,
({2})
sondern eine organisierte Stärkung des Wirtschaftsstandorts neue Länder.
({3})
Wer angesichts der beginnenden Spirale aus Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Abwanderung tatenlos
bleibt,
({4})
gefährdet die Zukunft des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
({5})
Die Beschreibung der aktuellen wirtschaftlichen Situation
zeigt ganz deutlich: Bei dieser Arbeitslosenquote und bei
diesem schlechten Wirtschaftswachstum sind die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern umso mehr auf eine
starke Werftindustrie angewiesen.
({6})
In dieser Situation nutzen den Menschen, deren Existenz in weiten Teilen vom Schiffsbau abhängt, keine
langwierigen Verhandlungen der Bundesregierung mit
Brüssel, an deren Ende eine regelrechte Farce als Erfolg
verkauft wird; denn die zwischenzeitlich erzielte Flexibilisierung für die Werften ist schlichtweg eine Farce.
({7})
Die Werfen sind voll ausgelastet. Deshalb bringt das Weiterreichen von nicht verbrauchten Kapazitäten ins nächste
Jahr oder zwischen den Werften nichts.
({8})
Die Überschüsse können nur ins nächste Jahr übertragen und nicht kumuliert werden. In der Praxis sind die Regelungen nur sehr bürokratisch umzusetzen und damit
weit gehend wirkungslos.
({9})
- Das ist wahr. Das wurde mir erst gestern von den Geschäftsleitungen verschiedener Werften in MecklenburgVorpommern bestätigt.
({10})
- Hören Sie doch zu! - Bei der Möglichkeit der Flexibilisierung durch - ich zitiere - „Berücksichtigung von an
Dritte vergebenen Leistungen“ kommt es zudem zu Verwirrungen. Von dieser Möglichkeit ist lediglich eine
Reihe aufgelisteter Leistungen betroffen. Diese sind derart eingeschränkt, dass die Leute auf den Werften gar
nicht genau wissen, was im Nachhinein anerkannt wird
und was nicht.
({11})
Die Gefahr von Sanktionen im Nachgang eines möglicherweise unerlaubten Überschreitens der Quote verunsichert die Menschen. So überlegen sie sich erst einmal
genau, ob sie von dieser Möglichkeit überhaupt Gebrauch
machen können und ob es überhaupt umzusetzen ist. Die
neuen Maßnahmen sind somit reiner Bürokratismus.
({12})
Herr Kollege,
denken Sie bitte ein wenig an die Zeit.
({0})
So stellte der Betriebsratschef der Wolgaster Peene-Werft, Manfred Hoppach, zu
Recht fest:
({0})
Die erweiterten Regelungen sind so kompliziert, dass
die Geschäftsführung wahrscheinlich extra noch jemanden dafür einstellen muss.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schiffbau ist nun
einmal das wichtigste Standbein im industriellen Bereich
an der nordöstlichen Küste. Gerade weil es in den anderen Bereichen - ich habe zum Beispiel die Baubranche bereits genannt - Schwierigkeiten gibt, dürfen den Menschen hier keine Steine in den Weg gelegt werden. Sie
haben die Möglichkeit, auf den Werften im Land erfolgreich zu arbeiten und Aufträge anzunehmen. Sie haben
- das wurde schon gesagt - die modernsten Standorte mit
höchstem technologischen Stand. Durch die CGT-Beschränkungen werden sie dieser Möglichkeiten aber beraubt.
({2})
Ein florierender Wirtschaftszweig wird durch die wirtschaftsfeindlichen Beschränkungen in die Mangel genommen und somit in weiten Teilen arbeitsunfähig gemacht. Wir erwarten daher, dass sich die Bundes- und die
Landesregierung endlich mit Erfolg engagieren,
({3})
damit die Werften in Mecklenburg-Vorpommern zukünftig entsprechend ihrer Fähigkeiten am Markt konkurrieren können. Wie soll man den Menschen denn begreiflich
machen, dass einerseits Milliarden in die Standorte investiert wurden, ihnen aber andererseits für diese lange Zeit
Beschränkungen auferlegt werden? Das versteht doch
kein Mensch.
({4})
Ich stimme dem Vorstandssprecher des Verbandes für
Schiffbau und Meerestechnik e. V., Werner Schöttelndreyer,
zu, der diesen Vorgang als „Bonsaieffekt“ bezeichnet. Wir
bauen zwar wunderschöne Werften, halten sie aber möglichst klein. Das kann es ja wohl nicht sein.
Im Jahre 2000 - also fünf Jahre nach der Festsetzung
der Beschränkung - bestand die Möglichkeit, diese zu
modifizieren. Die Mindestforderung war eine Anhebung
der Obergrenze um 20 Prozent mit einer zeitlichen Staffelung bis zum endgültigen Auslaufen. Dies hätte mindestens erreicht werden müssen. Die Bundesregierung hat
hier jedoch versagt. Sie hat in Brüssel nur halbherzig für
die Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern gekämpft. Auch die Landesregierung hat nicht genügend
Druck ausgeübt. Herr Schröder hat mal wieder bewiesen,
dass er die Probleme im Nordosten nicht erkennt und die
Realität nicht wahrnimmt.
({5})
Das ist die traurige Bilanz der Verhandlungen mit Brüssel.
Obwohl Bundeskanzler Schröder die maritime Wirtschaft ebenso wie den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt
hat, hat er drei Jahre lang nichts zur Besserung der Situation unternommen. Symptomatisch war zum Beispiel die
zweite Maritime Konferenz am 6. November 2001. Dort
war Herr Schröder bereits groß angekündigt, hat dann
aber nicht den Weg nach Rostock gefunden. Für alle Anwesenden hat er damit deutlich gezeigt, wie ernst es ihm
mit der Chefsache Ost wirklich ist.
({6})
Der Kanzler kann jedoch noch beweisen, dass ihm die
Sache ernst ist, indem er sich für die Auftragsvergabe an
die Werften in Mecklenburg-Vorpommern durch das
Bundesverteidigungsministerium einsetzt und sich bei
der Übernahme von Aufträgen von NATO-Ländern nicht
weiterhin restriktiv verhält. So könnten wir einem weiteren wichtigen Ziel näher kommen: Die Höhe der Auftragsvergabe an Unternehmen in den neuen Ländern muss
der Stationierungsdichte der Bundeswehr in den neuen
Ländern entsprechen. Auch hier sind wir bei weitem noch
nicht am Ziel angelangt.
({7})
Ich will Ihnen zum Abschluss sagen: Schon heute ist eines klar: Nach dem Gespräch der ostdeutschen Abgeordneten unserer Fraktion mit dem Kanzlerkandidaten der
Union, Edmund Stoiber, steht fest: Die Interessen des LanUlrich Adam
des Mecklenburg-Vorpommern sind nach dem 22. September 2002 bei einem Bundeskanzler Stoiber besser aufgehoben, als dies gegenwärtig der Fall ist.
({8})
- Hören Sie zu! - Schließlich hat er bewiesen, wie ein
agrarisch geprägtes Land - wie dies auch bei Mecklenburg-Vorpommern der Fall ist - mit einer guten Politik zu
einem der reichsten Länder Deutschlands werden kann.
({9})
Genau aus diesem Grund haben wir uns in MecklenburgVorpommern auch schon in den 90er-Jahren das Ziel gesetzt, Bayern des Nordens zu werden. Genau dies wird
uns mit einem Bundeskanzler Stoiber und einem Ministerpräsidenten Rehberg gelingen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine geschätzten Vorredner von der Oppositionsbank, ich glaube,
wenn man Ihre Morgen- und Abendreden miteinander
vergleicht - wobei ich mit „Morgenreden“ das meine, was
Sie von sich gegeben haben, als Sie noch auf der Regierungsbank saßen -, dann muss man feststellen, dass das so
recht nicht zusammenpasst. Genau das, was Sie heute beklagen, haben Sie uns als Erblast hinterlassen.
({0})
- Warten Sie ab. Ich werde Ihrem Gedächtnis ein wenig
nachhelfen.
Ich hatte eigentlich vor, mehr zur Sache zu sprechen,
aber ich glaube, die Sachinformationen sind ausreichend
ausgetauscht. Ich werde mir also eine Retrospektive erlauben, selbst wenn Ihnen das nicht so ganz passt.
({1})
Es ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sich der Bundestag mit der Situation des Schiffbaus in MecklenburgVorpommern befasst. In einem stimmen wir wohl überein:
In Mecklenburg-Vorpommern stehen heute europaweit die
modernsten und produktivsten Werften, die nicht nur allein
für die nördliche Region wichtig sind; denn Schiffbau ist
eine nationale Aufgabe.
({2})
Diese Werften sind Ergebnis eines schmerzhaften Prozesses der Umstrukturierung, in den auch erhebliche finanzielle Mittel geflossen sind. Auch in diesem Punkt besteht
Konsens. Ich möchte Sie aber daran erinnern: Die Hauptlast dieses Prozesses haben vor allem die Beschäftigen getragen.
({3})
Sie und diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, haben den eigentlichen Preis für den Erhalt der Werftenstandorte gezahlt. Wie groß die Einschnitte seit den
vergangenen zwölf Jahren gewesen sind, mögen einige
simple Zahlen belegen:
({4})
- Hören Sie mir ein Weilchen zu, dann können wir weiter
reden. - Waren im Kombinat Schiffbau zum Ende - ({5})
- Das Gros in Ihrer Amtszeit, das werde ich Ihnen nachweisen.
({6})
Waren im Kombinat Schiffbau zum Ende der DDR noch
55 000 Beschäftigte,
({7})
sind es jetzt noch 4 500.
({8})
Das Gros der Arbeitsplätze wurde in Ihrer Ära abgebaut.
({9})
Waren am 30. Juni 1990 in der Warnemünder WarnowWerft, heute Kvaerner, noch 5 770 Schiffbauer in Arbeit
und Lohn, so sind es jetzt, und zwar nicht erst seit heute
und gestern, nur noch 1 150. Es lohnt sich doch, über die
vielen Einzelschicksale, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, nachzudenken.
({10})
Dass dieser Abbau vor allem sozial flankiert wurde, war
das Verdienst von Gewerkschaften und SPD. Diese Leistungen verdienen hier auch einmal Anerkennung.
({11})
Den Hauptpreis haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber für politische Fehlentscheidungen und
Schlampereien während der Zeit der Regierung Kohl, vor
allen Dingen in den Jahren 1992 bis 1995, zu zahlen gehabt,
({12})
als, erstens, durch eine überhastete Privatisierung durch
die Treuhand ein tragfähiges Sanierungskonzept der DMS
zerschlagen wurde, obwohl eine Sanierung vor PrivatisieUlrich Adam
rung - das war immer unsere Forderung - noch Sinn gehabt hätte,
({13})
und, zweitens, durch schlampiges und verantwortungsloses Handeln der Treuhand, später BvS, unter der Sachund Fachaufsicht des damaligen Finanzministers Waigel
ein Fördermittelmissbrauch zulasten der ostdeutschen
Werften möglich wurde, an dem Mecklenburg-Vorpommern noch heute zu tragen hat.
({14})
Das war der Auslöser dafür, dass die EU-Kommission jetzt
mit Argusaugen auf die ostdeutschen Werftenstandorte
und die Einhaltung der Kapazitätsobergrenzen achtet.
({15})
Da ist in der Zeit Kohl gar nichts gelaufen, da hat sich in
Brüssel nichts bewegt.
Wenn sich die jetzige Bundesregierung von Anfang an
die Aufgabe gestellt hat, für die ostdeutschen Werften eine
Lockerung der Kapazitätsobergrenzen durchzusetzen
und dieses Ziel im Vorjahr auch erreicht hat, dann kann das
nur ein Schritt sein, da gebe ich Ihnen Recht. Aber Sie vergessen immer das Entscheidende. Es geht ja nicht nur um
das Übertragen von Kapazitäten, sondern es geht vor allen
Dingen auch um das Herausrechnen von nicht schiffbautypischen Leistungen, was schon Entlastung schafft.
({16})
In diesem Sinne ist natürlich der heutige Spruch des Europäischen Gerichtshofes ein gutes Zeichen. Diese Entscheidung wird von uns nachdrücklich begrüßt. Dem maritimen Koordinator der Bundesregierung möchte ich an
dieser Stelle nachdrücklich für sein engagiertes und erfolgreiches Handeln danken.
({17})
Zwei maritime Konferenzen,
({18})
denen in Kürze eine dritte folgen wird,
({19})
zeigen im Übrigen, dass die Bundesregierung den maritimen Sektor und den Schiffbau aufwertet und ernst nimmt.
({20})
Wenn Sie jetzt an diesen Ergebnissen herummäkeln, müssen Sie sich doch einfach einmal fragen lassen, welche
Erblasten an ungelösten Problemen uns Ihre Partei, die
Partei von Waigel, Breuel, Stoiber-Berater Rehberg und
anderen, hinterlassen hat.
({21})
In Ihrer Zeit ist da nichts gelaufen. Es wäre gut, wenn Sie
sich an Ihren Taten messen lassen würden. An Ihren Taten
soll man Sie messen und nicht an Ihren Morgen- und
Abendreden.
Danke schön.
