Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Vielen Dank, Herr
Bundesminister.
Wird dazu das Wort gewünscht? - Bitte sehr, Frau Kollegin.
Frau Präsidentin! Herr Minister, Sie haben in Bezug auf „Galileo“ ein ganz neues
Projekt angesprochen: Es besteht eine Vermischung zwischen der EU und der ESA. Hier gibt es, gerade was die
Industriepolitik betrifft, unterschiedliche Finanzierungskriterien. Bei der EU steht ganz klar der Wettbewerb im
Vordergrund, dem ein Rückflussprinzip entgegensteht. Im
Gegenzug gibt es bei der ESA pro Projekt ganz klare
Rückflusskriterien. Wie werden Sie dies aus industriepolitischer Sicht miteinander vereinbaren?
Sie wissen ja, dass beide Räte, der
ESA-Ministerrat und der Verkehrsministerrat, in dichter
zeitlicher Abfolge getagt haben. Die Grundentscheidung
war, dass es im Rahmen des ESA-Programms Zeichnungen gibt und dass auf der Verkehrsseite über die TEN-Mittel ein ähnlich hoher Beitrag, der ja schon im EU-Haushalt eingestellt worden ist, eingesetzt wird.
Ich gehe davon aus, dass dieses Projekt den Kriterien
der ESA, also den technologischen Kriterien, entspricht,
dass gleichzeitig aber auch ein großes wirtschaftliches
Interesse vorhanden ist; denn mit diesem Satellitensystem
ist wirtschaftlicher Nutzen zu erzielen. Das heißt, hier
können Zusatzdienstleistungen durch Gebühren, die erhoben werden, refinanziert werden. Gleichzeitig sage ich
aber: Das Basissignal für „Galileo“ bleibt frei.
Bitte sehr.
Herr Minister, ich muss
nachhaken, weil Ihre Ausführungen meine Frage nicht
ganz beantwortet haben.
Die Hälfte der Mittel stammt aus der ESA. Hier ist
ganz klar festgelegt: Wenn die deutsche Beteiligung
25 Prozent beträgt, dann werden bis zu 98 Prozent an Aufträgen wieder an die Industrie zurückgespielt. Das ist ganz
klar geregelt. Dies widerspricht aber eigentlich den EUKriterien, nach denen die Ausschreibung ganz klar nach
Wettbewerbsgesichtspunkten erfolgt, - dass also der billigste Anbieter den Zuschlag bekommt. Wie wollen Sie
dies miteinander verbinden?
Wenn ESA-Mittel eingesetzt werden,
dann gelten für diese Mittel natürlich auch die Regeln der
ESA. Das heißt, hier werden Mittel aus der Technologieförderung eingesetzt. Sie wissen ja, dass jedes Land
einen Anteil zeichnet. Wir tun dies entsprechend dem
deutschen Sozialprodukt. Dies sind rund 165 Millionen Euro. 10 Millionen Euro sind ja schon eingesetzt.
Das bedeutet, dass wir dann über eine Haushaltsentscheidung 155 Millionen Euro zeichnen würden. Daran können
Sie erkennen, dass dieser Betrag auch wieder zurückfließt; denn das Ziel ist, dass die hoch entwickelte Luftund Raumfahrt in Deutschland an diesem Projekt beteiligt
wird.
Bei diesem gemeinschaftlichen Unternehmen geht es
ja darum, den vor allem für die Betriebsphase notwendigen Aufwand in hohem Maße privatwirtschaftlich erfolgen zu lassen. Bisher gingen wir davon aus, dass die
Entwicklungs- und Validierungsphase öffentlich ist und
dass die Finanzierung der Betriebsphase ausschließlich
privat erfolgt. Jetzt aber zeigt uns dieses Gutachten auf,
dass es hier zu einer Mischung kommt. Das heißt, dass
mehr öffentliches Kapital in der Errichtungsphase einbezogen werden muss, dass aber auch in der Betriebsphase
öffentliches Kapital notwendig ist. Dieses gemeinschaftliche Unternehmen, das in der EU das erste Unternehmen
dieser Art nach Art. 171 EG-Vertrag ist, wird ja durchgeführt, um genau diese Fragen zu klären. Deswegen findet die Ausschreibung statt. Aber für alle Entwicklungen,
für die ESA-Mittel eingesetzt werden, gelten auch die
ESA-Kriterien.
Frau Kollegin Aigner,
Sie dürfen weiter fragen. Bitte sehr.
Sie haben schon angesprochen, dass es drei Phasen gibt, vor allem die Betriebsphase, in der auch die Refinanzierung insbesondere der
privatwirtschaftlichen Mittel erfolgen soll. Hier besteht
eine Unterteilung in drei Bereiche: Der erste Bereich besteht aus den frei zugänglichen Diensten, die jeder, der
schon jetzt GPS nutzt, dann kostenlos nutzen kann, der
zweite Bereich ist im Wesentlichen der für den Bahn- und
Flugverkehr, und der dritte Bereich besteht aus solchen
Diensten, die der Staat in Anspruch nehmen kann. Kann
ich daraus schließen, dass zukünftig für diese Dienste an
die später zu gründende Betreiberfirma bezahlt wird?
Dies wäre ein Vorgriff auf ein Projekt,
das zurzeit in der Entwicklung ist. Darüber hinaus gibt es
noch eine ganze Reihe von anderen Diensten - von dem
Erkennen der Bestellung von Feldern in der Landwirtschaft bis hin zu deren betriebswirtschaftlicher Nutzung
durch große landwirtschaftliche Betriebe. All dies ist ja in
der Entwicklung. Deswegen, glaube ich, macht es Sinn,
heute an die deutsche Wirtschaft zu appellieren und zu sagen: Wir haben kein großes Interesse daran, dass sich
Deutschland als Staat materiell einbringt, sondern daran,
dass sich die deutsche Wirtschaft frühzeitig beteiligt,
um Zusatznutzen zu erhalten und zusätzliche Dienstleistungen zur Verfügung zu haben.
Lassen Sie mich aber auch auf das von Ihnen angesprochene GPS-System zu sprechen kommen. Es ist noch
kostenlos. Natürlich ist die Kostenlosigkeit dieses Systems vor dem Hintergrund einer europäischen Alternative
zu sehen. Sie wissen, dass die Nutzung zurzeit kostenfrei
ist, dass es aber keine Garantie gibt für diejenigen, die
dieses System in Anspruch nehmen, dass die Nutzung jederzeit und längerfristig möglich ist. Das sollten wir industriepolitisch vor dem Hintergrund, dass Leistungen
über GPS laufen, zumindest zur Kenntnis nehmen.
Möchten Sie noch
eine Frage stellen? - Bitte sehr.
Für diejenigen, die später gekommen sind: Es geht um
das „Galileo“-Projekt.
Damit kein falscher Zungenschlag in die Sache kommt: Ich bin zu 100 Prozent davon überzeugt, dass „Galileo“ sinnvoll ist und zwingend
umzusetzen ist. Ich weiß, dass GPS auf Dauer nicht uneingeschränkt und nicht in der Qualität wie der von „Galileo“
zur Verfügung stehen wird. Ich bitte Sie deshalb, meine
Fragen nicht falsch zu interpretieren.
Es wird nun ein Joint Undertaking gegründet. Wie stehen die Chancen, dieses Projekt nach Deutschland zu holen? Es sind wohl Standorte in Brüssel oder in Italien im
Gespräch. Welche Aktivitäten planen Sie, damit das Projekt nach Deutschland kommen kann?
Dieses gemeinsame Unternehmen wird
erst durch Rechtsverordnung gebilligt, wenn wir es im
Ministerrat beschließen. Wir sind bei den Vorbereitungen
schon sehr weit. Es gibt aber noch keine Entscheidung
über Vorsitz und Sitz. Das Projekt wird in einem europäischen Prozess entwickelt. Von unserer Seite gibt es Vorstellungen. Ich glaube aber, es macht Sinn, den Prozess im
Verkehrsministerrat so zu organisieren, dass nicht nur
Wünsche geäußert werden, sondern dass man sich auch
darauf verständigt, wie sie realisiert werden können. Insofern ist es jetzt noch zu früh, darüber zu sprechen.
Wollen Sie als Bundesregierung das Projekt in Deutschland haben?
Ich möchte als Erstes, dass wir das Projekt „Galileo“ im Verkehrsministerrat voranbringen und
die zwingenden Voraussetzungen für die Realisierung regeln. Diese Entscheidung sollte nicht mit anderen Themen, die zu gegebener Zeit zu klären sind, befrachtet werden.
Sie haben noch eine
Frage? - Bitte sehr.
Das angesprochene Joint
Undertaking ist die eine Sache, die die Kundenseite betrifft. Der zweite Punkt ist: Wenn das Projekt im weiteren
Verlauf in die Betreiberphase übergeht, in der ein wirtschaftlicher Nutzen entsteht, soll eine Betreiberfirma gegründet werden. Es sind mehrere Firmen angesprochen;
meines Wissens sind Alcatel, Alenia und Astrium mit dabei. Es handelt sich um mehrere Firmen, die an verschiedenen Enden ziehen. Jeder will die Betreiberfirma in sein
Land holen. Es gibt auch Bestrebungen, die Betreiberfirma nach Deutschland zu holen. Wie planen Sie dieses
Vorhaben zu forcieren oder zu unterstützen und was haben Sie gegebenenfalls schon eingeleitet?
Sie wissen, dass es sich um ein europäisches Projekt handelt. Ich müsste jetzt die gleiche Antwort geben wie auf Ihre vorhergehende Frage: Wir müssen dies in Gesprächen klären. Ich werde nicht vor einer
Verkehrsministerratssitzung die Grundentscheidung, für
die wir heute im Kabinett wichtige Voraussetzungen geschaffen haben, mit anderen Fragen befrachten. Natürlich
gibt es über dieses Thema Gespräche und ich bin mir sicher, dass wir über hervorragende Industrieunternehmen
sowie ein Know-how, das in eine solche Betreiberfirma
hineingehört, verfügen. Darin stimmen wir direkt überein.
Gibt es zu diesem
Thema weitere Fragen? - Herr Kollege Koppelin, bitte
sehr.
Herr Minister, darf ich Sie
in diesem Zusammenhang fragen, ob bei der Kabinettsberatung die am Wochenende bekannt gegebene Finanzierung des Transrapid in Bezug auf die Länder Bayern und
Nordrhein-Westfalen eine Rolle gespielt hat und ob Sie im
Kabinett für die Art der Finanzierung gelobt worden sind?
Es handelt sich ja um das Modell Scharping: Bestellen,
ohne Geld zu haben. Dieses Modell kann durchaus noch
von anderen Ministern übernommen werden.
Herr Kollege Koppelin, über die positiven Reaktionen im Kabinett rede ich nur im Kabinett
und nicht außerhalb. Ich will Ihnen aber etwas anderes sagen: Sie selber wissen aufgrund der Anmerkungen zu dem
entsprechenden Titel des Haushalts, dass wir alle dieses
Projekt wollen. Das war immer der Sinn, den der Haushaltsgesetzgeber verfolgt hat. Dies ist aus den Erläuterungen zu erfahren. Deswegen geht es heute nicht um eine
Bewertung, sondern darum, festzustellen, dass auch dieses von Ihnen angesprochene Projekt ein sehr wichtiges
technologisches Projekt ist. Ich glaube, darin stimmen wir
überein.
Herr Kollege
Koppelin, Sie haben eine weitere Frage.
Herr Minister, da Sie gerade
gesagt haben, dass wir alle das Projekt wollen - für die
FDP kann ich das unterstützen -, darf ich Sie fragen, ob
das auch auf den grünen Koalitionspartner zutrifft. Wie
kann ich mir sonst erklären, dass der Ministerpräsident
von Nordrhein-Westfalen, Herr Clement, zu Herrn
Möllemann von der Oppositionspartei FDP geht und dringend um Unterstützung bittet, weil er sich der Zusicherung der Grünen nicht sicher sei?
Ich glaube nicht, dass die Regierungsbefragung Auftakt von Wahlveranstaltungen sein soll mit
Mutmaßungen, die vielleicht wahltaktischen Hintergrund
haben. Ich glaube, wir sollten über das reden, was ist.
Ich kann Ihnen sagen, dass in Nordrhein-Westfalen auf
der Basis dieser Finanzentscheidung zurzeit an Finanzierungskonzepten gearbeitet wird. Es gab ja einen klaren
Zeitplan, nämlich zunächst die Feststellung des Plafonds
und dann eine Entscheidung darüber, wie die Mittel auf
beide Länder so aufgeteilt werden, dass beide Projekte zu
realisieren sind. Das war die Grundvoraussetzung und das
ist erfolgt. Jetzt können die beteiligten Bundesländer weiter planen. Ich glaube, das ist die richtige Reihenfolge.
Das fordert nun die
Kollegin Katrin Göring-Eckardt zu einer Frage heraus.
Herr Minister, können Sie bestätigen, dass weder
Ihnen noch mir Uneinigkeiten in Bezug auf dieses Projekt
bekannt sind, weder in NRW noch im Bund?
Ich kann das bestätigen.
Frau Kollegin Aigner
hat noch eine Frage. - Bitte sehr.
Das Projekt „Galileo“ ist
zwar Ihrem Ressort zugeordnet, aber es ist letztendlich
natürlich auch ein forschungspolitisches Projekt und wird
sehr stark von dieser Seite unterstützt. Die Raumfahrt
spielt hier natürlich eine ganz wesentliche Rolle. In diesem Bereich stellt sich immer wieder die Frage, ob es Nutzungen über alle Ressorts gibt; das hat jetzt offensichtlich
Früchte getragen. Aber es geht natürlich auch in den Bereich Dual use, es stellt sich also die Frage der militärischen Nutzung. Wie stellen Sie sich dazu, dass man „Galileo“ durchaus auch militärisch nutzen und es vielleicht
auf andere Projekte übertragen könnte?
Im Rat gibt es einen großen Konsens
darüber, dass es sich hierbei um ein ziviles Projekt mit einer zivilen Nutzung handelt. Das ist die Grundvoraussetzung.
Ich kann aber bestätigen - das betrifft den ersten Teil
Ihrer Frage -, dass dieses Projekt über den Verkehrsbereich hinaus für viele Bereiche von Bedeutung ist, bis hin
zur Zeitsynchronisierung oder Finanzdienstleistung. Sie
alle wissen, was passieren würde, wenn GPS nicht zur
Verfügung stünde, welch hohe Risiken etwa für die Volkswirtschaft entstünden. Deswegen wird das Projekt auch in
der Risikoabsicherung von der Bundesregierung in Gänze
- unter Beteiligung vieler Ressorts - getragen. Ich kann
Ihnen auch auflisten, wer sich wie beteiligt.
Noch eine Frage der
Kollegin Aigner. - Bitte sehr.
Weil GPS ursprünglich ein
rein militärisches Vorhaben war und die Nutzung nur freigegeben wurde, ist bei diesem Projekt schon noch einmal
die Frage zu stellen: Was spricht eigentlich dagegen, auch
„Galileo“ für die militärische Nutzung zur Verfügung zu
stellen?
Ich glaube, wir wissen aus der
Nutzung anderer Systeme, dass solche Systeme in bestimmten Krisensituationen eben nicht für die Zwecke,
für die sie konzipiert wurden, zur Verfügung stehen. Insofern sage ich noch einmal ausdrücklich: Es ist ein ziviles
Projekt unter ziviler Kontrolle. Das ist die Intention dieses Projektes. Wir wollen eine große Anzahl an wichtigen
satellitengestützten Dienstleistungen hierüber laufen lassen. Es darf nicht sein, dass das System in Krisensituationen aufgrund militärischer Nutzung nicht mehr zur Verfügung steht. Das ist auch der Hintergrund für den großen
Konsens, der sich im Verkehrsministerrat in dieser Frage
abzeichnet.
Noch eine Frage? Bitte sehr, Frau Kollegin Aigner. Wir sind nicht in der Fragestunde; insofern können Sie so viele Fragen stellen, wie
Sie wollen.
Frau Präsidentin, das ist
meine letzte Frage.
Ich kann das insofern nicht ganz nachvollziehen, als es
rein technisch natürlich möglich ist, dies auf einem Satelliten zu trennen, indem sich dort unterschiedliche Transponder befinden, von denen der eine militärisch und der
andere zivil genutzt werden kann. Das ist auch eine Frage
von Transportkapazitäten; denn jedes Kilogramm, das
man hochschießt, kostet viel Geld. Insofern könnte man
natürlich ohne die Gefahr von Nutzungseinschränkungen
Synergieeffekte nutzen.
Ich will es noch einmal deutlich sagen:
Es geht hier um die Frage der zukünftigen Struktur dieses
wichtigen Systems. Wir wollen eine zivile Nutzung.
Wenn wir jetzt militärische Strukturen einbetten, hat dies
Auswirkungen auf die Dienstleistungen in anderen Bereichen. Im Verkehrsministerrat ist deutlich geworden, dass
es sich hierbei um ein jederzeit zugängliches ziviles System handelt, das dann genutzt werden kann und das genau
diese Dienstleistungen - zum Beispiel die Zeitsynchronisation oder die Frage des Umweltmonitoring - ermöglicht. Gleichzeitig werden aber auch verkehrslenkende
Maßnahmen bzw. alles, was im Bereich Telematik satellitengestützt ist, möglich. Im Rahmen des Prinzips einer öffentlich-privaten Partnerschaft muss für diejenigen, die in
das System einsteigen, jederzeit die Nutzung möglich
sein.
Nun ist das Thema
wohl erschöpfend behandelt worden. Die Anregung von
Herrn Koppelin lautete ja, dass sich die beiden noch einmal treffen, um sich weiter auszutauschen,
({0})
und dass, wenn entscheidungsreife Ergebnisse erzielt
worden sind, diese dem Deutschen Bundestag mitgeteilt
werden. Ich bitte Sie allerdings, dies nur als Anregung zu
verstehen.
Gibt es noch Fragen an die Regierung zu anderen Themen? - Das ist nicht der Fall.
Jetzt käme eigentlich die Fragestunde. Da aber noch
nicht alle Beteiligten anwesend sind, unterbreche ich die
Sitzung bis 13.30 Uhr.
({1})
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 14/8318, 14/8353 Es gibt mehrere dringliche Fragen; zunächst zu denen
aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 1 des Kollegen Eckart von
Klaeden auf:
Treffen Meldungen ({0}) zu, nach
denen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter
Rister, rund 1,2 Millionen in der Arbeitslosenstatistik geführten
Arbeitslose, die „an einer Vermittlung nicht interessiert seien oder
nicht ernsthaft nach einer Stelle suchten“, künftig aus der Statistik
herausrechnen, in einer gesonderten Rubrik erfassen und diese
neue Statistik erstmals im Sommer dieses Jahres verwenden will
({1})?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr von Klaeden, ich
möchte Ihre erste dringliche Frage mit Nein beantworten.
Da es möglicherweise der Befriedigung des Informationsbedürfnisses dient, möchte ich als offizielle Erklärung hinzufügen: Die Bundesregierung hat nicht die
Absicht, die gegenwärtige Praxis der Erhebung der Arbeitslosenstatistik und der Arbeitslosenzahlen in dieser
Legislaturperiode zu verändern. Ich wiederhole: Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, die Arbeitslosenstatistik in dieser Legislaturperiode zu verändern. Dafür gibt es
einen wichtigen Grund: Wir gehen davon aus, dass sich
die wirtschaftliche Lage erholen wird und dass im Frühjahr die Arbeitsmarktzahlen deutlich besser sein werden.
Wir wollen nicht, dass dann die verbesserten Arbeitsmarktzahlen öffentlich und im Parlament durch den Vorwurf diskreditiert werden, wir hätten die Statistik verändert. Wir verändern die Statistik nicht.
({0})
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, da wir insgesamt über Verbesserungen auf dem
Arbeitsmarkt und insbesondere der Arbeitsvermittlung
sprechen wollen, möchte ich Sie fragen, ob die Pressemeldungen richtig sind, wonach für den neuen Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit bzw. der Nachfolgeeinrichtung ein Jahresgehalt von - cum grano salis 250 000 Euro vorgesehen ist.
({0})
Herr von Klaeden, ich
sehe überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Ihrer
Zusatzfrage und der von Ihnen schriftlich eingereichten
dringlichen Frage.
({0})
Letztere bezieht sich auf die Arbeitslosenstatistik und auf
öffentliche Äußerungen darüber. Ich vermag nicht zu erkennen, was diese Frage mit dem möglichen Jahresgehalt
des künftigen Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt
für Arbeit, das selbst mir nicht bekannt ist, zu tun haben
soll. Ich bitte die Frau Präsidentin um Hilfe.
({1})
Ich stimme Ihnen zu,
Herr Staatssekretär. Ich glaube, wir sollten erst gar keine
Schärfe in die Debatte bringen: Es ist richtig, dass die von
Ihnen mündlich geäußerte Zusatzfrage in keinem Zusammenhang zu den von Ihnen schriftlich eingereichten
dringlichen Fragen steht.
({0})
- Ich habe das jetzt so entschieden. Sie dürfen aber eine
weitere Zusatzfrage zu Ihrer ersten dringlichen Frage stellen.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie haben mit Ihrer Bemerkung, Ihnen seien etwaige
Gehaltsvorstellungen nicht bekannt, meine Frage - sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge - ja doch beantwortet.
Darf ich Sie fragen, ob entsprechende Reformen an der
Spitze der Bundesanstalt für Arbeit durchgeführt werden
und, falls ja, ob sie sich auch auf die Landesämter auswirken werden?
({0})
Herr von Klaeden, ich
weise Ihre Unterstellung, ich hätte durch die Brust ins
Auge geantwortet, ganz entschieden zurück.
({0})
Ich habe Ihnen auf Ihre schriftlich eingereichte dringliche
Frage geantwortet, die sich auf die Arbeitslosenstatistik
bezieht. Ich wiederhole es noch einmal: Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, die Arbeitslosenstatistik vor
dem Wahltermin zu verändern. Über mögliche Gehaltsvorstellungen des neuen Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit ist mir nichts bekannt. Zu Pressespekulationen - damit das klar ist - nehme ich keine Stellung.
({1})
Mir liegen mehrere
Wortmeldungen vor. Ich lese noch einmal die dringliche
Frage 1 des Kollegen Eckart von Klaeden vor, damit alle
wissen, worum es geht: Treffen Meldungen zu, nach denen der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung,
Walter Riester, rund 1,2 Millionen in der Arbeitslosenstatistik geführte Arbeitslose, die „an einer Vermittlung nicht
interessiert seien oder nicht ernsthaft nach einer Stelle
suchten“, künftig aus der Statistik herausrechnen, in einer
gesonderten Rubrik erfassen und diese neue Statistik erstmals im Sommer dieses Jahres verwenden will?
Nächster Fragesteller ist der Kollege Niebel.
Herr Staatssekretär, offenkundig
handelt es sich hierbei um eine Falschmeldung der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Ich meine mich zu
erinnern, am Montag auf n-tv in der Sendung „Grüner Salon“ den Bundesarbeitsminister gesehen zu haben. Er
ging auf exakt diese Fragestellung dezidiert ein und stellte
fest, dass er, der Bundesarbeitsminister, diese Statistiken
so verändern will. Gehe ich recht in der Annahme, dass
der Bundesarbeitsminister im Kabinett überstimmt worden ist, oder hat er dort keine Rückendeckung mehr?
({0})
Erstens. Ich habe die
Sendung, die Sie, Herr Abgeordneter Niebel, ansprechen,
nicht gesehen.
Zweitens. Nach meinem Kenntnisstand hat im Kabinett keinerlei Abstimmung stattgefunden.
Drittens. Ich wiederhole noch einmal - ich bin für jede
Frage dankbar -: Die Bundesregierung hat nicht die
Absicht, in dieser Legislaturperiode die Arbeitslosenstatistik zu ändern. Die Bundesregierung geht davon aus, dass
die Arbeitsmarktlage im Frühjahr wegen der wirtschaftlichen Erholung deutlich besser sein wird.
({0})
Wir möchten nicht, dass die Arbeitsmarktlage durch Debatten über die Statistik - im Parlament oder außerhalb belastet wird. Wir werden die Arbeitslosenstatistik in dieser Legislaturperiode daher nicht ändern. Ist das nicht
schön, Herr Niebel?
Nun hat der Kollege
Meckelburg das Wort.
Möglicherweise handelt es sich hierbei wieder um einen Punkt, bei
dem alle etwas gewusst haben, nur der Minister nicht.
Herr Staatssekretär, die Zahl von 1,2 Millionen in der
Statistik Geführten, die im Raum steht, habe ja nicht ich
erfunden, sondern ist von Ihrer Seite an die Presse herangetragen worden. Können Sie zumindest zu der Zahl, die
von Ihrer Seite lanciert worden ist, etwas sagen?
Diese Zahl ist weder
von mir selbst noch von unserer Seite lanciert worden.
Ich möchte Ihnen, Herr Meckelburg, aber eine Auskunft, die sich auf das Gesetz bezieht, geben. In
§ 16 SGB III - das ist die Grundlage der Arbeitslosenversicherung - ist festgelegt, wer arbeitslos ist. Dort ist definiert, dass arbeitslos ist, wer vorübergehend nicht in
einem Beschäftigungsverhältnis steht, eine versicherungspflichtige Beschäftigung sucht und dabei den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung
steht und sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet hat.
Das ist die Rechtsgrundlage. Das ist nicht neu und hat sich
gegenüber Ihrer Regierungszeit nicht verändert. Das ist
die Definition.
Dieser Definition liegen mehrere Kriterien zugrunde.
Ein Kriterium ist, dass man den Vermittlungsbemühungen
des Arbeitsamtes zur Verfügung steht. Die Bundesanstalt
für Arbeit hat Infas beauftragt, eine breit angelegte Untersuchung im Jahre 2000 darüber durchzuführen, wie zeitnah und wie unmittelbar arbeitslos gemeldete Personen
um eine Arbeit nachsuchen.
Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich Ihnen die Ergebnisse der Untersuchung nicht im Einzelnen nennen
kann; ich bin aber gerne bereit, Ihnen das zur Verfügung
zu stellen. Fazit dieser Studie jedenfalls war, dass rund
60 Prozent der arbeitslos gemeldeten Personen sehr nachdringlich und nachhaltig eine Beschäftigung suchen.
28 Prozent der Personen kann man unterstellen, dass
deren Suche nach einer Beschäftigung nicht so nachhaltig
ist. Untersucht man diese Gruppe, stößt man auf ganz
unterschiedliche Untergruppen.
Ich möchte den Versuch unternehmen, diese Gruppen
darzustellen. In dieser Gruppe findet man Personen, die
arbeitslos gemeldet sind, weil sie dadurch einen Kindergeldanspruch aufrechterhalten.
({0})
Diese Personen suchen möglicherweise keine neue Arbeit, sondern sind arbeitslos gemeldet, weil sie Kindergeld beziehen wollen. Außerdem findet man in dieser
Gruppe Personen, die zwar arbeitslos gemeldet sind und
als solche gezählt werden, aber möglicherweise schon
längst eine neue Arbeit haben, auf die Einberufung zum
Wehrdienst warten oder ein Studium aufnehmen wollen.
Sie sind arbeitslos gemeldet, damit sie ihren Anspruch auf
Arbeitslosengeld, auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung, aufrechterhalten. Man findet darunter auch Personen, die sich im Vorruhestand oder in einer ähnlichen
Situation befinden und davon ausgehen, dass sie der Vermittlung eigentlich gar nicht mehr zur Verfügung stehen
müssen. Dem Rechte nach müssen sie das aber, weil ihnen ansonsten die Leistungen aberkannt werden. All diese
Gruppen befinden sich darunter.
Die Bundesanstalt für Arbeit hat damit begonnen, die
Ergebnisse dieser Untersuchung zu diskutieren - man
geht Einzelfragen noch nach -, sodass man davon ausgehen kann, dass nicht alle der gegenwärtig registrierten
rund 4,3 Millionen Arbeitslosen nach der gesetzlichen
Definition Arbeitslose in dem Sinne sind, dass sie alles
daransetzen, unmittelbar und schnell vermittelt zu werden.
Nun hat der Kollege
Gerald Weiß das Wort zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe noch eine Nachfrage. In dem Artikel der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit der Überschrift
„Jede geschönte Statistik ist ein Skandal“ ist eine Äußerung von Ihnen wiedergegeben, nach der es Hunderttausende von älteren Arbeitslosen gibt, die zu 90 Prozent gar
keine Beschäftigung mehr anstreben. Woher haben Sie
diese beiden Werte? Worauf beziehen Sie sich dabei?
