Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werden
Sie doch nicht schon zu Beginn meiner Rede unruhig, Sie
aufseiten der Opposition werden gleich noch genug Gelegenheit dazu haben.
Wir diskutieren heute den letzten Jahreswirtschaftsbericht
({0})
in dieser Wahlperiode. Wir stehen vor einem neuen Aufschwung,
({1})
wie übrigens 1998 auch. Die entscheidende Frage ist: Wie
ist die Ausgangslage vor diesem Aufschwung und wie war
sie am Ende der vorigen Wahlperiode, am Ende Ihrer Regierungszeit?
Wir hatten im Januar dieses Jahres 4,3 Millionen
Arbeitslose - zweifelsfrei viel zu viele. Wir hatten aber
vor vier Jahren 4,85 Millionen Arbeitslose - 500 000 mehr.
Das ist die höchste Zahl von Arbeitslosen, die wir in der
Bundesrepublik Deutschland je hatten. Das heißt, die
höchste Arbeitslosigkeit, die wir in der Bundesrepublik
Deutschland je hatten, fiel in Ihre Regierungszeit, meine
Damen und Herren.
({2})
Zum ersten Mal überhaupt kommen wir in der Bundesrepublik aus einer konjunkturellen Talfahrt mit einer
deutlich niedrigeren Arbeitslosigkeit als beim vorigen
Mal heraus.
({3})
- Ich weiß, dass Sie jetzt unruhig werden, weil Sie die
ganze Zeit über versuchen, eine Wahlkampagne aufzuziehen, die mit den Fakten in diesem Lande nichts zu tun hat.
({4})
1,1 Millionen Beschäftigte mehr, 39,1 Millionen im
vergangenen Jahr - das war die höchste Beschäftigung,
Präsident Wolfgang Thierse
die es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt gegeben hat. Das fällt in unsere Wahlperiode.
({5})
Im Gegensatz zu Ihnen haben wir es auch erreicht, dass
alle jungen Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen,
einen solchen bekommen. Es war eine Schande, dass Sie
das dafür erforderliche Geld nicht in die Hand genommen
haben.
({6})
Des Weiteren haben wir eine ganz andere Situation des
Bundeshaushaltes als noch vor vier Jahren.
({7})
Hätten wir noch den Haushalt des Jahres 1998, dann hätten wir jetzt ein Staatsdefizit von über 4 Prozent. Wie die
90er-Jahre zeigten, hatten Sie im Reißen der Latte gute
Übung. Wir machen das nicht!
({8})
Lassen Sie mich Ihnen das ganz klar machen: Wenn
man den Haushalt des Jahres 2002 mit dem Haushalt des
Jahres 1998 vergleicht, dann stellt man fest, dass wir einen Konsolidierungserfolg von 15 Milliarden Euro erreicht haben. Außerdem haben wir den Bürgern 15 Milliarden Euro an Steuern zurückgegeben. Insgesamt macht
der Konsolidierungserfolg beim Haushalt 2002 im Vergleich zum Haushalt 1998 also 30 Milliarden Euro aus.
Dazu, dass wir im vergangenen Jahr Probleme bekommen haben, sage ich: Ich nehme jedenfalls keinen blauen
Brief dafür entgegen, dass im Bundeshaushalt die Neuverschuldung systematisch reduziert wird - wir gehen den
Weg zum ersten ausgeglichenen Haushalt nach Jahrzehnten, den wir 2006 erreichen wollen, konsequent weiter -,
während sich zugleich die Defizite in den Länderhaushalten verdreifachten. Ich sage das übrigens ohne Vorwurf.
({9})
- Mit diesem Zwischenruf wäre ich vorsichtig, Herr
Michelbach, weil Sie mit ihm die Position des Bundes kaputtmachen und im Übrigen erkennen lassen, dass Sie gar
nicht wissen, wie die Verfassungsordnung funktioniert.
Bund und Länder hängen nämlich von denselben Steuern
ab. Die Behauptung, der Bund könne die Länder einseitig
bei der Einnahmeseite oder bei der Ausgabeseite drangsalieren, ist durch das Verfassungsrecht in Deutschland
schlicht widerlegt, weil es keine die Länder und Kommunen belastenden Gesetze geben kann, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen.
({10})
Ich erinnere daran, dass diese Bundesregierung und die
sie tragende Koalition davor gewarnt haben, unerfüllbare
Versprechungen bei den Steuersenkungen zu machen.
Wer wollte denn die Steuern noch viel mehr senken? Kam
das nicht aus Ihren Reihen, zum Beispiel aus München?
Wie sähe denn unser Staatsdefizit aus, wenn wir Ihren
Vorschlägen gefolgt wären?
({11})
Kamen denn nicht laufend neue Vorschläge für zusätzliche Ausgaben? Noch bei den Beratungen des Haushalts
2002 gab es doch überhaupt keinen Einzelplan, für den
Sie nicht zusätzliches Geld gefordert hätten. Wo stünden
wir denn heute, wenn wir Ihren Vorstellungen gefolgt
wären? Selbst als die Diskussion um den blauen Brief
schon eingesetzt hatte, hat es Herr Stoiber bei seinem
klassischen Fehlstart fertig gebracht, zu erklären, es gebe
doch zwischen 2,7 und 3 Prozent noch eine Marge, die ein
zusätzliches Programm zulasse.
({12})
Angesichts Ihrer bisherigen steuerpolitischen Vorschläge habe ich gedacht, Sie hätten die Zeit dazu genutzt,
neue Konzepte zu entwickeln, und kämen jetzt mit ausgereiften Plänen. Es war einmal die Rede davon, die Pläne
würden Anfang März vorgestellt. Jetzt lese ich, dass sie
Anfang April kommen sollen.
({13})
Wenn Sie so weitermachen, wird Ihr Konzept erst nach
der Bundestagswahl erscheinen. Das macht aber auch
nichts, weil Sie dann wieder nicht gefragt werden und andere die Regierung bilden.
({14})
Ich freue mich, dass es inzwischen positive Reaktionen
aus den Ländern zu der Notwendigkeit, einen nationalen
Stabilitätspakt zu schließen, gibt,
({15})
und zwar quer durch die Parteien, inzwischen auch aus
München. Ich kann übrigens den Kollegen Waigel gut
verstehen; denn als er das zum ersten Mal versucht hat,
kam das größte Sperrfeuer auch damals zuverlässig aus
München.
({16})
Auch diesmal hat es dort wieder angefangen.
({17})
Ihr Kanzlerkandidat hat aber gemerkt, dass er mit dieser
Verweigerungshaltung keine Punkte machen kann, und
hat Herrn Glück und Herrn Faltlhauser inzwischen
zurückgepfiffen. Ich finde das in Ordnung.
({18})
Denn wir werden nur europatauglich sein, wenn nicht nur
der Bund eine europataugliche Finanzpolitik macht, sondern wenn auch die Länder das tun. Genau darum geht es.
Deswegen sage ich: Jawohl, in einer fairen, offenen Debatte muss das zu Ende gebracht werden. Den ersten Einstieg haben wir im vergangenen Jahr geschafft. Das müssen wir jetzt konkretisieren, weil wir andernfalls in der Tat
in Europa nicht bestehen können.
Wir haben den Haushalt konsolidiert. Wir sparen ja
nicht um des Sparens willen, sondern um den Bürgerinnen und Bürgern deutliche Steuernachlässe auf die bisher
hohe Steuerlast geben zu können. Die ersten, die das gespürt haben - auch deswegen ist die Situation Anfang des
Jahres 2002 ungleich besser als Anfang des Jahres 1998 -,
sind die Familien. Wir haben drei Mal das Kindergeld erhöht, in diesem Jahr noch einmal um 30 DM, also um
mehr als 15 Euro. Das bedeutet für eine vierköpfige Familie - ich weiß ja, dass Sie das nicht gern hören - über
1 800 Euro netto mehr im Jahr. Das ist für Familien mit
kleineren Einkommen das 13. Monatsgehalt!
({19})
Aus Ihren unerfüllbaren Versprechungen, die Sie jetzt
machen, quillt doch richtig das schlechte Gewissen heraus,
dass Sie sich in Ihrer Regierungszeit das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingefangen haben, weil Sie die
Familien verfassungswidrig hoch besteuert haben. Dass
Sie an dieser Stelle nichts getan haben, das wollen Sie jetzt
durch unerfüllbare Vorschläge vergessen machen.
({20})
Das ist heiße Luft. Davon kann keine Familie leben.
Die Arbeitnehmer merken es: Der Grundfreibetrag
steigt Schritt um Schritt alle zwei Jahre. Wir liegen dabei in
Europa, was die steuerliche Entlastung der unteren Einkommen angeht, jetzt mit den Finnen an der ersten Stelle.
Der Eingangssteuersatz, den wir von Ihnen mit 25,9 Prozent übernommen haben, liegt inzwischen bei 19,9 Prozent
und geht in weiteren Stufen bis auf 15 Prozent herunter.
({21})
Das haben Sie in den vergangenen 16 Jahren und in den
50er- und 60er-Jahren, als Sie regiert haben, nie zuwege
gebracht.
({22})
Das stärkt - und das soll auch so sein - die Nachfrage.
({23})
Auf der anderen Seite ist der Mittelstand jetzt die Gewerbesteuer los. Das wurde 50 Jahre gefordert, von Ihnen
nie realisiert, von uns mit der Steuerreform mit Wirkung
zum 1. Januar 2001 umgesetzt. Der Mittelstand, die vielen kleinen und mittleren Betriebe, von denen übrigens
viele ein so geringes Einkommen haben, dass sie gar keine
Gewerbesteuer zahlen,
({24})
werden genauso wie die Arbeitnehmer durch die niedrige
Einkommensteuer entlastet. Wenn Sie vom Mittelstand
reden, reden Sie immer nur vom Spitzensteuersatz und
somit nur von einer ganz kleinen Gruppe. Selbst dort entlasten wir; der Satz geht von 53 Prozent, die wir bei Ihnen
vorgefunden haben, jetzt auf 48,5 Prozent und bis 2005
auf 42 Prozent herunter.
Das ist übrigens Politik zur Stärkung der Investitionskraft der Unternehmen - die zweite Seite, um nachhaltiges Wachstum in diesem Land zu bekommen. Unsere Politik ist, wie die Haushaltskonsolidierung auch, langfristig
angelegt und hat auch die künftigen Generationen im
Blick. Was ist das denn für eine Schuldenwirtschaft, die
Sie gemacht haben, heute auf Kosten unserer Kinder zu
leben und die künftig das bezahlen zu lassen, was wir
heute „verwirtschaften“? Das ist nicht christlich, das ist
nicht sozial, meine Damen und Herren, sondern das ist unsolidarisch. Deswegen beenden wir das.
({25})
Weil ich von der Gewerbesteuer sprach: Wir werden
eine Gemeindefinanzreform machen und machen müssen, weil die großen Städte mit der völlig ungleichmäßig
eingehenden Gewerbesteuer ein riesiges Problem haben.
Deshalb müssen wir sie durch eine verlässliche Einnahmequelle ersetzen, die insbesondere die Kommunen nicht
dazu bringt - was konjunkturpolitisch völlig widersinnig
wäre -, eine prozyklische Finanzpolitik zu machen, das
heißt, in Zeiten schwachen Wirtschaftswachstums Investitionen zu kürzen und in Zeiten starken Wirtschaftswachstums diese zu erhöhen. Es liegt eine wirtschaftsund finanzpolitische Aufgabe vor uns und wir werden sie
lösen.
Im Übrigen will ich bei dieser Gelegenheit deutlich
machen: Deutschland liegt - entgegen mancher Debatte,
die öffentlich geführt wird - mit seiner gesamtwirtschaftlichen Investitionsquote im europäischen Vergleich über
dem Durchschnitt und vor allen großen Ländern in der
Europäischen Union sowie auch vor den Vereinigten Staaten. Das ist die Kenngröße, auf die es tatsächlich ankommt.
Wir sparen, weil wir an anderer Stelle für eine wirkliche Zukunftsvorsorge, die Sie vernachlässigt haben, mehr
Geld brauchen. Zunächst möchte ich einen Satz über den
Investitionsbegriff verlieren: Nicht alles, was Beton und
Asphalt ist, ist schon Zukunft.
({26})
Am wichtigsten für die Zukunft ist, was unsere jungen
Leute in ihren Köpfen haben, was sie an Fertigkeiten in
ihren Händen haben. Das bedeutet, wir müssen in unsere
jungen Leute investieren. Wenn ich mir Ihre Politik ansehe, muss ich feststellen: Es ist unverzeihlich, wenn der
Finanzminister das BAföG als Sparkasse betrachtet. Bei
der Wiedervereinigung - Sie hatten zu diesem Zeitpunkt
das BaföG bereits abgebaut - wurden 650 000 junge
Leute durch BAföG gefördert, weil deren Elternhäuser
alleine das Studium nicht hätten finanzieren können.
Am Ende Ihrer Regierungszeit waren es noch ganze
340 000 junge Leute, weil Sie trotz der Inflationsrate die
Grundlagen für die Anspruchsberechtigung nicht verändert haben. Das war Investitionsstau, das war unterlassene
Zukunftsvorsorge.
({27})
Wir sparen, damit wir dafür mehr Geld haben. Die
BAföG-Reform hat zur Konsequenz, dass in diesem Jahr
bereits 450 000 junge Leute mithilfe von BAföG studieren können. Wir können nicht in ein, zwei Jahren alles
wieder aufarbeiten, was Sie in 16 Jahren abgebaut haben.
({28})
Wir haben aber die Weichen in die richtige Richtung umgestellt.
({29})
Wir finanzieren es nicht über neue Schulden, Herr
Repnik. Das ist der Ausweg, den Sie immer finden, und
diesen Ausweg können Sie in diesem Wahlkampf nicht
mehr beschreiten. Deswegen müssen Sie so lange nachdenken, weil Ihnen was anderes, als Geld auszugeben, nie
eingefallen ist. Jetzt sind Sie zum ersten Mal in der Sache
gefordert.
({30})
Wir haben bei den Verkehrs- und Bauinvestitionen
einen historischen Höchststand. Diesen wollen und werden wir verstetigen. Es macht aber keinen Sinn, auf einem
Wohnungsmarkt, der in größten Teilen dieser Republik
gesättigt und der in Ostdeutschland durch Leerstände gekennzeichnet ist, zusätzliche Wohnungsbauinvestitionen
zu tätigen. Im Gegenteil: Wir müssen mit dem Programm
„Stadtumbau Ost“ - wir sind bereits dabei - dafür sorgen,
dass Gebäude, die leer stehen, nicht ganz und gar verfallen. Darin liegt eines unserer großen Probleme und das
kommt von Ihrer Seite.
Wir sparen, damit wir im Hinblick auf das große
Thema Klimaschutz investieren können, und zwar in das
100 000-Dächer-Programm, in die Wärmedämmung an
Gebäuden usw. Man kann doch nicht nur das Kioto-Protokoll unterzeichnen; man muss es auch umsetzen.
({31})
Das gilt auch in Bezug auf die Ökosteuer.
Schließlich sparen wir, um den Aufbau Ost verlässlich
finanzieren zu können: Solidarpakt II - 156 Milliarden Euro bis 2020 -, „Stadtumbau Ost“, das neue Programm, das in diesem Jahr mit dem neuen Haushalt in
Gang gesetzt worden ist - das ist der richtige Weg, der
langfristig solide und zuverlässig ist.
Es liegt noch Reformarbeit vor uns, und zwar nicht wenig. Ich rate Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition - auch im Hinblick auf den Bundesrat -, sich
nicht in die Meckerecke zurückzuziehen, sondern konstruktiv mitzuarbeiten.
({32})
Ich sage das zum Beispiel mit Blick auf das Zuwanderungsgesetz. Es wird Ihnen nicht bekommen, in diesem Lande auf alles Mögliche zu spekulieren. Ich sage das
mit Blick auf die Gesundheitsreform.
({33})
Ich sage das mit Blick auf Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
die wir zusammenführen werden.
Wenn Sie eine Debatte über die Schlusslichtposition in
Europa führen wollen, dann führen wir sie eben. Von wem
haben wir sie denn übernommen? - Von Ihnen.
({34})
Seit wann ist das so? Seit 1993 bzw. seit 1995 in Westdeutschland. Wenn Sie eine derartige Realitätsverweigerung betreiben, werden Sie in jeder Versammlung untergehen, wenn Sie mit Fakten konfrontiert werden.
({35})
Deswegen sollten Sie diese Realitätsverweigerung aufgeben.
Meine Damen und Herren, am Anfang dieses Jahres
sind alle Fundamentaldaten für den Aufstieg besser als
vor vier Jahren. Die Beschäftigungssituation ist besser;
die Haushaltslage ist weitaus besser;
({36})
die Arbeitnehmer und ihre Familien haben durch unsere
Steuerpolitik weitaus mehr Geld in ihrem Portemonnaie;
({37})
der Mittelstand kann investieren. Das alles können Sie
übrigens im Gutachten des Sachverständigenrates und im
letzten Monatsbericht der Bundesbank nachlesen.
Zudem haben wir den Haushalt auf die Zukunft umstrukturiert. Der niedrige Ölpreis ist ein eigenes Konjunkturprogramm; die Preisstabilität und die niedrigen
Zinsen sind es ebenfalls.
({38})
Letztere gäbe es nicht, wenn wir keine Haushaltskonsolidierung betrieben hätten.
({39})
Die Bürgerinnen und Bürger und die Unternehmen wissen
das und sind wieder zuversichtlicher. Alle Umfragen zeigen das. Der Ifo-Geschäftsklimaindex zeigt das. Der InBundesminister Hans Eichel
dex des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung
zeigt das ebenfalls. Die Industrieaufträge im Dezember
und die Produktion sind stark angestiegen. Die Weltwirtschaft springt wieder an - in Südostasien und in Amerika
noch verhalten, aber auch in Russland. Wir sind deswegen
noch nicht über den Berg. Darin bin ich als Bundesfinanzminister vorsichtig. Die von Ihnen betriebene Realitätsverweigerung und Schwarzmalerei geht vielleicht
noch zwei oder drei Monate gut; aber auf dieser Basis
trägt Ihre Kampagne nicht bis zum Herbst.
({40})
Im Gegenteil: Es wird ein Jahr des Aufschwungs, an dessen Ende wir - wie die europäischen und die internationalen Institutionen derzeit voraussagen - wieder den
Wachstumspfad von 2,5 bis 3 Prozent erreicht haben werden. Nach Angaben der Europäischen Kommission und
der OECD werden es im nächsten Jahr 2,8 oder 2,9 Prozent sein. Das liegt oberhalb des Durchschnitts der EuroGroup und der Europäischen Union. Das allein sagt mehr
über die Einschätzung Deutschlands aus als Ihre wahlkampfbedingte Schwarzmalerei.
({41})
Deswegen meine ich: Es geht aufwärts. Das Einzige,
was wir nicht brauchen können, ist schwarzes Meckern;
wir brauchen vielmehr einen realistischen Optimismus.
({42})
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Merz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den niveauvollen Gehalt der Rede des Bundesfinanzministers wirklich erfassen will, dann muss man einen Blick in die Rede
werfen, die er im vergangenen Jahr zum selben Thema,
dem Jahreswirtschaftsbericht, gehalten hat. In dieser
Rede hat er gesagt:
Unsere Erfolgsformel lautet: Höheres Nettoeinkommen dank Steuersenkung multipliziert mit höherer
Beschäftigung gleich mehr Kaufkraft.
({0})
Ein Jahr später stelle ich fest, dass sich die Realität in
Deutschland auf eine andere Formel bringen lässt: Sinkende Realeinkommen der Arbeitnehmer dank steigender Abgaben
({1})
multipliziert mit höherer Arbeitslosigkeit gleich explodierende Staatsverschuldung bei Bund, Ländern und Gemeinden. Das ist die Wirklichkeit ein Jahr später.
({2})
Angesichts Ihrer Rede, Herr Eichel, haben wir uns die
Frage gestellt, warum Sie - wenn das, was Sie hier vorgetragen haben, die Wirklichkeit wäre - eigentlich nicht
von der Europäischen Kommission vor zwei Wochen die
Goldmedaille umgehängt bekommen haben.
({3})
Herr Eichel, was Sie heute Morgen zum Besten gegeben haben, war eine verspätete Karnevalsrede, die mit der
Wirklichkeit in Deutschland nichts mehr zu tun hat.
({4})
Wer etwas von den Reaktionen sehen wollte, der
musste sich die Gesichter des Bundeskanzlers, des Bundesinnenministers und des Bundeswirtschaftsministers
anschauen, als Sie Ihre Rede gehalten haben. Das hat etwas darüber ausgesagt, wie es wirklich ist.
({5})
In der Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht
der Bundesregierung möchte ich nun auf die Daten und
die Fakten zu sprechen kommen, die zeigen, wie die Lage
des Landes zu Beginn des Jahres 2002 wirklich ist. Die
Überschrift, die Sie über den Jahreswirtschaftsbericht gesetzt haben, dürfte nicht lauten: Deutschland an der
Schwelle eines neuen Aufschwungs. Sie müsste vielmehr
lauten: Deutschland, der kranke Mann Europas.
({6})
Sie haben Deutschland mit Ihrer Politik, die Sie in den
letzten dreieinhalb Jahren gemacht haben, so weit heruntergewirtschaftet, dass dieses Land bei fast allen wichtigen ökonomischen Indikatoren Schlusslicht in der Europäischen Union ist.
Ich möchte nun auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das wichtigste Thema, zu sprechen kommen. Herr
Bundesfinanzminister, Sie haben darauf hingewiesen,
dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland vor vier Jahren
höher gewesen sei als im Januar dieses Jahres. Das ist
richtig.
({7})
Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen
damals und dem Januar 2002: Im Jahr 1997/98 nahm die
Beschäftigung kontinuierlich zu und die saisonbereinigte
Arbeitslosigkeit nahm kontinuierlich ab.
({8})
Sie sind dafür verantwortlich, dass die saisonbereinigte
Zahl der Arbeitslosen seit Dezember 2000 kontinuierlich
steigt. Sie ist also bisher 14 Monate nacheinander gestiegen. Herr Bundesfinanzminister, die einzelnen Monatszahlen sind relativ uninteressant. Entscheidend ist die
Entwicklung der saisonbereinigten Arbeitslosigkeit.
Diese sinkt nicht. Sie steigt vielmehr seit Dezember 2000.
({9})
- Der Bundesaußenminister ist von der Regierungsbank
auf die Abgeordnetenbank gewechselt.
({10})
So schließt sich der Lebenskreis. Wahrscheinlich hat er
deshalb gewechselt, weil er sich auf der Abgeordnetenbank rüpelhafter benehmen darf als auf der Regierungsbank. Es geht wieder los. So kennen wir ihn aus früheren
Zeiten. Ich sage dazu nur eines: Nach der Bundestagswahl
wird der Bundesaußenminister wieder auf der Abgeordnetenbank Platz nehmen müssen, und zwar für immer.
({11})
Herr Bundesfinanzminister, Deutschland ist das einzige Land in der Europäischen Union, das sich in der Rezession befindet. Ich bin sehr dafür, Herr Bundeskanzler,
dass differenziert argumentiert wird.
({12})
Ich bin sehr dafür, dass auch die unterschiedliche Lage der
einzelnen Bundesländer berücksichtigt wird. Zwischen
diesen gibt es in der Tat große Unterschiede. Deutschland
hat allenfalls ein kleines, schwaches Wachstum im Jahr
2002 zu erwarten. Wenn es ein solches Wachstum überhaupt geben wird, Herr Bundeskanzler, dann nur aufgrund
der wirtschaftlichen Entwicklung in den unionsregierten
Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und
Saarland; denn nur diese Bundesländer weisen ein Wirtschaftswachstum auf.
({13})
- Ich kann Ihnen die Zahlen vortragen, wenn Sie wollen.
Dramatisch ist die Lage aber in den Bundesländern
- damit komme ich auf das Thema „Neue Mitte“ zu sprechen -, in denen die Sozialdemokraten zusammen mit den
Grünen regieren. Noch dramatischer ist die Lage in den
Bundesländern, in denen die Sozialdemokraten zusammen mit der PDS regieren. Mecklenburg-Vorpommern
und Sachsen-Anhalt befinden sich seit über einem Jahr
knietief in der Rezession. Wenn es in ganz Deutschland so
wäre wie in diesen beiden Bundesländern, dann hätten
Sie, Herr Bundeskanzler, überhaupt keine Chance, die
Probleme zu lösen, die Sie selbst verursacht haben.
({14})
Herr Bundesfinanzminister, Sie verweisen immer
gerne wortreich - Herr Bundeswirtschaftsminister, ich
weiß nicht, ob Sie sich für dieses Thema noch interessieren - auf die Direktinvestitionen aus dem Ausland. Ich
sage Ihnen - vielleicht ist Ihnen das entgangen -:
Deutschland ist nach Frankreich das Land mit der niedrigsten Direktinvestitionsquote aller europäischen Länder. Sie können also nicht einfach behaupten, Deutschland stehe an der Schwelle eines neuen Aufschwungs;
es sei alles in Ordnung; nur die Opposition sei an dem
Dilemma schuld. Herr Bundesfinanzminister, nicht die
Opposition, nicht wir, sondern Sie tragen seit dreieinhalb
Jahren Verantwortung für Deutschland. Sie haben den
Karren in den Dreck gefahren!
({15})
Vielleicht bleiben wir einen kurzen Augenblick bei der
wahren Lage der mittelständischen Unternehmen in
Deutschland. Es ist ja ganz wunderbar, dass Sie so viel für
den Mittelstand tun wollen.
({16})
Aber seitdem Sie die Regierungsverantwortung inne
haben, Herr Bundeskanzler, ist die Zahl der mittelständischen Unternehmen, die in Deutschland Pleite gegangen sind, rapide angestiegen. Es ist ja ganz schön, mal etwas für Philipp Holzmann vor den Fernsehkameras zu
tun,
({17})
es ist ja ganz schön, bei Bombardier im laufenden Landtagswahlkampf in Sachsen-Anhalt den Eindruck zu erwecken, als ob man noch etwas für Arbeitnehmer übrig
hätte. Die Wahrheit sieht ganz anders aus: In Deutschland
haben im letzten Jahr 36 000 Unternehmen des Mittelstandes Pleite gemacht, in diesem Jahr werden es vermutlich 38 000 sein. Es ist ein Rekordjahr für Pleiten im Mittelstand. Das ist die tatsächliche Lage der Volkswirtschaft
in Deutschland;
({18})
die hat mit Ihren beschönigenden Zahlen überhaupt nichts
zu tun.
({19})
Reden wir jetzt einmal über die Staatsverschuldung,
Herr Bundeskanzler, damit hier gar keine falschen Zahlen
im Raum stehen bleiben.
({20})
- Ich vergleiche, meine Damen und Herren, nur Vergleichbares miteinander. - Nach neuer volkswirtschaftlicher - ({21})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte, den Redner zu Wort kommen zu
lassen.
({0})
Es hat ja schon Methode, dass der Herr Fischer wieder da vorne sitzt und
ganz gezielt stört. So ist er halt, so war er immer und so
kann er in Zukunft auch wieder sein.
({0})
Meine Damen und Herren, reden wir über die Staatsverschuldung in Deutschland.
({1})
Wir haben im Jahre 1998 nach neuer volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung einen Haushalt mit einer Defizitquote von 2,2 Prozent übergeben. Auf dieser Basis haben
Sie im Jahre 1998 die Regierungsverantwortung übernommen. Diese Defizitquote lag drastisch und deutlich
unter dem 3-Prozent-Kriterium des Maastricht-Vertrages.
Sie erwarten jetzt für dieses Jahr im günstigsten Falle
2,6 oder 2,7 Prozent, wahrscheinlich wird sie darüber liegen. Der blaue Brief aus Brüssel wäre vollkommen gerechtfertigt, richtig und notwendig gewesen.
({2})
Es waren doch nicht wir, Herr Bundeskanzler, die Sie
als Erste für Ihr Verhalten gegenüber der Europäischen
Union kritisiert haben; das war doch der Kollege Metzger
aus der Fraktion der Grünen, der von einem Amoklauf gegen die Europäische Union gesprochen hat. Recht hat er
mit der Formulierung. Was Sie da gemacht haben, schädigt das Vertrauen in den Euro und in die Zuständigkeit
der Europäischen Kommission.
({3})
Reden wir doch einmal darüber, wie die Zahlen wirklich sind. Natürlich haben wir im Jahre 1998 eine relativ
hohe Bundesschuld gehabt.
({4})
- Mal langsam, bevor Sie hier wieder mit Zwischenrufen
anfangen! - Sie war so hoch, weil wir das Ziel der deutschen Einheit gewollt haben,
({5})
sie verwirklicht haben und 900 Milliarden DM zur Überwindung der Teilung Deutschlands aufgewendet haben.
Dazu haben wir uns bekannt, das haben wir gewollt.
({6})
Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Jahresabschluss für
das Jahr 2002 erstellen,
({7})
dann werden Sie bekannt geben müssen, dass die Bundesschuld in Deutschland um etwa 40 Milliarden Euro
höher als im Jahre 1998 liegt. Wenn Sie nicht Erlöse von
rund 100 Milliarden DM aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen gehabt hätten,
({8})
dann hätte sie noch einmal um 100 Milliarden DM höher
gelegen. Eigentlich hätte sich die von Ihnen nach vier Jahren Amtszeit hinterlassene Bundesschuld auf 1,7 Billionen DM belaufen. Sie sind falsch am Platz, um uns Ratschläge zu erteilen, wie man mit den Bundesfinanzen
ordentlich umgeht.
({9})
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zum Thema nationaler Stabilitätspakt. Dieser
ist doch keine Erfindung dieser Bundesregierung. Die alte
Bundesregierung hat unmittelbar nach dem Zustandekommen des europäischen Stabilitätspakts im Deutschen
Bundestag, damals noch in Bonn, unterstützt von den Koalitionsfraktionen - das war damals insbesondere Theo
Waigel -, an die Adresse der Bundesländer gesagt: Wir
müssen einen nationalen Stabilitätspakt schaffen und uns
gemeinsam darum bemühen, die Defizitziele einzuhalten.
({10})
Es sind damals die Ministerpräsidenten von Hessen und
von Niedersachsen, Hans Eichel und Gerhard Schröder,
gewesen, die das Zustandekommen eines solchen nationalen Stabilitätspaktes verhindert haben.
({11})
Damit an dieser Stelle überhaupt kein Missverständnis
entsteht: Ein nationaler Stabilitätspakt ist heute viel notwendiger als vor vier Jahren.
({12})
Aber Sie, Herr Bundesfinanzminister, werden die Länder und die Gemeinden doch nie dazu bekommen, bei
einem nationalen Stabilitätspakt mitzumachen, wenn
Sie weiterhin versuchen, den Bundeshaushalt auf Kosten der Länderhaushalte, der Gemeindehaushalte und
der Haushalte der sozialen Sicherungssysteme zu sanieren.
({13})
Länder, Gemeinden und soziale Sicherungssysteme machen da nicht mit. Wenn Sie die Lasten des Bundes weiterhin den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungen zuschieben, dann bekommen Sie einen
nationalen Stabilitätspakt nie, Herr Bundesfinanzminister.
({14})
Lassen Sie mich zum Arbeitsmarkt zurückkommen.
Sie haben offensichtlich im Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, dessen CDU-Mitgliedschaft von Ihnen in den letzten Wochen plötzlich
entdeckt wurde, nach tagelangem Mobbing das entsprechende Bauernopfer für Ihre Politik gefunden.
({15})
Aber der eigentlich Verantwortliche für den Skandal bei
der Bundesanstalt für Arbeit - Herr Bundeskanzler, wir
führen eine Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht der
Bundesregierung; zu diesem Zeitpunkt hält es der Bundesarbeitsminister noch nicht einmal für notwendig, auf
der Regierungsbank zu sitzen ({16})
ist nicht der Präsident dieser Behörde, sondern der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Er trägt die
Verantwortung, er hat die Rechtsaufsicht über die Bundesanstalt und er hat nach dem Sozialgesetzbuch die Zuständigkeit für die Statistik.
({17})
Wo ist er eigentlich? Herr Bundeskanzler - Sie schauen
gelangweilt in die Zeitung -:
({18})
Wo ist eigentlich Ihr Bundesarbeitsminister? Warum ist er
nicht anwesend, wenn wir heute über Arbeit und Wirtschaft diskutieren? Sie haben in einem ganz anderen Zusammenhang „den Aufstand der Anständigen“ von
Deutschland verlangt. Vielleicht gibt es in Ihrer Bundesregierung noch einen Rest von Anstand der Zuständigen.
Wenn es den nicht mehr gibt, dann gibt es bald die Abwahl
der Unfähigen in diesem Lande.
({19})
Der Bundesfinanzminister hat uns die Frage gestellt
- wohl eher rhetorisch als ernst gemeint -, wo die öffentlichen Finanzen in Deutschland ständen, wenn die steuerpolitischen Vorschläge der Union Wirklichkeit geworden wären.
({20})
Wir haben Ihnen im Jahre 2000 gesagt, dass die mittelständischen Unternehmen, die Personengesellschaften in
Deutschland mindestens den gleichen Anspruch wie die
großen Kapitalgesellschaften darauf haben, entlastet zu
werden.
({21})
Wenn Sie unseren Vorschlägen im Jahre 2000 gefolgt
wären, auch für die mittelständischen Unternehmen nicht
erst im Jahr 2005, sondern sofort eine steuerliche Entlastung zu verwirklichen, dann ständen wir heute in der Tat
anders da: Dann gäbe es weniger Pleiten, dann gäbe es
mehr Wachstum und dann gäbe es vor allen Dingen mehr
Beschäftigung in den mittelständischen Unternehmen und
die öffentlichen Haushalte hätten nicht diese Probleme,
die Sie zu verantworten haben.
({22})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch ein
ganz offenes und klares Wort zu dem Thema Zuwanderung sagen. In den letzten Tagen wurde mit vielen Nebelkerzen geworfen.
({23})
Herr Bundesinnenminister, schön, dass Sie heute Morgen
da sind. Sie haben ein Gesetz vorgelegt, dessen Überschrift mit dem Inhalt nicht übereinstimmt.
({24})
Sie haben ein Gesetz vorgelegt, durch das die Anzahl der
Asylgründe erhöht wird, durch das das Ausmaß des Familiennachzugs - das gilt auch für diejenigen, die in
Deutschland nur auf Zeit geduldet sind - erheblich ausgeweitet wird und durch das zusätzliche Einwanderung in
den Arbeitsmarkt nach Deutschland in großem Umfang
ermöglicht wird.
({25})
Das ist die Wahrheit über den Inhalt dieses Gesetzes.
({26})
Ich sage Ihnen deswegen noch einmal ganz ruhig: Wir
sind bereit, mit Ihnen ein Gesetz zu machen, das die Zuwanderung regelt und begrenzt.
({27})
Wir sind bereit, mit Ihnen ein Gesetz zu machen, dass die
Integrationsprobleme der schon in Deutschland lebenden
Ausländer löst oder zumindest einen Teil der Lösung dieser Probleme ermöglicht. Wir sind bereit, mit Ihnen weiterhin zu sprechen.
({28})
Aber eines machen wir nicht mit: Sie loben ständig öffentlich die ausformulierten Vorschläge, die wir Ihnen zu
diesem Gesetz seit Monaten machen; Sie sagen, diese
Vorschläge seien gut, sie wiesen in die richtige Richtung
und man könne über sie reden - und gleichzeitig legt uns
die rot-grüne Koalition Tag für Tag, Woche für Woche und
Monat für Monat einen unveränderten Gesetzentwurf vor.
Das geht nicht.
({29})
Entweder akzeptieren Sie wenigstens den Teil unserer
Vorschläge, der dieses Gesetz vom Kopf auf die Füße
stellt, oder es wird keine gemeinsame Verabschiedung
eines solchen Gesetzes geben. Dann werden wir uns zum
Ende des Jahres über das Gesetz oder über das, was Sie
vorgehabt haben, zu unterhalten haben. Eines geht nicht,
nämlich dass wir bei 4,3 Millionen Arbeitslosen in
Deutschland in großem Umfang Einwanderung in den
deutschen Arbeitsmarkt ermöglichen, bevor wir nicht
die Arbeitsmarktprobleme in Deutschland aus eigener
Kraft gelöst haben. Das geht nicht, meine Damen und
Herren!
({30})
Da wir solche Probleme haben, hätte ich mir bei der
Vorlage des Jahreswirtschaftsberichtes
({31})
durch die rot-grüne Bundesregierung zumindest gewünscht, dass auf einen Teil Deutschlands in besonderer
Weise Bezug genommen worden wäre, der erhebliche
strukturelle Probleme hat, in dem es erheblichen Nachholbedarf in vielfältiger Hinsicht gibt - das sind die neuen
Länder.
({32})
Herr Bundeskanzler, von einer Chefsache Ost zu reden,
aber in einer Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, den der Bundesfinanzminister hier mit einer Fiskalrede vorgestellt hat, kein einziges Wort zu den neuen Ländern und ihren Problemen zu
verlieren - das ist ein unglaublicher Vorgang.
({33})
Sie können noch so viele Reisen durch die neuen Länder
machen, noch so schöne Fernsehbilder bringen - wenn
Sie in der Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht
der Bundesregierung nichts zum Thema neue Länder sagen,
({34})
ist das ein Armutszeugnis für dieses Land, ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung.
({35})
Zumindest die großen Probleme des Ausbaus der Infrastruktur, also der Straßen- und Schienenwege und auch
der Flughäfen in den neuen Ländern, hätten eine Rolle
spielen müssen. Der thüringische Ministerpräsident
Bernhard Vogel hat von dieser Stelle aus schon vor einem
Jahr konkrete Vorschläge gemacht, wie man hier zu einer
entsprechenden Infrastrukturoffensive kommen kann,
und er hat auch Finanzierungsvorschläge gemacht. Alles
wurde von Ihnen abgelehnt.
Ich hätte auch ein Wort erwartet - falls der Bundesfinanzminister dazu nicht in der Lage ist, dann vielleicht
vom Bundeswirtschaftsminister, wenn er sich in dieser
Debatte noch zu Wort meldet - zu den erheblichen Problemen beim Saldo in Bezug auf die Abwanderung aus
den neuen Ländern.
({36})
Wenn die jungen Leute, die Leistungsträger und die Familien aus den neuen Ländern wegziehen und in den Westen gehen, wenn wir erhebliche Probleme durch die
Abwanderung aus den neuen Ländern haben, ist dies auch
ein Thema für die Chefsache Ost. Dann können wir von
Ihnen erwarten, dass Sie in der Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht dazu Stellung nehmen.
({37})
Die Daten der Volkswirtschaft der Bundesrepublik
Deutschland sind so schlecht, wie sie seit Jahrzehnten
nicht gewesen sind.
({38})
Wir stehen vor einem Riesenberg ungelöster Probleme. In
einer solchen Lage müsste ein Regierungschef eine Rede
halten, die eine wirklich schonungslose Bilanz und eine
schonungslose Analyse der tatsächlichen Gegebenheiten
der Volkswirtschaft und des Landes vornimmt,
({39})
und er müsste anschließend den Menschen sagen, dass ein
sehr schwerer Weg vor uns liegt, dass viele Veränderungen
und tief greifende Reformen notwendig sind, dass Besitzstände gerade dort, wo sie von Ihnen verfestigt werden,
beispielsweise in der Bundesanstalt für Arbeit, infrage gestellt werden müssen. Dort wird die Arbeitslosigkeit auf
hohem administrativen Niveau bewirtschaftet und nicht
bekämpft.
({40})
Lassen Sie mich noch diese Bemerkung machen: Sie rekrutieren bei DGB und SPD einen großen Teil des mittleren Funktionärskorps aus dieser völlig verfilzten Sozialbürokratie, die sich dort entwickelt hat.
({41})
Deswegen werden Sie ganz sicher keine Reformen machen, durch die den Arbeitsmarkt in Deutschland wieder
vom Kopf auf die Füße gestellt wird.
({42})
Herr Bundeskanzler, Sie dürfen die Konjunktur nicht
beschwören und nicht nach Amerika blicken und erwarten, dass von dort etwas kommt, was Sie im eigenen Land
nicht leisten wollen. Sie müssten sich hier hinstellen und
sagen, was die Probleme sind, wie Sie sich eine Lösung
vorstellen und was die langfristige Perspektive für
Deutschland ist.
({43})
Dazu sind Sie zu schwach. Würden Sie es machen, würden Sie die Mehrheit dafür in den eigenen Reihen, bei den
Sozialdemokraten, nicht mehr bekommen. Deswegen hat
dieses Land eine bessere Regierung und eine bessere Politik verdient.
({44})
So kann es nicht weitergehen.
Deutschland muss seine Reformen wirklich durchführen und den Arbeitsmarkt wieder auf die Füße stellen.
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, Ihnen
trauen wir das nicht mehr zu.
({45})
Ich erteile dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Merz, Sie
haben über fast alles geredet, aber nicht
({0})
darüber wie Sie die Steuerreform und die Konsolidierung
wollen.
({1})
Hier war totale Fehlanzeige. Mir ist wohl bekannt, dass
eine Opposition natürlich vom Angriff lebt. Einer Opposition aber, die kein Gegenkonzept zu bieten hat
({2})
und sich trotzdem anheischig macht, die Regierung zu
übernehmen, können wir gelassen zuschauen.
({3})
Herr Merz, wenn Sie von einem Steuerprogramm der
Union reden, dann müssen Sie auch dazu sagen, welches
Steuerprogramm Sie meinen. Meinen Sie Ihres, das von
Frau Merkel, das von Herrn Stoiber oder das von wem
auch immer?
({4})
Ich kann nur sagen: Es war diese rot-grüne Koalition,
die den von Ihnen aufgetürmten Schuldenberg abgetragen
hat.
({5})
Die Zahlen sprechen für sich. Wir haben in unserer bisher
vierjährigen Verantwortung 39 Milliarden Euro auflaufen
lassen,
({6})
während Sie in vier Jahren 141 Milliarden Euro haben
auflaufen lassen. Da kann ich nur sagen: Dies ist eine sehr
deutliche Zahl. Sie waren die Schuldentreiber und wir
sind diejenigen, die Ihre Schulden - mühsam genug - abtragen.
({7})
Wir werden Finanzminister Eichel selbstverständlich
nach Kräften unterstützen, wenn es darum geht, die Ziele
des Stabilitätspaktes auch angesichts der neuen Finanzdaten und der Steuereinnahmeentwicklung zu erfüllen.
Wir wollen den nachfolgenden Generationen einen größtmöglichen Freiraum für ihre Leistungs- und Gestaltungsfähigkeit einräumen und die Stabilität des Euro gewährleisten.
Wenn wir uns im Vergleich dazu die Landesfürsten der
CDU-regierten Ländern anschauen, dann sehen wir, dass
sie diese Stabilitätsvorgaben allesamt nicht ernst genommen haben. Das Land Berlin - die legendäre Berliner
Bankgesellschaft und Herr Diepgen -, Hessen, BadenWürttemberg und auch Bayern, das Land des Kandidaten,
haben die Grenzen nach oben bei weitem überzogen. Ich
bin mir sicher - vorhin kam das Stichwort -, dass Herr
Stoiber jeden Tag ein Stoßgebet in den weiß-blauen Himmel schickt,
({8})
dass ihm die abenteuerlichen Kredite an Kirch nicht um
die Ohren fliegen mögen.
({9})
Dann könnte Stabilität nämlich überhaupt nicht mehr erreicht werden. Auch Bayern würde dann nichts mehr gebacken bekommen.
({10})
Wenn ich höre, dass Herr Stoiber sagt, dass er zwischen
2,7 und 3 Prozent einen Spielraum hat - das wären 8 Milliarden, die er in Beschäftigungsprogramme oder was
auch immer stecken will -, und wenn ich die diversen
Ausgabenprogramme aus Ihren Reihen, etwa die von
Herrn Merz und Frau Merkel, dazurechne,
({11})
sehe ich, dass wir dann nicht mehr bei 3 Prozent lägen.
Herr Merz, dann hätte uns nicht nur ein blauer Brief aus
Brüssel gedroht, wir hätten ein blaues Päckchen bekommen, was auf Ihre Kosten und auf Ihr Konto gegangen
wäre.
({12})
Von der FDP hört man, sie wolle die Verpflichtungen
suspendieren, das heißt, sie will sich nicht mehr daran halten. Deshalb brauchen wir darüber gar nicht zu diskutieren.
Für uns sind ausgeglichene Staatsfinanzen der beste
Beitrag und die erste Voraussetzung dafür, dass Wachstum
und Beschäftigung wieder anziehen.
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft im Euroraum und steht mit seiner Finanzpolitik in der gemeinsamen Verantwortung. Die Bundesregierung ist, soweit ich
das sehe, das einzige Organ in Deutschland, das dieser
Verantwortung nachkommt und für Stabilität sorgt.
({13})
- Herr Glos, zu Ihnen komme ich noch.
({14})
Nun zum Thema Arbeitsmarkt. Wir müssen die
schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt im Kontext
sehen. In unserer Regierungszeit, Herr Merz - vielleicht
ist Ihnen das entgangen -, haben wir gegenüber Ihrem
Stand von 1998 einen Zuwachs von 1,1 Millionen Erwerbstätigen erreicht; das ist eine relevante Zunahme der
Erwerbstätigkeit. Ein großer Brocken in Bezug auf die
Beschäftigungswirksamkeit ist die von uns eingeleitete
Energiewende mit insgesamt 120 000 neuen Arbeitsplätzen durch das Voranbringen der regenerativen Energien,
deren Wertschöpfung übrigens nicht in die großen Konzerne fließt, sondern beim Mittelstand und beim Handwerk in den Regionen bleibt. Das wollten wir erreichen.
Wir wollen die Wertschöpfung durch die regenerativen
neuen Energien in den Regionen belassen. Das ist eine
Jobmaschine und das tut dem Handwerk und dem Mittelstand in den Regionen gut.
({15})
Sie hingegen wollen das Rollback in die Atomenergie.
Gott sei Dank hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen in
den letzten Tagen gleich zweimal einen Strich durch die
Rechnung gemacht, nämlich in Sachen Gorleben und in
Sachen Biblis. Rechtlich kommen Sie da überhaupt keinen
Schritt weiter, auch nicht - dafür werden wir sorgen - politisch.
({16})
Wenn ich mir dann die steuerpolitische Diskussion in
der CDU/CSU ansehe - Herr Merz, Sie haben keinen Ton
dazu gesagt, wie Ihre konkreten Vorschläge aussehen -,
stelle ich fest, dass da alles im Angebot ist, was das Herz
begehrt. Frau Merkel will die letzte Stufe der Steuerreform von 2005 vorziehen. Kosten: schlappe 25 Milliarden Euro.
({17})
Der Kandidat aus Bayern sagt darauf: So nicht! - Auch
Merz will vorziehen. Jetzt kommen Sie, Herr Glos, und
sagen: Weitere Steuersenkungen - wo Sie Recht haben,
haben Sie Recht; da gebe ich Ihnen auch ex cathedra
Recht ({18})
sind zurzeit seriöserweise nicht zu finanzieren. - Genau
das ist unser Kurs. All das, was von Ihnen oder von der anderen Seite zum Thema Steuersenkung kommt, sind Seifenblasen, sind Luftblasen, die morgen schwarz werden
und zerplatzen.
({19})
Aber es geht ja noch weiter. Ich habe mir verwundert
die Augen gerieben, als ich gelesen habe: „Union plant“
- nicht Steuersenkungen, wie man es bisher überall lesen
konnte - „höhere Unternehmensteuern“.
({20})
Was meinen Sie, was der Mittelstand dazu sagen wird,
wenn Verlustvorträge und Verlustverrechnungen gekappt
werden, die einzige Möglichkeit für den Mittelstand in
Krisenzeiten, Liquidität wieder zu mobilisieren? Es können nur Investitionen getätigt und Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn Liquidität im Mittelstand vorhanden
ist. Das wird aber - was habe ich da gelesen? - mit Ihren
Vorschlägen gefährdet, Herr Rauen. Sie erzählen den
Menschen ständig, Sie wollten die Steuern senken. Aber
gemäß dem „Handelsblatt“ wollen Sie die Unternehmensteuern erhöhen.
({21})
Das wäre Gift für unsere Wirtschaft.
({22})
Ich kann die alte Leier nicht mehr hören, dass der Mittelstand gegenüber den Kapitalgesellschaften benachteiligt werde.
({23})
Jetzt hören Sie einmal zu: Selbst der Steuerexperte des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages sagt, dass
inzwischen eine Gleichstellung in der Besteuerung von
Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften festzustellen sei. Wir haben bei den Personengesellschaften eine
progressiv ausgestaltete Einkommensteuer, wir haben die
Gewerbesteuer, wir haben ein Anrechnungsverfahren bezüglich der Gewerbesteuer, wir haben die Reinvestitionsrücklage und wir haben ein Paket geschnürt, das nur auf
den Mittelstand orientiert ist. Damit wurden die Personengesellschaften bezüglich der Steuerbelastung mit den
Kapitalgesellschaften gleichgestellt.
({24})
Aus dem dissonanten Chor der CDU ist nicht herauszuhören, was bezüglich der Konsolidierung und der Steuerreform geschehen soll. Man hört aus dem Off vom ehemaligen CDU-Vorsitzenden Schäuble, man solle doch
erst einmal überlegen. Dazu kann man sagen: Recht hat
auch er. - Ich höre aber auch, dass man erst zu Ostern mit
dem endgültigen finanzpolitischen Konzept aufwarten
will,
({25})
quasi die finanzpolitische Auferstehung des Kandidaten
Stoiber und der CDU.
Für mich ist die Auferstehung eine Frage des Glaubens.
Die Steuerpolitik ist aber real. Wir haben die ambitionierteste Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik
in die Wege geleitet.
({26})
Wir werden sie über den 22. September hinaus erfolgreich
fortsetzen.
Danke schön.
({27})
Ich erteile nun dem
Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schlauch, ich hatte bei Ihrer Rede wirklich Sorge um Ihre Gesundheit.
({0})
Ich hatte mir schon überlegt, ob ich nicht die Parlamentsärztin anrufen sollte. Sie haben anscheinend den Kopf mit
dem Kehlkopf verwechselt.
({1})
Ich zitiere:
Für 2001 erwarten wir weiterhin ein starkes ... Wirtschaftswachstum. Die Dynamik wird sich zwar leicht
abschwächen;
({2})
angesichts von 2,75 Prozent realem Wachstum bleibt
das Umfeld zum Aufbau neuer Arbeitsplätze aber
weiterhin günstig.
So haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, im letzten Jahr
in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht die Backen
aufgeblasen.
Die Realität sieht anders aus. 0,5 Prozent Wachstum,
4,3 Millionen Arbeitslose, steigende Sozialbeiträge, steigende Steuern, steigende Schulden und explodierende
Gesundheitskosten: Das ist die Bilanz grün-roter Wirtschaftspolitik.
({3})
Mit dem lauen Verweis auf die außenwirtschaftliche
Verflechtung kann sich die Regierung der drittgrößten
Volkswirtschaft nicht aus der Verantwortung stehlen. Ist
vielleicht nicht auch unsere hohe Firmenkapitalverflechtung mit dem Ausland Ausdruck des unattraktiver gewordenen Standorts Deutschland in den drei Jahren, in denen
Sie die Politik in diesem Land betreiben?
Jeder weiß: Die deutsche Krankheit fängt beim
Arbeitsmarkt an. Der Bundeskanzler versprach hier Heilung. „Wenn wir“, so sagte der Kanzler, „die Arbeitslosigkeit nicht signifikant senken, haben wir es nicht verdient, wieder gewählt zu werden“.