({22})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
14/8050 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur
Abschaffung der Kapazitätsbeschränkungen für Werften
in Mecklenburg-Vorpommern. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/8051 zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Faire Wettbewerbsbedingungen für die
Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Margot von Renesse, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
({0}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege
({2})
- Drucksache 14/8276 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Margot von Renesse.
({4})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Als ich im Bundestag angefangen
habe, begleitete die Diskussion über den Abbau des Gebirges von Unrecht - um es einmal so zu nennen -, das uns
aus der nationalsozialistischen Zeit hinterlassen worden ist
und das uns, wie ich befürchte, noch lange beschäftigen
wird, schon relativ schnell nach dem Eintritt in den Rechtsausschuss meine Arbeit. Dann habe ich erlebt, wie nach einer gewaltigen Schinderei 1998 ein Gesetz in Kraft treten
konnte, nach dem die Betroffenen, über die wir auch heute
reden - die „Deserteure“, „Wehrkraftzersetzer“ und „Feiglinge“ -, die Möglichkeit hatten, in einer Einzelentscheidung ihre ungerechten Urteile aufheben zu lassen.
({0})
Das war ein gewaltiger Fortschritt. Es gibt niemanden
- Herr Beck, wir wissen das, weil wir das gemeinsam erfahren haben -, der einen solchen Antrag gestellt hat und
dem es nicht widerfahren ist, dass dieser aufgehoben worden ist.
Deswegen habe ich - das muss ich zugeben - das Anliegen der Betroffenen zunächst nicht verstanden. Ich
muss dafür um Entschuldigung bitten. Aber ich meine,
dass wir in der Tat noch einmal darüber nachdenken müssen, was eigentlich der Hintergrund einer solchen Entscheidung, wie wir sie heute treffen werden, ist.
({1})
- Nein, es ist nicht reiner Wahlkampf. ({2})
Es geht möglicherweise gar nicht mehr um individuelle
Schicksale, nicht nur um die Anerkennung des einzelnen
Unrechts; so verstehe ich das heutige Anliegen. Damit ist
zugleich gesagt, dass das, was den Betroffenen widerfahren ist, nicht ein einzelnes ungerechtes Urteil ist, sondern
dass sie Opfer einer Mordmaschinerie wurden, einer Verfolgung, die groß angelegt war und in der sie nur kleine
Rädchen waren. Wir kennen die Zahl der Verurteilungen
und die entsprechenden Strafzumessungen, wenn man davon überhaupt reden kann.
Als das Gesetz, das wir jetzt ergänzen und vervollständigen, beraten wurde, haben wir im Rechtsausschuss
lange darüber nachgedacht, welche Vorbehalte es eigentlich dagegen gibt. Ich weiß doch, Herr Geis und Herr
Gehb, dass Sie mit dem Nationalsozialismus nichts im
Sinn haben
({3})
und dass es Ihre Sache nicht ist, diejenigen zu rechtfertigen, die damals Täter waren, auch wenn sie sich Richter
nannten. Aber was sind die Ängste, die hinter den Vorbehalten lagen? Ich meine, es geht in jedem Fall um die Gegenwart. Es gibt die juristische Scheu davor, von Gerichten gefällte Urteile aufzuheben und den Gerichten
nachträglich zu sagen, es sei Unrecht.
({4})
Es gibt einen großen Vorbehalt dagegen, weil man sich
nicht vorstellen kann, dass es möglich ist, alle paar Generationen erneut eine gewandelte Rechtsauffassung zu
überprüfen und daraufhin Urteile aufzuheben. Aber ich
meine in der Tat, dass das, was wir 1998 gemacht haben,
die Weichen in die Richtung gestellt hat, dass man es in
diesem Ausnahmefall mit Recht tun konnte. Denn dies
waren keine Urteile, weil sie im Gewand des Gerichts und
der Justiz ganz andere Akte waren, nämlich Demonstrationen von Menschenverachtung und Vernichtung.
({5})
Darüber sind wir uns einig.
Dann gibt es aber noch andere Probleme. Ich habe
gehört, was Sie mehrfach im Rechtsausschuss und auch
hier im Plenum dazu gesagt haben, Herr Geis, und meine,
dass darin die heutigen Vorbehalte liegen. Ich habe gerade
eben einen Brief bekommen, in dem jemand ein Denkmal
für Deserteure fordert. Darum geht es bei dem vorliegenden Gesetzentwurf gerade nicht. Aber die Sorge, dass
das Desertieren heilig gesprochen wird, scheint ganz
deutlich hinter den Vorbehalten zu stecken.
({6})
- Sehen Sie, ich habe das doch richtig wiedergegeben.
({7})
Wir, die wir dieses Gesetz verabschieden, verbinden
keine solche Absicht damit. Das Desertieren - vor allem
das Verurteiltwerden - war unter den damaligen Bedingungen etwas völlig anderes als das, was es heute wäre.
({8})
In der Begründung dieses Gesetzes haben wir dies sehr
deutlich zum Ausdruck gebracht: Wir haben eine andere
Armee, wir haben einen anderen Staat, wir haben eine andere Möglichkeit, sich dem Wehrdienst zu entziehen,
wenn man glaubt, dass er mit dem eigenen Gewissen nicht
vereinbar ist. Dieser Respekt vor dem Einzelnen bestand
damals nicht; darin besteht der Unterschied.
({9})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Der Unterschied besteht auch darin, dass man dem heutigen Staat mit Recht dienen kann. Ich will nicht sagen, dass
man für ihn sein Leben verlieren soll; als „stolze Trauer“
würde ich so etwas nie bezeichnen. Aber es ist jedenfalls
sinnvoll, diesem Staat mit seinem Leben zu dienen.
Der zweite Vorbehalt ist, soweit ich es beurteilen kann,
folgender: Die dahinter stehenden Ängste betreffen auch
die Frage, was mit unseren Vätern oder Großvätern ist, die
in der Wehrmacht waren. Sind sie durch den Freispruch
der „Wehrkraftzersetzer, Deserteure und Feiglinge“ verurteilt? Wir kennen die Diskussion um die Wehrmachtausstellung und wissen, dass es in der Wehrmacht
massenhaft Unrecht gab. Aber niemand käme auf die
Idee, zu behaupten, jeder Deserteur sei ein Held und Widerstandskämpfer gewesen. Ebenso wenig käme jemand
auf die Idee, zu behaupten, jeder Wehrmachtsangehörige
sei ein Verbrecher oder Menschenschinder gewesen. Das
sind Einzelurteile, die sich jeder vorbehalten kann.
Ich halte diese Ängste für unberechtigt. Sie sind verständlich; aber mit diesem Gesetz ist weder eine Verurteilung auf der anderen Seite noch das Heldentum auf dieser
Seite gemeint. Es gibt für „Wehrkraftzersetzer“ kein
Denkmal, aber einen pauschalen Freispruch.
Danke sehr.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ein wenig bin ich schon darüber verwundert, dass wir heute diesen Gesetzentwurf diskutieren. Von verschiedenen Seiten des Hauses - auch
von mir - wurde in den vergangenen Monaten immer wieder nach einem Gesetzentwurf gefragt; doch die Bundesregierung hatte es offensichtlich überhaupt nicht eilig, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Ihr Desinteresse, wenn
nicht gar ihre Ablehnung, war mit Händen zu greifen.
Nun liegt ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vor. Bevor ich auf die in ihm angesprochenen Themenfelder im Einzelnen eingehen werde, erlauben Sie mir
bitte eine ernst gemeinte Vorbemerkung. Ich will, um es
höflich auszudrücken, meiner Irritation darüber Ausdruck
verleihen, dass die Koalitionsfraktionen meinen, mit
ihrem Entwurf den Beschluss des Bundestages vom
7. Dezember 2000 erfüllt zu haben. Frau von Renesse, wir
haben im Berichterstattergespräch zusammengesessen; es
ging dabei um eine Aufforderung an die Bundesregierung.
Ich erinnere mich nicht, Herr Beck, dass wir SPD und
Grüne einstimmig aufgefordert hätten, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
({0})
Es mag ja nur eine Stilfrage sein und über Stilfragen
wundere ich mich in diesem Hause schon lange nicht
mehr. Aber die Indizien sprechen sehr dafür, dass es mehr
als eine Frage des Stils oder der Zeitknappheit ist.
({1})
Ich habe eher den Eindruck, die Bundesregierung fasst die
pauschale Aufhebung der NS-Urteile mit spitzen Fingern
an und delegiert diese in ihren Augen unliebsame und im
Falle der Deserteure auch in der Sache nicht berechtigte
Pauschalaufhebung an die Regierungsfraktionen.
({2})
Anders kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass der
Adressat unserer einstimmigen Bitte, die Bundesregierung, durch die „Abgeordneten Alfred Hartenbach,
... Volker Beck ...“ ersetzt worden ist.
Ich erinnere daran, dass sich der Vertreter des Justizministeriums schon zu Zeiten der jetzigen Ministerin im
Rechtsausschuss des Bundesrates bei der Behandlung des
Hamburger Gesetzentwurfs zur Aufhebung der Urteile,
die nach §§ 175 und 175 a Reichsstrafgesetzbuch gefällt
worden sind, lang und breit darüber ausgelassen hat,
warum diese Aufhebung überflüssig und unsinnig sei.
({3})
Ich erinnere ferner daran, dass nicht ein einziger Vertreter
der Bundesregierung bei den beiden Plenardebatten, die
zu dem schon zitierten Beschluss vom 7. Dezember 2000
geführt haben, das Wort ergriffen hat. War das wirklich
reiner Zufall?
Ich darf auch daran erinnern, wie lückenhaft der Entschädigungsbericht der Regierung - das lässt ein gewisses
Desinteresse vermuten - ausgefallen ist. Man meinte, uns
Abgeordneten beispielsweise keine Zahlenangaben zu
dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz mitteilen zu müssen. Dabei war schon während unserer Regierungszeit einem liberalen Kollegen mitgeteilt worden, dass nur 14 von
23 gestellten Anträgen derjenigen, die wegen Homosexualität verurteilt worden waren, fristgerecht bis Ende 1959
eingegangen waren. Das Haus von Finanzminister Eichel
hätte uns - das hätte nur eines geringen Aufwands bedurft auch mitteilen können, dass die Hälfte der 22 Anträge auf
AKG-Härteleistungen abgelehnt wurde. Ich möchte meine
Aufzählung nicht weiter fortsetzen.
Alles in allem habe ich nicht den Eindruck, dass die
Bundesregierung aus tiefster Überzeugung hinter dem
vorliegenden Gesetzentwurf steht und mit großem Engagement an die damit zusammenhängenden sachlichen und
materiellen Fragen herangeht.
Ich selbst habe schon in der Vergangenheit gesagt - das
gilt auch für meine gesamte Fraktion -, dass ich gut mit der
bisherigen Regelung und der bisherigen Praxis hätte leben
können. Neben der Generalklausel im NS-Aufhebungsgesetz aus dem Jahre 1998 gibt es eine Regelung, die
der Einzelfallgerechtigkeit dient. Ich habe damals des Weiteren den Widerspruch angesprochen, der sich ergibt, wenn
die Urteile, die zwischen 1935 und 1945 gefällt worden
sind, aufgehoben werden, während diejenigen, die zwischen
1945 und 1969 verurteilt worden sind, weiter unter dem
Stigma der strafbewehrten Homosexualität leiden müssen.
({4})
Dieser Widerspruch wird auch von vielen Rechtswissenschaftlern kritisiert, wohlgemerkt, Herr Hartenbach, von
Rechtswissenschaftlern, nicht von Amtsrichtern.
({5})
Herr Kollege
Gehb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hartenbach?
Ja, das ist mir lieber,
als wenn er mich von der Seite anspricht. Dann kann ich
ihm eine entsprechende - weniger polemische - Replik
geben.
Lieber Herr Hartenbach, bitte sehr.
Ich bedanke mich ausgesprochen höflich bei Ihnen. - Herr Dr. Gehb, ich möchte
Sie fragen, ob Ihnen der Unterschied zwischen nationalsozialistisch gefärbten und von nationalsozialistischem
Ungeist durchdrungenen Urteilen, die im Zeitraum von
1935 bis 1945 gefällt wurden und die von dem Willen geprägt waren, die Homosexuellen zu vernichten, und den
Urteilen, die von rechtsstaatlichen Gerichten gefällt worden sind, bekannt ist. Wissen Sie diesen Unterschied richtig zu würdigen? Würden Sie, wenn Sie das tatsächlich zu
würdigen wüssten, noch immer eine solche Behauptung
aufstellen, wie Sie es eben getan haben?
({0})
Ich möchte das, was
man bei großzügiger Auslegung als Frage auffassen kann,
gerne beantworten. Selbstverständlich ist mir dieser Unterschied bekannt. Diesem Unterschied wird auch durch
das Gesetz Rechnung getragen. Diese Urteile sollen ja
nicht bis in alle Ewigkeit perpetuiert werden. Sie können
auf Antrag aufgehoben werden. Das ist der Unterschied.
Im Übrigen muss ich dem Kollegen von Klaeden Recht
geben: Ihre Frage hatte durchaus einen unterstellenden
Charakter. Ich möchte Ihnen das angesichts der späten Tageszeit, aufgrund derer Sie vielleicht etwas erschlafft
sind, nachsehen, Herr Hartenbach.