Herr Abgeordneter
Weiß, ich muss das anders beantworten. Die Zeitung, die
Sie zitiert haben, hat mit mir gar nicht gesprochen. Die
Aussage, es gebe Hunderttausende, die zu 90 Prozent dieses oder jenes täten, kann nicht von mir stammen. Damit
wird es relativ einfach. Ich antworte nicht auf irgendwelche Spekulationen, die irgendwo formuliert werden.
Die Frage nach den Quantitäten habe ich eben beantwortet. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Ich weise noch einmal darauf hin, dass die Erhebungsergebnisse, die Infas bei einer Befragung von mehr als
20 000 arbeitslos gemeldeten Personen ermittelt hat, noch
im Einzelnen untersucht werden - das muss eigentlich
auch Ihr Interesse sein -; damit werden wir uns dann befassen.
Herr Abgeordneter Weiß, ich sage ganz ausdrücklich
noch einmal, weil das der Gegenstand der Frage war - ich
kann das noch fünfmal wiederholen; das hilft Ihnen bei
der Entscheidungsfindung bezüglich Ihrer Aktuellen
Stunde -: Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Arbeitslosenstatistik in dieser Legislaturperiode zu verändern.
Nun hat der Kollege
Peter Dreßen eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben
gerade von verschiedenen Gruppen arbeitslos gemeldeter
Personen gesprochen, bei denen fragwürdig ist, ob die Betreffenden überhaupt noch Arbeit wünschen. Meinen Sie
nicht, dass eine solche Statistik in Zukunft doch transparenter gestaltet werden müsste, sodass man aus ihr
tatsächlich erkennen kann, wer nun wirklich intensiv nach
Arbeit sucht, um die entscheidenden politischen Weichenstellungen vorzunehmen, wobei man die Gesamtzahl, wie
sie heute ausgewiesen wird, natürlich auch in Zukunft
noch haben muss?
({0})
Herr Abgeordneter
Dreßen, alle die, die in diesem Raume sitzen und sich mit
der Frage befasst haben, wissen, dass wir in den letzten
Wochen wegen der Stichhaltigkeit der Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit erhebliche Auseinandersetzungen hatten. Ich wiederhole: Sowohl eine
Untersuchung des Bundesrechnungshofs als auch eine
Untersuchung der Innenrevision der Arbeitsverwaltung in
zehn Arbeitsämtern in zehn unterschiedlichen Landesarbeitsamtsbereichen haben ergeben, dass rund 35 bis
36 Prozent der angegebenen Vermittlungen nicht nachvollziehbar sind. Für die Bundesregierung sage ich ausdrücklich, dass wir natürlich nur an solchen Statistiken Interesse haben, die etwas Reales wiedergeben.
({0})
- Gerade hat ein Abgeordneter dazwischengerufen: „Das
wäre das erste Mal!“ Herr Abgeordneter Heinrich, ich
kann Ihnen gern aufzählen - deswegen macht es auch
Sinn, eine Aktuelle Stunde durchzuführen -,
({1})
wie oft in der Zeit von 1982 bis 1998, unter Ihrer Regierungsbeteiligung, die Statistik verändert worden ist. Auf
die Auseinandersetzung und die Argumentation dazu
lasse ich mich gern ein.
Ich komme nun aber auf das zurück, was Herr Dreßen
gefragt hat. Selbstverständlich ist es jetzt notwendig, die
Vermittlungsstatistik der Arbeitsverwaltung zu untersuchen und zu Statistikergebnissen zu kommen, die die Realität widerspiegeln. Deswegen ist im Zweistufenkonzept
der Bundesregierung im Zusammenhang mit kurzfristigen Veränderungen festgehalten - ich will das gern zitieren - : Die Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit wird neu konzipiert, um aussagekräftige und valide
Daten zu liefern.
Das ist aber zunächst einmal Angelegenheit der Bundesanstalt für Arbeit. Wie bekannt, werden wir eine Kommission von 15 Persönlichkeiten aus unterschiedlichen
Bereichen einberufen, die unter dem Vorsitz von Herrn
Peter Hartz Vorschläge für eine Reform der Arbeitsverwaltung entwickeln soll. Diese Kommission wird sich sicherlich auch mit Fragen der Statistik und ihrer Veränderung befassen. Ich sage aber noch einmal ausdrücklich
dazu: Diese Veränderungen sind erst für die nächste Legislaturperiode vorgesehen.
Jetzt hat der Kollege
Wolfgang Gehrcke das Wort zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich
rufe mir Ihre erste Anwort in Erinnerung. Darin haben Sie
gesagt, dass eine Veränderung der Statistik in diesem Jahr
schon aus dem Grund nicht infrage kommt, da die
Bundesregierung im Sommer mit einer Verbesserung auf
dem Arbeitsmarkt rechnet und nicht möchte, dass diese
Verbesserung ins Zwielicht der Statistik gezogen wird.
({0})
- Das heißt doch aber, dass Sie einen Zusammenhang
zwischen der Höhe der Arbeitslosigkeit und den statistischen Grundlagen herstellen. Heißt das im Umkehrschluss auch, dass die Statistiken dann, wenn Ihre Prognose nicht eintrifft, die Arbeitslosenzahlen sich also
nicht so wie von Ihnen erwartet entwickeln, verändert
werden könnten? Sie haben eine Kopplung zwischen den
statistischen Zahlen und der Höhe der Arbeitslosigkeit
hergestellt.
Herr Abgeordneter,
darf ich das noch einmal wiederholen? Ich habe das nämlich bereits fünfmal gesagt.
({0})
Ich bin für jede Wiederholung außerordentlich dankbar.
Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, in dieser
Legislaturperiode die Statistik zu verändern.
({1})
Es wird öffentlich unterstellt - vielleicht darf ich das noch
zu Ende führen -, insbesondere von dieser Seite, möglicherweise aber auch von anderen, wir würden die Statistik ändern, um zu geschönten Arbeitsmarktdaten zu
kommen. Da besteht auch der Zusammenhang, nach dem
Sie gefragt haben. Wir haben weder ein Interesse an geschönten Arbeitsmarktdaten noch an geschönten Vermittlungsstatistiken noch an sonstigen geschönten Statistiken,
die irgendetwas mit Beschäftigung zu tun haben. Da ein
solches Interesse bei uns nicht vorhanden ist, werden wir
die Statistik nicht ändern. Wir sind der Auffassung, dass
beispielsweise bei den Vermittlungsstatistiken Veränderungen notwendig sind. Das muss aber die Arbeitsverwaltung selbst machen, damit reale Daten zustande
kommen. Mit möglichen Veränderungen hinsichtlich der
Aussagekraft der Arbeitslosenstatistiken wird sich die
Kommission befassen und werden wir uns in der nächsten Legislaturperiode befassen.
Nun stellt der Kollege
Dr. Seifert eine Frage.
Herr Staatssekretär Andres, Sie
wiesen bereits darauf hin: Das Ganze ist dadurch ins Rollen gekommen, dass deutlich wurde, dass die Vermittlungsstatistik nicht das aussagt, was man eigentlich von
ihr erwartet. Ich möchte in diesem Zusammenhang fragen, wie es mit der Vermittlungsstatistik für schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aussieht.
Durch die Novellierung im Zusammenhang mit dem
Schwerbehindertengesetz vom Oktober 2000 sollten ja
50 000 Menschen in Arbeit gebracht werden. Immerhin
haben Sie und auch der Minister bereits beeindruckende
Zwischenergebnisse bekannt gegeben. Sind diese Ergebnisse immer noch valide oder muss man davon ausgehen,
dass auch das nicht ganz so positiv aussieht, wie es bisher
dargestellt worden ist?
Die Bundesregierung geht davon aus, dass diese Zahlen valide sind und
dass die Erfolge, die da mitgeteilt worden sind, reale Erfolge sind.
Herr Abgeordneter Seifert, wenn Sie sich die Auseinandersetzung zwischen dem Bundesrechnungshof und
der Arbeitsverwaltung über die Kriterien dafür anschauen,
was denn als Vermittlung zählt und was nicht, dann werden Sie auf den großen Block der elektronischen Informationssysteme, SIS und AIS, stoßen. Da Sie Fachmann
in diesem Bereich sind, wissen Sie sicherlich, dass die
Vermittlung von Schwerbehinderten häufig sehr nachhaltige Vermittlungsbemühungen, persönliche Gespräche,
Akquisition beim Arbeitgeber und Gespräche mit dem
Betroffenen und Ähnliches nach sich zieht. Das funktioniert nicht so einfach, dass man sich nur an den SIS oder
AIS zu wenden braucht und schon ist der Vermittlungsvorschlag klar. Wir gehen davon aus, dass die erhobenen
Zahlen überall da, wo konkrete Leistungen der Arbeitsverwaltung erbracht werden - beispielsweise bei ABM
oder SAM -, außerordentlich valide sind.
Nun hat der Kollege
Peter Weiß eine Frage.
Herr
Staatssekretär, Sie werden mir doch sicherlich zustimmen,
({0})
dass die Meldungen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 26. Februar und in der „Welt“ vom 25. Februar,
die Grundlage der Frage des Kollegen von Klaeden waren,
überhaupt nie entstanden wären und auch nicht eine derart breite Resonanz gefunden hätten, wenn die Erklärung,
die Sie hier abgegeben haben, nämlich dass die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode, die bald zu Ende
geht, nicht mehr beabsichtigt, die Arbeitslosenstatistik zu
ändern, in den vergangenen Wochen und Monaten unstrittig im Raum gestanden hätte. Wenn diese Überlegungen nicht stattgefunden hätten, hätte auch der Kollege
Dreßen Ihnen hier nicht noch einmal so freundlich die
Überlegungen zu angeblicher Transparenz in der Arbeitslosenstatistik vorgetragen. Irgendwo müssen also doch
diese Äußerungen herkommen.
Deshalb frage ich Sie: Dass es in der Bundesregierung
und in den Koalitionsfraktionen Überlegungen gegeben
hat, die Arbeitslosenstatistik zu ändern, können Sie doch
nicht bestreiten?
Zunächst einmal ist von
1998 bis heute keine Statistik verändert worden. Die Liste
der zwischen 1982 und 1998 vorgenommenen Änderungen trage ich Ihnen gerne vor; das sollten wir aber anschließend in der Aktuellen Stunde machen. Wir haben
nichts geändert.
Alle Fachleute, zu denen ich Sie wie auch die anderen
Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung, die hier sitzen, rechne, wissen, dass
es gewisse Probleme gibt, wenn man sich mit der Vermittlungstätigkeit beschäftigt. Ich habe Ihnen ja vorgelesen, wie die Rechtsgrundlage für Arbeitslosigkeit aussieht: Man muss eine sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung von mehr als 15 Stunden suchen, man
muss der Vermittlung zur Verfügung stehen und man muss
arbeitslos gemeldet sein. Es wäre sehr sinnvoll, da sehr
viel mehr Transparenz hineinzubringen. Das werden wir
auch tun; das wird auch die Kommission untersuchen. Bei
der Vermittlungsstatistik wird die Bundesanstalt für Arbeit entsprechende Veränderungen vornehmen, aber an
der statistischen Erhebung der Arbeitslosenzahlen - das
darf ich jetzt zum sechsten Male, wie ich glaube, wiederholen; dafür bin ich Ihnen dankbar ({0})
werden wir in dieser Legislaturperiode nichts ändern,
auch wenn wir der Meinung sind, dass solche Änderungen sinnvoll wären. Da wir aber nicht wollen, dass diese
Änderungen in einer von Ihnen oder von anderen bewusst
herbeigeführten oder geschürten öffentlichen Diskussion
völlig untergehen, in der uns unterstellt würde, wir würden auf diese Weise die Arbeitsmarktdaten schönen oder
manipulieren - das haben wir gerne anderen überlassen -,
werden wir in diesem Bereich an der Statistik nichts
ändern.
({1})
Nun fragt der Kollege
Karl-Josef Laumann.
Herr Staatssekretär, am Wochenende gab es ja verschiedentlich auch
Tickermeldungen, die das Begehren, die Arbeitslosenstatistik zu verändern, mit Ihrem Namen verbunden haben.
Was haben Sie denn unternommen, um diesen anscheinend falschen Tickermeldungen entgegenzutreten?
Ich will Sie darauf hinweisen, dass ich für Tickermeldungen nicht verantwortlich bin und ich sie auch nicht schreibe. Aber ich kann
Ihnen einen möglichen Hintergrund dafür nennen: Ich
hatte am Freitag im Ministerium eine Besuchergruppe; sie
bestand aus einer größeren Anzahl von Redakteuren der
„Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“. Mit diesen Redakteuren der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“
wurde natürlich über die Pressekonferenz, die kurz vorher
mit dem Bundeskanzler und dem Bundesarbeitsminister
stattgefunden hatte, diskutiert. Ich habe dabei darauf hingewiesen - das habe ich ja eben hier auch schon getan -,
dass in unserem Zweistufenkonzept ausdrücklich unter
dem Punkt „Kurzfristige Maßnahmen“ steht, dass die
Bundesanstalt für Arbeit ihre Vermittlungsstatistik ändern
muss. Das ist ja zwischen uns wahrscheinlich unstreitig.
Oder muss ich feststellen, dass das zwischen uns beiden,
Herr Laumann, streitig ist? Nein, dazu sind Sie zu sehr
Fachmann, Herr Laumann, als dass das streitig sein
könnte.
Die Bundesanstalt für Arbeit muss sich also mit ihrer
Vermittlungsstatistik auseinander setzen; das habe ich bei
diesen Gesprächen zum Ausdruck gebracht. Ich habe darüber hinaus erklärt, dass man sich auch mit der Frage
auseinander setzen muss, was mit Gruppen geschehen
soll, die der Vermittlung nicht zur Verfügung stehen. Mir
liegen hier eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln von
heute vor, die hierfür gute Beispiele bringen. Beispielsweise wird in der „Frankfurter Rundschau“ berichtet, was
der Chef des Arbeitsamtes Frankfurt tut: Er bietet Frauen,
die eine Halbtagsbeschäftigung suchen, mithilfe von
freien und privaten Vermittlern entsprechende Stellen an.
Diese Aktivitäten sind vernünftig und bewegen sich völlig im Rahmen des Gesetzes. Natürlich müssen die Statistiken, insbesondere im Vermittlungsbereich, transparenter
und aussagekräftiger werden.
Ich füge aber noch einmal hinzu, Herr Kollege
Laumann, zur wunderbaren Wiederholung: Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, in dieser Legislaturperiode die Arbeitslosenstatistik zu verändern, weil sie davon ausgeht, dass die Arbeitsmarktdaten ab Frühjahr
besser werden. Wir wollen diese Verbesserung nicht dadurch diskreditieren, dass man uns unterstellen kann, wir
würden die Statistik manipulieren. Die Manipulation von
Statistiken überlassen wir gerne anderen.
({0})
Peter Weiß ({1})
Eigentlich ist eine
zweite Zusatzfrage nicht zulässig, aber beim Kollegen
Laumann mache ich eine Ausnahme. Sie bekommen von
mir sozusagen eine zweite Frage geschenkt.
Das ist ein sehr ordentlicher Mann, Frau Präsidentin. Ihm können Sie auch drei
oder vier zusagen.
({0})
Herr Staatssekretär, wenn ich richtig informiert bin, gibt es bei der Selbstverwaltung in Nürnberg einen Fachausschuss für Statistik, dem auch ein Vertreter der Bundesregierung angehört.
Ich würde gerne von Ihnen wissen: Wann hat sich dieser
Ausschuss das letzte Mal mit der Art und Weise, wie bei
der Bundesanstalt für Arbeit Statistiken erstellt werden,
insbesondere die Vermittlungsstatistik, beschäftigt? Ist
Ihnen das bekannt?
Herr Abgeordneter
Laumann, das kann ich Ihnen jetzt aus dem Stand nicht sagen. Sie wissen natürlich aus der Diskussion - auch aus
den Beratungen im Ausschuss -, dass sich dieser Ausschuss in den letzten Jahren mehrmals mit Statistikfragen
und auch mit Verordnungen dazu auseinander gesetzt hat.
Aber freuen Sie sich nicht zu früh; der Bundesrechnungshof hat eine Untersuchung in Bezug auf die Arbeitsvermittlung bei den Arbeitsämtern, bei der man real der Frage
nachgegangen ist, was an Vermittlung unmittelbar vor Ort
auf der Grundlage welcher Verordnung konkret stattfindet, zum ersten Mal durchgeführt. Das ist zum ersten Mal
geschehen, das müssen Sie zugeben. Die Bundesanstalt
für Arbeit hat dann, ebenfalls zum ersten Mal, zehn Arbeitsämter ausgesucht, bei denen das Ergebnis überprüft
werden sollte, um es valide zu machen. Das Interessante
ist: Die Innenrevision der Bundesanstalt für Arbeit ist zu
dem gleichen Ergebnis gekommen wie der Bundesrechnungshof bei der Untersuchung von fünf Arbeitsämtern.
Das ist für uns Anlass, sehr nachhaltig darauf zu dringen, dass die Praxis der Vermittlung bei der Bundesanstalt
für Arbeit verändert wird. Wir wollen, dass die Vermittlungsoffensive, das Job-Aqtiv-Gesetz, umgesetzt wird.
Die Statistik soll auch in der Form verändert werden - das
habe ich eben zitiert und kann das gerne noch einmal tun -,
dass uns reale Vermittlungen mitgeteilt werden und keine
fiktiven Zahlen. - Ich sehe an Ihrem Nicken, dass das auf
Ihr Einverständnis trifft.
Nun hat der Kollege
Klaus Brandner eine Frage.
Herr Staatssekretär, Statistiken dienen ja der Vergleichbarkeit und der Zielgenauigkeit der Arbeit. Auf europäischer Ebene wird von Eurostat
regelmäßig eine Statistik erstellt und veröffentlicht. Können Sie eine Aussage zu der Bewertung der Arbeitslosigkeit auf europäischer und auf deutscher Ebene treffen? Ist
sie nach der Statistik auf europäischer Ebene höher oder
niedriger und sind die Bewertungskriterien von Eurostat
angemessen und sachgerecht?
({0})
Das hat etwas mit Statistiken zu tun, Herr Abgeordneter Niebel, das werden Sie
doch nicht bestreiten; es hat nichts mit Gehältern oder
Einkommen zu tun.
Es hat sicher mehr mit
der Ausgangsfrage zu tun als die Frage nach den Gehaltsvorstellungen des neuen Vorsitzenden der Bundesanstalt.
Sehr richtig. - Herr Abgeordneter Brandner, momentan wird öffentlich darüber
diskutiert und spekuliert - auch der Erste Geschäftsführer
der Unionsfraktion hat sich dazu geäußert -, wie man zu
einer besseren europäischen Vergleichbarkeit kommen
kann. Wenn wir die Eurostat-Kriterien zugrunde legen
würden, dann wäre die Arbeitslosenquote der Bundesrepublik Deutschland niedriger als nach unserer Zählung;
denn nach dem Verfahren unserer Datenerhebung wird sozusagen konkret gezählt. Jeder, der sich gemeldet hat,
wird registriert. Das heißt, nach der Statistik von Eurostat
sähen unsere Zahlen besser aus.
Ich sage gleich dazu: Wir werden das Verfahren von
Eurostat nicht übernehmen; sonst sagt die rechte Seite des
Hauses wieder, wir würden Statistiken manipulieren. Das
tun wir nicht. Im Übrigen gab es in früheren Jahren Versuche, die Erhebungshäufigkeit in Deutschland zu verändern und sie der von Eurostat anzupassen. Dazu darf ich
mitteilen, dass die Regierung Kohl, an der auch die FDP
beteiligt war, wie alle wissen, darauf bestanden hat, dass
die gegenwärtig praktizierte Statistikerstellung bei uns
jährlich erfolgt. Wir sind bis 2006 durch das Mikrozensusgesetz daran gebunden, unsere Statistik so zu erstellen,
wie es gegenwärtig der Fall ist.
Das ist also nicht von uns, sondern von der Vorgängerregierung beschlossen worden. Vielleicht können wir das
ja anschließend in einer Aktuellen Stunde ausführlich
erörtern, damit auch die interessierte Öffentlichkeit darüber informiert wird. Wir erstellen unsere Statistik nicht
unterjährig, also nicht einmal pro Quartal, weil die Festlegung es anders vorsieht. Ich habe hier bereits dargestellt,
wie wir die Daten erheben. Ich denke, das beantwortet
Ihre Frage weitgehend.
Ich erlaube mir den
Hinweis, dass ich, da wir noch immer bei der dringlichen
Frage 1 sind, nach dem Aufruf der nächsten vier Wortmeldungen zur dringlichen Frage 2 komme. Ich hoffe, damit sind Sie einverstanden; wir müssen ein bisschen von
der Eingangsfrage und -diskussion wegkommen.
Ich gebe dem Kollegen Klaus Grehn das Wort zu einer
Frage.
Herr Staatssekretär, - Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Das klingt aber mühsam, Herr Grehn.
So mühsam wie Ihre Aussagen zur Statistik.
Meine Aussagen sind
alle glasklar.
Herr Staatssekretär,
bitte nicht zu viele Zwiegespräche.
Meine Frage lautet, Herr
Staatssekretär: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen
der Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit unter der Rubrik Individualisierung, Bagatellisierung, Schuldzuweisung an die
Betroffenen - Stichwort: Faulheitsdiskussion - abgehandelt
wird, und der Diskussion um die zu verändernde Statistik?
In welche Rubrik ordnen Sie jene ein, die sich drei, fünf oder
sieben Jahre vergeblich um einen Arbeitsplatz bemüht haben? In welche Rubrik ordnen Sie jene ein, die 300, 500 oder
700 Bewerbungen geschrieben haben und physisch sowie
psychisch am Ende sind, weil sie keinen Arbeitsplatz bekommen haben? Sind Sie der Meinung, dass diese Menschen nicht an einer Arbeitsstelle interessiert sind und dass
sie der Vermittlung nicht mehr zur Verfügung stehen?
Planen Sie - natürlich erst in der nächsten Legislaturperiode, weil Sie in dieser Legislaturperiode keine Veränderungen wollen, da sich die Zahlen nach Ihrer Meinung
verbessern werden -, auch diejenigen in der Statistik zu
berücksichtigen, die jetzt unter die Dunkelziffer fallen,
also die Berücksichtigung derjenigen, die noch nicht erfasst werden, aber arbeitslos sind?
Herr Abgeordneter
Grehn, ich fange mit dem letzten Teil Ihrer Frage an. Wir
erfassen keine Dunkelziffern. Ich habe die Kriterien genannt, wer unter welchen Umständen in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen wird.
Zum ersten Teil Ihrer Frage möchte ich Ihnen sagen,
dass das Kernproblem nicht statistischer Art ist. Das
Kernproblem ist vielmehr, dass wir in unserem Land ein
ausgeprägtes Ungleichgewicht zwischen dem Angebot an
Arbeitsplätzen und der Nachfrage an Arbeitsplätzen haben. Um es etwas deutlicher zu sagen: Das Kernproblem
ist nicht die Statistik, sondern die Tatsache, dass es in diesem Land zu wenig Arbeitsplätze gibt.
({0})
Diesen Tatbestand muss man zunächst einmal festhalten.
Wenn man aber auf die Feinheiten schaut, dann wird
man feststellen, dass es Regionen gibt, in denen eine sehr
starke Nachfrage nach Arbeitskräften besteht und Arbeitsstellen nicht besetzt werden können. Daneben gibt es
andere Regionen, in denen es genau andersherum ist. Die
Bundesregierung hat ein Interesse daran, auch in der öffentlichen Diskussion klar zu machen, dass man das eine
Problem nicht sozusagen mit dem anderen Problem erschlagen kann.
Es gibt ohne Zweifel viele Menschen, die bis zu
100 Bewerbungen geschrieben haben und die darüber
verzweifelt sind, dass sie trotzdem keinen Arbeitsplatz
finden. Es gibt aber umgekehrt sicherlich auch Menschen,
die möglicherweise gar kein Interesse daran haben, unmittelbar eine Arbeit zu finden. Sie werden zugeben - das
zu leugnen wäre Unsinn -, dass beide Sachverhalte Realität sind. Man kann aber das eine Problem nicht mit dem
anderen Problem konterkarieren.
Wir müssen ein Interesse daran haben, dass es eine
bestmögliche Vermittlung gibt. Wir müssen ferner ein
Interesse daran haben, dass wir so schnell wie möglich
neue Arbeitsplätze schaffen, um arbeitslose Menschen
in Arbeit zu bringen. Mit beiden real bestehenden Problemen müssen wir uns in der Praxis auseinander setzen.
Nun eine Frage der
Kollegin Christine Ostrowski.
Herr Staatssekretär
Andres, Sie haben mehrmals auf charmanteste Art hier begründet, dass Sie in dieser Legislaturperiode die Kriterien
für die Statistik nicht mehr ändern wollen. Ich bitte Sie
höflichst um Verzeihung, dass ich etwas verwirrt bin. Ihre
Kriterien, mit denen zukünftig festgelegt werden soll, wer
eigentlich durch die Arbeitslosenstatistik erfasst wird, bedeuten im Umkehrschluss, dass Sie bis zum Ende der
Legislaturperiode eine Statistik weiter fortführen, die Sie
- ich sage es einmal freundlich - für unkorrekt halten.
Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen, dass Sie sie für
falsch halten.
Nein, das ist nicht das
Problem, Frau Kollegin. Da haben Sie meine Aussage
falsch verstanden.
({0})
Eigentlich würde ich Ihnen gerne charmant den Gesetzestext noch einmal vorlesen. Darin ist festgelegt, wer bei
uns als arbeitslos gilt. Ich nenne Ihnen noch einmal die
Kriterien: Der Betroffene muss einen sozialversicherungspflichtigen Job mit einer Arbeitszeit von mehr als
15 Stunden die Woche suchen und er muss der Vermittlung zur Verfügung stehen. Das ist ein ganz wichtiges
Merkmal.
Ich habe vielmehr über die so genannte Vermittlungsstatistik gesprochen. Die sagt nämlich etwas darüber
aus, wie viele Menschen von den Arbeitsämtern bzw. der
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Bundesanstalt für Arbeit aus der Arbeitslosigkeit in die
Beschäftigung vermittelt werden. Da sind ohne Zweifel
Änderungen notwendig, weil uns fiktive Statistiken nichts
nutzen.
Eine Folge ist übrigens - darauf muss ich hinweisen;
auch das steht im Gesetz -: Wer der Vermittlung der Bundesanstalt für Arbeit nicht zur Verfügung steht, der verliert
auch den Anspruch auf Leistung und würde dann, wenn er
weder der Vermittlung zur Verfügung steht noch eine
Leistung bekommt, auch nicht mehr als Arbeitsloser gezählt. Auch das ist klar.
Wir haben kein Interesse daran, dieses Problem auf
eine solche Art und Weise zu beseitigen. Ich sage noch
einmal: Wir haben ein Interesse an mehr Arbeitsplätzen
und an real stattfindenden Vermittlungen. Das ist wichtig
und muss vorangetrieben werden.
Nun fragt die Kollegin Fischbach.
Herr Staatssekretär,
ich komme kurz auf Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Weiß zurück. Es geht um Ihre angebliche Äußerung
in der „FAZ“. Dort werden Sie mit dem Satz zitiert:
90 Prozent der älteren Arbeitslosen sind gar nicht daran
interessiert, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. - Sie
haben geantwortet, dass die Zeitungsmacher nicht mit Ihnen gesprochen haben. Kann ich Ihre Antwort so verstehen, dass diese Äußerung nie von Ihnen gemacht wurde?
Ja.
({0})
- Sie alle als Beteiligte wissen doch: Nicht alles, was in
der Zeitung steht, muss auch so sein, wie es in der Zeitung
steht.
({1})
- Ja, das dürfen Sie bei Gelegenheit zitieren.
Frau Präsidentin, können wir die nächste Frage
aufrufen?
Jetzt hat die Kollegin
Claudia Nolte eine letzte Frage zu diesem Komplex. Dann
werde ich die dringliche Frage 2 aufrufen.
Herr Staatssekretär, ich
hoffe, Sie haben im Hinterkopf, dass eine Behauptung, die
man ständig wiederholt, die Ursprungsbehauptung umso
mehr stützt. Ich würde also bei Ihren vielmaligen Beteuerungen, die Statistik werde erst in der nächsten Legislaturperiode geändert, etwas aufpassen.