({4})
Der Bundeskanzler hat mit seiner Prognose Recht. Sie haben es tatsächlich nicht verdient, wieder gewählt zu werden.
({5})
Grün-Rot hat den Arbeitsmarkt verregelt und verriestert: siehe Mitbestimmung, siehe Zwangsteilzeit,
siehe Scheinselbstständigkeit, siehe 630-DM-Jobs. Als
die Arbeitsmarktkatastrophe nicht mehr zu verbergen
war, haben Sie Heftpflaster und Placebos ausgepackt.
Anstatt mit unbürokratischen 630-Euro-Jobs schnell
Stellen zu schaffen, setzen Sie auf dirigistische
Subventionsmodelle, die schon in den Modellregionen,
wenn überhaupt, nur bescheidene Erfolge gebracht haben.
({6})
Der größte Skandal aber ist das so genannte Job-AqtivGesetz. Mit dieser grün-roten Wunderwaffe will der
„Bundesarbeitslosminister“ Herr Riester eine Vermittlungsoffensive mit 2 000 neuen Beamtenstellen starten.
Seit einigen Tagen wissen wir: Vermittelt wird von den
Arbeitsämtern nur wenig. Stattdessen werden viele Statistiken frisiert. Darin hat Grün-Rot Übung.
({7})
Sie behaupten ständig, Sie hätten 1 Million Stellen geschaffen. Das ist die nächste Statistiktrickserei. Die können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Sie wissen doch,
dass die Zahl der Vollzeitbeschäftigen konstant geblieben
ist. Nur bei der Teilzeitbeschäftigung gab es einen Zuwachs. Der beruht zum größten Teil auf der neuen Meldepflicht im Rahmen der geringfügigen Beschäftigung.
({8})
Durch die Neuregelung der 630-DM-Jobs existierende
Stellen statistikwirksam aufgespürt zu haben, können Sie
nun wirklich nicht als Beschäftigungserfolg verkaufen.
({9})
Das einzig richtige, objektive Kriterium ist das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen. Das ist nicht gesteigert worden. Seit dem Regierungswechsel wird in
Deutschland unter dem Strich nicht in größerem Umfang
gearbeitet. Das Arbeitsvolumen ist vielmehr konstant geblieben. Entweder Sie wollen die Statistiken nicht richtig
lesen oder Sie führen die Öffentlichkeit bewusst in die
Irre!
({10})
Irreführend ist auch die Vermittlungsaffäre an sich. Sie
ist nicht in erster Linie eine Affäre „Jagoda“, sondern eine
Affäre „Riester“, eine Affäre der grün-roten Bundesregierung.
({11})
Doch „politische Verantwortung“ ist für diese Regierung
ein Fremdwort. Wie viele seiner Kollegen klebt Herr
Riester an seinem Sessel. Er reiht sich nahtlos in die Pattexriege ein, die auf der Regierungsbank sitzt.
({12})
Herr Riester, wir brauchen kein Job-Aqtiv-Gesetz, sondern eine grundlegende Neuorganisation der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Wir brauchen Wettbewerb in
der Arbeitsvermittlung.
({13})
Wir brauchen eine schlankere Bundesanstalt für Arbeit.
Wir müssen uns von der Kungelei zwischen Arbeitsministerium und Tarifvertragsparteien verabschieden.
({14})
- Dass Sie als gewerkschaftlicher Metallfunktionär
schreien, verstehe ich ja. - Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik aus einem Guss.
Deshalb schlagen wir vor, die Arbeitsmarktpolitik in
das Wirtschaftsministerium zu integrieren. Denn die
Wirtschaftspolitik hat die Aufgabe, Arbeit zu schaffen und
von einem Arbeitslosenverwaltungsministerium wegzukommen.
({15})
Wichtige Reformen müssen endlich angepackt und dürfen
nicht verschoben werden. Der Leidensdruck auf dem
Arbeitsmarkt verlangt dies.
Der Weg zu mehr Beschäftigung kann nur über die Betriebe vor Ort führen. Wir brauchen mehr Freiräume für
die Betriebe, zum Beispiel über Lohnfindung auf der Unternehmensebene, und weniger Fremdbestimmung durch
Gewerkschaftsfunktionäre, wie Sie, Herr Weiermann, einer sind.
({16})
Die FDP hat ihr Konzept für eine umfassende Reform
des Tarifsystems vorgelegt, das vor allem den Unternehmen bzw. dem Mittelstand neue Möglichkeiten eröffnen
soll. Im Osten können Sie es studieren: Aus der Notsituation heraus sind dort über drei Viertel aller Arbeitsverhältnisse außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts abgeschlossen worden.
({17})
Keine Gewerkschaft kritisiert das, und das aus gutem
Grund: Sie wissen, dass ein anderes Vorgehen die Arbeitslosigkeit im Osten verdoppeln und verdreifachen
würde. Denn dort ist die miserable und falsche grün-rote
Politik doppelt so schmerzhaft wie im Westen.
({18})
Es ist haarsträubend, dass gerade die Gewerkschaft,
der Sie angehören, Herr Zwischenrufer, die IG Metall, mit
einer Forderung von 6,5 Prozent in diese Lohnrunde geht.
Auf dieser Basis kann man vielleicht Verhandlungen mit
Porsche führen, aber nicht mit dem Mittelstand und der
Mehrheit der deutschen Betriebe. Auch bei Opel geht das
nicht. Einige Ihrer Funktionäre haben inzwischen auch
kapiert, dass man dort anders vorgehen muss.
Deshalb braucht man Öffnungsklauseln. Deshalb
muss das Günstigkeitsprinzip auch zugunsten der Erhaltung des eigenen Arbeitsplatzes umgesetzt werden.
({19})
Grün-Rot macht das Gegenteil. Sie zahlen damit Ihre
Wahlschulden bei den Gewerkschaften für die Wahlhilfe ab. Sie stärken die Gewerkschaftsfunktionäre. Sie
schwächen unser Land. Das ist Ergebnis dieser Politik.
({20})
Seit neun Jahren war das Wachstum nicht mehr so
schlecht wie unter Grün-Rot. Grün-Rot hat Deutschland
in eine Rezession geführt. An frühzeitigen Mahnungen
hat es nicht gefehlt. In der Debatte zum letzten Jahreswirtschaftsbericht, vor einem Jahr, also vor dem 11. September, habe ich ein Blitzprogramm für Strukturreformen
gefordert. Ich wurde damals als Miesmacher beschimpft.
Es hieß, ich redete das Land schlecht. Ich habe das Land
nicht schlecht geredet. Sie haben schlecht regiert. Das ist
die Wahrheit.
({21})
In Brüssel hat Grün-Rot die Quittung für die falsche
Wirtschafts- und Finanzpolitik bekommen. Sie haben das
Wachstum nicht gefördert und damit die Konsolidierungspolitik untergraben. Weil Sie nichts getan haben, haben Sie den Haushalt an die Wand gefahren. Das ist die
Realität. Sie tragen die Verantwortung dafür, wenn
Deutschland vom Initiator zum Terminator des europäischen Stabilitätspakts wird.
({22})
Herr Eichel, wie schlecht muss es Ihnen eigentlich gehen? Sie haben in der gestrigen Debatte zum wiederholten Male die Unwahrheit gesagt und mir vorgeworfen, ich
wolle das Maastricht-Kriterium aushebeln. Ich weiß
nicht, was Ihre Beamten Ihnen aufgeschrieben haben,
aber das ist schlicht unwahr. Das habe ich nie gesagt. Im
Interesse einer redlichen Auseinandersetzung jenseits
Ihrer falschen Politik - ich halte Sie persönlich für einen
redlichen Mann ({23})
sollten Sie aufhören, solche Diffamierungen vorzutragen,
und diese Behauptung zurücknehmen.
({24})
Herr Eichel, jetzt haben Sie in Brüssel versprochen, bis
zum Jahr 2004 einen ausgeglichenen Gesamthaushalt
hinzubekommen. Wie Sie das aber erreichen wollen, sagen Sie nicht. Wo wollen Sie sparen? Wollen Sie die Steuern erhöhen? Wollen Sie die Länder oder andere, die es
besser gemacht haben, zur Ader lassen? Wollen Sie sonntags in die Kirche gehen und beten? Wollen Sie Kerzen im
Dom aufstellen? Was wollen Sie machen? Sie rudern
schon ein bisschen zurück und erklären: Na ja, wir wollen
eine Verschuldung nahe bei null erreichen. - „Nahe bei
null“ ist die Zauberformel der grün-roten Politik. Null Ahnung, null Wachstum, null Arbeitsplätze, das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({25})
In Ihrem grün-roten Wirtschaftsbericht und in der Debatte heute faseln Sie schon wieder von einem neuen Aufschwung. Ich frage mich: Ist alles das, was wir in diesem
Land diskutieren, eine Erfindung, ist das alles virtuell
oder sehen Sie die Realität nicht? Die Wahrheit ist wohl,
dass Sie auf das Prinzip Hoffnung setzen, weil Sie nichts
auf der Pfanne haben.
Grün-Rot hofft auf einen niedrigen Ölpreis. Vor einem
Jahr haben Herr Müntefering und seine Konsorten noch
die Multis wegen der Ölpreise beschimpft.
({26})
Wahrscheinlich hat die SPD-Zentrale schon einen Dankesbrief an die OPEC geschickt.
({27})
Ernsthaft: Die außenpolitische Lage in Nahost wie auch
im Irak lässt sehr wohl Gefahren erkennen. Aber Sie
machen kein Worst-Case-Szenario wie der Sachverständigenrat. Sie von Grün-Rot hoffen auf niedrige
Zinsen der EZB, aber indem Sie die Potenziale für Inflation durch Ökosteuererhöhung, durch Versicherungsteuererhöhung, durch Tabaksteuererhöhung vergrößern,
machen Sie die Basis für weitere Zinssenkungen kaputt.
Grün-Rot hofft auf den Wirtschaftsaufschwung in
den Vereinigten Staaten. Statt selbst etwas zu tun, sitzen
Sie defätistisch da und sagen sich: Die Amerikaner werden es hoffentlich besser machen als wir. - Gleichzeitig
warnt der Bundeskanzler in seinen Reden vor amerikanischen Verhältnissen in Deutschland. Sie verurteilen in
Ihren Sonntagsreden das amerikanische Wirtschaftssystem, aber gleichzeitig verknüpfen Sie Ihr Schicksal damit. Sie hoffen, dass dieses System besser funktioniert,
dass die Wirtschaft dort schneller wieder in Gang kommt,
damit auch die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland
besser wird.
({28})
Wenn man so vorgeht und so öffentlich argumentiert,
dann ist das Zynismus pur.
({29})
Die Wahrheit ist, dass die amerikanische Strategie
- flexible Güter- und Arbeitsmärkte sowie niedrige Steuern - erfolgreicher ist als die grün-rote Strategie des Betonierens.
Einige Sozialdemokraten sehen dies sehr wohl. Aber
die 4-Prozent-Partei an ihrer Seite träumt noch von einem bürokratischen Hochsteuerstaat. Ihr Anführer Joseph
Fischer tut es öffentlich kund. Das ist die Wirtschaftspolitik von vorgestern. England und Spanien haben ein
Wachstum von 2 Prozent, Frankreich und Schweden von
1,5 Prozent. Alle diese Länder sind der gleichen Weltwirtschaft wie wir ausgesetzt. Ich frage Sie: Weshalb haben sie bessere Ergebnisse? Weil sie eine bessere Politik
machen und besser aufgestellt sind. Sie haben uns in diese
schlechte Situation gebracht, sodass die Weltwirtschaft
bei uns stärker als in anderen europäischen Ländern
durchschlägt. Das ist die Wahrheit.
({30})
Das ist der Grund, dass der „Economist“ Deutschland
den Titel der Schlafmütze Europas verliehen hat. Danke
schön für diesen Ehrentitel, den uns Grün-Rot beschert
hat!
Wie gehen Sie vor? Sie haben eine ausgefeilte Verdrängungsstrategie. Es wird argumentiert: Wenn wir die
Bauwirtschaft herausrechnen, dann sieht die Lage ganz
anders aus. - Wenn wir Ostdeutschland herausrechnen,
dann sieht die Lage ebenfalls ganz anders aus. Wenn wir
die Arbeitslosen herausrechnen, dann haben wir Vollbeschäftigung. Aber das ist keine Lösung der Probleme.
Das ist Selbsttäuschung und Trickserei.
({31})
Sie müssen die Steuerpolitik vom Kopf wieder auf die
Füße stellen, den Mittelstand anständiger behandeln, das
Steuersystem fair, einfach und überschaubar machen. Wir
haben einen klaren Vorschlag gemacht: Steuersätze von
15, 25 und 35 Prozent. Die Ökosteuer gehört abgeschafft.
Hier verstehe ich Herrn Stoiber nicht.
({32})
Die Ökosteuer war immer Blödsinn und eine Abzocke.
Man kann darüber diskutieren, dass man ein Steuersystem
ökologisch ausrichtet, aber diese Lügensteuer, die die
größten Energieverbraucher freistellt und diejenigen, die
sparen, zu Schädlingen an der Rentenkasse macht, hat
keinen Platz in einem rationalen Steuersystem. Die Ökosteuer ist und bleibt Unfug.
({33})
Wie sieht die Realität aus? Die Kleinen müssen bluten,
die Großen können ihre Beteiligungen steuerfrei verkaufen. Vor allem die Hausmarken bekommen Privilegien.
Voran der Schutzpatron der deutschen Monopole: Herr
Minister Müller. Die Stromriesen bekommen einen Energiesockel, die Post Umsatzsteuererleichterungen und
Monopolzusagen, VW ein keimfreies Übernahmeverhinderungsgesetz und Telekom einen Schutz bei der letzten
Meile. Der Mittelstand zahlt und die großen, der Regierung verbundenen Unternehmen werden besonders gut
behandelt.
Das kommt davon, wenn man mit Ordnungspolitik
nichts im Sinn hat. Der Wirtschaftsminister müsste das
ordnungspolitische Gewissen im Land sein, aber er ist der
Schutzpatron der Monopole in Deutschland. Mit der
Monopolisierung werden wir die Probleme nicht lösen.
Wettbewerb und soziale Marktwirtschaft sind das Lösungsrezept. Monopolstellungen zu verlängern und zu
festigen führt uns nicht voran.
({34})
Kollege Brüderle, Sie
haben Ihre Redezeit überschritten.
Mein letzter Satz, Herr Präsident. - Sie wollten es besser machen, aber haben alles
schlechter gemacht. Wir werden dafür kämpfen, dass wir
mit mehr Marktwirtschaft vorankommen. Weil wir das
richtige Rezept anpacken, werden wir siegen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, Sie haben sich
wegen der Lautstärke des Kollegen Schlauch um dessen
Gesundheit gesorgt. Ich wollte Ihnen nach Ihrer Rede nur
sagen: Denken Sie bitte auch an Ihre eigene Gesundheit!
({0})
Ich glaube, die interessierte Öffentlichkeit sollte durchaus einen Einblick in den Text dieses Berichtes bekommen, über den wir heute diskutieren. Ich will Ihnen nur ein
paar Kostproben geben. Dort steht:
Deutschland steht im internationalen Vergleich gut
da ... Sichtbare Erfolge, neue Aufgaben ... Dabei profitieren gerade auch die neuen Länder von den Reformen der Bundesregierung ...
Ich sage Ihnen: Wenn ich Ihnen ein Zitat aus der Erfolgsberichterstattung der DDR-Wirtschaft untergemixt hätte,
dann hätten Sie das gar nicht gemerkt.
({1})
Eines muss man Ihnen natürlich sagen - das wissen wir
alle aus täglichen Gesprächen mit Beschäftigten, Unternehmern und auch Arbeitslosen in diesem Lande -: Die
Realität ist eine andere. Sie in der Koalition kommen
mir - gestatten Sie mir, dass ich dies mit einem Bild veranschauliche - wie der verirrte Wanderer im Walde vor,
dem irgendwie schwant, dass er vom rechten Wege abgekommen ist, und der sich mit wiederholtem Blick auf
seine Landkarte immer wieder Mut macht und sich selber
zuruft: Die Karte ist richtig, aber die Gegend ist falsch.
Aber so kann man nicht Politik machen, meine Damen
und Herren.
({2})
Zur Erklärung von Unzulänglichkeiten und Missständen haben Sie dann den sattsam bekannten Trick benutzt
und sich vielfach die Patenterklärung in den Bericht geschrieben, die da heißt: Es wäre sonst alles noch viel
schlimmer gekommen. - Auch mit diesem Schönreden
und Schönschreiben werden wir den Realitäten und den
Aufgaben, um die es hier geht, nicht gerecht. Selbstverständlich - auch das merken Sie - haben wir es hier mit
einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung gegenüber
Wirtschaftspolitik und Politik überhaupt zu tun. Dieser
Vertrauensverlust wird jetzt natürlich in erheblicher
Weise durch die Tatsachen genährt, die über die Bundesanstalt für Arbeit und die Arbeitsämter bekannt werden.
Dass bei der Statistik einmal das eine oder andere
nicht stimmt, daran hat sich die Öffentlichkeit schon gewöhnt. Dass aber die Ergebnisse um zwei Drittel bis zu
drei Viertel falsch sind, ist natürlich eine Tatsache, die
wirklich Vertrauen zerstört. Was mich ein bisschen wundert, ist das große Erstaunen, das jetzt einsetzt - als wären
das alles Vorgänge, die erst in den letzten Wochen oder
Monaten entstanden wären. Hier, glaube ich, ist wirklich
gründliches Aufräumen angesagt.
Ich möchte mich mit einem nicht abfinden: In der Öffentlichkeit wird das jetzt als ein „Statistikskandal“ behandelt. Meine Damen und Herren, das ist kein Statistikskandal, sondern ein Skandal im Umgang mit den Sorgen,
Hoffnungen und Nöten von Menschen in diesem Lande.
Das kann man so nicht hinnehmen.
({3})
Als Realitätstest für Ihren Jahreswirtschaftsbericht
2002 ist es allemal angebracht, einmal einen Blick in den
Jahreswirtschaftsbericht aus dem vergangenen Jahr zu
werfen und sich anzuschauen, was Ihre damaligen Prognosen mit den Realitäten zu tun haben. Nehmen wir nur
wenige Fakten. Sie haben die Senkung der Arbeitslosigkeit auf 9 Prozent angekündigt. Tatsache aber ist, dass die
Arbeitslosigkeit inzwischen stärker ansteigt, auch im Vergleich zu den Vergleichsmonaten des Vorjahres. Wir haben es also nicht mehr nur mit einer Verlangsamung im
Abbau der Arbeitslosigkeit zu tun - wie Sie immer öffentlich bekunden -, sondern wir haben es mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit zu tun. Die Faulenzerdebatte
und die Beschimpfung von Menschen, die aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen werden, setzen Sie noch
obendrauf.
({4})
Ich will Ihnen einen zweiten Fakt nennen. Sie haben bei
den Anlageninvestitionen - alles aus Ihrem Bericht aus
dem vergangenen Jahr - eine Prognose von plus 4 Prozent
gegeben. Erreicht haben Sie im Jahr 2001 minus 3,9 Prozent. Die Zahlen stimmen ja in etwa, aber die Vorzeichen
wurden verwechselt. Sie haben bei der Inlandsnachfrage
4 Prozent Wachstum prognostiziert und nur 0,8 Prozent
erreicht. Das enttäuscht nicht wegen der schlichten Zahlen, sondern wegen der spürbaren Ergebnisse im Lebensalltag von Bürgerinnen und Bürgern. Das enttäuscht
natürlich auch - lassen Sie von Rot-Grün sich das gesagt
sein - viele Ihrer Wählerinnen und Wähler, die Sie 1998
wegen des Gesichts von Gerhard Schröder und des Programms von Oskar Lafontaine gewählt haben und die inzwischen von Ihrer Politik bitter enttäuscht sind.
({5})
Das betrifft nicht nur traditionelle SPD-Wähler, sondern
auch die neue Mitte, die Sie gleichermaßen verprellt haben, die Erwerbstätigen wie die Arbeitslosen.
Nun bemühen Sie - das ist schon gesagt worden - zur
Erklärung dieser Zustände die internationale Lage und geben die Weltökonomen: Die Weltwirtschaft ist in der
Rezession. Wenn Sie uns hier schon die Weltökonomen
vorspielen, dann dürfen Sie auch nicht ausblenden, welche Erfahrungen es in anderen europäischen Ländern
gibt: nämlich einen Lohnzuwachs von 4,5 Prozent im Jahr
2001 in Frankreich und in England. Beide Länder liegen
im Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes besser als
Deutschland. In beiden Ländern gibt es Konjunkturprogramme. Das sind Erfahrungen, die wir uns auch anschauen sollten. Stattdessen setzen Sie auf das Konjunkturprogramm in den USA. Vom amerikanischen Kongress
- das wissen Sie - ist aber gerade dieses Konjunkturprogramm auf Eis gelegt worden. Soeben wird vermeldet,
dass es im vergangenen Jahr auch in den Vereinigten
Staaten einen Insolvenzenrekord mit einem Zuwachs von
20 Prozent gab. Das alles sind also keine verlässlichen
Positionen.
({6})
- Natürlich sage ich das auch dem Herrn Brüderle.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sozialistinnen und Sozialisten sind bekanntlich nicht nur Verteilungskünstler. Auch wir wissen sehr wohl, dass Wertschöpfung die Voraussetzung für soziale Wohltaten ist.
Aber Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Ihr Kurs der Pflege
von Großbanken und Großunternehmen schadet der
Gesellschaft. Mich erstaunt in diesem Deutschen Bundestag allerdings, in welcher Weise die Unionsfraktion und
auch die FDP das Image aufbauen, sie seien die Kampfgruppen gegen das Großkapital. Hier muss ich mich fragen, welche Union ich bisher wahrgenommen habe.
({7})
Lassen Sie mich dazu einige Fakten nennen: In der
Metall- und Elektrobranche gab es zwischen 1993 und
2000 einen Gewinnzuwachs von 0,6 Milliarden Euro auf
25 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum ist die Lohnquote von 26,9 auf 18,8 Prozentpunkte abgesunken. Denjenigen, die mir immer mit Niedriglohnmodellen kommen, muss ich sagen, dass wir keine Niedriglohnmodelle
brauchen, da es in diesem Lande schon zu viele Niedriglöhne gibt.
({8})
Würden solche Modelle helfen, müsste im Übrigen der
gesamte Osten der Republik regelrecht boomen.
({9})
Ein anderes Beispiel: Allein zwei große Banken haben
im vergangenen Jahr aus Veräußerungen einen steuerfreien Gewinn von 3,5 Milliarden gezogen. Könnte man
darauf aufbauen, dass Ihre Steuerpolitik auch eine vernünftige Beschäftigungspolitik wäre, dann müsste man
jetzt Signale zum Abbau der Arbeitslosigkeit erwarten dürfen. Welche Signale kommen aber von den Banken? Beschäftigtenabbau! Das passt nicht zusammen. Deshalb und
weil wir alle wissen, dass die Lohnsteuer nach wie vor den
größten Teil der direkten Steuern ausmacht, müssen wir etwas dafür tun, dass die Binnenkaufkraft gestärkt wird.
Diese stärkt dann sowohl die Wirtschaft als auch den Staat.
({10})
Meine Damen und Herren, auch dieser Jahreswirtschaftsbericht muss sich mit Blick auf die neuen Länder
prüfen lassen. Die PDS hat ihre Forderungen für die neuen
Länder selbstbewusst „Zukunftsfaktor Ost“ genannt. Die
CDU hat inzwischen davon einiges abgeschrieben. Wenn
wir über Chancen im Osten reden, müssen wir aber auch
die Realitäten wahrnehmen.
Leider verstetigt sich der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts im Osten bei nur einem Drittel des Westniveaus.
Das heißt, die Schere wird weiter auseinander gehen.
Wenn man dann noch weiß, dass die Unternehmensdichte
im Osten - nicht zu verwechseln mit der Cousinendichte,
Herr Bundeskanzler - nur ein Viertel des Westniveaus
ausmacht, dann wird deutlich, vor welchen großen Herausforderungen wir stehen. In den neuen Bundesländern
brauchen wir endlich Investitionen in Köpfe und neue
Technologien. Aber bei Ihnen hat sich offenbar die Logik
fortgesetzt, die bis 1998 vorherrschte: Vor den Aufschwung haben die Götter den Beton gesetzt.
Ich will aber auch nicht verhehlen, dass es erfreuliche
Entwicklungen gibt. Das Engagement auch dieser Koalition für den Erhalt der Waggonbaustandorte in Ostdeutschland verdient Anerkennung.
({11})
Ich empfinde es als unredlich von der Union, zuerst von
diesem Pult aus vom Kanzler zu fordern, er solle endlich
etwas tun, ihn dann aber, wenn er sich einmal engagiert,
zu beschimpfen. Das geht nicht zusammen.
({12})
Kollege Claus, Sie
müssen allmählich zum Schluss kommen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Schluss möchte ich noch
auf die dramatische Wirtschaftslage der Kommunen
verweisen. Deren lnvestitionen sind in den letzten Jahren
in Westdeutschland um ein Drittel und in den neuen Bundesländern sogar um die Hälfte zurückgegangen. Insofern
geht die Kritik des Bundesfinanzministers an Ländern
und Kommunen völlig daneben. Wem in einer so schwierigen wirtschaftlichen Situation zum Thema Stabilitätspakt nichts anderes als Sparen einfällt, der macht keine
zukunftsfähige Politik. Sparen allein bringt noch keine
Stabilität; man muss sich auch um Einnahmeerhöhungen
und die Verbesserung der Konjunktur bemühen.
Herr Kollege Claus,
kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren,
der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung verkennt den Ernst der Lage. Er negiert die Chancen und
Hoffnungen im Lande. Er ist eine Wahlhilfe für die Union,
die sie wahrlich nicht verdient hat. Packen Sie die Probleme endlich an, damit die „ruhige Hand“ nicht zum Vorruhestand führt.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile dem Bundesminister für Wirtschaft, Werner Müller, das Wort.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie ({0}): Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Mir ist bei der Rede
von Herrn Eichel aufgefallen, dass Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, immer dann besonders unruhig werden, wenn Herr Eichel Ihnen einige bittere
Wahrheiten zu bedenken gibt. Mir ist insbesondere aufgefallen, dass Sie schlichtweg mit falschen Zahlen operieren.
({1})
Man kann sagen: Die Rede von Herrn Schlauch war laut,
aber sie war auch lauter.
({2})
Deswegen gestatten Sie, dass ich einige Gedanken von
Herrn Eichel noch einmal aufgreife.
Das Wachstum in diesen Monaten ist nicht das, was wir
alle uns wünschen. Wenn ich sage: Das Wachstum ist
nicht das, was „wir“ uns wünschen, dann meine ich die
Regierungsparteien. Denn Sie verfallen in einen Trend,
dieses Land bis zum 22. September schlechtzureden.
({3})
Das ist im Grunde völlig unverantwortlich.
Wir haben in den ersten vier Jahren der Regierung
Schröder - ich betone: in den ersten vier Jahren der Regierung Schröder - eingedenk eines schlechten Jahres
2001 und keines allzu guten Jahres 2002 im Durchschnitt
1,6 Prozent Wachstum erzielt. Sie haben von 1992 bis
1998, in den letzten sieben Jahren Kohl, 1,3 Prozent Wirtschaftswachstum erzielt.
({4})
Das ist die Statistik. Ich finde es nicht in Ordnung, dass
Sie jetzt schon wieder gegen Ihre schlechten Wachstumszahlen protestieren. Das hätten Sie damals tun müssen.
Jetzt ist es Faktum.
({5})
Ich vergleiche einmal die 1,3 Prozent der letzten sieben
Jahre Kohl mit den 1,6 Prozent der ersten vier Jahre
Schröder. Wir haben gewaltige Unterschiede. Beispielsweise hatten wir in den ersten vier Jahren Schröder eine
Rezession der Baukonjunktur. Sie haben in den letzten
sieben Jahren Kohl fast jedes Jahr noch immense Subventionen in die Bauwirtschaft gegeben. Damals ist dieses schon mäßige Wachstum noch durch übermäßige Subventionierung der Bauwirtschaft getragen worden, deren
Ruinen wir jetzt begradigen müssen.
({6})
Ein weiterer Unterschied ist folgender: Es ist Ihnen gelungen, von 1992 bis 1998 - in den letzten sieben Jahren
Kohl - die Auslandsinvestitionen in diesem Land permanent nach unten zu treiben.
({7})
Etwas, Herr Merz was Sie sagen, ist dezidiert falsch,
und Sie wissen, dass Sie das Falsche sagen: Seitdem diese
Bundesregierung regiert, hat sich das Volumen der Auslandsinvestitionen in Deutschland wieder verdoppelt, und
zwar im Schnitt der ersten vier Jahre Schröder von 25 Milliarden Euro auf 50 Milliarden Euro,
({8})
und das, meine Damen und Herren, noch ohne den Vodafone-Fall. Ich habe bei der Verdoppelung der Auslandsinvestitionen in Deutschland den Vodafone-Fall nicht mitgerechnet. Aber es ist natürlich auch ein Merkmal für
diesen Standort, wenn Ausländer plötzlich in dieses Land
100 Milliarden Euro zusätzlich investieren.
({9})
Woran liegt es, dass das Ausland in diesem Land wieder investiert? Es liegt daran, dass die Daten in diesem
Lande wieder international wettbewerbsfähig sind.
({10})
Dank der Steuerreform für mittlere Betriebe und auch für
Kapitalgesellschaften ist es für Ausländer attraktiv, in diesem Lande zu investieren.
({11})
Ich will Ihnen deutlich sagen: Fahren Sie nicht fort mit
Überlegungen, die Unternehmensteuerreform für Kapitalgesellschaften zurückzudrehen!
({12})
Wir würden einen für dieses Land positiven Prozess kaputtmachen. Sie müssen berücksichtigen, dass der weit
überwiegende Teil der Personengesellschaften in vielen
kleinen GmbHs organisiert ist.
({13})
Wir müssen in Deutschland aber auch Politik für
Großunternehmen machen.
({14})
Herr Brüderle, Ihr dummes Gerede vom Monopolminister
lassen Sie ruhig irgendwo drucken. Wichtig ist mir Folgendes: Wenn wir die großen Unternehmen, die 80 Prozent ihres Umsatzes und 80 Prozent ihres Ergebnisses im
Ausland machen, nicht im Lande halten, bricht uns der
Mittelstand glatt weg.
({15})
Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen deutlich: Hören Sie
auf, das Land mit Überlegungen zu verunsichern, die Steuerreform für Kapitalgesellschaften rückgängig zu machen.
Ich bin dabei, das Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent der Regierung Schröder mit den 1,3 Prozent der letzten sieben Jahre der Regierung Kohl zu vergleichen. Das
Allerwichtigste, das Sie bedenken müssen, ist, dass wir in
den ersten vier Jahren der Regierung Schröder im Bundeshaushalt 100 Milliarden DM oder 50 Milliarden Euro
weniger in die Wirtschaft hineingepumpt haben. Wir haben der Wirtschaft abverlangt, dass sie wieder autonomer
wachsen muss. Wenn man permanent Subventionen in die
Wirtschaft streut, kann man Wachstum generieren. Nur,
wer bezahlt das eines Tages? Es bezahlen erstens die Kinder durch überhöhte Schulden und zweitens die Gesellschaft dadurch, dass jegliche private Wachstumskraft erlahmt ist.
({16})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ja.
Herr Minister, Sie versuchen - Sie tun sich damit sehr schwer -, ein positives
Bild von der Wirtschaftslage in der Bundesrepublik
Deutschland zu zeichnen.
({0})
Mich würde interessieren, wie Sie die Tatsache beurteilen,
dass wir mit 36 000 Insolvenzen - insbesondere im mittelständischen Bereich, dem Sie das Wort reden - einen
Stand wie seit dem Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland in keinem Jahr vorher erreicht haben und
dass vor allen Dingen die Zahl der Existenzgründungen in
den letzten Monaten radikal zurückgegangen ist. Das ist
doch nicht auf die weltpolitische Wirtschaftslage zurückzuführen, sondern auf die verheerende Politik, die Sie in
der Bundesregierung mit zu verantworten haben.
({1})
Was war jetzt eigentlich die Frage?
({0})
Ich kenne die Zahl der Insolvenzen. Die Zahl der Insolvenzen ist im letzten Jahr ansteigend gewesen, sie war
aber noch nie so niedrig wie im Jahre 2000.
({1})
Wahrscheinlich haben wir das zu wenig verbreitet. Ich
darf Ihnen sagen: Die Zahl der Insolvenzen läuft Hand in
Hand mit der konjunkturellen Entwicklung. Ich mache
keinen Hehl daraus, dass die konjunkturelle Entwicklung
des letzten Jahres nicht die war, die sich ein Wirtschaftsminister gewünscht hätte. Ich komme gleich noch darauf,
warum ich der festen Überzeugung bin, dass die konjunkturelle Entwicklung wieder nach oben gehen wird.
Im Moment geht es mir darum, zu zeigen, dass wir ein
insgesamt besseres und vor allem qualitativ wertvolleres
Wachstum haben, weil wir es im wesentlichen subventionsfreier gestaltet haben. Ich weiß, dass das vielen in der
Wirtschaft nicht gefällt. Man ist zwar aus ordnungspolitischen Gründen gegen Subventionen. Aber wehe, wir
streichen irgendwo auch nur eine Mark! Wir haben
100 Milliarden DM weniger ausgegeben.
({2})
Wir haben ein gutes Stück Doping aus dem Wachstumsprozess herausgenommen und trotzdem mehr Wachstum
erzielt als Sie. Das sollten Sie würdigen.
({3})
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Hinsken?
Ja.
({0})
Herr Minister, ich hatte
nach den Zahlen für das Jahr 2001 und nicht nach denen
des Jahres 2000 gefragt. Für das Jahr 2000 haben Sie andere Zahlen vorzuweisen als für das letzte Jahr. Mich besorgt es, dass wir so viele Insolvenzen zu verzeichnen haben. Dahinter stehen menschliche Schicksale. Deshalb ist
es unsere Aufgabe, darüber zu reden.
Herr Hinsken, Sie
wollten eine Frage stellen.
Jawohl, Herr Präsident. - Da wir leider das Schlusslicht in Europa bilden,
habe ich - das erlaube ich mir - eine rote Laterne mitgebracht,
({0})
die ich gerne dem Bundeskanzler aushändigen möchte,
weil er inzwischen europaweit zum Träger dieser Laterne
geworden ist.
({1})
Herr Kollege
Hinsken, ich gestatte Ihnen das nicht. Sie haben im Übrigen auch keine Frage gestellt. Wir sollten diese Spielchen
sein lassen, Herr Hinsken.
({0})
Kollege Repnik, Sie sind der zuständige Geschäftsführer. Könnten Sie bitte einschreiten? Dies ist eine Art des
parlamentarischen Umgangs, die ich nicht zulasse.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder
dem Redner zuzuhören.
({2})
Herr Hinsken, meine Damen und Herren, wenn ich sagte, dass wir in den letzten sieben Jahren
der Regierung Kohl in Deutschland ein Wachstum von
1,3 Prozent erzielt haben - ({0})
- Ich versuche es noch einmal. Ist es jetzt besser?
({1})
Was war denn in der Laterne drin?
({2})
Meine Damen und Herren, Herr Hinsken, wenn wir,
wie ich erwähnt habe, in den letzten sieben Jahren der Regierung Kohl ein Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent
und in den ersten vier Jahren der Regierung Schröder ein
Wachstum von 1,6 Prozent erzielt haben, dann ändert beides nichts an der Tatsache, dass wir damit schon seit 1992
unter den europäischen Ländern am unteren Ende liegen.
Dass Sie sich darüber lustig machen, dass wir seit 1992
am Ende der europäischen Wachstumsskala liegen, halte
ich ehrlich gesagt für einen Skandal.
({3})
Ich mache der SPD keinen Vorwurf daraus, dass sie Sie
seit 1992 nicht permanent geziehen hat, dass Sie die rote
Laterne in Europa trügen.
({4})
Wir, das heißt alle Kräfte unseres Landes, sollten unser
Land nicht permanent schlecht reden und in Europa in einer Weise positionieren, die die Bürgerinnen und Bürger
dieses Landes nicht verdient haben.
({5})
Hier arbeitet jeder Bürger mindestens so hart wie Sie in
Ihrer Bäckerei, um das deutlich zu sagen. Wir sind auch,
wie gesagt, schon ein Stück nach vorne gekommen
({6})
und werden auch weiter nach vorne kommen.
Wir zahlen einen Großteil für Europa ein, damit
zunächst einmal ein Drittel aller europäischen Länder
eine höhere Wachstumsrate erzielt als wir. Das zahlen wir
durch Transferleistungen.
({7})
Es ist die Politik der früheren Bundesregierung gewesen, sich in Europa und in der Welt keinerlei Energiebasis
aufzubauen. Großbritannien profitiert allein schon von
den Einnahmen aus der Erdöl- und Erdgasförderung. Immer wenn die Energiepreise steigen, sinkt bei uns die
Wachstumsrate. In Frankreich und in Großbritannien dagegen steigt sie dann an, weil sie sich rechtzeitig um Ölquellen gekümmert haben. So hat vieles seine Gesichtspunkte.
Dass es völlig aberwitzig ist, dieses Land so schlecht
zu reden, will ich Ihnen an einem Beispiel deutlich machen.
({8})
Selbst wenn es im Welthandel nur eine geringe Expansion gibt, ist die deutsche Volkswirtschaft in der Lage,
ihren Anteil am Weltmarkt zu vergrößern. Wenn der
Welthandel um 10 Prozent zunimmt, dann wächst der
deutsche Export um 18 Prozent. Wenn der Welthandel,
wie es in den vergangenen ein oder zwei Jahren der Fall
war, gar nicht mehr wächst, dann nimmt der deutsche Export trotzdem noch um 7 Prozent zu. Die Aussage, dieses
Land sei nicht international wettbewerbsfähig, wird allen
unseren Unternehmen und Mitarbeitern nicht gerecht.
({9})
Dann noch der Quatsch mit der roten Laterne! Herr
Hinsken, hängen Sie sich die doch in Ihre Bäckerei!
({10})
Ich sage Ihnen, was die Politik dieser Bundesregierung
von Ihrer, die Sie 16 Jahre lang gemacht haben, unterscheidet: Wir machen mit der Notwendigkeit Ernst, dass
sich der Staat ein Stück weit aus Wirtschaft und Gesellschaft zurückzieht.
({11})
Weniger Staat heißt - das sollten Sie sich merken - weniger nach dem Staat zu rufen.
({12})
Es ist doch bezeichnend, dass diejenigen, die 16 Jahre
lang unter Politik nur das Auflegen von Konjunkturprogrammen verstanden haben und die jedwedes Gespür für
langfristige Notwendigkeiten haben vermissen lassen, als
Allererste nach Konjunkturprogramm rufen, wenn es
- mehr ist es im langjährigen Vergleich nicht - eine leichte
konjunkturelle Eintrübung gibt.
({13})
Weniger Staat heißt mehr private Initiative zu generieren. Weniger Staat heißt auch deutlicher an die Eigenverantwortung der Bürger zu appellieren.
({14})
Unsere Gesellschaft ist in dieser Hinsicht ein Stück weit
entwöhnt. Wir müssen der Gesellschaft beibringen - das
ist eine relativ schwierige Phase -, dass der Staat nicht alles kann.
({15})
Aus diesem Grunde werden wir die Staatsquote senken.
({16})
- Was soll das heißen? Die Staatsquote ist doch schon
deutlich niedriger als in der Vergangenheit. Herr Merz, ich
habe Ihnen schon vorhin gesagt, dass es unter Ihrem Niveau ist, wenn Sie bei den Zahlen lügen.
({17})
Sie wissen doch genau, wie die Zahlen ausgesehen haben,
als wir die Regierung übernommen haben. Sie wissen,
dass die Indikatoren permanent, von Jahr zu Jahr, besser
werden, selbst wenn das Wirtschaftswachstum im Moment nicht so hoch ist, wie wir es uns wünschen.
Das Wirtschaftswachstum wird wieder steigen. Ich
kann Ihnen natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob es im
zweiten oder erst im dritten Quartal steigen wird. Tatsache ist jedenfalls: Die Läger sind weitestgehend geräumt.
Ersatz- und Erhaltungsinvestitionen müssen langsam wieder getätigt werden. Die Lohnstückkosten sind seit Jahren
konstant. Die Energiepreise sind niedrig. Ich bin der
festen Überzeugung, dass es Ihnen nicht gelingen wird,
unsere Wirtschaft in einen abwartenden Zustand quasi
hineinzureden und ihr weiszumachen, dass sie später etwas davon haben wird. Wir werden weiterregieren.
({18})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Matthias Wissmann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Das, was wir gerade gehört haben, war symptomatisch: Der Bundeswirtschaftsminister
hat zu Beginn seiner Rede gesagt, er greife Gedanken des
Kollegen Eichel auf. Dann hat er eine reine Verteidigungsrede gehalten.
({0})
Er hat keinen einzigen neuen Gedanken zur Wirtschaftspolitik vorgetragen, kein wirtschaftspolitisches Konzept
entwickelt und auch keine Perspektiven aufgezeigt.
({1})
Ich möchte Sie gar nicht persönlich angreifen.
({2})
Aber in der Sache besteht das Problem dieser Regierung
seit dreieinhalb Jahren darin, dass die Wirtschaftspolitik
zum Wurmfortsatz einer schlechten Finanzpolitik verkümmert ist und dass Ihr Bundeswirtschaftsministerium
keinen eigenen kreativen wirtschaftspolitischen Ansatz
hat, mit der Arbeitslosigkeit fertig zu werden.
({3})
Das zeigt sich auch beim Umgang mit dem Thema
Wettbewerbsfähigkeit. Natürlich gibt es in Deutschland
- Gott sei Dank - Millionen tüchtiger Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sowie noch immer viele leistungsbereite Unternehmer. Aber wenn wir über Wettbewerbsfähigkeit sprechen, Herr Bundeswirtschaftsminister, dann
- das müssten Sie in Ihrem Amt eigentlich wissen - muss
auch darauf hingewiesen werden, dass im letzten Jahr ein
Drittel aller kleinen und mittleren Unternehmen überBundesminister Dr. Werner Müller
haupt keinen Gewinn erwirtschaftet hat. Im letzten Jahr
hatten wir die höchste Insolvenzquote innerhalb des letzten Jahrzehnts und die niedrigste Anzahl an Unternehmensgründungen. Natürlich hat niemand die Absicht, die
großen Unternehmen, die sich in einem harten internationalen Wettbewerb behaupten müssen, steuerlich stärker
zu belasten. Die Frage ist nicht, ob die großen Unternehmen steuerlich stärker belastet werden sollen, sondern,
wann man endlich auch den kleinen und mittleren Unternehmen den Spielraum gibt, der sie in die Lage versetzt,
zu investieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn wir uns über die
Arbeitslosigkeit - hoffentlich gemeinsam - Sorgen machen, dann müssen wir doch auch zur Kenntnis nehmen,
dass im Mittelstand - das zeigen die Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte - neun von zehn neuen Arbeitsplätzen geschaffen werden. In den kleinen und mittleren Betrieben werden 80 Prozent aller Lehrlinge ausgebildet.
Während in den 90er-Jahren in den Großunternehmen
- ich sprach vom internationalen Wettbewerb - im Schnitt
die Beschäftigung abgebaut wurde, sind im Mittelstand
per saldo 2 Millionen neue Jobs entstanden. Deswegen
hätte ich eigentlich erwartet, dass der Bundeswirtschaftsminister etwas dazu sagt, wie in den nächsten Jahren der
steuerliche Spielraum für die kleinen und mittleren Unternehmen erweitert, die Abgabenlast reduziert und die
riesige Bürokratielast auf ein erträgliches Maß zurückgeschraubt werden soll. Wo ist eigentlich Ihre Stimme, Herr
Bundeswirtschaftsminister? Sie müssten ein Leuchtturm
der sozialen Marktwirtschaft sein und gegen die Bürokratiewut angehen. Das wäre Ihre Aufgabe. Stattdessen halten Sie Verteidigungsreden, die kaum begründet sind.
({5})
Ich will Ihnen eine Zahl nennen, die Ihnen jeder Handwerksbetrieb bestätigen kann: Im statistischen Durchschnitt muss inzwischen jeder Handwerksbetrieb im Jahr
324 Stunden für das Durchforsten staatlicher Verwaltungsvorschriften aufwenden; das entspricht 40,5 Arbeitstagen oder Betriebskosten in Höhe von rund 15 500 Euro.
Sie haben diese Bürokratielast nicht reduziert, sondern
mit dem unsinnigen 630-Mark-Gesetz bzw. jetzt 325Euro-Gesetz noch verstärkt,
({6})
mit dem Scheinselbstständigkeitsgesetz den Betrieben
weitere Lasten aufgebürdet und mit der Einführung des
Teilzeitanspruchs weitere Bürokratie aufgehäuft. Sie gehen diesen Weg der Regulierung weiter. Wenn wir Perspektiven für unser Land aufzeigen wollen, müssten wir
über ein Entrümpelungsprogramm reden und für Entbürokratisierung sorgen, um vor allen Dingen dem Mittelstand Luft zum Atmen zu verschaffen. Erst dann kann
er neue Arbeitsplätze schaffen.
({7})
1998 wurden in den neuen Ländern per saldo noch rund
19 000 Betriebe gegründet, in den ersten zehn Monaten
des vergangenen Jahres waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nicht einmal mehr 3 000. Das ist
ein Minus von mehr als 80 Prozent. Hiermit wird die Lage
in den neuen Bundesländern beschrieben; auch in den alten Bundesländern ging die Zahl derjenigen, die den
Schritt in die Selbstständigkeit wagten, deutlich zurück
und die Zahl der Insolvenzen - Friedrich Merz hat davon
gesprochen - stieg dramatisch an.
Wenn man über Wachstumszahlen spricht - das müssten Sie, Herr Müller, als Ökonom eigentlich wissen -,
dann macht der Vergleich der Nationen nur dann einen
Sinn, wenn man einen Blick auf die direkten Nachbarn
wirft. In den 90er-Jahren stellte unser Wachstum des realen Bruttosozialproduktes zwar nicht die Spitze unter den
Nationen dar - natürlich nicht -,
({8})
wir waren in den 90er-Jahren im Mittelfeld.
({9})
Laut offizieller Statistik der Europäischen Kommission
von Eurostat lagen wir im Mittelfeld,
({10})
weil es in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und vielen anderen alten Bundesländern ein stärkeres Wachstum
gab als in den neuen Bundesländern. Deswegen ergibt
sich die Wahrheit erst aus dem Vergleich. Dasselbe europäische statistische Amt, das uns in den 90er-Jahren im
Mittelfeld gesehen hat,
({11})
sagt uns inzwischen ganz klar - das kann keiner vertuschen -: Wir sind inzwischen Schlusslicht beim Wachstum in Europa. Unter den großen Industrienationen sind
wir das Schlusslicht in Sachen Arbeitslosigkeit. Darüber
müssen wir besorgt sein; denn aus dieser Position müssen
wir heraus, wenn wir eine vernünftige Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik betreiben wollen.
({12})
Friedrich Merz hat zu Recht davon gesprochen, dass
uns vor allem die Lage in den neuen Bundesländern bedrückt. Der Arbeitsamtsbezirk Potsdam hat mit 14,7 Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote in Ostdeutschland.
Sie ist damit fast viermal so hoch wie die des Arbeitsamtsbezirks Freising, dessen Arbeitslosenquote bei 4 Prozent
liegt.
({13})
Von den 20 besten Arbeitsamtsbezirken Deutschlands
- das entnehme ich der aktuellsten Statistik - stammen
elf aus Baden-Württemberg und neun aus Bayern. Der
Abstand zwischen den alten und neuen Bundesländern
wird ständig größer. Weder Herr Eichel noch Herr Müller
verwenden einen Gedanken daran, wie wir das ändern
können.
({14})
Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, den wir angehen
müssen, um die Verhältnisse neu zu gestalten: In jedem der
neuen Bundesländer geben wir über die Bundesanstalt für
Arbeit mehr Geld aus dem Bundeshaushalt für die Subventionierung des zweiten Arbeitsmarkts als für Investitionen in die Zukunft aus, das heißt für Investitionen in
Forschung und Infrastruktur, wie Bahn, Straße und kommunale Stadterneuerung. Der konsumtive Anteil der Ausgaben im Bundeshaushalt wurde immer größer, während
die Investitionsquote immer geringer wurde. Volkswirtschaftlich gesagt, ist das eine Fehlallokation von Ressourcen, eine falsche Weichenstellung hinsichtlich der Arbeitsplätze und der Zukunft.
({15})
Das müssen und werden wir ändern. Deswegen redet
jedenfalls bei uns - anders als es in einem Teil der SPD
der Fall ist - keiner von einem Konjunkturprogramm keynesianischer Art, sondern von mehr Marktwirtschaft,
mehr Flexibilität, weniger Bürokratie, einer sinnvollen
Steuerpolitik sowie einer Deregulierung des Arbeitsmarkts, an die Sie nicht herangegangen sind.
({16})
Wir reden von einer Entriegelung und Entbürokratisierung und nicht von einem Konjunkturprogramm, das für
die Zukunft neue Schulden vorsieht.
({17})
Die unbeachteten Reformfelder zur Schaffung von
mehr Beschäftigung sind bekannt. Nahezu alle renommierten Fachleute mahnen Reformen in dieselbe Richtung an: mehr Markt, mehr Eigenverantwortung, mehr
Flexibilität. Der Benchmarking-Bericht, der im Bündnis
für Arbeit von Arbeitgebern, Fachleuten und Gewerkschaften erarbeitet wurde, legt den Finger auf genau diese
Wunde. Er besagt, dass zwei große Reformen angegangen
werden müssen:
({18})
die Deregulierung des Arbeitsmarkts und die Modernisierung des Gesundheitswesens. Warum muss eigentlich
das, was in einer Arbeitsgruppe des Bündnisses für Arbeit
erarbeitet worden ist und vom Bundeskanzler offensichtlich gar nicht mehr ernst genommen wird, von der
Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht werden? Weil Sie es
sich in der Regierung nicht einmal mehr zutrauen, die Reformvorschläge Ihrer eigenen Arbeitsgruppen in praktische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik umzusetzen.
({19})
Hierin liegt der Reformbedarf für die kommenden Jahre.
Der Bundesfinanzminister sprach in seiner Rede von
- ich zitiere - „einem Jahr des neuen Aufschwungs“. Der
Titel des aktuellen Jahreswirtschaftsberichts lautet: „Vor
einem neuen Aufschwung“. Man findet in diesem Bericht
auf Seite 13 die offizielle Wachstumsprognose für 2002:
0,75 Prozent Zuwachs des realen Bruttosozialprodukts.
Das ist ein halbes Prozent weniger als noch im Dezember
vom BMF verkündet wurde. Wie anspruchslos sind Sie
am Ende Ihrer Regierungszeit geworden? Wie wenig haben Sie sich zur Steigerung von Wachstum und Beschäftigung vorgenommen? Was bezeichnen Sie inzwischen
als Aufschwung? - Sie verlassen sich auf die Vereinigten
Staaten und tun selbst in Deutschland nichts, aber auch
gar nichts, um die notwendigen Befreiungen, Anstöße und
Impulse zu geben.
({20})
Meine Damen und Herren, man muss für diese Bewertung nicht von der CDU kommen. Wenn man die gesamte
internationale Fachpresse zu Rate zieht - den „Economist“, das „Wall Street Journal“, die „Financial Times“ -,
den Sachverständigenrat und die OECD fragt,
({21})
Herr Eichel, Herr Müller, dann stellt man fest, dass das
Urteil über Ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik eindeutig
ist: Kein Programm für die Zukunft. Deswegen sind Sie
auch als Regierung nicht zukunftsfähig.