({0})
Um die Schärfe herauszunehmen, möchte ich sagen,
dass meine Fraktion zu dem Beschluss steht, den wir nach
hartem Ringen im Beisein von Frau von Renesse, Herrn
Beck und Herrn van Essen einstimmig gefasst haben. Ich
habe damals zur NS-Zeit sowie zur Zeit nach 1945 ausführlich und, wie ich meine, differenziert Stellung genommen. Das muss ich heute im Detail nicht wiederholen. Wer Nachholbedarf an historischer Bildung zum
Thema „Homosexuelle und NS-Zeit“ hat, der kann
beispielsweise zum Sammelband von Jellonek und
Lautmann greifen, der gestern in der Landesvertretung
des Saarlandes vorgestellt wurde.
Die CDU/CSU-Fraktion zollt - das lasse ich mir auch
nicht absprechen; Sie haben uns das Gott sei Dank konzediert - den homosexuellen Opfern der NS-Zeit durchaus Respekt und Anerkennung. Wir tragen den Beschluss
vom 7. Dezember 2000 mit und wollen damit ganz bewusst unseren geschundenen und verfemten Mitbürgern
ihre Würde wiedergeben.
Bevor ich auf den zweiten Themenkomplex zu sprechen komme, möchte ich auch hier eine ernst gemeinte
Vorbemerkung machen. Nach dem vorliegenden Entwurf
sollen Urteile pauschal aufgehoben werden, die auf mehr
als 40 Paragraphen des Militärstrafgesetzbuchs - auf
mehr als 40 Vorschriften! - beruhen. Exemplarisch werden im Text sieben Tatbestände benannt. Ich bitte Sie, mir
nachzusehen, dass ich bisher nicht in der Bibliothek war,
um in dem alten Militärstrafgesetzbuch zu stöbern. Diesbezüglich existiert eine Bringschuld derjenigen, die den
Gesetzentwurf eingebracht haben; sie müssen eine sachgerechte Beratung in diesem Hause ermöglichen. Das ist,
wie ich eben schon gesagt habe, zumindest auch eine
Frage des Stils.
Der rechtspolitische Sprecher unserer Fraktion, mein
Kollege Norbert Geis, der auch heute Abend anwesend
ist, hat diesem Haus zuletzt vor vier Wochen mit großem
Engagement und guten Gründen dargelegt, warum - das
ist ganz entscheidend - eine Pauschalaufhebung der Urteile gegen Deserteure unserer Ansicht nach nicht möglich ist: Sie würde zu neuem Unrecht führen.
Bei der Vorbereitung meines Beitrags - ich bin eigentlich nur als Redner eingesprungen - bin ich auch über
Worte von Ihnen gestolpert, Frau von Renesse, und zwar
aus dem vergangenen Mai. Ich darf Sie einmal wörtlich
zitieren:
Nach einem in der Tat quälend langen Beratungsprozess hat der Bundestag in der letzten Legislaturperiode alles nachgeliefert, was den Wehrdienstverweigerern, Fahnenflüchtigen und „Wehrkraftzersetzern“
des Zweiten Weltkrieges schon lange zugestanden
hätte: volle Rehabilitierung und Anspruch auf Entschädigungsleistung. Der Antrag der PDS
- um den ging es nämlich damals ist daher, wie man bei Gericht sagt, in der Hauptsache erledigt.
({1})
Frau von Renesse, ich neige bei Ihnen häufig zu spontanem Beifall, gelange bei längerem Nachdenken allerdings
auch häufig zu einer Frage. Hier frage ich mich: Was hat
sich in den letzten Monaten in der Hauptsache eigentlich
verändert? Hier besteht doch ein Erklärungsbedarf.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gab es für die
Opfer der NS-Militärjustiz die volle Rehabilitierung und
auch Anspruch auf eine Entschädigungsleistung, die
anders als bei den homosexuellen NS-Opfern erfreulicherweise auch einkommensunabhängig war. Fußend auf
diesem berühmten Beschluss des Jahres 1997 kam es
zum NS-Aufhebungsgesetz und aus für mich nachvollziehbaren, fast zwingenden Gründen auch zur Einzelfallprüfung, jedenfalls für Deserteure.
Ich darf alle Seiten des Hauses daran erinnern, dass der
ehemalige Vorsitzende des Rechtsausschusses, der allseits
noch bekannte Horst Eylmann, als es um die Gemeinsamkeit zwischen den Fraktionen ging, unwidersprochen
feststellte - auch das darf ich wörtlich zitieren -:
Niemand hat bisher ausdrücklich bestritten, dass in
seltenen Ausnahmefällen eine Desertion im Zweiten
Weltkrieg auch unter Anlegung heutiger Wertmaßstäbe als Unrecht bewertet werden kann, so wenn
eine Desertion mit der Tötung eines Kameraden einherging oder dadurch erst ermöglicht wurde.
({2})
Daraus kann ich doch nur schließen, dass man der Auffassung war - das gilt wohl nicht nur für uns Christdemokraten -, dass es Deserteure gab, die aus durchaus ehrenhaften Motiven handelten und Opfer wurden, und andere,
die aus verwerflichen Motiven handelten. Folgerichtig
kam die Einzelfallprüfung zum Zuge.
Ebenso gilt für uns die Einzelfallprüfung für Richter
der Militärjustiz. Damals gab es bestimmt „Blutrichter“,
aber auch andere, die nach bestem Wissen und Gewissen
handelten. Eine pauschale Verdammung ist nicht angebracht. Weder eine pauschale Verurteilung noch eine pauschale Aufhebung ist angebracht.
Deshalb halten wir die Einzelfallprüfung weiter für
sachlich geboten. Offen gesagt: Ich fühle mich auch bestätigt, wenn ich mir die Begründung des Gesetzentwurfs
ansehe. Darin lese ich - das hat mich allerdings auch nicht
erstaunt -, dass sich die bisherige Regelung für den Bereich Desertion bewährt hat.
({3})
Es ist bisher kein Fall bekannt geworden, in dem eine beantragte Urteilsaufhebung verweigert worden wäre.
Im Übrigen schwingt bei der Pauschalaufhebung gerade im Bereich Desertion/Fahnenflucht eine Gefahr mit
- Sie haben zu Recht gesagt, Frau von Renesse, dass Sie
das nicht intendiert haben -, und zwar mit Blick auf den
Empfängerhorizont. Die Pauschalaufhebung könnte fälschlicherweise dahin verstanden werden, dass sich diejenigen, die weiter gekämpft haben, die also nicht desertiert sind, auch heute noch sozusagen als die Blödmänner
vorkommen müssen.
({4})
Das Entscheidende ist der Empfängerhorizont. Das ist typisch bei Willenserklärungen: Es kommt nicht auf den
Horizont des Erklärenden, sondern - das kann niemand in
Abrede stellen - auf den des Empfängers der Erklärung
an.
Zum Schluss möchte ich zwei Punkte klar und eindeutig unterstreichen:
Erstens. Eine Rehabilitierung der Deserteure der deutschen Wehrmacht kann nicht im Geringsten - das will
auch niemand - auf Fahnenflüchtige der Bundeswehr
übertragen werden. Die Bundeswehr ist die Armee eines
Rechtsstaats. Ihren Soldaten ist es gesetzlich verboten,
verbrecherische Befehle zu befolgen. Darauf zielte Ihr
Einwand, Herr Beck.
({5})
Zweitens. Mit der Rehabilitierung der Deserteure des
Zweiten Weltkriegs ist überhaupt keine Herabwürdigung
derjenigen deutschen Soldaten verbunden, die tapfer weitergekämpft haben, weil sie glaubten, dazu ihrem Staat
und ihrem Heimatland gegenüber verpflichtet zu sein.
({6})
Ich denke, dass alles Übrige dem Gespräch zwischen
den Generationen und der Geschichtsschreibung überlassen werden sollte.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin von Renesse das Wort.
Herr Kollege Gehb, es
ist immer problematisch, eine Rede abzulesen. Dann hat
man offensichtlich wenig Möglichkeiten, auf das reagieren zu können, was man hätte hören können, wenn man
zugehört hätte.
Ich habe mich für diese Rede nämlich entschuldigt.
Das ist Ihnen offensichtlich entgangen. Mein Verständnis
- ich hatte es damals aus den von mir genannten Gründen
nicht - entstand überhaupt erst aufgrund der Gespräche
mit den Betroffenen. Den Betroffenen geht es nicht - das
habe ich gesagt - um die Gerechtigkeitsprüfung im Einzelfall, weil es ihnen als nicht genügend erscheint, als Opfer eines Unrechtsurteils zu gelten, was etwa die Aufhebung oder die Wiederaufnahme des Verfahrens mit sich
brächte. Sie wollen, dass festgestellt wird, dass sie Opfer
einer Maschinerie der Verfolgung geworden sind. Übrigens, auch Sie haben - mit unserer Zustimmung - die
Waldheim-Urteile aufgehoben, ohne damit zu sagen, dass
die Betroffenen einen Orden verdienen. Mir ging es darum, das klarzustellen.
Zur Erwiderung
hat der Kollege Gehb das Wort.
Frau Kollegin von
Renesse, Sie wissen, dass auch ich eher zu denjenigen
gehöre, die komplett frei reden, sich jedenfalls keine Reden aufschreiben lassen. Ich hänge nicht am Manuskript,
sondern habe Ihnen sehr wohl zugehört.
Die Tatsache, dass Sie sich entschuldigt haben, kann
die Tatsache, dass dies noch vor kurzem Ihre Auffassung
war, nicht vergessen machen. Nur darauf habe ich rekurriert.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube,
das Entscheidende gerade in solchen Debatten, in denen
es um die Aufarbeitung von historischem Unrecht geht,
ist, dass das, was man in der Vergangenheit glaubte über
dieses Unrecht sagen zu müssen, im Lichte der Perspektiven der Betroffenen und im Lichte der historischen Wahrheit überprüft wird.
Es gehört gerade zur Größe dieses Hauses, dass es uns
gelungen ist, nachdem man lange Zeit die Augen vor dem
ganzen Ausmaß des NS-Unrechts bei der Entschädigung
wie bei der Rehabilitierung verschlossen hat, falsche Entscheidungen der Vergangenheit zu korrigieren. Deshalb
kann man bei der Debatte um die Rehabilitierung der Deserteure und der Homosexuellen sagen: Was lange währt,
wird endlich gut. Wie lang und wie quälend waren die
Debatten in diesem Hause in der letzten Legislaturperiode
über die Rehabilitierung der Deserteure, über das NS-Unrechtsaufhebungsgesetz?
Ich möchte den Grundgedanken NS-Unrechtsaufhebungsgesetz in Erinnerung rufen: Das alles ging auf die
Initiative einer Schule zurück - die nach Dietrich
Bonhoeffer benannt war -, die sich danach erkundigt hat,
ob dessen Verurteilung noch gültig sei. Nach monatelangen Recherchen fand man in der Tat heraus, dass es ein
bayerisches Kontrollratsgesetz gab, nach dem dieses Urteil aufgehoben war.
({0})
Wir, die Abgeordneten des Bundestages, haben daraufhin
gesagt: Es ist unwürdig, dass man dem Einzelfall nachgehen muss und dass es kein Bundesgesetz gibt, das diese
Urteile pauschal aufhebt. Genau dieser Gedanke ist auf
die Gruppe der Homosexuellen und der Deserteure anzuwenden. Auch diese Menschen wollen nicht nochmals
zum Staatsanwalt gehen und um Freispruch bitten müssen, nachdem sie vor 50 oder 60 Jahren zu Unrecht verurteilt wurden.
({1})
Es täte dieser Debatte wirklich gut, wenn wir nach der
Ausschussberatung - wir werden gemeinsam das Militärstrafgesetzbuch durcharbeiten und gründlich beraten wieder, wie im Dezember 2000, eine gemeinsame Entscheidung für die Homosexuellen und für die Wehrmachtsdeserteure treffen könnten.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Selbstverständlich.
Herr Beck, würden Sie
mir zubilligen, dass das Urteil wegen Desertion gegen den
Deserteur, dessen Name bekannt ist und der desertiert ist,
obwohl ihm der Auftrag erteilt worden ist, Flüchtlinge,
die aus dem Osten vor den anrückenden Feinden geflüchtet sind, auf sein Schiff zu nehmen, um sie zusammen mit
anderen Schiffen nach Deutschland zu bringen, und der
dies nicht getan hat, sondern mit seinem Schiff, ohne
Flüchtlinge aufzunehmen, mit 18 weiteren Kameraden
nach Norwegen geflüchtet ist, auch nach heutigen Maßstäben rechtens ist?
Die Entscheidung dieses Deserteurs war sicher nicht gut.
Es geht aber nicht darum - Frau von Renesse hat es betont -, hier zu klären, ob ein einzelner Deserteur ein Held
oder vielleicht auch nur ein Feigling war. Vielmehr geht
es um die Frage, ob das Dritte Reich als Staat grundsätzlich legitimerweise mit strafrechtlichen Mitteln den Gehorsam seiner Soldaten durchsetzen durfte. Meiner Auffassung nach, Herr Geis, hatte das Dritte Reich diese
Legitimität nicht. Es hatte keinen Anspruch darauf, dass
seine Soldaten ihm gehorchten, weil es einen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg führte, weil es
eine illegitime Staatsführung hatte, die an Verbrechertum
nicht zu überbieten war. Deshalb war der Strafanspruch
dieses Staates in diesen Fragen grundsätzlich verwirkt.