Vor dem Hintergrund, dass damals auch wir als
CDU/CSU-FDP-Regierung darüber nachgedacht haben,
dass wir in Europa eine vergleichbare Arbeitslosenstatistik brauchen, und es auf der anderen Seite dieses Hauses
sofort einen Aufschrei dahin gehend, dass dies zu Beschönigungen führe, gab, frage ich Sie, ob Sie sich für den
Fall, dass wir in der nächsten Legislaturperiode wieder
eine von CDU/CSU und FDP geführte Bundesregierung
haben werden - das ist sehr wahrscheinlich -, mit der
gleichen Vehemenz, wie Sie das jetzt tun, um eine Änderung der Arbeitslosenstatistik bemühen werden.
Frau Abgeordnete
Nolte, als ehemaligem Mitglied der Bundesregierung
muss ich Ihnen zunächst einmal unterstellen - Sie haben
das ja immerhin mit beschlossen -, dass Sie besonders
darin geübt sind, statistische Grundlagen zu verändern. Es
gab bei Ihnen neun Änderungen der Arbeitslosenstatistik.
Dabei mache ich - damit wir uns richtig verstehen gleich eine Einschränkung: Seit 1990 gab es fünf Änderungen.
({0})
Das, was Sie unterstellt haben, ist von mehreren Annahmen unterlegt. Auf mehrere Annahmen möchte ich
nicht antworten. Ich gehe übrigens davon aus, dass die
Bundesregierung, die erfolgreich gearbeitet hat, diese Arbeit auch in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen
wird, sodass eine wichtige Grundlage Ihrer Frage völlig
entfallen ist.
({1})
Nun rufe ich die
dringliche Frage 2 des Abgeordneten von Klaeden auf:
Wird die Bundesregierung die Statistik auch dahin gehend ändern, alle Teilnehmer an Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen künftig neu in die Statistik aufzunehmen, weil es sich
auch bei dieser Gruppe um Arbeitssuchende handelt, und wenn
nein, warum nicht?
Herr Staatssekretär.
Herr Abgeordneter von
Klaeden, zunächst einmal möchte ich feststellen: Alle
Teilnehmer an Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen werden bereits heute in den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit erfasst; das muss man wissen.
({0})
Wir zählen sie nicht als Arbeitslose, so wie sie in den
16 Jahren Ihrer Regierung auch nicht als Arbeitslose gezählt wurden. Denn ihnen fehlt eine wichtige Grundlage:
Wer sich in solchen Maßnahmen befindet, steht der Vermittlung nicht zur Verfügung.
({1})
Das habe ich im Zusammenhang mit meinen Antworten
auf die erste dringliche Frage schon mehrmals gesagt. Ich
kann es gerne noch einmal tun: Da sie nicht der VermittParl. Staatssekretär Gerd Andres
lung zur Verfügung stehen, werden sie auch nicht so gezählt, wie Sie das gerne wollen. Wir werden das auch
nicht ändern.
Zusatzfrage.
Die Fragen, die
sich auf die Pressemitteilung vom Wochenende bezogen
haben, sind von Ihnen samt und sonders damit beantwortet worden, dass es sich um Falschmeldungen handelt.
Können Sie mir noch einmal ausdrücklich bestätigen,
dass es an der Spitze Ihres Hauses am Ende der letzten
Woche oder am Wochenende
({0})
nicht die Absicht gab, die Arbeitslosenstatistik zu verändern, und dass die diesbezüglichen Nachrichten samt und
sonders Falschmeldungen sind?
Man muss bei Ihnen immer aufpassen, wenn Sie fragen,
({0})
weil Sie in Ihre Frage etwas hineingepackt haben, das hier
so überhaupt nicht gesagt worden ist.
({1})
Ich habe an keinem Punkt erklärt, Herr von Klaeden, dass
alle Meldungen, die es gab,
({2})
samt und sonders falsch sind. Das war Ihre Frage, Herr
von Klaeden. Vielleicht darf ich jetzt auch einmal antworten.
({3})
Dass es keine Grundlage für eine solche Berichterstattung
gebe, habe ich ebenfalls nicht gesagt.
({4})
Ich habe ausdrücklich erklärt, dass ich ein Gespräch
geführt habe, und habe Ihnen auch erklärt, was in diesem
Gespräch gesagt worden ist. Ich kann Ihnen das noch einmal sagen: Wenn Sie sich das Zwei-Stufen-Programm der
Bundesregierung anschauen, finden Sie unter „kurzfristige Maßnahmen“ eine Veränderung der Vermittlungsstatistik. Das ist sogar auf der Bundespressekonferenz am
letzten Freitag vorgestellt worden. Der Text ist verteilt
worden. Dass man daraus Veränderungen in der Statistik
ableitet, mag ja alles sein.
Ich erkläre Ihnen noch einmal: Die Bundesregierung
hat nicht die Absicht, die Arbeitslosenstatistik in dieser
Legislaturperiode zu ändern, Herr von Klaeden.
({5})
Sie tut das deswegen nicht, weil sie davon ausgeht, dass
sich die Arbeitsmarktlage bessert und wir diese Besserung
nicht dadurch desavouieren wollen, dass uns unterstellt
werden könnte, wir würden die Arbeitsmarktstatistik manipulieren.
({6})
Eine weitere Nachfrage des Kollegen von Klaeden.
({0})
Herr Staatssekretär, fühlt sich denn die Bundesregierung an die Aussage
des amtierenden Bundeskanzlers gebunden, dass sie es
nicht verdient, wieder gewählt zu werden, wenn 3,5 Millionen Arbeitslose - auf der Grundlage der jetzigen Statistik, nehme ich einmal an - nicht erreicht werden?
Das ist wieder so ein
Ding, das ich Ihnen gleich zurückgebe. Eine solche Aussage hat der Bundeskanzler nie getroffen.
({0})
- Nein. Eine solche Aussage - Sie können Ihre Frage
nachlesen - hat der Bundeskanzler nie gemacht.
({1})
Deswegen antworte ich auf diese Frage auch nicht. Fiktive Fragen beantworte ich nicht.
({2})
Jetzt kommt eine
Frage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, ich möchte
noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückkommen, die
dringliche Frage 2. Der Arbeitsminister hat in der Sendung, die Sie nicht gesehen haben und die ich mir offenkundig eingebildet habe, im „Grünen Salon“ auf n-tv,
nicht nur gefordert, die Statistik sofort, das heißt wirksam
ab dem Sommer dieses Jahres, um die vorhin erwähnten
Personengruppen zu bereinigen, sondern er hat auch gesagt, dass er das aus einem bestimmten Grund tut: Er
möchte mehr Ehrlichkeit in die Statistik hineinbringen.
({0})
Wenn wir einer Meinung sind, dass es nicht unbedingt
falsch ist, diese Vorschläge in Ruhe zu durchdenken, wäre
es dann nicht ein Gebot der Ehrlichkeit - wann auch immer es eine entsprechende Änderung gibt -,
({1})
dass man die Personengruppen, die einen Arbeitsplatz haben möchten, die aber in dem Moment zur Überbrückung
etwas anderes machen, zum Beispiel ABM, SAM, Qualifizierungsmaßnahmen, oder auch Sozialhilfebezieher, die
arbeitsfähig sind, als Arbeitssuchende bzw. Arbeitslose in
diese Statistik aufnimmt? Ich frage das vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch während der Teilnahme an
einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme der Arbeitsvermittlung und der Aufnahme einer beitragspflichtigen, ungeförderten Beschäftigung immer noch grundsätzlich der
Vorrang zukommt.
Herr Abgeordneter
Niebel, Ihre Fragen beantworte ich immer gern,
({0})
insbesondere wenn sie mit einer Einleitung versehen sind.
Es stimmt, dass ich die Sendung nicht gesehen habe. Es
stimmt aber nicht, dass ich Ihnen unterstellt hätte, Sie hätten sich die Sendung nur eingebildet. Selbstverständlich
muss ich davon ausgehen, dass Sie, wenn Sie aus der Sendung zitieren, sie auch gesehen haben.
Die spannende Frage, die Sie jetzt gestellt haben, bezieht sich darauf, wie man bestimmte Leute zählt.
({1})
Darauf gebe ich Ihnen noch einmal eine Antwort: Wir
zählen sie so, wie die Regierung Kohl - an der Sie beteiligt waren - sie von 1982 bis 1998 ohne jede Änderung
gezählt hat. Wir zählen sie so, wie es im Gesetz steht. Den
Gesetzestext habe ich Ihnen vorgetragen. Da Sie als ehemaliger Arbeitsvermittler das Gesetz besonders genau
kennen müssten, wissen Sie, wie die gesetzliche Grundlage ist. Deswegen haben wir nicht die Absicht, hier etwas
zu verändern.
({2})
Ich verbinde das noch einmal mit der Erklärung, dass
diese Bundesregierung nicht die Absicht hat, die Arbeitsmarktstatistik in dieser Legislaturperiode zu verändern,
weil wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, wir
würden die Arbeitsmarktdaten mithilfe einer Statistikveränderung verfälschen oder bewusst verbessern.
({3})
Nun fragt der Kollege
Meckelburg.
Herr Staatssekretär, ich möchte gerne noch einmal auf die Infas-Studie,
die Sie eben erwähnt haben, zurückkommen. Diese Studie trägt den Titel: Struktur der Arbeitslosigkeit. Sie ist
seit Mai letzten Jahres, wie man in der Presse im Januar
nachlesen konnte, in internen Zirkeln diskutiert worden.
({0})
Diese Studie ist um den 20. Januar herum von Herrn
Bundesarbeitsminister Riester und dem damaligen NochPräsidenten der Bundesanstalt für Arbeit Jagoda vorgestellt worden. Halten Sie es für reinen Zufall, dass die Studie genau zu dem Zeitpunkt veröffentlicht wurde, als auch
Sie zugaben, dass Sie Ihr Versprechen nicht mehr einhalten konnten und es im Schnitt des Jahres 4 Millionen Arbeitslose würden?
Der Tenor dieser Studie, der auch letztes Wochenende
wieder aufkam, war nämlich: Nicht alle Arbeitslosen können tatsächlich als Arbeitslose gewertet werden; 1,2 Millionen davon sind gar nicht arbeitslos. Auch wenn Sie die
Statistik dieses Jahr nicht ändern wollen, sollte der Eindruck vermittelt werden, dass die Statistik nicht stimmt
und Sie besser sind, als die Menschen gedacht haben. Dieser Eindruck ist doch nicht zu vermeiden.
Herr Abgeordneter
Meckelburg, ich bin kein Anhänger irgendwelcher Verschwörungstheorien. Daher kann ich aus dem Ablauf von
Terminen keinen durch eine Verschwörung zustande gekommenen Zusammenhang sehen.
Sie wissen, dass in Mannheim die Fachhochschule der
Bundesanstalt für Arbeit ihren Sitz hat. Dort hat eine Veranstaltung stattgefunden, in der man sich mit dieser Studie auseinander gesetzt und befasst hat. Diese Studie
wurde über einen längeren Zeitraum erhoben. An ihr haben mehr als 20 000 Personen teilgenommen. Deshalb gilt
die Studie als besonders repräsentativ und hat bestimmte
Ergebnisse hervorgebracht. Teilaspekte dieser Ergebnisse
muss man weiter untersuchen. Daran ist nichts zu ändern.
Sie haben Recht: Ich habe Anfang dieses Jahres erklärt,
dass wir im Winter eine Arbeitslosigkeit von etwa 4,3 Millionen Arbeitslosen haben würden. Ich will nur die Zahlen richtig stellen, die Sie genannt haben. Die Zahl der Arbeitslosen betrug im Januar 4,29 Millionen. Wie viel es im
Februar sein wird, wird abzuwarten sein. Aber aus der Erfahrung der Jahre kann man davon ausgehen - Januar und
Februar sind bei der Arbeitslosigkeit immer die
Spitzenmonate, was mit Saison, Schneefall, Witterung
und vielen anderen Dingen zu tun hat -, dass es entsprechende Veränderungen geben wird.
Sie haben gefragt, ob dies alles ein Zufall sei. Ich
glaube, dass diese terminliche Zusammenstellung Zufall
war. Sie wissen aus den Ausschussberatungen, dass der
Bundesarbeitsminister bei diesem Termin den Präsidenten der Bundesanstalt erstmalig mit den Ergebnissen des
Bundesrechnungshofes konfrontiert hat und dass daraus
die Debatte geworden ist, die wir weder geplant noch angelegt haben. Sie wissen aus den Ausschussberatungen,
dass der Bundesrechnungshof schon im letzten Frühjahr
die Untersuchung der Vermittlungsstatistik in den fünf Arbeitsämtern geplant hat.
({0})
Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass die aus Ihrer
Sicht böse und aus meiner Sicht erfolgreiche Bundesregierung das mit einer langfristigen Strategie geplant hat.
Das ist nicht der Fall.
Nun fragt der Kollege
Peter Weiß.
Herr
Staatssekretär, Herr Rürup, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung, hat in einem Gespräch mit der Tageszeitung
„Die Welt“, abgedruckt am 26. Februar dieses Jahres, erklärt:
Wenn man schon die Statistik bereinigt, dann sollten
auch die rund 1,7 Millionen verdeckten Arbeitslosen
nachrichtlich ausgewiesen werden.
Da Sie entweder vor Ende der Legislaturperiode oder
- falls Sie dann noch regieren - in der nächsten Legislaturperiode eine Änderung der Arbeitslosenstatistik vornehmen werden, frage ich Sie: Überlegt die Bundesregierung derzeit, diese Anregung von Herrn Rürup
aufzugreifen? Nach dem heutigen Stand hätten wir dann
nicht 4,3, sondern 6 Millionen Arbeitslose in der Statistik
auszuweisen.
({0})
Herr Abgeordneter,
ich weiß nicht, wie Sie auf die Zahl von 6 Millionen kommen.
({0})
Ich möchte es wiederholen: Wir haben die Zählweise, die
Sie 16 Jahre lang und mit einer Reihe von Veränderungen
der Statistik fleißig betrieben haben, nicht geändert.
({1})
Ich sage Ihnen noch einmal: Diejenigen, die an ABM-,
Strukturanpassungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen
teilnehmen, werden gesondert ausgewiesen. Die „stille
Reserve“ im weiteren Sinne wird geschätzt und kann statistisch nicht erfasst werden.
Die spannende Frage, um die es geht, ist nicht, ob sie
ausgewiesen werden. Denn das werden sie längst. Die
spannende Frage, um die es geht, ist, ob man sie als Arbeitslose zählt. Ich habe schon mehrfach gesagt, wie
Arbeitslose gezählt werden und welche rechtliche Grundlage, die wir übrigens auch nicht geändert haben, es dafür
gibt. Sie werden es nicht glauben, aber zu Ihrer Regierungszeit war sie genauso. Daher haben wir nicht die Absicht, die Arbeitslosenstatistik bis zum Ende dieser Legislaturperiode zu ändern.
({2})
Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass wir die Einsetzung einer Kommission unter Vorsitz von Herrn Dr. Peter
Hartz beschlossen haben, die bis zum 15. August dieses
Jahres Vorschläge vorlegen muss. Ich gehe davon aus,
dass die Kommission solche Fragen diskutieren und entsprechende Vorschläge machen wird. Dann werden wir
uns damit auseinander setzen.
Nun fragt der Kollege
Klaus Grehn.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist
ja sicher bekannt, dass der Bundesarbeitsminister wiederholt, auch in diesem Hause, erklärt hat, dass er die Statistik treffsicherer machen will. Sie können sich aus der Zeit,
als Sie beim Deutschen Gewerkschaftsbund waren, sicher
erinnern, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund die Zahl
derjenigen, die verdeckt arbeitslos sind, benannt hat.
Erst in dieser Woche haben wir über Schwarzarbeit und
illegale Beschäftigung diskutiert. Hier besteht ein ähnliches Verhältnis. Denn auch hier wissen wir etwas, obwohl wir nichts wissen. Die Frage ist einfach: Beabsichtigen Sie, dies als real existierendes Problem aufzugreifen
und die Arbeitslosenstatistik treffsicherer zu machen? Tun
Sie dies, indem Sie auch die Tatsache aufgreifen, dass
zum Beispiel Kranke während ihrer Krankheit nicht mehr
arbeitslos sind und aus der Statistik herausfallen usw.?
Beabsichtigen Sie auch dies, um ganz genau deutlich zu
machen, welche Anstrengungen dieses Land auf sich nehmen muss, um das reale Problem der Arbeitslosigkeit und
nicht ein Scheinproblem zu bekämpfen?
Herr Grehn, ich habe
den Eindruck, dass sowohl die linke als auch die rechte
Seite dieses Hauses möglicherweise ein Interesse daran
hat, dass die Arbeitslosigkeit viel höher beschrieben wird,
als wir es gegenwärtig tun.
({0})
Ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung hat ein Interesse daran, dass die Arbeitslosigkeit real dargestellt
wird.
Jetzt nenne ich Ihnen ein Problem, zu dem auch Sie
sich verhalten müssen: Wenn sich jemand allein aus dem
Grund arbeitslos meldet, um eine Kindergeldzahlung aufrechtzuerhalten, muss man die Frage beantworten, ob dies
ein Arbeitsloser ist oder ob er sich aus einem anderen
Grund meldet.
({1})
Oder wenn sich jemand arbeitslos meldet, der zwar längst
einen Job in der Tasche hat, aber, was ich verstehen kann,
seine Versicherungsleistung aufrechterhalten möchte,
muss man die Frage beantworten: Muss ich diese Person
als Arbeitssuchenden bzw. Arbeitslosen zählen oder
müsste ich mit diesem Problem nicht eigentlich anders
umgehen? All diese Fragen sind zu erörtern. Dafür wird
die Kommission eingesetzt.
Ich nutze diese Gelegenheit, um noch einmal darzulegen, dass diese Bundesregierung nicht die Absicht hat, die
Arbeitslosenstatistik in dieser Legislaturperiode zu ändern.
({2})
Nun folgt die letzte
Frage des Kollegen Kolb.
Herr Staatssekretär, Sie
haben jetzt wiederholt vorgetragen, dass es keiner Änderung der Statistik bedarf, weil Sie in allernächster Zeit
großartige Erfolge auf dem Arbeitsmarkt erwarten.
({0})
Nun war es aber so, dass wir mit den Arbeitslosenzahlen
vom Januar dieses Jahres zum 16. Mal in Folge einen saisonbereinigten Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Kenntnis
nehmen mussten. Alles spricht dafür, dass die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit im Februar dieses Jahres erneut und damit zum 17. Mal in Folge steigen wird. Namhafte Forschungsinstitute gehen davon aus, dass sich
dieser Zustand, die Zunahme der saisonbereinigten Arbeitslosigkeit, bis zum Sommer dieses Jahres fortsetzen
wird,
({1})
und zwar auch deswegen, weil die Erwerbstätigkeit, anders als dies vorher der Fall gewesen ist, zurzeit nicht
mehr zunimmt.
Herr Staatssekretär, meine Frage ist: Wann genau rechnet die Bundesregierung mit der Wende auf dem Arbeitsmarkt? Es ist nicht mehr viel Zeit bis zur Ablösung dieser
Regierung. Es sind noch sieben Monate. Daher müsste es
doch möglich sein, den genauen Zeitpunkt etwas enger
einzugrenzen.
({2})
Herr Abgeordneter
Kolb, eigentlich ist es schade, wie sehr Sie Ihre Frage
durch Ihre Schlussbemerkung selbst desavouiert haben,
weil die Bundesregierung die Arbeitslosenstatistik nicht
im Zusammenhang mit der Ablösung der Bundesregierung sieht. Wie kämen wir darauf? Der Zusammenhang,
den Sie da herstellen, ist völlig absurd.
({0})
Wenn ich korrekt sagen könnte, wann dieser Zeitpunkt
sein wird, würde ich dies tun. Ich habe keine Absicht, mich
festzulegen. Ich bin auch nicht das Orakel von Delphi.
({1})
Sie können aber davon ausgehen - auch Sie als ehemaliger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium,
der über viele Jahre die Verantwortung in der Vorgängerbundesregierung mitgetragen hat und der sich mit ökonomischen Daten befasst, wissen dies -, dass es eine Reihe
von Indikatoren gibt, die in der Tat eine wirtschaftliche
Belebung bestätigen. Wir gehen auch davon aus, dass sich
die Situation auf dem Arbeitsmarkt bessert.
Damit haben wir die
dringlichen Fragen 1 und 2 beantwortet. Wir danken dem
Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Die Fraktion der CDU/CSU hat im Anschluss an die
Fragestunde eine Aktuelle Stunde beantragt. Diese Aktuelle Stunde ist nach den Richtlinien zulässig. Sie wird im
Anschluss an die Fragestunde stattfinden; das ist ungefähr
in einer Stunde.
Wir kommen nun zu dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Verteidigung. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte
Schulte zur Verfügung. Die dringlichen Fragen 3 und 4
sind schriftlich zu beantworten.
Ich rufe die dringliche Frage 5 des Kollegen Wolfgang
Gehrcke auf:
Treffen Meldungen zu, wonach wesentliche Änderungen an
der zahlenmäßigen Aufgliederung für den Einsatz der deutschen
Streitkräfte unter Punkt 5 des Antrags der Bundesregierung ({0}) vorgenommen wurden ({1}), und wenn ja, wie erklärt dies die Bundesregierung?
Frau Staatssekretärin, bitte sehr.
Herr Kollege Gehrcke, die im
Bundestagsbeschluss vom 16. November 2001 für die
einzelnen Streitkräfte im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ aufgeführten Personalstärken wurden
und werden nicht überschritten. Also: Zu keiner Zeit waren bis zum heutigen Tage mehr als 100 Soldaten der Spezialkräfte eingesetzt.
Zusatzfrage? - Bitte
sehr.
Frau Staatssekretärin,
könnten Sie mir vielleicht den Widerspruch zu den Presseerklärungen des Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Herrn Wieczorek, der deutlich über 200 KSKKräfte genannt hat, erklären? Herr Wieczorek gehört ja
auch der Regierungskoalition an. Sie nennen immer eine
Zahl von weniger als 100, er dagegen spricht von mehr als
200. Sie müssen daher verstehen, dass die Öffentlichkeit
oder ein armer Abgeordneter, der nicht informiert wird,
nachfragt, was nun stimmt.
Selbstverständlich. Ich verstehe auch, dass Sie als Oppositionspolitiker, nachdem
das Thema in die Öffentlichkeit gelangt ist, danach fragen. Es handelt sich um nicht einmal 100 Kräfte. Der Kollege Wieczorek hat erklärt, er habe, als eindringlich danach gefragt wurde, offensichtlich diese Zahl mit anderen
Zahlen, die aufgeführt sind, verwechselt. Ich will eines
der Korrektheit halber sagen: Innerhalb der festgelegten
Obergrenze von 3 900 Soldaten hätte in Abhängigkeit von
den Erfordernissen natürlich der Bundesminister der Verteidigung, weil er vom Parlament ermächtigt worden ist,
in Abstimmung mit dem Außenminister die Zahl verändern können. Es ist aber eindeutig so, dass die Zahl unter
100 liegt. Herr Wieczorek hat das dann auch so dargestellt. So ist das in die Öffentlichkeit gelangt. Er hat gesagt, er habe es verwechselt. Ich kann das nur so zur
Kenntnis nehmen und entsprechend wiedergeben. Richtig
ist auf jeden Fall meine Zahl.
Noch eine Zusatzfrage.
Ich möchte nachfragen:
Der Herr Bundeskanzler hat am 8. November 2001 im
Parlament erklärt:
Mir ist besonders wichtig festzuhalten: Es geht weder um eine deutsche Beteiligung an Luftangriffen
noch um die Bereitstellung von Kampftruppen am
Boden.
Hat sich auch der Herr Bundeskanzler in seinen Aussagen,
ebenso wie der Kollege Wieczorek bei der Nennung der
Zahlen, geirrt? Heute habe ich mir im Auswärtigen Ausschuss von Ihrem Kollegen Stützle erklären lassen, dass
die KSK-Kräfte weder am Boden noch in der Luft noch
im Wasser operieren. Es muss sich also um himmlische
Wesen handeln. Können Sie mir wenigstens bestätigen,
dass es Kampftruppen sind?
Ich kann auch bestätigen, dass
der Deutsche Bundestag mit einer großen Zahl von Stimmen der Abgeordneten - leider nicht mit Ihrer Stimme in seinem Beschluss festgelegt hat:
Der Einsatz militärischer Mittel ist unverzichtbar,
um die terroristische Bedrohung zu bekämpfen und
eine Wiederholung von Angriffen wie am 11. September 2001 nach Möglichkeit auszuschließen. Der
Deutsche Bundestag stimmt daher der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Operation
Enduring Freedom zu ...
({0})
Damit ist ganz klar, Herr Kollege - der deutsche Bundeskanzler hat am 16. November mit uns gestimmt -,
dass die deutschen Streitkräfte im Rahmen der Operation
„Enduring Freedom“ die gesamte Palette der Aufgaben
wahrnehmen müssen. Eingegrenzt ist das Gebiet, auf
welchem sich die Truppen bewegen.
Ich kann das, was Sie hier gesagt haben, nicht nachvollziehen. Ich muss es Ihnen glauben, aber entscheidend
ist der Beschluss des Bundestages.
Nun hat der Kollege
Hübner eine Frage.
Frau Staatssekretärin, die Erregungen der letzten Tage sind ja vor allem durch eine aus
unserer Sicht nicht hinreichende Informationspolitik der
Bundesregierung zustande gekommen. Wie können Sie es
aus Ihrer Sicht erklären, dass bereits am 18. Januar dieses
Jahres, also vor mehr als einem Monat, der US-amerikanische Oberbefehlshaber in Afghanistan öffentlich darüber Auskunft gegeben hat, dass deutsche, britische, türkische und amerikanische Spezialeinheiten gemeinsam im
Süden Afghanistans tätig sind, während eine Aussage der
Bundesregierung gegenüber dem Parlament, aber auch
gegenüber der deutschen Öffentlichkeit erst einen Monat
später zustande gekommen ist, obwohl es in der Zwischenzeit häufig Nachfragen in dieser Richtung gegeben
hat?
Ich kann Ihnen das damit erklären, dass diese Gruppe von Soldaten mit Zustimmung
des deutschen Parlaments 1995 aufgestellt wurde und
diese Truppe nun einmal Aufgaben im Rahmen des
Grundgesetzes wahrzunehmen hat, über die nicht unbedingt die Diskussion in der Öffentlichkeit geführt werden
muss. Auch nur zum Schutz der Soldaten und ihrer Angehörigen bin ich gewillt, Ihnen diese klare Aussage hier
zu geben.
Eine weitere Nachfrage gibt es nicht.
({0})
- Sie selber haben die ursprüngliche Frage nicht gestellt;
deswegen können Sie nur eine Nachfrage stellen. Wir
kommen aber noch einmal zu diesem Thema. Bitte haben
Sie Geduld.
Ich rufe die dringliche Frage 6 des Kollegen Wolfgang
Gehrcke auf:
Wenn ja, warum wurde diese wesentliche Veränderung, die
laut Ziffer 5 des Beschlusses des Deutschen Bundestages zum
Mandat vom 16. November 2001 zwar möglich, aber nach der zugehörigen Protokollerklärung vom 15. November 2001 an Konsultationen gebunden wird, durchgesetzt, ohne die vorgesehenen
Konsultationen mit den Fachausschüssen oder Fraktionen des
Deutschen Bundestages durchzuführen?
In dieser Frage geht es um dasselbe Thema in Variationen.
Diese Frage beantworte ich mit
einem klaren Nein.
Eine Zusatzfrage?
Selbstverständlich ergibt
sich daraus eine Zusatzfrage. Frau Staatssekretärin, ich
bitte, mir wirklich zu beantworten, ob Sie zumindest bestätigen können, dass die KSK eine Kampftruppe ist.
Die KSK haben wir - das
konnten Sie nachlesen und das kann man, im Gegensatz
zu anderen Bereichen, auch der Öffentlichkeit sagen nach den Erkenntnissen internationaler Einsätze aufgestellt. Sie hat in erster Linie die Aufgabe, Konflikte möglichst ohne Kampfeinsatz zu lösen.
({0})
Sie soll Menschen retten. Sie ist aber in der Lage, auch militärische Kampfeinsätze wahrzunehmen; sie ist wirklich
keine Caritas-Einrichtung. Sie steht unter dem Primat der
Politik des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung und sie steht unter dem Schutz des Grundgesetzes.