({22})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Wissmann, Ihr Gedächtnis muss verdammt kurz sein,
wenn Sie die internationale Finanzpresse hier bemühen,
um uns vorzuhalten, was in Deutschland falsch läuft. Der
Begriff „the German disease“, die deutsche Krankheit,
und das Wort „Reformstau“ wurden in Ihrer Regierungszeit geboren,
({0})
weil damals die Wiedervereinigung in Deutschland durch
Schulden und durch einen Anstieg der Lohnnebenkosten
und damit durch einen Anstieg der Lohnstückkosten
finanziert wurde, der Arbeitslosigkeit zuhauf produziert
hat. Das ist die Wahrheit.
Wir sind diesem Trend mit harten Maßnahmen, mit
finanzpolitischer Solidität,
({1})
mit einem Steuersenkungsprogramm und mit dem Abschied von der umlagefinanzierten Rente hin zur Kapitaldeckung begegnet. Diese drei großen Reformprojekte der
letzten drei Jahre haben dazu beigetragen, dass wir in der
Tat trotz wirtschaftlicher Talsohle zurzeit weniger Arbeitslosigkeit und mehr Beschäftigung haben als vor vier
Jahren. Das ist die Wahrheit. Wir haben etwas getan; daran kommen Sie nicht vorbei.
({2})
Sie haben in Deutschland von 1992 bis 1998 - in Ihrer
Regierungszeit - unterdurchschnittliche Wachstumsraten erzielt, als in Amerika der in der jüngeren Geschichte
der USA am längsten andauernde Konjunkturaufschwung
überhaupt herrschte. Wir haben in unserer Regierungszeit im Schnitt ein höheres Wachstum, obwohl die USKonjunktur eingebrochen ist. Jeder ökonomisch sachverständige Mensch weiß genau, dass vor allem die Verflechtung großer international tätiger deutscher Konzerne
mit dem US-Markt automatisch dazu führt, dass bei
1 Prozent Wachstumsrückgang in den USA das Wachstum
in Deutschland um 0,4 Prozent nach unten gezogen wird,
stärker als in jedem anderen Land in Europa. Das Schlusslicht, die rote Laterne, Herr Hinsken, hatten wir 1997, zusammen mit Italien.
({3})
Kohl war Kanzler, Schäuble Fraktionsvorsitzender. 1997
war es genauso. Der Finger, mit dem Sie jetzt auf uns zeigen, zeigt eigentlich auf Sie. Das ist die Situation.
({4})
Zur Steuerpolitik, meine Damen und Herren: Alle Vertreter der Wirtschaftsverbände wissen doch genau, dass
im Kernbereich der Finanzpolitik - das sagen selbst der
Deutsche Industrie- und Handelskammertag und der
BDI - nach wie vor gilt: Konsolidieren und die Bürgerinnen und Bürger an der Konsolidierung des Staates dadurch teilhaben lassen, dass man Steuern senkt, ist vom
Grundansatz her richtig. Das Wort „sparen“, das in unserer Gesellschaft inzwischen mit Hans Eichel verbunden
wird, ist ein Wert an sich, weil jeder weiß, dass nur eine
solche solide Politik langfristig tatsächlich zu einer Senkung der Steuer- und Abgabenlast führt.
Auch bei den Lohnnebenkosten müssen wir ganz deutlich konstatieren, dass wir in Deutschland tatsächlich erstmals am Schluss einer Legislaturperiode weniger Lohnnebenkosten als Abzug vom Bruttolohn haben als in allen
Legislaturperioden vorher.
({5})
Stichwort „Ökosteuer“. Die Ökosteuer hat auch positive Beschäftigungseffektive. Wir haben durch die Art der
Umfinanzierung dazu beigetragen, dass diese Steuer nicht
im Staatssäckel verschwindet, sondern an die Rentenversicherung weitergeleitet wird. In den letzten drei Jahren haben wir den Zuschuss an die Rentenkasse um inzwischen 30 Milliarden DM oder 15 Milliarden Euro gesteigert. Dadurch waren die Beitragssenkungen bei der
Rentenversicherung möglich. Das ist eine Wahrheit, die
Sie nicht gern hören. Vielleicht hören Sie jetzt aber gern,
dass Sie gegen diese Steuerart früher Amok gelaufen sind.
Plötzlich haben Stoiber und die gesamte CDU/CSU gemerkt: Entweder müssen wir die Renten kürzen oder die
Mehrwertsteuer um 4 Prozent erhöhen, wenn wir, was wir
den Wählern versprechen wollten, die Ökosteuer zurücknehmen würden. Die Erkenntnis der Union steht in keinem Verhältnis zu dem Aufstand, den sie fast ein Jahrzehnt lang gegen diese Steuerart gemacht hat.
({6})
Das sollten Sie auch einmal bedenken. Ihr Amoklauf gegen die Ökosteuer ist zu einem Rohrkrepierer geworden.
In einer jetzt wieder sachlicher gewordenen Debatte
möchte ich durchaus sagen, dass wir uns in Deutschland
nicht damit abfinden können, dass wir bei vergleichsweise guten wirtschaftlichen Wachstumsraten einen vergleichsweise geringen Beschäftigungsaufbau haben.
({7})
Das ist ein Problem, das es in Deutschland aber schon seit
Jahrzehnten gibt.
Ein wichtiges Reformpaket betrifft natürlich den Arbeitsmarkt. Dieses Reformpaket haben auch der Bundeskanzler und Vertreter der Regierungskoalition benannt. Wir werden in einer Konzeptdebatte, die wir mit
den Wählerinnen und Wählern in diesem Jahr führen
müssen, sagen, dass durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein soziales Sicherungssystem
generiert wird, das die Anreize künftig so setzt, dass Erwerbsfähige Arbeit auch tatsächlich annehmen. Dies ist
ein Reformprojekt, das natürlich die Eigenverantwortung,
von der auch der Bundeswirtschaftsminister hier geredet
hat, stärken soll. Dieses Reformprojekt kann man sieben
Monate vor der Bundestagswahl aber nicht aus dem
Ärmel schütteln. Dafür ist eine Gemeindefinanzverfassungsreform nötig, damit nicht der Eindruck entsteht,
dass der Bund den Kommunen 13 Milliarden Euro Arbeitslosenhilfe vor die Tür kippen würde.
Diese Debatte sollte dazu führen, dass man erkennt,
dass den Leuten in Wahlkämpfen nicht ein Mehr an staatlicher Leistung versprochen werden kann. Der Sozialstaat
ist langfristig nur dann bezahlbar, wenn er sich auf die
Bedürftigen konzentriert und keine Mitnahmeeffekte generiert. Dieser Bereich gehört zur Reformagenda des
nächsten Jahres.
({8})
Es ist keine Frage, dass wir mit Sicherheit im Bereich
der Gesundheit eine Debatte führen müssen, damit das
System künftig transparent wird, Rechnungen für Kassenpatienten selbstverständlich werden und das System
dadurch unter Wettbewerb gestellt wird, dass die Allmacht der kassenärztlichen Vereinigungen gebrochen
wird und direkte Verträge von Leistungserbringern mit
den Krankenkassen möglich werden.
({9})
Das sind Reformszenarien, über die wir mit der Bevölkerung diskutieren müssen. Es wäre falsch, den Kopf
nach dem Motto wegzudrehen: Wir haben schon alles
richtig gemacht. Es steht noch eine Vielzahl von Reformen an; diese Koalition hat die Kraft dazu.
Wir werden über Reformszenarien in Deutschland reden. Angesichts der Debatte müssen wir uns dabei natürlich darüber im Klaren sein - das gehört auch zum Jahreswirtschaftsbericht -, dass man, wenn im Bereich der
Außen- und Sicherheitspolitik in Europa neue sicherheitspolitische Leitlinien mit den europäischen Partnern
beschlossen werden, zum Beispiel auch die Wehrpflicht
in einem anderen Licht sehen muss. Diese Erkenntnis
macht inzwischen ja nicht einmal mehr vor der CDU/CSU
Halt, wie ich erfreut festgestellt habe. Selbst der Bundeswehrverband verabschiedet sich derzeit von der Wehrpflicht. Die Reduzierung des Zivilpersonals bei den
Kreiswehrersatzämtern und die Erhöhung der Deckungsbeiträge durch die Absenkung der Personalkosten bei der
Bundeswehr werden dazu führen, dass Mittel für die notwendigen Investitionen in diesem Bereich zur Verfügung
stehen. Auch das ist ein Reformszenario.
Schauen wir über den heutigen Tag hinaus auf den
6. März! Wenn Karlsruhe das Urteil zur Rentenbesteuerung spricht und uns als Gesetzgeber eine Gleichbehandlung von Renten und Pensionen aufgibt, dann wissen wir, dass die nachgelagerte Besteuerung der Renten,
die sukzessive eingeführt wird - dafür werden im Gegenzug aber die Altersvorsorgeleistungen und die Versicherungsbeiträge steuerfrei gestellt -, ein weiteres Reformprojekt der nächsten Legislaturperiode sein wird.
Ich lade Sie alle ein, einmal aus Ihren politischen
Schützengräben herauszukommen und über Lösungsansätze wirklich konzeptionell und nicht polemisch zu
diskutieren. Denn nur dann können wir das deutsche
Wahlvolk ernst nehmen, das die Schnauze voll hat von einer Politik, die im Wahljahr im Bundestag und auf den
Straßen und Plätzen dieser Republik viel zu vordergründig argumentiert. Die Leute wissen, dass die Rückführung
von Ansprüchen an den Staat im Einzelfall Leistungsbeschränkung, aber insgesamt Gewinn für die gesamte
Volkswirtschaft bedeutet, weil Steuern und Abgaben nur
sinken können, wenn der Sozialstaat auf die Bedürftigen
konzentriert wird und in unserer Wirtschaft mehr Freiräume dadurch entstehen, dass die soziale und ökologische Marktwirtschaft zum Durchbruch kommt.
Wir als Grüne werden in diesem Jahr die Konzeptdiskussion führen. Ich denke, auch die anderen Parteien
sind gut beraten, im Wahljahr eine Debatte über konzeptionelle Reformen zu führen; denn das würde bedeuten,
die Bevölkerung, das Wahlvolk im besten Sinn ernst zu
nehmen.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile
das Wort der Kollegin Gerda Hasselfeldt. Sie spricht für
die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! So viel Gesundbeten und
Schönfärben, so viel Realitätsverlust und Wahrnehmungsstörungen,
({0})
wie heute vonseiten der Regierung in dieser Debatte zu
vernehmen waren, habe ich in einer wirtschaftspolitischen Debatte noch nicht erlebt.
({1})
Die Menschen, die diese Debatte verfolgt haben, müssen
sich wirklich die Augen reiben
({2})
und sich fragen, von welcher wirtschaftspolitischen Datenlage in welchem Land die Regierungsmitglieder gesprochen haben. Sie müssen denken, das war ein anderes
Land und nicht Deutschland.
({3})
Wenn alles so gut wäre, wie Herr Wirtschaftsminister
Müller es dargestellt hat, warum sind dann die Daten so
schlecht? Warum spüren die Menschen dann so viel Negatives? Warum haben wir dann nicht, wie versprochen,
unter 3,5 Millionen Arbeitslose, sondern über 4,3 Millionen Arbeitslose?
({4})
Bei den 4,3 Millionen bleibt es ja nicht, sondern Sie müssen eigentlich noch die 1,7 Millionen hinzurechnen, die
nicht in der Statistik, aber sehr wohl ebenfalls ohne Beschäftigung sind.
Warum haben wir dann eine steigende Zahl von Insolvenzen? Warum haben wir eine steigende Inflationsrate?
Warum haben wir steigende Sozialabgaben? Das alles
spüren die Menschen im Land.
({5})
Sie spüren natürlich auch das sinkende Wachstum. Das ist
nichts Theoretisches, sondern das ist beispielsweise aufgrund der Insolvenzen, der Auftragslage der Unternehmen und damit der Beschäftigungssituation jedes Einzelnen nachvollziehbar.
Warum haben wir dann den blauen Brief von Brüssel
angedroht bekommen?
({6})
Auch wenn er durch den massiven Einsatz des Bundeskanzlers noch abgewimmelt werden konnte, war er sachlich gerechtfertigt. Mit 2,7 Prozent Defizitquote sind wir
an der Obergrenze.
({7})
Wenn alles so gut wäre, wie von Ihnen dargestellt, dann
hätten wir diese schlechten Daten nicht.
({8})
- Es wäre besser, wenn Sie nicht immer nur so blöd dazwischenreden und immer das Gleiche sagen würden,
sondern bereit wären, eine ehrliche Bestandsanalyse und
eine Ursachenanalyse vorzunehmen.
({9})
Wenn Herr Metzger davon spricht, das sei alles international bedingt und nicht unbedingt hausgemacht,
({10})
dann lassen Sie mich darauf hinweisen: Natürlich ist die
Situation hausgemacht.
({11})
Wenn sie international verursacht wäre, dann wäre sie in
allen anderen europäischen Ländern genauso.
({12})
Warum ist sie nicht so? In allen anderen europäischen
Ländern sind Sozialreformen durchgeführt worden,
({13})
ist der Arbeitsmarkt flexibilisiert worden und eine Steuerreform gemacht worden, die den Namen wirklich verdient
und die alle entlastet hat, nicht nur die Großen.
({14})
Herr Kollege Kahrs, Sie waren doch hier oben gerade so schön
friedlich.
Es ist immer der
Gleiche, Herr Präsident. Es lohnt sich gar nicht, auf ihn
einzugehen; bei dem ist Hopfen und Malz verloren.
({0})
Nun hat der Herr Finanzminister auch in dieser Debatte
wieder seine Steuerreform gelobt. Er hat davon gesprochen, dass diese Steuerreform zu einer Stärkung der Investitionskraft geführt habe. Herr Kollege Schlauch hat
von der „ambitioniertesten Steuerreform“ aller Zeiten gesprochen. Wenn dem so ist, dann muss ich fragen: Wo sind
die Investitionen? Wo ist die sich daraus ergebende Beschäftigung? Die Konsequenz Ihrer Steuerreform ist
doch, dass im Jahre 2001 die Kapitalgesellschaften nicht
nur keine Körperschaftsteuer gezahlt haben, sondern sogar noch 400 Millionen Euro zurückbekommen haben.
({1})
Im Jahr 2000 haben sie noch 23 Milliarden Euro Körperschaftsteuer gezahlt. Das ist die Konsequenz Ihrer Steuerreform.
({2})
Sie haben, wie Sie selbst gesagt haben, für die Personenunternehmen und für den Großteil des Mittelstandes
im Rahmen der Steuerreform kein Geld mehr gehabt.
Geld hatten Sie nur für die Kapitalgesellschaften.
({3})
Eine der wesentlichen Ursachen für die Wachstumsschwäche liegt darin, dass gerade der Mittelstand vergessen und bewusst vernachlässigt wurde.
({4})
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie Sie
sich bei unseren letzten Diskussionen im Vermittlungsausschuss gewunden haben, notwendige Verbesserungen
für den Mittelstand auf den Weg zu bringen. Sie haben bei
der Reinvestitionsrücklage und bei dem Mitunternehmererlass zusätzliche Restriktionen und Auflagen und damit zusätzliches Misstrauen geschaffen, aber nicht die
Gleichstellung von Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften herbeigeführt.
({5})
Deshalb ist es dringend notwendig, den Mittelstand und
die Personenunternehmen frühzeitiger, als Sie es geplant
haben, zu entlasten.
({6})
Man muss sagen, es ist fast eine Märchenstunde, wenn
({7})
man sich das vor Augen führt, was vonseiten der Koalitionsabgeordneten und Regierungsmitglieder heute gesagt
wurde. Ich möchte Sie deshalb bitten, ein wenig zuzuhören, damit auch Sie verstehen, welchen Lügen und
Unwahrheiten Ihrer Regierung Sie selbst aufsitzen.
Im Jahreswirtschaftsbericht 2001 ging man noch von
einem Wachstum für das Jahr 2001 von 2,75 Prozent aus.
Fakt ist, dass nur 0,6 Prozent erreicht wurden. Diese Situation ist das Ergebnis Ihrer Wirtschaftspolitik und nicht
gottgegeben.
({8})
Ende des letzten Jahres wurde von der Regierung für
das Jahr 2002 ein Wachstum von 1,25 Prozent prognostiziert und für den Haushalt 2002 zugrunde gelegt. Der
Sachverständigenrat hatte aber zur gleichen Zeit gesagt,
dass nicht 1,25 Prozent, sondern allenfalls 0,7 Prozent erreicht würden. Trotzdem sind Sie bei Ihrer Prognose von
1,25 Prozent geblieben. Wenige Wochen danach haben
Sie im Januar dieses Jahres den Jahreswirtschaftsbericht
vorgelegt. Darin gehen Sie von einem Wachstum von
0,75 Prozent aus.
Dazu fallen mir zwei Dinge ein: Erstens. Der Haushalt
2002 ist ganz bewusst auf Basis einer falschen Prognose
aufgestellt worden.
({9})
Zweitens. Angesichts der Tatsache, dass Sie bei der Aufstellung des Haushalts von einem Wachstum von 1,25 Prozent ausgegangen waren, aber kurz danach im Jahreswirtschaftsbericht von einem Wachstum von 0,75 Prozent
gesprochen haben, können Sie in der Überschrift des
Jahreswirtschaftsberichtes doch nicht von einem Aufschwung reden. Das ist die allergrößte Unverschämtheit,
Frechheit und Lüge.
({10})
Ich würde mir wünschen, dass gerade diejenigen, die
unqualifizierte Äußerungen in frecher Weise dazwischenrufen, sich einmal die Zahlen genauer anschauen,
damit sie wissen, worüber sie entscheiden müssen. Ich
habe häufig den Eindruck, dass sie überhaupt nicht wissen, was hier vorgelegt wird.
({11})
Im Zusammenhang mit dem blauen Brief ist vom Finanzminister gesagt worden, die Länder seien schuld. Ich
will dazu kurz sagen:
({12})
Wenn Sie wie in den vergangenen Jahren die Steuerbasis
der Länder und Kommunen durch Ihre Maßnahmen ganz
bewusst aushöhlen, dann dürfen Sie sich nicht wundern.
Sie haben den Ländern beispielsweise mit dem Familienleistungsausgleich, mit der Streichung der originären Arbeitslosenhilfe und mit der Reduzierung und Streichung
des Bundeszuschusses beim Unterhaltsvorschuss zusätzliche Aufgaben übertragen. Sie haben gleichzeitig durch
Ihre Steuerpolitik dazu beigetragen, dass die Steuereinnahmen der Länder weitaus geringer sind als die des
Bundes.
({13})
Das kann man anhand der Daten nachweisen.
Der Bundesanteil am Steueraufkommen ist seit 1998
von 41 auf 43 Prozent gestiegen, der Länderanteil dagegen von 41 auf 39 Prozent gesunken.
({14})
Auch das ist ein Ergebnis Ihrer Politik.
({15})
Angesichts dessen können Sie nicht sagen, die Länder und
Kommunen sollten ihre Hausaufgaben machen.
Die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Regierung
({16})
ist verheerend.
({17})
Sie haben zur Lösung der von Ihnen selbst verursachten
Probleme kein Programm.
({18})
Deshalb haben Sie das Vertrauen der Bevölkerung nicht
verdient.
({19})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Joachim Poß.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich möchte jetzt über die Realität in der Bundesrepublik Deutschland sprechen
({0})
und in diesem Zusammenhang über die angeblichen Alternativen und über die Täuschungen der Opposition, die
man ihr nicht durchgehen lassen darf.
({1})
Seit Mitte Januar dieses Jahres ist Herr Stoiber Kanzlerkandidat der Union.
({2})
Heute, sechs Wochen später, weiß immer noch niemand,
wie die Politik konkret aussehen soll, die Herr Stoiber machen will, falls die Union die Bundestagswahl gewinnen
würde.
({3})
Auch nach der Rede von Herrn Merz sind wir erwartungsgemäß nicht weiter.
({4})
Die Rede von Herrn Merz hat gezeigt: Ihre Alternativen
bestehen in Legendenbildung und Krankreden.
({5})
Das bevorzugte Mittel von Herrn Merz - er ist erwartungsgemäß gegangen; denn er wusste, was kommt ({6})
ist die Täuschung der Bürgerinnen und Bürger.
({7})
Herr Müller hat das an einem Beispiel belegt. Ich will Ihnen ein anderes nennen: Herr Merz sprach von einem sinkenden Realeinkommen. Im Jahre 2001 gab es trotz der
ungünstigen Entwicklung in diesem Jahr bei den privaten
Haushalten eine Steigerung des verfügbaren Realeinkommens von 1,8 Prozent. Im Jahr 2000 kam es zu einer Steigerung von 2,8 Prozent. Dies ist die größte Steigerung, die
es im letzten Jahrzehnt überhaupt gegeben hat.
({8})
Vor diesem Hintergrund spricht Herr Merz wahrheitswidrig von sinkenden Realeinkommen! So wie ich das jetzt
getan habe, werden wir Ihre Lügenmaschinerie Punkt für
Punkt entlarven.
({9})
Wir lassen Ihnen die Behauptungen, die Sie hier aufstellen, nicht mehr durchgehen.
Eine so verantwortungslose Opposition wie die heutige
hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben.
({10})
Ich war lange genug - leider viel zu lange - in der Opposition, um beurteilen zu können, wie verantwortungsbewusst wir in der Opposition Ihnen gegenüber argumentiert haben.
({11})
Eines können Sie uns jedenfalls nicht nachweisen: dass
wir die Wahrheit so verbogen haben, wie Sie das als Opposition täglich tun.
({12})
Deswegen stelle ich fest: Wer in den letzten sechs Wochen die vielen widersprüchlichen Äußerungen aus dem
Unionslager zur Kenntnis genommen hat, der muss davon
ausgehen, dass auch in der Union niemand weiß, was die
Union außer der Macht eigentlich will.
({13})
Das betrifft zum Beispiel das Steuerkonzept der
Union. Frau Hasselfeldt, lesen Sie einmal die heutige
„FAZ“. Herr Merz hat laut heutiger „FAZ“ festgestellt,
„die steuerpolitischen Vorstellungen der Union würden
derzeit in Ruhe erarbeitet“. Da hat er wohl Recht. Das ist
die einzige ehrliche Aussage von Herrn Merz am heutigen
Tage gewesen.
({14})
Wo sind denn Ihre Vorschläge? Sie sagen, sie würden
in Ruhe erarbeitet. Wann wollen Sie sie denn präsentieren? Derzeit ist von Ende April die Rede, aber in anderen
Artikeln davon, dass es auch Juni oder Juli werden
könnte. Warum ist das bei Ihnen so ungewiss? Weil Sie
nicht wissen, wohin Sie wollen. Nach der hilfreichen Diskussion über die Einhaltung der Maastricht-Kriterien haben wir einen guten Maßstab, um jeden Ihrer Vorschläge
daran messen zu können. Das ist das Nützliche an dieser
Diskussion.
({15})
Wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern weismachen
wollen, dass sie eigentlich in einem Jammertal leben,
muss ich Ihnen einmal Folgendes sagen: Die CDU hat in
Nordrhein-Westfalen 1985 einen Landtagswahlkampf mit
Plakaten gemacht, auf denen die Leute sozusagen außer
Landes gegangen sind. Sie haben irgendwelche Leiterwagen bestiegen und sind außer Landes gefahren.
({16})
Damals hat die CDU in Nordrhein-Westfalen die größte
Niederlage erlitten, die sie jemals hinnehmen musste.
Dieses Schicksal werden auch Sie erleiden, wenn Sie dieses Land weiter so krank reden, wie Sie das derzeit tun.
({17})
Wir bedauern die gestiegene Arbeitslosigkeit ebenso
wie alle anderen.
({18})
Zu den Tatsachen gehört aber: Dass die Konjunktur in allen ökonomischen Zentren der Welt gleichzeitig und in einem so starken Umfang einbrechen würde, haben weder
wir noch die Institute, noch hoch angesehene Wirtschaftsexperten erwartet. Sie können doch nachlesen, wie
die Prognosen im Herbst 2000 ausgesehen haben. Auch
wenn diese Schwierigkeiten vorhanden sind, so ist es
doch eine grobe Verzerrung der Realität, wenn Deutschland als ein Land dargestellt wird, das ökonomisch am
Boden liegt.
({19})
Auch wenn wir es heute wieder gehört haben, ist es
übrigens auch eine viel zu schlichte Betrachtung der Ökonomie, die ökonomisch-soziale Position eines Landes
allein durch die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts abzubilden. Zunächst einmal ist festzuhalten: Die
deutsche Wirtschaft wächst nach wie vor mit positiven
Raten. Sie ist im abgelaufenen Jahr gewachsen und sie
wächst auch im laufenden Jahr. Es gab nur ein Jahr - das
war in Ihrer Regierungszeit, nämlich 1993 -, in dem wir
eine negative Wachstumsrate hatten, nämlich minus
1,1 Prozent.
Wenn man noch weitere Tatbestände und damit die Realität mit in den Blick nimmt - was eine seriöse Analyse eigentlich erfordert -, dann wird man feststellen, dass
Deutschland international keineswegs so schlecht dasteht,
wie Sie das hier darzustellen versuchen. Mit einer durchschnittlichen Inflationsrate von nur 1,4 Prozent in den Jahren 1998 bis 2001 liegen wir im Mittelfeld. Wir hatten in den
letzten drei Jahren den geringsten Anstieg der Lohnstückkosten in der Europäischen Union. Das ist die entscheidende
ökonomische Größe für den Standortwettbewerb.
({20})
Also: Geringster Anstieg der Lohnstückkosten!
Nach wie vor gibt es hier nur wenige Streiktage und das
ist auch gut so. Wir halten den sozialen Frieden für wichtig, auch für die Wertschöpfung in diesem Jahr.
({21})
Wenn man sich Ihre Vorschläge, jedenfalls die zur Deregulierung anschaut, stellt man fest, dass Sie eher geeignet
sind, den sozialen Frieden infrage zu stellen.
Dank der besonderen Bemühungen von SPD und Grünen liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland weit
unter der in vielen Partnerländern.
({22})
Ich wiederhole: Allein wegen der 350 000 jungen Frauen
und Männer, die durch unsere Anstrengungen neue Lebensperspektiven und neue Chancen bekommen haben,
hat sich der Regierungswechsel gelohnt.
({23})
Wir haben massive Reformen bei der Einkommen- und
Körperschaftsteuer mit klaren Entlastungen der Arbeitnehmer, der Familien mit Kindern und des Mittelstandes
durchgeführt. Das kann sich international sehen lassen,
auch wenn Verbandsvertreter und Sie immer wieder etwas
anderes behaupten. Ich sage das auch, weil aus den Reihen der IG Metall in den letzten Tagen eine Aussage kam,
die mit den Realitäten in diesem Land nun wirklich nichts
mehr zu tun hat,
({24})
nämlich - ich sage das hier ganz offen - die Gerechtigkeitslücke habe sich durch unsere Steuer- und Rentenpolitik vergrößert. Das ist völliger Quatsch. Wir haben die
Gerechtigkeitslücke durch unsere Steuerpolitik nicht vollständig, aber zu einem guten Stück geschlossen. Was Sie
nach 16 Jahren Regierungszeit hinterlassen haben, kann
man wirklich nur schrittweise korrigieren.
({25})
Die Zahlen und Fakten sprechen gegen Sie. Hören Sie
endlich auf, Deutschland als ein Jammertal darzustellen!
Legen Sei den Bürgerinnen und Bürgern vielmehr dar,
welche Vorschläge Sie haben und was diese Vorschläge
auf Heller und Pfennig kosten würden, wenn Sie in der
Regierungsverantwortung wären!
({26})
Wie stehen Sie denn wirklich zu der öffentlichen Verschuldung? Sind Herr Stoiber, Herr Merz und Frau
Merkel nach den derzeitigen Diskussionen um den Europäischen Stabilitätspakt immer noch der Meinung, man
müsse den Verschuldungsspielraum bis zur 3-ProzentGrenze ausnutzen? Heute Morgen hat Herr Merz in dieser
Frage nur herumgeeiert. Man fragte sich: Wohin will er?
Was will er uns sagen?
({27})
Diese Fehlleistung der Unionsspitze lässt sich kaum noch
überbieten. Haben Sie inzwischen eingesehen, wie absurd
Ihre Position war? Sie müssten doch erkennen, dass
Deutschland mit einer solchen Haltung Gefahr liefe, bei
der ersten kleinen Abweichung in der Haushaltsplanung
diese Grenze zu überschreiten. Wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz haben Sie damit und mit Ihrem
Steuerwirrwarr jedenfalls nicht bewiesen. Sie sind wirtschafts- und finanzpolitisch gesehen konzeptionell bei
null. Nichts anderes ist die Realität.
({28})
Was hat denn der bayerische Ministerpräsident Stoiber
den deutschen Bürgern im Überschwang seiner geglückten Nominierung in seinen bisherigen konfusen Medienauftritten verkündet, ohne an die Finanzierung zu denken?
Höhere Verteidigungsausgaben, 20 Milliarden Euro mehr
Ostförderung und zusätzliche Steuerentlastungen: Was
gilt denn nach diesen Interviews von diesen Forderungen?
Werden sie einkassiert? Werden sie Eingang in das
Wahlprogramm finden? Wenn ja, wie werden Sie diese
Forderungen finanzieren? Durch Sozialabbau? Durch
Steuererhöhungen? Bisher kommen von Ihnen nur
Ankündigungen, Korrektur der Ankündigungen und Konfusion. Sie befinden sich im permanenten Zustand der intellektuellen Konfusion. Das merkt man Ihren Beiträgen,
die Sie hier liefern, an.
({29})
Sagen Sie doch endlich, wann Ihr Wahlprogramm
kommt. Ich habe diese Frage vorhin schon gestellt. Ich
glaube, Ihnen ist inzwischen klar geworden, wie schwer
es ist, eine konkrete Alternative zu unserer Politik zu formulieren.
({30})
Oder sind trotz aller Harmoniebeteuerungen in der Union
die Gräben so tief, dass Sie sich nicht einigen können und
dass Sie deshalb Monate brauchen, um Vorstellungen zu
entwickeln? Legen Sie Ihre steuerpolitischen Vorstellungen auf den Tisch! Was meinen Sie denn mit einer
noch „wachstumsfreundlicheren“ Steuerpolitik als die,
die wir machen? Wollen Sie nun doch eine Stufe der Steuerreform vorziehen?
Herr Austermann hat konkret etwas angekündigt. Er
hat gesagt: Als erste Maßnahme einer unionsgeführten
Bundesregierung wird die Unternehmensteuerreform
rückgängig gemacht. Was gilt denn nun in Ihren Reihen?
Einer von Ihnen sollte einmal erklären: In der Steuerpolitik gilt dieses und jenes. Dann würde sich dieses Wirrwarr
nicht weiter fortsetzen. Diese Beispiele könnte man fortführen.
({31})
Herr Stoiber kündigt eine Absenkung des Spitzensteuersatzes unter 40 Prozent an. Wer profitiert denn davon?
80 Prozent aller Personengesellschaften haben einen Gewinn von maximal 50 000 Euro. Von der Absenkung des
Spitzensteuersatzes würde die breite Masse der mittelständischen Unternehmen eben nicht profitieren. Wie
wollen Sie das außerdem finanzieren?
Wie sieht es mit Ihrer Position zur Ökosteuer aus? Erst
haben Sie gesagt: Die Ökosteuer soll insgesamt abgeschafft werden. Dann sollte nur die letzte Stufe ausgesetzt
werden. Aber eigentlich soll die ganze Steuer beseitigt
werden. Kein Mensch wird behaupten können, dass das,
was Sie und Herr Stoiber hier vorführen, die Denk- und
Redeweise eines kompetenten Politikers ist.
({32})
Ich fasse zusammen: Auch nach sechs Wochen Stoiber
hat die Union noch kein einvernehmliches Konzept.
({33})
Niemand weiß, was die Union konkret will. Glauben Sie
wirklich - von der FDP will ich gar nicht reden; sie hat
noch nie finanzierbare Vorschläge vorgelegt -,
({34})
dass Sie mit einer solchen Vorstellung gerade auf dem
Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit Gerhard
Schröder, Hans Eichel, Herrn Müller oder der Regierungskoalition konkurrieren können? Ich glaube, nein.
({35})
Ich erteile
dem Kollegen Dr. Norbert Wieczorek für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Da dies mit Sicherheit der
letzte Jahreswirtschaftsbericht ist, zu dem ich sprechen
kann - ich werde aus persönlichen Gründen dem Haus im
nächsten Jahr nicht mehr angehören -, darf ich eine Bemerkung zu der Debatte machen. Das, was hier insbesondere durch die Vorlage von Herrn Merz gelaufen ist, hilft
wenig, um die Probleme dieses Landes zu erkennen.
({0})
Wer seine Politik auf dieser Basis aufbaut, wird scheitern. Ich habe auch Erfahrung mit Oppostion; ich bin
lange genug dabei. Wir haben diesen Fehler auch gemacht. Sie dürfen ihn gern noch eine Weile weitermachen.
({1})
Ich möchte das ein bisschen untermauern. Natürlich
war die Wachstumsschätzung im letzten Jahreswirtschaftsbericht zu hoch; das ist eine Binsenweisheit. Ich
habe hier aber die Erkenntnis des Ifo-Instituts vom Januar
2002 vorliegen. Ich darf sie kurz zitieren:
Mit einer gewissen Abschwächung gegenüber dem
Boomjahr 2000 hatte man zwar gerechnet, eine so
deutliche Verschlechterung hatte jedoch keine der professionellen Prognoseinstitutionen vorausgesehen ...
Das ist die Erkenntnis eines doch sehr seriösen Institutes.
Das gleiche Institut veröffentlicht jetzt übrigens mit seinem Ifo-Index seit drei Monaten die Annahme, dass es
wieder aufwärts gehen wird.
Es führt dann auch noch aus, was im letzten Jahr passiert ist. Es hat eben keine weiche Landung in den USA
gegeben, sondern eine harte Landung. Ein Problem haben
wir selber gehabt: die Verunsicherung im Nahrungsmittelbereich. Das ist fast schon wieder vergessen. Es wird
nur noch über ein paar Tests, die nicht ordentlich gemacht
werden, geredet. Aber es hatte eine tiefe Verunsicherung
in der Bevölkerung gegeben.
Ich möchte auch etwas zu den von Ihnen, Herr
Brüderle, angesprochenen Pleiten sagen, die wir jetzt haben. Ein großer Teil davon ist bei Unternehmen passiert
- schauen Sie sich das spiegelbildlich im so genannten
Nemax an -, die niemals einen Businessplan hatten.
({2})
Ich könnte jetzt polemisch sagen: Der fehlt der Opposition auch. Ich will das aber gar nicht so ausbreiten; das ist
nicht der Stil meiner Rede.
({3})
Fakt ist also, dass sehr viele der IT-Unternehmen einfach weggefallen sind. Das spüren wir. Wir spüren allerdings auch eine Investitionszurückhaltung, und zwar gerade beim Mittelstand. Eine Reihe von Mittelständlern
haben genau in diesem Markt erhebliche Mittel verloren,
die sonst eventuell für Investitionen zur Verfügung standen. Schauen Sie sich einmal die Aktionärsstrukturen an.
Sie sollten einmal die Realitäten ein bisschen ins Auge
fassen; dann sieht manches anders aus.
Deswegen möchte ich auch noch den Kollegen
Wissmann - den ich sonst sehr schätze; wir kennen uns
auch schon sehr lange aus der Arbeit hier - bitten, sich
einmal seine Statistiken genau anzuschauen. Mir liegt hier
die Wachstumsliste vor. Ich möchte nur einmal darauf
verweisen, dass im Jahre 1993 Deutschland an 12. Stelle
von 15 Ländern der EU stand, 1994 an 13. Stelle, 1995 an
14. Stelle und 1996 dann an letzter Stelle. Das war zur Zeit
Ihrer Regierung. Es ist aber auch verständlich, dass
Deutschland schlechter war. Nach der Entindustrialisierung der ehemaligen DDR, nach einem künstlichen Boom
insbesondere im Baugewerbe, der sich jetzt korrigiert
- Herr Müller hat auch darauf hingewiesen -, können wir
gar nicht in der Spitzengruppe liegen.
Da möchte ich gleich noch eines hinzufügen: Da hier
immer EU-Zahlen genannt werden, will ich auch einmal
die EU-Zahlen für die Arbeitslosenquote, und zwar nach
der Berechnungsart der EU, zugrunde legen und verkünden - falls Sie das noch nicht wissen -, dass nach dem
offiziellen Handbuch der EU die Durchschnittsquote der
15 EU-Staaten bei 7,8 Prozent liegt. Das ist exakt die
Quote, die auch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr
2001 hat. Das ist deutlich besser als in allen anderen
großen Länder der EU - damit wir einmal wissen, worüber wir eigentlich reden. Das führt auch zu anderen Ergebnissen.
Es ist ja nicht so, dass wir nur darauf hoffen, dass die
USA wieder hochkommen. Den Zusammenhang zwischen dem Welthandel, der stark von den USA bestimmt
wird, und unserem Export hat Herr Müller aufgezeigt; ich
brauche das nicht zu wiederholen. Wir haben aber strukturelle Verbesserungen vorgenommen und Reformen
durchgeführt. Schauen Sie sich unsere Rentenreform an:
Sie ist sehr vernünftig. Das wird besonders deutlich, wenn
Sie sehen, was jetzt in den USA - nicht nur bei Enron und in Großbritannien mit anderen kapitalunterlegten
Renten passiert. Schauen Sie sich einmal an, wie dort die
Rentenzahlungen, die jetzt fällig wären, zusammengebrochen sind. Ich glaube, dass wir ein sehr vernünftiges Modell haben.
({4})
Herrn Merz möchte ich auch noch etwas sagen, auch
wenn er nicht hier ist: Natürlich kann man sich manches
von den USA abschauen. Das Prinzip der USA, Leute
über den Rand zu schieben und fallen zu lassen, kann aber
nicht europäische Politik sein. Das steht auch in keiner
europäischen Gipfelerklärung, auch nicht in denen, die
Herr Kohl unterschrieben hat. Wir machen hier eine andere Politik.
({5})
Was haben wir in Angriff genommen? Wir haben in
Europa eine der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeitszahlen. Diese erfolgreiche Politik setzen wir mit dem JumpProgramm fort, indem wir die jungen Leute in die Ausbildung hineinbringen. Die Betriebe sagen zwar immer,
sie bilden aus. Sie bilden aber nur die aus, die im Betrieb
sind. Die, die nicht im Betrieb sind, müssen wir ausbilden.
Das ist eine staatliche Aufgabe für unsere Zukunftschancen. Genau dieser Aufgabe haben wir uns angenommen.
({6})
Herr Eichel hat auf das BAföG hingewiesen. Wir haben nicht nur das BAföG für Studenten erhöht, sondern
auch das Meister-BAföG gerade für die Gesellen im
Handwerk deutlich verbessert. Deswegen kann ich sagen,
dass wir mehr gemacht haben.
Auch die Steuerreform hat positive Ergebnisse gebracht. Heute Morgen hat mir der selbstständige Taxifahrer, der mich hierher gefahren hat, im Hinblick auf diese
Debatte gesagt, er habe sich einmal ausgerechnet, dass er
jetzt weniger Steuern zu zahlen habe: Im Jahre 2001 habe
er bei einem durchschnittlichen monatlichen Verdienst von
1 800 DM nach der Einkommensteuertabelle eine Steuer
von 75 DM zu zahlen gehabt, während es in diesem Jahr
nur noch 15 DM seien. Das mag in der Summe nicht fürchterlich viel sein; aber bei einem solchen Einkommen ist
das eine ganze Menge. Insoweit ist es auch kein Zufall,
dass der private Verbrauch bei uns nicht so zusammengebrochen ist, wie es manche befürchtet haben, ganz im Gegenteil.
Lassen Sie mich noch etwas zum Investitionsstandort
Deutschland sagen - dazu ist hier ja auch einiges verbraten worden -: Im Monatsbericht der Bundesbank wird darauf hingewiesen, dass die Direktinvestitionen 1998 um
42,7 Milliarden DM, 1999 um 52,5 Milliarden DM und
im Jahre 2000 um 191,4 Milliarden DM - hierin sind allerdings die Vodafone-Investitionen enthalten - gestiegen
sind. Selbst in dem schlechten Investitionsjahr 2001, als
die Auslandsinvestitionen gerade der USA zurückgingen,
wurden bis November - neuere Zahlen liegen noch nicht
vor - 36 Milliarden DM in Deutschland direkt investiert.
Vor wenigen Tagen hat der Chef des vom Börsenwert her
stärksten Unternehmens der Welt, General Electric, gesagt - bei dieser Veranstaltung war auch Herr Wissmann
anwesend -, dass er das allergrößte Interesse habe, weiterhin in Deutschland zu investieren. Angesichts dessen
ist es hochgefährlich, wenn Herr Stoiber und andere
erklären, sie wollten alles wieder rückgängig machen. Damit würden sie die Grundlagen dafür infrage stellen, dass
wir in diesem Bereich gerade wieder konkurrenzfähig geworden sind. Das halte ich für gemeingefährlich, um das
hier einmal deutlich zu sagen.
({7})
Meine Damen und Herren, wir haben eine gute Chance,
weiterzukommen, ohne dass man aber übertriebene Hoffnung haben darf.
Da die Opposition gern auf Banken hört - würden das
manche Ihrer Freunde wie Herr Kirch auch tun, gäbe es in
diesem Bereich weniger dramatische Auswirkungen -,
({8})
möchte ich mit dem Konjunkturausblick der Deutschen Bank vom 14. Februar schließen. Dort gibt es eine
interessante Analyse des Verhältnisses der Investitionen
zu einer Reihe volkswirtschaftlicher Größen. Auf Seite 4
heißt es:
Am aktuellen Rand weist dieses Modell jedoch auf
eine merkliche Investitionslücke hin. Die Unternehmer waren also in diesem konjunkturellen Abschwung - gemessen an der Konstellation unserer
vier Einflussvariablen - bei den Investitionen besonders zurückhaltend.
Was bedeutet diese Nachricht? In einem Szenario, in
dem sich die wirtschaftliche Entwicklung stabilisiert
und erste Zeichen - wenn auch noch vorsichtig - auf
eine Erholung hinweisen, könnte dies auf eine merkliche Beschleunigung der Investitionsausgaben hindeuten.
Jetzt kommt es - das muss man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen -:
Bei unserer Wachstumsprognose für 2002
- sie liegt übrigens bei 0,9 Prozent hat uns aber der Mut gefehlt, diese Reaktion entsprechend zu berücksichtigen. Wir erwarten, dass die
Ausrüstungsinvestitionen im ersten Halbjahr 2002
noch deutlich unter dem Vorjahresniveau bleiben.
Das Modell würde aber weit höhere Investitionsausgaben nahe legen.
Das Modell geht bis in die 70er-Jahre zurück; es ist durchaus seriös.
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz zitieren:
Insgesamt halten wir an unserer Wachstumsprognose
für das BIP von 0,9 Prozent für 2002 fest, aber es gibt
auch Risiken, die auf eine schnellere und kräftigere
Erholung hinweisen.
Es ist lustig, in diesem Zusammenhang das Wort „Risiken“ zu verwenden; ich würde das nicht als Risiko, sondern als begründete Hoffnung ansehen.
({9})
Daher fordere ich Sie auf, hier mitzumachen, anstatt
das Tohuwabohu zu verstärken, das Ihr Kanzlerkandidat
gerade jetzt veranstaltet.
({10})
Insofern würde uns allen mehr Sachlichkeit helfen. Sie
würde vielleicht auch der Opposition die Hoffnung geben,
irgendwann tatsächlich wieder regieren zu können. Auch
wenn ich im nächsten Jahr nicht mehr dem Bundestag angehören werde, so bin ich doch sicher, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung dort auf der Regierungsbank sitzen wird.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8175 und 14/7569 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU, Tagesord-
nungspunkt 3 c, dessen Titel nunmehr lautet „Rezession
überwinden - Wirtschaftspolitik für mehr Wachstum und
Beschäftigung umsetzen“, auf der Drucksache 14/8265
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie und zur Mitberatung an den
Finanzausschuss, den Haushaltsausschuss, den Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung und den Ausschuss für Ge-
sundheit überwiesen werden. - Das Haus ist damit ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksa-
che 14/8148 zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine stetige,
verlässliche und beschäftigungsfördernde Wachstumspo-
litik - kein konjunkturpolitischer Aktionismus“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7808 an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU,
FDP und PDS angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a)Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Norbert Geis, Erwin Marschewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kriminalität wirksamer bekämpfen - Innere
Sicherheit gewährleisten
- Drucksachen 14/6539, 14/8284 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({1})
Norbert Geis
Volker Beck ({2})
Dr. Evelyn Kenzler
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Strafverfolgung in ({3}) Europa
- Drucksachen 14/1774, 14/4991 Die Fraktionen haben sich auf eine Aussprachelänge
von eineinhalb Stunden verständigt. - Ich höre auch hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die
Kolleginnen und Kollegen, die der nachfolgenden Debatte nicht folgen möchten, bitten, das Plenum zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
Fraktion der CDU/CSU dem Kollegen Wolfgang Bosbach
das Wort.
Herr Präsident!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der
negativen wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes
und der katastrophalen Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist die vom Bundeskanzler proklamierte „Politik der ruhigen Hand“ unverantwortlich.
({0})
Genauso unverantwortlich ist, dass dieser Politikstil
leider auch seit gut drei Jahren für die Bekämpfung der
Kriminalität gilt.
({1})
Zwar hat der Bundesinnenminister aufgrund der dramatischen Ereignisse vom 11. September und der sich daraus
ergebenden Herausforderungen zum Thema „innere Sicherheit“ plötzlich markige Reden gehalten und eine rotgrüne Kurskorrektur versprochen; aber die Diskrepanz
zwischen den Reden, den Ankündigungen und den Taten,
genauer gesagt: den ausgebliebenen Taten, ist unübersehbar. Herr Schily hat sich ja vor fünf Minuten pünktlich zu
Beginn dieser Debatte verabschiedet. Das zeigt sein
ganzes Interesse, besser gesagt, sein Desinteresse an diesem Thema.
({2})
Wir hätten ihn zu gern gefragt, was eigentlich aus dem
fälschungssicheren Personalausweis geworden ist.
({3})
Herr Schily hatte sich doch schon einen Prototyp mit seinem Bild und mit seinem Fingerabdruck zum Beweis der
Tatsache anfertigen lassen, dass ein solcher fälschungssicherer Personalausweis für eine bessere Bekämpfung
der Kriminalität unverzichtbar sei.
Was ist eigentlich aus der Kronzeugenregelung geworden, die am 31. Dezember 1999 ausgelaufen ist? Es
war ein schwerer Fehler dieser Regierung, diese Regelung
ohne eine Nachfolgeregelung auslaufen zu lassen.
({4})
Sicherheitsexperten, und zwar auch von der SPD benannte, Kriminologen, Fachleute haben uns ausdrücklich
bestätigt, wie wichtig und unverzichtbar eine Kronzeugenregelung für die Aufklärung begangener, für die Verhinderung neuer Straftaten und für die Überführung von
Straftätern ist.
({5})
Gerechterweise muss man allerdings hinzufügen, dass
man der Justizministerin nicht vorwerfen kann, dass es
auch bei ihr eine große Diskrepanz zwischen Reden und
Taten gibt; denn die Justizministerin hat in ihrer bisherigen Amtszeit nie auch nur den Eindruck vermittelt, als
hätte für sie die Bekämpfung der Kriminalität oberste politische Priorität.
({6})
Im Gegenteil: Der Beitrag der Kabinettskollegin von
Herrn Schily zum Sicherheitspaket II bestand aus 32 Seiten Bedenken und Kritik ohne einen eigenen konstruktiven
Vorschlag für eine bessere Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Mehr hat die Justizministerin nicht getan.
({7})
Im Jahre 2000 wurden in Deutschland knapp 6,3 Millionen Straftaten registriert. Die Union lässt sich durch
die Mitteilung des Innenministers, dass die polizeilich erfassten Straftaten gegenüber dem Vorjahr ganz geringfügig zurückgegangen seien, nicht beruhigen und zufrieden stellen.
({8})
Für uns sind 6,3 Millionen Straftaten exakt 6,3 Millionen zu viel. Außerdem gibt es Besorgnis erregende Entwicklungen.
({9})
- Herr Kollege, wenn ich Ihre dusseligen Zwischenrufe
höre, kann ich mir vorstellen: Wenn Ihre Eltern Ihnen
zuhören, tut es ihnen heute noch Leid, dass sie Ihnen das
Reden beigebracht haben.
({10})
Über 145 000 strafunmündige Kinder - eine erschreckend hohe Zahl - wurden als Täter registriert. Bei
den Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren sind es sogar knapp 300 000. Obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung
nur 4,4 Prozent beträgt, stellen sie knapp 13 Prozent aller
Tatverdächtigen. Besonders kritisch ist die Situation bei
den Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren. Dabei
sind 240 000 Tatverdächtige ermittelt worden - 20 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren.
Angesichts dieser Entwicklung kommt der Kriminalprävention eine ganz besondere Bedeutung zu.
({11})
Der Innenminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass
die Jugendarbeit in den Vereinen - beispielsweise in den
Sportvereinen - auch und gerade wegen der dort erworbenen sozialen Erfahrungen und Kompetenzen unter kriminalpräventiven Gesichtspunkten von ganz besonderer
Bedeutung ist. Das ist richtig. Deswegen war es ein
schwerer Fehler dieser Regierung, den Vereinen neuen
bürokratischen Ballast und zusätzliche Kosten aufzubürden.
({12})
Es genügt nämlich nicht, in Sonntagsreden die Arbeit der
Ehrenamtlichen zu loben. Man muss sie auch in der politischen Praxis tatkräftig unterstützen.
({13})
So wichtig wie die Kriminalprävention ist, so richtig ist
auch eine rasche Reaktion des Staates auf die Begehung
von Straftaten.
({14})
Es geht nicht um drakonische Bestrafungen. Eine Strafe
muss immer tat- und schuldangemessen sein.
({15})
Aber der Staat muss rasch und konsequent reagieren, und
zwar nicht nur bei der Bekämpfung von schweren Straftaten - bei Kapitalverbrechen -, sondern auch und gerade
bei der Bekämpfung der so genannten Alltagskriminalität. Hier muss gelten: Wehret den Anfängen!
({16})
Auch der Ladendieb ist ein Dieb. Graffiti-Schmierereien auf fremden Gebäuden oder an öffentlichen Verkehrsmitteln sind keine Kavaliersdelikte, sondern strafwürdiges Unrecht.
({17})
Es ist mehr als bedauerlich, dass sich diese Regierung
standhaft weigert, die Vorschläge der Union, aber auch die
des Bundesrates, zur Änderung des Strafrechts aufzunehmen, damit wir Graffiti-Schmierereien und andere Formen der Sachbeschädigung konsequenter ahnden und bestrafen können.
Gerade bei jugendlichen Tätern ist eine schnelle Reaktion wichtig. Eine schnelle Reaktion kann den jugendlichen Täter oft mehr beeindrucken als die Strafe selber.
({18})
Wenn aber viele Monate zwischen Tat und Verhandlung vergehen, fehlt es an der Beziehung zwischen dem
begangenen Unrecht und der strafrechtlichen Sanktion.