({0})
Darum geht es. Es geht nicht darum, die Militärrichter,
die im Einzelfall nur Recht und Gesetz ausgelegt haben
und nicht über das übliche Maß hinausgegangen sind, zu
verurteilen. Es geht auch nicht darum, über Soldaten oder
Offiziere der Wehrmacht, wie meinen Vater, den Stab zu
brechen, die meinten, bis zum Ende für ihr Vaterland
kämpfen zu müssen. Wer sind wir von der jüngeren Generation, dass wir wüssten, wie wir in dieser Zeit gehandelt hätten?
Eines aber will ich Ihnen auch sagen: Es gab nicht nur
Feiglinge bei den Deserteuren, sondern es gab auch viele
Leute, die aus Feigheit weiter in den Krieg gegangen sind,
weiter das Morden in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern verteidigt haben und mit jedem Tag, den sie
die deutsche Front im Osten länger gehalten haben, dafür
gesorgt haben, dass weitere Juden in die Gaskammern kamen, weitere Menschen gemordet und verschleppt wurden und dass durch die Todesmärsche weitere Menschen
zu Tode kamen.
({1})
- Darum geht es bei dieser Problematik. Wir reden hier
über das Dritte Reich. Wer über das Dritte Reich redet,
kann ja wohl zu Auschwitz nicht schweigen, Herr Gehb.
({2})
Gestatten Sie
eine zweite Nachfrage?
Bitte schön. Vielleicht lernen wir ja noch etwas.
Herr Beck, würden Sie
mir zustimmen, dass die völkerrechtliche Unterscheidung
in „ius ad bellum“, nämlich das Recht zum Krieg, und „ius
in bello“, das Recht im Krieg, für alle Kriege gilt, auch,
für den letzten Krieg? Meinen nicht auch Sie, dass auch in
einem nicht berechtigten Angriffskrieg Recht Geltung haben kann, dass selbst - in der DDR war es ja genauso unter einem Unrechtsregime Recht gelten kann und dass
die Vorschrift der Desertion einen Doppelcharakter hat,
nämlich zum einen den völlig unberechtigten Anspruch
des Staates auf Gefolgschaft - da stimme ich Ihnen zu -,
zum anderen aber auch eine Schutzwirkung, wie in dem
Fall, den ich vorhin genannt, und zwar sowohl gegenüber
Flüchtlingen als auch natürlich gegenüber den eigenen
Kameraden, gegenüber der eigenen Truppe, die dann,
wenn Deserteure davongelaufen sind, in höchste Gefahr
kommen? Diese Doppelbedeutung der Vorschrift Desertion - § 64 Wehrstrafgesetzbuch - existiert nämlich unabhängig davon, ob Hitler ein Diktator war oder nicht! Er
war ein Diktator; darüber brauchen wir nicht zu streiten.
Wenn wir das so betrachten, Herr Geis, dann wäre jede
Sabotagehandlung gegen die Kriegsführung des Dritten
Reiches zu Recht zu bestrafen,
({0})
weil sie im Zweifelsfall, wenn sie erfolgreich ist, dazu
führt, dass das Leben von anderen kämpfenden Einheiten
bedroht wird. Das ist die Struktur von Widerstandshandlungen in einer solchen politischen und militärischen Auseinandersetzung. Aus diesem moralischen Dilemma
kommt kein Mensch dieser Zeit heraus. Wir sollten die
Frage in der Tat so lösen, dass wir fragen, ob Entscheidungen bezüglich dieses Punktes angesichts dieses Staates legitim waren.
Etwas anderes ist es - das bleibt so; Herr Gehb hatte ja
diese Frage angesprochen -, wenn ein Deserteur bei seiner Desertion einen Kameraden erschossen hat, um fliehen zu können. Dann bleibt die Verurteilung wegen Mordes oder Totschlags an seinem Kameraden auch nach der
Aufhebung der Desertionsurteile bestehen.
({1})
Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb ist es ungerechtfertigt, unsere Initiative auf diese Art und Weise zu
denunzieren.
({2})
Ich bin froh, dass sich zumindest Rot-Grün, die PDS
und vielleicht sogar die FDP hier im Hause einig darüber
sind, diesen Schritt gemeinsam zu gehen. Ich bin deshalb
froh, weil ich Menschen wie Ludwig Baumann kenne, die
noch leben und in der Bundesrepublik Deutschland ein
schlechtes Leben hatten, weil ihnen die Strafverfolgung
aus der Zeit des Dritten Reiches in Form von gesellschaftlicher Ächtung in unserem Land wieder begegnet
ist. Ich bin froh für Menschen wie den deutschstämmigen
Elsässer Pierre Seel, der, nachdem er seinen Freund im
Konzentrationslager verloren hatte und selbst ins KZ gekommen war, weil er homosexuell war - ich rate allen einmal, seinen erschütternden Lebensbericht nachzulesen -,
noch zu seinen Lebzeiten erfährt, dass wir sagen: Deine
Verurteilung war Unrecht. Wir wollen nicht, dass die Opfer dieses Unrechtsregimes zu Bittstellern werden und
50 oder 60 Jahre, nachdem ihnen dieses Unrecht widerfahren ist, vor Gericht darum betteln müssen, dass ihnen
endlich Recht widerfährt.
({3})
Herr Gehb, Sie haben vorhin angesprochen, dass es
wenige Homosexuelle gab, die bis 1959 einen Antrag auf
Entschädigung nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz gestellt haben.
({4})
Ich weiß nicht genau, was Sie uns damit sagen wollten.
Der Grund, warum sich Homosexuelle bis 1969 nicht mit
Entschädigungsansprüchen an den deutschen Staat gewandt haben, lag in der skandalösen Tatsache, dass der
1935 von den Nationalsozialisten verschärfte § 175 bis
1969 in der Bundesrepublik Deutschland unverändert
fortgegolten hat. Wer damals sein Recht auf Entschädigung eingefordert hätte, hätte sich gleichzeitig indirekt
der Staatsanwaltschaft ans Messer geliefert. Diese Kontinuität der Verfolgung der Homosexualität bis 1969 ist in
der Tat ein Unrecht und war menschenrechtswidrig.
Der Deutsche Bundestag hat im Dezember 2000 gesagt: Wir wollen, dass die Urteile aus dem Dritten Reich
aufgehoben werden, und für die Kontinuität der Verfolgung der Homosexualität entschuldigen wir uns bei der
homosexuellen Minderheit, weil wir sehen, dass dieses
Hohe Haus lange Jahre in dieser Frage geirrt hat. Ich
finde, es ehrt die Demokratie, dass sie zu solchen selbstkritischen Äußerungen in der Lage ist.
Achten Sie jetzt
bitte auf die Zeit!
Ich glaube, damit haben wir das Thema moralisch und juristisch angemessen behandelt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von Renesse ist im Augenblick nicht mehr da. Ich wollte sie eigentlich auf ihre Entschuldigung ansprechen. Ich muss sagen, dass die
Auffassung, die sie damals bei der Debatte über einen
PDS-Entwurf bezüglich des die Homosexualität betreffenden Teils vertreten hat, auch meine persönliche Auffassung war, und zwar deswegen, weil ich der Meinung
bin, dass die Generalklausel in § 1 des NS-Aufhebungsgesetzes alle Verurteilungen wegen Homosexualität im
Dritten Reich erfasst hat.
Ich darf daran erinnern, was ich damals gesagt habe
- das ist auch weiter meine Überzeugung -: Wir werden
kein einziges Urteil finden, bei dem der nationalsozialistische Wille, Homosexuelle zu vernichten, nicht
durchgeschlagen hat. Hier ist zwar angesprochen worden,
dass möglicherweise Blutrichter und andere für Urteile
Verantwortung trugen. Ich bin aber ganz sicher, dass dieser Gedanke immer durchgeschlagen hat. Deshalb habe
ich immer die Auffassung vertreten und vertrete sie auch
weiter, dass schon seit dem damaligen Beschluss klar ist,
dass keine Urteile gegen Homosexuelle mehr bestehen,
sondern alle durch die Generalklausel aufgehoben sind.
Deshalb frage ich hier kritisch: Ist das, was wir jetzt
machen, kontraproduktiv? Ist nicht damals schon etwas
erreicht worden, was durch diesen Gesetzentwurf jetzt infrage gestellt wird? Diese Frage muss man ehrlich beantworten.
Die zweite Frage, die man sicherlich stellen muss, bezieht sich auf die Desertion. Ich habe meine persönliche
Sympathie für eine generelle Aufhebung der Urteile hier
mehrfach deutlich gemacht. Trotzdem will ich auch in
diesem Zusammenhang Fragen stellen. Diese Fragen
muss man stellen; denn ich glaube, dass sich Frau von
Renesse auch deshalb für ihre Ausführungen von damals
nicht entschuldigen muss, weil - wie auch in dem heutigen Gesetzentwurf steht - sich die Regelung im Wesentlichen bewährt hat und keine Fälle bekannt geworden
sind, in denen ein Antrag von der Staatsanwaltschaft abgelehnt worden wäre.
Es gibt einen zweiten Aspekt, den ich in diese Diskussion einführen will, weil er, glaube ich, nachdenkenswert
ist. Ich war ja früher beruflich bei der Generalstaatsanwaltschaft tätig. In diesem Zusammenhang darf ich
zwischendurch sagen, Herr Beck: Sie haben behauptet,
dass erst aufgrund einer Nachfrage geklärt worden sei,
was mit Bonhoeffer gewesen sei. Diese Frage ist lange
geklärt. Ich war selbst damit befasst. Wir haben sehr sorgfältig geprüft, ob es im Hinblick darauf irgendwelche offenen Fragen gibt. Damals war ich noch nicht Abgeordneter, sondern Oberstaatsanwalt. Wir hatten also früh
Klarheit und ich bin froh darüber.
Ich kann mich daran erinnern, dass wir Unrechtsurteile der DDR aufheben mussten. Ich weiß, wie vielen
Betroffenen es ganz außerordentlich wichtig war, dass sie
amtlich bescheinigt bekamen, dass ihnen Unrecht zugefügt worden war, weil eine Überprüfung ergab, dass alles,
was ihnen angetan worden war, nicht rechtsstaatlich war.
Es könnte durchaus sein, dass das in diesem Bereich genauso ist. Ludwig Baumann sagt uns das Gegenteil. Aber
ich meine, dass wir darüber nachdenken müssen.
Dritte Bemerkung. Wir haben uns für die Zeit von 1945
bis 1969 entschuldigt. Wir wissen, welche rechtlichen
Schwierigkeiten es gibt, für die Urteile dieser Zeit eine generelle Aufhebung herbeizuführen. Aber statt das zu tun,
was wir jetzt machen, nämlich beispielsweise im Bereich
der Homosexualität das wieder infrage zu stellen, was wir
durch die Generalklausel als wirklich wichtigen Schritt
erreicht haben, sollte man eher überlegen, was wir für die
Opfer tun können, die noch zwischen 1945 und 1969 ganz
entsetzlich gelitten haben.
({0})
Da läge mein persönlicher Schwerpunkt, um das ganz
deutlich zu sagen.
Wie dem auch sei: Wir werden beraten und das hoffentlich in sachlicher Weise tun; die heutige Debatte war
Gott sei Dank in weiten Teilen sachlich. Wir als FDP werden uns jedenfalls dabei einbringen.
Herzlichen Dank.
({1})
Jetzt gebe ich
Herrn Gehb für eine Richtigstellung das Wort zu einer
Kurzintervention. Ich bitte aber im Übrigen darum, jetzt
keine langen Reden und Gegenreden mehr zu führen, weil
die Debatte schon lang genug ist.
Vielen Dank, Frau
Präsidentin, ich werde das nicht ausnutzen.
Herr Beck, Sie haben sich wahrscheinlich verhört und
deshalb will ich das richtig stellen. Ich habe nicht das Beispiel gebracht, dass ein Deserteur einen anderen getötet hat;
das wäre ja ein Tötungsdelikt. Ich habe Herrn Eylmann zitiert; es ist also manchmal doch ganz gut, wenn man sich
das eine oder andere aufschreibt und das dann zitieren
kann:
... auch unter Anlegung heutiger Wertmaßstäbe als
Unrecht bewertet werden kann,
- jetzt kommt die Passage so wenn eine Desertion mit der Tötung eines Kameraden einherging oder dadurch erst ermöglicht
wurde.
Das betraf also nicht den Fall, dass der andere ihn erschossen hat.
Eine zweite Richtigstellung, Herr Beck. Sie haben mir
eine Frage gestellt, deswegen kann ich Ihnen die Antwort
nicht schuldig bleiben. Mit dem Beispiel der Anträge bis
1959 wollte ich mitnichten erneut das Schamgefühl verletzen; ich habe vielmehr - in der Antwort auf die Frage
eines liberalen Abgeordneten - die lückenhaften Entschädigungsberichte der jetzigen Regierung im Verhältnis zu
unserer Regierung moniert. Das und nichts anderes wollte
ich damit zum Ausdruck bringen.