Deswegen habe ich nicht das geringste Problem, zu sagen:
Ja, unsere Spezialkräfte können natürlich auch militärische
Aufgaben wahrnehmen, wie übrigens alle 300 000 Soldaten, sofern es sich nicht um Wehrpflichtige handelt.
Eine Zusatzfrage,
bitte sehr.
Mir ist ja schon klar: Wer
sich beschwert, wird belehrt. Aber ich komme noch einmal auf die Aussage des Bundeskanzlers zurück,
({0})
der gesagt hat: Es sind keine Kampfeinsätze am Boden
vorgesehen. Sie haben mir jetzt bestätigt: Es ist eine
Kampftruppe, sie operiert am Boden, in der Luft und im
Wasser.
({1})
Kann ich jetzt festhalten, dass die Aussage des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung am 8. November,
die für viele Abgeordnete für ihre Entscheidung, ob sie
zustimmen oder nicht zustimmen, wichtig war, falsch gewesen ist?
({2})
Das können Sie nicht feststellen. Ich wiederhole noch einmal: Der deutsche Bundeskanzler hat das nicht nur im Kabinett - der
Kabinettsbeschluss sah nicht anders aus als das, was das
deutsche Parlament anschließend am 16. November beschlossen hat - erklärt. Uns allen war klar, dass dies ein
schwieriger Einsatz wird und dass die Terrorismusbekämpfung - wir sind schließlich schlimmsten Verbrechern auf der Spur - natürlich auch militärische Mittel
und deren Einsatz verlangt.
({0})
Nun kommt der Kollege Hübner mit einer Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich
mag ja gerne einsehen, dass es in der Frage, wo und wann
Spezialkräfte mit welchem Auftrag eingesetzt sind,
durchaus Aspekte gibt, die der Geheimhaltung unterliegen. Die Frage des Ob wird jedenfalls in allen anderen
Ländern, die an diesen Operationen beteiligt werden, anders gehandhabt als in der Bundesrepublik. Das gebietet
aus meiner Sicht auch die Möglichkeit demokratischer
Kontrolle. Sind Sie deshalb der Auffassung, dass die anderen Staaten - die Türkei, die USA, damit der zitierte
US-Oberbefehlshaber, oder die Briten - sehr viel weniger
fürsorglich mit den von ihnen eingesetzten Soldaten umgehen als die Bundesregierung?
Herr Hübner, ich wiederhole,
was ich bereits erwähnt habe. Im Beschluss des Bundestags ist dezidiert von 100 Spezialkräften die Rede gewesen. Darüber hinaus hat das Parlament die Bundesregierung ermächtigt, dass unterhalb der festgelegten
Obergrenze von 3 900 Soldaten in Abhängigkeit von den
Erfordernissen des Einsatzes Abweichungen von der jeweils genannten Größenordnung möglich sind.
Das deutsche Parlament verfügt über geschlossene
Ausschüsse, in denen die Parlamentarier selbstverständlich Auskunft bekommen. Bei Einhaltung der Geheimhaltungsstufen ist eine Unterrichtung über den Einsatz der
Streitkräfte, ihren Aufenthaltsort und die Zahl der Soldaten an den jeweiligen Aufenthaltsorten erfolgt.
Nun hat der Kollege
Dr. Seifert eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie sprachen vorhin ausdrücklich davon, dass der Auftrag der
deutschen Streitkräfte und ihr Einsatzort genau umschrieben seien. Ich kann mich recht gut daran erinnern, dass
immer wieder von Kabul und Umgebung gesprochen
wurde, wenn von Afghanistan die Rede war. Jetzt aber ist
in Meldungen die Rede davon, dass die KSK ganz woanders in Afghanistan eingesetzt ist. Können Sie das bestätigen? Ich frage Sie auch, wann und vor allem unter
welchem Kommando diese Truppe erstmalig dort
gekämpft hat. Denn bekanntlich läuft neben dem von uns
beschlossenen Einsatz gleichzeitig auch der amerikanische Einsatz, der nichts mit „Enduring Freedom“ zu tun
hat.
Herr Kollege Seifert, Einsatzgebiet im Rahmen von „Enduring Freedom“ ist gemäß
Art. 6 Nordatlantikvertrag die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nordostafrika sowie die angrenzenden Seegebiete. Was Sie jetzt gemeint haben, ist
der Friedenseinsatz, der als Folge der Petersberger Beschlüsse mit ISAF verbunden ist. Das hat nichts mit „Enduring Freedom“ zu tun, sondern ist eine Folgeoperation,
an der die Bundeswehr in Kabul bzw. auf dem Weg nach
Kabul in der Tat noch an anderen Stellen operiert. Aber für
„Enduring Freedom“, worüber wir gerade reden, ist das
Einsatzgebiet in dem Beschluss umfassend definiert worden.
Nun kommt die
dringliche Frage 7 des Abgeordneten Carsten Hübner:
Haben bundesdeutsche Spezialeinheiten bei ihrem Einsatz im
Rahmen von „Enduring Freedom“ Personen verhaftet bzw. gefangen genommen, und wie ist mit diesen Personen, gegebenenfalls
hinsichtlich einer möglichen Überstellung in das Gefangenenlager
Guantanamo in Kuba, weiter verfahren worden?
Frau Staatssekretärin.
Nein, Herr Kollege Hübner,
die Bundesregierung kann diese Behauptung nicht bestätigen.
Eine Zusatzfrage.
Es handelt sich um eine
Frage, die formuliert worden ist, und nicht um eine Behauptung, die es zu bestätigen gilt oder nicht. In diesem
Sinne bitte ich um die Beantwortung der Frage.
Entschuldigung. - Kann die Bundesregierung Informationen der Nachrichtenagentur -
Das ist die Frage 8,
Frau Staatssekretärin. Wir sind noch bei Frage 7.
Nein, die habe ich schon beantwortet.
({0})
Es geht zwar um denselben Komplex, aber wir sind noch bei der dringlichen
Frage 7. Ich wiederhole sie:
Haben bundesdeutsche Spezialeinheiten bei ihrem
Einsatz im Rahmen von „Enduring Freedom“ Personen verhaftet bzw. gefangen genommen, und wie ist
mit diesen Personen, gegebenenfalls hinsichtlich einer möglichen Überstellung in das Gefangenenlager
Guantanamo in Kuba, weiter verfahren worden?
Meine vorangegangene
Antwort darauf war ein klares Nein.
Die Staatssekretärin
hat die Frage also verneint.
Sie haben eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Aus welchen militärischen
Aktivitäten speist sich dann, wenn es nicht zum Beispiel
um Verhaftungen oder militärische Auseinandersetzungen im eigentlichen Sinne geht, das Lob verschiedener
Streitkräfte gegenüber den Einsatzaktivitäten der Bundeswehr, auf das der Bundesverteidigungsminister in
mehreren Pressemitteilungen hingewiesen hat?
Wollen Sie darauf eine ernste
Antwort haben?
Ich würde die Frage sonst
nicht stellen.
Die Frage nach der Überstellung in das Gefangenenlager Guantanamo in Kuba,
die Sie gestellt haben, enthält doch eine Unterstellung.
({0})
Erstens wird dieses Lager nicht von uns geführt. Zweitens
- das sage ich deutlich - haben unsere Soldaten entsprechende Personen nicht verhaftet bzw. gefangen genommen.
Nun rufe ich die
Frage 8 des Kollegen Carsten Hübner auf.
({0})
- Bitte sehr, noch zur Frage 7.
Sie können also hier definitv
feststellen, dass bei dem Einsatz der KSK-Einheiten der
Bundeswehr in den letzten Monaten keine Gefangenen
gemacht wurden und dass auch keine Personen, die im
Gewahrsam der Bundeswehr waren, nach Guantanamo
Bay überführt worden sind?
Ich habe Ihre Frage mit
einem klaren Nein beantwortet.
Nun kommen wir zur
dringlichen Frage 8 des Kollegen Carsten Hübner:
Kann die Bundesregierung Informationen der Nachrichtenagentur Reuters vom 24. Februar 2002 unter Verweis auf Angaben
der „Stuttgarter Zeitung“ bestätigen, nach denen deutsche Bundeswehrsoldaten auf dem US-Stützpunkt in Kandahar gegenüber
amerikanischen Soldaten einschreiten mussten, weil diese hart gegen Gefangene vorgingen und insgesamt unter den amerikanischen Soldaten eine aggressive Stimmung vorherrsche?
Frau Staatssekretärin.
Aus gegebenem Anlass
trage ich zunächst den Wortlaut Ihrer Frage vor: Sie haben
gefragt, ob „die Bundesregierung Informationen der
Nachrichtenagentur Reuters vom 24. Februar 2002 unter
Verweis auf Angaben der ,Stuttgarter Zeitung‘ bestätigen“
kann, „nach denen deutsche Bundeswehrsoldaten auf dem
US-Stützpunkt in Kandahar gegenüber amerikanischen
Soldaten“ hätten einschreiten müssen, „weil diese hart
gegen Gefangene“ vorgegangen seien „und insgesamt
unter den amerikanischen Soldaten eine aggressive Stimmung vorherrsche“. Ich wiederhole die Antwort, die ich
schon eben gegeben habe: Nein, diese Behauptung kann
ich nicht bestätigen.
Zusatzfrage.
Können Sie sagen, unter
welchem Oberkommando sich die deutschen Einheiten
befinden, die im Zusammenhang mit US-amerikanischen,
britischen und türkischen Spezialeinheiten eingesetzt
werden?
Das geht bereits aus dem Beschluss hervor.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Gehrcke.
Frau Staatssekretärin,
sind Sie bereit, mir zumindest zu bestätigen, dass der
Auswärtige Ausschuss, der in den Beschlüssen als federführender Ausschuss genannt ist, zu keinem Zeitpunkt
über das Ob des Einsatzes der KSK-Kräfte und über ihren
Aufenthalt informiert worden ist, weder in den Besprechungen der Obleute noch in einer normalen Sitzung
noch unter „geheim“ oder „streng vertraulich“? Der
Auswärtige Ausschuss ist heute zum ersten Mal vom Bundesaußenminister - unzureichend, wie ich finde; das
brauchen Sie aber nicht zu kommentieren - informiert
worden.
Ich kann Ihnen dies deshalb
nicht bestätigen, weil ich mich selten im Auswärtigen
Ausschuss aufhalte und nicht weiß, was Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Als ich gefragt worden bin, bin ich
einige Male bei Ihnen gewesen. In dem Beschluss heißt es
aber klar und deutlich:
Der Bundesminister der Verteidigung wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesminister des
Äußeren für die deutsche Beteiligung an der Operation „Enduring Freedom“ die entsprechenden Kräfte
anzuzeigen ... und im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ einzusetzen.
Der Verteidigungsausschuss ist bei entsprechend klassifizierten Geheimhaltungsgraden unterrichtet worden.
Damit sind die dringlichen Fragen erledigt. Ich danke der Frau Staatssekretärin für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Wir kommen nun zu den Fragen auf Drucksache
14/8318 in der üblichen Reihenfolge. Wir beginnen mit
dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz.
Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Pick zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Dr. Jürgen Gehb auf:
Welche Änderungen der Strafandrohung für die Störung des
öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten analog dem
deutschen § 126 Strafgesetzbuch, „Trittbrettfahrer“, werden nach
Kenntnis der Bundesregierung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geplant bzw. sind seit dem 11. September 2001
vollzogen worden?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Herr Kollege Dr. Gehb, ich kann
mich hier kurz fassen und auf meine Antwort vom 3. Januar dieses Jahres auf Ihre gleich lautende schriftliche
Frage vom 18. Dezember 2001 verweisen. Damals habe
ich mitgeteilt, dass dem Bundesministerium der Justiz
keine aktuellen Erkenntnisse zu der Frage vorliegen, eine
entsprechende Umfrage unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union allerdings veranlasst ist. Einen anderen
Sachstand gibt es gegenwärtig noch nicht. Ich habe Ihnen
damals zugesichert, dass Sie über das Ergebnis der Umfrage informiert werden.
Zusatzfrage, Herr
Kollege.
Herr Staatssekretär,
ist damit zu rechnen, dass diese Frage beantwortet wird,
wenn ich noch einmal vier Wochen zuwarte? Ich frage
dies vor dem Hintergrund, dass mir Erkenntnisse darüber
vorliegen, dass in Österreich und Großbritannien immense Strafverschärfungen bei der Strafandrohung gegen
so genannte Trittbrettfahrer angekündigt sind. Wird also
in vier Wochen eine offizielle Antwort vorliegen, sodass
ich mich nicht mehr aus anderen Quellen bedienen muss?
Herr Kollege Dr. Gehb, ich habe
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Verständnis für Ihre Ungeduld; auch wir sind ungeduldig.
Sie wissen, wie es bei Umfragen im europäischen Raum
und auch in der Europäischen Union ist: Antworten gehen
nicht immer so zügig ein, wie wir es uns vorstellen. In diesem Fall ist das Auswärtige Amt eingeschaltet worden,
um eine umfängliche und erschöpfende Antwort auf Ihre
Frage zu bekommen. Sobald wir diese Antwort haben,
geht sie Ihnen automatisch zu.
Ich rufe Frage 2 des
Abgeordneten Dr. Jürgen Gehb auf:
Welche Änderungen im Strafrecht plant die Bundesregierung
als Folge der Erklärung der Staats- und Regierungschefs der
Europäischen Union vom 19. Oktober 2001, dass „gegen die verantwortungslosen Personen, die die derzeitige Situation ausnutzen, um falschen Alarm auszulösen, … die Mitgliedstaaten
entschlossene Maßnahmen ergreifen ({0}), indem sie insbesondere Straftaten dieser Art streng ahnden“?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Dr. Gehb, die Personen, die nach den schrecklichen Ereignissen des 11. September 2001 als so genannte Trittbrettfahrer Menschen in
Angst und Schrecken versetzen, indem sie zum Beispiel
vermeintlich mit Krankheitserregern verseuchte Briefe
versenden oder mit Bomben drohen, handeln nicht nur unverantwortlich, sondern auch in höchstem Maße gemeinschädlich. Ein solches Verhalten muss konsequent geahndet werden. Darüber besteht, denke ich, Einvernehmen
zwischen uns.
Soweit Sie die Forderung der EU-Staats- und Regierungschefs nach entschlossenen Maßnahmen mit der
Frage nach Änderungen im Strafrecht verbinden, komme
ich allerdings zu einer etwas anderen Beurteilung der
Rechtslage. Nach meinem Dafürhalten reicht das gegenwärtige Recht durchaus aus, um eine nachdrückliche Verfolgung und Bestrafung der Täter zu gewährleisten. Ich
denke hier vor allen Dingen an die Strafvorschrift des
§ 126 des Strafgesetzbuches, deren Strafdrohung Gegenstand zweier dem Bundestag zur Beratung vorliegender
Gesetzesinitiativen, die des Bundesrates und die Ihrer
Fraktion, ist. Bereits in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates hat die Bundesregierung Zweifel
geäußert, ob es zur konsequenten Verfolgung und Bestrafung solcher Straftäter tatsächlich erforderlich ist, die
Strafdrohung des § 126 StGB zu erhöhen.
Ich möchte für alle, denen die Einzelheiten momentan
nicht gegenwärtig sind, Folgendes hinzufügen: Der schon
geltende § 126 des Strafgesetzbuches ermöglicht es den
Strafgerichten, sehr hohe Geld- und Freiheitsstrafen zu
verhängen. Das Höchstmaß der Geldstrafe beträgt
1,8 Millionen Euro, das der Freiheitsstrafe drei Jahre.
Mithin bietet bereits die geltende Fassung der Strafvorschrift die Möglichkeit, empfindliche Geldstrafen und
Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren zu verhängen.
Letzteres schließt eine Strafaussetzung zur Bewährung
aus.
Bei den der Bundesregierung bisher bekannt gewordenen Verurteilungen sind keine Geldstrafen, sondern ausschließlich Freiheitsstrafen verhängt worden. Zu einem
großen Teil wurden die Freiheitsstrafen nicht zur Bewährung ausgesetzt. So wurde in einem Fall eine Strafe
von sechs Monaten ohne Bewährung und in einem anderen Fall eine Strafe von acht Monaten ohne Bewährung
verhängt. Ich darf mit Genugtuung feststellen, dass die
Justizbehörden der Länder ausgesprochen prompt und
zügig reagiert haben. Nach Auffassung der Bundesregierung ist damit der richtige Weg vorgezeichnet. Es
geht darum, eine Störung des öffentlichen Friedens durch
Androhung von Straftaten so schnell wie möglich zu ahnden und dabei den bereits vorhandenen Strafrahmen konsequent auszuschöpfen. Dafür spricht, dass die verhängten Urteile offensichtlich Wirkung gehabt haben.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Dr. Gehb, bitte sehr.
Herr Staatssekretär
Pick, Sie wissen ja, dass auf der Tagung der Staats- und
Regierungschefs der EU der Bundeskanzler die Erklärung
unterschrieben hat, dass „gegen die verantwortungslosen
Personen, die die derzeitige Situation ausnutzen, um
falschen Alarm auszulösen, ... die Mitgliedstaaten entschlossene Maßnahmen ergreifen werden, indem sie insbesondere Straftaten dieser Art streng“ - ich betone:
streng - „ahnden“. Hat der Bundeskanzler damit vielleicht mehr versprochen, als die Bundesregierung - diesen Eindruck haben die in der ersten Lesung gehaltenen
Reden erweckt - halten kann? Was gedenkt die Bundesregierung in Anbetracht der Tatsache, dass in Großbritannien und Österreich Freiheitsstrafen von bis zu sieben
oder sogar zehn Jahren gegen Trittbrettfahrer verhängt
werden können, zu tun?
Herr Kollege Dr. Gehb, der Bundeskanzler hat die gegenwärtige Rechtslage genau im
Auge gehabt, als er die Erklärung unterschrieben hat;
denn eine strenge Bestrafung ist bei einem Strafmaß von
bis zu drei Jahren ohne Bewährung auch in Deutschland
möglich. Zum anderen haben wir mit der Androhung einer Geldstrafe bis zu 1,8 Millionen Euro einen Weg vorgezeichnet, der in den anderen Staaten noch nicht gang
und gäbe ist.
Zusatzfrage? - Bitte
sehr.
Die Bundesregierung
hat in ihrer Stellungnahme in der Drucksache 14/8201 darauf verwiesen, dass in diesen Fällen ausschließlich Freiheitsstrafen verhängt worden seien. Ist der Bundesregierung das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 6. Dezember
letzten Jahres bekannt, wonach zwei so genannte Milzbrand-Trittbrettfahrer - es handelte sich also um kein
harmloses Vergehen, sondern um etwas Bösartiges - lediglich zu Geldstrafen in Höhe von 1 600 DM verurteilt
wurden?
Herr Kollege Dr. Gehb, dieses Urteil ist mir nicht bekannt. Ich habe in dieser Stellungnahme zwei Urteile, in denen Freiheitsstrafen ohne
Bewährung ausgesprochen worden sind, berücksichtigt.
Mein Eindruck ist, dass die Gerichte im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten auf den individuellen Fall, den
ich nicht beurteilen kann, angemessen reagieren können.
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz beendet. Ich danke dem Herrn Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums
der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Barbara
Hendricks zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Norbert Röttgen auf:
Was hat die Bundesregierung zu ihren Ausführungen zur Umsatzsteuerpflicht von Betreuungsvereinen in dem Rundschreiben
des Bundesministeriums der Finanzen vom 21. September 2000
veranlasst, wenn die Betreuungsvereine ohnehin auch zuvor mit
ihrer Umsatzsteuerpflichtigkeit rechnen mussten, dies daher auch
den örtlichen Finanzämtern bekannt sein musste und diese Ausführungen auch nicht durch das Berufsvormündervergütungsgesetz, das am 1. Januar 1999 in Kraft getreten ist, motiviert waren?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herr Kollege Röttgen, Anlass für das BMF-Schreiben vom 21. September 2000
war, eine einheitliche Rechtsauslegung durch die Finanzverwaltungen sicherzustellen. Im Übrigen verweise ich
auf meine Antworten zu Ihren Fragen 28 und 29 in der
Fragestunde der vergangenen Woche, die Ihnen schriftlich zugegangen sind, obwohl Sie unentschuldigt nicht
hier waren.
({0})
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege.
Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin, ich bedauere es bis auf den heutigen Tag,
dass ich eine Minute zu spät gekommen bin, weil zuvor so
viele Fragen schriftlich beantwortet worden sind. Nehmen Sie es als Zeichen meiner Buße, dass ich heute schon
seit anderthalb Stunden hier bin. Es hat mir natürlich gut
getan, hier zu sein.
Nun möchte ich zu der Frage kommen. Die von Ihnen
angesprochene einheitliche Rechtsauffassung führt zu
massiven, rückwirkenden Steuerforderungen an im
Wesentlichen ehrenamtlich arbeitende Betreuungsvereine. Ihre Antwort wirft die Frage auf, ob diesen Vereinen
kein Vertrauensschutz zuzubilligen ist. Dafür gibt es folgende Argumente:
Die Rechtsauffassung, die die Bundesregierung vertritt, ist ernsthaft umstritten. Renommierte Steuerrechtler
halten die Auffassung der Bundesregierung für europarechtswidrig. Die Bundesjustizministerin hat zumindest angedeutet, dass auch sie selbst eine andere Auffassung vertritt. Schließlich haben die zuständigen
Finanzämter über Jahre die überwiegend ehrenamtlich arbeitenden Vereine nicht zur Umsatzsteuer herangezogen.
Sind Sie wirklich der Auffassung, dass die Vereine, die
- das möchte ich betonen - Gebrechliche und Behinderte
ehrenamtlich betreuen, hätten wissen müssen, was das
Finanzamt nicht wusste, wie nämlich die Rechtslage ist?
In der Wissenschaft ist das Ganze umstritten. Die Bundesregierung verkündet den betroffenen Verbänden, Jahre
nachdem die Vorgänge abgeschlossen sind, ihre Erkenntnis. Meinen Sie nicht, dass man diesen Vereinen Vertrauensschutz zubilligen muss?
Herr Kollege Röttgen, die
Gesetzeslage ist leider eindeutig und mehrfach durch Beschlusslagen der obersten Finanzbehörden des Bundes
und der Länder einhellig bestätigt worden.
Es ist nicht übertrieben, von einer jahrelangen Praxis
zu sprechen. Das Berufsvormündervergütungsgesetz ist
im Januar 1999 in Kraft getreten. Das ist die Rechtslage.
Auf dieser Basis ist die Änderung entstanden. Das
Schreiben des BMF erging im September 2000. Dementsprechend hat es nicht jahrelang eine andere Besteuerungspraxis gegeben. In dem Zeitraum vor 1999 gab es
eine andere Besteuerungspraxis; für diesen Zeitraum werden vermutlich auch keine Rückforderungen erhoben.
Aufgrund der neuen Rechtslage durch das Berufsvormündervergütungsgesetz sind ab Januar 1999 Steuerforderungen für die Jahre 1999 und 2000 möglich und
nötig geworden.
Auch das von Ihnen angesprochene Gutachten von
Professor Schön ist unter europarechtlichen Gesichtspunkten durch die obersten Finanzbehörden des Bundes
und der Länder geprüft worden. Bei einer Prüfung auf
eine Bitte der Landesjustizministerkonferenz hin ist die
Finanzministerkonferenz einstimmig zu demselben Ergebnis gekommen, dass es dabei nicht um Billigkeitsmaßnahmen gehen kann.
Im Übrigen hat das BMF-Schreiben, das zur Klarheit
herausgegeben werden musste, weil es zuvor in einzelnen
Oberfinanzdirektionen der Bundesrepublik zu einer
unterschiedlichen Rechtsanwendung gekommen war,
eigentlich nur deklaratorischen Charakter; es hat lediglich
den Gesetzestext wiederholt. Offenbar ist die Gesetzesänderung in einigen Oberfinanzdirektionen der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich nicht zur Kenntnis
genommen worden. Das BMF-Schreiben - in solchen
Zweifelsfragen muss ein entsprechendes Schreiben immer ergehen - hat aber wirklich nichts anderes getan, als
den Gesetzestext zu wiederholen.
Nach allen Prüfungen - auch auf Bitte der Bundesjustizministerin hin; Sie haben Recht: Wir haben das Ganze
mehrfach geprüft - sind die obersten Behörden des Bundes und der Länder zu dem Schluss gekommen, warum
Steuerpflicht besteht. Im Berufsvormündervergütungsgesetz ist aber geregelt, dass ein zusätzlicher Ersatz in Höhe
der Umsatzsteuer erfolgt. Für die Zukunft, ab sofort sozusagen, gibt es also keinerlei Probleme.
({0})
Der zusätzliche Ersatz erfolgt. Es geht also um Forderungen für die vergangenen Jahre. Bei der Beantwortung Ihrer zweiten Frage, in der es um Billigkeitsmaßnahmen
geht, werden wir darauf vielleicht noch zurückkommen.
Zweite Zusatzfrage,
bitte sehr.
Es lohnt sich, hier
anwesend zu sein; denn Sie haben gerade offensichtlich
eine andere Rechtsauffassung als die bislang geltende
Auffassung des Hauses mitgeteilt. Sie haben ausgeführt,
dass sich die Änderung der steuerlichen Grundlagen
durch das kompliziert auszusprechende Gesetz, das Berufsvormündervergütungsgesetz, ergeben hat, das am
1. Januar 1999 in Kraft getreten ist. Wenn das so ist, dann
folgt daraus zwingend, dass jedenfalls für davor liegende
Zeiträume die Vereine nicht zur Zahlung der Umsatzsteuer herangezogen werden können; das ist die Auffassung, die Sie gerade vertreten haben. Sie werden aber bis
zum Jahr 1994 zur Zahlung der Umsatzsteuer herangezogen, sodass ich jetzt die erfreuliche Mitteilung mitnehme,
dass für die Zeit vor dem 1. Januar 1999 die Umsatzsteuerpflicht nach Auffassung des Bundesfinanzministeriums nicht besteht.
({0})
Nein, Herr Kollege
Röttgen, das können Sie daraus nicht schließen.
({0})
Der Hintergrund ist folgender: Die Umsatzsteuerbefreiung hat immer dann gegolten, wenn Betreuungsvereine eine Leistung günstiger als berufsmäßige Betreuer
erbracht haben, Herr Kollege Röttgen. Voraussetzung für
die Umsatzsteuerbefreiung in der Vergangenheit war also,
dass ein Betreuungsverein eine Leistung günstiger als ein
berufsmäßiger Betreuer erbracht hat.
Nun mag es auch schon vor dem In-Kraft-Treten des
Berufsvormündervergütungsgesetzes Betreuungsvereine
gegeben haben, die Leistungen für dasselbe Entgelt wie
berufsmäßige Betreuer erbracht haben. In diesem Fall war
schon damals deren Umsatzsteuerbefreiung nicht korrekt.
Mit dem In-Kraft-Treten des Berufsvormündervergütungsgesetzes ist völlig eindeutig, dass es eine Umsatzsteuerbefreiung nicht mehr geben kann. Im Berufsvormündervergütungsgesetz steht, dass die Leistungen der
Betreuungsvereine in derselben Höhe wie die der berufsmäßigen Betreuer vergütet werden, sodass schon von daher der Grund entfallen ist. Für die Zeit davor ist das
natürlich von der jeweiligen Höhe der Vergütung abhängig.
Nun hat der Kollege
Peter Weiß eine Zusatzfrage.
Frau
Staatssekretärin, war es denn zwingend notwendig, die
Umsatzsteuerzahlung rückwirkend bis zum Jahr 1994 zu
fordern, wenn es in Deutschland offenbar nach wie vor
eine unterschiedliche Handhabung für die einzelnen Betreuungsvereine gibt, einige Finanzämter die Forderung
bis zum Jahr 1994 rückwirkend erhoben haben, einige
Finanzämter diese Forderung nicht bis zum Jahr 1994
rückwirkend erhoben haben?
Herr Kollege Weiß, ich
vermag nicht zu beurteilen, ob es weiterhin zu einer unterschiedlichen Behandlung der Betreuungsvereine in der
Bundesrepublik Deutschland kommt. Sie sehen hieran,
dass die Umsetzung der Steuergesetze den Ländern obliegt - das gilt auch für die anderen steuerlichen Gebiete -; infolgedessen liegt dies nicht in der Verantwortung des Bundes. Die Festsetzung für zurückliegende
Zeiträume liegt allein in der Verantwortung der Länderfinanzbehörden.