({19})
Nicht selten sind in der Zwischenzeit vom Täter neue
Straftaten begangen worden. Es geht nicht darum, Tätern
einen „kurzen Prozess“ zu machen, aber das alte Sprichwort „Die Strafe folgt auf dem Fuß“ muss Gültigkeit haben.
({20})
Deswegen plädieren wir dafür, in geeigneten Fällen auch
bei Jugendstrafsachen das so genannte beschleunigte
Verfahren einzuführen, namentlich dann, wenn der Täter
auf frischer Tat gefasst werden konnte.
({21})
Auch bei der dringend notwendigen besseren
Bekämpfung von Sexualstraftaten gibt es eine große
Diskrepanz zwischen den Sprüchen Ihres Bundeskanzlers
und den Taten - genauer gesagt: der beeindruckenden
Untätigkeit - der Bundesregierung.
({22})
Die DNA-Analyse bzw. der genetische Fingerabdruck
bieten hervorragende Chancen, Taten aufzuklären und Täter zu überführen, und haben zudem eine hohe abschreckende Wirkung. Wir wollen daher ihren Anwendungsbereich ausdehnen, vor allen Dingen bei sexuell
motivierten Straftaten. Wir wollen, dass der sexuelle
Missbrauch von Kindern nicht nur als Vergehen, sondern
endlich als Verbrechen geahndet wird und dass auch die
Verabredung zu einer solchen Tat und der Anstiftungsversuch endlich bestraft werden.
({23})
Wenn es Schwerverbrecher gibt, die während ihrer
Haftzeit jede Therapie und jeden Resozialisierungsversuch verweigern und daher nach ihrer Entlassung eine
ernsthafte Bedrohung für die Allgemeinheit darstellen,
dann muss der Staat zum Schutz der Bürger unseres Landes die Möglichkeit haben, durch gerichtlichen Beschluss
für solche Täter auch nachträglich Sicherungsverwahrung anzuordnen.
({24})
Der Bundeskanzler hat öffentlich den Eindruck erweckt,
gerade auf diesem Gebiet kraftvoll handeln zu wollen. Das
einzig Kraftvolle aber war die Ablehnung unserer Anträge.
({25})
Ansonsten hat diese Regierung nichts gemacht.
Mit Sprüchen kann man Kriminalität nicht bekämpfen,
({26})
sondern nur mit Taten. Aber genau daran fehlt es.
({27})
Dass die unionsgeführten Bundesländer bei der Bekämpfung der Kriminalität deutlich erfolgreicher sind als
die Sozialdemokraten, ist doch kein Zufall, sondern das
Ergebnis einer konsequenten Politik, in der Taten und
nicht Sprüche zählen.
({28})
Wenn der Staat aus guten Gründen für sich das Gewaltmonopol beansprucht, dann hat er nicht nur das
Recht, sondern auch die Pflicht, die Bürgerinnen und Bürger so wirksam wie nur möglich vor Kriminalität zu
schützen.
({29})
Aber an diesem Engagement fehlt es dieser Bundesregierung.
({30})
Ich erteile
das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesjustizministerium Professor Dr. Eckhart Pick.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Bosbach, wenn Sie gestern in der Anhörung
dabei gewesen wären,
({0})
die sich genau mit diesen Themen befasst hat, dann hätten
Sie vermutlich Ihr Manuskript noch etwas umgeschrieben.
({1})
Denn es war eine ausgesprochen gute Anhörung, wie ich
feststellen konnte. Ich meine, dass wir mit den differenzierten Vorschlägen, die wir dort gehört haben, in der Tat
etwas anfangen können und dass sie auch weiterführend
sind.
({2})
Lieber Herr Kollege, zu unserer Politik gehört auch,
dass wir genau zuhören, wenn uns die Fachleute mitteilen,
({3})
wo es entsprechende Lücken gibt. Dann werden wir daraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen.
Aber in einem sind wir uns offensichtlich einig, meine
Damen und Herren, nämlich darin, dass Kriminalität und
ihre Bekämpfung unsere höchste Aufmerksamkeit erfordern; denn mit diesen Stichworten verbinden sich
Besorgnisse der Bevölkerung, die wir alle sehr ernst
nehmen müssen. Die Menschen wollen sich sicher fühlen
und sie wollen in der Tat auch sicher sein, dass Parlament
und Bundesregierung ihre Anliegen aufgreifen und alles
tun, um sie vor Kriminalität zu schützen, Kriminalität zu
verhindern, die Täter zu verfolgen und - ich meine, das
gehört ebenfalls in diesen Kontext - den Opfern solcher
Straftaten wirksam Hilfe zukommen zu lassen.
({4})
Wer aber die Anliegen der Bevölkerung ernst nimmt
und nicht nur - wie es jetzt wieder geschehen ist - mit populistischen Schlagworten um sich wirft, ist verpflichtet,
genau hinzuschauen, wo die Probleme liegen und vor allem wie sie gelöst werden können.
({5})
Wer ohne eine fundierte Analyse Pauschalforderungen
erhebt, darf sich nicht wundern, wenn die Mehrzahl dieser Vorschläge an der Realität vorbeigeht.
({6})
Rechtspolitik darf eben nicht im „Blindflug“ betrieben
werden, wie Sie das tun.
({7})
Die Aneinanderreihung von aufgewärmten alten Vorschlägen, die übrigens auch von der unionsgeführten Vorgängerregierung schon zu einem großen Teil abgelehnt
worden waren,
({8})
reicht ganz bestimmt nicht für eine wirksame Politik der
Kriminalitätsbekämpfung aus.
Deshalb hat diese Bundesregierung erstmals - ich betone noch einmal: erstmals - eine konkrete umfassende
Bestandsaufnahme zur Kriminalitätsbekämpfung vorgelegt.
({9})
Ich meine den Periodischen Sicherheitsbericht.
({10})
Dieser Bericht dokumentiert die Kriminalitätsentwicklung und -verfolgung auf der Basis aller Erkenntnisquellen, die uns zur Verfügung stehen, und sorgfältiger Analysen von unabhängigen Wissenschaftlern. Er vermittelt
ein umfassendes Bild der Kriminalität, zeigt auf, wie sie
verfolgt wird, und verweist vor allen Dingen auf Verbesserungsmöglichkeiten im Umgang mit der Kriminalität.
Deswegen bietet der Periodische Sicherheitsbericht einen
breiten Ansatz zur Bewertung der Sicherheitslage in
Deutschland und damit auch die notwendige Grundlage
für eine entsprechende Gestaltung der Kriminal- und der
Strafrechtspolitik.
Ich möchte ein Beispiel herausgreifen, nämlich die
Gewaltkriminalität. Sie bestimmt - das wissen wir alle die öffentliche Wahrnehmung sehr weitgehend, auch
wenn sich ihr Anteil an der registrierten Kriminalität mit
etwa 3 Prozent statistisch gesehen bescheiden ausnimmt.
Wir sollten uns bewusst sein, dass dieser Anteil von nur
3 Prozent schon ein rechtspolitischer Erfolg ist; denn er
zeigt, dass die gesetzlichen Vorschriften greifen
({11})
und dass die Bekämpfung der Gewaltkriminalität in
Deutschland im Großen und Ganzen funktioniert.
({12})
Ich gebe gerne zu, dass man die Bekämpfung der Gewaltkriminalität nicht vernachlässigen darf, ganz gleich,
wie hoch ihr statistischer Anteil an der gesamten Kriminalität auch ist. Deswegen überprüfen wir ständig das
Instrumentarium zu ihrer Bekämpfung. Deswegen reicht
es auch nicht aus, sich allein auf einen Aspekt, nämlich
den der Verfolgung und der Ahndung, zu beschränken;
denn wir können und müssen im Sinne der Bürgerinnen
und Bürger erheblich mehr tun.
({13})
Die Bundesregierung hat auch hier, ausgehend von den
tatsächlichen Grundlagen im Bereich der Prävention und
der Opferhilfe, für entscheidende Verbesserungen gesorgt. Wenn man genau hinsieht, stößt man beispielsweise
auf eine wissenschaftliche Erkenntnis, auf die uns der Periodische Sicherheitsbericht aufmerksam macht und die
uns eigentlich nach aller Lebenserfahrung schon bekannt
ist: Gewalt wird gelernt. Wer selbst als Schwächerer erlebt hat, dass sich ein anderer mit Gewalt durchsetzen
konnte, der wird es vermutlich genau so versuchen, wenn
er einmal der Stärkere ist. Wer von Kindesbeinen an gelernt hat, dass Konflikte auch ohne Gewalt gelöst werden
können, der hat später sehr viel weniger Anlass, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen.
({14})
Deswegen haben wir mit dem Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung einen Paradigmenwechsel für
ein neues, von Respekt getragenes Leitbild der Erziehung
eingeleitet.
({15})
Wer nicht geschlagen wird, wird nicht so leicht auf die
Idee kommen, andere zu schlagen. Das ist ein wichtiger
Beitrag zur Prävention von Gewalt in der Gesellschaft.
({16})
- Herr Geis, eines ist allerdings neu: Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung gibt es seit gut einem Jahr.
({17})
In diesem Zeitraum haben wir mit Genugtuung einen
Wechsel in der Einstellung der Bevölkerung zur Gewalt in
der Erziehung konstatieren können:
({18})
Heute sagen 80 Prozent der Eltern - die Zahl ist wesentlich höher als vorher -, dass sie ihre Kinder ohne Gewalt
erziehen.
({19})
Das ist ein großer Erfolg; denn das heißt, dass gewaltfreie Erziehung akzeptiert wird. Die Bereitschaft, Gewalt
in der Erziehung anzuwenden, lässt deutlich nach.
Prävention hilft, dass weniger Menschen Opfer von
Gewalttaten werden. Mindestens genauso wichtig ist es,
den Opfern von Gewaltdelikten die notwendige Hilfe zukommen zu lassen. Damit bin ich bei einem anderen wichtigen Punkt angekommen: Es genügt nicht, ständig Strafverschärfungen zu fordern.
({20})
Wichtig ist auch die Frage: Wo kann etwas für die Bürgerinnen und Bürger getan werden, die Gewaltkriminalität
erfahren mussten? Hier muss entsprechend gehandelt
werden. Dies hat die Bundesregierung auch getan. Das
möchte ich Ihnen an drei Beispielen deutlich machen. Erstens: Wir haben für die Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt finanzielle Mittel bereitgestellt. Ich finde,
es ist eine besondere Leistung des Bundestages, gerade
dieser Gruppe von Opfern zu helfen.
Zweitens: Frauen, die in ihren eigenen vier Wänden
Opfer von Gewalt wurden, haben wir mit dem Gewaltschutzgesetz nach dem Motto geholfen: Der Schläger
geht, die Geschlagene bleibt.
Schließlich haben wir drittens den Gedanken des
Täter-Opfer-Ausgleichs gestärkt
({21})
und ihn im Strafprozess wesentlich stärker als vorher verankert.
({22})
Damit ist der Staat in der Lage, Wiedergutmachungsleistungen zu befördern.
Ich denke, meine Damen und Herren, diese Bilanz
kann sich sehen lassen.
Vorhin ist gefragt worden, was wir für eine effektive
Strafverfolgung tun würden. Ich darf daran erinnern, dass
in der Strafprozessordnung am 1. Januar dieses Jahres
eine neue und - das möchte ich betonen - verbesserte
Nachfolgeregelung des § 12 FAG in Kraft getreten ist.
({23})
Diese ermöglicht den Strafverfolgungsbehörden Zugriff
auf solche Daten, die Auskunft darüber geben, wann ein
Täter mit wem telefoniert hat. Ich finde, das ist in der Tat
ein Beispiel dafür, dass diese Bundesregierung nicht mit
Ankündigungen laviert, sondern auch effektiv etwas für
Kriminalitätsbekämpfung und das Sicherheitsbedürfnis
der Bevölkerung tut.
Vielen Dank.
({24})
Der Kollege
Jörg van Essen spricht für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Staatssekretär Pick hat hier gerade
eine sachliche Rede gehalten. Ich glaube auch, dass die
Menschen erwarten, dass wir uns mit dieser Thematik
sachlich auseinander setzen;
({0})
denn sie haben berechtigt Sorge um die innere Sicherheit.
Wer beispielsweise in der letzten Woche gelesen hat, dass
die Zahl der Straftaten und insbesondere die der Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen - ich selbst komme ja aus
diesem Bundesland - gestiegen ist, kommt zu dem
Schluss, dass es nicht richtig ist, dass die Straftaten
zurückgehen, wie ja immer wieder mit Berufung auf die
Kriminalstatistik behauptet wird. Die Menschen haben
also berechtigte Sorgen. Wir in der Politik müssen darauf
fundierte Antworten geben. Das will ich für die Freien Demokraten heute hier versuchen.
({1})
Die CDU/CSU hat einen Katalog mit Forderungen zur
Verbesserung der inneren Sicherheit aufgestellt. Einige
Punkte finden unsere Unterstützung, einige nicht.
Am meisten hat mich enttäuscht, dass das Thema
Opferschutz - Staatssekretär Pick ist in seiner Rede
darauf eingegangen - leider nur im letzten Punkt auf
Seite 11 nach vielen anderen Vorschlägen behandelt wird.
Wir Liberale sind der Auffassung: Das Opfer muss im
Mittelpunkt aller Überlegungen des Strafrechts stehen.
({2})
Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion einen Antrag
eingebracht, mit dem die Position der Opfer, deren Rechte
so häufig vergessen werden und auch in den Medienberichten keine Rolle spielen, im Strafverfahren verbessert werden soll.
Für mich ganz wichtig ist die Ermöglichung der Nebenklage auch im Jugendstrafrecht. Das Jugendstrafrecht ist pädagogisch ausgerichtet. Deshalb tut es außerordentlich gut, wenn Jugendliche, die eine Straftat begangen
haben, merken, welche Wirkungen diese Straftat beim Opfer gehabt hat. Ich bitte deshalb herzlich darum, darüber
nachzudenken, ob es sich hierbei nicht um einen vernünftigen Weg handelt, den pädagogischen Ansatz des Jugendstrafrechts zu verstärken.
({3})
Gerade weil wir diesen pädagogischen Ansatz des Jugendstrafrechts für richtig halten, sagen wir Nein zu den
Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion, beispielsweise das
Erwachsenenstrafrecht viel früher obligatorisch zur Anwendung kommen zu lassen.
({4})
Das Jugendstrafrecht lässt es zu, dass man angemessen
auf die Situation von Heranwachsenden reagiert. Daran,
dass viele Jugendliche nur ein einziges Mal beim Jugendrichter erscheinen, sieht man, dass das jetzige Jugendstrafverfahren ganz offensichtlich Wirkung zeigt und neben dem Aburteilen von Fehlverhalten dafür sorgt, dass
Jugendliche nicht wieder straffällig werden. Das macht
deutlich, dass die bisherige Ausgestaltung des Jugendstrafrechts richtig ist.
Mich ärgert aber, Herr Staatssekretär - ich denke, dass
es sich auch dabei um sachliche Kritik handelt -, etwas
anderes: Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie
verbesserte Möglichkeiten für die Opfer von rechtsradikaler Gewalt geschaffen haben; das wird von uns nachdrücklich unterstützt. Trotzdem darf die Frage gestellt
werden: Was ist eigentlich mit Opfern von linksextremer
Gewalt?
({5})
Warum gibt es in diesem Land ganz offensichtlich Opfer
unterschiedlicher Qualität? Für uns als Liberale ist es
ganz selbstverständlich, dass Opfer von politischer Gewalt unterstützt werden müssen und dass ihnen Hilfe zuteil werden muss. Es darf nicht unterschieden werden, ob
sie Opfer von rechtsradikaler oder linksradikaler Gewalt
geworden sind.
({6})
Herr Staatssekretär, zum Thema Opfer möchte ich feststellen, dass mich ein Aspekt ganz außerordentlich enttäuscht: Vor zwei Jahren hat die von der Bundesregierung
eingesetzte Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, also des Systems der Strafen
und Maßregeln der Sicherung und Besserung, einen Abschlussbericht vorgelegt und Vorschläge gemacht. Sie hat,
wie ich finde, insbesondere sehr gute Vorschläge zu einer
besseren Wiedergutmachung, die auch den Opfern hilft,
unterbreitet. Seit zwei Jahren hören wir von der Bundesregierung nichts darüber, was aus den Vorschlägen der
Kommission wird. Ich halte das für außerordentlich
falsch. Ich möchte, dass wir eine Reform des Sanktionensystems vornehmen, die insbesondere die Möglichkeiten
der Wiedergutmachung, aber auch der gemeinnützigen
Arbeit stärkt.
({7})
Gestern haben wir eine, wie ich finde, sehr gute Anhörung zur Frage der nachträglichen Sicherungsverwahrung durchgeführt. Mich hat es verwundert, wie sehr
sich die Positionen der Regierungskoalition plötzlich
geändert haben.
({8})
Das war wirklich erstaunlich. Noch bei der Debatte im
Oktober hat Herr Stünker die nachträgliche Sicherungsverwahrung als Rückfall ins Mittelalter bezeichnet.
({9})
Plötzlich hören wir - das ist vernünftig -, dass auch die
Regierungskoalition darüber nachdenkt, ob es nicht angebracht ist, auf diesem Gebiet neue Möglichkeiten zu
schaffen.
Ich bin außerordentlich dankbar dafür, dass es der der
FDP angehörende Justizminister von Baden-Württemberg,
unser Kollege Goll, gewesen ist, der diese Problematik
zum ersten Mal in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht hat.
({10})
Er hat darauf hingewiesen, dass es doch nicht sein kann,
dass man, wenn alle Spezialisten und alle Experten, die
sich mit einem Strafgefangenen befassen, sicher vorhersagen - soweit man von Sicherheit reden kann -, dass der
zur Entlassung anstehende Straftäter wieder schwerste
Straftaten begehen wird, nicht prüfen kann, ob die
nachträgliche Sicherungsverwahrung dieses Straftäters
zum Schutz von Opfern ergriffen werden muss.
({11})
Es war doch auffällig, dass sogar die von der SPD und
von der PDS benannten Experten diesen Ansatz unterstützt haben. Sie haben auch den Ansatz unterstützt, den
die FDP-Bundestagsfraktion hier, im Bundestag, vorgetragen hat, die nachträgliche Sicherungsverwahrung im
Bereich des Strafrechts und nicht im Bereich des Polizeirechts anzusiedeln. Ich hoffe im Interesse der Personen,
die nicht Opfer werden, weil jemand in Sicherungsverwahrung genommen wird und darum eine Untat nicht begehen kann, dass wir hier schnell zu einer vernünftigen
Regelung kommen werden.
({12})
Im Übrigen hoffe ich - das ist schon angesprochen
worden -, dass auch beim Thema Graffiti ein Nachdenken einsetzt.
({13})
Im Bundestag ist das als eine besondere Kunstform verharmlost und verherrlicht worden.
({14})
Möglicherweise ist das manchmal auch Kunst. Fast immer ist es aber Sachbeschädigung.
({15})
Wir möchten eine klare und eindeutige Regelung, die sicherstellt, dass in jedem Fall - Herr Ströbele, ich unterstreiche das - verfolgt werden kann.
({16})
Das Thema Gendaten ist angesprochen worden. Auch
dazu gab es gestern überraschende Stellungnahmen der
Sachverständigen. Ich glaube, dass die Gendaten eine
ganz besondere Bedeutung auch bei der Verhinderung von
Straftaten haben. Wir alle erinnern uns an den Fall des
Täters in Bayern, der ein Mädchen auf einer Schultoilette
vergewaltigt hat. Danach hat er wieder eine schwere
Sexualtat begangen. Nachträglich hat sich herausgestellt,
dass er im Land Nordrhein-Westfalen wegen eines
Sexualdelikts schon aufgefallen war.
({17})
Nordrhein-Westfalen hatte darauf verzichtet, obwohl wir
als christlich-liberale Koalition die Möglichkeit dafür geschaffen haben, die Gendaten dieses Täters zu melden.
Dass dies keine Ausnahme war, kann man beim Vergleich
der gemeldeten Gendaten feststellen:
({18})
Baden-Württemberg - um noch einmal das positive Beispiel mit einem liberalen Justizminister zu nennen - hat
annähernd 30 000 Gendaten von Sexualstraftätern an das
Bundeskriminalamt gemeldet, Nordrhein-Westfalen als
größtes Bundesland knapp 18 000.
({19})
Es besteht ein hohes Interesse daran, hier zu einer Verbesserung zu kommen.
({20})
Die Menschen, insbesondere mögliche Opfer, erwarten,
dass wir hier aktiver werden
({21})
und dass die Defizite, die Nordrhein-Westfalen hat, die aber
auch viele andere Bundesländer haben - übrigens auch Bundesländer mit einem CDU-Ministerpräsidenten -, schnellstmöglich abgebaut werden, damit Taten aufgeklärt und Täter hinter Schloss und Riegel gebracht werden.
({22})
Ich möchte gerne noch einen letzten Punkt ansprechen,
der auch Gegenstand der heutigen Debatte ist, hier aber
leider nach meiner Auffassung bisher zu wenig Beachtung
gefunden hat, und zwar die europäische Dimension. Wir
haben bei der Bekämpfung der Kriminalität natürlich die
Notwendigkeit der europäischen Zusammenarbeit, insbesondere bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, aber auch bei der Bekämpfung des Terrorismus. Ich
bin sehr froh, dass wir erste wichtige Fortschritte, zum
Beispiel den europäischen Haftbefehl, erreicht haben.
Herr Staatssekretär Pick, Sie haben den jährlichen Sicherheitsbericht der Bundesregierung angesprochen. Ich
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Frage der europäischen
Zusammenarbeit, insbesondere die Defizite in diesem Bereich, zum Gegenstand des Berichtes machten, damit wir
als Bundestag diese Defizite im Interesse unserer Bürger
aufgreifen und Schritte unternehmen können, um sie abzubauen.
({23})
Insgesamt - dass soll meine letzte Bemerkung sein habe ich das Gefühl, dass innere Sicherheit bei uns wieder
ein Thema ist, dem wir einen wichtigen Stellenwert zuweisen. Ich glaube auch, dass in den nächsten Monaten
noch einige wichtige Schritte gemacht werden können. Ich
habe an die nachträgliche Sicherungsverwahrung erinnert,
bei der sich in der gestrigen Anhörung herausgestellt hat,
dass die Bedenken, die vonseiten der Koalition vorgetragen worden sind, Gott sei Dank unberechtigt sind.
({24})
Es hat sich gezeigt, dass es ein vernünftiges Modell gibt,
auf das wir uns hoffentlich einigen können. Wir als FDP
werden jedenfalls dazu beitragen.
Herzlichen Dank.
({25})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Cem Özdemir für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Recycling alter
Anträge ersetzt noch keine vernünftige Oppositionsarbeit.
({0})
Ich glaube, meine Fraktion - das gilt sicherlich auch für die
SPD-Fraktion - würde sich schämen, wenn ihre Oppositionsarbeit darin bestünde, Anträge einfach zu recyceln.
({1})
Eine gute Opposition ist immer eine Regierung im Wartestand.
({2})
Sie regiert mit und macht Politik so, dass das, was sie in
der Opposition fordert, auch umgesetzt werden kann,
wenn sie regiert, was Ihnen hoffentlich erspart bleiben
wird, auch im Sinne unseres Landes. Ich gebe zu, dass das
auch früher der Opposition nicht immer gelungen ist.
Aber das, was Sie vorgelegt haben, ist mit Sicherheit weit
von dem entfernt, was Sie umzusetzen wünschen.
({3})
Ich will ein Beispiel geben: Sie sprechen immer davon,
dass die Kriminalität steigt, dass wir in der Bundesrepublik quasi in der Kriminalität ersticken.
({4})
Ich will das am Beispiel der Hamburger Kriminalitätsstatistik deutlich machen, die der Innensenator, der viel beachtete Herr - Sie wissen es alle und haben es in den Medien verfolgt -, in diesen Tagen mit großem Brimborium
vorgestellt hat. Er behauptet, die Kriminalität sei im Jahr
2001 exorbitant angestiegen. Der Justizminister von Niedersachsen, Herr Pfeiffer, gleichzeitig ehemaliger Chef
des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, hat diese Behauptung richtig gestellt: Die Gewaltdelikte, vor denen unsere Bürger zu Recht Angst haben,
sind in Hamburg zurückgegangen. Gerade bei der Jugendkriminalität haben wir in Hamburg den niedrigsten
Stand seit 1985 zu verzeichnen. Das ist doch ein Grund,
sich zu freuen, und kein Grund, in Panik auszubrechen,
Angst zu schüren und so zu tun, als ob das Land Hamburg
bzw. die Bundesrepublik Deutschland in der Kriminalität
erstickt.
({5})
Ich finde, dass Herr Staatssekretär Pick in sehr erfreulicher Weise - das unterscheidet sich übrigens sehr wohltuend von der alten Regierung - auf den Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung hingewiesen
hat. Das ist die Art - nämlich in sachlicher Form und
wohltuend nüchtern -, in der man mit dem sensiblen
Thema Kriminalität umgehen sollte. Das kann man nicht,
indem man hetzt.
({6})
- Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, dass ich Ihre Fernsehauftritte in diesen Tagen genieße. Ich muss gestehen,
dass ich mich über jeden freue; denn es macht deutlich,
welche Alternative es gibt, wenn diese Regierung durch
eine Regierung, der Sie möglicherweise angehören würden, abgelöst werden sollte.
({7})
Herr Geis, man sollte sich das auch im Zusammenhang
mit der Kriminalitätsstatistik anschauen. Ich stelle mir
eine durchrasste und durchmischte Gesellschaft vor. Dann
möchte ich über das Thema Kriminalität noch einmal
diskutieren.
({8})
Aber, wie gesagt, das ist Ihr Problem.
Zum Thema Kriminalität hat die Union ohnehin ein
sehr bemerkenswertes Verhältnis. Einerseits beklagen Sie
das Ansteigen der Kriminalität, andererseits haben Sie zu
bestimmten Bereichen der Kriminalität ein sehr liberales
Verhältnis und sogar ein neoliberales, beispielsweise
wenn es um das Waffenrecht geht.
({9})
Sie wissen, dass 50 Prozent aller Straftaten bei uns mit registrierten Waffen und mit Scheinwaffen geschehen. Wer
sich eine Scheinwaffe schon einmal angeschaut hat, weiß,
dass sie außerordentlich gefährlich sind. Sie sind selbst
für Profis kaum von tatsächlichen Waffen zu unterscheiden.
({10})
Warum also wirft uns der ansonsten sehr geschätzte Kollege Koschyk aus dem Innenausschuss, der jetzt nicht anwesend ist - zumindest sehe ich ihn nicht -, vor, wir würden mit dem Gesetz über das Ziel hinaus schießen?
({11})
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie sich mit den unionsregierten Ländern zusammen, die gerade diese Regelung
verhindern wollen! Unsere Polizisten sind dringend darauf
angewiesen. Deshalb fordert die GdP auch zu Recht, dass
diese Scheinwaffen aus dem Verkehr gezogen werden.
({12})
Sie sind eine Gefahr für deutsche Polizisten. Wir müssen alles tun, damit hier eine größere innere Sicherheit
herrscht. Meine Damen und Herren von der Union, ich
kann Ihre Position nicht verstehen. Mit mehr Mut zur inneren Sicherheit dort, wo es tatsächlich darauf ankommt,
helfen Sie uns, mehr zu tun und nicht nur mehr zu reden.
({13})
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch
noch den Bereich der so genannten Ausländerkriminalität - er ist von Ihnen schon genannt worden - ansprechen. Man darf nicht darum herumreden, dass wir dort
tatsächlich Probleme haben. Es ist die so genannte Ausländerkriminalität, weil es meines Erachtens Ausländerkriminalität nicht gibt. Es gibt kriminelle Deutsche und
kriminelle Ausländer. Es gibt aber weder eine Deutschenkriminalität noch eine Türkenkriminalität, noch eine Katholikenkriminalität, noch eine Evangelenkriminalität. Individuen werden straffällig. Diese müssen wir uns
anschauen. Man sollte aber hier vor Pauschalierungen
warnen.
Wenn Sie etwas dagegen tun wollen, dass Kinder aus
ausländischen Familien statistisch gesehen bezogen auf
Straftaten ganz besonders häufig auffällig werden - auch
uns besorgt das -, dann sollten Sie Ihre Konzepte vorlegen. Ich würde sehr gerne hören, was Sie tun wollen, um
die Integration zu verbessern. Das wäre doch das wirksamste Konzept, um etwas gegen die Straffälligkeit in diesem Bereich zu tun.
({14})
Wer hat denn dafür gesorgt, dass Kinder, die bei uns auf
die Welt kommen, künftig mit der Geburt keine Ausländer in dem Land mehr sind, in dem sie aufwachsen und
dessen Sprache sie sprechen? Das waren doch nicht Sie.
Sie wollten das Gesetz, das neue Staatsangehörigkeitsrecht, für das Sie sich im Ausland loben lassen, nicht. Auf
Auslandsreisen ist es immer sehr bemerkenswert, dass die
Unionskollegen das neue Staatsangehörigkeitsrecht gerne
zitieren. Es ist ja erfreulich, dass Sie in dieser Frage staatstragend sind; woanders würde ich es Ihnen auch wünschen. Sie haben dieses Staatsangehörigkeitsrecht jedenfalls bekämpft. Sie haben gewollt, dass Kinder, die bei uns
in die Kindergärten und in die Schulen kommen, immer
noch nach der Herkunft ihrer Großeltern unterschieden
werden und nicht danach, ob sie dazugehören, ob sie also
Berliner, Bonner, Stuttgarter oder sonst irgendetwas sind.
Ich glaube, das wäre vernünftiger.
Wir reden in diesen Tagen auch von der PISA-Studie.
({15})
Wir reden davon, dass wir auch im schulischen Bereich
Probleme haben. Auch das ist sicherlich zutreffend.
Meine Damen und Herren, wenn es aber zutreffend ist,
verstehe ich Ihre Blockade gegen das neue Zuwanderungsgesetz nicht.
({16})
Mit dem neuen Zuwanderungsgesetz würden wir in
Deutschland dafür sorgen, dass künftig alle, die zu uns
kommen, Deutsch nicht nur lernen können oder sollen,
sondern lernen müssen. Jedem Christdemokraten müsste
das Herz übergehen. Er müsste uns die Füße dafür küssen
und uns dabei unterstützen.
({17})
- Ich bestehe nicht darauf; ich ziehe meine Schuhe regelmäßig aus und hätte damit wenig Probleme. Herr Kollege,
wie gesagt, das ist kein Muss.
Ich glaube, es ist aber ein Muss, dass Sie in dieser
Frage im Bundesrat vernünftig agieren und uns helfen,
dass wir hier zu einer Mehrheit kommen. Den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülerinnen und Schülern und den
Eltern in unserer Gesellschaft würde das Leben erleichtert, wenn wir künftig für alle, die zu uns kommen - nicht
nur für Aussiedler -, verbindliche Sprachkurse einführen
würden. Das Leben wäre insgesamt leichter.
Ihre Integration funktioniert folgendermaßen: Sie unterscheiden zwischen Jugendlichen ausländischer Herkunft und deutscher Herkunft. Nach dem Antrag, den Sie
vorlegen, wollen Sie das Strafmaß noch verschärfen und
die Abschiebung von Jugendlichen erleichtern. Auch
das kann ich nicht verstehen. Für uns ist nicht entscheidend,
woher die Eltern von jemandem kommen, sondern für uns
ist entscheidend, wo die Straftat ausgeübt wurde. Wenn ein
Jugendlicher, der bei uns aufgewachsen ist, hier straffällig
wird, dann soll er nicht besser behandelt werden - wir wollen das nicht schönreden -, aber er soll auch nicht schlechter behandelt werden als jemand, dessen Eltern schon immer Deutsche waren. Er soll hier nach den Gesetzen dieser
Republik vor Gericht gestellt werden. Er soll bestraft werden und in seine Gesellschaft - das ist unsere Gesellschaft,
die gemeinsame Gesellschaft - resozialisiert werden.
Die Türkei ist nicht unser Alcatraz. Sie ist nicht die Gefangeneninsel der Bundesrepublik Deutschland. Wir werden unsere Probleme mit der Straffälligkeit nicht dadurch
lösen können, dass wir Jugendliche, die hier geboren und
aufgewachsen sind und gegebenenfalls hier straffällig
werden, in ein Land schicken, aus dem ihre Vorfahren
kommen. So kann man mit dem sensiblen Thema der inneren Sicherheit nicht umgehen. Da machen Sie es sich
ein bisschen zu einfach. Integration bedeutet nicht Integration in den Strafvollzug oder in die Abschiebehaft. Das
Thema Integration sollte Chefsache sein. Ich würde mir
wünschen, dass Sie hier einen Beitrag dazu leisten.
({18})
Weiter kommt im Antrag der Union zum Ausdruck,
dass sie mehr Datenmüll erzeugen will. Sie wollen ein
Mehr an Videoüberwachung, ein Mehr an Telefonüberwachung, mehr Speicherung von Daten jeder Art.
({19})
- Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen.
({20})
Sprechen Sie doch einmal mit Polizeipraktikern! Die werden Ihnen erklären, dass das Problem bei einer wirksamen
Bekämpfung von Kriminalität darin besteht, dass man
Daten sorgfältig auswerten muss, jeder einzelnen Spur
nachgehen muss.
({21})
Datenmüll wird uns hier nicht helfen.
Ich will es einmal am Beispiel der Videoüberwachung
deutlich machen, die Sie fordern. Ich kann gut verstehen,
dass man, wenn man schon viele Jahre im Bundestag sitzt,
davon ausgeht, dass jeder gern im Licht der Öffentlichkeit
steht. Aber es soll tatsächlich noch Bürgerinnen und Bürger in der Gesellschaft geben, die nicht gern im Licht der
Öffentlichkeit stehen.
({22})
Das Bundesverfassungsgericht erinnert uns ständig daran,
dass Freiheit auch heißt, dass man sich vom Staat unbesehen in der Öffentlichkeit, auch auf öffentlichen Plätzen,
bewegen kann. Es ist Teil unserer Freiheitsrechte, dass
man sich unabhängig von einer Videokamera in der Gesellschaft bewegen darf und bewegen kann.
({23})
Der Unterschied zwischen Ihrer Art von Sicherheit und
unserer Art von Sicherheit ist, dass Sie eine virtuelle Sicherheit und wir eine reale Sicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger wollen.
({24})
Wenn Sie zu mehr Sicherheit beitragen wollen, dann lassen Sie uns dafür sorgen, dass nicht mehr Kameras an die
Laternenpfähle gebunden werden, sondern in bestimmten
Stadtteilen, wo Bürgerinnen und Bürger Angst haben,
mehr Licht ist.
({25})
Lassen Sie uns dafür sorgen, dass dort, wo Menschen
Angst haben, mehr Polizeibeamte auf der Straße sind. Das
ist ein wirksamer Beitrag zur inneren Sicherheit. Virtuelle
Sicherheit hilft uns nicht.
Mich hat sehr gefreut, dass der Kollege van Essen in
diesem Zusammenhang auf Europa hingewiesen hat. Ich
glaube, das ist ein Bereich, den wir häufig vergessen,
wenn wir über innere Sicherheit reden.
({26})
Die Union möchte Eurojust und Europol ausbauen. Im
Prinzip kann man nichts dagegen haben. Aber richtig
wäre, wenn Sie in diesem Zusammenhang sagen würden,
dass wir eine Stärkung des Europäischen Gerichtshofes
brauchen; denn das ist die Voraussetzung für das, was Sie
fordern, ohne das macht es keinen Sinn.
({27})
Ich muss zum Schluss kommen. Deshalb möchte ich
als Letztes Folgendes sagen: Sie wissen, dass wir uns für
den Internationalen Strafgerichtshof einsetzen. Umso
mehr wundert es mich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der PDS, dass Ihre Schöneberger Ortsgruppe gemeinsam mit dem „Komitee zur Verteidigung von
Slobodan Milosevic“ eine Veranstaltung im Schöneberger
Rathaus durchführt. Setzen Sie sich einmal mit Ihren
Schöneberger Kolleginnen und Kollegen zusammen, sorgen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass dieser Verbrecher,
der zu Recht in Den Haag sitzt, dort auch bleibt, und machen Sie keine Solidaritätsveranstaltung mit irgendwelchen komischen Komitees, die in einer Demokratie nichts
verloren haben.
({28})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Dr. Evelyn Kenzler. Sie spricht für die
Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kriminalität bekämpfen und
Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger gewährleisten
wollen wir alle in diesem Hause, auch wenn Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union, leider wieder
einmal so tun, als wenn nur Sie die Sorgen und Ängste der
Menschen ernst nähmen und die allein selig machenden
Konzepte zum Schutz vor Straftaten hätten.
Die Wahlen stehen vor der Tür und manche Partei ist
da natürlich versucht, die eigenen Leib- und Magenthemen noch einmal aufzuwärmen und als frisch gekochte
Mahlzeit an den Wähler zu verfüttern. Je einfacher und
herzhafter das Essen ist, desto mehr wird es auch an den
Stammtischen gegessen.
({0})
Oftmals liegt es dann aber wie Blei im Magen und ist
schwer verdaulich.
Genauso kann es uns mit Ihrem Antrag zur Kriminalitätsbekämpfung gehen. Auf den ersten Blick scheinen
höhere Strafrahmen und neue Sanktionen - insbesondere bei Jugendlichen -, kräftiges Durchgreifen bei der so
genannten Kleinkriminalität, die Ausweitung von DNAAnalysen oder das sogar nachträgliche Wegsperren
in die Sicherungsverwahrung die einfachsten und
wirkungsvollsten Methoden zu sein, um unsere Gesellschaft von der Kriminalität zu befreien. Auf den zweiten
Blick ist der Preis, der für scheinbar mehr Sicherheit von
uns allen gezahlt wird, sehr hoch. Ich meine, er ist zu
hoch.
({1})
Mehr Sicherheit kann nicht einseitig zulasten von Bürgerrechten und Freiheiten durchgepeitscht werden; denn
damit werden dem demokratischen Rechtsstaat Stück für
Stück seine Grundlagen entzogen. Sie werden sich deshalb auch nicht wundern, dass wir die meisten, wenn auch
nicht alle in Ihrem Antrag aufgestellten Forderungen mit
einem klaren Nein beantworten.
({2})
Zum einen können etliche Vorschläge wie die Entdeckung des Fahrverbots als Allheilmittel gegen fast jede
Straftat oder wie höhere Strafrahmen für Heranwachsende unter der Rubrik Alibi- und Symbolgesetzgebung
abgehakt werden.
({3})
Es hört sich zwar erst einmal gut an, bringt aber in der Sache selbst so gut wie gar nichts. Es ist mittlerweile eine
kriminologische Binsenweisheit, dass nicht so sehr die
Höhe der Strafandrohung beim Täter Wirkung zeigt. Vielmehr ist die subjektive Wahrscheinlichkeit, erwischt und
zügig verurteilt zu werden, verhaltensrelevant. Aber im
Unterschied zu neuen härteren Gesetzen kostet die bessere materielle und personelle Ausstattung von Polizei,
Staatsanwaltschaften und Gerichten richtig Geld und
ist auch nicht ohne Mitwirkung der Länder durchzuführen. Nur so kann die Strafverfolgung effizienter und
kann die Dauer von Verfahren verkürzt werden.
Zum anderen wird bei den Menschen im Lande durch
solche strafverschärfenden Rundumschläge die Angst,
selbst Opfer einer Straftat zu werden, nicht abgebaut, sondern noch geschürt. Es entsteht nämlich der Eindruck, die
Kriminalität nehme überhand; denn ansonsten bräuchte
man ja nicht schon wieder eine härtere Gangart im Strafrecht.
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich muss Kriminalpolitik die Angst der Menschen
ernst nehmen. Ich bin die Letzte, die das nicht tut. Aber
sie darf die Angst nicht schüren. Nur wer die aktuelle
Kriminalitätsstatistik einigermaßen kennt, der weiß, dass
die objektive Kriminalitätslage und die subjektiven
Kriminalitätsbefürchtungen des Einzelnen deutlich auseinander klaffen.
({4})
Auch ich werde bei Diskussionen ständig mit massiven Kriminalitätsängsten konfrontiert. In diesem Punkt
ist die Anhängerschaft der PDS nicht anders gestrickt als
die anderer Parteien. Es wäre für mich wie für uns alle ein
Leichtes, dem Druck nachzugeben und mit der Forderung
nach mehr und härteren Strafen zu punkten. Wer möchte
nicht seinen Wählerinnen und Wählern mehr Sicherheit
versprechen? Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es jedoch, angemessen und adäquat auf die jeweilige Kriminalitätslage zu reagieren.
({5})
Nichts wäre strafpolitisch schlimmer, als wenn aus dem
Bundestag das Signal käme: Weg mit dem liberalen Bürgerstrafrecht. Das ist Schnee von gestern. Was wir brauchen, sind knallharte Strafen, strenge Staatsanwälte und
gnadenlose Richter, um einer angeblich überbordenden
Kriminalität Herr zu werden.
Zum Dritten ist der von den Unionsparteien vorgeschlagene Weg nicht nur ungeeignet, sondern geradezu
gefährlich. Die ständige Verschärfung des Strafrechts
führt eher zu einer Radikalisierung und Brutalisierung;
denn Druck erzeugt Gegendruck. Dies führt eben nicht zu
einer Entkriminalisierung unserer Gesellschaft.
({6})
Gesellschaftspolitik weicht damit auch auf Strafpolitik
aus.
Einen wirklichen Quantensprung zum Beispiel bei der
Verringerung von Jugendkriminalität wird man nur durch
eine zukunftsorientierte Jugendpolitik erreichen können.
({7})
Man traut es sich schon fast nicht mehr zu sagen, weil es
so banal ist - es ist aber trotzdem richtig -: Die wirksamste Kriminalpolitik ist immer noch eine gute Sozialpolitik.
Nicht allein an den Symptomen herumdoktern, sondern
an die Ursachen von Kriminalität gehen! Aber das erfordert - genauso wie die bessere Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden - erhebliche finanzielle Mittel und
wirkt nicht von heute auf morgen, dafür aber langfristig
und nachhaltig.
Zum Vierten enthält der Antrag auch eine Reihe von
rechtsstaatlich bedenklichen Einschnitten, die wir ablehnen. Ich verweise hier zum Beispiel auf die Erweiterung
der ohnehin bereits ausufernden Telefonüberwachung,
auf die Kronzeugenregelung, auf die deutliche gesetzliDr. Evelyn Kenzler
che Ausweitung der Anwendung von DNA-Analysen
oder auch auf die inhaltliche Entfernung von Tat und
Strafe durch die Verhängung von Fahrverboten auch für
Delikte, die keine Verkehrsstraftaten sind.
Nachdem ich Sie an dieser Stelle in meiner Kritik nicht
geschont habe, will ich so fair sein, die aus meiner Sicht
überlegenswerten Vorschläge zu benennen. Das sind die
Präventionsansätze, die Vorschläge zu einem verbesserten Opferschutz einschließlich einer effektiveren Gestaltung des so genannten Adhäsionsverfahrens oder auch
die konsequentere Abschöpfung der im Bereich der organisierten Kriminalität erzielten Gewinne.
Diese durchaus positiven Ansätze ändern jedoch nichts
an der von meiner Fraktion abgelehnten Grundrichtung
Ihres Antrages. Wer wie Sie das Strafrecht gewissermaßen
als Wunderwaffe zur Bekämpfung der Kriminalität anpreist, der handelt wider besseres Wissen. Wer das Feld
der Kriminalpolitik mit Emotionen bestellt und sich selbst
vor den Karren der allgemeinen Empörung über spektakuläre, schreckliche und tragische Straftaten spannt, der
erntet für den Rechtsstaat leider ungenießbare Früchte,
die am Ende uns allen schlecht bekommen können. Das
ist letztlich der Weg weg von einem liberalen Bürgerstrafrecht hin zu einem gefährlichen Feindstrafrecht.
Denn die Jugendlichen sind nicht unsere Feinde, auch
nicht die, die Straftaten begehen. Die Balance zwischen
schützender und strafender Funktion wird allmählich zugunsten der strafenden Funktion verschoben.
Natürlich gibt es keinen Grund zur Zufriedenheit. Die
Kriminalitätsrate muss weiter sinken. Im Ausnahmefall
kann es auch einmal darum gehen, neue Formen der Kriminalität strafrechtlich zu erfassen. Ich denke hier zum
Beispiel an Straftaten im Zusammenhang mit der Nutzung
des Internets. Vor allem aber ist präventiv mehr zu tun, um
zu verhindern, dass Menschen kriminell werden.
Hier muss ich meinen Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU sogar zustimmen.
({8})
Es muss - um es deutlich zu sagen - verhindert werden,
dass mit der Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung eine
kontraproduktive Politik betrieben wird, die im Ergebnis
keinen Rückgang der Kriminalität bewirkt. Insofern unterstreiche ich - jetzt muss ich der CDU/CSU schon wieder zustimmen ({9})
folgenden Satz in ihrem Antrag: „Innere Sicherheit verträgt keine Experimente zu Lasten der Bevölkerung.“
({10})
Nun spricht
der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, der Kollege Fritz Körper.
Herr Präsident! Kolleginnen und
Kollegen! Die Karnevalszeit ist vorbei; aber wenn ich den
Antrag der CDU/CSU bewerten sollte, fiele mir nur der
Begriff „olle Kamellen“ ein.
({0})
Das gilt übrigens auch für die Rede des stellvertretenden
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden.
({1})
Ich will das aufgreifen, was Herr van Essen dazu gesagt hat, wie man mit diesem Thema umzugehen hat: mit
Sorgfalt und nicht mit Aufgeregtheit. Denn, Herr Kollege
van Essen, in den vergangenen Jahren ist das Sicherheitsgefühl in der Bundesrepublik Deutschland zum
Glück kontinuierlich angestiegen. Darüber sollte man
sich freuen. Das hängt aber ganz entscheidend davon ab,
wie wir mit den Fragen der inneren Sicherheit auch in solchen Diskussionsrunden hier umgehen.
({2})
Wenn man eine objektive Betrachtung vornimmt - lassen Sie mich das hinzufügen -, bleibt eines ganz eindeutig festzuhalten: Deutschland ist im weltweiten Vergleich
eines der sichersten Länder.
({3})
Wenn man die Statistik bemüht - das ist auch in den vorherigen Redebeiträgen getan worden -, dann stellt man
erfreulicherweise fest, dass wir in Bezug auf die letzte
polizeiliche Kriminalstatistik Rückgänge zu verzeichnen haben, beispielsweise im Bereich der Wohnungseinbrüche und des Straßenraubes, unter denen die Bevölkerung sehr leidet. Auch die Zahl der Autodiebstähle ist im
ersten Halbjahr 2001 auf den niedrigsten Stand seit 1993
gesunken. Die Straßenkriminalität ging im Jahr 2000 um
fast 5 Prozent zurück.
({4})
Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
besonders erfreulich ist - jedenfalls aus unserer Sicht -,
dass bei der Kinderdelinquenz und der Jugendkriminalität
der Negativtrend früherer Jahre gebrochen werden
konnte. Die Zahlen gingen zurück; darauf kann man ein
Stück weit stolz sein.
({5})
- Lieber Herr Kollege Geis, was die Frage des Steigens
anbelangt: Man kann die Zahlen derzeit noch nicht objektiv und sachgerecht beurteilen - Herr van Essen hat das
auch nicht getan; er hat lediglich einen Teil der Zahlen,
nämlich die aus Nordrhein-Westfalen, genannt -, weil sie
noch nicht vollständig vorliegen.
({6})
Deswegen akzeptiere ich es so, wie Sie es gesagt haben.
Man muss schauen, welche Schlussfolgerungen daraus zu
ziehen sind.
Nun zur DNA-Analyse-Datei, mit der beim Bundeskriminalamt erfolgreich gearbeitet wird. Derzeit sind
170 000 Datensätze gespeichert. Allein im Jahr 2001 konnten mithilfe dieser Datei 1 577 Tatverdächtige ermittelt
werden. Dabei will ich gar nicht verhehlen: Ein solches Instrument ist natürlich nur so gut, wie es bedient wird.
({7})
Deshalb geht mein Appell an die Länder, davon Gebrauch
zu machen.
({8})
Die Bundesregierung kann stolz darauf sein, dass sie
die Ausgaben für die innere Sicherheit auf hohem Niveau
hält.
({9})
Im Jahr 2001 hatten wir die Situation, dass uns sage und
schreibe 100 Millionen DM mehr als im Vorjahr zur Verfügung standen. In Anbetracht der Schuldenproblematik,
die Sie uns hinterlassen haben,
({10})
ist das eine erstaunliche Summe, ein gutes Ergebnis für
die innere Sicherheit.
({11})
Meine Damen und Herren, Sie wären in der Frage der
inneren Sicherheit glaubwürdiger gewesen, wenn Sie
nicht nur unseren Sicherheitspaketen I und II, sondern
auch der finanziellen Unterlegung - im Ergebnis hat das
Bundesinnenministerium 480 Millionen DM mehr für die
innere Sicherheit zur Verfügung - zugestimmt hätten. Das
haben Sie nicht getan und daran sieht man, dass Sie in Ihrer Haltung nicht glaubwürdig sind.
({12})
Wir haben erreicht - das ist ein wichtiger Punkt -, dass
es bei der Bekämpfung von Kriminalität keine Grenzen an
örtlichen Zuständigkeiten mehr gibt. Wir haben beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesgrenzschutz auf der einen Seite und den Länderpolizeien auf
der anderen Seite intensiviert. Wir haben Sicherheitsund Ordnungspartnerschaften entwickelt und verbessert. So wird sichergestellt, dass kein Drogendealer im
Bahnhofsbereich und auch kein Schleuser im Grenzraum
nur deshalb der Strafverfolgung entgeht, weil die Zuständigkeit des Bundesgrenzschutzes endet und der Zugriff
der Landespolizei noch nicht möglich ist. Die Einrichtung
gemeinsamer Ermittlungsgruppen schafft zudem die Voraussetzungen für ein gemeinsam geplantes Vorgehen bei
grenzüberschreitender Kriminalität und darauf sind wir
ein ganzes Stück stolz.
Das Gleiche gilt beim Thema Prävention. Prävention
gehört genauso dazu wie Repression.
({13})
Wir haben beispielsweise mit den Ländern das Deutsche
Forum für Kriminalprävention gegründet. Wir haben
nicht nur geredet, wir haben gehandelt und verleihen der
Prävention dadurch einen wichtigen Stellenwert in der
Kriminalitätsbekämpfung. Darauf sind wir stolz.
Zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Wir
wissen: Geld ist das Herzstück der organisierten Kriminalität.
({14})
Wir haben beispielsweise im Jahr 2000 die Geldwäscheverbunddatei beim BKA geschaffen. Zu nennen ist die
Einrichtung eines Informationsboards beim BKA zur
Zusammenführung aller Informationen. Wir haben im
internationalen Bereich das Mandat von Europol auf den
Tatbestand der Geldwäsche ausgedehnt und die EU-weite
Zusammenarbeit zentraler Meldestellen für Geldwäscheverdachtsanzeigen verbessert.
Lieber Herr van Essen, ich muss das noch einmal aufgreifen. Bei unserer Sichtweise kann die Kriminalitätsbekämpfung - das ist völlig richtig - kein nationales
Thema sein. Wir sind dann besonders erfolgreich, wenn
wir unsere europäischen Nachbarn mit ins Boot nehmen.
Dafür ist Bundesinnenminister Otto Schily ein Garant.
({15})
Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass dem Bundeskabinett am vergangenen Mittwoch der Entwurf eines Gesetzes zur Geldwäschebekämpfung vorgelegt worden ist.