Ich gehe davon aus, dass Sie sich verhört haben - auch
wenn nicht, habe ich das an dieser Stelle richtig gestellt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Vor mehr als einem Jahr hat der Bundestag einstimmig anerkannt, dass es sich bei der Verurteilung schwuler Männer nach §§ 175 und 175 a Nr. 4
Reichsstrafgesetzbuch um typisch nationalsozialistisches
Unrecht handelt. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, ihre Rehabilitierung und die der Opfer der NSMilitärjustiz durch entsprechende gesetzliche Regelungen sicherzustellen. Es ist gut - das sei eindeutig gesagt -,
dass jetzt endlich ein Gesetzentwurf vorliegt. Aber es ist
überhaupt nicht nachvollziehbar, dass dafür so viel Zeit
ins Land gehen musste.
({0})
Über 55 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft wird
nun endlich die jahrzehntelange Diskriminierung dieser
Opfergruppen der NS-Unrechtsjustiz beendet. Die betreffenden Personen werden rehabilitiert; ihnen und ihren Angehörigen wird ihre Würde zurückgegeben. Wir begrüßen
das ausdrücklich.
Die Beratungen in den Ausschüssen sollten jetzt zügig
vonstatten gehen. Ich denke, dass wir uns weiteren Zeitverlust nicht erlauben können. Es leben ohnehin nur noch
wenige der Betroffenen. Allein schon deswegen ist Eile
geboten. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass sich RotGrün mit dem Gesetzentwurf so viel Zeit gelassen hat.
Bei der Beratung in den Ausschüssen sollten wir prüfen - das als Anregung für die Beratung -, ob nicht auch
die Urteile wegen Kriegsverrats nach § 57 des Militärstrafgesetzbuches aufgehoben werden sollten. Der mit Todesstrafe bedrohte - wie es hieß - Landesverrat im Felde
war im faschistischen Aggressionskrieg eine ehrenwerte
und mutige Tat.
Auch bei den schwulen Opfern der NS-Justiz bleibt
eine schmerzliche Lücke. Es ist nicht zu vermitteln, dass
die Urteile nach den §§ 175 und 175 a, die zwischen 1935
und 1945 gefällt wurden, klar als Unrecht eingestuft und
aufgehoben werden sollen, andererseits die Urteile, die
nach exakt den gleichen, von den Nazis verschärften Paragraphen noch bis 1969 in der alten Bundesrepublik gefällt wurden, Bestand haben sollen.
({1})
Ich möchte daran erinnern, dass das eindeutige Votum
des Bundestages vom Dezember 2000 eine individuelle
und eine kollektive Entschädigung der Opfer der NSJustiz vorsah. Es ist weder zu erklären noch zu entschuldigen, dass der Gesetzentwurf das ignoriert. Es ist nicht
hinnehmbar, dass die staatliche Politik des bewussten und
systematischen Ausschlusses Homosexueller aus den
Leistungen des Bundesentschädigungsgesetzes sowie des
Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes bis heute nicht korrigiert worden ist. Die Bundesregierung und die Behörden
haben bisher der biologischen Lösung der Entschädigungsfrage Vorschub geleistet. Diese Politik soll jetzt
offenbar ungerührt fortgesetzt werden. Das empfinde ich
als einen Skandal.
({2})
In der Verweigerung von Entschädigungsleistungen
offenbart sich die Halbherzigkeit, mit der die rot-grüne
Bundesregierung die Rehabilitierung der verfolgten Homosexuellen sowie der Opfer der NS-Militärjustiz betreibt. Wir fordern die Bundesregierung erneut auf, dem
Willen des Bundestages entsprechend, unverzüglich konkrete Vorschläge zur Entschädigung vorzulegen. Es muss
eine Form des kollektiven Ausgleichs geschaffen werden
für das erlittene Unrecht, für die notwendige Arbeit des
Erinnerns und Gedenkens sowie für die Propagierung der
Menschenrechte homosexueller Frauen und Männer. Daran führt kein Weg vorbei, wenn Rot-Grün in der Frage
der Rehabilitierung der homosexuellen Opfer des NSRegimes ernst genommen werden will.
Danke schön.
({3})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Herr Staatssekretär Pick das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich weiß nicht, ob man das Thema angemessen
behandelt, wenn man mäkelig ist. Die Bundesregierung
ist im Dezember 2000 in der Tat ersucht worden - so heißt
es in dem Beschluss -, eine Ergänzung zu den bestehenden gesetzlichen Grundlagen der Rehabilitierung vorzulegen.
({0})
Dabei sind verschiedene Komplexe genannt worden. Das
betrifft die nach den §§ 175 und 175 a Reichsstrafgesetzbuch und zusätzlich die nach dem Militärstrafgesetzbuch
Verurteilten.
Weil hier also eine Lücke besteht, ist es angemessen,
darauf zu reagieren. Darüber müssen wir uns unterhalten.
Ich finde, das ist der richtige Ansatz. Dass die Bundesregierung hinter diesem Antrag der Koalition steht, ist
selbstverständlich. Ich stehe nicht an zu sagen: Der Antrag
ist in unserem Haus erarbeitet worden. Er ist zudem mit
denen abgestimmt worden, die im Rahmen eines Gesetzesvorhabens gehört werden. Um den Prozess zu beschleunigen - deswegen ist so verfahren worden. Wenn
ich die Regierungspraxis von früher betrachte, dann muss
ich sagen, dass das nicht etwas ganz Neues ist.
({1})
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Betroffenen das
durchaus anders sehen. Ich habe einen Brief vom 22. FeDr. Jürgen Gehb
bruar, in dem ein Betroffener an die Bundesministerin der
Justiz schreibt:
Wir Wehrmachtdeserteure danken Ihnen ganz herzlich, dass wir noch in dieser Legislaturperiode gesetzlich rehabilitiert werden sollen. Als ich dies heute
einem 87-jährigen Betroffenen sagte, hat er geweint.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
den Betroffenen kommt es in der Tat in erster Linie darauf
an - das ist auch meine Antwort auf Frau Schenk -, rehabilitiert zu werden, und nicht in erster Linie auf finanzielle
Ausgleichsmaßnahmen. Ich finde, hier muss man Verständnis für die Betroffenen haben. Ansonsten, denke ich,
tut man ihnen Unrecht.
({2})
- Herr Geis, es besteht insofern eine andere Lage, die wir
ändern wollen, als wir dies bisher nur für Einzelfälle vorgesehen haben. Es gibt weder im Bereich des § 175 noch
des § 175 a des Reichsstrafgesetzbuches eine pauschale
Rehabilitierung,
({3})
Es ist von den Betroffenen - daher mag die relativ geringe Zahl kommen - wohl immer als Zumutung empfunden worden, sich einer Einzelfallprüfung zu unterziehen. Das mag man verstehen oder auch nicht.
({4})
Ich denke, das muss man zumindest nachvollziehen können.
({5})
Das wollen wir mit diesem Entwurf ändern.
Sie wissen, dass homosexuelle Bürger während der
NS-Diktatur schlimme Dinge zu erleiden hatten.
({6})
Ich möchte in Erinnerung rufen, wie die Rechtsprechung
der Nationalsozialisten in ihrer erheblich verschärften
Spruchpraxis der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie bereitwillig nachkam.
Zwischen 1935 und 1945 wurden circa 50 000 Verurteilungen nach den §§ 175 und 175 a des Reichsstrafgesetzbuches ausgesprochen. Darüber hinaus wurden
Tausende wegen ihrer Homosexualität in Konzentrationslager verschleppt. Die Mehrzahl von ihnen wurde
ermordet. Im Übrigen waren Homosexuelle weiteren Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Diese Verfolgungsmaßnahmen sind offenbares nationalsozialistisches Unrecht
gewesen.
({7})
Deswegen wollen wir die bisherigen Einzelfallprüfungen
abschaffen und diese Urteile generell aufheben.
Auch die Urteile gegen die von den Militärgerichten
der Nationalsozialisten verurteilten Soldaten wollen wir
generell aufheben. Mir liegt die Liste vor, die in der Tat in
sehr dürren Paragraphen und Zitaten auch in dem Gesetzentwurf enthalten ist. Es gab Tatbestände wie „Übergabe
an den Feind“, „unerlaubte Entfernung“, „Abkommen
von der Truppe“, „Dienstpflichtverletzung aus Furcht“
oder „Feigheit“. Es bestand ein ganzer Haufen von solchen Tatbeständen, von denen einer zum Beispiel „Heiraten ohne Erlaubnis“ lautete. Meine Damen und Herren,
soll man die aus solchen Tatbeständen resultierenden Urteile nicht generell aufheben können? Ich finde, dies ist
eine Aufgabe, die uns noch bevorsteht. Über diese Frage
sollten wir uns sachlich und auch ohne Emotionen unterhalten.
Wir wollen diese Urteile, die von den Militärgerichten
der Nationalsozialisten gesprochen worden sind, aufheben. Sie wissen, dass in dieser Zeit Zehntausende nicht
nur von Soldaten, sondern auch von Zivilpersonen getötet worden sind oder wegen der Tatbestände Kriegsdienstverweigerung, Desertion/Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung Opfer von Verurteilungen geworden sind.
Aus meinem Bereich weiß ich, dass es in der Nähe von
Mainz mehrere Fälle gibt, in denen einige Stunden vor
dem Ankommen der Amerikaner Wehrmachtsangehörige
die weiße Fahne gehisst haben und noch in letzter Stunde
von den entsprechenden Gerichten aufgehängt worden
sind.
({8})
Auch das war aus der Sicht der nationalsozialistischen
Ideologie Feigheit vor dem Feind.
({9})
Auch das, denke ich, gehört in diesen Zusammenhang.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zeit der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist das dunkelste
Kapitel unserer Geschichte. Mit diesem Gesetz unternehmen wir den Versuch eines weiteren wichtigen Schrittes
zur Rehabilitierung der Opfer des NS-Regimes.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 6
auf:
12. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Klaus Riegert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Übergangslösung für Umsatzbesteuerung
von Sportanlagen
- Drucksachen 14/7285, 14/8385 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Norbert Barthle
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS
Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung
von Alt-Sportanlagen
- Drucksache 14/8375 -
Die Kollegen Danckert, Schild, Barthle, Hermann, Kinkel
und Ehlert haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll
geben zu können.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann
verfahren wir so.
Die Fraktion der FDP hat übrigens ihren Antrag auf
Drucksache 14/7813 zurückgezogen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/8385. Der Ausschuss
empfiehlt die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/7285 mit dem Titel
„Übergangslösung für Umsatzbesteuerung von Sportanlagen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Zusatzpunkt 6: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der FDP
und der PDS zur Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von Alt-Sportanlagen, Drucksache 14/8375.
Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit einstimmig angenommen
worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Brigitte Adler, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Michaele
Hustedt, Hans-Josef Fell, Dr. Angelika KösterLoßack, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen
Deutsche Exportinitiative - Erneuerbare Energien
- Drucksache 14/8278 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Wir haben für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Rolf Hempelmann.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Klimaproblematik
beschäftigt uns seit einer Reihe von Jahren. Spätestens
seit der Klimakonferenz in Rio de Janeiro vor zehn Jahren ist deutlich geworden - das ist auf weiteren Konferenzen durch zahlreiche Studien und Prognosen immer
wieder bestätigt worden -, dass wir enorme Anstrengungen unternehmen müssen, um den Herausforderungen der
globalen Klimaveränderungen gerecht zu werden. Die
vom Intergovernmental Panel on Climate Change, vom
IPCC, vorgelegten Prognosen zur Entwicklung des Weltklimas legen eine große Verantwortung auf die führenden
Industrienationen. Sie müssen zukünftig alle ihnen zur
Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um das Weltklima
zu schützen, damit eine weitere Verschärfung der Klimaproblematik verhindert wird. Einer der wichtigsten Bausteine eines notwendigen globalen Klimaschutzes ist die
möglichst rasche Verbreitung modernster Technologien
vor allem im Energiebereich. Im Kioto-Protokoll wurden
hierzu in Form des Clean Development Mechanism und
des Joint Implementation geeignete Instrumente geschaffen.
Ein enormes Potenzial für die zukünftige Energieversorgung, das jedoch bislang unzureichend genutzt wird,
bergen erneuerbare Energien, Energien aus Wind, Wasser,
Sonne, Biomasse, Erdwärme und Meeresströmungen.
Dies ist eine Aufzählung, die man sich auf der Zunge zergehen lassen kann. Dieses Potenzial ist schon nach dem
jetzigen Stand der Technik enorm.
({0})
Auf nationaler Ebene ist es uns gelungen, sehr erfolgreiche Ansätze zur Verbreitung der erneuerbaren Energien
zu schaffen, zum Beispiel durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz. In der Tat ist dieses Gesetz eines der erfolgreichsten Projekte der Bundesregierung.
({1})
Es ist auf seinem Gebiet auch im internationalen
Vergleich das erfolgreichste Gesetz. Man muss sich ein-
mal klar machen: 40 Prozent der weltweiten Windenergie
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
1) Anlage 5
werden in Deutschland generiert und 25 Prozent der Photovoltaik finden in Deutschland statt. Ich denke, das ist etwas, auf das wir durchaus stolz sein können.