Ich rufe die Frage 4
des Kollegen Dr. Röttgen auf, auch wenn sie eigentlich
schon beantwortet ist:
Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die durch
die rückwirkende Steuerveranlagung bedingten finanziellen Belastungen die Betreuungsvereine teilweise in ihrer Existenz
gefährden, und hält sie dies vor dem Hintergrund der durch die
rückwirkende Veranlagung erzielten Steuermehreinnahmen für
vertretbar?
({0})
Herr Kollege Röttgen, es
liegt der Bundesregierung fern, Betreuungsvereine durch
die Umsatzbesteuerung in den Bankrott treiben zu wollen.
Für eine allgemeine Billigkeitsmaßnahme ist jedoch kein
Raum. Allerdings kann im Einzelfall eine Billigkeitsmaßnahme aus persönlichen Gründen - bezogen auf den Verein, also auf das Steuersubjekt - in Betracht kommen. Die
Entscheidung über derartige Billigkeitsmaßnahmen obliegt den Ländern, solange bestimmte Betragsgrenzen
nicht überschritten sind. Das dürfte hier nicht zu erwarten
sein. Eine Unbilligkeit liegt allerdings nicht vor, soweit
eine Vergütung bei den zuständigen Gerichten noch beantragt wird bzw. noch beantragt werden kann.
Zusatzfrage.
Ich möchte betonen, dass es mir bzw. uns nur um die Fälle geht, bei denen
die Kosten, die den Vereinen durch die jetzt angenommene Steuerpflichtigkeit auferlegt werden, nicht mehr an
die Justizkassen weitergeleitet werden können. Die Problematik besteht darin, dass es für die Betreuungsvereine
abgeschlossene Sachverhalte sind, die auf der Grundlage
der Steuerpraxis des jeweiligen Finanzamtes erfolgt sind.
Sie bleiben nun auf den Kosten sitzen. Genau das ist der
Fall.
Nun sagen Sie, Ihrer Auffassung nach gebe es keinen
Grund für eine allgemeine Billigkeitsregelung, für eine
allgemeine Vertrauensschutzregelung. Die Justizministerkonferenz hat das Bundesfinanzministerium bzw. den
Bundesfinanzminister im Dezember des letzten Jahres angeschrieben und angeregt, für den Fall, dass die Bundesregierung bzw. das Bundesfinanzministerium bei dieser
Rechtsauffassung bleibt, eine Gesetzesänderung zugunsten der betroffenen Vereine vorzunehmen, und zwar mindestens im Sinne einer Altfallregelung. Auch die Frau
Bundesjustizministerin hat eine solche Anregung gemacht. Welche Gründe gibt es eigentlich dafür, dass die
Bundesregierung sich dieser Anregung der Justizministerkonferenz und auch der Bundesjustizministerin widersetzt?
Herr Kollege Röttgen, die
Bundesregierung ist der Auffassung, dass persönliche Billigkeitsmaßnahmen, die durch die einzelnen Vereine beantragt werden können, durchaus geeignet sind, die Frage
zugunsten der Vereine zu regeln. Das ist natürlich von der
wirtschaftlichen Situation der Vereine abhängig. Sie werden aber im Regelfall - schon deshalb, weil ihre Aufgabenstellung so ist, wie sie ist - nicht über Vermögenswerte
verfügen, sodass Anträge auf Billigkeitsmaßnahmen, die
jeweils beim Finanzamt zu beantragen sind, sicherlich mit
Aussicht auf Erfolg gestellt werden können, allerdings
- das betone ich nochmals - in Verantwortung der Landesfinanzbehörden.
Zweite
Zusatzfrage, Kollege Röttgen.
Ist Ihnen auch nur
ein Fall bekannt, in dem es zu einer solchen individuellen
Billigkeitsregelung gekommen ist? Mir nicht. Ich frage
das, weil Sie gesagt haben, damit könne das Problem
gelöst werden. Es gab, glaube ich, nicht einen einzigen
Fall.
Ich darf Ihnen eigentlich
nicht mit einer Gegenfrage antworten, möchte es aber
dennoch tun: Ist Ihnen ein Fall bekannt, in dem eine solche Billigkeitslösung überhaupt schon beantragt worden
wäre?
Mir sind die Fälle
bekannt, in denen die Auseinandersetzung darüber, ob
Ihre Rechtsauffassung zutreffend ist, vor den Gerichten
weitergeführt wird. Ich gehe davon aus, dass man vorher
im Gespräch mit den Finanzämtern versucht hat, zu einer
Lösung zu kommen. Wir sind durch Ihre Rechtsauffassung jetzt leider veranlasst, das durch die Gerichte klären
zu lassen. Das scheint mir im Jahre 2002, ein Jahr nach
dem Jahr des Ehrenamtes, ein fatales Signal zu sein, das
hierdurch an ehrenamtliche Betreuungsvereine gesandt
wird.
Herr Kollege, ich kann Ihr
Unbehagen verstehen, möchte aber nochmals darauf hinweisen, dass dies die wirklich einvernehmliche Auslegung der obersten Finanzbehörden des Bundes und der
Länder ist. Das heißt, Auslegungsfragen, die das Steuerrecht betreffen, können wir nach der allgemeinen Staatspraxis nicht alleine klären; vielmehr entsteht die Auslegung dadurch, dass sich die obersten Finanzbehörden des
Bundes und der Länder jeweils mit den zuständigen Fachleuten zusammensetzen und dann eben 16 Ländervertreter und ein Bundesvertreter eine Auslegung vornehmen.
Sie ist in diesem Fall einvernehmlich getroffen worden.
Die Bundesregierung könnte eine abweichende Rechtsauffassung gegen die Länder wohl nicht durchsetzen. Es
dürften mindestens acht Länder nicht widersprechen, damit die Bundesregierung eine andere Auffassung durchsetzen könnte.
Eine weitere Frage, Kollege Weiß.
Frau
Staatssekretärin, können Sie mir darin zustimmen, dass
die betroffenen Betreuungsvereine es als ein bisschen billig ansehen, dass sie auf Billigkeitsmaßnahmen verwiesen
werden? Immerhin hat der Bund mit dem Betreuungsgesetz gewollt, dass diese ehrenamtlichen Vereine tätig werden. Sie werden benötigt, um das Gesetz umzusetzen.
Wäre der Bund daher nicht in der Verpflichtung, eine generelle Lösung für die Betreuungsvereine zu finden, die
sich Forderungen der Finanzämter gegenübersehen, die
sie ihrerseits nicht mehr geltend machen können?
Herr Kollege, Hintergrund
der Steuerbefreiung war ja - das habe ich Ihnen gesagt -,
dass die Vereine sehr häufig die Leistungen kostengünstiger als die Berufsbetreuer erbracht haben. Dies ist der einzige Grund dafür gewesen, dass eine Umsatzsteuerbefreiung nach EU-Recht überhaupt möglich war. Wenn jetzt
Steuernachforderungen erfolgen, dann kann das nur daran
liegen, dass die Vereine ihre Leistungen eben nicht kostengünstiger als die Berufsbetreuer angeboten haben.
Deswegen wäre ein allgemeiner Erlass auch nicht europarechtskonform; da haben Sie dann Probleme bezüglich
der Wettbewerbsgleichheit. Umsatzsteuererlasse werden
regelmäßig nur dann gewährt, wenn sie den Wettbewerb
nicht tangieren. Die Vereine haben offenbar gleich teure
Leistungen wie die Berufsbetreuer erbracht; somit durften
sie nicht weiter auf die Umsatzsteuerbefreiung vertrauen.
({0})
Nein, entschuldigen Sie, Herr Kollege Weiß. Nur eine Frage, kein
Dialog.
Deswegen bitte ich, auch
wenn das Wort traditionell „Billigkeitsmaßnahme“ heißt
- so entstehen eben Worte -, zu beachten, dass dieses
Wort nichts mit dem Wort „billig“ im üblichen Sinn zu tun
hat. Vielmehr kann die Finanzverwaltung nach dem, was
recht und billig ist, entscheiden, ob ein solcher Erlass
möglich ist. „Billig“ ist hier aber nicht im Sinne von „unwert“ zu verstehen.
Vielen
Dank, Frau Staatssekretärin Hendricks.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Die Fragen des Kollegen Rose, also die Fragen 5 und
6, sollen schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsminister Dr. Ludger Volmer zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 7 des Abgeordneten Peter
Weiß:
Wie beurteilt die Bundesregierung Berichte Russlands und der
USA, dass al-Qaida-Kämpfer sich im zu Georgien gehörenden
Pankisi-Tal aufhalten?
Herr Kollege Weiß, der Bundesregierung liegen
keine Erkenntnisse über den Aufenthalt von al-QaidaKämpfern im georgischen Pankisi-Tal vor.
Zusatzfrage, Kollege Weiß.
Herr
Staatsminister, solche Presseberichte entstehen ja nicht
ohne Anlass. Da in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vor allen Dingen auf Berichte Russlands und der
USAverwiesen wird, möchte ich fragen: Gehört vielleicht
diese Meldung in die Kategorie der Meldungen, die seitens Russlands zu regionalen Konflikten in die Welt gesetzt werden, um, zum Beispiel in Georgien, den Einfluss
Russlands zu begründen und die Tschetschenien-Frage in
einem etwas anderen Licht erscheinen zu lassen?
Wir können nicht darüber spekulieren, auf welche
Quellen sich die Zeitungen bei ihren Berichten stützen.
Wir wissen, dass die Lage in der Kaukasus-Region kompliziert ist. Deshalb wollen wir uns selber nicht an Spekulationen beteiligen.
Damit
kommen wir zur Frage 8 des Kollegen Weiß:
Gibt es erste Sondierungen oder Anfragen der georgischen Regierung bei der NATO, sich eventuell an einer Militäraktion gegen
die al-Qaida-Kämpfer und andere Terrorgruppen in Georgien zu
beteiligen?
Herr Kollege Weiß, es gibt diesbezüglich keine Sondierungen oder Anfragen der georgischen Regierung bei
der NATO.
Zusatzfrage.
Herr
Staatsminister, wie stellen Sie sich denn zu dem Bericht
in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20. Februar dieses Jahres, gemäß dem der georgische Präsident
Schewardnadse geäußert habe, dass er eine Militäraktion
zusammen mit den Amerikanern und den verbündeten
NATO-Staaten in dieser Region, nämlich dem PankisiTal, grundsätzlich nicht ausschließe?
Wenn Herr Schewardnadse das nicht ausschließt,
heißt das nicht, dass es eine konkrete Anfrage an die
NATO gibt. Diese gibt es nicht. Bekannt ist - das kann ich
bestätigen -, dass es Gespräche zwischen Georgien und
den Amerikanern über amerikanische Hilfen im Sinne
von Militärberatung gibt.
Weitere
Zusatzfrage, bitte.
Herr
Staatsminister, da die Bundesregierung, sowohl das Auswärtige Amt als auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, mehrmals
in den vergangenen Monaten ihre Kaukasus-Initiativen
vorgestellt hat, möchte ich Sie fragen: Werden diese Initiativen beinhalten, dass sich die Bundesrepublik
Deutschland auch bei der Lösung der regionalen Konflikte in Georgien verstärkt engagieren und einbringen
wird?
Es ist erklärte Politik nicht nur der Bundesregierung,
sondern der gesamten Europäischen Union, bei der Lösung der verschiedenen Konflikte im Kaukasus behilflich
zu sein. Man muss aber zwischen den Kaukasus-Konflikten, wie wir sie kennen, und der neuen Qualität, die sie erhalten könnten, falls sich al-Qaida-Kämpfer in bestimmte
Regionen des Kaukasus absetzen sollten, klar unterscheiden.
({0})
Damit
kommen wir zur Frage 9 des Kollegen Georg Janovsky:
Inwieweit kann die Bundesregierung Presseberichte - Quelle:
„Der Spiegel“, 8/2002, Seite 60 f. - bestätigen, wonach sich die
deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik auch heute
noch Schikanen und Benachteiligungen ausgesetzt sieht, und inwieweit hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
dies im Rahmen seiner jüngsten Reise nach Prag thematisiert?
Herr Kollege Janovsky, in ihrem letzten Fortschrittsbericht vom 13. November 2001 hat die EU-Kommission der Tschechischen Republik bescheinigt, Menschenrechte und Freiheiten zu achten. Mit In-Kraft-Treten
des tschechischen Minderheitengesetzes im August 2001
ist ein erster Schritt zur Umsetzung des Anti-Diskriminierungs-Acquis erfolgt. Der Rat für Nationale Minderheiten, in dem es auch zwei Vertreter der deutschen Minderheit gibt, soll die Beteiligung der Minderheiten am
politischen Entscheidungsprozess sicherstellen. Mitte
Dezember 2000 hat auch ein Ombudsmann für Bürgerrechte seine Arbeit aufgenommen. Insgesamt ist die Situation der Minderheiten, abgesehen von den Roma, laut
Fortschrittsbericht der Kommission zufriedenstellend.
Bei der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik handelt es sich um tschechische Staatsangehörige,
die der Gesetzgebung der Tschechischen Republik unterliegen. Die deutsche Minderheit in Tschechien wendet
sich daher mit ihren politischen Forderungen auf der
Grundlage der EU-Acquis-konformen tschechischen Gesetzgebung an die tschechische Regierung. Dabei geht es
vor allem um Entschädigungen für konfisziertes Eigentum, Anrechnung von in Internierungslagern verbrachter
Zeit auf die Rentenversicherung und einzelne Regelungen
des Minderheitengesetzes.
Die Bundesregierung ist über die Anliegen der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik informiert. Sie ist der Überzeugung, dass ein baldiger EU-Beitritt der Tschechischen Republik das beste Mittel ist, um
den Minderheitenschutz noch tiefer zu verankern. Die
jüngste Reise des Bundesministers des Auswärtigen hatte
zum Ziel, diesen baldigen Beitritt zu unterstützen.
Zusatzfrage, Herr Janovsky?
Herr Staatsminister,
hat die Bundesregierung, Bezug nehmend auf den
deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag, in dieser
Frage Aktivitäten entwickelt?
Die Bundesregierung spricht diese Fragen bei ihren
Treffen mit dem jeweiligen tschechischen Gegenüber regelmäßig an. Allerdings weisen die Vertreter der deutschen Minderheit in Tschechien darauf hin, dass sie als
tschechische Staatsbürger ihre Anliegen der tschechischen Regierung gegenüber selber darstellen wollen.
Damit
kommen wir zur Frage 10 des Kollegen Georg Janovsky:
Was gedenkt die Bundesregierung zur Wahrung oder Verbesserung der Rechte der deutschen Minderheit in der Tschechischen
Republik zu unternehmen und inwieweit hält sie vor dem Hintergrund von Presseberichten - „Der Spiegel“, 8/2002, Seite 60 f. an ihrer bisherigen Auffassung fest, die Benes-Dekrete seien in ihrer Wirkung erloschen?
Herr Kollege, die die deutsche Minderheit in der
Tschechischen Republik bewegenden Anliegen richten
sich an das dortige Parlament bzw. die dortige Regierung.
Die Bundesregierung nimmt im Übrigen die von Vertretern der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik wiederholt geäußerte Auffassung zur Kenntnis,
dass es sich bei Problemen der deutschen Minderheit in
der Tschechischen Republik um eine Angelegenheit zwischen der deutschen Minderheit und dem tschechischen
Staat handele.
Im Übrigen hat die Bundesregierung, wie alle ihre Vorgängerinnen, die Vertreibung der Deutschen und die entschädigungslose Enteignung deutschen Vermögens durch
die so genannten Benes-Dekrete immer als völkerrechtliches Unrecht betrachtet. Die tschechische Regierung vertritt hierzu eine andere Rechtsauffassung. In der DeutschTschechischen Erklärung von 1997, die in all ihren
Elementen die Grundlage für die deutsch-tschechischen
Beziehungen darstellt, sind beide Seiten übereingekommen, ihre Beziehungen zukunftsgerichtet fortzuentwickeln und nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen zu belasten. Im
Zusammenhang damit erklärte die tschechische Seite im
März 1999, dass die Benes-Dekrete heute keine Wirkung
mehr entfalten würden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Janovsky?
Wenn ich den Zeitungsartikel richtig sehe, dann haben diese Dekrete doch
eine Wirkung.
Aber, Herr Staatsminister, ich möchte Sie fragen: Ist
Ihrer Antwort zu entnehmen, dass sich die deutsche Minderheit nie an die deutsche Bundesregierung gewandt hat?
Die deutsche Minderheit in Tschechien ist der Auffassung, dass die Fragen, die sie zu klären hat, keine bilateralen Probleme zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik darstellen, sondern
dass dies innenpolitische Angelegenheiten der Tschechischen Republik sind, die die deutsche Minderheit mit der
Regierung bzw. dem Parlament selber klären möchte.
Allerdings gilt: Die Bundesregierung ist über die Anliegen der Minderheit informiert und spricht sie ihrerseits
im Rahmen der laufenden Konsultationen mit der tschechischen Seite immer wieder einmal an.
Damit
kommen wir zur Frage 11 des Kollegen Hartmut
Koschyk:
Aufgrund welcher gegenüber dem Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, bei dessen Besuch in Prag abgegebenen
Erklärungen des tschechischen Ministerpräsidenten, Milos
Zeman, hält der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
die Irritationen im deutsch-tschechischen Verhältnis für ausgeräumt ({0}), die nach den Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten, Milos Zeman, in der österreichischen Zeitschrift „Profil“, in der israelischen Zeitung „Haaretz“ sowie im tschechischen
Programm der BBC entstanden sind?
Der tschechische Ministerpräsident Zeman hat sich,
abgesehen von den bereits vorher in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 10. Februar 2002 - „Es
gibt keine kollektive Schuld, weder für Tschechen noch
für Deutsche“ - und im „Fokus“ vom 11. Februar 2002 „Außerdem habe ich nie ein Wort über Kollektivschuld
der Sudetendeutschen verloren“ bzw. „Ich verurteile die
Exzesse während der Vertreibung sehr“ - gegebenen Interviews, auch im Gespräch mit Bundesaußenminister
Fischer am 20. Februar 2002 in Prag von Kollektivschuldthesen ausdrücklich distanziert.
Zeman bekräftigte bei dem Treffen, er habe sich nie für
die Vertreibung der Sudetendeutschen und der Palästinenser ausgesprochen. Darüber hinaus bestätigte Ministerpräsident Zeman, dass die tschechische Regierung die
Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997 weiterhin als
entscheidende Grundlage der zukunftsgerichteten Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen Beziehung sieht.
Darin bedauert die tschechische Seite, dass durch die nach
Kriegsende erfolgte Vertreibung unschuldigen Menschen
viel Leid und Unrecht zugefügt wurde - auch aufgrund
des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung.
Zusatzfrage, Herr Koschyk.
Herr Staatssekretär,
die israelische Zeitung „Haaretz“ bleibt bei der Auffassung - davon gibt es auch Tondokumente -, dass der
tschechische Ministerpräsident die auch international auf
große Kritik und Ablehnung gestoßenen Äußerungen gemacht habe. Das hat schon zu einer Ausladung vonseiten
Ägyptens geführt.
Zweitens gibt es neben diesen skandalösen Äußerungen in der Zeitung „Haaretz“ noch ein Interview in dem
tschechischsprachigen Teil von BBC, das auch in der
tschechischen Republik öffentlich bekannt geworden ist.
Zu dieser Angelegenheit gibt es ein parlamentarisches
Nachspiel. Kann aufgrund der Tatsache, dass die Frage,
ob diese Äußerungen wirklich so gemacht worden sind,
nach wie vor ungeklärt ist, die Bundesregierung mit den
Aussagen des tschechischen Ministerpräsidenten wirklich
zufrieden sein?
Die Bundesregierung hat ebenso wie die Europäische Union die damals zitierten Äußerungen von Herrn
Zeman sehr eindeutig kommentiert. Der Bundesaußenminister hat bei seinem jüngsten Besuch in Prag diesen
Punkt noch einmal deutlich angesprochen, weil dadurch
nämlich der Gesamtkomplex berührt wird, ob die Tschechische Republik als EU-Beitrittskandidat den europäischen Acquis auch in Sachen Außenpolitik mitträgt.
Der Bundesaußenminister kam zu der Überzeugung,
dass nach den Erklärungen von Herrn Zeman diese Probleme ausgeräumt seien. Die tschechische Seite steht eindeutig zum europäischen Acquis in Sachen Außenpolitik.
Weitere
Zusatzfrage.
Wenn nach Auffassung der Bundesregierung diese Irritationen, die durch die
Äußerungen entstanden sind, ausgeräumt sind, bedeutet
dies dann, dass die geplante Reise des Bundeskanzlers
nach Prag stattfinden wird?
Der Bundeskanzler wird zu gegebener Zeit über den
Termin und den Inhalt einer solchen Reise entscheiden.
Wir kommen zur Frage 12 des Kollegen Hartmut Koschyk:
Wie bewertet die Bundesregierung die Auffassung des tschechischen Außenministers Jan Kavan: „Wir können die Dekrete
[gemeint sind die Benes-Dekrete] für uns nicht als Unrecht empfinden“ ({0}),
und hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
diese Auffassung der Bundesregierung der tschechischen Regierung beim Besuch in Prag dargelegt?
Die Bundesregierung hat - wie alle ihre Vorgängerinnen - die Vertreibung von Deutschen und die Einziehung deutscher Vermögen aufgrund der Benes-Dekrete
immer für völkerrechtliches Unrecht gehalten. Bundesaußenminister Fischer hat die deutsche Position in seinen
Gesprächen und vor der Presse klar zum Ausdruck gebracht. Der tschechischen Regierung, die dazu eine andere Rechtsauffassung vertritt, ist die deutsche Haltung
bekannt. Die Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997
hält die unterschiedlichen Rechtsauffassungen schriftlich
fest. Dort heißt es, dass „jede Seite ihrer Rechtsordnung
verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite
eine andere Rechtsauffassung hat“.
Gleichzeitig sind in der Erklärung von 1997 beide Seiten übereingekommen, ihre Beziehungen zukunftsgerichtet fortzuentwickeln und nicht mit aus der Vergangenheit
herrührenden rechtlichen und politischen Fragen zu belasten. In diesem Zusammenhang bezeichnet auch der
tschechische Außenminister in seinem Interview in der
„Sächsischen Zeitung“ vom 18. Februar 2002 die BenesDekrete als „erloschen“.
Ihre Zusatzfrage bitte.
Herr Staatsminister,
wie bewertet die Bundesregierung dann vor diesem Hintergrund die Forderung des tschechischen Parlamentspräsidenten Vaclav Klaus, die fortdauernde Gültigkeit der
Benes-Dekrete durch eine Sonderklausel im tschechischen EU-Beitrittsvertrag zu verankern?
Der Bundesaußenminister hat bei seinem jüngsten
Besuch in Prag mit aller Entschiedenheit öffentlich deutlich gemacht, dass er der Meinung ist, dass bilaterale Fragen, die das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland
und der Tschechischen Republik berühren, bilaterale Fragen bleiben sollen und nicht europäische Fragen werden
dürfen. Beitrittsverhandlungen sollen weder durch das
eine noch durch das andere strittige Einzelthema belastet
werden. Die Bundesregierung hat großes Interesse daran,
dass der Beitrittsprozess zügig vorangeht. Wir hoffen darauf, dass manche Dinge, die heute streitig sind, auf der
Basis einer vollzogenen EU-Mitgliedschaft vielleicht
leichter zu lösen sein werden.
Bitte,
Herr Koschyk.
Herr Staatsminister,
wie kann die Bundesregierung eigentlich zu der Auffassung gelangen, dass es sich hier um eine deutsch-tschechische, also bilaterale Frage handelt, nachdem das Europäische Parlament im Zusammenhang mit Berichten über
den Fortschritt des tschechischen EU-Beitritts zweimal in
einer Entschließung die Obsoleterklärung dieser Dekrete
gefordert hat und nachdem dies auch eine Forderung des
ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban gewesen
ist, der formuliert hat, dass sowohl die Tschechische Republik als auch die Slowakische Republik diese Dekrete
annullieren sollten, da diese dem Geist sowie dem konkreten Regelwerk der EU widersprächen?
Wenn sich die Europäische Union mit Einzelfragen,
die zwischen zwei Ländern von Belang sind, befasst, dann
ist das nicht nur ihr Recht, sondern auch gut. Aber daraus
darf dann kein Junktim in Bezug auf Beitrittsverhandlungen gemacht werden.
Vielen
Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Gerd
Andres zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Dirk Niebel auf:
Was hat der Richter im Vergabesenat des Oberlandesgerichts
Düsseldorf nach Kenntnis der Bundesregierung zur Rechtmäßigkeit des Vertrages mit der Firma efp zur Abwicklung der EU-Fördermittel EQUAL gesagt, und wie wird die Bundesregierung darauf reagieren?
Herr Niebel, wenn Sie
einverstanden wären, würde ich gerne die Fragen 13 und
14 gemeinsam beantworten.
({0})
Herr Präsident, sind auch Sie einverstanden?
Ja, natürlich. Dann rufe ich auch die Frage 14 des Abgeordneten
Dirk Niebel auf:
Welche Verwendung hat die Bundesregierung inzwischen für
den für das Vergabeverfahren zuständigen Referatsleiter gefunden
und wie wirkt sie sich auf das Disziplinarverfahren aus?
Ich beantworte Ihre Fragen wie folgt: Nach vorläufiger Einschätzung des Vergabesenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf, die der
Vorsitzende der mündlichen Verhandlung vom 20. Februar 2002 geäußert hat, sind die Verträge vom 15. Juni
2001 und vom 22. August 2002 betreffend die Umsetzung
der Technischen Hilfe für die Gemeinschaftsinitiative
EQUAL nichtig.
Das Bundesarbeitsministerium hatte die Verträge bereits Ende letzten Jahres im Rahmen der vertraglich vereinbarten Kündigungsfristen mit Wirkung zum 30. Juni
2002 vorsorglich gekündigt. Unmittelbar nach der Kündigung übernahm das BMA die Durchführung hoheitlicher
Aufgaben. So hat das Referat insbesondere circa 100 Zuwendungsbescheide in eigener Verantwortung erlassen.
Auf Anraten der mit seiner Vertretung beauftragten
Rechtsanwaltskanzlei hat das BMA im Anschluss an die
mündliche Verhandlung die Firma efp mit sofortiger Wirkung von der Wahrnehmung weiterer Aufgaben im
Zusammenhang mit dem Programm EQUAL entbunden.
Die Technische Hilfe für die Gemeinschaftsinitiative
EQUAL wird nunmehr insgesamt vom BMA selbst
durchgeführt. Der zuständige Referatsleiter ist - mit seinem Einverständnis - mit einem Sonderauftrag beauftragt
worden. Auf das Disziplinarverfahren hat dies keine Auswirkungen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Niebel.
Herr Staatssekretär, Sie haben
eben festgestellt, dass der Vergabesenat davon ausgeht,
dass die Verträge nichtig sind oder nichtig sein werden. Im
„Stern“ Nr. 5/2002 wurde in einem Artikel mit der ÜberStaatsminister Dr. Ludger Volmer
schrift „Riester-Affäre - Jetzt wird‘s teuer“ nicht nur darauf hingewiesen, dass der Arbeitsminister persönlich den
Zuschlag an die Firma efp gegeben hat, sondern dass auch
in einer Protokollniederschrift einer Sitzung vom 6. Juni
2001 steht, dass der mittlerweile in den einstweiligen Ruhestand versetzte Staatssekretär Werner Tegtmeier gewarnt haben soll und auf die politischen und juristischen
Risiken hingewiesen hat. Können Sie mir sagen, weshalb
diese Warnung bei der Entscheidung des Ministers nicht
berücksichtigt worden ist?
Herr Abgeordneter
Niebel, wie Sie aus mehreren Beratungssitzungen sowohl
des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung als auch
des Haushaltsausschusses wissen, war Entscheidungsgrundlage für die Leitung und für den Minister eine Vorlage, die uns das zuständige Referat und die zuständige
Abteilung zugeleitet haben. In dieser Vorlage wurde empfohlen, dass man öffentlich-rechtlich beleihen und die
Firma efp beauftragen solle. Das haben wir getan. Zu allen weiteren Fragen gibt es umfangreiche Berichte und
Vorlagen. Ich weiß im Moment nicht, was in dem Artikel
des „Stern“ steht, den Sie zitiert haben. Ich will ihn daher
auch nicht kommentieren.
Eine
Nachfrage, Herr Abgeordneter Niebel.