Damit werden wir die neue europäische Geldwäscherichtlinie relativ zügig umsetzen. Sie sehen daran: Diese
Bundesregierung braucht keine guten Belehrungen und
auch keinen Aufguss vonseiten der CDU/CSU-Fraktion.
Wir stehen für die innere Sicherheit und wir sind die Garanten dafür, dass es auch so weitergeht.
Herzlichen Dank.
({16})
Nun spricht
der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich schätze die Kollegen Staatssekretäre sehr.
({0})
Aber ich meine, das Thema hätte es verdient, dass zumindest die Spitze eines Ministeriums, entweder des Justizoder des Innenministeriums, bei dieser wichtigen Debatte
anwesend ist. Das möchte ich schon einmal bemerken.
Ich möchte mit dem Satz anfangen, mit dem Herr
Bosbach geschlossen hat, nämlich dass das Gegenstück
des Gewaltmonopols des Staates seine Verpflichtung ist,
seine Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt und Kriminalität zu schützen. Diese Schutzpflicht erfüllt der Staat auf
vielerlei Weise. Ein Mittel ist ganz gewiss das Mittel des
Strafrechts. Hier haben wir uns in den vergangenen Legislaturperioden immer wieder gefragt, wo Lücken bestehen, ob wir Ausbesserungen vornehmen und bestehende
Normen verbessern müssen. Das ist in sehr umfangreicher
Weise geschehen.
Aber seit drei Jahren, also in dieser Legislaturperiode,
hat weder die Regierung noch die Koalition ein zählbares
Gesetz vorgelegt, das man wirklich hätte diskutieren können. Wenn Sie einmal, wie bei der Kronzeugenregelung,
einen Anlauf machen, dann werden Sie durch Ströbele,
Özdemir und Beck gestoppt. Sie können sich von Ihrem
Koalitionspartner nicht befreien. Herr Ströbele brüstet
sich sogar damit, dass er es ist, der die Kronzeugenregelung bislang verhindert hat.
({1})
Sie haben kein zählbares Gesetz vorgelegt, obwohl,
lieber Herr Körper, die Kriminalstatistik darauf hinweist,
dass wir leider wieder eine ansteigende Tendenz haben.
Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen. Die
Zahl der Straftaten stagniert jedoch auf hohem Niveau
und es gibt wahrscheinlich eine ansteigende Tendenz. Das
ist das, was Ihr Innenminister vor kurzem für das
Jahr 2001 verkündet hat. Vielleicht haben wir in 2002
wieder eine rückläufige Tendenz. Warten wir es ab. Aber
es ist in gar keinem Fall so, dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten.
({2})
Das ist nach wie vor ein großes Problem. Die innere Sicherheit in unserem Land ist keinesfalls gewährleistet und
wird es aufgrund der illegalen Zuwanderung auch so
schnell nicht sein. Das ist nun einmal so.
({3})
Dabei darf man nicht vergessen, dass die Kriminalität
wirklich zu einer Belastung des täglichen Lebens wird:
Die Jugendkriminalität steigt. Die Rauschgiftkriminalität nimmt beängstigende Formen an. Der Terrorismus ist
längst nicht besiegt. Die organisierte Kriminalität breitet
sich nach wie vor aus. Wir haben nicht die geringste Veranlassung - das unterstreiche ich noch einmal -, uns sorglos zurückzulehnen und uns keine Gedanken mehr darüber zu machen, wie wir dem Anspruch der Bürgerinnen
und Bürger auf Sicherheit vor Kriminalität und Gewalt
gerecht werden können.
({4})
Dabei bieten sich die Felder geradezu an. Sie sind
heute zum Teil schon genannt worden. Das gilt für den
Bereich der Sexualstraftaten und der Gewaltkriminalität.
Wir haben einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Wir haben ihn gestern bei einer Anhörung von Sachverständigen in Ausschuss behandelt. Wir wollen mit diesem Gesetz die 1973 erfolgte Zurückstufung des
Straftatbestandes des § 176 StGB, des sexuellen Missbrauchs von Kindern, von einem Verbrechen auf ein
Vergehen rückgängig machen.
({5})
Ich weiß, dass es dagegen gute Argumente gibt. Aber
ich möchte eines sagen: Der Grund für die damalige
Zurückstufung wurde darin gesehen, dass die Auswirkungen solcher Taten auf Kinder nicht erwiesen seien. Inzwischen sind wir in der Forschung sehr viel weiter. Wir wissen, dass es zu ganz schlimmen Auswirkungen auf Kinder
kommen kann. Deshalb meinen wir, dass dies ein Verbrechen ist.
Es geht uns lediglich darum - darin stimme ich mit
Herrn van Essen durchaus überein -, wie wir reagieren, ob
unsere Reaktionsmöglichkeiten breit genug sind, um auch
Fälle erfassen zu können, die anerkanntermaßen nicht so
schwerwiegend sind. Das gibt es. Wir haben Vorschläge
gemacht. Ich bin der Auffassung, dass diese greifen könnten. Ich bin nicht der Meinung, dass man das nonchalant
so einfach vom Tisch fegen kann.
Wir haben die nachträgliche Sicherungsverwahrung
vorgeschlagen. Das ist ein wichtiges Thema. Sie haben
sich dem bislang verschlossen. Die Justizministerin hat
heute im Deutschlandfunk erklärt, dass sie vielleicht an
eine Vorbehaltslösung denkt. Ich hoffe, dass sie dazu
wirklich einen Gesetzentwurf vorlegt. Wir halten das für
wichtig; Sie haben es gestern im Ausschuss auch von den
Sachverständigen gehört. Wir halten dies für eine Lücke.
Wir müssen diese Lücke schließen. Wenn einer vor Gericht im Erkenntnisverfahren verurteilt wird und das Gericht die Erkenntnis eben nicht hatte, dass er tatsächlich
ein gefährlicher Wiederholungstäter ist, diese Erkenntnis
aber während des Strafvollzugs gewonnen wird, dann haben wir kein Mittel, ihn festzusetzen. Das geht nicht an.
Dieses Mittel müssen wir uns verschaffen. Das geht über
eine gesetzliche Regelung. Wir haben Skepsis gegenüber
der Vorbehaltsregelung. Sie ist aber immerhin besser als
gar nichts.
Wir haben Skepsis, Herr Stünker, weil wir all die alten
Fälle nicht erfassen und weil das eintreten könnte, was uns
gestern auch verschiedene Sachverständige gesagt haben,
dass nämlich dann, wenn die Vorbehaltslösung kommt,
das Gericht nur noch unter Vorbehalt ausspricht und den
Angeklagten nicht mehr schon von vornherein in die
Sicherungsverwahrung schickt. Ich warte jedenfalls auf
Ihren Gesetzgebungsvorschlag. Wir werden darauf reagieren. Wir werden ihn uns genau anschauen. Wir sind der
Auffassung, dass die Vorbehaltslösung besser ist als der
derzeitige Zustand.
Die Wichtigkeit und Bedeutung der DNA-Analyse ist
eigentlich unbestritten; man kann sie nicht verkennen.
Herr Özdemir weiß vielleicht nicht ganz genau, wovon er
da geredet hat. In jedem Fall geht es uns nicht, Herr
Özdemir, um die Sammlung von Daten, sondern es geht
uns um die Durchsetzung eines Mittels, das in hervorragendem Maße, ja bestens geeignet ist, den Täter und auch
den Unschuldigen zu identifizieren. Dem versperren wir
uns nicht. Ich habe den Eindruck, das macht auch die SPD
nicht mehr. Es geht nur um die Frage der Ausgestaltung.
Wir sind der Meinung, dass das, was wir jetzt haben,
zu kurz greift. Die Anlasstat - dabei geht es um den Anlass, der nötig ist, um eine DNA-Analyse durchführen zu
können - muss demnach eine schwerwiegende Straftat
sein. Hinzukommen muss - was ich befürworte - die Prognose der Wiederholungsgefahr. Die Anlasstat müssen
wir herunterzoomen auf Taten mit weniger schwerem kriminellen Gehalt. Das haben wir gestern auch von Herrn
Egs, einem Sachverständigen, der von Ihnen benannt
worden ist, deutlich gehört. Wir sind der Meinung, dass
wir auf dieser Schiene, die wir vorgeschlagen haben, zu
noch besseren Ergebnissen kommen können.
Ein weiteres Wort zur Jugendkriminalität. Die Jugendkriminalität muss uns nach wie vor erschrecken. Die
Heranwachsenden haben einen Tatverdächtigenanteil von
10,8 Prozent bei einem Bevölkerungsanteil von 3,4 Prozent.
({6})
Die Jugendlichen, also diejenigen zwischen 14 und 18
Jahren, haben einen Anteil von 12,9 Prozent an den Tatverdächtigen bei einem Bevölkerungsanteil von 4 Prozent. Das muss man einmal in Ruhe überdenken.
({7})
- Ich weiß, Herr Ströbele, dass man damit nicht alles erklären kann. Ich will auch keine großen Erklärungen abgeben.
Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Sie jetzt natürlich nicht umgekehrt vorgehen und sagen sollten: Das interessiert mich alles gar nicht. - Das ist schon ein Hinweis. Es ist kein Beweis, aber es ist ein Hinweis, den wir
ernst nehmen sollten. Wir meinen, dass die Jugendkriminalität nach wie vor unser Augenmerk haben muss.
({8})
Wir sind natürlich für Prävention. Wir sind für die Geborgenheit in der Familie, für die Erziehungskraft der Schule.
Wir sind für die Integration in Vereinen. Wir sind für die
offene kommunale Jugendarbeit und vor allen Dingen
auch für eine bessere Lebensperspektive. Viele Jugendliche werden arbeitslos und geraten dann in die Kriminalität.
Die Prävention hat Vorrang; aber es gibt natürlich auch
repressive Mittel. Das Strafrecht sollte man dabei nie ganz
außer Acht lassen. Wir haben vorgeschlagen und wir sind
runtergefallen; wir sind von Ihnen überstimmt worden. Wir
bringen diesen Vorschlag wieder ein, weil wir trotz dieses
Rückschlags, den Sie uns erteilt haben, unseren Kampf um
einen besseren Schutz unserer Kinder und unserer Jugendlichen vor Kriminalität nicht aufgeben wollen.
({9})
Wir sind - das wiederhole ich ganz bewusst - für den
Verwarnungsarrest. Wir sind für die Einführung des
Fahrverbotes. Wir sind für die Meldepflicht. Wir sind für
die Erhöhung des Strafrahmens bei Heranwachsenden
dann, wenn wirklich schwere Straftaten vorliegen.
({10})
Wir sind auch für eine Klarstellung des Jugendgerichtsgesetzes. Das Gesetz sieht die Heranziehung des Erwachsenenstrafrechtes ja jetzt schon vor. Inzwischen haben wir
die Regel, dass wir nur noch Erwachsenenstrafrecht auch
bei Heranwachsenden haben. Wir sind aber der Meinung,
dass diese gesetzliche Regelung durch die Rechtsprechung abgeschwächt worden ist.
({11})
- Ja, aber das Schlimme ist, dass wir ein Gefälle vom Norden nach Süden haben. Im Norden und in den Städten
wird das Erwachsenenstrafrecht bei Heranwachsenden
nicht angewandt, auf dem flachen Land aber sehr wohl.
Das kann nicht richtig sein. Unser Vorschlag ist, hier zu
einer einheitlichen Regelung zu kommen.
Noch ein Wort zur Rauschgiftkriminalität: Sie machen einen Versuch mit kontrollierter Heroinabgabe. Nun
will ich nicht gegen diesen Versuch Stellung nehmen.
Aber wir haben solche Versuche auch schon in anderen
Ländern gehabt. So ist dieser Versuch in der Schweiz negativ ausgegangen. Daher sollten wir mehr und mehr den
Blick nach Schweden richten, wo es eine Nulltoleranz gegenüber jeglichem Drogengebrauch gibt,
({12})
zugleich aber therapeutische Maßnahmen vorgesehen
sind. Für eine solche Strategie müssten wir unsere Gesetze ändern. Das kann uns nicht gleichgültig sein; darüber müssen wir zumindest nachdenken.
Zur organisierten Kriminalität: Die Kronzeugenregelung wurde angesprochen. Es grenzt schon an Lächerlichkeit, dass Sie uns bei jeder Debatte zur inneren Sicherheit versprechen, Sie brächten einen Vorschlag zur
Kronzeugenregelung ein. Wir warten seit eineinhalb Jahren darauf; aber bis heute liegt kein Vorschlag auf dem
Tisch. Wenn wir Sie auf dieses Thema ansprechen, sagen
Sie, es seien „olle Kamellen“. Das Thema ist wichtig; wir
brauchen die Kronzeugenregelung. Deswegen bitte ich
Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
SPD, jetzt wirklich einmal zuzupacken, den Widerstand
der Grünen zu überwinden und einen Regelungsvorschlag
zu machen.
({13})
Herr Präsident, erlauben Sie mir zum Schluss noch,
ganz kurz auf Folgendes hinzuweisen: Unsere Gefängnisse sind überfüllt. Jeder Gefangene kostet mindestens
45 000 DM pro Jahr.
({14})
In unseren Gefängnissen befinden sich sehr viele Ausländer, die kaum in den Griff zu bekommen sind. Wir müssen daher das internationale Abkommen endlich ratifizieren, das es uns erlaubt, die Ausländer auch ohne ihre
Zustimmung in ihr Heimatland abzuschieben. Ich bitte
Sie, darauf zu achten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({15})
Der Kollege
Joachim Stünker spricht nun für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Rede des Kollegen Geis, die nun wirklich sehr moderat
war, ist ein Zeichen dafür, dass die Beurteilung des vorliegenden Antrages durch Staatssekretär Körper im Ergebnis richtig ist; denn das, was Sie mit Ihrem Antrag
vorgelegt haben, sind alles alte Kamellen.
({0})
Was hier auf elf DIN-A-4-Seiten in 13 Unterabschnitten
niedergeschrieben worden ist, ist nichts anderes als der
rechtspolitische Offenbarungseid der CDU/CSU.
({1})
Sie haben in den mehr als drei Jahren dieser Legislaturperiode nicht einen neuen, richtungweisenden rechtspolitischen Gedanken in die Debatte eingebracht. Das gilt für
den heute vorliegenden Antrag ebenso. Die von Ihnen eingebrachten Gesetzentwürfe und Anträge stammen fast
ausschließlich und beinahe wortgetreu aus der letzten
oder sogar der vorletzten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages. Überwiegend mussten wir den Eindruck gewinnen, dass Sie jetzt in der Opposition versucht
haben, all das anzugehen, was Sie in 16 Jahren Kohl-Regierung mit einem von der FDP besetzten Justizministerium nicht haben umsetzen können.
({2})
- Herr Kollege, das ist ein untauglicher Versuch und das
muss Ihnen heute, fast am Ende der Legislaturperiode, mit
Nachdruck gesagt werden.
({3})
Soweit Sie in dieser Legislaturperiode auf sich neu abzeichnende gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren
versucht haben, ist Ihre Antwort, Herr Kollege Geis, über
die ganzen vier Jahre im Tenor immer dieselbe geblieben:
ein Mehr an Strafen, eine Ausweitung der vorhandenen
Strafrahmen und letztendlich eine Einschränkung von
Bürgerrechten. Das ist der Kerngehalt Ihrer rechtspolitischen Philosophie, wie auch in diesem Antrag wieder
nachzulesen ist.
({4})
Wir haben in dieser Zeit nicht einen einzigen neuen Vorschlag von Ihnen gesehen, der sich etwa mit der Stärkung
kriminalpräventiver Ansätze beschäftigt hätte. Dabei hat
sich in der Kriminologie seit langem die Erkenntnis
durchgesetzt, dass durch Repression allein Kriminalität
nicht erfolgreich bekämpft bzw. reduziert werden kann.
({5})
Zum Schutz der Bevölkerung vor Kriminalität spielt
vielmehr eine wirksame Kriminalprävention eine herausragende Rolle.
Ebenso haben Sie den Begriff der Integration - darauf
ist schon hingewiesen worden - immer vollmundig wie
eine Monstranz vor sich hergetragen; aber einen Entwurf
haben Sie nicht vorgelegt.
Das letzte Negativbeispiel ist hier auch schon mehrfach genannt worden: Gerade wenn wir über Kriminalität
reden, ist ein wesentliches Thema, nämlich im Sinne von
Prävention, das Zuwanderungsgesetz. Auch in diesem
Punkt sind Sie gerade wieder dabei, sich der Verantwortung zu entziehen.
Fazit ist: Sie haben über vier Jahre eine Rechtspolitik mit
Schlagworten und ohne inhaltliche Substanz betrieben.
({6})
So, wie Sie jetzt bei der dringend notwendigen Schaffung eines Zuwanderungsgesetzes die Totalverweigerung
zur populistischen Maxime Ihres politischen Handelns erhoben haben,
({7})
haben Sie es in diesen vier Jahren auch in den großen Themenbereichen der dringend notwendigen Modernisierung
der Justiz getan. Nachdem Sie 16 Jahre lang einen
Flickenteppich angerichtet hatten, sind Sie aus rein populistischen Erwägungen heraus in dieser Legislaturperiode
sogar noch hinter Ihre Ansätze aus der letzten Legislaturperiode zurückgegangen.
({8})
Alles das, was Sie 1998 zum Beispiel noch in ein Gesetz geschrieben hatten,
({9})
durfte danach nicht mehr wahr sein. Ich denke dabei an
unsere Diskussion zur ZPO-Reform.
Nun kommen Sie heute mit einem Antrag, der in der
Tat vom Juli 2001 stammt und den Sie hier zu Wahlkampfzwecken diskutieren wollen. Sie haben offensichtlich auch vieles vergessen, was Sie in den Antrag hineingeschrieben haben, Herr Kollege Geis.
({10})
Sie haben zum Beispiel einen Passus darin, mit dem Sie
die Gewinnabschöpfung bei bestimmten Straftaten präferieren. Richtig! Aber vor einigen Wochen, als wir in diesem Hohen Hause den Gesetzentwurf im Einzelnen diskutiert haben, hätten Sie Gelegenheit gehabt, eine
Regelung zur Gewinnabschöpfung bei schweren Steuerstraftaten mit zu beschließen
({11})
und schwere Steuerstraftaten als Vortaten zur Geldwäsche
zu nehmen. Da haben Sie, Herr Kollege Geis, dagegen gestimmt. - So viel zu Ihrer Glaubwürdigkeit in diesen Fragen.
Lassen Sie mich aber in drei Punkten, weil mir das für
die öffentliche Debatte wichtig ist, kurz auf Ihren Antrag
eingehen. Die übrigen Dinge sind genannt worden. Zu
Fragen der Jugendkriminalität wird Frau Kollegin Simm
noch etwas sagen. Aber drei Punkte möchte ich hier noch
ansprechen, weil sie uns gegenwärtig in der rechtspolitischen Debatte beschäftigen und weil sie wichtig sind.
Der eine ist die von Ihnen wieder angesprochene
Kronzeugenregelung. Ich möchte noch einmal betonen:
Wir bleiben dabei, dass sich die am 31. Dezember 1999
ausgelaufene Kronzeugenregelung nicht bewährt hat.
({12})
Da hilft es auch nichts, dass Sie mit immer wieder neuen
Worten versuchen, diese alte Regelung ins Gesetz zu bringen. Es ist in keinem Fall gelungen, mithilfe der Regelung
Täter aus einer terroristischen Vereinigung herauszubrechen
({13})
oder auch nur terroristische Straftaten zu verhindern.
Auch im Kampf gegen das organisierte Verbrechen hat die
Kronzeugenregelung letztendlich versagt. Das ist ebenfalls Gegenstand einer Anhörung im vorigen Jahr gewesen, bei der Ihnen das bestätigt worden ist.
({14})
Die Regelung schuf eher Anreize zu falschen Verdächtigungen und zu Denunziationen.
Sinnvoll ist eine andere Regelung. Diese werden wir
Ihnen noch in dieser Legislaturperiode, Herr Kollege
Geis, auf den Tisch legen.
({15})
- Warten Sie es doch ab! Wir werden in der Tat eine Regelung auf den Tisch legen, in der wir im Rahmen der Strafzumessungsregelung dafür Sorge tragen werden, dass
kriminalpolitisch sinnvolles Aufklärungs- und Präventionsverhalten präferiert wird.
({16})
Lassen Sie mich ein letztes Wort zur nachträglichen
Sicherungsverwahrung für Sexualstraftäter sagen.
Gestern in der Anhörung hat sich eindeutig gezeigt, dass
der von Ihnen vorgelegte Entwurf, den wir im vorigen
Herbst hier diskutiert haben, Herr Kollege van Essen
- und insofern haben Sie mich vorhin nicht richtig zitiert -,
ganz erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken begegnet,
({17})
dass dieser Entwurf nicht der Weg zur Lösung dieses Problembereichs sein kann.
({18})
Das haben sogar Ihre Sachverständigen gestern in der Anhörung bestätigen müssen. Man hat oft den Eindruck, dass
Ihnen teilweise nur noch die, die Sie aus Baden-Württemberg oder aus Bayern benennen, die Stange halten.
({19})
Wir werden Ihnen eine Regelung vorlegen,
({20})
mit der wir das erkennende Gericht entscheiden lassen
und ihm die Möglichkeit einräumen, unter Vorbehalt Sicherungsverwahrung auszusprechen.
({21})
Wenn sich erweisen sollte - wovon Sie ausgehen -,
dass man dann eine sichere Prognose stellen kann, soll
dies in Vollzug gesetzt werden. Sie können sicher sein,
dass wir uns noch in diesem Jahr mit einer solchen Regelung beschäftigen werden.
({22})
Sie ist rechtsstaatlich unbedenklich. Sie muss prozessual
sauber ausgestaltet sein, sodass der Betroffene die Möglichkeit hat, das Revisionsrecht in Anspruch zu nehmen.
Der Bundesgerichtshof wird die Instanz sein, die über die
Anordnung entscheiden wird.
({23})
- Ja, das was Sie vorgelegt haben, war Mittelalter.
({24})
Wir werden Ihnen eine rechtsstaatlich saubere Regelung vorlegen. Ich bin gespannt, wie Sie sich dann verhalten werden, ob Sie zustimmen oder außen vor bleiben
und sagen: Das reicht uns nicht.
Schönen Dank.
({25})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Caspers-Merk das Wort.
Herr Kollege Geis, ich
wollte Sie vorhin kurz ansprechen, weil Sie die heroingestützte Behandlung erwähnt haben. Sie haben gesagt,
ein solcher Versuch sei in der Schweiz gescheitert. Der
Ordnung halber will ich sagen: Das Gegenteil ist der Fall.
In der Schweiz hat man mit diesem Projekt die Erfahrung
gemacht, dass die Todesfälle durch Drogen zurückgegangen sind und sich die Arbeitsfähigkeit der Behandelten
deutlich gesteigert hat.
Kritisiert wurde auf internationaler Ebene im Rahmen
des Suchtstoffübereinkommens, dass man keine Testgröße hatte, die man zum Vergleich hätte heranziehen
können. Gerade dies machen wir bei unserem Modell einer heroingestützten Behandlung jetzt anders. Wir haben
eine Gruppe von Substituierten und eine, die mit dem Originalstoff, mit Heroin, behandelt wird. Daneben gibt es
zwei alternative psychosoziale Behandlungsarten. Man
sollte diese Arbeit ganz aus der ideologischen Auseinandersetzung heraushalten. Es handelt sich um eine ergebnisoffene Arzneimittelstudie, die auf Wunsch von sieben
Städten - die Mehrheit davon konservativ regiert - durchgeführt wird. So gestandene Leute wie der Karlsruher
Oberbürgermeister, ein CDU-Mitglied, haben sich vollinhaltlich für dieses Heroinmodell ausgesprochen, weil sie
sagen: Nur wer überlebt, kann aus einer Drogensucht aussteigen. Insofern ist die heroingestützte Behandlung ein
weiterer Baustein dafür, die Überlebenshilfen auszubauen.
Ich bitte Sie herzlich, lieber Kollege: Warten Sie die
Ergebnisse ab. Nächsten Dienstag beginnt als erste die
Stadt Bonn mit der Behandlung. Nach zwei Jahren sind
Sie schlauer und wir auch. Wenn wir die Ergebnisse haben, sollten wir über den Fortgang und den Erfolg neu diskutieren.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Geis,
Sie möchten darauf antworten. Bitte sehr.
Frau Kollegin, wenn Sie
zugehört haben, werden Sie auch gehört haben, dass ich
mich nicht gegen den Versuch ausgesprochen habe. Ich
will respektieren, wenn ein Menschenleben dadurch gerettet wird. Was Sie in Bezug auf die Schweiz gesagt haben, nehme ich als Information so an. Ich habe eine andere Informationen, lasse das aber so stehen.
Es gibt aber Erkenntnisse aus Schweden, das ähnliche
Wege gegangen ist. Bereits vor 18, 19 Jahren hat Schweden
ein solches Experiment gestartet und damit Schiffbruch
erlitten. Seit dieser Zeit praktiziert man dort Null-Toleranz und Therapie.
({0})
Null-Toleranz und Therapie kann man nur praktizieren
- das war der Ansatz in meiner Rede -, wenn die gesetzliche Regelung, die wir derzeit haben, geändert wird. Ich
respektiere aber durchaus - ich möchte das noch einmal
betonen - diesen Versuch, wenn damit Erfolge erzielt
werden können. Ich stimme Ihnen zu: Warten wir es ab!
Ich bin aber der Meinung, dass man einen Menschen aus
den Fesseln der Drogen nur befreien kann, wenn man ihn
gänzlich den Drogen entzieht.
({1})
Jetzt hat der Kollege
Ronald Pofalla für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich eingangs auf den Punkt zu bringen - es hilft nicht, darum herumzureden -: Für die innere Sicherheit unseres Landes
wird vonseiten dieser Bundesregierung eindeutig zu wenig getan.
({0})
Für die Ängste der Bevölkerung bringt die rot-grüne Regierung wenig oder gar kein Verständnis auf.
({1})
- Zu Ihnen komme ich gleich noch, Herr Ströbele. - Da
ist zum einen die berechtigte Angst vor dem internationalen Terrorismus. Nach den menschenverachtenden Angriffen auf die USA am 11. September vergangenen Jahres sind innere und äußere Sicherheit nicht mehr so klar
zu trennen, wie es bisher der Fall war.
Die Erfahrungen mit zwei totalitären Herrschaftsformen auf deutschem Boden haben uns wie kein anderes
Land für sicherheitspolitische und sicherheitsorganisatorische Fragestellungen sensibilisiert. Vorbereitungen der
Anschläge in Amerika - es hilft ebenfalls nichts, darum
herumzureden - haben in Deutschland stattgefunden. Die
Veränderung der Bedrohungslage fordert nach unserer
Auffassung ihren Tribut. Auch in Deutschland waren und
sind Gesetzesänderungen und Investitionen in die Sicherheit unumgänglich.
Nachdem Bundesminister Schily in seinen so genannten Antiterrorpaketen weitgehend Vorschläge umgesetzt
hat, die schon vor einiger Zeit von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erfolglos im Parlament eingebracht worden waren, bleiben tatsächlich weitergehende, notwendige Änderungen aus. Durch den linken Flügel der
Sozialdemokraten und vor allem durch die Bedenkenträger der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wurden sinnvolle weitergehende Maßnahmen weichgespült. Wieder
einmal hat sich der Bundesminister als Ankündigungsminister entpuppt. Nicht nur die Skandale um das NPDVerbotsverfahren lassen insoweit an der innen- und sicherheitspolitischen Kompetenz der Bundesregierung
zweifeln.
Ich frage daher: Wie sieht es zum Beispiel erstens mit
einer Initiativermittlungskompetenz durch das Bundeskriminalamt aus? Fehlanzeige: Wegen der Grünen bleibt
das BKA ein zahnloser Tiger,
({2})
der uns nicht besser schützen kann, weil er nicht handeln
darf.
Zweitens. Die Ausweitung der Befugnisse des Verfassungsschutzes und ähnlichem - ebenfalls Fehlanzeige.
({3})
Auskünfte bei Kreditinstituten, Post- und Telekommunikationsdienstleistern dürfen auf Druck der Grünen nur unter strengen Voraussetzungen eingeholt werden.
Drittens. Der polizeiliche Einsatz von Ortungsgeräten
für Handynutzer wurde ebenfalls weichgespült. Auch hier
schreckt Rot-Grün ohne Not zurück.
({4})
Viertens. Mit der ausreichenden Unterstützung der
Dienste brüsten sich die Damen und Herren der Regierungskoalition jetzt, auch wenn gerade von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor noch nicht allzu langer Zeit
im Rahmen eines Antrags im Deutschen Bundestag die
Auflösung des Bundesnachrichtendienstes gefordert wurde. Ein Antrag aus der vorigen Wahlperiode trägt unter anderem die Namen des Bundesaußenministers und der
Kollegin Kerstin Müller. Der jetzige Bundesumweltminister Trittin hat in Presseinterviews - übrigens noch vor
wenigen Monaten - ebenfalls in dieses Horn gestoßen.
Der Kollege Ströbele - über den ich mich immer wieder
freue; so schätze ich manche seiner Interviews auch deshalb, weil potenzielle grüne Wähler dadurch abgeschreckt
werden, tatsächlich grün zu wählen - forderte noch am
18. Oktober 2001 die Auflösung eines Dienstes, wie aus
einem Zitat in der Zeitung „Die Woche“ hervorgeht.
Doch auch in der SPD-Fraktion gab und gibt es vielleicht noch Stimmen, die in unserem Auslandsgeheimdienst eher eine Gefahr als eine Sicherheits- und Vorsorgegarantie sehen. Der Kollege Bachmaier beispielsweise
verglich den BND wörtlich mit einer Krake, die drohe,
sich in Institutionen unseres Staates festzusetzen. Das ist
übrigens auch in einer Bundestagsdrucksache aus der vergangenen Legislaturperiode im Einzelnen nachzulesen.
Das ist das Gedankengut, mit dem wir es zu tun haben,
wenn es um die notwendige Verstärkung unserer Dienste
geht: viele Vorbehalte, aber gehandelt wird nicht.
({5})
Insoweit ist es erstaunlich, dass überhaupt eine Verbesserung der Lage der Dienste erreicht werden konnte,
({6})
wenn auch minimal. Das möchte ich noch darstellen. Es
wurde aber - darauf will ich auch noch eingehen - noch
lange nicht genug getan.
Der wichtigste Komplex für eine verbesserte innere Sicherheit zum Schutz vor Ausländerextremismus und -terrorismus - nämlich durchgreifende und zielgenaue Maßnahmen im Bereich des Ausländerrechts - wurde sehr
unbefriedigend geregelt. Die im Antiterrorpaket II enthaltenen angeblichen Verschärfungen im Ausländerrecht im
Bereich der Ausweisung und der Abschiebung sind längst
nicht ausreichend. Wieder einmal hat sich gezeigt, dass
für die derzeitige Bundesregierung nicht die Sicherheit im
Kampf gegen Terror und Ausländerextremisten die oberste Priorität hat. Der Handel „Koalitionsfrieden gegen Entschärfung des Sicherheitspaketes“ geht nicht in Ordnung.
({7})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich für deutlich weitergehendere Regelungen zur Terrorismusbekämpfung ein. Die Schwerpunkte dabei sind: eine deutlich bessere technische und personelle Ausstattung der
Polizei, der Nachrichtendienste, der Strafverfolgungsbehörden und der sie unterstützenden Einrichtungen sowie ein besserer Austausch von Informationen zwischen
ausländischen und inländischen staatlichen Stellen.
({8})
- Der Bund könnte dort, wo er zuständig ist, bei seinen
Bundeseinrichtungen, für Verbesserungen sorgen. Aber
dazu sind Sie ja nicht bereit.
Weitere Schwerpunkte einer effektiven Terrorismusund Kriminalitätsbekämpfung sind die Wiedereinführung
einer Kronzeugenregelung für Straftaten. Wir mussten
uns gerade anhören, warum diese Regelung angeblich
falsch gewesen sei. Ich kann Ihnen nur raten: Wenn schon
einmal ein Landesjustizminister aus Ihren Reihen kommt,
der in der Sache kompetent ist, weil er aufgrund einer
früheren beruflichen Tätigkeit in diesem Bereich geforscht hat, dann sollten Sie auch auf ihn hören. Der niedersächsische Justizminister hat sich eindeutig für eine
Verlängerung der Kronzeugenregelung ausgesprochen,
weil er sie als ein wirksames Instrument zur Verbrechensbekämpfung begreift. Nur weil Sie auf Herrn Ströbele und
andere Rücksicht nehmen müssen, können Sie das nicht
umsetzen. Das werden wir den Wählerinnen und Wählern
deutlich machen.
({9})
Es fehlt eine verlässliche Rechtsgrundlage für den Einsatz verdeckter Ermittler. Es ist darüber hinaus versäumt
worden, zu überprüfen - eine solche Überprüfung ist
dringend erforderlich -, ob die nach wie vor geltenden
Einschränkungen bei der akustischen Wohnraumüberwachung und ob das Verbot der optischen Wohnraumüberwachung noch zeitgemäß sind, um nur einige Beispiele zu nennen.
({10})
Sie haben vorhin gesagt, dass Erfolge aufgrund der
DNA-Analysedatei zu verzeichnen seien.
({11})
Ich kann mich noch an die Beratungen in der letzten Legislaturperiode erinnern: Als wir die Einführung einer
DNA-Analysedatei beschlossen haben, haben Sie, die damaligen Oppositionsfraktionen, dagegen gestimmt.
({12})
Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Regierung
übernommen hatten? Eine der ersten Gesetzesinitiativen,
die Sie im Deutschen Bundestag auf den Weg gebracht haben, zielte auf eine deutliche Aufweichung der gesetzlich
festgelegten Voraussetzungen für die Speicherung von
Daten in der DNA-Analysedatei ab. Sie haben die ursprünglich klare gesetzliche Regelung aufgeweicht, mit
der Folge, dass die Meldepraxis in den Bundesländern
sehr unterschiedlich ist. Das geht auch auf Sie zurück.
({13})
Herr Ströbele, wenn ich mir die Zahlen genau anschaue, dann stelle ich schlicht und ergreifend fest: Überall dort, wo rote bzw. rot-grüne Landesregierungen regieren, übt man sich - das zeigt die Meldepraxis - im
Umgang mit der DNA-Analysedatei in Zurückhaltung. Es
kann doch nicht angehen, dass Nordrhein-Westfalen, das
größte Bundesland, nur halb so viele Meldungen - bezogen auf die Einwohnerzahl - im Rahmen der DNA-Analysedatei vornimmt wie beispielsweise Bayern oder
Baden-Württemberg. Daran wird doch deutlich, dass die
DNA-Analysedatei überall dort, wo Grüne mitregieren,
nicht als ein sinnvolles Instrument zur Bekämpfung von
Verbrechen, sondern als ein zusätzliches Instrument zur
sinnlosen Überprüfung von Menschen angesehen wird.
Genau das ist falsch.
({14})
Wir brauchen durchdachte, realitätsnahe Konzepte und
wirkungsvolle Maßnahmen, aber keine auf falsch verstandener Humanität und Naivität basierenden Kompromisse. Deshalb habe ich nur einige Punkte aufgegriffen,
({15})
die im Rahmen der Beschlussfassung über die von uns
eingebrachten Anträge auch von Ihrer Seite Unterstützung erfahren sollten. Das wäre sinnvoll. Da Sie aber
nicht die Kraft haben, sinnvolle Vorschläge der Opposition mit Ihrem Votum zu unterstützen,
({16})
werden vermutlich wiederum ganz sinnvolle Maßnahmen
nicht umgesetzt werden. Sie tragen dafür dann aber die
Verantwortung.
({17})
Das Wort hat nun der
Kollege Günter Graf für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich diese Debatte
mit früheren vergleiche, dann muss ich beeindruckt feststellen, dass sie von der Opposition relativ zahm geführt
wurde.
({0})
Das ist für mich ein Indiz dafür, dass sie genau weiß, dass
die Innenpolitik und speziell die innere Sicherheit dieses
Landes beim jetzigen Bundesinnenminister in guten Händen sind.
({1})
Dennoch thematisieren Sie diese Politik nach dem Motto
„alle Jahre wieder“; dabei fällt einem auf, dass Sie immer
dann, wenn in diesem Lande, an welcher Stelle auch immer, Wahlen anstehen, das Thema der inneren Sicherheit
auf die Tagesordnung setzen.
({2})
Ich hatte ja gesagt, dass Sie sehr zahm geworden sind. Das
ist gut so und sollte auch künftig so bleiben. Insofern
danke ich Ihnen sogar dafür.
({3})
Zu Ihrem Antrag möchte ich nur einige wenige Bemerkungen machen: Wenn man sich die vielen Seiten
durchliest, muss man zu dem Ergebnis kommen - ich
glaube, nicht nur ich, Sie selbst wissen es ja auch -, dass
zu 90 Prozent Dinge angesprochen werden, die einzig und
allein in den Aufgabenbereich der Länder fallen und nicht
in der Kompetenz des Bundes stehen. Punkt, aus, Ende.
({4})
Herr Pofalla hat hier eben dargestellt, dass es Versäumnisse beim BKA gebe. Auch ich könnte mir manches
anders vorstellen; das will ich hier gerne einräumen.
({5})
Diejenigen, die über die mangelnde materielle und
personelle Ausstattung klagen, verweise ich nur auf das
Antiterrorgesetz, welches wir mit unserem Minister
innerhalb kürzester Zeit auf den Weg gebracht haben. Mit
diesem Gesetz - das Volumen ist vom Staatssekretär hier
genannt worden - werden wir fast 500 Millionen DM
bzw. 250 Millionen Euro im Wesentlichen für mehr Personal und auch eine bessere materielle Ausstattung bei
den Organisationen, für die wir zuständig sind, sprich
Bundesgrenzschutz, sprich Verfassungsschutz, einsetzen.
Das muss man zur Kenntnis nehmen. Es ist an und für sich
bedauerlich, dass man sich in diesem Hohen Haus hinstellen und vor den Augen der breiten Öffentlichkeit dieses Landes Dinge erzählen kann, die mit der Wahrheit, geschweige denn mit der Lebenswirklichkeit, nichts zu tun
haben. Dafür mache ich Sie neben einigen anderen ganz
persönlich verantwortlich.
({6})
Herr Geis hat sich ja heute Morgen in sehr zurückhaltender Weise geäußert, was mich auch wiederum beeindruckt hat.
({7})
Ich möchte etwas zu einem Punkt sagen, der hier heute
noch nicht angesprochen worden ist. Schauen wir einmal
in die Bereiche, für die der Bund zuständig ist. Es sind
Stichworte wie organisierte Kriminalität gefallen. Dazu
ist bereits etwas gesagt worden. Es wurde nach der internationalen Zusammenarbeit und nach Europol gefragt.
Dazu ist noch nicht so viel gesagt worden; deshalb möchte
ich darauf eingehen. Die Alltagskriminalität in unserem
Lande ist ein wichtiges Thema. Wir wissen heute alle,
dass die internationalen Verflechtungen bis heute ständig wachsen und im Grunde genommen letztlich zu einer
Bedrohung der freiheitlichen Länder werden können. Die
Bundesregierung hat in diesem Bereich in den letzten Jahren eine ganze Menge geleistet.
Ich möchte nur einmal an die Zusammenarbeit der Polizeibehörden erinnern. Was haben wir in letzter Zeit gemacht? Wir haben ein Abkommen mit der Schweiz geschlossen, in dem in gegenseitigem Einvernehmen
geregelt ist, dass deutsche oder schweizerische Polizeibeamte die Grenzen des jeweils anderen Landes überschreiten und dort tätig werden können. Damit soll wirksam
verhindert werden, dass Täter durch Ausnutzung der
Grenze aufgrund bürokratischer Hemmnisse Gewinne erzielen. Ein ähnliches Gesetz, in dem es um die Zusammenarbeit mit Tschechien geht, haben wir vor nicht allzu
langer Zeit hier im Bundestag beschlossen. Ich will an die
Vereinbarung erinnern, die wir mit dem polnischen Nachbarn geschlossen haben. Das alles waren Dinge, die praktisch und handhabbar sind. An ihnen kann man erkennen
- das erleben wir -, dass eine verstärkte Zusammenarbeit
erfolgreich ist. Im Hinblick auf die Festnahme von Extremisten in Italien - ich habe gestern Abend die „Tagesschau“ gesehen - wurde von italienischer Seite die gute
Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland in
besonderer Weise gelobt. Praktische Politik dieser Art
zahlt sich aus und bewährt sich.
({8})
- Ja, wir sind hier im Parlament. Aber ich habe Ihnen ganz
deutlich gesagt: Achten Sie einmal darauf, was Ihr Antrag
beinhaltet. Er richtet sich an die Länder.
({9})
Sie sprechen über Kriminalprävention.
({10})
Wo findet die denn statt? Wo ist sie wirksam? - Auf der
kommunalen Ebene. Gehen Sie einmal durch die Bundesrepublik Deutschland und schauen Sie, was sich vor
Ort ereignet! Wenn Sie das tun, dann kommen Sie zu anderen Erkenntnissen. Sie werden dann nicht mehr behaupten: Wir, der Bundestag, müssen im Bereich der Kriminalprävention mehr tun.
({11})
Was wir tun können, das haben wir getan: Der Innenminister hat einen Präventionsrat eingerichtet, der eine
koordinierende Funktion übernimmt. Das ist gut und richtig. Ansonsten tragen die Länder die Verantwortung. Sie
haben diese Angelegenheit überwiegend im Griff.
Ich höre hier immer wieder das Geschwafel über die
süddeutschen und die anderen von der Union geführten
Länder. Was da gesagt wird, ist eine Dummheit.
({12})
- Hören Sie auf! - Irgendein Kollege hat auf das hingewiesen, was in Hamburg geschehen ist. In Hamburg hat
Herr Schill oder der von der Union gestellte Erste Bürgermeister gerade eine 100-Tage-Bilanz vorgelegt. Wenn
ich es richtig in Erinnerung habe, dann ist, so die öffentliche Wahrnehmung, nichts passiert, obwohl sie große
Ankündigungen gemacht haben. Von einer Politik dieser
Art muss man Abstand nehmen.
({13})
Günter Graf ({14})
Ich will in Richtung all derjenigen, die sich hier wie
Herr van Essen geäußert und sehr sachlich verhalten haben, deutlich sagen: Das Thema innere Sicherheit ist ganz
wenig dazu geeignet, um mit ihm - ganz gleich auf welcher Ebene, auf der Landes- oder auf der Bundesebene Politik zu machen.
({15})
Durch Ihre Art und Weise der Darstellung versuchen Sie
immer wieder, Angstgefühle der Menschen aufzugreifen,
um bei ihnen den Eindruck zu erwecken, dass es in unserem Staate unsicher ist,
({16})
damit sie letztlich glauben, diese Regierung sei dafür verantwortlich.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Satz sagen.
Zum Schluss, einen
Satz!
Ich bedanke mich
ausdrücklich. Ich möchte noch einen Satz sagen.
Man muss Folgendes zur Kenntnis nehmen - einer hat
es hier gesagt -: Vor vier, fünf Jahren glaubten in der Bundesrepublik Deutschland 75 bis 80 Prozent der Menschen,
sie könnten Opfer einer Straftat werden. Das war beunruhigend.
({0})
Herr Kollege, ich
habe den Eindruck, dass der Abschluss Ihrer Rede länger
wird.
Die Zahl derjenigen,
die Angst haben, Opfer einer Straftat zu werden, ist in den
letzten Jahren drastisch zurückgegangen. Das ist auch ein
Ergebnis der Politik dieser Bundesregierung.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen für Ihre Geduld, Frau Präsidentin. Beim nächsten Mal rede ich zwei
Minuten kürzer.
({0})
Nun erteile ich dem
Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der CDU/CSU hat einen Antrag vorgelegt, in den sie alles hineingeschrieben hat, was sie sich
schon immer gewünscht hat: mehr Repression, mehr und
höhere Strafen - Jugendstrafe oder die Bestrafung von
Heranwachsenden -, mehr Überwachung - im Antrag ist
von mehr verdeckten Ermittlern die Rede;
({0})
trotz der vielen Diskussionen, die wir mittlerweile über
verdeckte Ermittler führen, sind Sie noch immer nicht gewarnt -, mehr Videoüberwachung und mehr akustische
Überwachung, auch im Wohnbereich, zum Beispiel im
Wohnzimmer, im Schlafzimmer. All das wollen Sie. Sie
meinen, damit könnte man mehr Sicherheit für die Bevölkerung erreichen.
Ich bezweifle das. Ich denke manchmal, Sie glauben
das selbst nicht.
({1})
Sie spielen vielmehr mit den Ängsten und den Befürchtungen in der Bevölkerung. Jeder von uns kennt das: Man
fühlt sich zu Hause oder am Arbeitsplatz nie sicher genug.
Das wird besonders deutlich, wenn Sie in einem Bereich, der heute hier noch gar nicht zur Diskussion gestellt
worden ist, viel mehr Sicherheit, mehr staatliche Maßnahmen und mehr Strafen fordern, etwa beim Betteln, bei
der Verwahrlosung und bei Graffiti, die Sie selber erwähnt
haben, das heißt bei der so genannten Bagatellkriminalität. Dazu sagen Sie, Herr Geis: Wehret den Anfängen! Damit sollen Mord und Totschlag und schlimmere Gewalttaten, möglicherweise auch organisierte Kriminalität,
verhindert werden. Das ist das Konzept von Null-Toleranz, das, wie Sie wissen, in anderen Ländern praktiziert
worden ist.
({2})
Sie versuchen, bei der Bevölkerung, bei den Zuhörerinnen und Zuhörern den Eindruck zu erwecken, dass Sie, indem Sie gegen Bettler und gegen Graffiti vorgehen, mehr
Sicherheit für die Bevölkerung schaffen,
({3})
obwohl Sie wissen - weil Sie diese Untersuchung auch
kennen -, dass es in den Vereinigten Staaten, etwa in New
York, wo das praktiziert worden ist, nicht mehr, sondern
sehr viel weniger Sicherheit als in Deutschland gibt.
({4})
Auf der Grundlage eines solchen Konzeptes sind dort, auf
die Bevölkerung umgerechnet, achtmal mehr Menschen
im Gefängnis. In Deutschland sind 90 von 100 000 im Gefängnis, in den USA 800 von 100 000.
({5})
Günter Graf ({6})
Trotzdem ist Schwerstkriminalität wie Mord, Totschlag
und Raub etwa in New York zehnmal mehr an der Tagesordnung als in Deutschland. Wollen Sie diese Verhältnisse
nach Deutschland holen?
({7})
Wollen Sie das als Konzept für mehr innere Sicherheit
hinstellen? Da haben Sie uns gegen sich; das wollen wir
nicht. Wir wollen Konzepte gegen die wirklich gefährliche Kriminalität, und das ist die Gewaltkriminalität. Wir
haben eine ganze Menge gemacht gegen Gewalt im häuslichen Bereich, in der Familie, gegen fremdenfeindliche
Gewalt. Wir wollen mehr für die Opfer tun und wir wollen weniger Waffen in der Gesellschaft. Sie verweigern
sich dieser Diskussion.
({8})
Ich habe leider hier nur fünf Minuten Redezeit. Ein
zweiter Punkt erscheint mir ungeheuer wichtig: Sie wollen - so steht es in Ihrem Antrag - die Diskussion über die
Entkriminalisierung des Drogengebrauchs beenden.
Der Deutsche Bundestag soll beschließen, dass darüber
nicht weiter diskutiert werden darf.
({9})
Damit unterstützen Sie eine der dramatischsten Lebenslügen dieser Gesellschaft.
({10})
In dieser Gesellschaft wird akzeptiert - das hat man jetzt
gerade im Karneval gesehen; das erlebt man in Bayern
während des Oktoberfestes -,
({11})
dass Leute feiern und sich bis zur Bewusstlosigkeit betrinken, das heißt mit der Droge Alkohol zumachen,
({12})
obwohl durch diese Droge Alkohol Tausende von Toten
zu beklagen sind, Familien zerstört und Schäden in Milliardenhöhe in der Gesellschaft verursacht werden.
({13})
Aber die zwei bis drei Millionen Kiffer wollen Sie weiter
kriminalisieren. Diese Lebenslüge in dieser Gesellschaft
werden wir nicht unterstützen. Wir wollen nicht, dass jemand sich bis zum Exzess betrinken darf, aber ein anderer, der ein paar grüne Haschischpflanzen irgendwo im
Wald oder in seinem Badezimmer hält, eine achtmonatige
Freiheitsstrafe bekommt.
({14})
Das ist nicht unsere Politik. Wir wollen weiter über andere, bessere Wege aus der Drogengesellschaft reden.
Wir wollen alle Drogen mit Therapie wirksam bekämpfen, aber nicht so, wie Sie es machen: Die eine Droge wird
gefördert und gelobt und die andere Droge soll weiter kriminalisiert werden.
({15})
Deshalb lassen wir uns diese Diskussion nicht verbieten.
Wir diskutieren weiter und werden auch weiterhin die
Forderung nach Entkriminalisierung dieser weichen Drogen aufstellen.
({16})
So viel gebe ich Ihnen als Denkanstoß mit. Ich bin sicher,
dass wir in Zeiten des Wahlkampfes von Ihnen noch häufig die Diskussion über die Fragen der inneren Sicherheit
aufgedrückt bekommen.
({17})
Wir stellen uns dem gern. Wir wissen, dass wir in der Bevölkerung für unsere Argumente mindestens so viel Beifall bekommen wie Sie.
({18})
Als letzter Rednerin
in dieser Diskussion erteile ich das Wort der Kollegin
Erika Simm, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag zur inneren Sicherheit,
über den wir heute diskutieren, wiederholt unter dem Kapitel „Bekämpfung der Kinder- und Jugendkriminalität“
Altbekanntes, mit dem wir uns schon mehrfach auseinander gesetzt haben. Er enthält einen Katalog von geforderten Rechtsänderungen, die bereits Gegenstand eines eigenen Gesetzesantrages waren, den wir im Juli vorigen
Jahres mit der großen Mehrheit dieses Hauses abgelehnt
bzw. dem wir zumindest nicht zugestimmt haben.
Man fragt sich, was es soll, dass man gebetsmühlenartig immer wieder dieselben Forderungen und Vorschläge
zur Bekämpfung der Jugendkriminalität wiederholt,
nachdem dazu bereits eine Anhörung im Rechtsausschuss
stattgefunden hat. Die große Mehrzahl der Sachverständigen hat erklärt, dass es zum Teil überflüssig und zum Teil
nicht vernünftig sei, entsprechende Regelungen zu schaffen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es
hier nicht wirklich darum geht, die Jugendkriminalität zu
vermindern, sondern einfach darum, irgendwelche SchauHans-Christian Ströbele
fensteranträge immer wieder neu zu stellen, um dem politischen Gegner den Anschein zu geben, dass er sich dieses Problems nicht genügend annehme und auch die
nötige Sensibilität dafür nicht habe. Ich kann es nicht anders sehen, weil sich von der Kritik, die, wie gesagt, in den
vergangenen Wochen auch von den Sachverständigen
geäußert wurde, nichts in irgendeiner Art und Weise in
den immer wieder gestellten Anträgen niederschlägt.
({0})
Es ist mir wichtig, hier festzuhalten, dass selbstverständlich auch die Regierungskoalition - ich gehe davon
aus, dass auch alle Parteien, die hier im Parlament vertreten sind, dies tun - das Problem der Jugendkriminalität
ernst nimmt und dass alle den eigentlich guten Willen haben, Lösungen und Maßnahmen zu finden, um die Jugendkriminalität zu reduzieren. Dies sind wir den Opfern
und Geschädigten, aber auch den Jugendlichen selbst
schuldig. Es geht darum, sie vor einem weiteren Abgleiten in die Kriminalität und vor einem Leben zumindest am
Rande - wenn schon nicht außerhalb - der Gesellschaft zu
bewahren.