({2})
Im Übrigen möchte ich denjenigen, die vielleicht in anderen Wirtschaftszweigen ihre Prioritäten setzen, sagen:
Die Windkraft ist zum Beispiel der größte Stahlauftraggeber und Stahlnachfrager in der Bundesrepublik Deutschland. Im Bereich der erneuerbaren Energien - das sage
ich denjenigen, die uns mehr an der Frage messen, wie
viele Arbeitsplätze wir geschaffen haben - sind in
Deutschland in den letzten Jahren allein durch das EEG
120 000 Arbeitsplätze entstanden.
({3})
Schön, nicht wahr? Es freut uns, dass Sie das genauso sehen.
Alle Prognosen zeigen allerdings, dass auf internationaler Ebene ein enormer Handlungsbedarf besteht. Es ist
deutlich geworden, dass der Energiebedarf in Entwicklungs- und Schwellenländern in den nächsten Jahrzehnten enorm ansteigen wird. Die Verfügbarkeit von ausreichender und kostengünstiger Energie ist für das
wirtschaftliche Wachstum dieser Länder von entscheidender Bedeutung. In vielen dieser Entwicklungs- und
Schwellenländer bestehen hervorragende Standortbedingungen für die erneuerbaren Energien. Das gilt es zu nutzen. Leider sind die politischen Akteure und Investoren in
diesen Ländern über die Einsatzmöglichkeiten und die
Wirtschaftlichkeit erneuerbarer Energien oft unzureichend informiert. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür,
dass bislang nur wenige Anlagen in diesen Ländern installiert wurden.
Deutsche Anbieter verfügen über weltweit führende
Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien. Viele
dieser Technologien bieten sich besonders für den Einsatz
in Schwellen- und Entwicklungsländern an. Leider aber
ist der Export der Technologie erneuerbarer Energien bisher nur ungenügend in Gang gekommen, obwohl - das
habe ich eben schon angedeutet - Deutschland zu den
weltweit führenden Ausfuhrnationen gehört.
Die Entwicklungen auf dem deutschen Markt haben
dafür gesorgt, dass die Branche in den letzten Jahren stark
expandieren konnte. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen sind in diesem Bereich entstanden. Im
Vergleich zu ihren ausländischen Konkurrenten haben sie
eine Reihe von finanziellen und organisatorischen Nachteilen zu bewältigen, um auch auf internationalen Märkten tätig sein zu können. So ist es beispielsweise vielen
dieser Unternehmen gegenwärtig aus Kapitalmangel
nicht möglich, Vorfeldakquisitionen durchzuführen, die
notwendigen Kontakte herzustellen und auf den
internationalen Märkten präsent zu sein. Zusätzliche
Schwierigkeiten bereiten unzureichende Informationen
über die heterogene und unübersichtliche Nachfragestruktur vieler Entwicklungs- und Schwellenländer.
Darüber hinaus besteht Handlungsbedarf bei der Vermittlung von Informationen über Exportfinanzierungsmöglichkeiten. Dabei verfügt Deutschland durchaus über
leistungsfähige Instrumente zur finanziellen Unterstützung dieser Unternehmen. Ein effizientes System zur
Ausfuhrgewährleistung ist zum Beispiel die Hermes Kreditversicherungs-AG. Ein gutes Instrument zur Investitionsgarantie haben wir über Price Waterhouse Coopers
umgesetzt.
({4})
Wir haben in dieser Legislaturperiode einen wichtigen
Schritt zu einer stärkeren ökologischen Ausrichtung unseres Ausfuhrgewährleistungssystems getan, indem neue
Leitlinien für das Hermes-Verfahren in Kraft getreten
sind.
({5})
Diesen Weg müssen wir konsequent weiter beschreiten,
damit auch die Branche der Technologien für erneuerbare
Energien davon profitieren kann.
Kommerzielle Finanzierungen von Projekten für erneuerbare Energien kommen bisher oftmals nicht zustande, weil die Kosten der Kreditwürdigkeitsprüfung im
Verhältnis zu dem meist relativ geringen Auftragsvolumen sehr hoch sind. Deshalb müssen die bestehenden
staatlichen Unterstützungsmaßnahmen insbesondere für
kleine und mittlere Unternehmen besser nutzbar gemacht
werden. Es gibt zwar zahlreiche gute Programme zur finanziellen Förderung von Projekten zum Export erneuerbarer Energien auf Länder-, auf Bundesebene und auf
europäischer Ebene, aber die Unternehmen stehen vor
dem Problem, das richtige Programm für ihr spezielles
Vorhaben auszuwählen; denn ein zentrales Informationssystem besteht nicht.
Wir benötigen also eine effizientere Struktur zur koordinierten Verbreitung deutscher Spitzenprodukte im Bereich erneuerbarer Energien, damit die Branche internationale markt- und wettbewerbsfähig werden kann.
({6})
Dann kann die Bundesrepublik auch hier ihrer internationalen Verantwortung im Klimaschutzprozess besser gerecht werden. Ziel muss es deshalb sein, ein konzertiertes
Vorgehen in den Politikbereichen Klimaschutz, Außenwirtschaftsförderung und Entwicklungspolitik zu gewährleisten.
Wir sind der Auffassung, dass Entwicklungszusammenarbeit und Exportförderung zwar grundsätzlich unterschiedlichen Leitlinien folgen. Jedoch können bei effizienter Verzahnung erhebliche, aber bislang leider noch
ungenutzte Synergieeffekte erzielt werden. Sowohl in
der Entwicklungszusammenarbeit als auch in der Privatwirtschaft besteht bereits eine in den meisten Bereichen
gut funktionierende institutionelle Infrastruktur. Als Beispiele will ich hier vor allem die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW, sowie den Ausstellungs- und
Messeausschuss der Deutschen Wirtschaft, AUMA, nennen.
Die gemeinsame Nutzung dieser bereits bestehenden
Infrastruktur durch die Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Privatwirtschaft birgt beträchtliche Potenziale zur Effizienzsteigerung, zum Beispiel die
koordinierte Betreuung des Anlagebetriebes oder die Ausbildung von Fachkräften. Allein die Koordination und die
effiziente Nutzung dieser Infrastruktur kann im Bereich
der erneuerbaren Energien zu einer Steigerung des Exports führen. Damit können wir einen Beitrag dazu leisten, dass der Anteil erneuerbarer Energien an der globalen
Energieversorgung gesteigert wird.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, über die
vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie
initiierte Deutsche Energie-Agentur, dena, eine „Deutsche Exportinitiative Erneuerbare Energien“ zu schaffen.
Diese Initiative soll vor allem die Aufgabe erfüllen, als
Kompetenzzentrum mit Know-how und als Kooperationspartner zwischen den bestehenden nationalen und
multilateralen Institutionen und der Wirtschaft zu fungieren.
„Die Deutsche Exportinitiative Erneuerbare Energien“
soll zu diesem Zweck bestehende Aktivitäten programmatisch bündeln sowie Daten im Hinblick auf Marktchancen zielgerichtet aufbereiten und der Branche zur
Verfügung stellen. Dazu soll sie die Informationen sammeln und auswerten, die zum Beispiel von den deutschen
Botschaften, den Außenhandelskammern in den Zielländern und der Bundesagentur für Außenwirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Diese Informationen sollen aufbereitet und auf die Branche zugeschnitten an die Akteure
weitervermittelt werden. Auf diese Weise kann der Branche die notwendige Hilfestellung bei der Suche nach
möglichen Zielmärkten sowie nach Finanzierungs- und
Fördermöglichkeiten gegeben werden. Es können neue
Finanzierungsinstrumente und am lokalen Bedarf angepasste Programme entwickelt werden.
Meine Damen und Herren, auch die bestehenden Aktivitäten und Initiativen deutscher Ministerien und Institutionen können über die dena zukünftig besser vernetzt
werden. Ich denke, dass wir mit dieser Initiative eine
Chance haben, sowohl den Export zu fördern als auch
dem Klimaschutz zu dienen. Wir bitten deshalb um eine
breite Zustimmung und um die Unterstützung unseres Antrages.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill. - Ich sehe ihn im
Moment nicht.
Sie haben an der
falschen Stelle gesucht.
({0})
- Ich bin aber noch kein abgebrannter Brennstab.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Das, was der Kollege Hempelmann am Schluss vorgetragen hat, wirft die Frage auf, ob es eigentlich des Deutschen Bundestages bedarf, um die Bundesregierung zur
Koordinierung ihrer bestehenden Institutionen zu zwingen.
({1})
Wenn das so gut ist, wie es hier vorgetragen wurde, dann
stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung das eigentlich nicht tut.
({2})
Die zweite Frage betrifft die Koordinierung und die
neuen Finanzierungsinstrumente. Ich würde in dem Antrag gern die Stelle lesen, an der das Geld zur Verfügung
gestellt wird, das notwendig ist, um finanzieren zu können, was hier formuliert wurde.
({3})
- Es sind viele Seiten vollgeschrieben. Nur hilft es nicht.
Ich will eine Reihe von kleinen Bemerkungen, die einem bei der Analyse dieses Textes ohne Schwierigkeiten
einfallen, vortragen: Bei der Verabschiedung des Energiewirtschaftsgesetzes im Jahre 1998 habe ich vor dem Hintergrund einer Analyse des Deutsche Windenergie-Instituts in Wilhelmshaven bereits darauf hingewiesen, dass
wir in der Frage des Exports im Grunde genommen unsere Fähigkeiten erhöhen müssen. Das, was in dem Antrag
zum Export von erneuerbaren Energien und deren Perspektiven steht, hat mit einer sauberen Analyse der Probleme, die für den Export bestehen, nicht einmal im Ansatz etwas zu tun.
({4})
Es ist nicht erkennbar, welche Schwierigkeiten außerhalb Deutschlands bestehen und wovon sie bei der Beschreibung dieses Antrags hätten ausgehen müssen. Die
fehlende Analyse der Exportschwierigkeiten in Bezug auf
die aufnehmenden Länder zeigt eine deutliche Schwäche
dieses Antrags.
Es gibt ein Zweites: Dänemark und Deutschland gelten
nach wie vor als Länder, die die meiste Windenergie erzeugen. So nebenbei: Die interessante Frage ist, warum
die dänische Regierung die Windenergieförderung jetzt
total einstellt.
({5})
Der Hintergrund, lieber Rolf Hempelmann, ist doch, dass
Dänemark 500 Megawatt exportiert hat und 85 Megawatt
selbst aufgebaut hat, während wir 500 Megawatt selbst
aufgebaut und 85 Megawatt exportiert haben. Wenn man
damals nachgefragt hat, woran das denn liegt, hat das
DEWI im Grunde genommen nicht die Kapitalfrage, sondern allenfalls eine Abdeckung in der Frage der Akquisition als Problem gesehen. Ich denke, dass das fehlende
Kapital nicht das Problem ist, sondern insgesamt - das gilt
übrigens auch für andere Bereiche - das Dienstleistungsangebot, das aus Planung, Investment, Betrieb und Finanzierung besteht. Wenn man sich mit RWE, Starzacher bei
der RAG oder Siemens - den weltweit tätigen Unternehmen, die dies im Übrigen in Abstimmung mit der Bundesregierung tun - über diese Fragen unterhält, kommt
man zu anderen Problemanalysen, als sie Gegenstand dieses Antrages sind.
({6})
- Also Herr Fell, wissen Sie, Sie sollten eines zur Kenntnis nehmen: Sie sind nicht die Einzigen in diesem Hause,
die von diesen Dingen etwas verstehen, Sie tun nur so, als
ob Sie die Einzigen wären, die die Wahrheit in ihrem Besitz haben. Aber das treiben wir Ihnen noch aus.
({7})
Die Probleme der Empfängerländer liegen ganz woanders. Sie liegen in der Frage des Kapitalbedarfs, des Human Capital, und unter anderem in der Frage der ökonomischen Realitäten. Sie liegen in der Wirtschaftlichkeit.
Auf der Weltenergiekonferenz haben wir gehört, dass eine
der entscheidenden Fragen ist, ob wir die 180 Milliarden
Dollar an Subventionen, die auf dieser Welt für fossile
Energien gezahlt werden, wegbekommen. Erinnern Sie
sich an die Darstellung der Beispiele der GTZ für Ägypten, wo die normale Öl- und Gasversorgung subventioniert wird. Solange dies der Fall ist, wird es ausgesprochen schwierig sein, in diesen Ländern, die durchaus
interessant sind, erneuerbare Energie zu installieren.
Schauen Sie sich einmal das an, was Ihre eigene Regierung gemacht hat. Ich nenne nur einige Stichpunkte:
G 8, Task-Force für erneuerbare Energien, 1 Milliarde
Menschen auf dieser Erde mit erneuerbaren Energien
versorgen, Milliarden Dollar jedes Jahr, um überhaupt
sinnvolle Investitionen zu erreichen. Wenn Sie sich die
Unterlagen von Monterrey, wie sie Ihre eigene
Bundesregierung vorgetragen hat, anschauen, dann werden Sie feststellen, dass weder die staatliche Entwicklungshilfe noch das, was an Privatkapital aus Deutschland
zur Verfügung gestellt werden kann, auch nur ansatzweise
in die Nähe dessen kommt, was die G 8 und Ihre Bundesregierung für die erneuerbaren Energien im Sinne einer
globalen Energieversorgung haben aufschreiben lassen.