Herr Staatssekretär, Sie haben
eben auf Frage 14 geantwortet, dass der zuständige Referatsleiter mit einer Sonderaufgabe betraut worden ist. Er
war es ja, der die Vorlage für den Herrn Minister erarbeitet hat. Können Sie diese Sonderaufgabe genauer definieren?
Herr Abgeordneter
Niebel, das Problem besteht darin, dass Herr Brüss, der
zuständige Referatsleiter, innerhalb des Hauses umgesetzt
worden ist und mit anderen Aufgaben betraut wurde. Das
ist im Hinblick auf die Vorschriften des Beamtenrechts
eine vernünftige Vorgehensweise. Sie wissen, dass gegenwärtig ein Disziplinarverfahren läuft. Sie wissen
ebenfalls, dass es sowohl in Bezug auf den Unterabteilungsleiter als auch den Abteilungsleiter, die dafür zuständig waren, eine Veränderung gegeben hat: Der eine ist
in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden; der andere ist mit einer anderen Aufgabe betraut worden. Über
die Sonderaufgabe des Herrn Brüss kann ich Ihnen gegenwärtig nichts sagen.
Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen andere Fälle bekannt - vielleicht auch aus der Zeit, als wir
noch regiert haben -, dass Verträge des Bundesarbeitsministeriums von Gerichten als nichtig bezeichnet und aufgehoben wurden?
Nein, dazu ist mir gegenwärtig nichts bekannt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Bisher gingen Vertreter des Bundesarbeitsministeriums auch in den Ausschussberatungen
davon aus, dass Schadenersatzansprüche nicht entstehen
können. Mir ist bekannt geworden, dass einer der Gründe
für die Nichtigkeit der Beleihung die fehlende Zustimmung der Firma BBJ sein soll; das ist die Firma, die in
dem aufgehobenen Ausschreibungsverfahren nicht zum
Zuge gekommen ist. Ist nach der mündlichen Verhandlung mit Schadenersatzforderungen dieses Mitbewerbers
zu rechnen und welcher Schaden ist durch die nichtige
Beauftragung der Firma efp der Bundesrepublik Deutschland bisher entstanden?
Herr Abgeordneter
Niebel, Sie wissen, dass es sich um eine mündliche Verhandlung handelte. Ich bitte um Verständnis dafür, dass
wir die schriftliche Begründung des Gerichts abwarten
wollen. Dann kann man weitere Fragen beantworten.
({0})
Vielen
Dank. - Ich rufe jetzt die Frage 15 des Kollegen
Dr. Heinrich Kolb auf:
Plant die Bundesregierung eine Initiative, um nach dem Urteil
des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 2. November 2001 ({0}) die Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen auf nicht zugeflossene Arbeitsentgelte ({1}) auf einen Zeitraum bis zum 31. März 2000 zu begrenzen?
Herr Abgeordneter
Kolb, ich möchte gern Ihre beiden Fragen im Zusammenhang beantworten, wenn Sie damit einverstanden sind.
({0})
Dann rufe
ich auch noch die Frage 16 auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung darüber hinaus im Wege
der Änderung des § 14 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch
({0}) oder einer Verordnung nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV,
bei der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge das so genannte Zuflussprinzip aus dem Steuerrecht zugrunde zu legen?
Die Antwort auf die
Frage 15 lautet: Nein.
Zur Frage 16: Der Ausgang der bereits laufenden Gerichtsverfahren, die hinsichtlich des Vertrauensschutzes
zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind, muss
abgewartet werden. Ein adäquater Schuldnerschutz ist,
wie bei jeder Beitragsforderung, gesetzlich vorgesehen.
Er kann bis zum Erlass der Forderungen gehen. Die Bundesregierung verkennt nicht, dass es Gründe dafür geben
kann, die steuer- und beitragsrechtliche Behandlung von
Einkünften zu vereinheitlichen. Der bei der Einführung
des Sozialgesetzbuches zugrunde gelegte Übergang zum
Entstehungsprinzip ist aber jahrzehntelang im Wesentlichen unbeanstandet geblieben. Er hat den Versicherten in
der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechende Vorteile gebracht. Im Übrigen hält auch das von Ihnen in der
Frage 15 genannte Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen das Entstehungsprinzip für gerechtfertigt. Die Rentenversicherungsträger stützen sich auf eine gefestigte
Rechtsprechung und ziehen aus den anerkannten Rechtsfolgen allgemein verbindlicher Tarifverträge die Konsequenzen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kolb.
Herr Staatssekretär, ich
möchte Sie fragen: Darf ich davon ausgehen, dass der Bundesregierung bekannt ist, dass in einer Vielzahl von Fällen
- es sind nicht nur Einzelfälle - die Praxis der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, seit 1999 bei Prüfungen
das Entstehungsprinzip durchzusetzen, zu existenzbedrohenden Nachforderungen in der Größenordnung fünfund sechsstelliger Beträge geführt hat? Wenn Ihnen das
bekannt ist: Haben Sie genauere Zahlen über die Zahl der
hierbei aufgeworfenen Fälle?
Uns ist der Tatbestand
bekannt. Ich habe gegenwärtig keine Unterlagen über das
Ausmaß der Fälle. Aber ich habe in meinen Ausführungen
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man Stundungen
vornehmen kann. Zu Ihrer Frage kann ich nur sagen, dass
die Rentenversicherungsträger aufgrund bestehender Gesetze und aufgrund bestehender Grundlagen, die sich, wie
ich es ausgeführt habe, bewährt haben, prüfen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie
haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es bis 1977 eine
einheitliche Bemessungsgrundlage für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gab und in der Folge diese Einheitlichkeit aufgegeben wurde. Gleichwohl hatte das Entstehungsprinzip bis ins Jahr 1999 keinen Einfluss auf die
tatsächliche Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen.
Welche konkreten Gründe gibt es aus Ihrer Sicht, eine solche Veränderung der Veranlagungspraxis vorzunehmen?
Das Prinzip ist schon etwas älter. Bei der Überprüfungspraxis ist, wie Sie wissen,
ein Wechsel von den Krankenversicherungen hin zu den
Rentenversicherungsträgern als den entsprechenden Stellen vollzogen worden.
Ich vermute - gefestigte Erkenntnisse habe ich darüber
nicht -, dass die Rentenversicherungsträger in einer anderen Art und Weise darauf achten, dass ihnen und anderen zustehende Beiträge erhoben werden. Wenn der Tatbestand so ist, dass bei allgemein verbindlich erklärten
Tarifverträgen bestimmte Zahlungen erfolgen könnten,
aber tatsächlich nicht erfolgen, dann wird das Entstehungsprinzip zugrunde gelegt, um dafür die entsprechenden Beitragszahlungen erheben und eintreiben zu können.
Das ist zumindest für mich der wesentliche Grund.
Bei der anderen Frage habe ich bereits deutlich gemacht, dass in diesem Zusammenhang eine Reihe von Gerichtsverfahren laufen. Das Sozialgericht Gelsenkirchen
hat sich zu der Prinzipienfrage in keiner Weise negativ
geäußert. Im Gegenteil: Es hält es für richtig. Ich finde,
wir müssen uns ein Stück weit anschauen, wie sich die
Rechtsprechung in diesem Zusammenhang entwickelt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wir
haben die Parallelität der Bemessungsgrundlagen bei
der steuerlichen Veranlagung und der Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge. Das eine wird nach dem Zuflussprinzip, das andere nach dem Entstehungsprinzip gehandhabt. Sie haben gesagt: Eine Vereinheitlichung wäre
wünschenswert. Kann man definitiv ausschließen, dass
die Bundesregierung eine Vereinheitlichung derart plant,
dass zukünftig auch für steuerliche Zwecke das Entstehungsprinzip gelten soll?
Da Sie wissen, dass hier
ganz unterschiedliche Ressorts zu beteiligen sind, werde
ich mich hüten, hierzu eine verbindliche Aussage zu treffen. Gegenwärtig kann ich das gar nicht. Ob man das vereinheitlicht, muss man sehen. Ich bitte um Verständnis:
Ich glaube nicht, dass dies, ähnlich wie andere Fragen,
noch in dieser Legislaturperiode entschieden wird.
Die letzte
Zusatzfrage.
Aber, Herr Staatssekretär, Sie würden nicht gänzlich ausschließen - das fällt in
Ihre unmittelbare Ressortverantwortung -, dass es bei den
Sozialversicherungsbeiträgen wieder eine Abkehr vom
Entstehungsprinzip geben und zukünftig eine Veranlagung zur Sozialversicherung nach dem Zuflussprinzip
stattfinden wird?
Ich habe schon deutlich
gemacht, dass wir uns die weitere Entwicklung der Rechtsprechung sehr genau anschauen. Gegenwärtig laufen
eine ganze Anzahl von Verfahren. Daraus muss man die
entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. Ich möchte
es nicht ausschließen.
Die Zeit
für die Fragestunde ist abgelaufen. Die nicht aufgerufenen
Fragen werden wie immer schriftlich beantwortet.
Gemäß I 1 b der Richtlinien für Aussprachen zu Themen von allgemeinem aktuellen Interesse hat die
CDU/CSU-Fraktion im Zusammenhang mit den Antworten der Bundesregierung auf die dringliche Frage 1 eine
Aktuelle Stunde beantragt. Diese ist, wie Sie wissen, unmittelbar nach der Fragestunde durchzuführen.
Ich rufe daher auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zum Vorschlag
des Bundesarbeitsministers, 1,2 Millionen Arbeitslose aus der Arbeitslosenstatistik herauszurechnen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Begründung
hat der Kollege Andreas Storm von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man kann nur sagen: Auf frischer Tat ertappt!
({0})
Der Arbeitsminister wirkt mit seinem peinlichen Rückzieher - er muss seine Pläne wieder in der Schublade verstecken - wie ein Dieb auf leisen Sohlen.
({1})
Die ursprünglich geplante Herausnahme von 1,2 Millionen Arbeitslosen aus der Statistik ist ein dreister Versuch, vom eigenen arbeitsmarktpolitischen Versagen abzulenken.
({2})
Die Zielmarke von 3,5 Millionen Arbeitslosen wird weit
verfehlt.
({3})
Seit 15 Monaten steigt die Arbeitslosigkeit in unserem
Land saisonbereinigt an. Nach der übereinstimmenden
Meinung der Experten werden wir in diesem Jahr einen
Schnitt von mehr als 4 Millionen Arbeitslosen haben. Ihre
Pläne zur Änderung der Arbeitslosenstatistik machen einmal mehr deutlich: Tricksereien und Täuschungsmanöver
sind hervorstechende Merkmale der Amtszeit von Walter
Riester.
({4})
Ich nenne zwei Beispiele: Erstens. Die 630-Mark-Jobs
wurden in der Beschäftigungsstatistik berücksichtigt. Der
angebliche massive Beschäftigungszuwachs erweist sich
bei Lichte betrachtet in der Substanz als statistischer Taschenspielertrick.
Zweitens nenne ich die Rentenreform.
({5})
Durch Ihre Neudefinition des Rentenniveaus wird das im
Rentenbericht der Bundesregierung ausgewiesene Rentenniveau im Jahre 2015 trotz der von der Koalition eingestandenen deutlichen Leistungskürzungen nach der Reform höher sein als vorher. Auch hier haben Sie
manipuliert, dass die Heide wackelt.
({6})
Der jüngste Sündenfall ist der aktuelle Versuch zur Manipulation der Arbeitslosenstatistik.
({7})
Der Unterschied zu den Erkenntnissen bei der Arbeitsvermittlung liegt klar auf der Hand. Vor einigen Wochen hat
es erste Erkenntnisse über die Fehler und Mängel in der
Vermittlungsstatistik gegeben. Die Struktur der Arbeitslosigkeit und die Motivation der Arbeitslosen sind seit Jahren bekannt. Auch die Infas-Studie bringt keine neuen Erkenntnisse. Wenn Sie hier etwas ändern wollten, dann
hätten Sie am Beginn der Wahlperiode Änderungen erwägen müssen.
({8})
Es ist dreist, die Statistik ein halbes Jahr vor einer Bundestagswahl um 1,2 Millionen Personen reduzieren zu
wollen.
({9})
Worum geht es in der Substanz? Es geht darum - das
zeigt auch die Infas-Studie -, dass mehr als die Hälfte dieser 1,2 Millionen Personen wegen ihres Alters kaum
Chancen haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Eine ehrliche Antwort der Bundesregierung wäre es, zu sagen, dass
sie diesen keine realistische Chance gibt und dass sie sie
aus der Statistik heraus haben will.
Bringen Sie im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf für ein massives Frühverrentungsprogramm ein!
({10})
Dann wäre klar, dass 600 000 Menschen über 58 Jahre
aus der Arbeitslosenstatistik herausfielen, da sie frühverrentet würden. Jeder würde Ihnen sagen, dass das absurd
ist. Das würde die Rentenkassen an die Wand fahren. Also
machen Sie einen Trick. Sie sagen, dass Sie die Frühverrentung faktisch durchführen. Die Leute sollen sich zwar
arbeitslos melden, Sie betrachten sie aber nicht als Arbeitslose und nehmen sie aus der Statistik heraus. Das ist
ein fatales gesellschaftspolitisches Signal,
({11})
weil die Bundesregierung damit deutlich macht, dass sie
keine Chancen mehr für die älteren Arbeitnehmer sieht,
wieder einen Arbeitsplatz zu finden.
({12})
Die Infas-Studie, die vom Arbeitsministerium zur Begründung herangezogen wurde, macht im Hinblick auf
die Gruppe von über 600 000 älteren Menschen deutlich
- ich zitiere -:
Nicht übersehen sollte man aber, dass es auch unter
den Personen, die angeben, in Rente zu wechseln,
durchaus auch Fälle gibt, die im Grunde gerne noch
länger gearbeitet hätten und dies eventuell auch aus
finanziellen Gründen nötig hätten.
Die Studie kommt hier zu folgendem Ergebnis:
Hier ist dann wohl eher Resignation in Bezug auf die
eigenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt der eigentliche Auslöser für den Übergang in Rente.
({13})
Es ist deutlich, dass diese Menschen einen Arbeitsplatz
suchen. Die Botschaft der Politik kann doch nicht lauten,
dass sie nicht mehr glaubt, dass ein über 58-jähriger Arbeitsloser eine Chance hat und er deswegen aus der Arbeitslosenstatistik herausgenommen wird.
Die Begründung für den beabsichtigten Manipulationsversuch war, man brauche eine aussagekräftigere und
transparentere Statistik. Das kann nur zwei Konsequenzen haben: Entweder Sie gestehen ein, dass Sie den Älteren die Chance nicht geben, oder Sie müssten im Gegenzug die 1,7 Millionen verdeckt Arbeitslosen statistisch
erfassen, so wie es Professor Rürup vorgestern in der
Presse dargestellt hat. Dann wäre die Arbeitslosenzahl
nicht bei 4,3 Millionen, sondern bei nahezu 6 Millionen.
({14})
Die Abschiebung älterer Arbeitsloser in das statistische
Niemandsland ist eine Bankrotterklärung der rot-grünen
Bundesregierung. Diese Bundesregierung - nicht die älteren Arbeitslosen - gehört aus der Statistik gestrichen
und in den Vorruhestand geschickt.
({15})
- Der Arbeitsminister ist reif für die Riesterrente.
({16})
Für die
Bundesregierung spricht der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung
hat nicht die Absicht, in dieser Legislaturperiode die Arbeitsmarktstatistik zu ändern.
({0})
Die Bundesregierung hat deswegen nicht die Absicht, die
Arbeitslosenstatisktik zu ändern, weil sie davon ausgeht,
dass sich im Frühjahr die Arbeitsmarktzahlen im Zuge der
wirtschaftlichen Besserung positiv verändern werden.
({1})
Sie hat nicht die Absicht, diese positive Arbeitsmarktentwicklung durch die rechte Seite des Hauses oder durch
eine öffentliche Diskussion, man habe die Statistik manipuliert, diffamieren zu lassen.
({2})
Ich sage ganz offen: Damit ist der Anlass für diese Aktuelle Stunde, die jetzt abgezogen wird, entfallen.
({3})
Dass Sie, nachdem wir eine Stunde in der Fragestunde darüber diskutiert haben, noch nicht einmal die Größe aufbringen, das auch zuzugeben, wirft ein bezeichnendes
Licht auf Sie.
({4})
Herr Storm, ich will Ihnen etwas sagen - ich sage das
ganz offen -: Dass Sie sich nicht schämen, hier in dieser
Art und Weise aufzutreten! Das nenne ich „auf frischer Tat
ertappt“. In Ihrer Regierungszeit haben Sie die Statistik
zehnmal verändert bzw. manipuliert. Damit das völlig
klar ist.
({5})
Das Thema der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde
lautet: Haltung der Bundesregierung zum Vorschlag des
Bundesarbeitsministers, 1,2 Millionen Arbeitslose aus der
Statistik herauszurechnen. Damit klar ist: Einen solchen
Vorschlag, 1,2 Millionen Arbeitslose aus der Statistik zu
streichen, hat es vom Bundesarbeitsminister überhaupt
nicht gegeben.
({6})
Damit ist der Titel Ihrer Aktuellen Stunde schon eine Unterstellung und Unwahrheit.
({7})
Damit wir wissen, worüber wir reden, Herr Storm: In
vielen Zeitungen ist das geflügelte Wort „Ich glaube nur
der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, zu lesen. Fassen Sie sich einmal angesichts Ihrer eigenen Formulierung an die Nasenspitze; ich empfehle Ihnen das sehr.
Schon am letzten Donnerstag ist mir bei der Debatte über
den Jahreswirtschaftsbericht aufgefallen, dass der Fraktionsvorsitzende der Union, Herr Merz, sehr feinsinnig
über die Arbeitsmarktzahlen geredet hat.
({8})
Es war interessant, über welche Arbeitsmarktzahlen er gesprochen hat.
Sie haben das auch wieder gemacht und weil Sie jetzt
grinsen, wissen Sie genau, was Sie gemacht haben. Sie
haben nämlich von saisonbereinigten Arbeitsmarktzahlen gesprochen. Das drückt etwas ganz Einfaches aus: Jeder benutzt in der politischen Auseinandersetzung das,
was er jeweils gebrauchen kann. Das, was dabei unter
den Schlitten gerät, widert mich an. Wenn man mit den
Fachleuten untereinander redet, sind sich viele darüber
einig, dass man bestimmte Veränderungen wahrnehmen
müsste, die rechtlichen Grundlagen dem aber entgegenstehen. Ein ehrlicher Umgang mit den Tatbeständen wird
dann dem jeweiligen taktischen und tagespolitischen
Kalkül geopfert. Da Sie das wissen und sich so verhalten,
haben Sie überhaupt keine Berechtigung, hier „Haltet
den Dieb!“ oder „Auf frischer Tat ertappt!“ zu rufen. Fassen Sie sich an die eigene Nase; damit haben Sie genug
zu tun.
({9})
Ich habe kein Problem, Herr Storm, mit Ihnen über Arbeitsmarktzahlen zu reden. Herzlichen Glückwunsch
kann ich da nur sagen. Wir hatten in diesem Januar - das
kann man öffentlich nur wiederholen - 4,29 Millionen registrierte arbeitslose Menschen. Sie hatten im Januar Ihres letzten Regierungsjahres - nicht saisonbereinigt, sondern real gezählt und bei den Arbeitsämtern gemeldet 4,82 Millionen arbeitslose Menschen.
({10})
- Quaken Sie doch nicht dazwischen! - Im Februar sind
Ihre Zahlen gesunken. Herr Storm, damit wir hier Tacheles reden: Wissen Sie, warum die Zahlen gesunken sind?
Das können Sie nachrechnen. Dazu lege ich Ihnen jede
Statistik auf den Tisch. Weil Sie die Leute ein ganzes Jahr
lang in ABM, SAM und in Qualifizierung geschoben haben.
({11})
Dass Sie sich nicht schämen, hier so aufzutreten und eine
solche Debatte zu führen, halte ich für unglaublich.
({12})
Das werden wir auch öffentlich darstellen.
({13})
Es ist widerlich, wie hier immer die gleichen Debatten
wiederholt werden und wie versucht wird, mit getürkten
Tatbeständen Politik zu machen.
Damit wir über noch etwas ganz klare Kante haben
- ich will überhaupt nicht daran vorbeireden; denn ich
kann es nicht mehr hören -: In dem Zweistufenkonzept
der Bundesregierung steht - Herr Storm, damit wir uns da
nicht falsch verstehen -, dass die Vermittlungsstatistik
korrigiert und verändert werden muss. Auch dazu muss
man sagen: Die Fachleute, die ernsthaft miteinander diskutieren - und nicht so, wie Sie es eben hier windig vorgetragen haben -, wissen ganz genau, dass dies die erste
Untersuchung des Bundesrechnungshofes war. In der
Zwischenzeit hat die Arbeitsverwaltung 15 Arbeitsämter
entsprechend kontrolliert. Wir haben kein Interesse daran,
mit irgendwelchen getürkten Statistiken zu arbeiten und
mit irgendwelchen falschen Tatsachen umzugehen, sondern wir brauchen Zahlen über die real durchgeführten
Vermittlungen in diesem Land.
({14})
Deswegen wird etwas ganz Einfaches passieren - wir
sind sehr gelassen und sprechen uns nach dem 22. September wieder; ich gratuliere Ihnen schon jetzt herzlich;
das Ergebnis kann ich Ihnen heute schon vorhersagen -:
({15})
Wir werden das Problem zielstrebig und vernünftig lösen,
aber nicht mit dem Unsinn, den Sie hier abziehen, Herr
von Klaeden. In der Fragestunde hatte ich Ihnen als Antwort auf Ihre erste Frage schon gesagt: Schenken Sie sich
Ihre Aktuelle Stunde, das ist nur Wind vor der Hoftür. Die
Bundesanstalt wird die Vermittlungsstatistik ändern. Wir
werden uns mit der Infas-Untersuchung befassen. Wir
werden die angekündigte Kommission installieren. Das
können nicht Sie machen, wir machen das. Die Kommission wird darüber diskutieren und dann werden die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen. Wir haben kein
Interesse an Luftbuchungen. Wir haben ein Interesse daran, mit den realen Tatbeständen in diesem Lande umzugehen.
({16})
- Hören Sie auf mit „Flucht nach vorn“.
Eines kann ich überhaupt nicht mehr ertragen: Sie haben in Ihrer Regierungszeit den Höchststand an Arbeitslosigkeit erreicht. Die Regierung Kohl war, was die
Arbeitsmarktzahlen anging, am Ende. Sie sind binnen
kürzester Zeit um 1,5 Millionen gestiegen. Sie haben eine
Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit zugelassen. Ich
kann Ihnen alle Daten links und rechts immer wieder um
die Ohren hauen, und zwar die realen Daten, nicht die
getürkten und die zusammengeklaubten, auch nicht die
saisonbereinigten, Herr Storm. Mit diesen Zahlen werden
wir uns auseinander setzen und ich sage Ihnen schon jetzt:
Zum Schluss wird abgerechnet.
({17})
Ich kann nicht mehr ertragen, dass wir uns von denen,
die die Karre in den Dreck gefahren haben, öffentlich
noch mit Dreck beschmeißen lassen müssen, während wir
uns redlich bemühen, vernünftig und ohne Türkerei, wie
Sie es gemacht haben, diesen Karren aus dem Dreck wieder herauszuholen
({18})
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich sage
Ihnen: Wir räumen auch mit den Statistiken auf. Wir haben Interesse an realen Daten und realen Grundlagen und
auf diesen Grundlagen machen wir Arbeitsmarktpolitik.
Das können Sie sich hinter die Ohren schreiben.
Schönen Dank.
({19})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dirk Niebel von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Andres,
Sie haben bei Ihrem Zahlenvergleich zwischen den Januar-Werten 1998 und den Januar-Werten 2002 eine Petitesse vergessen: Sie regieren jetzt seit dreieinhalb Jahren.
Pro Jahr verlassen aus demographischen Gründen ungefähr 200 000 Menschen mehr den Arbeitsmarkt, als neu
hinzukommen. Sie haben noch nicht einmal die demographische Entwicklung aufgefangen. Die Arbeitslosenzahlen sind gestiegen.
({0})
Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass diese
Aktuelle Stunde zwingend notwendig ist, obwohl der
Kanzler den Arbeitsminister zurückgepfiffen hat. Denn es
muss deutlich gesagt werden: Armer Arbeitsminister
Riester! Ich meine das ganz ernst, Herr Riester. Sie müssen ein außerordentlich einsamer Mensch sein: keine
Rückendeckung mehr im Kabinett und in der Fraktion.
Sie haben noch am Montag im „Grünen Salon“ gesessen - ich habe es mir kurz angesehen - und mit großem
emotionalen Engagement die Änderung der Statistik vertreten, weil Sie, wie ich glaube, auch fest davon überzeugt
sind. Der Kanzler hat die Problematik erkannt, die in der
zeitlichen Nähe zur Bundestagswahl liegt, und hat Sie
zurückgepfiffen. Der Kanzler hat auch bei der Bundesanstalt die Problematik erkannt und Ihnen Aussagen aufgeschrieben, die Sie in der Pressekonferenz verkündet
haben.
({1})
Es waren gute Sachen, viele davon von uns übernommen.
Lernen durch Leiden, kann ich dazu nur sagen. Es ist ein
Paradebeispiel für pathologisches Lernen.
Mittlerweile merken wir schon, dass einiges von dem,
was Sie dort verkünden durften, von der Fraktion wieder
zurückgenommen wird. Sie rudert schon ganz kräftig
zurück, was die Fragen der Zulassung privater Vermittler
und der erfolgsabhängigen Entlohnung in der staatlichen
Arbeitsvermittlung anbetrifft. Sie haben von daher keinen
Rückhalt in der Regierung und in der Fraktion. Armer
Arbeitsminister!
({2})
Ungefähr in einer Woche liegen die nächsten Arbeitsmarktzahlen vor. Aber schon jetzt steht fest, dass wir bei
der Chefsache Ost den Höchststand der Arbeitslosigkeit
in Ostdeutschland erreicht haben. Als Sie die Regierung
übernommen haben, befanden sich 30 Prozent der Arbeitslosen in Ostdeutschland. Jetzt sind es 35 Prozent.
Chefsache Ost! 1,3 Millionen Menschen in Ostdeutschland sind arbeitslos,
({3})
aber Sie machen den Vorschlag, die Statistik zu ändern
- über den durchaus diskutiert werden kann -, unmittelbar vor dem Erscheinen der nächsten Arbeitsmarktzahlen.
Herr Riester, das ist ein reines Ablenkungsmanöver. Sie
wollen damit von diesen Zahlen ablenken.
Wenn Sie der Ansicht sind, dass die Menschen, die
nicht mehr vermittelt werden wollen oder können, aus der
Statistik herausgenommen werden müssen, dann müssen
Sie andere Wege gehen. Nehmen wir das Beispiel Kindergeld und Arbeitslose. Das Bundeskindergeldgesetz
sieht vor, dass Eltern weiterhin Kindergeld beziehen,
wenn ihr Kind über 18 Jahre alt ist und sich arbeitslos gemeldet hat. Wenn Sie der Ansicht sind, dass diese Personen aus der Statistik herausfallen sollten, dann müssen
Sie das Bundeskindergeldgesetz ändern und festlegen,
dass unabhängig davon, ob sich jemand in Ausbildung,
Arbeitslosigkeit oder im Wehrdienst befindet, bis zum
27. Lebensjahr Kindergeld gewährt wird. Dann fallen
diese Personen aus der Statistik heraus.
Die gleiche Frage stellt sich bei den Älteren. Sie haben
es im Mai vergangenen Jahres - also vor acht Monaten schon einmal versucht. Damals stiegen die Arbeitslosenzahlen gerade im vierten Monat saisonbereinigt und die
Erwerbslosenquote stagnierte. Damals stand zur Diskussion, bei den 58-Jährigen und Älteren Änderungen vorzunehmen. Bisher ist es so, dass ältere Menschen unter erleichterten Bedingungen Leistungen in Anspruch nehmen
können, wenn sie aktiv erklären, dass sie nicht mehr arbeiten und zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Rente gehen möchten. Diese Personen werden derzeit nicht in die
Statistik einbezogen. Damals wurde von der Regierung
geplant, das zu ändern, sodass alle 58-Jährigen und Älteren unter diese Sonderregelung fallen, es sei denn, sie erParl. Staatssekretär Gerd Andres
klärten aktiv, dass sie noch arbeiten möchten. Der Mensch
ist in aller Regel ein träges Wesen. Von daher würden weit
weniger eine aktive Erklärung zur Arbeitswilligkeit abgeben und die Statistik würde deutlich nach unten gehen.