Der Weg, den wir gehen wollen, um zu versuchen, in
vernünftiger Weise zu einer Verringerung der Jugendkriminalität zu kommen, unterscheidet sich allerdings von
dem der Fraktion der CDU/CSU. Die Union setzt ausschließlich auf repressive Maßnahmen, nämlich auf die
Verschärfung der Gesetze und der Verfahrensvorschriften.
({1})
- Das ist aber der Inhalt Ihres Antrages, Herr Geis.
({2})
Wir setzen darauf, dass die Ursachen der Jugendkriminalität bekämpft werden. Das heißt, dass man sich erst
einmal Gedanken darüber machen muss, was die Ursachen der Kriminalität sind. Man muss sich diese kritisch
anschauen und dann gewisse Handlungskonzepte dagegen entwickeln.
({3})
Bei der CDU/CSU vermisse ich den Willen, das so zu machen. Das hat bei mir letztlich doch immer gewisse Zweifel erzeugt, ob Sie es mit der Bekämpfung der Jugendkriminalität wirklich so ernst meinen.
({4})
Die Kriminalstatistik wurde hier schon so oft bemüht.
Ich habe immer den Eindruck, dass jeder genau das daraus
liest, was ihm gerade in den Kram passt. Festzustellen ist,
dass es seit Anfang der 80er-Jahre einen kontinuierlichen
Anstieg der Jugendkriminalität gibt. Zu Zeiten, als die
CDU/CSU eine eigene Mehrheit in diesem Parlament
hatte, habe ich nichts von entsprechenden Anträgen, wie
wir sie jetzt auf dem Tisch haben, gehört.
({5})
Herr Geis, ich habe auch gehört, dass Sie mit der FDP
nichts machen konnten.
({6})
Bei aller Liebe: Ich habe durchaus den Eindruck, dass
man mit der FDP manches nicht machen kann. Ich hatte
bisher aber eigentlich schon den Eindruck, dass man mit
ihr zusammen ein vernünftiges Konzept zur Bekämpfung
der Jugendkriminalität entwickeln kann.
Ich will es kurz machen, da ich nur noch wenig Redezeit habe. Es kommt mir darauf an, deutlich zu machen,
dass wir im Bereich der Jugendkriminalität nicht auf die
Verschärfung von Gesetzen oder die Verschärfung von
Verfahrensregeln setzen, sondern die Ursachen der Jugendkriminalität bekämpfen wollen.
Einen wunderbaren Hinweis darauf, worum es geht,
finden Sie im Begründungsteil der Polizeilichen Kriminalstatistik. Unter „Zusammenfassung“ gibt es sehr kluge
Ausführungen dazu, was die Ursachen der Jugendkriminalität sind und wie man damit umgehen sollte. Ich kann
nur empfehlen, sich nicht immer nur die Zahlen anzuschauen, sondern auch die Begründungen dazu zu lesen,
die Fachleute aus dem polizeilichen Bereich zusammengetragen haben, die vielleicht für bestimmte Teile des
Hauses weniger verdächtig sind, als es möglicherweise
Psychologen, Kriminologen oder Soziologen sein mögen.
Wir haben eine ganze Menge getan, um die Ursachen
der Jugendkriminalität zu bekämpfen. Wir haben ein Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt, in das wir jährlich 2 Milliarden DM investiert haben. Damit haben wir 350 000 Jugendliche erreicht. In
diesem Programm ist Geld für begleitende sozialpädagogische Betreuung enthalten. Das ist neu und ganz wichtig.
Die Bundesregierung beteiligt sich an dem Programm
„Soziale Stadt“, das wiederum mit einer Reihe von Programmen gerade für gefährdete und benachteiligte Jugendliche verknüpft werden kann, zum Beispiel mit
JUMP, aber auch mit einem Programm, das das Bundesjugendministerium mit eingebracht hat und bei dem es
insbesondere um die Benachteiligung von Jugendlichen
in sozialen Brennpunkten geht.
Wir haben diverse Programme zur Bekämpfung von
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus aufgelegt. Wir haben das Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung verabschiedet, und zwar - das
finde ich ärgerlich, Herr Geis - gegen die Stimmen der
CDU/CSU. Ich habe nie verstanden, warum Sie diesem
Gesetz nicht zugestimmt haben, zumal Sie vorher gesagt
hatten, es sei alles richtig, was der Staatssekretär in diesem Zusammenhang ausgeführt habe.
({7})
Das Gewaltschutzgesetz mit der erleichterten Zuweisung der gemeinsamen Wohnung gibt den Kindern eine
Chance, in einem relativ gewaltfreien sozialen Umfeld
aufzuwachsen.
Das Deutsche Forum für Kriminalprävention ist genannt worden. Ich halte es auch für ganz wichtig, dass wir
mit dem Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung erstmals eine interpretierte und abgewogene
Daten- und Faktensammlung haben, die für künftige
Maßnahmen im Bereich der Kriminalität, gerade auch im
Bereich der Jugendkriminalität, sehr hilfreich sein kann
und die für mich die Möglichkeit bietet, künftige kriminalpolitische Entscheidungen auf eine rationale Basis zu
stellen.
({8})
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir haben also eine ganze Menge
getan und können einiges vorweisen. Die Bekämpfung
der Jugendkriminalität ist allerdings eine dauerhafte Aufgabe, die uns auch die nächsten Jahre noch beschäftigen
wird.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen jetzt zu einer Anzahl von Abstimmungen.
Erstens kommen wir zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 14/8284 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Krimi-
nalität wirksamer bekämpfen - Innere Sicherheit gewähr-
leisten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/6539 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen nun zu Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis g sowie Zu-
satzpunkte 2 a bis c auf:
20.a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbereitung einer bundeseinheitlichen Wirtschaftsnummer
- Drucksache 14/8211 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 27. Juli 2001 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechi-
schen Republik über soziale Sicherheit
- Drucksache 14/8212 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter
in den Aufsichtsrat
- Drucksache 14/8214 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 3. Juni 1999 betreffend die Änderung des Übereinkommens vom 9. Mai 1980
über den internationalen Eisenbahnverkehr
({2})
- Drucksache 14/8172 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 14/8045 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Adler, Adelheid Tröscher, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reformprozess der internationalen Agrarforschung vorantreiben
- Drucksache 14/8000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Existenzbedrohende Prüfungspraxis der
Sozialversicherungsträger für kleine und mittelständische Betriebe unterbinden
- Drucksache 14/7155 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({7})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 2a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umweltauditgesetzes
- Drucksache 14/8231 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von Kioto vom 11. Dezember 1997 zum
Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen
über Klimaänderungen ({9})
- Drucksache 14/8250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen
und zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen
- Drucksache 14/8285 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Der Gesetzentwurf zur Änderung des Umweltauditgesetzes auf Drucksache 14/8231 - das ist der
Zusatzpunkt 2 a - soll zusätzlich an den Rechtsausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu Beschlussvorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 21 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 18. April 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich der Niederlande über soziale
Sicherheit
- Drucksache 14/7046 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({13})
- Drucksache 14/8146 Berichterstattung:
Abgeordnete Leyla Onur
Der Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/8146, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Walter Hirche, Rainer Brüderle, Paul K.
Friedhoff, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Sicherung
der Energieversorgung bei Gefährdung oder
Störung der Einfuhren von Erdöl, Erdölerzeugnissen oder Erdgas
- Drucksache 14/7151 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15})
- Drucksache 14/8053 Berichterstattung:
Abgeordneter Volker Jung ({16})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/8053, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
dritte Beratung.
Tagesordnungspunkt 21 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Landwirtschaftliche Rentenbank
- Drucksache 14/7753 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
({18})
- Drucksache 14/8169 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Schindler
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung von PDS und CDU/CSU ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung von PDSFraktion und CDU/CSU-Fraktion ist der Gesetzentwurf
angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({19}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Zweiundzwanzigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
({20})
- Drucksachen 14/7831, 14/7874 Nr. 2.1, 14/8261 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann ({21})
Bernward Müller ({22})
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/7831 zuzustimmen. Wer ist für diese Beschlussempfehlung? - Keine Gegenstimmen. Dann ist es einstimmig so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({23}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der
Verpackungsverordnung
- Drucksachen 14/7923, 14/8086 Nr. 2.1, 14/8188 Berichterstattung:
Abgeordnete Rainer Brinkmann ({24})
Werner Wittlich
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/7923 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 21 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 347 zu Petitionen
- Drucksache 14/8118 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS ist die Sammelübersicht 347 angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 348 zu Petitionen
- Drucksache 14/8119 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS ist die Sammelübersicht 348 angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 349 zu Petitionen
- Drucksache 14/8120 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 350 zu Petitionen
- Drucksache 14/8121 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion
und FDP-Fraktion ist die Sammelübersicht 350 angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 351 zu Petitionen
- Drucksache 14/8122 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und PDS
ist die Sammelübersicht 351 angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 352 zu Petitionen
- Drucksache 14/8123 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ist die Sammelübersicht 352 angenommen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Tagesordnungspunkt 21 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 353 zu Petitionen
- Drucksache 14/8124 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von PDS und FDP ist die Sammelübersicht 353
angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 354 zu Petitionen
- Drucksache 14/8125 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU ist die
Sammelübersicht 354 angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 355 zu Petitionen
- Drucksache 14/8126 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der PDS ist die Sammelübersicht 355 angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Präsidenten
des Deutschen Bundestages
Bericht über die Rechenschaftsberichte 1999
sowie über die Entwicklung der Finanzen der
Parteien gemäß § 23 Abs. 5 des Parteiengesetzes
({34})
- Drucksache 14/7979 Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Bericht zur Kenntnis
genommen haben. Ich wüsste nicht, was ich jetzt täte, wenn
Sie ihn nicht zur Kenntnis genommen hätten. Aber Sie haben ihn zur Kenntnis genommen; dafür danke ich Ihnen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({35})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Stockholmer Übereinkommen vom
23. Mai 2001 über persistente organische Schadstoffe ({36}) und dem Protokoll vom 24. Juni 1998 zu dem Übereinkommen
von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend persistente organische Schadstoffe ({37})
- Drucksachen 14/7757, 14/8014 ({38})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({39})
- Drucksache 14/8298 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Paul Laufs
Sylvia Voß
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Es
haben sich alle erhoben. Er ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung zu den aktuellen
Vorgängen um die Vermittlungstätigkeit der
Bundesanstalt für Arbeit
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Arbeitsvermittlung ist das zentrale Element der Arbeitsmarktpolitik. Das ist auch die klare Botschaft unseres
Job-Aqtiv-Gesetzes.
({0})
Trotz der konjunkturellen Schwächung haben wir immer
noch 1 bis 1,2 Millionen offene Stellen. Arbeitslosigkeit
ist also kein unentrinnbares Schicksal. Viele, ja die meisten Arbeitslosen haben die Chance, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Wenn es gelingt, die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit auch nur um eine
Woche zu verringern, können 1 Milliarde Euro eingespart
werden.
Allen Beschäftigten der Arbeitsämter muss deshalb
klar sein, dass die Arbeitsvermittlung absolute Priorität
hat. Ich begrüße es daher sehr, dass sich der Bundesarbeitsminister selbst mit allen Arbeitsamtsdirektoren
treffen wird, um die Vermittlungsoffensive persönlich zur
Sprache zu bringen. Dafür danken wir Ihnen, Herr
Arbeitsminister.
({1})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Bundesarbeitsminister Walter Riester hat im Übrigen
schnellstmöglich, umfassend und gründlich auf die Vorkommnisse bei der Bundesanstalt für Arbeit reagiert.
({2})
Er ist der Motor des Reformprozesses. Das hat der Bundesrechnungshof gestern in der Ausschusssitzung in aller
Deutlichkeit bestätigt. Der Minister verdient dafür die ausdrückliche Anerkennung aller Mitglieder dieses Hauses.
({3})
Deshalb sind die Reaktionen von CDU/CSU verlogen
und aus meiner Sicht populistisch.
({4})
Sie wissen ganz genau, dass der Bundesarbeitsminister
nicht die Fachaufsicht über die Bundesanstalt für Arbeit
hat.
({5})
Sie lenken vom eigenen Fehlverhalten ab. Die Strukturen
bei der Bundesanstalt für Arbeit haben sich nicht in den
letzten Monaten ergeben, sondern haben sich ganz
langfristig verfestigt.
({6})
Hier ist erneut die Erblast der Kohl-Regierung aufgeflogen.
({7})
Die Bundesanstalt hätte die vom Rechnungshof festgestellten Mängel ohne weiteres auch selbst erkennen müssen. Gefälschte Statistiken sind nur ein Beispiel für offensichtliche Mängel in der Arbeits- und Ablauforganisation
der Bundesanstalt für Arbeit. Wir werden alles daransetzen, dass aus einer Bundesanstalt für Dienstanweisungen
und Runderlasse ein kundenorientierter Dienstleister
wird.
({8})
Die Meldepflicht wieder einzuführen passt in diesem
Zusammenhang wie die Faust aufs Auge. Vielleicht merken Union und FDP jetzt, dass sie mit ihrer Forderung auf
dem Holzweg sind. Noch mehr Bürokratie braucht die
Bundesanstalt für Arbeit nun wahrlich nicht. Sie braucht
mehr Raum für Vermittlungsaktivitäten.
({9})
Viele Beschäftigte - das weiß ich - denken genauso und
warten auch auf Reformen. Es geht hierbei nicht um
blinde Privatisierung, sondern um einen vernünftigen
Wettbewerb sowie um Kooperation einer öffentlichen Institution mit den Privaten. Eine Neustrukturierung ist
ohne personelle Konsequenzen jedoch kaum denkbar. Auf
eines legen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Zusammenhang Wert:
({10})
Diesmal muss die Treppe von oben gekehrt werden.
({11})
- Haben Sie nicht zugehört, meine Herren?
Geradezu abenteuerlich ist die Forderung der FDP, die
Landesarbeitsämter und die Selbstverwaltung abzuschaffen.
({12})
Danach wäre die Bundesanstalt für Arbeit nur noch eine
nachgeordnete Institution des Bundeswirtschaftsministeriums.
({13})
Das wäre nicht nur eine Rolle rückwärts zum Zentralismus, sondern auch ein Tritt vor das Schienbein der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die je zur Hälfte die Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit bezahlen müssen und deshalb auch zu
Recht ein Mitspracherecht haben.
({14})
Die FDP ist auf dem Irrweg. Das ist ein Schnellschuss, der
schnell zum Rohrkrepierer wird. Anscheinend kann sie
nicht mehr klar denken. Sie glaubt, den nächsten Bundeswirtschaftsminister zu stellen,
({15})
und will sich so rechtzeitig einen Zugriff auf die Bundesanstalt für Arbeit sichern.
({16})
Die Koalition hat stattdessen mit dem Job-Aqtiv-Gesetz den richtigen Motor gestartet.
({17})
Dieses Gesetz zeichnet den Weg für Reformen vor. Das
gilt vor allem für den Ausbau der Arbeitsvermittlung und
für die Zusammenarbeit mit Privaten auch im Wettbewerb. 2 000 Vermittler sind zusätzlich eingestellt worden.
Aufträge an Private müssen schnellstens vergeben werden. Für 1 000 Männer und Frauen steht Geld bereit. Auch
darüber hinaus sind Kooperationen möglich.
Herr Kollege, ich
muss Sie an die Redezeit von fünf Minuten erinnern.
Ich appelliere an die Beschäftigten der Arbeitsämter, jetzt nicht abzuwarten, sondern für den Wettbewerb bereit zu sein. Das bietet viele
neue Chancen, Herausforderungen an die Leistungsbereitschaft und Spaß an der Arbeit.
An weiteren Reformschritten, vor allem im Hinblick
auf eine schlankere Organisationsstruktur, werden wir zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt arbeiten.
Danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, Sie wissen, dass in der Aktuellen Stunde
die Redezeit fünf Minuten beträgt. Ich musste eingreifen,
damit die Geschäftsordnung eingehalten wird.
Nun hat der Herr Kollege Julius Louven für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Brandner, nun ist
mir klar, was Sie mit dieser Aktuellen Stunde bezwecken:
Sie suchen einen Sündenbock und wollen damit von der
Zahl von 4,3 Millionen Arbeitslosen, die Sie zu verantworten haben, ablenken.
({0})
Dies, Herr Brandner, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Wenn überhaupt, dann gibt es drei Sündenböcke: den Arbeitsminister, den Präsidenten der Bundesanstalt und die
Selbstverwaltung. Es gibt jedenfalls nicht nur einen einzigen Sündenbock.
({1})
Herr Jagoda hat gestern im Ausschuss erklärt: Die Bundesanstalt befindet sich in einer tiefen Krise.
({2})
Mich als jemand, der die Bundesanstalt immer kritisch
gesehen hat, überrascht dies überhaupt nicht. Das Ansehen der Bundesanstalt ist nicht erst seit der Sendung
„Panorama“ von 1998, die jetzt immer wieder angesprochen wird, sondern erst recht seit den Sendungen im
ZDF am 1. Mai des letzten Jahres und am 28. Januar
dieses Jahres in der ARD mit verheerenden Aussagen
schlecht. Reaktionen vom Minister, von Ihnen, der Bundesanstalt und der Selbstverwaltung habe ich nicht gehört.
({3})
Der Minister hat gestern das versucht, was Sie heute
machen, nämlich die Schuld an dem, was sich in der Bundesanstalt tut, der vorigen Regierung zuzuweisen.
({4})
Der Minister hat dafür gestern Worte gefunden, die ich
hier nicht öffentlich wiederholen will. Aber, Herr Minister und Herr Brandner, ich will Ihnen schon sagen, was
wir in der letzten Legislaturperiode an Reformgesetzen
beschlossen haben. Wir hatten hier im Deutschen Bundestag mit Mehrheit beschlossen, die Landesarbeitsämter
aufzulösen.
({5})
Wir wollten fünf Direktionen als Mittelinstanz ohne Selbstverwaltung. Das Personal der Landesarbeitsämter wollten
wir komplett in die Vermittlung der örtlichen Arbeitsämter geben.
({6})
Wir hatten beschlossen, den Arbeitsämtern vor Ort
mehr Zuständigkeiten zu übertragen und ihnen eigene
Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie sollten in einem Wettbewerb zueinander stehen.
({7})
- Herr Andres, warten Sie einmal ab! Darauf komme ich
noch.
Wir haben damals für die Selbstverwaltung eine hälftige Teilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
vorgeschlagen. Wir wollten es nicht mehr mitmachen,
dass pensionierte Bürgermeister und Gemeindedirektoren
in den örtlichen Verwaltungsausschüssen dafür sorgten,
dass ihre Städte noch ein paar AB-Maßnahmen mehr bekamen.
({8})
Wir haben private Vermittlung zugelassen, Herr
Brandner. Dabei hat es mich gestört, dass die Oberaufsicht über die Zulassung der Privatvermittlung bei der
Bundesanstalt geblieben ist. Aber das war im Kompromiss nicht anders zu machen. Darüber hinaus haben wir
uns für mehr Zeitarbeit stark gemacht und sie erleichtert.
Wir haben - das halte ich nach wie vor für wichtig damals darauf bestanden: Die Vermittler müssen Betriebserfahrung haben, damit nicht die falschen Leute insbesondere an mittelständische Betriebe vermittelt werden. Die Arbeitsgruppe, der ich damals vorstand, hätte
gerne noch kräftigere Einschnitte in die Bundesanstalt für
Arbeit durchgesetzt. Aber im Wege des Kompromisses
ging nicht mehr. Mit der Bundesanstalt und dem Ministerium war nicht alles zu machen. Die Drittelparität ließ
grüßen.
Zu diesen Schritten haben uns seinerzeit zwei Ereignisse bewegt. Das erste Ereignis will ich hier schildern.
Die Selbstverwaltung beschloss vor fünf oder sechs Jahren einstimmig, zusätzlich 5 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Fortbildungen und Umschulungen zu fordern, ohne zu sagen, woher die Mittel
kommen sollten. Daraufhin haben wir damals die Selbstverwaltung in den Ausschuss eingeladen. Die Kollegen,
die dabei waren, werden sich sicherlich daran erinnern.
Dort haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer - es waren die
gleichen, die einige Monate vorher in der Kanzlerrunde
beschlossen hatten, die Staatsquote zu senken und die Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent zu drücken weiterhin für die 5 Milliarden DM geworben, ohne zu sagen, woher die Mittel kommen sollten.
Ich habe damals gesagt: Es hätte nur noch gefehlt, dass
Frau Engelen-Kefer und Herr Dr. Himmelreich für die
Arbeitgeber die Sitzung Arm in Arm verlassen hätten.
({9})
- Schlimm ist, 5 Milliarden DM zu fordern.
Wir haben uns auch sehr darüber geärgert, wie die Vermittlung läuft. Heute können Sie in der „Bild“-Zeitung
nachlesen: Es wurde ein Koch gesucht und eine Küchenhilfe vermittelt. Dies stört uns schon seit langem. Wir haben schon damals daran gearbeitet.
Die Selbstverwaltung bei der Bundesanstalt ist nach
meiner Meinung von Übel. Norbert Blüm hat einmal erklärt: Gäbe es die Selbstverwaltung nicht, müsste sie erfunden werden.
({10})
Das ist sicherlich richtig, gilt aber nicht für die Bundesanstalt mit ihrer Drittelparität. Die Drittelparität führt
dazu, dass die drei Parteien schulterklopfend versuchen,
ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. So kann es beim
besten Willen nicht weitergehen.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Ich bin sofort am Ende.
Aber ich habe noch zwei Minuten Redezeit von meiner
letzten Rede übrig.
({0})
Wenn wir das alles
zusammenrechnen, dann können wir tagelang reden.
Ich bin sofort fertig. Ich
will dem Minister und Herrn Brandner nur noch sagen:
Alles, was wir seinerzeit gemacht haben, haben Sie fanatisch bekämpft. Sie haben den Untergang des Sozialstaates in Deutschland beschworen.
({0})
Die Bundesländer - Herr Andres, das haben Sie eben zu
Recht gesagt - haben damals mit 16:0 unsere Reformschritte abgelehnt, wohl aus dem Grunde, dass sie ihre
Landesarbeitsämter retten wollten. So geht es nicht weiter mit der Bundesanstalt für Arbeit. Sie hatten schon drei
Jahre lang Gelegenheit, daran zu arbeiten, dass es besser
wird.
({1})
Anstatt zu vertuschen, sollten Sie hier einmal sagen, was
Sie in dieser Frage bisher getan haben.
({2})
Herr Kollege Louven,
nun sind die zwei Minuten, die Sie noch gut hatten, auch
aufgebraucht - nur, dass Sie das wissen.
Jetzt hat die Kollegin Dr. Thea Dückert für Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
({0})
Jetzt kann jeder noch zwei Minuten länger reden. Ich
glaube aber, in den nachfolgenden Debatten wird man darüber nicht gerade begeistert sein.
Wir sind in der Aktuellen Stunde, meine Damen und
Herren. Die Kollegin Dückert hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube,
was ich zu sagen habe, kann ich kurz und präzise sagen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat gestern zu
Recht im Ausschuss bemerkt, dass die Bundesanstalt in
einer großen Krise steckt. Er hat, wie ich finde, ebenfalls
zu Recht bemerkt, dass er die Verantwortung dafür zu
übernehmen hat.
Es hat sich ein Riesendesaster aufgetan; das wissen wir
alle. Seit Jahren waren die Statistiken falsch, waren die
Vermittlungsergebnisse falsch. Seit Jahren übrigens gab
es Anzeichen dafür, dass das so ist, zum Beispiel in der Innenrevision. Es ist aber nichts erfolgt.
({0})
Es gab - das wurde eben angemerkt - 1998 eine diesbezügliche „Panorama“-Sendung. Der Kollege Blüm als damals zuständiger Minister hat darauf nicht reagiert.
({1})
Es ist aber auch in der Bundesanstalt für Arbeit nichts unternommen worden. Das, was dort angemerkt worden ist,
ist dort noch heute Struktur. Das ist das Problem.
({2})
Das Problem sind nicht die Zahlen selbst. Es ist für einen Arbeitslosen völlig egal, ob er in der Statistik auftaucht oder nicht. Das Problem ist doch, dass diese
falschen Zahlen zu einer falschen Struktur und Ausrichtung in der Bundesanstalt für Arbeit und auch zu falschen
Orientierungen in der Politik geführt haben.
Kurz: Mit diesem Desaster hat sich aufgetan, dass ein
Riesenreformbedarf an Haupt und Gliedern in der Bundesanstalt für Arbeit, aber auch in der Arbeitsmarktpolitik
besteht. Sie muss neu bewertet werden. Das Vertrauen in
die Arbeit der Bundesanstalt für Arbeit ist in den letzten
Wochen sehr erschüttert worden. Ich denke, dass es für einen effektiven Neuanfang - der notwendig ist - richtig ist,
dass Herr Jagoda gestern gesagt hat - davor habe ich
großen Respekt -, dass er einem Neuanfang nicht im
Wege stehen will, weil das Vertrauen in die Arbeit der
Bundesanstalt wichtig ist. Zu Recht hat er nach einer fairen Lösung verlangt; denn die Rechtskonstruktion der
Bundesanstalt für Arbeit, die wir heute haben, ist eigentlich unmöglich.
({3})
Diese Konstruktion muss geändert werden. Es kann nicht
sein, dass Beamte auf Zeit an der Spitze sitzen.
Wir brauchen eine Reform. Das ist aber auch eine
große Chance.
({4})
Es ist ungeheuer spannend, was sich da entwickeln wird.
Es wird eine Reform sein, die ein modernes Verwaltungssystem entstehen lassen muss. Es wird die Chance zu einer effektiven Arbeitsvermittlung sein. Ziel muss es ganz
klar sein, eine schlagkräftige Arbeitsvermittlung ins Zentrum zu stellen. Ziel muss es sein, eine klare Kundenorientierung zu installieren. Ziel muss es sein, dass Vermittlung Priorität erhält.
({5})
Es ist auch möglich, diese Reform dazu zu nutzen, die
innovativen Potenziale in der Selbstverwaltung wieder
zum Leben zu erwecken. Diese Potenziale sind verschüttet und wurden nicht richtig genutzt. Ich sage hier deutlich: Der Vorstand, der laut Gesetz das Exekutivorgan ist,
hat in den letzten Jahren viel zu viel an sich vorbeilaufen
lassen. Auch das muss geändert werden.
Wir brauchen eine langfristig wirkende Reform. Die
Arbeit daran wird uns lange begleiten. Wir brauchen insgesamt Kurzfrist-, Mittelfrist- und Langfriststrategien.
Als Erstes müssen - das ist meine feste Überzeugung ein oder zwei Unternehmensberater in der Bundesanstalt
für Arbeit alles noch einmal auf den Kopf stellen. Die
Bundesanstalt ist von sich aus nicht in der Lage, dies zu
leisten.
({6})
Zweitens müssen wir die örtliche Ebene stärken. Dieses Desaster haben ja nicht die überlasteten Arbeitsvermittler verschuldet. Sie brauchen Hilfestellung. Die örtliche Ebene muss gestärkt und es muss umgeschichtet
werden. Die Behörde insgesamt ist vollkommen falsch
aufgebaut.
({7})
Die örtliche Ebene braucht auch mehr Vermittler. Darüber
hinaus muss auf der örtlichen Ebene die Zusammenarbeit
mit den Privaten gestärkt werden. Die Privaten müssen
schneller und effektiver arbeiten können.
({8})
- Das haben wir schon immer gesagt.
({9})
- Aber Herr Louven, die Grünen haben ins Job-Aqtiv-Gesetz eingebracht, dass die privaten Vermittler heute überhaupt eine Möglichkeit sind,
({10})
und dass die Arbeitslosen - im Moment erst ab dem sechsten Monat - einen Anspruch auf private Vermittler haben.
Wir wollen jetzt erreichen, dass die Arbeitslosen von Beginn an das Recht haben, zwischen privaten Vermittlern
und der Arbeitsverwaltung wählen zu können, weil wir
der Ansicht sind, dass auch an dieser Stelle Konkurrenz
das Geschäft belebt.
({11})
Zu Beginn habe ich gesagt, man könne das alles auch
sehr kurz zum Ausdruck bringen. Ich fasse zusammen:
Wir brauchen eine umfangreiche Reform. Wir brauchen
Entschlackung, Entbürokratisierung, Umstrukturierung,
neue Steuerungssysteme, klare Verantwortlichkeiten, Dezentralisierung und neue Controlling-Systeme. Auch sollten wir beim „Arbeitsamt 2000“ ein Moratorium einlegen.
({12})
Ich danke Ihnen.
({13})
Jetzt hat der Kollege
Dirk Niebel für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde, die die
Fraktionen beantragt haben, die die Bundesregierung
tragen, ist Bestandteil des frappierenden Ablenkungsmanövers, das wir mittlerweile seit drei Wochen in der
Öffentlichkeit erleben. Sie haben völlig Recht, dass der
Präsident der Bundesanstalt für Arbeit inhaltlich die Verantwortung für die Missstände in seinem Haus zu tragen
hat. Aber die politische Verantwortung liegt bei Ihnen,
Herr Arbeitsminister Riester.
({0})
Ich werde noch auf die strukturellen Punkte zu sprechen
kommen; aber diese Personalie muss zuvor angesprochen
werden.
Die Zuordnung der politischen Verantwortung begründet sich aus mehreren Gesichtspunkten. Der einfachste ist
der Blick ins Gesetzbuch, der in aller Regel die Rechtsfindung erleichtert. In § 283 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches III steht:
({1})
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung kann Art und Umfang sowie Tatbestände und
Merkmale der Statistiken und der Arbeitsmarktberichterstattung näher bestimmen und der Bundesanstalt entsprechende fachliche Weisungen geben.
({2})
Das bedeutet im Endeffekt, dass Sie für die Statistiken
und für deren Ausgestaltung verantwortlich sind.
({3})
- Herr Andres, halten Sie mal einen Moment die Klappe
und hören Sie zu! Dann werden Sie eine Menge lernen
können.
({4})
Der zweite Grund, weshalb Sie politisch verantwortlich sind, Herr Minister Riester: Sie behaupten hier,
Bernhard Jagoda sei der böse Mann in der Bundesanstalt
für Arbeit, und reden sich damit heraus, dass es sich um
eine Altlast der vorherigen Regierung handele. Sie persönlich haben Ende 2000 die Amtszeit des Präsidenten der
Bundesanstalt für Arbeit verlängert. Es ist Ihre ureigene
Personalentscheidung gewesen, für die Sie hier die Verantwortung tragen müssen.
({5})
Die Affäre um die Vermittlungsstatistiken hat gezeigt,
dass das Bedingungsgefüge,
({6})
in dem die Vermittlerinnen und Vermittler der Bundesanstalt für Arbeit tätig sein müssen, offenkundig nicht den
Notwendigkeiten entspricht.
({7})
- Frau Präsidentin, ich bin ja nicht zart besaitet. Aber ein
bisschen Sachkompetenz -
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir kennen den Kollegen Niebel als einen
temperamentvollen Abgeordneten, der auch viele Zwischenrufe macht. Dennoch bitte ich darum, dass er hier in
Ruhe reden kann, wenn er das Wort erhalten hat.
({0})
Genau deswegen sollten Sie sich
einmal kompetente Äußerungen von jemandem anhören,
der das alles hautnah erlebt hat.
Ich sage Ihnen, Herr Staatssekretär Andres: Bemerkenswert ist nicht der Sachverhalt, den wir hier diskutieren, sondern die Dimension. Die Dimension liegt in den
rechtlichen Rahmenbedingungen, die von der Politik geschaffen werden. Der Arbeitsminister hat ein Haus mit
fast 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügung. Die Skandale, die zwei Wochen vor der Bundestagswahl aufgedeckt worden sind, die die alte Regierung
zu verantworten hat,
({0})
sind in dreieinhalb Jahren von keinem Mitarbeiter dieser
fast 1 000 Menschen umfassenden Behörde erkannt worden. Das kann doch wohl nicht wahr sein!
({1})
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder haben die alle
geschlafen - dann gehören sie abgelöst. Oder sie haben
bewusst nicht gehandelt - dann gehören sie auch abgelöst.
({2})
Staatssekretär Tegtmeier, der unter der alten Regierung
für die Arbeitsmarktpolitik zuständig war, ist auch unter
der neuen Regierung für die Arbeitsmarktpolitik zuständig. Es gibt eine Kontinuität der handelnden Personen. Er
hat das Ganze nicht gemerkt. Er trägt die politische Verantwortung und er muss gehen.
({3})
Unabhängig davon braucht die Bundesanstalt für Arbeit strukturelle Erneuerungen: Das bedingt die Notwendigkeit der Abschaffung der Landesarbeitsämter, die im
Wesentlichen keine eigenen Fachaufgaben haben. Das bedingt eine deutliche Stärkung der Vermittlerinnen und
Vermittler innerhalb der Behörde, die mit knapp 10 Prozent der Belegschaft im operativen Geschäft eindeutig
unterrepräsentiert sind. Das bedingt eine deutliche Stärkung der privaten Arbeitsvermittlung. Hierfür schlagen
wir ein Gutscheinsystem vor. Der Pressesprecher des Ministers hat unseren Antrag gestern mitgenommen. Ich fordere ihn eindringlich auf: Schreiben Sie soviel wie möglich davon ab! Schreiben Sie von mir aus „SPD“ oder
„Bundesregierung“ darüber. Aber das sind wegweisende
Vorschläge.
({4})
Es bedingt aber auch die Abschaffung der drittelparitätischen Selbstverwaltung. Denn dieses Konglomerat
an Besitzstandswahrern aus Arbeitgeberfunktionären, aus
Gewerkschaftsfunktionären und aus öffentlicher Hand
({5})
hat ein fundamentales Interesse daran, dass sich überhaupt nichts ändert. Mit der vorgespiegelten hohen Effizienz sind auch die hohen finanziellen Mittel in dieses
System gepumpt worden. Die größten Bildungsträger in
Deutschland sind das BFW des DGB, das Bildungswerk
der deutschen Wirtschaft und eine „Arbeitslosenindustrie“ von fast 28 000 Bildungsträgern, die alle das Geld im
System haben wollen. Das gilt auch für die öffentliche
Hand, weil jeder, der sich in einer Maßnahme befindet,
nicht in der Arbeitslosenstatistik auftaucht.
({6})
Darüber hinaus haben die Arbeitgeber mit Freude gerade die sozialdemokratische Gesetzgebung genutzt, um
ihre Personalentwicklungskosten zu sozialisieren. Die
Gewerkschaften haben mit Freude die Maßnahmenvielfalt genutzt, weil mehr Arbeitslose den Druck der eigenen Mitgliedschaft auf strukturelle Reformen erhöht hätten.
Jetzt ist eine historische Chance, die Sie wieder verspielen, weil Sie nicht den Mut haben, tatsächlich voranzugehen, und weil Sie alles das, was ich hier sage, Herr
Riester, persönlich denken, meinen und für richtig halten.
Aber Sie trauen sich nicht, es zu sagen. Es ist Zeit, dass
Sie gehen, wenn Sie sich nicht durchsetzen können.
({7})
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Dr. Klaus Grehn für die PDS-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe die Aufregung nicht. Die Statistik, egal, ob Sie sie auf diese oder
jene Art führen, schafft nicht einen einzigen Arbeitsplatz.
Sie hilft nicht einem einzigen Arbeitslosen. Sein Los wird
dadurch nicht verbessert.
Allerdings möchte ich anmahnen, dass hier korrekt
unterschieden wird. Es kann nicht sein, dass der
Schwarze Peter einer bestimmten Einrichtung zugeschoben wird. Das Fairplay gebietet meines Erachtens, dass
sowohl das Bundesarbeitsministerium als auch die Regierungskoalition ihre Verantwortung bei diesem Thema
anerkennen.
({0})
Ich ermahne Sie: Wie lange haben wir von Ihnen gefordert, dass Sie die grundlegende Reform des SGB III
durchführen? Drei Jahre lang haben Sie sie nicht durchgeführt. Sie, Herr Bundesarbeitsminister, haben noch im
Februar auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung verkündet - ich zitiere, was Sie dort gesagt haben -:
({1})
Eine große Reform der Arbeitsförderung ist in dieser
Legislaturperiode weder machbar noch wünschenswert.
Genau dort liegt das Problem.
Was passiert nun, meine Damen und Herren? Ich weiß
nicht, ob bei Ihnen schon Betroffene waren, Arbeitsvermittler oder auch Arbeitslose. Die Arbeitsvermittler sind
völlig verunsichert. Sie fühlen sich zu Unrecht kritisiert.
Warum? Weil sie unter dem Umstand gehandelt haben,
dass es einen weiten Vermittlungsbegriff gegeben hat, der
durch den Gesetzgeber und durch die Selbstverwaltungsgremien legitimiert war. Sie haben danach gehandelt. Nun
fällt ihnen das auf die Füße und es wird ihnen der
Schwarze Peter zugeschoben.
({2})
Herr Staatssekretär Andres, es gibt die zweite Seite: die
Betroffenen, die der Meinung sind, die Vermittler hätten
ihnen mit der falschen Statistik Arbeitsplätze vorenthalten. Sie gehen jetzt rasant auf die Vermittler zu, damit sie
dies korrigieren und damit sie ihre Arbeitsplätze erhalten.
Genau das tritt ein. Das heißt, das soziale Klima in den Arbeitsämtern, das ohnehin schon belastet ist, wird noch
schlechter.
Die hohen Vermittlungszahlen - das sage ich dem Bundesarbeitsminister genauso wie Ihnen - sind seit Jahren
bekannt. Aber niemand - außer einem kleinen Teil der
Fachwelt - hat sich dafür interessiert.
({3})
- Ja, ich habe es gewusst. Ich habe die Zahlen gekannt,
Herr Andres. Ich habe sie zur Kenntnis genommen.
Die Hinweise der Betroffenen sind nicht für voll genommen worden. Die konsequente Umsetzung des Konzeptes Arbeitsamt 2000 ist nicht erfolgt und die Bescheidenheit bei der Verwaltungsmodernisierung und der
neuen Steuerung hat zu dem Punkt geführt, an den wir
jetzt gelandet sind. Wir sind zum Beispiel vom österreichischen Leitbild eines Arbeitsmarktservices Welten
entfernt. Man kann sich das einmal ansehen; wir schauen
ja immer gern ins Ausland. Die Arbeitsverwaltung steht
vor grundlegenden Fragestellungen, die weder durch eine
andere Organisation noch durch platte Privatisierungsforderungen und erst recht nicht durch personelle Opfer beantwortet werden können.
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Situation von
Beschäftigung haben sich seit 1990 dramatisch und nachhaltig verändert. Die politische Steuerung dieses Prozesses hat sich aber auf alte Konzepte verlassen; genau das
ist das Problem. Die politische Verantwortung dafür ist
auf allen Ebenen zu tragen. Das Problem der fehlenden
Arbeitsplätze für mehr als 5,5 Millionen Arbeitssuchende
ist in dieser Debatte nahezu vergessen, als wenn es nur um
die Statistik ginge. Das Los der Betroffenen wird nicht dadurch verbessert, dass die Statistik so oder so geführt wird.
Wer Lösungen will, muss die Betroffenen einbeziehen.
Ich mahne dies nachdrücklich an. Es ist unerträglich, dass
Menschen, die nie in ihrem Leben arbeitslos waren und
die es nie werden, im stillen Kämmerlein festlegen, was
man gegen Arbeitslosigkeit tun sollte. Ich meine, es ist an
der Zeit, bei der Lösung der strukturellen Probleme und
der Steuerungsprobleme die Gruppe der Betroffenen mit
einzubeziehen.
({4})
Fragen Sie sich selber, wie weit wir davon entfernt sind.
Ich denke beispielsweise an die Selbstverwaltungsorgane.
Warum sind dort die Betroffenen nicht vertreten?
Was ist zu tun? Die notwendigen Handlungsspielräume für einen problemgerechten Politikansatz müssen
geschaffen werden. - Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Der Stau bei der schwierigen Verzahnung der Arbeitsmarktpolitik und anderer Politikbereiche wie
regionaler Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik muss aufgelöst werden. Die Bundesanstalt muss auf ihre eigentlichen Aufgaben zurückgeführt werden. Sie muss entschlackt werden von all dem, was ihr zusätzlich
aufgebürdet worden ist.
({5})
- Ich würde Ihnen gerne ein paar nennen, aber meine Redezeit ist bereits überschritten, Herr Andres. Ich würde
gerne mit Ihnen ein Gespräch führen, in dem ich Ihnen die
Einzelheiten erkläre; ich mache das sogar kostenlos und
nicht auf Honorarbasis.
({6})
Ich erteile jetzt dem
Bundesarbeitsminister Walter Riester das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war gut, dass sich gestern zwei Ausschüsse des Parlaments mit den Vorwürfen in Bezug auf
die Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit beschäftigt haben. Es war eine gute und wichtige Diskussion. Sie hat vor allem eines deutlich gemacht: Das Ganze
ist nicht nur ein Statistikproblem.
({0})
- Es ist in der Tat auch ein Führungsproblem. Da haben
Sie Recht.
({1})
Es ist ein Problem, das tiefgreifender und größerer Reformschritte bedarf, Reformschritte, die schnell angegangen werden müssen, um zu einer kunden- und wettbewerbsorientierten Dienstleistung auf dem Arbeitsmarkt zu
kommen. Wir brauchen dazu in der Tat einen inhaltlichen
Neuanfang. Wir müssen ihn schnell angehen.
({2})
Zu dem inhaltlichen Neuanfang wird die Bundesregierung sehr schnell ihre Position einbringen und dort, wo es
möglich ist, noch in dieser Legislaturperiode gesetzliche
Änderungen auf den Weg bringen.
({3})
Dies ist wichtig, um die Vermittlungsoffensive, die wir
gestartet haben, zugunsten der Arbeitslosen auch umzusetzen. Das haben sie verdient und das haben auch all diejenigen verdient, die sich offensiv in diese Vermittlung
einbringen.
({4})
Meine Damen und Herren, wir brauchen dazu in der
Bundesanstalt für Arbeit auch einen personellen Neuanfang. Wir werden ihn nicht mit dem bisherigen Präsidenten durchführen. Wir werden schnelle, aber auch faire Lösungen finden. Ich darf Ihnen sagen: Ich habe den
bisherigen Präsidenten nie öffentlich kritisiert. Das sage
ich in aller Öffentlichkeit.
({5})
- Sehen Sie, da kam gerade der Vorwurf. Ich weiß um sein
Engagement und um die Ursachen. Ich weiß aber auch,
dass der Schritt der Erneuerung mit ihm nicht durchzuführen ist.
({6})
Darüber haben wir uns verständigt. Das ist eine faire
Lösung.
({7})
Die Beratungen in den beiden Ausschüssen haben aber
Weiteres gezeigt. Ich bin froh, dass der Vizepräsident des
Bundesrechnungshofs klar festgestellt hat, dass die Vorgehensweise des Arbeitsministeriums nicht nur zügig, schnell
und klar war, sondern dass nichts zu beanstanden war.
({8})
Des Weiteren habe ich auch begrüßt - ich komme
gleich auf Ihren Vorwurf zu sprechen, Herr Niebel -, dass
der Vizepräsident des Bundesrechnungshofs festgestellt
hat: Die Fachaufsicht - für die hier zu behandelnden Fragen gilt nämlich die Fachaufsicht - liegt nicht beim Arbeitsministerium, sondern bei der Bundesanstalt für Arbeit.
({9})
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie die Landesarbeitsämter abschaffen wollen. Ich habe auch gelesen,
dass Sie darin angeführt haben, die Fachaufsicht für die
Statistik liege bei den Landesarbeitsämtern.
({10})
Wie Sie dann dazu kommen, mit einer solchen Chuzpe auf
mich zu zeigen, ist ungeheuerlich.
({11})
Nun komme ich zu einem weiteren Punkt, Herr Niebel.
Mir liegen alle Schuldzuweisungen fern. Wenn ich aber
lese, dass Sie als ehemaliger Arbeitsvermittler mit der
flapsigen Aussage zitiert werden: „Nach den Erlassen bin
ich nie gegangen und offensichtlich viele meiner Kollegen auch nicht“,
({12})
muss ich darauf hinweisen, dass der Bundesrechnungshof
gerade dies kritisiert.
({13})
Es kann ja sein, dass Sie Erlasse nicht gejuckt haben. Aber
die Chuzpe zu haben, hier auf mich zu zeigen, ist unverschämt.
({14})
- Nein, Niebel ist nicht das Problem, aber er signalisiert
eine wirklich ungerechte Kritik, die hier geäußert wird.
Er, der sich selbst so verhalten hat, ist der Letzte, der hier
mit dem Finger auf andere zeigen sollte.
({15})
Meine Damen und Herren, wir alle sollten als Politiker
sehr vorsichtig sein, auf die Bundesanstalt für Arbeit zu
zeigen. Denn zu Recht wird gesagt, dass die Politik der
Bundesanstalt über Jahrzehnte hinweg Aufgaben übertragen hat, bei denen es sich um reine Verwaltungsaufgaben
handelt. Den Schuh müssen wir uns alle anziehen. Ich
nehme mich davon auch nicht aus.
({16})
Aber der Vorwurf, die Bundesanstalt leiste nur Verwaltungsarbeit, ist kühn.
Wir müssen Konsequenzen ziehen. Ich versichere Ihnen: Was ich dazu einbringen kann, werde ich auch tun.
Die Beschäftigten brauchen Entlastung, sodass sie frei
sind, sich auf ihre Kernaufgaben zu konzentrieren, nämlich Arbeit zu vermitteln und arbeitslosen Menschen mit
Beratung und Qualifikation zu helfen.
({17})
Ich halte viele der geäußerten Kritikpunkte nicht nur
für gerechtfertigt, sondern auch für hilfreich. Aber das,
was mich im Moment ungeheuer bewegt, ist die Sorge um
zwei Gruppen, die in hohem Maße verunsichert sind. Die
erste Gruppe sind die Arbeitssuchenden und die Unternehmer. Wir müssen alle Kräfte einsetzen, um die Vermittlungsoffensive, die diesen Menschen und bei der Besetzung offener Arbeitsstellen helfen soll, zum Erfolg zu
führen. Der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit, der
hier schon massiv kritisiert worden ist
({18})
- in einigen Punkten zu Recht -, hat wichtige Vorschläge
für eine Neukonzeption, für eine Umorientierung eingebracht. Diese müssen schnell umgesetzt werden. Auch wir
werden Vorschläge einbringen, die es dem Gesetzgeber
ermöglichen, dies zu beschleunigen.
Es gibt aber - das bewegt mich fast noch mehr - eine
zweite Gruppe, die verunsichert ist. Das sind die Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit.
({19})
Die über 80 000 in der Arbeitsverwaltung tätigen Menschen
- auf die Zahl wird jetzt immer wieder hingewiesen erbringen Dienstleistungen für Menschen, die sich in einer ganz schwierigen Situation befinden. Zu ihnen kommen Menschen, die händeringend Arbeit suchen. Zu ihnen kommen aber auch Menschen, die große soziale
Probleme haben und deren Umgangsformen nicht immer
ganz vornehm sind. Sie haben also einen ganz schwierigen Job. Es ist ganz wichtig, ihnen zu vermitteln, dass die
Vorwürfe, die jetzt zu Recht erhoben werden, nicht auf ihr
Handeln zurückzuführen sind.
({20})
- Hören Sie endlich mit Ihren Pöbeleien auf! Damit schaden Sie den Menschen noch mehr!
({21})
Deswegen werde ich am kommenden Montag mit
Arbeitsamtsdirektoren aus dem ganzen Bundesgebiet darüber sprechen, wie die entstandene Verunsicherung beseitigt werden kann, wie wir die Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit motivieren können, weiter ihre wichtige
Aufgabe zu erfüllen und den bevorstehenden notwendigen Reformprozess zusammen mit uns zu gestalten.
({22})
Wir werden Reformen nicht gegen, sondern nur mit den
Beschäftigten der Bundesanstalt für Arbeit durchführen.
Herzlichen Dank.
({23})
- Gott sei Dank!
({24})
Das Wort hat nun der
Kollege Wolfgang Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Herr Kollege
Singhammer, warten Sie bitte noch einen Moment. - Herr
Kollege Niebel, wir alle sind es zwar von Ihnen gewohnt,
dass Sie viele Zwischenrufe machen. Aber ich darf mir die
Empfehlung erlauben, dass Sie Ihre Zurufe manchmal etwas gedämpfter machen sollten, weil sie ansonsten wirklich stören.
({0})
Ich glaube, das gilt für das gesamte Plenum.
({1})
Herr Kollege Singhammer, Sie haben das Wort.
Verehrte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für die
CDU/CSU-Fraktion erkläre ich hier: Wir wollen die Arbeitslosigkeit und nicht die Statistik bekämpfen.
({0})
Aber richtig ist auch: Ohne gesicherte statistische Grundlagen kann ein gezielter Kampf gegen die Arbeitslosigkeit
nicht gelingen. Wir müssen nun feststellen, dass seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland eine offizielle
Statistik noch nie in einem solchen Ausmaß gefälscht
worden ist wie die über die Vermittlungstätigkeit der Bundesanstalt für Arbeit. Nicht einmal ein Drittel der 3,8 Millionen Vermittelten, die angegeben worden sind, sind
tatsächlich „richtig“ vermittelt worden.
Es kommt aber noch schlimmer - Sie, Herr Minister,
haben das bereits angesprochen -: Die Mitarbeiter der
Bundesanstalt für Arbeit sind demotiviert. Nach Presseberichten herrscht in den Amtsstuben Chaos. Es gibt bereits Auflösungserscheinungen. Ich sage an dieser Stelle,
Herr Minister: An Ihrer persönlichen Integrität habe ich
keinerlei Zweifel. Aber Sie können sich nicht aus der politischen Verantwortung stehlen. Sie können nicht einfach
nur den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit vorschicken. Sie können natürlich auch nicht nur auf die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesanstalt
verweisen. Auch ich zolle den rund 90 000 Mitarbeitern
der Arbeitsverwaltung großen Respekt, die unter schwierigsten Bedingungen Arbeitsplätze vermitteln müssen,
weil die politischen Rahmenbedingungen nicht stimmen.
Sie müssen das Ganze ausbaden.
Jetzt komme ich auf Ihre politische Verantwortung zu
sprechen, Herr Minister. Es gibt vier Punkte:
Erstens. Herr Minister, Sie haben bis heute keine Erklärung dafür geben können, warum flächendeckend und
systematisch Unrichtigkeiten in den Statistiken aufgetreten
sind, und zwar in den Statistiken aller Arbeitsämter, von
Kempten bis Kiel und von Cottbus bis Castrop-Rauxel.
Zweitens. Sie, Herr Minister, haben mit ruhiger Hand
zugelassen, dass in einer Bürokratiewelle sondergleichen
ständig neue Erlasse aufgetürmt wurden, die die Mitarbeiter nicht mehr bewältigen konnten.
Drittens. Sie, Herr Minister, haben nichts unternommen, als die Bundesanstalt mit Runderlass vom 10. Dezember 1999, dann vom 21. Juli 2000 und vom 13. Juli
2001 den Vermittlungsbegriff immer unschärfer gefasst
hat, statt umgekehrt den Begriff sehr viel schärfer zu fassen.