Das heißt, diese Bundesregierung und die G 8 setzen die
eigene Task-Force-Analyse auch nicht ansatzweise um.
Es ist unglaubwürdig, weil der Kapitalbedarf in diesem
Antrag eigentlich überhaupt keine Rolle spielt.
Das Zweite, was in Ihrem Antrag interessanterweise
fehlt, ist die Forschungskooperation. Wenn Sie sich mit
dem Solarverbund und anderen Leuten über diese Frage
unterhalten, dann spielen nicht Investitionen eine entscheidende Rolle, sondern die Entwicklung der Solargroßkraftwerke und der thermischen Kraftwerke sowie
die Frage, ob es zu einer Forschungs- und Entwicklungskooperation etwa mit den südlichen Mittelmeeranrainern
kommt. Auf die Forschungskooperation gehen Sie in
Ihrem Antrag überhaupt nicht ein. Ich empfinde das als einen eklatanten Mangel einer globalen und umfassenden
Strategie.
Im Übrigen will ich in diesem Zusammenhang nur auf
die Absenkung der Entwicklungshilfe in den Industrieländern hinweisen, die Kofi Annan heute Morgen beklagt
hat. Unser Land hat dazu einen Beitrag geleistet, weil Sie
weniger an Entwicklungshilfe zahlen als das, was wir
noch 1998 im Haushalt bereitgestellt hatten.
({8})
Sie müssen doch einmal vorlegen, was Ihre Bundesregierung in Monterrey durch Entwicklungshilfe finanzieren
wird. Das wird dem, was Sie hier aufgeschrieben haben,
in keiner Weise gerecht. Das wissen wir doch alle.
Deswegen sage ich am Schluss: Wer in der zweiten und
dritten Lesung gegen diesen Antrag stimmen wird, stimmt
mitnichten gegen eine aktive Klimapolitik; er verhindert
nur, dass noch mehr Bürokratie entsteht und noch mehr
Geld an der falschen Stelle ausgegeben wird.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
geht es um eine Exportoffensive für erneuerbare Energien. Herr Grill, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, muss
ich sagen: Ich glaube, Sie haben in keinster Weise verstanden, worum es in diesem Antrag geht,
({0})
weil Sie völlig am Thema vorbeigeredet haben. Ich werde
versuchen, das deutlich zu machen.
({1})
Warum wollen wir eine Exportoffensive für erneuerbare Energien? Es kommt wieder das Argument: Wir haben doch ausreichende Instrumente zur Exportförderung,
zur Förderung der Außenwirtschaft. Warum jetzt eine
spezifische Förderung für eine Branche? Natürlich kann
man sagen: Das ist eine kleine, mittelständische Industrie,
die besondere Unterstützung braucht - anders als zum
Beispiel Siemens. Das ist aber noch keine ausreichende
Begründung für eine besondere branchenspezifische
Außenförderung.
Man kann auch sagen: Diese Branche besteht, anders
als andere Branchen, aus sehr vielen jungen Unternehmen
und jungen Unternehmern mit geringer Kapitaldecke. Die
Unternehmen fangen erst an und sind nicht über lange
Zeit gewachsen. Es gibt für sie auch keine Greencard,
wenn sie Leute zum Beispiel für die Exportförderung suchen. Das könnte schon eher ein Argument sein.
Das wichtigste Argument ist jedoch: Durch das EEG
sind wir weltweit Vorreiter geworden. Deutschland hat die
meisten Windkraftanlagen und die größten Photovoltaikfabriken in der Welt. Unsere These ist: Wir wollen unter
anderem den USA, aber auch allen anderen, die Klimaschutz immer nur als Bürde sehen, zeigen, dass ein Vorreiten im Klimaschutz Innovationspolitik und damit auch
gut für den Standort Deutschland ist.
({2})
Dazu gehört eben auch, dass man aus der Vorreiterrolle
Kapital schöpft und auf den Exportmärkten der Welt
tatsächlich zusätzlich verdient. Deutschland ist übrigens
immer besonders schlecht, wenn es darum geht,
Forschungsergebnisse am Markt umzusetzen und weltweit zu vermarkten.
Herr Grill, Sie haben gesagt, man könne es nicht durch
die Bedingungen in anderen Ländern erklären.
({3})
Von der dänischen Produktion werden 70 Prozent exportiert und 30 Prozent im Inland nachgefragt, während es bei
uns genau umgekehrt ist. Die Bedingungen für die dänischen Erbauer von Windkraftanlagen sind im Ausland genauso schwierig wie im Inland. Auch deswegen ist zum
Beispiel Ihre Argumentation falsch.
({4})
Diese Branche ist die innovativste Branche überhaupt,
Wir haben die besten Windkraft-, Biomasse- und Photovoltaikanlagen der Welt. Ich möchte, dass diese junge
Branche ein zweites Standbein bekommt, um unabhängig
zu werden, auch wenn es in Deutschland einmal ein bisschen langsamer gehen sollte, was natürlich nicht passiert,
solange die Grünen regieren. Wir wollen das für diese
junge Branche entwickeln, sodass die Unternehmen ein
bisschen sicherer auf zwei Beinen stehen können.
Es geht nicht darum - auch dabei haben Sie wieder
nichts verstanden, Herr Grill - neue Instrumente zu kreieren,
({5})
Ich möchte Ihnen vielmehr ein Bild mitgeben.
({6})
- Ich möchte eine ernsthafte Diskussion darüber führen.
Ich glaube auch, dass ich Sie gewinnen und überzeugen
kann. - Das Bild, das man für unseren Ansatz vielleicht
heranziehen könnte, ist, die bestehenden Außenwirtschaftsförderungsinstrumente wie eine Spinne im Netz zu
vernetzen. Dabei denke ich auch an die von Ihnen aufgeworfene Debatte über die Kapitalmobilisierung, sodass
Investitionen mit privatem Kapital erfolgen können.
({7})
Die dena soll eben nicht eine neue Außenwirtschaftsförderungsinstitution werden - deswegen brauchen wir
auch nicht viel Geld -, sondern sie soll ganz gezielt darauf
achten, dass die bestehenden Instrumente den Erfordernissen der erneuerbaren Energien angepasst werden. Sie
soll die Botschaften und die Außenhandelskammern sensibilisieren, die Hermesbürgschaften unter dem Aspekt
der erneuerbaren Energien überdenken und Informationen über einzelne Länder unter dem spezifischen Aspekt
der erneuerbaren Energien sammeln - und zwar in Zusammenarbeit mit den bestehenden Institutionen, die normalerweise diese Recherche betreiben -, damit Unternehmen anfragen können, wo es sich lohnt.
Bei der Forschungsförderung haben wir die Kooperation
wesentlich verbessert. Aber sie zum Beispiel im Hinblick
auf die besonderen Erfordernisse der erneuerbaren Energien
noch einmal zu betrachten und zu verbessern ist Aufgabe
dieser besonderen Exportförderung, bei der es sich eher um
eine Vernetzung als um ein neues Instrument handelt.
Ich meine, dass es für den Export große Chancen gibt,
zum einen in Länder, die jetzt von Deutschland lernen und
ähnliche Instrumente aufbauen, wie etwa Frankreich - wir
müssen uns natürlich vornehmen, dass die deutsche Industrie dabei ordentlich mitmischt -, aber auch in Schwellenund Entwicklungsländer, wo sich erneuerbare Energien
tatsächlich schon heute rechnen, weil es keine entwickelten Stromnetze gibt. Die müsste man erst bauen. Dann sind
unter ökonomischen Gesichtspunkten eine Biomasseanlage oder eine Windkraftanlage häufig billiger als ein
Großkraftwerk und eine neue Netzinfrastruktur.
({8})
An dieser Stelle anzusetzen und, wie gesagt, wie eine
Spinne im Netz bestehende Außenwirtschaftsförderungsinstrumente zu vernetzen, um für eine innovative Industrie, in der Deutschland Vorreiter in der Welt ist, Exportchancen zu schaffen, ist Inhalt der Exportinitiative. Ich
hoffe und wünsche, dass wir im Ausschuss in Ruhe darüber diskutieren können und dass ich Sie von der Opposition von diesem Instrument überzeugen kann.
({9})
Jetzt hat der Abgeordnete Walter Hirche das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man den Antrag sieht, könnte man
sagen: Je dringlicher das Thema, desto später am Abend
wird es behandelt. Lieber Kollege Hempelmann, wenn
die Regierung richtig arbeiten würde, dann hätten Sie diesen Antrag mit Sicherheit nicht stellen müssen.
({0})
Sie haben offenbar den Eindruck, dass die Regierung
an verschiedenen Punkten nicht richtig arbeitet. Der Beweis dafür ist vielleicht, dass das adressierte Ministerium
- das Wirtschaftsministerium - in dieser Debatte gar nicht
vertreten ist.
({1})
- Das kann sein, wenn Sie so umfangreiche Papiere vorlegen.
Es stehen Sätze in dem Antrag, die die Welt umkrempeln. Wenn darin zum Beispiel steht, dass in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern „hervorragende Standortbedingungen für erneuerbare Energiegewinnung“
vorhanden sind, muss ich sagen: Das ist eine umwerfende
Erkenntnis. Seit vielen Jahren wird - etwa in der GTZ darüber diskutiert, wie man im Sonnengürtel der Erde Mittel einsetzen und wie man die Passatwinde in Marokko für
die Energieerzeugung nutzen kann. Alle diese Diskussionen finden statt. Dafür ist Ihr Antrag nicht notwendig.
Aber es ist natürlich eine Selbstverständlichkeit - das
kann man nur unterstreichen -, dass es sinnvoll wäre,
Windkraftanlagen mit Gewinn ins Ausland zu verkaufen.
Das wäre besser, als hoch subventionierte Anlagen im
Binnenland dort zu errichten, wo sie nicht hingehören,
und die Landschaft vollzupflastern.
({2})
Von daher sehe ich durchaus eine Alternative.
({3})
- Die Institutionen gibt es doch, die Sie hier neu schaffen wollen. Vor zehn Jahren haben wir in Wilhelmshaven
das Deutsche Windenergie-Institut gegründet. Es betreibt seit vielen Jahren Ausbildung, Weiterbildung und
Beratung im Ausland. Ich freue mich heute noch, dass ich
es vor zwölf Jahren an diesem Standort gegründet habe.
Daran können Sie sehen, wie sehr Ihr Antrag veraltet ist.
({4})
Zweitens gibt es längst ein Institut für die Exportförderung, das Internationale Transferzentrum für Umwelttechnik GmbH - ITUT - in Leipzig. Es hat wohl aus
Ihrer Sicht die Fehler, dass es im Osten Ostdeutschlands
liegt und von der vorigen Bundesregierung eingerichtet
wurde. Dieses Institut soll zusammen mit den Außenhandelskammern genau das machen, was Sie mit Ihrem Antrag neu erfinden wollen. Gucken Sie mal in die Projektlisten mit Stand vom 30. Januar dieses Jahres. Als Ziel des
ersten Programms ist aufgeführt: „Erarbeitung firmenspezifischer Marktstudien und Verbesserung der Absatzmöglichkeiten für erneuerbare Energien“. Das Institut macht
schon all das, was Sie als neue Aufgabe der Energieagentur zuweisen wollen.
({5})
In Wirklichkeit wollen Sie neue Stellen ausweisen,
({6})
wozu Sie Gelder anbieten, die überhaupt nicht vorhanden
sind. Wenn Ihnen das alles ein Anliegen wäre, hätten Sie
seit Jahren dieses Institut nutzen können.
Herr Kollege Hempelmann, ich empfinde es als besonders pikant, dass Sie diesen Antrag eingebracht haben;
denn dieser Antrag distanziert sich von der Exportförderung für fossile und nukleare Energietechniken. Wollen
Sie, der Sie aus einem Bergbaugebiet kommen, jetzt davon Abstand nehmen, verbesserte fossile Techniken etwa
nach China zu verkaufen, die den Wirkungsgrad chinesischer Kohlekraftwerke von heute auf morgen von 15 Prozent auf das Dreifache steigern könnten, ohne dass dafür
Subventionen erforderlich wären?
({7})
- Im Antrag steht, dass man sich von den fossilen und nuklearen Techniken distanziert. Lieber Kollege Schmidt,
als Geschäftsführer können Sie natürlich nicht alles Wort
für Wort lesen. Diesen Antrag jedenfalls haben Sie nicht
richtig gelesen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage, die Ihnen eine Schlussantwort ermöglicht? Ihre Redezeit ist nämlich schon vorbei.
Gerne. - Ich bedanke mich
beim Kollegen Hempelmann, dass er mir diese Gelegenheit gibt.