({4})
Sie haben vorgeschlagen, mehr Ehrlichkeit in die Statistik zu bringen.
({5})
Ich meine, das ist gut und richtig. Zur Ehrlichkeit gehört,
dass man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ABM
und in SAM einbezieht, die sich ganz bewusst nur in einer Zwischenbeschäftigung befinden, um die Chance zum
Wiedereintritt in den ersten Arbeitsmarkt zu gewinnen,
und jederzeit - auch während der Maßnahme - zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung angehalten sind,
({6})
und dass es ganz bewusst auch weiterhin Vermittlungsberatung - auch während der Maßnahmedauer - geben
soll. Von daher gehört zur Ehrlichkeit natürlich auch, dass
Sie all diejenigen einbeziehen, die wirklich nach Arbeit
suchen.
({7})
Dann kann man über Änderungen der Statistik reden. Ob
vor oder nach der Wahl, ist nicht das Entscheidende.
Aber wenn es um Ehrlichkeit geht, dann auf beiden
Seiten des Arbeitsmarktes. Machen Sie es nicht so wie in
der Vergangenheit, als Sie sich bemüht haben, die Zahl
der Erwerbstätigen in der Statistik zu erhöhen. Damals
sind die geringfügig Beschäftigten einbezogen worden
- 0,4 Prozentpunkte der Arbeitslosenquote -, die Scheinselbstständigen und 400 000 plötzlich sozialversicherungspflichtige Prostituierte. So werden Sie die Probleme
am Arbeitsmarkt nicht lösen.
({8})
Sie müssen Ihre Gesetzgebung ändern, die von Anfang
an in die falsche Richtung lief. Wir brauchen mehr Freiraum am Arbeitsmarkt, weniger Reglementierung und
mehr liberale Politik. Übernehmen Sie noch mehr von uns
und warten Sie nicht, bis der Kanzler es Ihnen aufschreibt.
Vielen Dank.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Kollege Storm, Ihre Rede war wirklich ein echtes Stormtief.
({0})
Diese Aktuelle Stunde ist schlichtweg Schnee von gestern. Ich habe richtiggehend Mitleid mit der Opposition,
dass ihr heute erneut ein vermeintliches Wahlkampfthema
wie eine Seifenblase zerplatzt ist. Nichts ist so alt wie die
Meldung von gestern.
Sie haben heute Morgen und eben schon wieder zur
Kenntnis nehmen müssen, dass der Staatssekretär mehrfach - ich glaube, zehnmal ({1})
ganz deutlich gesagt hat, dass es in dieser Legislaturperiode keine Änderung der Statistik geben werde.
({2})
Das hätten Sie durchaus schon einmal wahrnehmen
können.
Sie wissen auch, warum es eine solche Änderung nicht
geben wird. Eines ist doch völlig klar: Wir lassen uns von
einer Opposition, die im Wahljahr 1998 durch das Herauffahren von „Wahlkampf-ABM“ unter Einsatz von 5 Milliarden DM die Statistik gefälscht hat, in diesem Wahljahr
nicht in die Situation bringen, über Schönfärberei diskutieren zu müssen.
({3})
Wir müssen natürlich über eine Veränderung der Statistik reden, weil Statistiken transparent sein und eine
Aussagekraft haben müssen. Das gilt gerade für die Arbeitsmarktpolitik. Ich bekomme aber schon Tränen in die
Augen, wenn ich Herrn Niebel über Ehrlichkeit reden
höre und er gleichzeitig verlangt, wir sollten ABM-Kräfte
als Arbeitslose mitzählen, obwohl er sehr genau weiß,
dass ABM-Kräfte dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung
stehen.
({4})
Ich bekomme deshalb Tränen in die Augen, Herr Niebel,
weil Ihre Partei das Herauffahren von ABM in der Vergangenheit dazu benutzt hat, die Arbeitslosenzahlen zu
schönen.
({5})
Wir sollten in Ruhe darüber reden, wie die Statistiken
transparent und einleuchtend gemacht werden können. Im
Moment gibt es einen Basar der Möglichkeiten. Sie haben
die Aufnahme von ABM-Kräften vorgeschlagen und den
Vorschlag von Herrn Rürup zitiert, der die stille Reserve
in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen sehen möchte.
Ich frage mich, wie das funktionieren soll. Ich habe vor
Herrn Rürup große Hochachtung, aber an dieser Stelle
frage ich mich, wie etwas, was nicht offen bekannt ist, in
einer Statistik mitgezählt werden kann. Darüber kann man
sicherlich noch einmal reden. Ich halte aber einen solchen
Basar der Möglichkeiten für absolut ungeeignet, um eine
vernünftige Debatte über Statistik zu führen.
Wenn wir über Veränderungen reden, müssen wir uns
an der internationalen Vergleichbarkeit der Daten orientieren. Mein Beitrag zu dieser Debatte ist die Aufforderung, dass wir in der nächsten Legislaturperiode eine Statistik erarbeiten, die mit denen unserer europäischen
Nachbarländer vergleichbar ist, sodass wir in Konkurrenz
zu unseren Nachbarn offen und ehrlich über Erfolge von
Beschäftigungspolitik diskutieren können. Wir brauchen
klare Kriterien; eines davon ist die internationale Vergleichbarkeit.
Natürlich müssen sich die Bundesanstalt für Arbeit und
die Kommission, die jetzt eingesetzt worden ist, darüber
Gedanken machen, welche Differenzierungen vorgenommen werden müssen, was also ausgewiesen werden muss
und was nicht, damit die Vermittlungstätigkeit bei der
Bundesanstalt für Arbeit an die vorderste Stelle rücken
kann.
Für mich ist auch klar, dass wir uns als Koalition weiter darum bemühen werden, mit der unsinnigen Frühverrentungspraxis Schluss zu machen, die Sie in den 90erJahren auf den Weg gebracht haben. Wir haben bereits mit
dem Job-Aqtiv-Gesetz einen Paradigmenwechsel vorbereitet, der dazu führt, dass ältere Arbeitslose über Qualifizierung wieder in den Arbeitsmarkt hineinkommen können.
({6})
Wir tun uns mit der Praxis der Frühverrentung schwer,
weil Sie in den 90er-Jahren das verschlafen haben, was
unsere Nachbarländer, beispielsweise Dänemark, schon
gemacht haben. Dort hat man nämlich begriffen, dass es
einer Volkswirtschaft nicht abträglich ist, wenn man Ältere, aber auch Frauen in den Arbeitsmarkt integriert - das
kann die Erwerbsquote sogar noch erhöhen - und daher
auf Frühverrentung verzichtet. Diesen Weg werden wir
gehen. Es wird sicherlich noch einige Debatten geben.
Diese sollten wir offen und ehrlich führen. Nur, das, worüber Sie in der Aktuellen Stunde reden wollten, ist kein
aktuelles Thema.
({7})
Das Wort
hat der Kollege Dr. Klaus Grehn von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht eigentlich nicht, dass die
Regierung den Spieß umdreht. Ich möchte festhalten: Die
Ursache für die heutige Aktuelle Stunde liegt nun wahrlich nicht bei der Opposition.
({0})
Das Thema ist von Ihnen, meine Damen und Herren von
der Regierungsseite, aufgebracht worden. Dazu sollten
Sie auch stehen.
Herr Minister, es ist nicht sehr lange her - es tut mir
Leid, dass ich Sie daran erinnern muss -, dass Sie von dem
Rednerpult aus, an dem ich jetzt stehe, im Zusammenhang
mit den Wahlkampf-ABM von „täuschen“ und „tricksen“
gesprochen haben. Ich hatte dagegen nichts; denn auch
ich habe diese Wörter benutzt. Aber damals war eines anders als heute: Die Menschen sind durch die WahlkampfABM - keine Frage, dass es um Täuschen und Tricksen
ging - zeitweise in Arbeit gekommen. Auch Ihre heutige
Aussage, dass Sie die Arbeitslosenstatistik aussagekräftiger machen wollen, indem Sie 1,2 Millionen Arbeitslose
anderweitig erfassen lassen wollen, erinnert sehr an Täuschen und Tricksen.
({1})
Damit werden diese 1,2 Millionen Arbeitslosen nicht in
Arbeit kommen.
({2})
Ich muss Ihnen sagen: Die Grundprobleme in diesem
Land werden so nicht angegangen.
({3})
- Sie können mir nicht weismachen, dass sich alle, die das
kritisieren, etwas aus den Fingern gesaugt haben. Dazu ist
schon manche Äußerung gefallen.
({4})
- Ja, sicherlich falle ich darauf herein.
Sie müssen mir erst einmal erklären, was Sie damit erreichen wollen, dass diejenigen, die angeblich nicht ernsthaft nach Arbeit suchen oder die nicht arbeiten wollen, anders erfasst werden sollen. Wer bestimmt eigentlich, wer
nicht mehr ernsthaft nach Arbeit sucht oder nicht mehr arbeiten will? Der Staatssekretär hat als Beispiel für diejenigen, die nicht mehr arbeiten wollen, Frauen angeführt,
die sich nur wegen des Kindergeldes arbeitslos meldeten.
Dazu kann ich nur sagen: Wegen Kindergeld muss man
sich nicht beim Arbeitsamt arbeitslos melden. Das bekommt man auch so.
({5})
Ich halte es für sehr problematisch, dass unter den
20 Prozent derjenigen, die nach Ihrer Definition aus der
Arbeitslosenstatistik herausfallen sollen - das belegen die
Zahlen von Infas, die Sie angeführt haben -, 15 Prozent
Ältere sind. Nach der Wende sind bereits 900 000 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den vorzeitigen Ruhestand gejagt worden. Sie wissen, was mit den 57-Jährigen
passsiert, die erklären, dass sie zum frühstmöglichen
Zeitpunkt in Rente gehen, und damit aus der Statistik herausfallen. Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für dieses
Land, wenn Menschen dieses Alters sagen müssen: Ich
nehme dies an, weil ich weiß, dass ich keine Arbeit mehr
bekomme, damit ich nicht in ein finanzielles Loch falle.
Genau das ist das Problem. Aber Sie behaupten, dass diese
Menschen eigentlich gar nicht mehr arbeiten wollten. Sie
wissen es doch besser: Diese Menschen haben auf dem
Arbeitsmarkt gar keine Chance mehr.
Ich möchte auch auf das eingehen, was Sie in der Fragestunde gesagt haben. Ist es wirklich so, dass diejenigen,
die sich nach fünf oder sieben Jahren Arbeitslosigkeit,
nachdem sie also gemerkt haben, dass die Gesellschaft sie
nicht mehr will, dass sie nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt
unterkommen, die eine Nische zum Überleben suchen
und die physisch und psychisch kaputt sind, nicht mehr
arbeiten wollen? Schaffen Sie die Voraussetzungen
- darin unterstützen wir Sie - für neue Arbeitsplätze! Sie
müssen Arbeitsplätze in der Realität schaffen. Das erreichen Sie nicht durch statistische Veränderungen.
({6})
Wenn Sie das tun, dann haben Sie uns immer an Ihrer
Seite.
({7})
- Kollege Gilges, ich merke, Sie sind wieder wach geworden.
({8})
Sie können nicht einfach Vorschläge aus irgendwelchen Gründen ablehnen, ohne sie vorher ernsthaft geprüft
zu haben. Ich darf darauf hinweisen, dass Sie mit den von
Ihnen jetzt verkündeten Vorstellungen den Eindruck erwecken - ob Sie das wollen oder nicht -, dass ein bedeutender Teil des Umfangs der Arbeitslosigkeit im subjektiven Verhalten begründet ist.
({9})
- Diesen Eindruck erwecken Sie, wenn Sie sagen, dass
1,2 Millionen Menschen an neuer Arbeit nicht interessiert
sind. Was sagen die Bürgerinnen und Bürger dazu?
({10})
- Sie sollten sich das ruhig anhören. Sie können etwas lernen. Sie sollten in die Praxis gehen und sich anschauen,
was dort los ist.
Wir brauchen keine Statistiken, sondern wir müssen
Arbeitsplätze schaffen. Machen Sie dazu Vorschläge und
gehen Sie damit an die Öffentlichkeit. Wenn Sie das tun,
dann haben Sie uns und die Bürger auf Ihrer Seite. Fangen Sie nicht an, an der Statistik „herumzudoktern“! Ansonsten stehen Sie vor dem Problem, das Sie bereits bei
der Vermittlung haben, dass nämlich niemand mehr weiß,
wie die Realität aussieht.
({11})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Doris Barnett das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde bewegt vielleicht viel Luft, hilft den Arbeitslosen aber nicht. Ihre Redemanuskripte sind etwas veraltet; denn Sie befassen sich
nicht mit der Realität.
({0})
Ich erinnere mich noch gut daran, dass es bei Ihnen
eine klammheimliche Freude gab, als der Bundesrechnungshof seine Zahlen zur Arbeitsvermittlungsstatistik
veröffentlicht hat. Sie meinten, dem Bundesarbeitsminister etwas „unter die Weste jubeln“ und ihn angreifen zu
können.
Wir gehen daran - allerdings erst nach der Bundestagswahl -, sämtliche Statistiken im Sinne des Bundesrechnungshofes zu bereinigen, sie aussagekräftig zu machen und sie so zu gestalten, dass man daraus
Handlungsanweisungen ableiten kann. Auch dagegen haben Sie nun etwas. Sie wehren sich und sprechen von Manipulation. Soll ich Ihnen einmal die Liste Ihrer „Statistikanpassungen“ von 1986 bis 1998 zeigen? Meine
Redezeit reicht nicht aus, um alle vorzulesen.
Herr Grehn, Sie sprachen die Definition an, nach der
die Anzahl der Arbeitslosen nicht genauer eingeschränkt
werden kann. Angesichts dessen muss ich mich an den
Kopf fassen und fragen: Was veranlasst die anderen Länder, andere Definitionen, insbesondere international vergleichbare, aufzustellen? Ich frage mich: Ist eine Statistik,
die die tatsächlichen Gegebenheiten abbildet, eine Manipulation oder ist nicht vielmehr eine Statistik, die ungenau
ist, die viele Fälle erfasst, die eigentlich gar nicht hineingehören, ein falsches Abbild, das zu falschen Schlussfolgerungen führt?
Herr Storm, Sie haben über die verdeckte Arbeitslosigkeit gesprochen. Woher kommen 1,2 Millionen Arbeitslose plötzlich? Sie wollen sie ebenfalls dem Minister
Riester „unter die Weste jubeln“. Sie tun so, als hätten Sie
vorher nie regiert, als hätte es in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit keine, wie Sie sagen, „verdeckten Arbeitslosen“ gegeben. Hören Sie damit doch auf! Was Sie hier machen, ist doch alles nur Wahlkampfgeplänkel!
({1})
Wir haben jetzt die einmalige Chance, die vorhandenen
Statistiken zu entrümpeln, sie aussagekräftig und international vergleichbar zu machen. Wenn wir von nun an eine
effizientere Vermittlung anstreben, mehr Qualität und
Kundenorientierung bei der Arbeitsverwaltung an den
Tag legen wollen und müssen, dann müssen wir auch die
notwendigen Grundlagen schaffen. Diese Grundlagen
bieten die bisherigen Statistiken, wie das Ergebnis des
Bundesrechnungshofes zeigt, leider nicht.
Herr Niebel, deshalb lohnt sich vielleicht ein Blick auf
das Institut der deutschen Wirtschaft; denn auch dort
bemängelt man, dass es auf der einen Seite eine große
Zahl von offenen Stellen gibt, dass es auf der anderen
Seite aber trotz vieler Arbeitsloser zu keiner Vermittlung
kommt. Als Grund ortet das IW einen Anteil von Arbeitslosen, die aus unterschiedlichen Gründen für eine Arbeitsvermittlung faktisch nicht zur Verfügung stehen.
Deshalb fordert das IW auch eine andere Zählweise, eine
andere Statistik. Also: Warum verschließen Sie sich jetzt
und reden von Manipulation? Ausgerechnet Sie!
({2})
Wenn die Arbeitsämter offene Stellen besetzen sollen,
dann brauchen sie auch Arbeitshilfen, die ihnen das ermöglichen. Was nützen ihnen Listen und Statistiken, die
nur scheinbar verfügbare Arbeitskräfte aufzeigen?
Die international standardisierte Arbeitslosenstatistik
definiert Verfügbarkeit so: Ein Arbeitsloser ist verfügbar,
wenn er innerhalb von zwei Wochen eine Arbeit aufnehmen kann. Nach dieser Lesart hätte es - das müsste eigentlich die CDU freuen - laut Mikrozensus 1997 in
Deutschland 585 000 Arbeitslose, also 13 Prozent der Erwerbslosen, gegeben, die nicht in der Lage waren, dieses
Verfügbarkeitskriterium einzuhalten. Damit hätten Sie
Ihre Zahlen verbessern können. Hätten Sie das damals nur
gewusst!
Sie können doch niemanden glauben machen, dass Ihnen an nationalen Statistiken liegt, die im internationalen
Vergleich keinen oder nur geringen Aussagewert haben.
Ihnen geht es um Krawall, um Aufsehen und Spiegelgefechte.
({3})
Seien Sie doch ehrlich: Bei Ihnen ist jetzt Wahlkampf angesagt, nicht Sachpolitik, und schon gar nicht sind die Arbeitslosen angesagt; sonst hätten Sie in den letzten dreieinhalb Jahren den Standort Deutschland nicht ständig
heruntergeredet.
({4})
Jetzt haben wir die einmalige Gelegenheit aufzuräumen - in den letzten dreieinhalb Jahren haben wir nichts
anderes getan, als das aufzuräumen und das wieder zu
richten, was Sie an die Wand gefahren und vernachlässigt
haben -,
({5})
jetzt haben wir die Gelegenheit, die Bundesanstalt für
Arbeit neu auszurichten und auch mit dem gesamten
Zahlenwerk klar Schiff zu machen, so wie es der Bundesrechnungshof fordert. Eigentlich müssten alle Arbeitsmarktpolitiker darüber froh sein und mitmachen; stattdessen gehen Sie nur auf Wahlkampf und auf Stimmenfang
aus. Aber es wird Ihnen nicht gelingen, weil wir die dringende Reform der Arbeitsmarktstatistik erst nach der
Bundestagswahl in Angriff nehmen.
({6})
Walter Riester hat Ihnen also schon wieder ein Spielzeug aus der Hand geschlagen. Ich glaube schon, dass Sie
das ärgert, aber damit müssen Sie leben. Uns geht es darum, den arbeitslosen Menschen zu helfen; Ihnen geht es
nur um Wahlkampf. Aber Sie werden sehen: Es nützt Ihnen nichts. Auch nach dem 22. September werden Sie auf
der Oppositionsbank sitzen. Vielen Dank.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans-Peter Friedrich von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({0}) [CDU/CSU]: Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Andres, nachdem Sie sich an diesem Rednerpult so aufgeführt haben, muss ich sagen: Bravo, Kollege Storm!
Die Rede hat gesessen!
({1})
Sie haben hier wirklich als ein ertappter Sünder gestanden.
({2})
Sie haben uns vorgeworfen, wir würden falsche Zahlen
verwenden. Ich möchte Sie gern einmal darauf hinweisen,
lieber Herr Staatssekretär, dass es im Januar 1999, im Januar nach dem letzten Jahr der Regierung Kohl, 4,45 Millionen Arbeitslose in Deutschland gegeben hat. Wenn man
davon die 650 000 abzieht,
({3})
die in den letzten drei Jahren aus demographischen Gründen aus der Statistik verschwunden sind, dann kommt
man auf 3,8 Millionen. In Wirklichkeit sind es jetzt aber
4,3 Millionen. Das zeigt das Versagen Ihrer Regierung in
der Arbeitsmarktpolitik!
({4})
Ich darf Sie an der Stelle daran erinnern, dass die SPD im
Wahlkampf 1998 noch wahnsinnig Angst gekriegt hat, weil
plötzlich die Konjunktur und vor allem die Arbeitsmarktpolitik hervorragend gelaufen sind. Dann hat Herr Schröder
plakatieren lassen: Das ist mein Aufschwung.- Können
Sie sich noch daran erinnern? Wir können uns noch daran
erinnern. Jetzt wollen Sie diesen Aufschwung leugnen.
({5})
Jetzt komme ich zu dem, was Sie, Herr Andres, heute
in der Fragestunde und in Ihrer Rede vorhin 13-mal - wir
haben mitgezählt - gesagt haben:
({6})
Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, in dieser Legislaturperiode die Statistik zu verändern. - Korrekt wäre
gewesen, lieber Herr Staatssekretär, wenn Sie gesagt hätten: Die Bundesregierung hat nicht mehr die Absicht, die
Statistik zu verändern.
({7})
Sie sind nämlich als ertappter Sünder von der deutschen
Öffentlichkeit, von der Presse und von der Opposition in
Ihre Schranken gewiesen worden. Das ist die Wahrheit!
({8})
Herr Staatssekretär, ich zitiere jetzt Agenturmeldungen
vom 23. Februar: „Wir werden die Statistik ergänzen um
diejenigen, die nachweisbar keine Vermittlung wollen“,
sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Arbeitsministerium Andres. Die Regierung wolle die Statistik
aussagekräftiger machen und dieses Projekt noch innerhalb der nächsten drei Monate anpacken. - Erwischt! Der
Versuch, die Statistik zu fälschen und zu manipulieren, ist
gescheitert.
({9})
- Das Thema, liebe Frau Dückert, ist und bleibt trotzdem
aktuell, weil nicht nur im Strafrecht, sondern auch in der
Politik schon der Versuch strafbar ist.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich den Sinn einer Arbeitsmarkt- oder Arbeitslosenstatistik anschauen,
dann können Sie durchaus verschiedene Erklärungsversuche finden. Die eine Möglichkeit ist, dass man mit einer
solchen Statistik die Quantität eines Problems erfassen
will. Wenn das der Sinn ist, dann ist das richtig, was die
Kollegen schon gesagt haben: Dann müssen auch die
1,7 Millionen verdeckt Arbeitslosen, die ebenfalls einen
Arbeitsplatz suchen, mit in die Statistik aufgenommen
werden.
({10})
Sie haben gesagt, dass Sie das nicht wollen. Also sehen
Sie den Sinn einer solchen Statistik darin wohl nicht.
({11})
Die andere Möglichkeit ist, dass man mit einer solchen
Statistik Trends und Tendenzen feststellen will. Durch die
Fälschung der Statistik, die Sie vorhatten,
({12})
haben Sie versucht, genau das unmöglich zu machen; die
Vergleichbarkeit der Statistiken über die Jahre wäre nicht
mehr gegeben gewesen.
In diesem Zusammenhang, lieber Herr Minister, haben
Sie das dümmste Argument angeführt, das es gibt, indem
Sie gesagt haben, die Vermittler in den Arbeitsämtern
müssten aus der Statistik ja wissen, wie viele Leute überhaupt nicht arbeitswillig sind. Lieber Herr Minister, wenn
die Arbeitsvermittler vor Ort, die jeden Tag mit den Leuten zu tun haben, nicht wissen, wer arbeitswillig ist und
wer nicht, woher sollen es dann die Beamten des Statistischen Bundesamtes wissen? Das ist eine merkwürdige
Argumentation.
({13})
Damit komme ich zum Kern der eigentlichen Problematik. Das eigentliche Problem besteht darin, dass aus
dieser Statistik die politische Dimension des Problems Arbeitslosigkeit hervorgeht. Bereits Ihre Absicht, Ihr gescheiterter Versuch, die Statistik zu fälschen, um das Problem der Arbeitslosigkeit klein zu reden und zu
verharmlosen, ist ein Schlag in das Gesicht der Menschen
in diesem Lande;
({14})
denn die Botschaft, die bei ihnen ankommt, ist folgende:
Wir können euer Problem leider nicht lösen, deswegen reden wir das Problem klein und verschleiern unsere Unfähigkeit.
({15})
Das ist ein politischer Offenbarungseid nicht nur des Arbeitsministers, sondern - mit Verlaub - auch des Bundeskanzlers. Der Herr Bundeskanzler hat wohl erst gestern so
richtig begriffen, dass dieser Fälschungsversuch, dieses
Betrugsmanöver auf ihn zurückfällt. Deswegen hat er gestern den Befehl zum Rückzug gegeben.
({16})
Das Schlimmste an der ganzen Geschichte aber ist Ihre
mangelnde Selbstkritik. Sie versuchen, die Themen zu
verdrängen. Deswegen sage ich Ihnen: Sie müssen, wenn
Sie das Problem der Arbeitslosigkeit lösen wollen, endlich die rot-grünen Arbeitsplatzbremsen in Deutschland
beseitigen. Ich fordere Sie auf: Packen Sie es endlich an,
sonst können Sie nämlich bald einpacken.
Vielen Dank.
({17})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({18})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Bei einigen Redebeiträgen kam mir das Sprichwort in den Sinn, das wir
im Ruhrgebiet verwenden: Haltet den Dieb, er hat mein
Messer im Rücken! - Die Verursacher bestimmter Vorgänge reklamieren hier und heute auf einmal Dinge, die
sie selbst hätten regeln können; denn was in der Bundesanstalt für Arbeit gelaufen ist, ist ja nicht erst seit den letzten Wochen oder Monaten so gelaufen. Das ist während
Ihrer Regierungszeit so gelaufen und Sie haben es nicht
gemerkt, halten uns diese Vorgänge aber heute vor.
Der Kollege Niebel von der FDP hat hier in Bezug auf
die Zahlen mehr Ehrlichkeit angemahnt, obwohl er selbst
über die Presse transportiert hat, dass er die Methoden der
Bundesanstalt für Arbeit in Bezug auf die Arbeitslosenstatistik selbst mit beeinflusst hat, und zwar so, dass sie
heute kritikwürdig sind.
({0})
Angesichts dessen muss ich sagen: Da wird der Täter auf
einmal zum Richter. Herr Niebel, statt hier von Arbeitslosenstatistikfälschern zu sprechen und Ehrlichkeit zu reklamieren, sollten Sie sich einmal darauf besinnen, wie
Sie damals gehandelt haben, als Sie damals dort waren.
Sie hätten eigentlich verantwortungsbewusst handeln
können, indem Sie Ihre Vorgesetzten darüber informiert
hätten, wie es um diese Statistiken tatsächlich bestellt ist.
Stattdessen stellen Sie sich hierhin, klagen das an und machen uns noch Vorwürfe, wenn wir erklären, dass wir Statistiken transparenter machen und differenzierter ausgestalten wollen!
({1})
Worum geht es hier eigentlich? Die Prüfung des Bundesrechnungshofes zur Ermittlung der tatsächlichen Vermittlung von Arbeitslosen durch die Arbeitsämter, Herr
Niebel, hat gezeigt, wie notwendig es ist, sich Gedanken
über die tatsächliche - ich betone: tatsächliche - Zahl der
Arbeitssuchenden zu machen. Es geht nicht darum, Menschen aus der Statistik herausfallen zu lassen; das wissen
Sie.
({2})
Vielmehr geht es darum, aussagekräftige und verwertbare
Daten zu bekommen, um nachvollziehen zu können, wer
arbeitssuchend ist und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
steht und wer arbeitslos gemeldet ist, dem Arbeitsmarkt
aber nicht oder nicht mehr zur Verfügung steht.
({3})
- Nein. Ergebnis muss also das sein, was wir im JobAqtiv-Gesetz festgeschrieben haben, nämlich eine effizientere Vermittlung zu bekommen und damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit
oder der Arbeitsämter stärker auf die Menschen zu konzentrieren, die dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung stehen.
Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Ich komme
nun aus - ({4})
- Herr Grehn, dort, wo Sie vor ungefähr 15 Jahren Statistiken aufgestellt hatten, waren die Jungen und Mädel nicht
in Arbeit, sondern in staatlich finanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Statistiken, die Sie noch in
Erinnerung haben, sollten Sie vielleicht auch noch ein wenig durchforsten.
({5})
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Im Ruhrgebiet
schließt in einer Stadt eine Zeche, 4 000 Menschen werden arbeitslos. Im Allgemeinen sind davon 25 Prozent
älter als 50 Jahre. Diese 25 Prozent, also rund 1 000 Menschen, haben gemäß Montananpassung das Recht, in den
Vorruhestand zu gehen. Sie stehen damit dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Sie können dem Arbeitsamt signalisieren: Nein, wir wollen nicht vermittelt werden. Sie bekommen aber Leistungen vom Arbeitsamt.
Jetzt frage ich: Sollen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitsamtes auch um diese 1 000 kümmern?