Viertens. Sie, Herr Bundesminister, haben auch Warnungen und Hinweise der Europäischen Union nicht ernst
nehmen wollen. Erst vor wenigen Wochen hat die Europäische Kommission im Rahmen der koordinierten Beschäftigungstrategie an das Bundesministerium fünf
Empfehlungen gerichtet. Unter anderem wird Deutschland - gemeint ist Rot-Grün ({1})
empfohlen, die Effizienz der aktiven Arbeitsmarktpolitik
zu steigern und die Steuer- und Sozialabgabenlast zu verringern. Deshalb können Sie, Herr Minister, nicht einfach
zur Tagesordnung übergehen.
Was ist notwendig? In aller Kürze: Übereinstimmung
herrscht, dass wir einen Neuaufbau brauchen. Aus unserer Sicht ist zunächst eine Aufgabenkonzentration auf das
Wesentliche nötig; das bedeutet, die Bundesanstalt muss
sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Dann bedeutet das, dass das Job-Aqtiv-Gesetz natürlich - da hätte
ich jetzt gerne eine Auskunft von Ihnen, Herr Minister, gehabt ({2})
nicht wie vorgesehen einfach weiterlaufen kann
({3})
und 3 000 Vermittler eingestellt werden.
({4})
Vielmehr muss innerhalb der Arbeitsverwaltung eine Umschichtung vorgenommen werden und Mitarbeiter müssen von der Verwaltung in die Vermittlung umgesetzt
werden. Das ist doch nahe liegend.
({5})
Der Umbau der Arbeitsämter muss auch eine Effizienzsteigerung zum Ziel haben. Wir müssen den Mitarbeitern
in den Arbeitsverwaltungen mehr Selbstbewusstsein vermitteln.
Ganz wichtig ist - das müssen Sie schnell anpacken -,
endlich den Vermittlungsbegriff sauber zu definieren,
und zwar erfolgsorientiert, damit diese Unrichtigkeiten
zukünftig nicht mehr auftreten können. Letztendlich muss
in dem Zusammenhang auch die Verzahnung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angepackt werden. Wir
brauchen Wettbewerb und Kooperation mit den privaten
Arbeitsvermittlern. Selbstverständlich muss auch die bisherige Form der Selbstverwaltung auf den Prüfstand.
Herr Minister, Sie haben viel zu tun. Sie haben viel Zeit
verstreichen lassen. Uns fehlt das Vertrauen, dass Sie das
in den verbleibenden Monaten noch bewältigen können.
({6})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Werner Schulz für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
wenn wir unterschiedliche Rezepte verfolgen, Kollege
Singhammer, halte ich es für unredlich, wenn Sie einer
Seite in diesem Haus unterstellen, dass sie nicht bemüht
sei, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Hier fängt die Diffamierung an, die dann bis zu der Sündenbocksuche geht,
die Sie beklagen.
Es mag, wie gesagt, unterschiedliche Rezepte geben,
über die wir streiten können. Aber die Krise der Bundesanstalt für Arbeit ist - da gebe ich Ihnen Recht - kein Statistikskandal und kein Ablenkungsmanöver, sondern
zeugt von einem unglaublichen Versagen der Politik in
dieser Republik insgesamt.
({0})
Diese Krise ist ja nicht plötzlich entstanden. So möchte
ich den Kollegen Julius Louven, der sagt, er habe die Bundesanstalt für Arbeit immer kritisch gesehen, fragen, was
er denn in der Zeit getan hat, wo er das kritisch gesehen
hat.
({1})
Die Bundesanstalt für Arbeit ist doch nicht in den letzten
drei Jahren entstanden. Es ist doch, um das einmal etwas
unverblümt zu sagen, nicht allein das Problem von Herrn
Riester, das wir hier haben.
({2})
Die Zustände, die in der Bundesanstalt für Arbeit festgestellt worden sind, sind vielmehr ein Problem der Politik
insgesamt.
Ich sage Ihnen: Niemand, der sich in den letzten
15 Jahren damit beschäftigt hat, hat das Ausmaß dieses
Skandals, dieser Krise, dieser Täuschung, dieser Selbsttäuschung, dieser Trickserei, dieser Fehlleistungen und
dieser Ineffizienz in diesem Ausmaß geahnt.
({3})
Niemand! Sonst hätten Sie, Herr Kollege Niebel, das doch
längst hier offen gelegt. Sie hätten doch längst diese Missstände angeprangert. Das habe ich von Ihnen so aber nicht
gehört.
({4})
In den vergangenen Jahren hat sich im Grunde genommen eine Mammutanstalt entwickelt, die längst von der
Selbstverwaltung zur Selbstbeschäftigung übergegangen
ist. Es gibt inzwischen ein größeres ökonomisches Interesse am Erhalt dieser Strukturen und an der Ausweitung
dieser Behörde als an einer effizienten Vermittlung. Vor
diesem Problem stehen wir heute.
({5})
Man kann sich - ich sage das vor dem Hintergrund
meiner Erfahrungen - nur immer wieder wundern, wohin
es führt, wenn man eine planwirtschaftliche Methodik
oder planwirtschaftliche Vorgaben anwendet. Sie, Kollege Grehn, müssten als ehemaliger Oberassistent der
Gewerkschaftshochschule bestens wissen, was passiert,
wenn man solche planwirtschaftlichen Methoden anwendet. Dieses Vorgehen erinnert mich sehr stark an die Autoproduktion in der DDR: Jeder Fünfjahresplan sah eine
Steigerung vor und gleichzeitig wurden die Wartelisten
immer länger. Die staatliche Plankommission und die Bezirksplankommission arbeiteten mit immer mehr Tricks.
({6})
Ein ähnliches Problem haben wir jetzt.
({7})
- Die sind aber nicht so ineffizient wie die der Großkombinate, Frau Fuchs. Darin liegt das Problem.
Die vollständige, rückhaltlose Aufklärung ist wichtig.
Uns helfen keine vorschnellen Verurteilungen, keine Patentrezepte und keine flotten Schuldzuweisungen, wie sie
jetzt aus dem Boden schießen.
Ich glaube, dass es auch notwendig ist, sich gegenüber
denjenigen, die bisher als Drückeberger und als arbeitsunwillig angesehen worden sind, zu entschuldigen. Denn
wie soll jemand Arbeit finden, wenn die Vermittlung nicht
funktioniert? Das ist ein Problem, das uns alle angeht.
Wir können diese Krise als Chance nutzen, wie es so
schön heißt. Wir können in der Bundesanstalt für Arbeit
eine Reform an Haupt und Gliedern vornehmen. Wir können - um das deutlich zu sagen - das Ganze vom „Kropf“
auf die Füße stellen.
({8})
Mit einem neuen Kopf voll neuer Reformideen - ({9})
- Ihre Ideen kenne ich. Sie werden uns in eine Sackgasse
führen. Darum geht es nicht.
Es geht im Grunde genommen um Wettbewerb bei der
Vermittlung, um Outsourcing, um Ausgliederung, um
Wegnahme von Aufgaben. Es haben sich viele Aufgaben
angestaut und viele sind hinzugekommen. Durch politische Entscheidungen wurden der Bundesanstalt für Arbeit
weniger zweckdienliche Aufgaben übertragen. Das ging
schon unter Norbert Blüm los und hat im Grunde noch
nicht aufgehört.
({10})
Wir haben Grund genug, jetzt einen Schnitt zu machen.
Ich bin davon überzeugt, dass das, was der Bundesarbeitsminister vorgestellt hat, in die richtige Richtung geht.
Die Bundesregierung wird das in den nächsten Monaten
schaffen. Auch ohne Ihre Hilfe.
({11})
Das Wort hat nun der
Kollege Norbert Blüm für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Das Spiel, das hier gespielt
wird, ist leicht zu durchschauen. Zu Beginn der Legislaturperiode hat
Der Aufschwung ist mein Aufschwung; Aufschwung heißt
Schröder. Am Ende der Legislaturperiode soll der Abschwung Jagoda heißen. So ist es.
({0})
Das Problem der Massenarbeitslosigkeit ist kein statistisches Problem. Es ist ein Problem der fehlenden Arbeitsplätze.
({1})
Selbst wenn die Statistik perfekt und alle Arbeitslosen
wild auf Arbeit wären, hätten wir noch Massenarbeitslosigkeit. Dafür ist auch die Politik verantwortlich.
({2})
Man kann immer besser werden. Ich will Versagen und
Fehler ja nicht abstreiten. Aber wenn Sie schon über Statistik sprechen: Die größte Irreführung ist Ihre Beschäftigungsstatistik. Sie suggerieren einen Beschäftigungsaufbau, der nur dadurch zustande kommt, dass Sie die Anzahl
der Beschäftigten neu zählen. Das ist eine Irreführung der
Öffentlichkeit.
({3})
Es bleibt dabei: Ich bin für eine Verbesserung der Statistik, für eine Verbesserung der Vermittlung. Aber die Arbeit ist das Wichtigste. Wir müssen uns auf Arbeitsplätze
für alle konzentrieren, und zwar Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politik.
({4})
Was die Vergangenheit anlangt: Ich rede nicht gern
über Vergangenheit. Aber ich frage Sie, lieber kräftig dazwischen schreiender Kollege Andres: Ist Ihr Gedächtnis
noch intakt? Als wir die private Arbeitsvermittlung einführten, haben Sie - Schreiner, Dreßler und die ganze
SPD - den Untergang des Sozialstaates verkündet.
Stimmt das oder stimmt das nicht?
({5})
Ich habe etwas dagegen, dass sich die Bremser von
gestern heute als Erfinder des Gaspedals vorstellen.
({6})
- Ich habe nicht nur darin Recht. Nehmt zu Protokoll:
Andres gibt mir Recht. Das ist schon ein Erfolg.
Die Forderungen nach Dezentralisierung und mehr
Bewegungsspielraum für die Bundesanstalt für Arbeit haben wir doch erfüllt. Vor Ort spielt die Musik. Die Verhältnisse sind in Frankfurt an der Oder anders als in
Frankfurt am Main. Deshalb braucht man mehr Bewegungsspielraum. Unser Gesetz, der Innovationstopf, mit
dem man frei und kreativ schaffen kann, wurde nicht einmal genutzt. Das ist doch kein Versagen des Gesetzgebers
von 1997, das ist ein Versagen der Politik.
({7})
Ich bin nach wie vor ein Anhänger der Selbstverwaltung. Aber das sind mir ja schöne Helden. Der Arbeitgebervertreter spricht vor 14 Tagen dem Jagoda das Vertrauen aus und lässt heute über die Presse mitteilen, dass
er sein Vertrauen nicht mehr hat.
({8})
Wetterfahnen sind das. Mit denen kannst du keine Arbeitslosigkeit bekämpfen.
({9})
Zur privaten Arbeitsvermittlung sage ich: Ich bin dafür.
Macht ruhig ein bisschen Luft und Wettbewerb. Das Problem wird sie jedoch nicht lösen. Sie hat in einem Jahr gerade einmal 130 000 Arbeitslose vermittelt. Sie wird sich
nicht um die schwer Vermittelbaren kümmern, weil die für
sie nicht rentabel sind. Sie wird nicht flächendeckend sein
und kann deshalb die Vermittlung durch die Arbeitsämter
auch nicht ersetzen, wiewohl Wettbewerb ganz nützlich ist.
({10})
Reden wir auch noch einmal über die Finanzierung von
Fortbildung und Umschulung, weil Fortbildung und Umschulung auch für die Vermittlung wichtig sind und qualifiziertere Arbeitslose leichter vermittelt werden können.
Aber es geht nicht, dass die Beitragszahler die Fortbildung und Umschulung bezahlen und die privaten Vermittler absahnen. Reden wir mal Tacheles, liebe Leute.
({11})
Werner Schulz ({12})
Zum Schluss will ich noch etwas zu meinem Freund
Jagoda sagen - nicht nur, weil er mein Freund ist -: Er ist
ein anständiger, zuverlässiger, sozial engagierter Mann,
auf den ich nichts kommen lasse.
({13})
Er hat in der Bundesanstalt viel geleistet. Ich denke an die
Modernisierung, an die Einführung der EDV und an das,
was er im Zusammenhang mit der deutschen Einheit geleistet hat. Ohne den Aufbau der Arbeitsverwaltung - er
war damals als Staatssekretär zuständig für 12 000 neue
Mitarbeiter, von denen 9 000 nie das Arbeitsförderungsgesetz gelesen hatten -, ohne die Arbeit der Arbeitsämter
wäre es zu einem Dammbruch gekommen. Die Wiedervereinigung hätte im Westen stattgefunden. Es ist an der
Zeit, der Bundesanstalt für Arbeit und vielen ihrer engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einmal öffentlich Dank zu sagen und nicht ständig Dreck über sie auszukübeln.
({14})
Ich erwarte vom Bundesarbeitsminister, dass er Fehler
nicht vertuscht - die müssen beseitigt werden -, dass er
sich aber auch vor die vielen Mitarbeiter stellt, die sich
wirklich engagieren. Die sind nicht schuld daran, dass die
Arbeitsplätze fehlen. Ich kann Ihnen eine Adresse nennen:
Eine Adresse heißt Schröder. Daran sollten wir denken
und darüber sollten wir heute diskutieren. Das würde sich
lohnen.
Das war es.
({15})
Nun hat die Kollegin
Erika Lotz das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere wichtigste Aufgabe ist es,
offene Stellen und Arbeitslose so schnell wie möglich zusammenzubringen. Deshalb muss die Politik die Möglichkeit haben, die Effizienz der eingeleiteten Maßnahmen zu überprüfen. Wir brauchen die Datenlage und diese
Datenlage muss stimmen, weil die Politik sie für ihre Entscheidungen braucht.
({0})
Ich will die Feststellungen des Bundesrechnungshofes
über die Effizienz der Arbeitsvermittlung nicht schönreden. Offenbar ist über viele Jahre ein Bild der Vermittlungstätigkeit gemalt worden, welches nur zum Teil richtig war. Es war Minister Riester, der sofort gehandelt hat.
({1})
Das ist gestern im Ausschuss eindeutig festgestellt worden.
({2})
Die Feststellung der Vertreter des Bundesrechnungshofes
lautete: Schnellstmöglich, gründlich und vor allem sachlich ist darauf reagiert worden.
Verehrte Kollegen von der Opposition, Ihre Reaktionen sind natürlich wieder populistisch. Ich bitte Sie,
Ihre erhitzten Gemüter etwas abzukühlen. Ich möchte Sie
eindringlich davor warnen, die öffentlich-rechtliche Arbeitsvermittlung gar zerschlagen zu wollen, wie es aus
manchen Äußerungen herauszuhören war.
Herr Kollege Blüm hat noch einmal etwas zur privaten
Arbeitsvermittlung gesagt. Das konnte man auch heute im
Berliner „Tagesspiegel“ lesen. Ich stimme Ihnen, Herr
Kollege Blüm, in vielen Dingen nicht zu. Die Feststellung
bezüglich der privaten Arbeitsvermittlung ist aber richtig.
Man konnte heute lesen, dass sie keine „Wunderwaffe gegen Arbeitslosigkeit“ ist, dass „schwer vermittelbare Arbeitslose dabei in die Röhre schauen und dass sich mit ihnen für die privaten Vermittlungen kein rentables
Geschäft machen lässt, weil sie viel Zeit und Geld kosten
und zu wenig Vermittlungsgebühr einbringen“.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich sage
Ihnen auch: Fassen Sie sich bitte einmal an die eigene
Nase! Nach allem, was sich abzeichnet, sind die Missstände nicht zu Zeiten unserer Regierung entstanden.
({3})
Dies geht weit zurück. Sie alle haben allen Grund, mit
Forderungen und Verdächtigungen sehr vorsichtig zu
sein.
({4})
Dass es in der Bundesanstalt für Arbeit viele engagierte
Mitarbeiter gibt, demonstriert letztendlich das Schreiben,
das ein Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit - ein ehemaliger Revisor - dem Minister übersandt hat. Warum hat
er es denn jetzt an Minister Riester
({5})
und nicht schon früher an Sie, Herr Blüm, gesandt? Das
frage ich mich. Eine Frage ist auch, warum der Präsident
und der Vorstand die innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit zweifellos vorhandene Kenntnis nicht hatten, dass die
Statistik über die Arbeitsvermittlungen geschönt ist und
offenbar schon immer geschönt wurde.
({6})
Hier scheint es eine Mauer zu geben. Die Antwort, warum
dies so ist, muss gefunden werden.
Dass aber ausgerechnet der Abgeordnete Niebel als
ehemaliger Arbeitsvermittler - der sich ja in einem Zeitungsinterview dazu bekannt hat, sich um Erlasse aus
Nürnberg nicht geschert zu haben - jetzt die Schuld bei
Minister Riester sucht, ist an Unverfrorenheit nicht zu
überbieten.
({7})
Lieber Herr Kollege Niebel, warum haben Sie, der Sie
doch offenbar Kenntnis davon hatten,
({8})
dies der vorherigen Regierung, zum Beispiel Ihrem Kollegen Kolb als ehemaligem Regierungsmitglied, nicht
mitgeteilt?
({9})
Mit Schnellschüssen und vorschnellen Urteilen kommen wir aber nicht weiter.
({10})
Reformen sind notwendig und sie sind von uns auch gemacht worden. Ich sage noch einmal: Mit dem Job-AqtivGesetz gehen wir einen guten Weg. Das sind Reformen,
die von uns auf den Weg gebracht wurden.
({11})
Die Arbeitsämter vor Ort müssen mehr Entscheidungskompetenz erhalten. Hier helfen uns Statistiken nicht
weiter. Wir müssen im Sinne der Arbeitslosen und im
Sinne der hoch motivierten Mitarbeiter der Bundesanstalt
für Arbeit zu einer schnellen Effizienzkontrolle der jeweiligen Maßnahmen kommen. Unser Job-Aqtiv-Gesetz
weist den Weg in die richtige Richtung.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihnen
fällt zu diesem Thema nichts anderes ein, als das alte Lied
von der Deregulierung des Arbeitsmarktes zu singen, als
ob zum Beispiel durch den Abbau des Kündigungsschutzes Arbeitsplätze entstehen würden.
({12})
Auch das Stutzen der Arbeitnehmerrechte durch Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes führt nicht dazu.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang die Lektüre des Buches „Arbeit poor“ von
Barbara Ehrenreich eindringlich empfehlen.
({0})
Die Journalistin nahm für ihre Recherche Billigjobs in
den USA an. Ich empfehle es Ihnen eindringlich und ich
sage Ihnen: Dies ist nicht unser Weg.
({1})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Gerald Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundesarbeitsminister Riester, der jetzt knapp dreieinhalb Jahre im
Amt ist, hat vorhin von dieser Stelle aus schnelle Reformschritte und, was die Verfassung der Bundesanstalt für Arbeit anbelangt, einen grundlegenden inhaltlichen Neuanfang gefordert. Warum merkt dieser Mann das erst jetzt? Es
ist ein Mangel seiner Politik, erst so spät zu dieser Erkenntnis gelangt zu sein. Bei allen politischen Fragestellungen, die unangenehm sind, reklamiert er Nichtwissen.
Auch Nichtwissen hat man politisch zu vertreten, denn
dann hat man den Informationsprozess falsch organisiert.
Ins gleiche Horn stößt der Kollege Schulz. Er sagt, wir
müssten jetzt outsourcen, mehr Wettbewerb und neue
Rahmenbedingungen schaffen. Frau Kollegin Lotz sagt,
wir bräuchten bessere Datenlagen, bessere Informationen,
eine bessere Verzahnung. Ich sage: Vor allem brauchen
wir mehr Jobs, damit es Arbeit zu vermitteln gibt.
({0})
Wir müssen die Arbeitslosigkeit bekämpfen und die Beschäftigung fördern.
Sie versuchen mit dieser Aktuellen Stunde - Aktuelle
Stunden fallen ja nicht vom Himmel - eine Inszenierung.
Sie wollen mit einem Nebenthema vom Hauptthema ablenken. Das Hauptthema ist das totale Versagen Ihrer
Regierung und Ihres Arbeitsministers bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Verbesserung der Beschäftigungssituation in Deutschland.
({1})
Aber auch beim Nebenthema haben Sie politische Verantwortung, Herr Riester. Sie können nicht davon ablenken, indem Sie auf die Verantwortung eines leitenden
Beamten verweisen. Sie haben nicht nur die Rechtsaufsicht, sondern Sie haben - das ist hier herausgearbeitet
worden - als Fachminister die unmittelbare Verantwortung für den Rechtsrahmen der Bundesanstalt für Arbeit.
Dieser rechtliche Rahmen, haben Sie heute zu erkennen
gegeben, stimmt nach Ihrer Auffassung nicht. Sie sagten,
es müsse durchgreifende Reformen geben. Das stellen Sie
kurz vor Ultimo dieser rot-grünen Regierung fest! In Bezug auf das, was Sie vorhaben, haben Sie gestern den Hut
gezeigt, aber noch nicht die Kaninchen springen lassen.
({2})
Ganz grundlegende Dinge, die Ihr Vorgänger eingeleitet hat, sind nicht weitergeführt worden. Die vielen Gutwilligen in der Arbeitsverwaltung und in der Selbstverwaltung haben keinen Rahmen, in dem sie optimal
arbeiten könnten. Es gab Reformansätze, die in den letzten
Jahren eher verkümmert als weiterentwickelt worden sind.
Wir brauchen beispielsweise Anreize für die Mitarbeiter, etwa in Form eines Prämiensystems im Bereich der
Vermittlung - Prämien für Vermittlungsleistungen und
nicht fürs Älterwerden, wie es für den BAT typisch ist.
Wir brauchen eine Dezentralisierung, wie sie von der Vorgängerregierung begonnen worden ist. Sie ist übrigens
von Jagoda tatkräftig umgesetzt worden, muss aber sehr
viel konsequenter fortgeführt werden. Die Bundesanstalt
muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
({3})
Sie muss noch viel mehr Eigenverantwortung erhalten
und näher am Bürger etabliert werden.
Da hat der Kollege Schulz Recht: Wir müssen mehr
outsourcen,
({4})
wir müssen einen sauberen Wettbewerb für Dienstleistungen in der privaten Vermittlung - aber nicht nur dort organisieren, wo er nicht vorhanden ist, bzw. ihn verbessern. Das ist eine der entscheidenden Voraussetzungen
dafür, dass wir mit den knappen Ressourcen, die wir in der
Arbeitsverwaltung haben, eine größere Beschäftigungswirkung erzielen.
Dann brauchen wir mehr Dienstleistungsqualität und
Kontrolle statt Korporatismus. Wir brauchen mehr unabhängigen - ich betone: unabhängigen - statt interessengebundenen Sachverstand in den Kontrollgremien der
Bundesanstalt für Arbeit.
({5})
Das sind einige Ansatzpunkte für eine zunkunftsweisende Reform im System der Arbeitsverwaltung. Aber das
ist die kleinere Frage.
Die wichtigere Frage lautet, wie wir endlich die Arbeitslosigkeit besiegen können. Am Ende Ihrer Amtszeit
gibt es eine gigantisch große und skandalöse Horrorzahl:
({6})
4,3 Millionen Arbeitslose klagen an, dass es diese Regierung nicht geschafft hat. Davon wollen Sie mit Inszenierungen wie der heutigen ablenken.
({7})
Nun hat die Kollegin
Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Blüm, Recht haben Sie. Ich
hätte Ihnen beinahe eine Beitrittserklärung herübergereicht, da wir bei Ihrer Rede Grund zum Klatschen hatten. Ihre Kollegen aber haben sich nicht in der Lage gesehen, Sie zu unterstützen.
Es ist richtig: Auch Strukturen und Berichtswesen der
Arbeitsämter gehören auf den Prüfstand. Wenig hilfreich
sind aber Beschimpfungen und Verunglimpfungen der
Beschäftigten in den Arbeitsämtern. Die Medien leisten
dieser Entwicklung Vorschub, indem sie von „Beton“ und
„Betrug“ reden, wie es gestern im ZDF der Fall war. Wir
sollten uns alle hier im Hause vor solchen Beschuldigungen hüten - das sage ich auch zu Herrn Niebel, der ja
schon selber diesbezüglich ein wenig nachgeholfen hat ({0})
und nicht von Fälscherwerkstätten bei den Arbeitsämtern
reden und die Arbeitsvermittler und Arbeitsberater nicht
generell zu Sündenböcken abstempeln.
({1})
- Sie haben sich selbst geoutet, als Sie gesagt haben, wie
Sie sich als Vermittler bei der Beratung verhalten haben.
Das ist Ihre eigene Erklärung.
Ich empfehle Ihnen allen, in das in Ihrem Wahlkreis gelegene Arbeitsamt zu gehen und zu fragen, wie die Stimmung derzeit ist. Ich habe das gestern getan. Die Kollegen
dort sagten, dass die Stimmung noch nie so mies war und
dass sie noch nie so schlimm von ihren Kunden - sprich:
von den Arbeitslosen - beschimpft worden sind.
({2})
- Ich will erst einmal diesen Punkt abarbeiten.
Diese Entwicklung wurde ausgelöst durch Ihre unreflektierten Äußerungen, die zeigen, wie Sie mit dem
Bereich Arbeitsamt umgehen. Es gibt Arbeitslose, die
ihren Berater mit den Worten „Na, Sie Betrüger“ begrüßen. Das sind schlechte Voraussetzungen für den
Start und für die erfolgreiche Umsetzung des Job-AqtivGesetzes.
({3})
Die Vermittlung soll eine zentrale Bedeutung bekommen.
Wir alle, auch Sie als Opposition, sollten ein Interesse daran haben, dass die Vermittlungsschiene funktioniert.
Man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten
und die Selbstverwaltung sozusagen mit einem Schnellschuss an den Pranger stellen.
({4})
- Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Die Selbstverwaltung ist das am besten funktionierende Netzwerk, wenn
sie klug, intelligent und kreativ eingesetzt wird, um die
unterschiedlichsten Parteien zusammenzubringen.
({5})
Gerald Weiß ({6})
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen. Wir haben
in Baden-Württemberg einen ausgehandelten Tarifvertrag
zur Beschäftigung, zur Sicherung und zur Qualifizierung.
Im Verwaltungsausschuss des Arbeitsamts in Stuttgart
sitzt der Vertreter von Bosch als Personalverantwortlicher. Auf der anderen Seite gibt es einen Vertreter von
den Gewerkschaften und von den Firmen. Wenn diese
Leute ihren Kopf einmal bemühen würden, dann könnten
sie mithilfe des Arbeitsamtes und mithilfe unseres JobAqtiv-Gesetzes dafür sorgen, dass un- und angelernte Kolleginnen und Kollegen, die von Arbeitslosigkeit bedroht
sind, in eine Qualifizierungsoffensive eingebunden werden. Die regionalen Selbstverwaltungsgremien müssen die
Aufgaben vor Ort konstruktiv und kreativ angehen.
Ihre Vorstellung von Selbstverwaltung war nie meine
Vorstellung. Ich war selbst Mitglied der Selbstverwaltung
({7})
und habe sie heftig genervt, weil ich die Anforderung an die
Arbeitsämter gestellt habe, ihre gesetzlichen Möglichkeiten kreativ umzusetzen. Das wird die Aufgabe der Selbstverwaltung sein. Ihre Vorstellung über die Selbstverwaltung - Sie sitzen vielleicht dort, lehnen sich zurück und
kassieren eine Aufwandsentschädigung - ist nicht meine.
({8})
Ich kann Ihnen ein Beispiel meiner Tätigkeit nennen.
Das Arbeitsamt Nagold war immer eine Männerdomäne.
Was mussten die armen Männer in diesem kleinen Arbeitsamt, in dessen Bereich die Arbeitslosenquote immer
ganz unten war, schließlich tun? Sie mussten den ersten
Frauengleichstellungsbericht erstellen. Das haben sie
gerne gemacht, weil sie endlich gefordert wurden.
Es wird ein zentraler Punkt sein, dafür zu sorgen, dass
die vorhandenen Netzwerke nicht leichtfertig aufs Spiel
gesetzt werden, dass die Selbstverwaltung ein zentrales
Element bleibt und dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst ist.
({9})
Ein zweiter Punkt, den ich wichtig finde und den man
an dieser Stelle einordnen sollte: Herr Niebel, Sie sprechen
sehr schnell von Privatisierung; bei der CDU/CSU gibt es
ähnliche Töne. Was bewirkt denn zum Beispiel in BadenWürttemberg die Privatisierung? Ich erinnere nur an BSE.
Sind denn private Labore wesentlich besser als amtliche?
({10})
Von wegen! An dieser Stelle muss man sehr genau darauf
achten, wer was kann. Wie können wir in dem schwierigen Geschäft der Arbeitsvermittlung einen Kompetenzwettbewerb organisieren?
({11})
Wer hat das entsprechende Know-how und Equipment,
um Vermittlungsbemühungen vernünftig und erfolgreich
auf den Weg zu bringen?
({12})
Gestern hat Herr Laumann - er ist leider nicht anwesend - mit tränengerührter Stimme darauf hingewiesen,
wie gering die Vermittlungsquoten seien. Ich empfehle Ihnen einen Aufsatz vom Wissenschaftszentrum in Berlin.
Die europäischen Vermittlungsquoten von öffentlichen
Ämtern liegen schlichtweg bei 30 Prozent. Alle weiteren
Vermittlungen erfolgen über Freunde, Unternehmen und
sonstige soziale Netzwerke.
({13})
- Nein, Herr Niebel, die Vermittlungsquote. Sie sollten
ein bisschen mehr lesen. Zu lesen, bevor man plappert, tut
manchmal ganz gut.
({14})
Im internationalen Durchschnitt liegen wir so schlecht
nicht. Wir sollten also genau hinschauen und nicht sofort
einen großen, überspannten Bogen machen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und die Geduld.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerd Andres.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst feststellen, dass ich großen Respekt vor Norbert Blüm habe,
auch davor, wie er hier für seinen Freund Bernhard Jagoda
eingetreten ist. Lieber Norbert, ich habe ausdrücklich
eingeräumt - das nimmt man in der Echauffiertheit oft
nicht wahr -, dass die SPD damals bei der Entscheidung
über die Zulassung der privaten Arbeitsvermittlung Nein
gesagt hat. Aber ich nehme für mich, so wie ich das auch
anderen zubillige, in Anspruch, hinzulernen zu können.
Eine Behauptung kann ich überhaupt nicht bestätigen
- darauf will ich gleich einmal hinweisen -, nämlich die,
dass wir diese Aktuelle Stunde beantragt hätten, um abzulenken. Es geht nicht um Ablenken. Ich will einmal die
Tatbestände festhalten: Im Januar 1998 lag die registrierte
Arbeitslosigkeit bei 4,82 Millionen Menschen.
({0})
Im Januar dieses Jahres lag sie unter 4,3 Millionen. Das
ist eine halbe Million weniger. Dies sage ich, damit Sie
beim Rechnen immer wissen, worum es geht.
({1})
Was die Befunde zur Vermittlungsfähigkeit angeht, gibt
es in der Zwischenzeit Untersuchungen in 15 Arbeitsämtern, bei denen festgestellt worden ist, dass rund 36 Prozent
aller Arbeitsvermittlungen nicht nachvollziehbar sind. Das
ist ein außerordentlich ernster Tatbestand. Allein das Zutagetreten dieses Tatbestandes hat der Bundesanstalt für Arbeit und ihrer Tätigkeit unendlich geschadet. Wer ein wenig der Historie nachgeht - auch der darf man nicht
ausweichen -, der muss zur Kenntnis nehmen, dass wir seit
einer ganzen Reihe von Jahren eine Vermittlung von über
3 Millionen Arbeitslosen haben. Im Jahre 1998, Herr ehemaliger Arbeitsminister, haben wir übrigens eine Steigerung der Vermittlungen von knapp 350 000 gehabt.
({2})
- Ich kann Ihnen sagen, wie die zustande kommen: Das
kommt durch die Steigerung von ABM und SAM in jenem Jahr. Denn wenn Sie die 300 000, die Sie in diesem
Zusammenhang zusätzlich ermöglicht haben, mit einbeziehen, dann kommen Sie bei der Vermittlung exakt auf
diese Größenordnung.
Aber das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist
- das sollte auch die Öffentlichkeit wissen -, dass es vorher seitens des Bundesrechnungshofes keine Untersuchung über Vermittlungsaktivitäten gegeben hat. - Das ist
Punkt eins.
Punkt zwei ist, dass der Revisor Bixler mitgeteilt hat,
dass er die ersten Untersuchungen in den Jahren
1993/1994 begonnen und im Jahre 1997 - hören Sie gut
zu: 1997 - eine sehr umfassende Untersuchung über
Rheinland-Pfalz durchgeführt hat und dass es offensichtlich die Systematik gab, dass, je weiter Befunde nach
oben weitergegeben wurden, umso verschwommener die
Wahrnehmung wurde und umso mehr das Verhalten vorherrschte, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen oder sie im
weiteren Beratungsverfahren zu vergessen.
Deswegen gibt es eine ganz einfache Schlussfolgerung: Dafür muss jemand Verantwortung tragen.
({3})
Die Verantwortung hat derjenige zu tragen, der die Tatbestände kannte, mit diesen Tatbeständen umgegangen ist,
diese Tatbestände nicht an die Politik weitergegeben hat
und mit diesen Tatbeständen weder Vorstand noch
Verwaltungsrat der Bundesanstalt jemals befasst hat.
({4})
Damit das völlig klar ist: Dies ist kein Land der organisierten Verantwortungslosigkeit. Am Schluss wird festgestellt, dass jemand dafür die Verantwortung hat.
({5})
- Ich sage es Ihnen so, wie es ist. Sie können ruhig dazwischenschreien; das ist mir völlig egal.
Ich komme nun auf die Mitarbeiter zu sprechen. Ich
habe eine herzliche Bitte und die will ich auch so äußern.
In der Arbeitsverwaltung gibt es ganz viele sehr engagierte Mitarbeiter.
({6})
Es gibt viele Arbeitsvermittler, die sich krumm legen. Es
gibt viele, die mit der entwickelten Systematik, die ja irgendwie ein Komment im Haus gewesen sein muss,
nichts zu tun haben. Ich sage ausdrücklich, dass wir von
der Regierungskoalition uns unmittelbar und nahtlos hinter diese Mitarbeiter stellen.
({7})
Klar muss aber auch sein: Wenn es einen solchen Tatbestand gibt, dann muss der schnellstmöglich abgestellt
werden. Wir haben schon Schlüsse gezogen. Wir werden
alles daransetzen, das Job-Aqtiv-Gesetz umzusetzen. Wir
werden notfalls auch kurzfristig Gesetzesveränderungen
vornehmen.
({8})
Diese kurzfristigen Veränderungen sind möglicherweise
auch notwendig. Ich füge hinzu: Der Vorstand hat schon
entsprechende Schlussfolgerungen, die in die richtige
Richtung gehen, gezogen.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen. In einer solchen Krise gibt es die Chance für einen Neubeginn - Sie
werden ganz schnell merken, dass wir sie auch nutzen
werden -, aber in einer solchen Krise zeigen sich auch
diejenigen, die es schon immer besser gewusst haben. Ich
habe nachgelesen, was Herr Gerhardt, der große Arbeitsmarktfachmann, oder Herr Niebel in den letzten Wochen
geliefert haben. Die haben sich sogar öffentlich gestritten. Der eine war für, der andere gegen die Selbstverwaltung.
({9})
Dazu kann ich nur sagen: Das kann man unter dem Begriff
Zwergenwerfen abbuchen. Ich habe auch mitbekommen,
was Herr Brüderle und andere von sich gegeben haben.
Angesichts dessen empfehle ich Ihnen ganz dringend: Sie
müssen nicht all Ihre ideologischen Ladenhüter, die Sie
schon immer mit sich herumgeschleppt haben, herausholen
({10})
und den Versuch unternehmen, die Bundesanstalt für Arbeit oder die Arbeitsvermittlung insgesamt zu schleifen.
Das werden wir - das sage ich, damit das völlig klar ist nicht mitmachen!
({11})
Sie werden auch keine Chance haben, Ihre Vorstellungen
zu realisieren.
Ich habe die herzliche Bitte an alle Verantwortlichen in
der Politik und in der Bundesanstalt für Arbeit - das geht
insbesondere an die Mitarbeiter und an die Gewerkschaften -, sich notwendigen Veränderungen nicht zu verschließen, sondern diesen Veränderungsschritt mitzugehen, auch als Beschäftigter der Bundesanstalt für Arbeit,
weil nur darin die Chance liegt, die Effizienz und Wirksamkeit der Bundesanstalt für Arbeit zu verbessern und
etwas dafür zu tun, reale Vermittlungen und nicht virtuelle
Zahlen zu bekommen.
Ich füge hinzu: Wir werden auch alles tun, um alle Privaten oder Sonstigen, die Vermittlung leisten können, mit
einzubeziehen. Das ist das Gebot der Stunde und das werden wir auch umsetzen.
Danke.
({12})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie Zu-
satzpunkt 5 auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Dr. Sigrid
Skarpelis-Sperk, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({1}), Andrea Fischer
({2}), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Zugang der Zivilgesellschaft zur WTO-Minister-
konferenz in Doha, Katar, gewährleisten
- Drucksachen 14/5805, 14/7900 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Erich G. Fritz, Gunnar Uldall, Wolfgang
Börnsen ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Stärkung des freien Welthandels durch neue
WTO-Runde
- Drucksachen 14/5755, 14/7924 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Brigitte
Adler, Klaus Barthel ({6}), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-
geordneten Kristin Heyne, Annelie Buntenbach,
Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung eines fairen und nachhaltigen Han-
dels durch eine umfassende Welthandelsrunde
- Drucksachen 14/7143, 14/7925 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Lötzer, Petra Pau, Ulla Jelpke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Neoliberale Globalisierung - kein Sachzwang
- Drucksachen 14/6889, 14/7899 Berichterstattung:
Abgeordnete Erich G. Fritz
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwicklung und Wohlstand durch mehr Mut
zur Marktöffnung
- Drucksache 14/8272 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Bundesminister Werner Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ministerkonferenz von Doha war in mehrfacher
Hinsicht ein großer Erfolg. Nach dem 11. September war
es von eminenter politischer Bedeutung, dass die Weltgemeinschaft unbeirrt an der termingerechten Eröffnung der
Konferenz festgehalten und darüber hinaus die Konferenz
auch noch zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht hat.
Eine Delegation von Mitgliedern dieses Hohen Hauses
konnte sich vor Ort von dem politischen Grundkonsens
aller beteiligten Staaten und von dem erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen überzeugen.
Die Konferenz war vor allem auch ein Meilenstein auf
dem Weg zu einer gerechten Aufteilung der Chancen
zwischen den armen und den reichen Ländern. Sie war
ein erster Schritt in Richtung einer besseren politischen
Gestaltung der Globalisierung. Zudem hat durch die Aufnahme von China und Taiwan das regelbestimmte Welthandelssystem jetzt wirklich universelle Geltung erreicht.
Auch um die schnelle Aufnahme von Russland und den
Beitritt einiger arabischer Länder zur WTO werden wir
uns weiterhin bemühen.
Die Übereinkunft von Doha war angesichts der weltweiten Konjunkturschwäche das richtige Zeichen der Zuversicht und des Vertrauens.
({0})
Wir erwarten von dieser neunten Handelsrunde vor allem
im Interesse unserer Beschäftigung eine weitere nachhaltige Marktöffnung und Zollsenkung für Industrieerzeugnisse. Bei den Dienstleistungsverhandlungen werden wir
insbesondere auf weitere Liberalisierung der uns besonders interessierenden Sektoren, zum Beispiel der Finanzdienstleistungsmärkte, drängen. Gleichzeitig werden wir
sorgfältig darauf achten, dass die berechtigten Schutzbedürfnisse in sensiblen Bereichen der Daseinsvorsorge,
zum Beispiel im Bildungs- und im Gesundheitsbereich,
berücksichtigt werden.
({1})
Kritische Stimmen, die meinten, dass das WTO-System als Folge des Debakels von Seattle, das etliche von
denen, die hier anwesend sind, gemeinsam erlebt haben,
insgesamt infrage gestellt sein würde, haben nicht Recht
behalten. Im Gegenteil: Seit Doha ist klar, dass ein weltweites Interesse besteht, das System multilateraler Handelsregeln auszubauen und weiterzuentwickeln. So ist
zum Beispiel neu, dass nunmehr auch über den umweltpolitischen Rahmen der Globalisierung verhandelt werden wird. Im Bereich der Kernarbeitsstandards und der
Arbeitnehmerrechte konnte bedauerlicherweise noch kein
richtiger Durchbruch erreicht werden. Es ist jedoch - darauf komme ich noch - einiges erreicht worden. Immerhin hat die Internationale Arbeitsorganisation auf hoher
Ebene eine Arbeitsgruppe zur Behandlung der sozialen
Folgen der Globalisierung eingesetzt.
Die Konferenz in Doha hat nicht nur das gestiegene
Selbstbewusstsein, sondern auch die größere Bedeutung
der Entwicklungsländer gezeigt. Sie haben den Konferenzablauf und auch das Konferenzergebnis durch ihr
zahlenmäßiges Gewicht - rund drei Viertel der WTOMitglieder sind Entwicklungsländer - und durch ihr koordiniertes Auftreten maßgeblich mitgestaltet. Dabei
muss man wissen, dass die WTO mit ihren über 140 Mitgliedern in der Abstimmung dem Einstimmigkeitsprinzip
unterliegt.
Der Wille zur stärkeren Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft und zur besseren Berücksichtigung ihrer Belange zieht sich wie ein roter Faden durch
die Abschlusserklärung. Der Beschluss zum Zugang der
Entwicklungsländer zu patentgeschützten Arzneimitteln
ist ein weiterer Beweis für die wirksame Durchsetzung
der Interessen der Dritten Welt. Zu Recht werden daher
die Vereinbarungen von Doha auch als eine Entwicklungsagenda bezeichnet.
Die in Doha beschlossenen Verhandlungsinhalte sind
nur der Anfang. Die substanziellen Verhandlungen beginnen in diesen Tagen mit der Vorlage von inhaltlichen Forderungen. Das angestrebte Ziel, in nur drei Jahren alle
Themen abzuarbeiten und einen Konsens aller WTO-Mitglieder zu erreichen, ist sicherlich ein sehr ehrgeiziges
Ziel. Handel ist ein Austausch von Gütern und Leistungen
und damit ein Geben und Nehmen in beiderseitigem Interesse. Auch in den Verhandlungen werden daher Forderungen nur bei entsprechenden Gegenangeboten durchsetzbar sein.
Angesichts der gestiegenen Mitgliederzahl der WTO
wird von den großen Handelsmächten, insbesondere von
der EU und den USA, erwartet, dass sie in diesen Verhandlungen die Führungsrolle übernehmen. Mit der
Führungsrolle haben die USA und wir aber auch eine besondere Verantwortung übernommen. Die Wahrnehmung
dieser Verantwortung beiderseits des Atlantiks zeigt sich
vor allem darin, die Verhandlungen möglichst zu fördern
und sie nicht durch neue Handelskonflikte zu belasten. Ich
kann daher von dieser Stelle aus nur an die amerikanische
Regierung appellieren, keine WTO-widrigen Schutzmaßnahmen im Stahlbereich zu ergreifen.
({2})
Unilaterale Maßnahmen dürfen die neue Runde nicht gefährden. Solche neoprotektionistischen Maßnahmen werden unmittelbare Reaktionen bei der Europäischen Union
und anderen Handelspartnern auslösen und das Klima erheblich belasten.
Glaubwürdigkeit ist schließlich auch bei den Verhandlungen selbst gefragt. Die Doha-Agenda enthält Themen,
die auch für uns als Europäer politisch schwer umzusetzen sein werden. Ich denke hier vor allem an die Liberalisierung des Agrarbereiches. Die Verhandlungen sollten
daher auch von unserer Seite mit der erforderlichen Sensibilität und dem notwendigen Problembewusstsein geführt werden. Manche der neuen Themen wecken bei vielen kleineren WTO-Mitgliedstaaten Ängste und Sorgen
vor versteckten protektionistischen Absichten. Wer hier
erfolgreich sein will, muss gerade in der Anfangsphase
der Verhandlungen viel Überzeugungsarbeit leisten und
darauf achten, dass nicht der Eindruck entsteht, dass wir
die WTO mit sachfremden Themen überfrachten wollen.
Die erst 1995 geschaffene WTO blickt auf eine kurze,
aber außerordentlich erfolgreiche Vergangenheit zurück.
Mit der Konferenz von Doha wurden die notwendigen
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich dieser Erfolg
auch in einer globalisierten Zukunft fortsetzen wird.
Deutschland als zweitgrößte Exportnation dieser Welt
hat ein vitales Interesse am positiven Ausgang dieser Verhandlungen.
({3})
Ich will hinzufügen: Deutschland ist nicht nur eine der
großen Exportnationen auf diesem Globus; vielmehr wird
Deutschland dadurch, dass das Investment deutscher
Unternehmen im Ausland kontinuierlich steigt, auch
immer mehr in das internationale Wirtschaftsgeschehen
verflochten. Das Volumen des Investments deutscher Unternehmen im Ausland hat sich von 1990 bis zum Jahre
2000 vervierfacht, sodass wir nicht nur auf den Export in
Deutschland produzierter Waren, sondern zunehmend
auch auf den Umsatz deutscher Töchter im Ausland achten müssen. Es wird Sie vielleicht überraschen, wenn ich
sage: So wichtig, wie der Export insgesamt ist - das Volumen des Investments deutscher Töchter im Ausland ist
doppelt so groß wie das Volumen des gesamten deutschen
Exports in die Welt. Das hat dann beispielsweise bei dem
Thema Investitionen, Investitionsschutz, Investitionssicherheit Berücksichtigung zu finden. Auch dies ist ein
Thema, das in Doha besprochen wurde.
Mit dem Ergebnis von Doha bekennen sich die WTOMitglieder zu der Notwendigkeit, den freien Weltmarkt
durch einen an den Zielen von Kohärenz und Nachhaltigkeit orientierten multilateralen Ordnungsrahmen zu
flankieren. Ich will die wesentlichsten inhaltlichen Vereinbarungen aus der Ministererklärung kurz aufzählen:
Verhandlungsauftrag zur Verbesserung des Marktzuganges durch den Abbau von Industriezöllen; Verhandlungsauftrag zur Verbesserung des Marktzuganges bei Dienstleistungen; Verhandlungsauftrag zur Handelserleichterung
durch Beschleunigung der Zollverfahren; Verhandlungsauftrag zur Stärkung der WTO-Regeln über Anti-Dumping
und Subventionen; Verhandlungsauftrag im Umweltbereich zum Thema Verhältnis multilateraler Umweltabkommen zu WTO-Regeln und zur Verringerung von Handelsschranken für Umweltgüter und Umweltdienstleistungen.
Ich hatte es schon erwähnt: Bei der Frage der Sozialstandards wurde eine Formulierung gefunden, die zwar
aus unserer Sicht als noch nicht genügend beurteilt werden muss, die aber im Gesamtkontext des Verhandlungsergebnisses und angesichts der starken Bedenken der Entwicklungsländer als akzeptabel bezeichnet werden kann.
Die Formulierung der Ministererklärung lässt eine Zusammenarbeit der WTO mit anderen internationalen Organisationen zu, zum Beispiel im Rahmen der am 12. November
von der ILO-Arbeitsgruppe „Soziale Dimensionen und
Globalisierung“ beschlossenen Kommission hochrangiger
Persönlichkeiten.
Schließlich gibt es noch einen Verhandlungsauftrag zu
Investitionen und Wettbewerb, der allerdings in der
nächsten WTO-Ministerkonferenz im Jahre 2003 - der
fünften - noch einmal bestätigt werden muss.
Nun gilt es, all diese Vereinbarungen im Wege konkreter Verhandlungen vorwärts zu bringen und auszufüllen.
Darum wird sich die Bundesregierung auch weiterhin mit
allen Kräften bemühen. Ich bin sicher, dass die Opposition
der Regierung angesichts des bisher Erreichten und angesichts der bisher guten Zusammenarbeit auch vor Ort bei
den Verhandlungen weiterhin ihre Unterstützung geben
und den erzielten Erfolg grundsätzlich anerkennen wird.
({4})
Ich danke Ihnen für diese Unterstützung. Wünschen wir
uns allen weiteren Erfolg bei den nun beginnenden Verhandlungsrunden!
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten uns ja vorgenommen, das Parlament wieder zum Zentrum der Auseinandersetzung über die Gestaltung des weltweiten Handelssystems und der Globalisierung zu machen. Wenn ich
heute aber in die Reihen schaue, habe ich nicht das Gefühl, dass wir schon am Ziel unserer Bemühungen angelangt wären.
({0})
- Es ist ein langer Weg, die Regierung dazu zu bekommen, das Parlament in diesen Fragen tatsächlich ernst zu
nehmen, und dann auch noch das, was wir an Kohärenz
und Querschnittsarbeit zwischen den Ausschüssen brauchen, dadurch sinnfällig zu machen, dass alle Ausschussmitglieder bei einer solchen Debatte anwesend sind.
Meine Damen und Herren, wir haben vor über einem
Jahr, im Frühjahr 2001, den Antrag „Stärkung des freien
Welthandels durch neue WTO-Runde“ vorgelegt, um im
Vorfeld von Doha eine Debatte über dieses Thema führen
zu können. Auch die anderen Fraktionen haben dann Anträge gestellt. Die Anträge waren von unterschiedlichen
Ansätzen geprägt: Wir waren mehr für eine realistische
Sicht der Dinge, während die Koalitionsfraktionen in
ihrem Antrag mehr den Eindruck erweckt haben, man
könne das Weltordnungssystem mit einem Ruck erreichen.
({1})
Das zielte in Wirklichkeit natürlich nicht auf die Verhandlungen, sondern auf die innenpolitische Diskussion.
Wir stimmen in der Bewertung überein, wie sie der
Minister hier gerade vorgetragen hat. Auch wir halten
Doha für einen Erfolg, und zwar deshalb, weil es überhaupt gelungen ist, zu einem Ergebnis zu kommen. Nach
dem, was zuvor in Seattle passiert war, ist das der wichtigste Erfolg gewesen. Die Liberalisierung des Welthandels auf der einen Seite und die Entwicklung eines
multilateralen Ordnungsrahmens auf der anderen Seite
müssen jetzt eine neue Qualität bekommen.
Dass es möglich war, zu einem konsensfähigen Ergebnis zu kommen, zeigt, dass alle ein Interesse daran haben,
die WTO als eine der wenigen wirklich handlungsfähigen
internationalen Organisationen zu stärken und sie zu einem Instrument zu machen, das alle Mitgliedstaaten imBundesminister Dr. Werner Müller
mer mehr in gleicher Weise in das Geflecht des Welthandels einbezieht. Das ist heute ja noch nicht der Fall. Heute
gibt es höchst unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten und einige große Handelsmächte bestimmen das Konzert. Aber nach Seattle und vor allem in Doha ist deutlich
geworden, wie sehr sich jetzt die anderen organisieren. Es
ist nicht mehr zufällig, ob die Entwicklungsländer oder
die afrikanischen Länder als regionale Gruppe ihre
Stimme erheben, sondern dies wird organisiert. Das ist ein
Lichtblick, weil damit das Selbstbewusstsein der an den
Verhandlungen Beteiligten wächst, wodurch die Ergebnisse tragfähiger als in früheren Zeiten werden, als viele
meinten, sie würden über den Tisch gezogen.
Es war gut und richtig, dass die EU mit Realismus und
Kompromissbereitschaft in die Verhandlungen gegangen
ist und dass sie auch in Person von Herrn Lamy sehr viel
Arbeit und Kraft in die Kommunikation im Vorfeld der
Verhandlungen gesteckt hat.