Herr Kollege Hirche, gerade ist schon ein entsprechender Zwischenruf gemacht
worden. Ich möchte von Ihnen einmal hören, welcher
Stelle des Antrags Sie entnehmen, dass eine Distanzierung vom Export von Energietechnologien beabsichtigt
sei, die zum Beispiel in Kraftwerken eingesetzt werden,
in denen fossile Energien zur Verstromung eingesetzt
werden. Ich nehme an, dass Sie das mit „fossile Energietechniken“ gemeint haben. Ich füge an dieser Stelle hinzu
- Sie wissen das auch und haben sich deswegen darüber
gewundert, dass das Gegenteil der Fall ist -: Wir wollen
alle Instrumente und alle Technologien zur Effizienzsteigerung einsetzen, jedenfalls auch die, die in Kraftwerken
für fossile Energieträger eingesetzt werden. Aber in diesem Antrag liegt der Schwerpunkt auf erneuerbare Energien, weil wir gesehen haben, dass das in anderen Bereichen funktioniert, wir hier aber ein Defizit haben.
Herr Kollege Hempelmann, ich
werde Ihnen das gerne im Ausschuss zeigen. Dort können
wir darüber im Einzelnen sprechen.
({0})
- Sollen wir jetzt etwa Textexegese betreiben?
({1})
Ich werde Ihnen das im Ausschuss beweisen. Ich habe das
Beispiel deswegen angeführt, weil Sie in Ihrem Antrag
das Schwergewicht nicht darauf legen, den Export dort zu
steigern, wo es sinnvoll ist und wo die Kosten vertretbar
sind. Vielmehr wollen Sie unbedingt hoch subventionierte
Techniken aus Deutschland an die Entwicklungsländer
verkaufen. Dabei ignorieren Sie, dass sie wahrscheinlich
diese Anlagen nicht kaufen werden, weil sie einfach nicht
in der Lage sind, 17 Pfennig pro Kilowattstunde für die
Stromerzeugung zu zahlen.
({2})
Die Kosten werden hier unterschätzt. Insofern ist es besonders traurig, dass in diesem Antrag ein falscher
Schwerpunkt enthalten ist und der Schwerpunkt nicht auf
dem Bereich fossiler und nuklearer Energietechniken
liegt.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weltweit haben die
CO2-Emissionen zwischen 1990 und 1998 um rund
8 Prozent zugenommen. Das geht nicht nur auf das Konto
der USA und der EU-Staaten, sondern auch auf das vieler
Entwicklungsländer. Ihr Anteil am Ausstoß von Klimagasen ist pro Kopf zwar weit geringer. Aber hier macht es
die Masse: Die CO2-Emissionen in den Nicht-Annex-IStaaten sind nämlich in diesem Zeitraum um fast 30 Prozent angestiegen. Sie machen inzwischen 43 Prozent der
globalen Emissionen aus und sie steigen weiter. Deshalb
- hier stimmen wir mit dem Koalitionsantrag völlig überein - ist ein Technologietransfer ein wichtiger, ja ein unverzichtbarer Bestandteil internationaler Klimapolitik.
({0})
Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass allein
die USA mehr als 50 Prozent dessen an CO2 in die Luft
blasen, was alle Entwicklungsländer zusammen emittieren. Daher wären die Vereinigten Staaten - das ist eine
Anregung von unserer Seite - eigentlich das Zielland
Nummer eins für den Transfer moderner Energietechnologien.
({1})
Klar ist, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer sicherlich ein Anrecht auf wachsenden Wohlstand haben. Klar ist aber auch, dass unser Wohlstandsmodell
- wenn ich diesen schwammigen Begriff einmal verwenden darf - nicht Vorbild für diese Länder sein kann, weil
es sich kaum für eine nachhaltige Entwicklung eignet. Mit
Pro-Kopf-Ausstößen, die zehn- bis zwanzigmal höher
sind als die in Afrika, sollten wir die Welt nicht beglücken.
Deshalb ist es richtig, wenn wir die energieeffizientesten,
die regional flexibelsten und preiswertesten Energietechniken in diese Regionen exportieren. Hier liegt allerdings
der Hase im Pfeffer: Im Antrag ist nämlich nur von Exportförderung in allen ihren Facetten die Rede. Von der
Finanzierung der Exporte - einige Kollegen haben das bereits angesprochen; leider muss ich ihnen Recht geben ist keine Rede. Das heißt nicht, dass Wind- und Solarkraftwerke, Biomassetechnologien oder KWKs komplett
verschenkt werden sollen. Wenn aber der globale Klimawandel ein so wichtiges Problem ist - ich denke, darüber
sind wir uns einig -, dann wäre doch wenigstens ein Bekenntnis zur finanziellen Unterstützung dieser Technologien nicht nur für die Hersteller, sondern auch für die Abnehmer angebracht.
Ich weise auch darauf hin, dass die Bundesrepublik
nach wie vor nur 0,23 Prozent ihres Sozialproduktes in die
Entwicklungszusammenarbeit steckt. Das 0,7-ProzentZiel liegt leider in weiter Ferne. Das wird wahrscheinlich
auch weiterhin so bleiben; denn im Regierungsentwurf
zur Nachhaltigkeitsstrategie gibt es keinerlei Aussagen
darüber, wann dieser Wert erreicht werden soll. Das, was
im Antrag steht, ist deshalb nicht falsch. Wir unterstützen
die vorgeschlagenen Maßnahmen, auch weil es in der Natur der regenerativen Energien liegt, dass vor allem kleinere Unternehmen gefördert werden müssen, die mit dem
gigantischen fossil-atomaren Komplex konkurrieren
müssen. Wir werden aber keinen Prozess mittragen, der
sich langfristig nur auf eine neue Runde zur Wirtschaftsförderung beschränkt, der also die finanzielle Unterstützung für die Entwicklungsländer außen vor lässt;
denn uns geht es um nachhaltige Entwicklung in der
ganzen Welt.
Danke.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8278 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre
- Drucksache 14/7193 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kollegen Manzewski, Dr. Freiherr von Stetten,
Beck, van Essen und die Kollegin Pau möchten ihre
Reden zu Protokoll geben1). Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/7193 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zu-
satzpunkt 7 auf:
16. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN und der FDP
Ratifizierung des Statuts des Internationalen
Strafgerichtshofes
- Drucksache 14/8245 -
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Ratifizierung des Statuts des Internationalen
Strafgerichtshofes
- Drucksache 14/8374 -
Die Kollegen Weisskirchen, Schmidt, van Essen sowie
die Kolleginnen Grießhaber und Dr. Kenzler wollen ihre
Reden zu Protokoll geben2). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP
zur Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes. Wer stimmt für den Antrag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig
angenommen worden.
Zusatzpunkt 7: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8374 zur Ratifizierung
des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes. Wer
stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der PDSFraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Monika Balt, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtelefondienst
- Drucksachen 14/5831, 14/6931 Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller ({2})
Die Kollegen Barthel, Müller, Fischer und Funke ha-
ben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dür-
fen3). - Das geschieht so. Aber der Kollege Jüttemann
möchte sprechen und erhält deswegen das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Leider geht gerade die letzte Kolle-
gin aus dem zuständigen Ausschuss hinaus. Die Kollegen
des Ausschusses scheinen sich für das Thema nicht zu in-
teressieren.
Die Telekom hat in dieser Woche die Erhöhung ihrer
Grundgebühren bekannt gegeben. Das passt zwar irgend-
wie nicht zu der in diesem Hohen Hause viel beschwore-
nen These, dass Liberalisierung und Privatisierung zu fal-
lenden Preisen führen, aber das ist die Realität. Es trifft
natürlich die sozial Schwachen. Wen sonst? Denen hat der
Konzern bereits 1999 eine Ohrfeige verpasst, die bis heute
nachwirkt. Die Telekom hat den bis dahin gültigen
Sozialtarif - wie sie es selbst genannt hat - vereinfacht;
in Wirklichkeit hat sie ihn teilweise und für viele Betrof-
fene sogar vollständig abgeschafft.
Zur Erklärung so viel: Seit den frühen 70er-Jahren
wurde denjenigen, die einen Anspruch auf den Sozialtarif
hatten, ein bestimmter Betrag der Grundgebühr erlassen.
Nach der so genannten Vereinfachung muss die Grundge-
bühr von jedem voll bezahlt werden; der Sozialtarif hat
sich in ein Gesprächsguthaben für Standardverbindungen
im Netz der Deutschen Telekom verwandelt. Verbraucher
und Interessenverbände haben das ebenso wie viele Be-
troffene scharf kritisiert; denn natürlich haben gerade
viele sozial bedürftige Menschen ihr Telefon nur, um an-
gerufen werden zu können. Für diese Leute hat sich der
Sozialtarif erledigt. Wenn sie selbst anrufen, wollen sie
das vielleicht nicht unbedingt über den nicht immer güns-
tigen Anbieter Telekom erledigen. Mit dem Sozialtarif
werden sie aber dazu gezwungen. Der Vorgang ist wie die
Erhöhung der Grundgebühren eine der negativen Folgen
der Privatisierung.
Regierung und Regulierungsbehörde argumentieren,
man könne der Telekom nicht die Art und Weise eines So-
zialtarifs diktieren; schließlich sei das eine freiwillige
Leistung des Konzerns und der Tarif unterliege nicht der
Genehmigungspflicht. Das ist ja gerade der wunde Punkt.
Vor der Privatisierung handelte es sich bei dem Sozialta-
rif um eine Pflichtleistung und es gab einen Kreis von
Personen, die einen rechtlichen Anspruch auf diese Leis-
tung hatten.
Irgendetwas wird sich die damalige Bundesregierung
ja wohl dabei gedacht haben, als sie Anfang der 70er-
Jahre diesen Sozialtarif eingeführt hat. „Irgendetwas“
sage ich deshalb, weil die genauen Motive für die Ein-
führung des Sozialtarifs - hierbei handelt es sich offenbar
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
3) Anlage 8
1) Anlage 6
2) Anlage 7
um einen Treppenwitz der Privatisierung - nicht mehr ergründet werden können. Laut Antwort der Bundesregierung auf meine diesbezügliche Frage existieren nirgendwo mehr Aufzeichnungen darüber. Wörtliches Zitat
des Parlamentarischen Staatssekretärs Mosdorf:
Die seinerzeitige Motivation der Deutschen Bundespost lässt sich demnach nicht mehr erforschen.
So einfach ist das, jedenfalls für die Regierung, die übrigens auch über die Höhe des gewährten Sozialtarifs in der
Zeit vor 1993 angeblich nichts mehr weiß.
Ich gebe zu: Ich hätte gedacht, dass in so einem Staatswesen ein bisschen mehr Ordnung herrscht. Vor allem
kommt es darauf an, dass wir den Betroffenen heute wieder einen Rechtsanspruch auf den Sozialtarif zurückgeben, auch um dem Sozialen in der Marktwirtschaft in
diesem Punkt den ihm gebührenden Rang zu verschaffen.
Diesem Ziel dient unser vorliegender Antrag.
Dennoch sind sich laut Beschlussempfehlung alle
darin einig, ihn abzulehnen. Im Wirtschaftsausschuss ist
für diese Ablehnung von niemandem auch nur ein einziges Argument vorgebracht worden. Im Unterausschuss
für Telekommunikation und Post hat einzig Frau Hustedt
Stellung bezogen und erklärt, der von der PDS geforderte
Rechtsanspruch dürfe nicht auf die Telekom begrenzt
sein, sondern müsse sich auf alle Anbieter erstrecken. Wo
sie Recht hat, hat sie Recht. Hätten Sie unseren kurzen
Antrag gelesen, hätten Sie festgestellt, dass wir genau das
fordern.
Außerdem hat sich noch Herr Mannherz vom Bundesministerium für Wirtschaft geäußert. Er trug das alberne
Argument vor, der Wettbewerb selbst könne die sozialen
Abfederungen viel besser gewährleisten als gesetzliche
Regelungen. Dazu muss man nichts sagen, weil diese Behauptung von der Praxis einfach widerlegt wird - siehe
Grundgebührerhöhung.
In vornehmes Schweigen hat sich bisher die SPD
gehüllt. Das Einzige, was von ihr zu diesem Thema
zu hören war, steht in ihrem Antrag „Wettbewerb
und Regulierung im Telekommunikationssektor“ auf
Bundestagsdrucksache 14/5693. Da heißt es - ich zitiere -:
Abgesehen von punktuellen Problemen mit Telefonzellen und dem Sozialtarif der DTAG war bisher die
flächendeckende Versorgung mit TK-Dienstleistungen zu erschwinglichem Preis nicht gefährdet.
Welche Lösungen haben Sie für diese punktuellen Probleme? Stimmen Sie unserem Antrag zu oder schaffen Sie
eine andere Lösung! Denn von nichts kommt bekanntlich
nichts.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Herr Kollege
Jüttemann, zwischen allen Fraktionen - also auch mit der
PDS - ist eine Absprache getroffen worden. Dies ist im
Konsens geschehen. Derjenige, der aus dem Konsens aussteigt und noch redet, sollte nicht die anderen dafür beschimpfen, dass sie nicht sprechen. Das ist nicht gut. Wir
haben hier mittlerweile fast 13 Stunden ununterbrochen,
also ohne Pause, diskutiert. Das ist der Grund, warum alle
anderen auf ihre Chance, zu reden, verzichtet haben. Ich
sage das nur für das nächste Mal.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/6931 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „Rechtsanspruch auf Sozialtarif für Sprachtelefondienst“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5831 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen worden.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. März 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.