Ist es nicht zweckmäßig, sich um die anderen zu kümmern, die tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
stehen?
({6})
- Nein, denen will gar keiner das Geld streichen. Es
kommt darauf an, die Statistik transparenter zu machen.
({7})
- Ich muss Ihnen nur ins Gesicht schauen, Herr Niebel,
dann weiß ich, wie ich Ihre Frage zu bewerten habe. Sie
nehmen Ihre Fragen selbst nicht ernst. Von daher ist es
eigentlich auch dumm, überhaupt auf Ihre Fragen einzugehen.
({8})
Es wird also, um dies festzuhalten, keine Veränderung
in der Summe der Arbeitslosenzahlen geben, vielmehr
werden die Arbeitslosen genauer unter den Gesichtspunkten, weshalb sie arbeitslos sind und ob sie noch vermittelbar sind, erfasst. Dies wissen Sie. Sie wissen auch, dass
dies im Rahmen der Neustrukturierung der Bundesanstalt
für Arbeit notwendig ist.
Mit dieser Aktuellen Stunde hier und heute - das hat
die Kollegin gerade schon gesagt - wollen Sie Wahlkampf
machen. Das ist Ihr gutes Recht, aber wir werden Ihnen
das nicht durchgehen lassen; das werden Sie feststellen.
Was wir wollen, werden besonders die Menschen erkennen, denen Sie hier suggerieren wollen, dass sie von unserer Maßnahme betroffen seien, und zwar dann, wenn
zum ersten Mal die unterschiedlichen Zahlenstrukturen
auf dem Tisch liegen. Spätestens dann werden die Mitbürgerinnen und Mitbürger erkennen:
({9})
Auch hier - das habe ich Ihnen schon mehrere Male gesagt - hat die Opposition nach dem Motto gehandelt: verunglimpfen, verunsichern, Panik verbreiten und daraus
dann noch politisches Kapital schlagen. Die Menschen in
unserer Republik sind nicht so dumm, dass sie das nicht
erkennen. Von daher werden Sie am 22. September die
Quittung bekommen.
({10})
Das Wort
hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem ich die Verteidigungsreden der rot-grünen Redner und vor allen Dingen
die Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs
hier gehört habe, kann für mich das Motto dieser Aktuellen Stunde nur lauten: Getroffene Hunde bellen.
({0})
Der Herr Staatssekretär bemüht die Ausrede, auch
früher habe es Statistikanpassungen gegeben. Das ist
wahr. Aber noch nie hat es kurz vor einer Bundestagswahl
einen so dreisten Versuch gegeben, 1,2 Millionen Arbeitslose schlichtweg aus der Statistik herauszurechnen.
Das ist einmalig.
({1})
Wenn Sie sich, Herr Staatssekretär, schon rühmen, die
Arbeitslosigkeit habe heute zahlenmäßig noch nicht den
Höchststand erreicht, den es unter der Kohl-Regierung
gegeben hat, dann hätten Sie ehrlicherweise, wenn Sie
schon unbedingt mehr Transparenz herstellen wollen, die
Rechnung aufmachen müssen,
({2})
die hier schon einmal aufgemacht worden ist, dass nämlich Sie, die rot-grüne Koalition, auf dem Arbeitsmarkt
ausschließlich von der Tatsache profitieren, dass Monat
für Monat mehr ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Altersgründen in den Ruhestand treten, als dass
junge Leute neu in den Arbeitsmarkt eintreten.
({3})
Wenn Herr Andres im Sinne seiner neuen Transparenz das
dazugerechnet hätte, hätte er sagen müssen, dass die Arbeitslosigkeit heute höher liegt, als sie je unter Kohl gewesen ist. Das sind die Fakten!
({4})
Nein, meine Damen und Herren, es zeigt sich immer
deutlicher: Das war eine raffiniert eingefädelte Sache. Sie
von Rot-Grün haben bewusst an dem Tag, an dem die
neuen Arbeitslosenzahlen verkündet wurden, die Geschichte mit der Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt
für Arbeit in die Welt gesetzt.
({5})
Das war eine von Ihnen gezielt geplante Aktion, ein Ablenkungsmanöver;
({6})
denn seit diesem Tag wird in Deutschland über Statistikfragen diskutiert. Aber der eigentliche Skandal in
Deutschland sind nicht die Statistiken, sondern ist die
Massenarbeitslosigkeit.
({7})
Der Skandal sind 4,3 Millionen Arbeitslose im Januar
dieses Jahres und voraussichtlich 4,32 Millionen im
Februar dieses Jahres. Im jährlichen Durchschnitt liegt
die monatliche Arbeitslosigkeit bei 4 Millionen. Das
Katastrophalste - darüber reden Sie schon gar nicht mehr ist, dass die Arbeitslosenzahl in den neuen Bundesländern
mit 1,3 Millionen den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung erreicht hat.
({8})
Das nennt man Aufbau à la Schröder.
({9})
Die Bevölkerung weiß es: Das eigentliche Problem der
Arbeitslosigkeit ist kein Statistikproblem, sondern das Ergebnis einer verfehlten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung. Nicht die Statistik, sondern die Politik muss geändert werden!
({10})
Aber wenn man schon beim Fälschen von Statistiken
ist, dann macht es nichts, wenn man noch eins draufsetzt.
Deshalb denkt zumindest Walter Riester frei nach
Wilhelm Busch: Ist der Ruf erst ruiniert, lügt es sich ganz
ungeniert.
({11})
Die Meldung, dass dieser Bundesarbeitsminister 1,2 Millionen Arbeitslose aus der Statistik streichen will, ist doch
nicht von der Opposition in die Welt gesetzt worden. Sie
stammt aus dem Haus, für das dieser Minister Verantwortung trägt.
({12})
Ich zitiere Reuters vom 23. Februar:
Die Regierung wolle die Statistik aussagekräftiger
machen und deshalb Arbeitslose, die nicht ernsthaft
nach einer neuen Stelle suchten, aus den Erhebungen
herausrechnen, sagte ein Sprecher von Bundesarbeitsminister Walter Riester ({13}) am Samstag in
Berlin.
Das ist eine Nachricht, die Sie in die Welt gesetzt haben
und für die Sie geradestehen müssen.
({14})
Das zeigt die Notwendigkeit dieser Aktuellen Stunde.
Nur durch diese Aktuelle Stunde und die öffentliche
Debatte werden Sie gezwungen, sich dazu zu bekennen,
dass Sie eine solche Manipulation geplant haben, und sie
zu unterlassen.
({15})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün,
({16})
Sie können meinetwegen alle möglichen Statistiken fälschen und verändern;
({17})
aber eine Zahl können Sie nicht manipulieren:
({18})
Heute in exakt 208 Tagen ist Bundestagswahl. Dann können die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land endlich
mit diesem rot-grünen Spuk und Hokuspokus Schluss machen.
Danke schön.
({19})
Das Wort
hat die Kollegin Renate Rennebach von der SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! „Was ich selber lass und tu, trau ich auch
allen anderen zu.“ Das ist der Eindruck, den Ihre Redner
heute hier hinterlassen haben.
({0})
Um Wahrheit und Klarheit in die Statistik zu bekommen, werden wir in den nächsten Wochen und Monaten
eine Reihe von Diskussionen haben. Aber es gilt das, was
Staatssekretär Andres im Namen der Bundesregierung
hier gesagt hat und wofür auch wir von der SPD-Fraktion
und von Bündnis 90/Die Grünen stehen: In dieser Legislaturperiode wird an der Art der Statistik nichts geändert.
({1})
Hier ist heute mehrfach über die Sinnhaftigkeit dieser
Aktuellen Stunde diskutiert worden. Ich muss Ihnen ganz
ehrlich sagen: Ich habe etwas anderes im Sinn. Wir haben
seit 1. Januar das Job-Aqtiv-Gesetz, ein Gesetz, das die
Bundesanstalt für Arbeit, die Vermittler, die Politiker, die
Arbeitslosen und die Arbeitgeber dazu aufruft, gemeinsam verstärkt dafür zu sorgen, Menschen wieder in Arbeit
zu bringen.
Was tun Sie? Erstens demotivieren Sie durch Ihre Aktuellen Stunden die Menschen draußen im Lande. Sie
glauben nicht mehr an eine Besserung.
Zweitens demotivieren Sie die Arbeitsvermittler, die
vermitteln wollen.
({2})
Drittens demotivieren Sie die Arbeitslosen, die endlich
die Hoffnung haben, dass es nicht mehr ein halbes Jahr
dauert, bis ihr Fall vom Arbeitsamt bearbeitet wird. Sie
wollen in der Tat vermittelt oder qualifiziert werden,
damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt eingesetzt werden
können.
({3})
Sie machen mit Ihrem Gerede die Menschen mutlos.
Sie versündigen sich an den Arbeitslosen.
({4})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das geht mir alles zu weit.
Wir brauchen alle Kräfte - wenn es geht, auch die der
Opposition -, um den Menschen Mut zu machen, die Vermittlung des Arbeitsamtes in Anspruch zu nehmen, sich
beraten und qualifizieren zu lassen, damit sie einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden können. Sie
aber versündigen sich an diesen Menschen.
({5})
Peter Weiß ({6})
Auch Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU und der FDP, sind der Wahrheit verpflichtet. Herr Niebel hatte eine Sternstunde, als er zugab, er
habe sich nie an Erlasse des Arbeitsministers Blüm und
des Präsidenten Jagoda gehalten.
({7})
Damit hat er dazu beigetragen, dass in der Bundesanstalt
jeder machen konnte, was er wollte. Damit muss Schluss
sein!
({8})
Wir müssen gemeinsam handeln. Sie dürfen uns mit
Ihren Vorwürfen nicht in den Rücken fallen.
Danke.
({9})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Meckelburg von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatten um die
Statistik der Bundesanstalt für Arbeit und um die
Vorgänge bei der Bundesanstalt für Arbeit sind so, wie sie
von Ihrer Seite - also von Rot-Grün und von Regierungsseite - geführt werden, unerträglich.
({0})
Das geht sogar so weit, Herr Staatssekretär Andres,
({1})
dass Sie vorhin in der Fragestunde geradewegs behauptet
haben, Schröder habe nie versprochen, dass eine Zahl von
3,5 Millionen Arbeitslosen erreicht werden sollte. Ich zitiere zur Erinnerung:
Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote
signifikant zu senken, dann haben wir es weder verdient, wiedergewählt zu werden, noch werden wir
wiedergewählt.
So wird es sein.
({2})
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, noch eine Aussage zu der Zahl von
3,5 Millionen Arbeitslosen haben wollen, dann darf ich
Sie an das Blackout-Interview von Schröder im letzten
Jahr erinnern, in dem er sogar ein Absinken auf 3 Millionen versprochen hatte. Der Regierungssprecher musste
anschließend erklären, dass nur eine Zahl von 3,5 Millionen gemeint sei.
({3})
Regierungsamtlich haben Sie für dieses Haushaltsjahr inzwischen festgestellt, dass es fast 4 Millionen Arbeitslose
sein werden.
Das waren meine Bemerkungen zu der Arbeitslosenzahl und zu den Erwartungen, die Sie geweckt haben. Sie
werden Ihr Ziel nicht erreichen.
Eigentlich hatte ich nach den Vorgängen dieser Woche
erwartet, dass Sie, Herr Arbeitsminister, nun behaupten,
es gebe keine Arbeitslosen mehr. Sie standen kurz vor einer solchen Aussage; die Statistik sollte in der Tat gefälscht werden.
({4})
Herr Arbeitsminister, ich spreche Sie jetzt konkret an.
Einer Reuters-Meldung vom 23. Februar kann man Folgendes entnehmen:
Die Regierung wolle die Statistik aussagekräftiger
machen und deshalb Arbeitslose, die nicht ernsthaft
nach einer neuen Stelle suchten, aus den Erhebungen
herausrechnen, sagte ein Sprecher von Bundesarbeitsminister Walter Riester ({5}) am Samstag in
Berlin.
Die nachfolgenden Sätze spare ich mir.
Es gab von Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, offensichtlich die Absicht, die Arbeitslosenstatistik noch in diesem Jahr zu schönen.
({6})
- Hören Sie bitte einmal zu! - Im Internet-Magazin „Spiegel Online“ von heute ist unter der Überschrift „RiesterRüffel - Schröder will Arbeitslosenstatistik erst nach der
Wahl schönen“ zu lesen:
({7})
Arbeitsminister Walter Riester wollte die umstrittene
Reform der Arbeitslosenstatistik so schnell wie möglich durchziehen. Nun hat ihn Bundeskanzler Gerhard
Schröder zurückgepfiffen. Die Korrektur der Statistik
soll erst nach der Bundestagswahl erfolgen.
Dann wird Frau Dückert zitiert - jetzt sollten Sie von
der SPD überlegen, ob Ihnen die Nähe zu den Grünen
noch gefällt -: „Eine schnelle Korrektur, wie Riester sie
wollte, wird es nicht geben.“
Verehrter Herr Arbeitsminister, ich fordere Sie auf - Sie
könnten hier noch sprechen; ich würde gerne endlich von
Ihnen etwas hören -, klipp und klar zu sagen, ob Sie wirklich vorhatten, die Arbeitslosenstatistik vor der Wahl zu
schönen oder nicht. Ein klares Ja oder Nein würde genügen.
Es reicht mir nämlich langsam: Wir haben erlebt, dass
Sie während der gesamten Affäre um die Bundesanstalt
für Arbeit zwei, drei Wochen lang Jagoda als Schutzschild
vor sich hergetragen haben. Dann haben Sie ihn fallen lassen und plötzlich stehen Sie als Retter und Reformator in
Bezug auf die Bundesanstalt für Arbeit da. Sie haben erst
jetzt festgestellt, dass bei der Arbeitslosenvermittlungsstatistik die Zahlen nicht stimmen - und das in einem Jahr,
in dem im Rahmen des Job-Aqtiv-Gesetzes die Vermittlung im Zentrum gestanden hat. Ich verstehe das alles
nicht!
({8})
Alle haben etwas gewusst, nur der Minister nicht. Das
Ergebnis ist: Riester hat sich - auch heute ist das so - tot
gestellt, Tegtmeier und Jagoda wurden kaltgestellt, die
Statistik würde, wenn es nach Ihnen ginge, umgestellt und
im Handeln wird wie immer alles zurückgestellt. Das ist
die Politik der Regierungskoalition, die wir in diesem Jahr
erleben. So kann das nicht weitergehen!
({9})
Ein letztes Beispiel, um einmal zu zeigen, wie handlungsfähig Sie wirklich sind - denn das geht einem, wie
man im Ruhrgebiet sagt, wirklich auf den Keks -: Am
letzten Freitag tritt Bundeskanzler Schröder vor die
Presse und sagt: Hier ist der große Retter. Wir machen
eine Reform bei der Bundesanstalt und tauschen die Personen aus. - Man muss sich das einmal vorstellen: Am
Freitag hieß es: „Wir handeln; wir tun etwas“ und heute
wird uns im Ausschuss erklärt,
({10})
dass die Regelung bezüglich der Zusammensetzung des
neuen Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit und die
Regelungen in Bezug auf die private Vermittlung, die Sie
plötzlich entdeckt haben,
({11})
an ein Gesetz zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat angehängt werden sollen.
Das hat doch gar nichts miteinander zu tun. Das ist übertriebene Schnelligkeit.
Wir haben Ihnen gesagt: Wenn ihr dazu eine Anhörung
machen wollt, dann legt die Gesetzestexte doch heute vor.
Wirkliches Handeln hätte heute im Ausschuss passieren
können. Sie haben geantwortet: Die Texte sind noch nicht
da. Dann haben wir Ihnen gesagt: Bringt den Gesetzentwurf morgen früh ganz normal ein; dann kommt er auf
die Tagesordnung. Dazu sind Sie nicht in der Lage. Ich
habe angeboten, dass wir am Freitag eine zusätzliche Sitzung durchführen. Dazu sind Sie nicht in der Lage.
Was passiert jetzt? Sie tun genau das, was Sie im Jahr
1999 in chaotischer Art und Weise gemacht haben: Mit
Hektik wird etwas zusammengestoppelt. Am Freitag
nächster Woche müssen wir eine Sondersitzung abhalten
und drei Tage später soll eine Anhörung stattfinden. Das
ist Handeln à la SPD, wie es schon 1999 der Fall war. Sie
werden im Wahljahr 2002 Ihr Desaster erleben.
({12})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Franz Thönnes von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Ihnen ist hier mehrfach erklärt worden, dass die Bundesregierung - die Koalitionsfraktionen unterstützen das - nicht die Absicht hat, in dieser Legislaturperiode die Statistik zu verändern.
({0})
Ich habe Verständnis dafür, dass das bei den Menschen,
die das draußen hören, dadurch, dass wir Ihnen das hier
sehr oft sagen, in das rechte Ohr hinein- und aus dem linken Ohr wieder hinausgeht und dass nichts dazwischen
ist, was diese Aussage aufhalten könnte.
({1})
Wie Sie sich hier aufführen, wenn Sie versuchen, den
Eindruck zu erwecken, Sie hätten uns getroffen! Das verhält
sich ungefähr so, als wenn ein Jäger, der an einem Hasen
einmal knapp links und einmal knapp rechts vorbeischießt,
glaubt, er habe den Hasen im Durchschnitt getroffen.
({2})
Sie treffen uns damit überhaupt nicht.
Wir nehmen die diesbezügliche Untersuchung des IAB
zum Anlass, zu sagen: Wir brauchen in der Arbeitslosenstatistik mehr Transparenz.
({3})
Das gilt für die 5 Prozent, die trotz einer Arbeitslosenmeldung bereits sicher eine neue Stelle haben. Das gilt für
die 15 Prozent, die auf den Renteneintritt warten, die sich
arbeitslos melden, um Ausfallzeiten bei der Rente geltend
machen zu können. Das gilt für Unterhaltsempfänger und
Sozialhilfebezieher, die Kindergeld beziehen; das sind
rund 7 Prozent. Diese Transparenz wird notwendig sein.
Wenn man einfach zur Kenntnis nimmt - das haben Sie
ja noch nicht getan -, welche Aufgabe das Job-Aqtiv-Gesetz hat, dass nämlich jemand, der sich arbeitslos meldet,
ein Profiling bekommt, dass man schaut, was er kann und
was seine Interessen sind und wo man ihn eingliedern
kann, dann wird man einsehen, dass es notwendig ist, in
diesem Prozess auch die Merkmale festzuhalten, die nicht
zu einer Eingliederung führen oder bewirken, dass derjenige möglicherweise nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur
Verfügung stehen kann.
Wir haben bereits im Januar darauf hingewiesen, dass
die Statistik in der nächsten Legislaturperiode geändert
werden soll. Das scheint bei Ihnen überhaupt nicht angekommen zu sein.
Ich sage Ihnen eines: Die Betroffenen, von denen Sie
immer reden, die Arbeitslosen, haben ein Recht darauf,
dass die entsprechenden Zahlen und ihre Situation ernsthaft betrachtet und erläutert werden,
({4})
und dass nach individuell vernünftigen Auswegen gesucht wird. Auch die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, haben ein Recht
darauf, dass ihre Beiträge wirksam und wirtschaftlich eingesetzt werden. Man braucht eine transparente Struktur,
wenn man diese Mittel optimal einsetzen will.
Elfmal - so ist es zwischenzeitlich gesagt worden - ist
bei Ihnen getrickst und getäuscht worden; elfmal haben
Sie in Ihrer Regierungszeit an der Arbeitslosenstatistik im
Kern etwas geändert. Das war der Fall bei den Empfängern von Leistungen unter erleichterten Voraussetzungen
1986; das war der Fall, als diejenigen Bezieher von Arbeitslosenhilfe, die Kinder betreuen, herausgenommen
wurden; das war der Fall, als diejenigen Bezieher von Arbeitslosenhilfe herausgenommen wurden, die mit Zustimmung des Arbeitsamtes gemeinnützige, zusätzliche Arbeit
verrichteten. Sie wissen überhaupt nicht, was sie wollen.
Herr Laumann erklärt, man sei vehement gegen eine Änderung der Statistik. Herr Wissmann erklärt, man brauche
eine neue Definition von Arbeitslosigkeit.
({5})
Er fordert mehr Transparenz in der Statistik und in der
statistischen Erfassung und einfachere Regelungen.
Schließlich sagt Herr Repnik: „Es gibt keinen Nachbesserungsbedarf“, fordert aber gleichzeitig, ABM und Weiterbildung in die Statistik hineinzunehmen. Wie gesagt: Sie
wissen überhaupt nicht, was los ist; Sie reden durcheinander
wie ein Hühnerhaufen. Wenn Sie sich einmal anschauen,
wie die Arbeitslosenstatistik aufgebaut ist, dann sehen Sie,
dass ABM und SAM dort bereits ausgewiesen werden.
({6})
Wer getrickst hat, das waren Sie im Wahljahr 1998. Im
Januar 1998 hatten wir 131 000 ABM-Fälle, im Oktober
281 000; das sind 150 000 mehr. Sie können daran sehr gut
sehen, wie die Kurve nach oben getrieben worden ist, wie
die Zahlen nach oben gegangen sind. Bei SAM war es sogar ein Plus von 117 000, um das Sie die SAM auf 221 000
nach oben geschraubt haben. Das heißt, die von Ihnen zu
verantwortende Arbeitslosigkeit hätte unter Zugrundelegung Ihrer eigenen Berechnung bei 4,8 Millionen gelegen,
als Sie abgewählt worden sind. Das ist die Wahrheit.
({7})
Damit wird deutlich: Täuschen, tricksen, ignorieren das ist Ihr Metier. Ich denke dabei insbesondere an den
Kollegen Niebel, der sagt: Nach den Erlassen habe ich
mich nie gerichtet.
({8})
Er stellt sich heute hin und will über uns zu Gericht sitzen.
Ich sage Ihnen: Für Sie hat die Statistik die gleiche Bedeutung wie die Laterne für einen Betrunkenen: Sie dient
ihm mehr zum Festhalten als zur Erleuchtung. Wie viel
Bereitschaft bei Ihnen vorhanden ist, Erleuchtung in Ihre
eigenen dunklen Machenschaften zu bringen, das haben
wir ja in der Vergangenheit gesehen, als es um die
Schwarzgelder ging. Da ist ja noch nicht alles aufgeklärt.
Das fiel in Ihre Regierungszeit.
({9})
Am Ende bleibt: Wir haben heute 1,1 Millionen Erwerbstätige mehr als zu Ihrer Regierungszeit; wir haben
500 000 Arbeitslose weniger. Das Job-Aqtiv-Gesetz wird
greifen und Ihre Kassandrarufe werden am Ende verhallen.
({10})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dorothea Störr-Ritter von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! „Wir
sind auf dem richtigen Weg“ - so eine Anzeige der SPD
in der „Bild“-Zeitung vom 23. Februar 2002. Meine sehr
verehrten Damen und Herren von der SPD, den Inhalt dieser Anzeige glauben Sie doch selbst nicht mehr.
({0})
Wie können Sie auf dem richtigen Weg sein,
({1})
wenn eine immer größere Mehrheit der Bevölkerung mit
Ihrer Regierungspolitik unzufrieden ist? Wie können Sie
auf dem richtigen Weg sein, wenn die Arbeitslosigkeit im
letzten Jahr der Kohl-Regierung um einen Großteil zurückgegangen ist, in den Jahren Ihrer Regierung aber ständig ansteigt?
({2})
Wie können Sie auf dem richtigen Weg sein, wenn
die neuesten Umfragen ergeben, dass 30 Prozent der Befragten Edmund Stoiber zutrauen, die Arbeitslosigkeit zu
senken, und nur 10 Prozent dem Bundeskanzler, Arbeitsplätze zu schaffen?
({3})
Wie können Sie auf dem richtigen Weg sein, wenn Sie nun
von all diesen Problemen ablenken wollen, indem Sie zumindest den Versuch unternehmen, die Arbeitslosenstatistik zu manipulieren?
({4})
Diese wundersame Wertberichtigung außerhalb verlässlicher Rechtsgrundlagen will die Regierung nun zum
Anlass nehmen, über die Situation auf dem Arbeitsmarkt
zu täuschen. Aber mit dieser Regierung steht nichts zum
Besten. Nun muss auch noch das Thema Arbeitslosenstatistik dafür herhalten, die wirtschaftspolitische Unfähigkeit der Regierung zu kaschieren.
({5})
Auch wenn Sie das nicht gerne hören: Ein Kaschmirmantel allein macht keinen guten Regierungschef. Diesem Trugschluss ist der Bundeskanzler sehr bald erlegen.
({6})
Die Wirklichkeit hat Sie nun eingeholt. Ein solcher Trugschluss gibt auch nicht das Recht, die Bevölkerung zu betrügen und zu täuschen. Ob die Haare - gefärbt oder nicht
gefärbt - frisiert werden müssen, ist die eine Sache. Aber
eine Arbeitslosenstatistik auf diese Art und Weise zu frisieren, ist eine ganz andere Sache.
({7})
Angeblich Arbeitsunwillige - so war es zu lesen gehören nicht in diese Statistik, sie passen dort nicht hinein. Wie wollen Sie - das frage ich auch den Arbeitsminister - die Arbeitsunwilligkeit herausfinden? Glauben
Sie denn allen Ernstes, dass die Menschen, die sich arbeitslos melden müssen, freiwillig über ihre innersten Gefühle sprechen, wenn sie gar nicht wissen, was mit ihnen
passieren soll? Wo sollen diese Arbeitslosen eigentlich
hin? Sollen sie sich in Luft auflösen? Wie wollen Sie sie
überhaupt noch erfassen? Woher nehmen Sie eigentlich
die Gewissheit, dass diejenigen, die Sie aus der Statistik
herausnehmen wollen, gar nicht arbeiten wollen und keine
Arbeit suchen? Für diese dreiste Wahlkampftrickserei und
-taktik ist der Regierung kein Mittel zu schade, nicht einmal dann, wenn es um ein Heer von Menschen geht, deren
Schicksal uns eigentlich betroffen machen sollte.
({8})
Sie sagen: „Wir sind auf dem richtigen Weg.“ Aber
glauben Sie nur nicht, dass die Wählerinnen und Wähler
nicht erkennen, dass Sie eben nicht auf dem richtigen Weg
sind. Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie jetzt
zurückrudern. In Ihrem blinden Aktionismus zeigt sich
Ihre Unfähigkeit.
({9})
Die Arbeitnehmer wollen nicht zum Spielball Ihrer Willkür werden.
Auch die Arbeitgeber haben das Vertrauen in rot-grüne
Regierungspolitik verloren.
({10})
Der Mittelstand sorgt sich um seine Zukunft. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen mit maximal
500 Mitarbeitern sind durch eine Vielzahl von Faktoren
bedroht, auch wenn Sie dies nicht wahrhaben wollen.
({11})
Dies ist durch Ihre Steuer- und Regulierungspolitik bzw.
Regulierungswut verursacht worden.
({12})
Deshalb ist es nur einem Teil der mittelständischen Unternehmen gelungen, sich auf die neuen Bedingungen
und Herausforderungen des Arbeitsmarktes, die für alle
Schwierigkeiten mit sich bringen und nur unter schweren
Bedingungen bewältigt werden können, einzustellen. Nur
noch die Hälfte der Unternehmen schreibt schwarze Zahlen. Das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben!
({13})
Die Zahl der Insolvenzen ist überproportional hoch.
Die Betriebe plagen Geld- und Personalsorgen. Viele Betriebe wären bereit, Arbeitslose einzustellen, ihnen einen
Arbeitsplatz zu bieten.
({14})
Viele Betriebe wären in der Lage, die Arbeitslosenzahl
tatsächlich zu reduzieren. Aber um das zu ermöglichen,
fällt der rot-grünen Bundesregierung nichts ein.
Nicht nur Sparminister Eichel hat seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Auch der Arbeitsminister hat, wenn er jemals eine gehabt hat, seine Glaubwürdigkeit verloren. Er
bestätigt nur den Eindruck des größten Teils der Bevölkerung: Nicht einmal dann, wenn es schwierig wird, können
Ideologen umkehren.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Die Menschen
in unserem Lande haben nur einen einzigen Eindruck: Für
echte Arbeit im Lande tun Sie nix, nur im Tricksen und
Täuschen sind Sie fix.
Danke schön.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Februar 2002,
10 Uhr, ein und erinnere an die Sonderveranstaltung mit
der Ansprache des UN-Generalsekretärs Kofi Annan,
morgen, 9 Uhr, im Plenarsaal.
Die Sitzung ist geschlossen.