Der Beschluss über die Einleitung einer neuen Welthandelsrunde zeigt aber gerade vor dem Hintergrund einer abgeschwächten Weltwirtschaft die Entschlossenheit
der WTO-Mitgliedstaaten, das internationale Handelssystem weiter auszubauen. Die TRIPS-Erklärung und die
WTO-rechtliche Absicherung der besonderen Beziehungen zu den AKP-Staaten durch den so genannten CotonouWaver zeigen, dass es eine Anerkennung dessen gibt, was
zwischen Europäischer Union und diesen Entwicklungsländern an besonderen Beziehungen besteht, und dass das
nicht WTO-feindlich ist. Ich meine, dass die Kritik der
Globalisierungsgegner und der Nichtregierungsorganisationen unberechtigt ist, die von mangelnder Berücksichtigung der Interessen von Entwicklungsländern sprechen.
Natürlich kann sich jeder Beteiligte immer noch mehr vorstellen. Wir konnten uns im Übrigen auch mehr vorstellen,
Herr Minister. Wir haben das ja an einigen Stellen dargestellt.
Ich halte in diesem Zusammenhang auch die Kernthese, die auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre wieder geäußert worden ist, für falsch, zumindest halte ich sie
für sehr einseitig, die da heißt, Handelsliberalisierung sei
im Interesse der reichen Staaten und der Multis und
schade den Entwicklungsländern, den Arbeitern und der
Umwelt. Dass das Bereiche beschreibt, die problematisch
sind und in denen etwas geschehen muss, wissen wir alle.
Aber in dieser Einfachheit stimmt das eben nicht. Ich
meine, dass das Welthandelssystem, die WTO, das Regelwerk für einen freien Welthandel eben nicht den Kleinen
schadet, sondern vielmehr die Macht der Großen beschränkt. Denn das multilaterale System ist ein System,
das nicht die Entscheidungen allein der Macht folgen
lässt, weil am Schluss der Kleine genauso viel zu entscheiden hat wie der Große, wenn es darum geht, Einstimmigkeit herzustellen.
Globalisierung ist auch nicht die Ursache für Armut.
Sie kann nachweisbar zu ihrer Überwindung beitragen,
wenn die Rahmenbedingungen weltweit in den einzelnen
Ländern stimmen. Da leidet an vielen Stellen die Entwicklungsmöglichkeit. Wir brauchen gegenwärtig nur
nach Argentinien zu schauen. Es ist ja nicht Schicksal,
was dort geschieht, sondern das ist durch falsche politische Entscheidungen herbeigeführt.
Dass Afrika oder, wie man einschränkend sagen muss,
viele afrikanische Länder heute weniger in das sich entwickelnde Handelssystem eingebunden sind, als sie das
noch vor 20 Jahren waren, hat interne Ursachen. Wenn Gerechtigkeit, wenn Gleichberechtigung, wenn demokratische Teilhabe der Menschen, wenn Freisetzung von wirtschaftlichen Möglichkeiten, Bildung usw. nicht vorhanden
sind, dann gibt es eben diese Möglichkeiten, an der Globalisierung teilzuhaben, nicht. Deshalb ist Entwicklungspolitik trotz des sich entwickelnden Handelssystems weiterhin nötig.
({2})
Globaler Wettbewerb - das muss man dazu sagen - legt
allerdings die Schwächen der Volkswirtschaften und der
politischen Entscheidungen auch ziemlich deutlich offen.
Schonungslos werden Fehler durch dieses System bestraft. Man muss also genau zwischen den Auswirkungen
der Globalisierung, der Unfähigkeit, daran mitzuwirken,
oder der Ausgrenzung durch falsche Rahmensetzungen
unterscheiden, an deren Überwindung wir ja arbeiten.
Ich wünsche mir von der deutschen Regierung in diesem Zusammenhang, dass sie die WTO noch mutiger gegen ihre Kritiker verteidigen würde. Ich würde mir sogar
wünschen, dass wir im Umweltbereich und im Sozialbereich ähnlich handlungsfähige und durchsetzungsfähige
Organisationen hätten wie im Handelsbereich. Dann wäre
vielleicht die Kohärenz international sehr viel einfacher
herzustellen, als das heute bei diesem Flickenteppich von
beteiligten Entscheidern der Fall ist.
Damit die Vorteile des Freihandels auch für alle Staaten
von Nutzen sein werden, bedarf es jetzt konstruktiver Zusammenarbeit und rascher Umsetzung. Denn die Verhandlungen beginnen erst. Bis jetzt haben wir nur den Auftrag.
Die technischen Voraussetzungen für die Verhandlungen
sind so weit abgeschlossen. Die Verhandlungsgruppen
sind eingerichtet, die Themenfelder abgesteckt. Berichtspflichten und Vorgehensweise des Leitungsgremiums sind
präzisiert. Die Vorsitze sind geklärt.
Das Mandat läuft bis 2005. Das ist eine kurze Zeit. Die
Bundesregierung muss alles tun, um diesen Prozess zu
begleiten und innerhalb der Europäischen Union dafür zu
sorgen, dass die Störfälle, die es immer wieder gibt, möglichst schnell und reibungslos beseitigt werden und dass
die konstruktive Atmosphäre aus Doha für die Verhandlungen erhalten bleibt.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie dann,
wenn demnächst für diese einzelnen Verhandlungsgruppen die europäischen Positionen beschrieben werden, das
unmittelbar auch zum Gegenstand der Diskussion im
Deutschen Bundestag macht. Wir wollen von Anfang an
daran beteiligt sein. Der Bundestag muss diese Diskussion führen, wenn der Prozess Akzeptanz in der Öffentlichkeit, in der Bevölkerung haben soll.
({3})
Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Staatssekretär Gerlach
gestern beim Berichterstattergespräch zugesichert hat,
diese Informationen sofort nach dem informellen Handelsministerrat in Toledo dem Bundestag zur Verfügung
zu stellen. Ich würde mich freuen, wenn wir die Gelegenheit hätten, dann auch öffentlich eine Diskussion darüber
zu führen, damit klar wird, dass der Gesetzgeber diesen
Prozess begleitet und dass er sich der Mühe unterzieht,
schon am Anfang darüber nachzudenken, welche Konsequenzen Verhandlungsergebnisse für die nationale Politik
haben. Jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass jede
Entscheidung, die als Abschluss auf dem Tisch liegt, Folgen für die nationale Gesetzgebung hat und Anpassungsleistungen von uns verlangen, die nicht alle gerne erbringen, weil sie zum Teil auch schmerzlich sein werden. Je
früher wir in der Lage sind, diesen Prozess zu begleiten,
desto besser ist es und desto größer wird die Akzeptanz
sein. Wenn die Entscheidungen hinterher immer nur als
Ergebnis nationaler Politik dastehen, die sozusagen unveränderlich irgendwie über uns gekommen sind, dann
dürfen wir uns nicht wundern, dass die Leute über die Ergebnisse der Globalisierungsprozesse frustriert sind.
Mit dem erfolgreichen Abschluss der WTO-Ministerkonferenz sind die WTO-Mitgliedstaaten einer zukunftsweisenden und nachhaltigen Gestaltung des Welthandelssystems einen großen Schritt näher gekommen. Ich
meine, damit müsste auch die Diskussion über diesen Prozess in Deutschland anders werden. Ich habe mich ziemlich geärgert, als ich zahlreiche Stimmen - insbesondere
aus den Reihen der Grünen - zu den Vorgängen in Genua
oder zu dem Weltwirtschaftsforum in New York hörte.
Der Zusammenschluss von Globalisierungsgegnern
mag eine wichtige Bewegung sein, die dazu führt, dass
richtige Fragen gestellt werden; ich will das gar nicht bestreiten. Aber ich halte es für falsch, als politisch Verantwortlicher zu sagen: Wir stellen uns auf die Seite der Globalisierungsgegner. Wir müssen auf der Seite der Globalisierungsgestalter stehen - das verlangen die Menschen von uns -, denn der Globalisierungsgegner hat noch
keine Alternative zu diesem Prozess.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss - Frau Präsidentin, ich
darf einige Minuten überziehen, weil mein Kollege kürzer als geplant geredet hat - noch einiges ansprechen, was
ich für sehr wichtig halte.
Herr Minister, über zwei Themen, nämlich „Handel
und Investitionen“ und „Handel und Wettbewerb“,
wird noch nicht unmittelbar verhandelt. - Sie können es
nachher im Protokoll nachlesen.
Herr Minister,
Sie werden gerade direkt angesprochen.
Zu einem internationalen
Ordnungsrahmen für Wettbewerb - ich nenne das internationale soziale Marktwirtschaft -, gehören diese beiden
Bereiche substanziell. Wenn sie nicht enthalten sind, ist
das System nicht perfekt und kann auch nicht perfekt werden. Über diese Komplexe wird - soweit die nächste
Ministerkonferenz wieder entsprechend beschließt - erst
nach dem Jahre 2003 verhandelt. Die Entwicklungsländer, die hier ursprünglich äußerst skeptisch waren, haben
sich nun darauf eingelassen, aber gesagt, dass Sie eine
mindestens zweijährige Studienphase brauchen. Ich befürchte, dass nach der Aufnahme der Verhandlungen dieser Teil vergessen wird. Wir müssen unbedingt, wie bei
der technischen Hilfe und bei der Bildung von Kapazitäten, für eine gleichberechtigte Beteiligung der Entwicklungsländer hinsichtlich des Know-hows sorgen.
({0})
Ich glaube, wir würden uns als Deutsche einen großen
Gefallen tun, wenn wir uns dieses Themas besonders
annähmen, nicht nur weil es für den Prozess selbst sehr
vorteilhaft wäre, wenn wir vorankämen und die Meinungsbildung beeinflussen könnten, sondern auch weil es
uns hoch angerechnet würde, wenn wir uns entsprechend
engagierten.
Noch einige Sätze zu China. Durch die Mitgliedschaft
Chinas ist die WTO hinsichtlich der Bevölkerung um ein
Viertel größer geworden. Wer mitbekommen hat, wie die
Chinesen den Umbau ihrer Wirtschaftsstruktur betreiben,
und ihre Position in Bezug darauf, was überlebensfähig,
was modernisierbar ist und wo man neu anfangen muss,
kennt, der weiß, dass wir in den nächsten 20, 30 Jahren
eine dramatische Veränderung der Warenströme auf dieser Welt erleben werden. Deshalb sollten wir den Beitritt
Chinas - so positiv er ist - zum Anlass nehmen, auch darüber nachzudenken, welche Konsequenzen wir aus dieser Tatsache ziehen müssen und welche Chancen und Risiken für uns daraus erwachsen werden.
Es ist positiv, dass der Minister gerade gesagt hat, er
wolle auch den Beitritt Russlands weiter unterstützen.
Russland ist für uns ein wichtiger Handelspartner und
wird es in der Zukunft noch stärker sein. Es ist nur von
Vorteil, wenn wir im gleichen System sind. Ich kann Sie
nur ermuntern, auf diesem Weg fortzuschreiten.
Von der Debatte sollte ein wichtiges Signal an die Öffentlichkeit ausgehen. Dieses Signal muss lauten: Die internationale Ordnungspolitik ist machbar und wird mit
Doha vorangebracht. Das geht aber nicht so schnell, wie
manche das wollen und wie es wünschenswert wäre. Das
ist bei mehr als 140 gleichberechtigten Partnern auch
nicht verwunderlich. Seien Sie aber so nett und lassen Sie
uns weiterhin hartnäckig daran arbeiten.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen und Herren! Immer mehr politische und ökonomische Fakten
werden auf der internationalen Ebene festgelegt. Zumindest auf den ersten Blick sind sie damit - das hat der Kollege Fritz eben bereits angesprochen - der Diskussion und
Entscheidung vor Ort entzogen. Die festgelegten Fakten
erscheinen dann als Sachzwang, der nicht zu beeinflussen, sondern lediglich hinzunehmen ist. Wenn davon zentrale Belange unseres Zusammenlebens betroffen werden,
dann produziert das Politikverdrossenheit, Hilflosigkeit
und einen Verlust an Demokratie, den wir nicht akzeptieren können und wollen.
Die eklatante Ungerechtigkeit, die die Wohlstandsgewinne durch die Globalisierung so verteilt, dass in einigen
Teilen der Welt der Reichtum, in anderen aber Krankheit,
Hunger und Armut zunehmen, ist schließlich nicht gottgewollt und unveränderlich, sondern Ergebnis menschlichen Handelns und damit durchaus veränderbar.
({0})
Allerdings wird dies - das muss ich trotz Asterix-Lektüre
zugeben - wohl nicht durch Luftanhalten zu erreichen
sein. Wir brauchen vielmehr handfeste politische Mittel
bzw. greifbare Instrumente, mit denen wir versuchen können, diese Entwicklung umzusetzen.
Bei der Frage, wie wir im Interesse der Menschen der
sozialen und ökologischen Orientierung im Globalisierungsprozess zu einem stärkeren Gewicht verhelfen und
wie wir Transparenz und Demokratisierung voranbringen
können, geht es um ökonomische Macht, aber auch um
politischen Einfluss und darum, welche Instrumente uns
auf internationaler Ebene zur Verfügung stehen, um diesen Einfluss geltend zu machen.
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen zu konkreten
Schritten, die aus unserer Sicht überfällig sind. Ich möchte
nur einige stichwortartig nennen. Dazu gehören zum Beispiel die Tobin-Steuer - das heißt die dringend nötige Besteuerung von Devisen- und Spekulationsgewinnen - und
die Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerflucht durch
die Einbindung von Offshorezentren. Ein noch stärkerer
Schwerpunkt liegt bei der Entschuldung und Armutsbekämpfung, dazu gehört zum Beispiel das internationale
Insolvenzrecht. Dazu gehört auch die Neustrukturierung
der Entwicklungsfinanzierung. Es handelt sich um ein
ganzes Bündel von Maßnahmen, die im internationalen
Bereich nötig sind.
({1})
Wenn wir über Instrumente reden, geht es natürlich
auch um den gesamten Strauß von Organisationen auf internationaler Ebene, die weiterentwickelt und in ein neues
Gleichgewicht zueinander gebracht werden müssen. Die
WTO bildet dabei zweifellos ein Herzstück. Es kann aber
nicht sein, dass sie - das ist in der Vergangenheit leider oft
genug passiert - alle anderen überrollt.
({2})
Die Handelsliberalisierung ist sicherlich nicht die Heilsbringerin, die alle Probleme löst, sondern sie schafft bekanntlich auch eine ganze Reihe neuer Probleme. Deshalb
unterstützen wir die Forderung, die aus den Reihen der
NGOs, aber auch der Entwicklungsländer erhoben wird,
die bisherigen Schritte der Handelsliberalisierung zu evaluieren, um positive und negative Wirkungen im Einzelnen
beurteilen zu können und entsprechend umzusteuern.
({3})
Die soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung bedeutet auch die Aufwertung der ILO als international tätige Arbeitsorganisation und der UNEP als internationale Umweltorganisation. Es kann nicht sein, dass
sich die WTO einfach über deren Interventionen hinwegsetzen kann.
({4})
Ich will versuchen, den Mechanismus, um den es mir
geht, an einem Beispiel deutlich zu machen. Die UN-Unterkommission für Menschenrechte hatte im vorigen Jahr
eine Studie in Auftrag gegeben, die das Verhalten von
IWF, WTO und Weltbank untersucht und im Ergebnis diesen Institutionen eine Geringschätzung der Menschenrechte vorwirft. Darüber, welchen Gehalt diese Studie hat,
kann man sicherlich trefflich streiten. Man muss sich mit
dieser Studie noch genauer auseinander setzen. Die Argumentation besagt, dass weder die Maßnahmen des IWF
und der Weltbank zum Schuldenabbau noch die Verfahrensweise des WTO-Schlichtungsgremiums die oft desolate Menschenrechtslage in der Dritten Welt angemessen
berücksichtigen.
Darüber kann man, wie gesagt, trefflich streiten. Worüber man aber nicht streiten kann, ist die Reaktion des IWF
auf diese Studie, die ich für völlig indiskutabel halte. Der
stellvertretende Leiter des Büros in Genf hat vor der UNUnterkommission angegeben, der IWF sei nicht an die
zahlreichen Menschenrechtsdeklarationen und -konventionen gebunden. Ich zitiere ihn:
Auch sei es nicht Aufgabe des Fonds, die Menschenrechte zu fördern. In keinem der Artikel seiner Gründungsstatuten vom 1. Januar 1946 seien die Menschenrechte erwähnt.
Solche Scheuklappen mögen in der internen Logik einer
Organisation begründet sein. Aber das macht sie um keinen Deut akzeptabler.
({5})
Wir brauchen auf der internationalen Ebene eine Aufwertung der Menschenrechtsfragen, der Armutsbekämpfung sowie der Umwelt- und Arbeitsorganisationen. Darüber hinaus muss die WTO selbst reformiert werden.
Auch wenn zum Beispiel die Verankerung des Vorsorgeprinzips in Doha nicht durchzusetzen war, bleibt sie auf
der Agenda. ILO und UNEP müssen in die Streitschlichtungsverfahren der WTO wenigstens so weit einbezogen, die Menschenrechte wenigstens so weit respektiert sowie die Sozial- und Umweltstandards wenigstens
so weit eingehalten werden, dass die WTO nicht
Handelsabkommen abschließen kann, deren Folgen dann
zum Beispiel ILO oder UNEP auszubaden haben.
({6})
Es ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, ob man
endlich für die Kohärenz der unterschiedlichen Politikbereiche sorgt.
Die Reform der WTO muss zu einer größeren Transparenz führen. Dazu gehört auch die Stärkung der Entwicklungsländer. Gerade die ärmsten Länder - in diese
Richtung sind in Doha entsprechende Entscheidungen gefallen - müssen durch gezieltes „capacity building“ unterstützt werden, damit sie sich an den Entscheidungsprozessen der WTO beteiligen können.
Zur Einschätzung der Ergebnisse von Doha: In der
Presse ist zum Teil im Vorfeld der WTO-Konferenz von
Doha der Eindruck entstanden, als ginge es bei der Entscheidung, ob es eine neue WTO-Runde gibt oder nicht,
um Sein oder Nichtsein, um Erfolg oder Misserfolg. Aus
meiner Sicht war die Entscheidung für eine neue WTORunde nicht so spektakulär. Sie war zwar wichtig, aber sie
lässt vieles offen. Legt man an die WTO-Konferenz in
Doha den Maßstab an, dass die WTO hier hätte grundlegend Rechenschaft über die Ergebnisse ihrer bisherigen
Politik ablegen müssen, um dann entsprechend grundlegend umzusteuern, muss man sicherlich feststellen, dass
diese Konferenz kein Erfolg war. Aber das war von der
Konferenz in Doha auch kaum zu erwarten. Legt man die
Messlatte niedriger, dann stellt man fest, dass sich die Gewichte in Doha durchaus verschoben haben, und zwar zugunsten der Entwicklungsländer. Die WTO-Runde in
Doha ist sicherlich nicht die Entwicklungsrunde, wie wir
sie uns vorgestellt haben. Aber in Doha ist ganz klar geworden - darauf ist in der Diskussion schon hingewiesen
worden -: Ohne Zugeständnisse an die Entwicklungsländer geht innerhalb der WTO gar nichts mehr. Das ist eine
wichtige Erkenntnis, derer sich die Industrieländer bewusst werden müssen.
Das Interessengeflecht zwischen den Ländern muss
neu austariert werden. Das wird sicherlich Gegenstand
der Verhandlungen zwischen den Regierungen sein, die
sich an der laufenden WTO-Runde beteiligen. Aber das
muss auch Gegenstand der Gespräche und der Auseinandersetzungen zwischen den Regierungen und den jeweiligen Zivilgesellschaften sein. Hier liegen die Positionen
zum Teil weit auseinander. Ich war mit der Globalisierungsenquete in Indien. Bei den Gesprächen, die wir dort
geführt haben, ist deutlich geworden, dass die Kritik der
Zivilgesellschaft an der Handelsliberalisierung und deren
Folgen für die Umwelt, die sozialen Standards und für die
Frauen - sie werden teilweise in das gesellschaftliche Abseits geschoben - sehr ernst genommen werden muss.
Diese Kritik muss Thema innerhalb der jeweiligen Gesellschaft sein. Darüber muss aber auch im internationalen Kontext diskutiert werden.
Die Entscheidung für eine neue WTO-Runde ist aus
meiner Sicht ein Anfang. Im Laufe der Verhandlungen
wird sich zeigen müssen, welche Ergebnisse konkret
möglich sein werden. Deshalb ist es umso wichtiger, dass
der Bundestag diesen Prozess begleitet und aktiv mitgestaltet. Ich begrüße es deswegen sehr, dass sich das Wirtschaftsministerium wirklich bemüht, auf die Parlamentarier und Parlamentarierinnen zuzugehen, sie aktiv
einzubeziehen und zu informieren. Das ist keineswegs
selbstverständlich. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich.
Ich hoffe, dass das entsprechend fortgesetzt wird.
Das verweist aber auch auf ein Problem. Es gibt kein
parlamentarisches Gremium, in dem über die politische
Gestaltung der Globalisierung im Zusammenhang diskutiert und entschieden werden kann: Über die Belange
der WTO wird im Wirtschaftsausschuss verhandelt, über
die des IWF im Finanzausschuss. Des Weiteren gibt es einen Unterausschuss beim Auswärtigen Ausschuss, der
sich mit der Globalisierung befasst. Über die Belange der
Weltbank wird im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung diskutiert. So befassen sich
dann die verschiedenen Ausschüsse mit den einzelnen
Aspekten der Globalisierung, aber vom Erfassen des Zusammenspiels der Instrumente und von einem kohärenten
Politikverständnis sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Um dieses zu erreichen, brauchen wir, wenn wir das
auf der internationalen Ebene entsprechend beeinflussen
wollen, auch hier im Parlament einen Ort, an dem die verschiedenen Stränge zusammentreffen. Damit wird sich
die Enquete-Kommission in ihren Empfehlungen zu befassen haben; das wird sie sicherlich auch tun.
Das Europäische Parlament zum Beispiel hat einen
Ausschuss, in dem alles zusammenläuft und in dem immer zeitnah informiert wird. Es ist aber nicht Sinn der Sache, dass diejenigen, die über die Informationen verfügen,
nicht die Entscheidungskompetenzen haben - wie das Europäische Parlament -, während diejenigen, die diese
Kompetenzen haben - wie wir hier im Bundestag -, nicht
über die entsprechenden Informationen verfügen, um Entscheidungen zu treffen.
Die Auseinandersetzung um die Globalisierung muss
nicht nur im Parlament, sondern auch in der Zivilgesellschaft von Transparenz geprägt sein. Das bezieht sich auf
so konkrete Punkte wie das Streitschlichtungsverfahren
bei der WTO, aber auch insgesamt auf die Beteiligungsmöglichkeiten der Nichtregierungsorganisationen.
Mit ihren engagierten Beiträgen, ihrer Kritik und ihren
Protesten tragen sie ganz entscheidend dazu bei, dass bei
der Globalisierung nicht nur über die Liberalisierung des
Handels geredet wird, sondern auch über die konkrete Lebenssituation der Menschen, die Bekämpfung von Armut,
Hunger und Krankheit sowie die Verbesserung der ökologischen und sozialen Lebensbedingungen. Dazu haben
die Proteste von Seattle und Genua, aber auch die Proteste, die im Zusammenhang mit den zahlreichen internationalen Konferenzen stattgefunden haben, beigetragen.
Frau Kollegin,
achten Sie darauf, dass die Zeit abgelaufen ist.
Ja. - Deshalb möchte ich hier noch einmal nachdrücklich festhalten: Ich glaube, dass zum Beispiel Demonstrationsfreiheit ein wirklich hohes demokratisches
Gut ist und wir nicht zulassen dürfen, dass sie wie in Genua mit Füßen getreten wird.
({0})
Ich glaube, dass wir für die nächsten Verhandlungen einen
Ort brauchen, wo nicht wie in Katar per se Demonstrationen verboten sind, und einen Ort, der für NGOs auch bezahlbar und erreichbar ist und an dem sie sich einmischen
können. Welches Mittel wäre besser gegen Politikverdrossenheit als die Möglichkeit, sich einzumischen, um
Ungerechtigkeiten und Missstände zu beseitigen?
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Herren und Damen! Liebe Kollegin Buntenbach, ich hatte
nach der Reise den Eindruck, dass die in Doha anwesenden NGOs durchaus sehr gut einbezogen und sie, jedenfalls was unsere deutsche Delegation betraf, auch hervorragend betreut und mit allen Informationen versehen
wurden, wie wir im Übrigen auch.
({0})
Ich danke dafür ganz herzlich denjenigen, die uns begleitet und uns sehr gut betreut haben.
({1})
Noch ein Punkt am Anfang: Für die Durchsetzung von
Menschenrechten und die wirklich wirksame Bekämpfung von Armut auf der Welt helfen am ehesten Transparenz und Marktöffnung. In all den Staaten, in denen sich
schlechte Regierungen durch Abschottung verstecken
können, geschieht großes Unrecht und kommt die Bevölkerung nicht aus der Armut heraus. Nach Prognosen der
Weltbank würde eine weitere Liberalisierung des Handels
das globale Wachstum erhöhen und in nur 15 Jahren
300 Millionen Menschen aus der Armut befreien. Ich
denke, dass diese Prognose uns dazu anhalten sollte, alles
zu tun, um dieses Ziel schnellstens zu erreichen.
Ich stimme mit den meisten Vorrednern darin überein,
dass die WTO-Konferenz in Doha in wirtschaftlicher,
handels- und entwicklungspolitischer Hinsicht wirklich
ein Erfolg war. Sie hat gerade nach Seattle damit eine Bewährungsprobe mit Bravour bestanden. Verbunden damit
waren - so habe ich es jedenfalls empfunden; ich denke,
mein Kollege Heinrich hat das genauso gesehen - eine
Stärkung der Entwicklungsländer und eine bessere
Wahrnehmung ihrer Probleme mit der Marktöffnung.
Ganz besonders wichtig fand ich, dass es gelungen ist, im
Rahmen der Verhandlungen mehr zuzuhören, mehr zu erfragen und zur Kenntnis zu nehmen, welche Maßnahmen
denn die Entwicklungsländer selbst für richtig halten, um
ihre Armut zu bekämpfen und so sich selbst in die Lage
zu versetzen, am globalen Wettbewerb teilnehmen zu
können.
({2})
Das ist die Position der FDP-Bundestagsfraktion. In unserem Antrag finden Sie das ausdrücklich bestätigt.
Die Entwicklungsländer und die ärmsten Länder
möchten nicht, dass ihnen unser Sozialstandard, unsere
Normen im Verhältnis 1:1 übergestülpt werden. Sie fürchten, dass damit ein neuer Protektionismus verbunden
wäre. Deshalb sagen wir ganz klar: Wir lehnen eine Koppelung von Sozialstandards mit handelspolitischen Vereinbarungen unter dem Dach der WTO ab.
({3})
Unser Rezept lautet: weitere Marktöffnung und Einbindung der armen Länder in die internationale Arbeitsteilung; denn diese kann am schnellsten und nachhaltigsten
dazu beitragen, Wohlstand zu erreichen.
Der Kollege Fritz hat - das will ich betonen - die notwendige technische Unterstützung, die sich die Entwicklungsländer ausdrücklich gewünscht haben und die
wir ihnen schnellstens zur Verfügung stellen müssen, angesprochen. Das heißt, dass diese Länder lernen, das komplizierte WTO-Regelwerk überhaupt zu verstehen und
umzusetzen, eigene Gutachten in Auftrag zu geben und
viele Dinge mehr. Sehr geehrter Herr Minister Müller, ich
hätte mir gewünscht, dass wir, wie die Engländer, schon
in Doha in der Lage gewesen wären, eine Zusage für eine
Zahlung in den Spezialfonds für technische Unterstützung der Entwicklungsländer zu geben, um auf diese
Weise eine weitere finanzielle Unterstützung zu leisten.
Der deutsche Staat muss in diesem Bereich mehr tun.
({4})
Ich finde es erstaunlich, dass es gelungen ist, in Doha
eine weitere Welthandelsrunde für das Jahr 2005 zu vereinbaren. Das war absolut nicht selbstverständlich. In unserem vorliegenden Antrag finden Sie einige Positionen,
die mit Blick auf die Vorbereitung dieser WTO-Runde
in 2005 unabdingbare Ziele sein müssen. Ich möchte auf
fünf dieser Ziele kurz eingehen:
Zum ersten sind das die institutionellen Reformen der
WTO, die mehr Effizienz, Transparenz und eine Einbindung der Parlamente schaffen müssen. Der zweite Punkt
- er ist besonders wichtig - ist, dass auch die Bundesregierung mit aller Kraft an der Integration der Wettbewerbspolitik in das WTO-Regelwerk arbeitet. Mittelfristig soll die Wettbewerbspolitik - die FDP versteht das
so - als neuer Teil der WTO-Überprüfungsmechanismen
verankert werden. Darüber hinaus brauchen wir langfristig einen gut ausgearbeiteten Rahmen gemeinsamer Wettbewerbsregeln für die globale Wettbewerbsordnung unter
dem Dach der WTO. Ein weiterer Punkt ist der Protektionismus - ich habe darauf bereits hingewiesen -, der mittels Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen einzudämmen ist. Die Auslegung der Schutzklausel nach
Art. 19 des GATT-Abkommens muss schnellstens durchgesetzt werden.
({5})
Die Welttextilmärkte sind bis 2004 uneingeschränkt zu liberalisieren. Der letzte Punkt ist ebenfalls sehr wichtig:
Das Ende der Exporterstattungen für den Agrarhandel ist
einzuleiten und umzusetzen. Das wird schwierig.
An dieser Stelle möchte ich auf einen neuen Streitpunkt auf dem Gebiet des Welthandels zu sprechen kommen. Sie wissen wahrscheinlich, dass dem neuen
WTO-Mitglied China von der EU ein Importverbot für
bestimmte Lebensmittel auferlegt wurde. China hat für
verschiedene Lebensmittel wie Meerestiere, Honig, Kaninchen- und Geflügelfleisch ein Einfuhrverbot bekommen, dem die Bundesregierung ausdrücklich zugestimmt
hat. Angeblich sollen sich in diesen Lebensmitteln Rückstände von verbotenen Chemikalien befinden. Ich kann
nicht verstehen, dass es, wenn diese Kontamination
tatsächlich stattgefunden hat, für bereits im Handel befindliche Waren keine Rückrufaktion gegeben hat. Ich
verstehe zudem nicht, dass bis zum 14. März auch die so
genannte schwimmende Ware, also Ware, die sich auf
dem Weg nach Europa befindet, davon nicht betroffen ist.
Ich vermute daher, dass hier eine protektionistische Maßnahme greift, um den eigenen Markt abzuschotten. Das
vermuten auch die Chinesen, die jetzt erstmalig merken,
was es bedeutet, zu diesem Handelsverbund zu gehören.
Sie haben ihrerseits reagiert und wollen nicht mehr erlauben, dass europäisches Rindfleisch auf den chinesischen
Markt gelangen kann. Es sieht also so aus, als würde die
WTO demnächst erstmalig in einem Handelsstreit zwischen Europa und China schlichten müssen.
Frau Präsidentin, sehr geehrte Herren und Damen, vom
weiteren Welthandel wird die deutsche Wirtschaft profitieren; davon sind wir überzeugt. Ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts und jeder vierte Arbeitsplatz hängen
vom Außenhandel ab. Wir haben innenpolitisch, aber
auch weltweit gesehen großes Interesse daran, mit einer
gestärkten Welthandelsorganisation weiterzukommen, an
der wir uns mit allem Einsatz beteiligen werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ursula Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Müller, und
vielen anderen hier, die an der Debatte teilgenommen haben, haben mehr als 100 Nichtregierungsorganisationen
in ihrer Erklärung zur Beurteilung der WTO-Runde von
Katar festgestellt, nichts sei weiter von der Wahrheit entfernt als die Behauptung von der Entwicklungsrunde Katar. Wer hat denn nun Recht? Ich denke, in vielen Punkten
haben die Nichtregierungsorganisationen Recht. Ich will,
soweit das in fünf Minuten möglich ist, zumindest einige
Punkte benennen.
Trotz einiger Zugeständnisse, vor allem im Prosabereich der Abschlusserklärung, haben sie in wesentlichen
Fragen substanziell nichts erreichen können. Das gilt insbesondere für das Auslaufen des Textilabkommens und
die Streichung der Agrarsubventionen. Ein Industrieland,
das ein Veto dagegen einlegte, fand sich halt immer, seien
es die USA beim Textilabkommen oder Frankreich in der
Agrarfrage. Dagegen wurden alle Elemente, die die
Industrieländer betrieben haben und die von den Entwicklungs- und Schwellenländern sowohl im Vorfeld als
auch auf der Konferenz mit Mehrheit abgelehnt wurden,
von den Industrieländern durchgesetzt, unter anderem Investitionen, Wettbewerb und öffentliche Auftragsvergabe.
Natürlich brauchen wir - das bestreitet niemand - angesichts der internationalen Investitionen von Konzernen
und der Flut bilateraler Abkommen eine Diskussion und
Entscheidungen auf multilateraler Ebene. Ein solches Abkommen müsste nach unserer Auffassung die Einbindung
von Direktinvestitionen in soziale, ökologische und entwicklungspolitische Zielsetzungen ermöglichen.
({0})
Das genaue Gegenteil aber wird in der WTO verfolgt:
Nichtdiskriminierung, Garantie des Investorenschutzes
und der größtmöglichen Freiheit für Investoren. Es stellt
sich konkret die Frage der demokratischen Rechte von
Regierungen gegenüber transnationalen Konzernen in
Bezug auf Regulation von Investitionen. Die WTO ist
simpel der falsche Ort. Gerade in der Debatte um Sozialstandards hat sie selbst mehr als deutlich klargestellt, dass
sie sich für die sozialen Belange in der Welt und für die
soziale Ausrichtung des Handels nicht zuständig fühlt.
Deshalb meinen wir, dass Verhandlungen über Investitionen nach wie vor unter Federführung der UNO und nicht
unter Federführung der WTO zu führen sind.
({1})
Von NGOs und von den Entwicklungsländern wurde
auch eine Revision des TRIPS-Abkommens zur Patentierung gefordert, insbesondere Vorrang für Gesundheitsschutz vor den Gewinninteressen der Pharmaindustrie,
Vorrang für Nahrungssicherheit gegenüber den Interessen
von Saatgutmonopolen und Schutz gegen Biopiraterie. In
Katar wurde nur die Umsetzung des bestehenden Patentierungsregimes hinsichtlich der Möglichkeiten von
Zwangslizenzen für Länder, deren Volksgesundheit katastrophal bedroht ist, präzisiert.
Auch im vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen wird die notwendige Revision des TRIPS-Abkommens angemahnt und das Verbot der Patentierung der Entdeckung lebender Organismen gefordert. Gleichzeitig
läuft hier im Parlament, ebenfalls von den Regierungsfraktionen eingebracht, die Umsetzung der Biopatentrichtlinie der EU, deren Festlegungen diametral zu der im
Antrag erhobenen Verbotsforderung stehen.
({2})
Wir denken, dass Sie sowohl im TRIPS-Rat als auch im
Rahmen der EU einen Kurswechsel im Sinne des heute
vorgelegten Antrages einleiten sollten.
Aber auch in Bezug auf die beschlossene und von
Herrn Müller begrüßte Liberalisierung des Dienstleistungshandels, zu dem so kritische Bereiche wie Gesundheit, Wasser und Bildung gehören, ist die Kritik von
Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften nicht
ernst genommen worden. Statt noch mehr Privatisierung
und Liberalisierung sind Maßnahmen zum Erhalt von Bildung, Wasser und Gesundheit als öffentliche Güter dringend erforderlich. Herr Müller, wenn Sie sie schützen
wollen, dann nehmen Sie sie von den anstehenden GATSGudrun Kopp
Verhandlungen aus. Das wäre ein Schritt, um sie im Interesse der öffentlichen Daseinsvorsorge zu erhalten.
({3})
In den Entwicklungsländern müsste damit erst einmal
eine Basisversorgung sichergestellt werden. Dazu sind
Schuldenerlass, die zugesagte Erhöhung der Entwicklungshilfe, die Umverteilung im globalen Maßstab durch
die Einführung der Tobin-Tax und die Einbeziehung der
transnationalen Konzerne in die Finanzierung notwendig.
Setzen Sie bei der anstehenden UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung als Konsequenz daraus, dass es
bisher nicht getan wurde, in diesem Sinne Impulse.
Ein Wort zum Schluss, Kollege Fritz: Bei denjenigen,
die im Weltsozialforum und anderswo verhandeln, handelt es sich um Globalisierungskritiker und nicht um Globalisierungsgegner. In Porto Alegre und nicht in Katar
oder New York sind Alternativen für eine gerechte Gestaltung des Welthandels entwickelt worden. Ich meine
deshalb, dass wir als Parlamentarier auf dieser Seite, auf
der Seite der Bewegung für eine gerechte Gestaltung des
Welthandels, stehen sollten.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute im
Deutschen Bundestag im Wesentlichen drei Fragen: Erstens. Wie sind die Ergebnisse der WTO-Konferenz in
Doha zu bewerten? Zweitens. Wie sind die Perspektiven
für die Welthandelsrunde, an deren Beginn wir stehen?
Drittens. Welche Schlussfolgerungen sollen die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union für ihre
Politik ziehen, das heißt, welche Maßnahmen ergreifen
wir, um die Globalisierung konkret mitzugestalten?
Die Frage nach der Bewertung der WTO-Ministerkonferenz erscheint auf den ersten Blick einfach. Noch bis
zum Sommer 2001 hat es so ausgesehen, als würde es
nach dem Debakel in Seattle keine weitere Konferenz geben oder zumindest keine erfolgreiche. Die Entwicklungsländer wollten sich nicht auf neue Verpflichtungen
einlassen, bevor sie die Ergebnisse der Welthandelsrunde von Marrakesch nicht bewertet hatten und die Industrieländer ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen
waren.
Durch die Rezession in den USA ging zudem der Welthandel im ersten Halbjahr zurück und erreichte 2001 gerade noch eine schwache Wachstumsrate von 1 Prozent.
Das ist nur ein Viertel dessen, was in den vergangenen
Jahren im Durchschnitt erreicht werden konnte. Weltweit
- von Toronto bis Nizza und von Prag bis Genua - protestierten Globalisierungsgegner. Als auch noch die Terroranschläge vom 11. September die Welt schockten, schien
die Lage eher aussichtslos. Keine Weltstadt wollte Gastgeber sein. So muss allein schon die Tatsache, dass die
Ministerkonferenz stattfand, als Erfolg gewertet werden.
Das Ergebnis hat alle bis dahin gehegten Erwartungen
weit übertroffen. Der einzige wirkliche Wermutstropfen
war, dass die scharfen Sicherheitsvorkehrungen, die wir
als Delegationsteilnehmer als wohl unvermeidlich hinnahmen, den Journalisten und Vertretern der Zivilgesellschaft wenig Raum für Information, Diskussion und eigenständige Recherchen ließen. Transparenz, offener
Dialog zwischen den Teilnehmern und den Gruppen der
Zivilgesellschaft und deren Einbeziehung in die Konferenzabläufe müssen aber künftig - wie bei den anderen
UNO-Konferenzen auch - selbstverständlicher Bestandteil von WTO-Konferenzen werden; denn ohne einen
demokratischen und offenen Prozess bei der Behandlung
eines der wichtigsten globalen Themen, die Gestaltung
des multilateralen Welthandels, kann es keine legitime
Weiterentwicklung einer Weltwirtschaftsordnung geben.
({0})
Die Ministererklärung in Doha mit ihren ergänzenden
Dokumenten zeigt substanzielle Fortschritte, aber nur
unter der Voraussetzung, dass sie in den nächsten Jahren
wirklich umgesetzt wird. Von vielen, beispielsweise von
EU-Handelskommissar Pascal Lamy, wurde die DohaRunde mit ihren vier Schritten - verbesserter Marktzugang,
Änderungen bei Regeln, Integration der Entwicklungsländer in die Arbeitsprogramme und nachhaltige Entwicklung - bereits als die Entwicklungsrunde apostrophiert. Ich
meine, Lamy hat zu Recht auf die gute Vorarbeit und die
Vorleistungen der Europäischen Union mit dem Vertrag
von Cotonou hingewiesen, ohne den die Europäische
Union weder das Vertrauen noch die Glaubwürdigkeit vieler Entwicklungsländer, vor allem der AKP-Staaten, gehabt
hätte, um als Protagonist und ehrlicher Makler wirken zu
können.
({1})
Die Entwicklungsländer haben wichtige Zugeständnisse erreicht, die in der Geschichte der Welthandelsorganisation bisher einmalig sind. Zum ersten Mal wurden die
Verhandlungsprozeduren so abgeändert, dass viele
Entwicklungsländer, darunter auch kleine, eine wichtige
Rolle im Ablauf und bei der Erarbeitung der Konferenzdokumente spielten. Die kleinen Volkswirtschaften setzten ein Arbeitsprogramm für ihre bessere Integration
durch und die Least Developed Countries erreichten nicht
nur ein Arbeitsprogramm, sondern auch die Einrichtung
von zwei Arbeitsgruppen, eine für Schulden und Finanzierung, die andere für Technologietransfer. Schließlich
wurde der WTO-Ausschuss verpflichtet, die technischen
Hilfen für die Entwicklungsländer angemessen auszustatten.
Entscheidend für den Erfolg der Konferenz aber waren
Zugeständnisse auf dem Gebiet des TRIPS-Abkommens,
des Abkommens über geistiges Eigentum und Datenschutz. Diese Zugeständnisse gestatten Ländern, die unter
Pandemien und Epidemien, wie zum Beispiel Aids und
Malaria, leiden und deren Volksgesundheit katastrophal
bedroht ist, zum ersten Mal in der Geschichte der WTO,
die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, zum Beispiel auch
durch Zwangslizenzen.
Zusätzlich wurde über die Weltgesundheitsorganisation die Gründung eines namhaften Fonds zugunsten der
ärmsten Länder versprochen. Wenn wir dies nicht halten,
dann wird es bei den armen Ländern in der Tat eine herbe
Enttäuschung geben; denn sie werden natürlich, weil sie
keine eigene Pharmaindustrie haben, von Zwangslizenzen wenig haben. Hier müssen wir noch unsere Verpflichtungen erfüllen.
({2})
Auf der anderen Seite haben sich die Entwicklungsländer bereit erklärt, über die von ihnen vorher heftig
bekämpften so genannten neuen Themen wie Handel und
Investitionen, Handel und Wettbewerb, Handel und öffentliches Beschaffungswesen auf der nächsten Ministerrunde in Mexiko City zu reden. Das heißt, die zeitliche
Koppelung von sofortigen Hilfen an die armen und ärmsten Entwicklungsländer in den nächsten zwei Jahren und
die in diesem Zeitraum erfolgende Prüfung und Vorbereitung denkbarer weiterer Marktöffnungen bzw. Neuregelungen bei den genannten Themen sind der eigentliche
Durchbruch von Doha, nicht das Papier.
({3})
Das gilt allerdings nur dann, wenn wir, die Industrieländer, unseren Teil der Verpflichtungen ehrlich und
vorbehaltlos ohne zeitliche Verzögerungen erfüllen. Das
bedeutet nichts anderes, als dass wir den Entwicklungsländern helfen müssen, ihre eigenen Interessen zu definieren und ihre eigenen Strategien für die Konferenzen zu
formulieren. Für den Bundeshaushalt bedeutet das, die
Mittel für die Kapazitätsbildung und für die technischen
Hilfen angemessen zu erhöhen. Wir müssen uns einen unwürdigen Streit zwischen den Ressorts in diesem Punkt
ersparen.
({4})
Denn solange die Entwicklungsländer das Gefühl haben,
sie würden trickreich über den Tisch gezogen und mit dem
Kleingedruckten hoch bezahlter Handelsanwälte hereingelegt, und das für alle Zeiten, werden sie sich gegen weitere Liberalisierung wehren, und zwar zu Recht.
({5})
Aber nicht alles in Doha war ein Schritt nach vorn. Die
Ergebnisse auf dem Umweltgebiet waren sehr bescheiden
und die Ergebnisse bei Handel und sozialer Entwicklung
waren schlicht enttäuschend. Sicher, nach Jahren der bloßen Versprechungen bzw. des fleißigen Anfertigens von
Umweltstudien sind zum ersten Mal bescheidene konkrete Fortschritte erzielt worden. Man kam überein, dass
alle WTO-Mitglieder das Recht haben, in den Bereichen
Gesundheit, Sicherheit und Umweltschutz ihnen geeignet
erscheinende Maßnahmen zu ergreifen und das Verhältnis
von WTO-Regelwerk und internationalen Umweltabkommen zu klären. Was heute so selbstverständlich erscheint und lange Zeit allein die Forderung der beiden
Koalitionsfraktionen dieses Hauses war, war bis vor
kurzem in der WTO noch tabu. Deswegen kann man von
einem wichtigen Durchbruch sprechen.
({6})
Für uns Sozialdemokraten ist das ein erster Schritt,
aber bei weitem nicht genug. Ebenso wie im nationalen
und europäischen Recht muss auch international gelten,
dass Handelsrecht nicht Vorrang vor Umwelt- und
Gesundheitsgesetzen oder den Sozialgesetzen haben darf.
({7})
Das Regelwerk der WTO muss die Normen der internationalen Umwelt- und Sozialabkommen genauso selbstverständlich in ihrer Streitschlichtung beachten wie die
Normen des internationalen Handelsrechts.
({8})
Wer das, liebe Kolleginnen und Kollegen von Teilen der
Opposition, einfach auf die Internationale Arbeitsorganisation abschiebt, akzeptiert eine Spaltung des internationalen Rechts, was die Menschen aus moralischen und
Vernunftgründen nicht länger hinzunehmen bereit sind.
({9})
Wer Handel und Investitionen fördern will - und das zu
Recht -, muss auch akzeptieren, dass dies nicht unter Ausklammerung von Umweltbelangen und von sozialem
Schutz geht. Die Durchsetzung der Kernarbeitsnormen
- ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Verbot der
ausbeuterischen Kinderarbeit und der Zwangsarbeit - ist
und bleibt eine wichtige Aufgabe gerade im Interesse der
Entwicklungsländer selbst.
Die Europäische Union hat deswegen gut daran getan,
im Cotonou-Abkommen und kürzlich in der Formulierung des Allgemeinen Präferenzsystems für Handelsabkommen mit weiteren Entwicklungsländern sowohl die
Achtung der Menschenrechte wie die Beachtung der
Kernarbeitsnormen verbindlich von den Vertragspartnern einzufordern.
({10})
Es war schon merkwürdig, dass dieselben Staaten, die
diese Verpflichtung im Cotonou-Abkommen unterschrieben haben, in Doha schwiegen, als es um Kernarbeitsnormen ging. Zukünftig werden 100 Staaten in Verträgen mit
der Europäischen Union die Beachtung der Kernarbeitsnormen zugesagt haben. Man wird dann sehen müssen,
wie man mit dem neuen Fundus diese Verpflichtung auch
in der Welthandelsorganisation unterbringen kann. Eine
Nichtbeachtung können wir nicht länger hinnehmen.
({11})
Bei den anstehenden Verhandlungen müssen wir auch
dringend darauf achten, dass gerade große Staaten wie die
Vereinigten Staaten von Amerika die doch recht schwamDr. Sigrid Skarpelis-Sperk
migen Umweltformulierungen in den Doha-Dokumenten
nicht zum Vorwand nehmen, um die Verpflichtungen aus
den internationalen Umweltabkommen systematisch aufzuweichen und damit ein übles Vorbild zu geben. Das Vorsorgeprinzip muss ebenso explizit auf die Tagesordnung
kommen wie die Zulassung von Ökosiegeln.
Unbestreitbar ist jedoch: Die Umwelt steht nun auf
der WTO-Agenda und es kann und darf nicht bei bloßen
Studien bleiben wie bisher. Wir können nicht auf Dauer
den Menschen in unserem Land sagen, dass in der Weiterentwicklung des Welthandels soziale und ökologische
Überlegungen keine entscheidende Rolle spielen. Entweder wird die Globalisierung ein menschliches Gesicht entwickeln, bei der nicht jedes Gut und jede Dienstleistung,
wie Gesundheit, Bildung und Kultur, zur bloßen Ware
verkommt, oder wir werden den Widerstand gegen jede
weitere Liberalisierung des Handels mit Gütern und
Dienstleistungen, aber auch von Investitionen dramatisch
wachsen sehen.
Auch den Fragen nach einer besseren Kontrolle der
wirtschaftlichen Macht, nach gleichem Zugang zu Wissen
und Information und nach einer größeren Verteilungsgerechtigkeit wird niemand - auf welcher Ebene des
internationalen Rechts auch immer - auf Dauer ausweichen können.
Betrachtet man die Wettbewerbsfrage, dann muss man
feststellen, dass weltweit wachsender Handel weit überwiegend nicht von kleinen und mittleren Unternehmen
betrieben wird, sondern von wenigen großen Konzernen
kontrolliert wird: von den Rohstoffen und der Energie bis
hin zu Betriebssystemen bei Computern. Da ist Missbrauch wirtschaftlicher Macht ebenso verlockend wie
verbreitet. Dazu gibt es innerhalb der WTO-Regeln bisher
nichts, was ein angemessenes Handeln erlaubt. Eine Welthandelsorganisation, die ihre Augen vor dem Missbrauch
wirtschaftlicher Macht verschließt - das sollten wir auch
den Entwicklungsländern sagen -, wäre rettungslos naiv
und würde zulasten kleiner Länder und kleiner Unternehmen handeln.
({12})
Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, ist die Forderung nach einer größeren Verteilungsgerechtigkeit und
nach besseren Entwicklungschancen für die breite Masse
der Weltbevölkerung. Frau Kollegin Kopp, wir waren uns
in vielen Punkten einig; aber Handel und ein wenig technische Hilfe sind als Antwort bei weitem nicht genug.
So wie die Ministerkonferenz von Doha ohne die Vorleistung der Europäischen Union im Rahmen des Cotonou-Abkommens kein Erfolg gewesen wäre, so sollten wir uns alle darüber im Klaren sein: Wenn wir, die
Industrieländer, die Europäische Union und auch
Deutschland, in Bezug auf die ärmeren Länder bei der
Marktöffnung, der Entwicklungsfinanzierung und der
wirksamen Entschuldung unsere Hausaufgaben nicht
machen, dann können wir in Zukunft keinen fairen und
nachhaltigen Handel sichern. Ohne eine erfolgreiche UNKonferenz in Monterrey wird es keine erfolgreiche Handelsrunde in Mexiko City geben. Ohne eine Reform der
internationalen Finanzinstitutionen und der WTO selbst
schaffen wir keine Basis für jenes Vertrauen, das für eine
erfolgreiche Handelsausweitung unabweisbar ist.
({13})
Eine Zahl möchte ich in Erinnerung rufen: 80 Prozent
des Welthandels findet unter 20 Prozent der Menschheit
statt. Afrika hat daran gerade einmal einen Anteil von
3 Prozent. Wer das nicht nur auf dem Papier ändern will,
hat viel zu tun: in der Politik, in der Wirtschaft, im Handel - und das nicht nur für Millionen, sondern für Milliarden von Menschen. Sie müssen darauf bauen können,
dass wir fair mit ihnen und ihren Interessen als Arbeitnehmer, als Produzenten, als Bauern und als Konsumenten umgehen.
({14})
Jetzt hat der Abgeordnete Siegfried Helias das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die PDS-Kollegin Lötzer hatte mehr Regelungen angemahnt, um die
Globalisierung zu steuern. Frau Lötzer, wir brauchen
nicht mehr Regelungen, sondern klare Regelungen. Das
ist bei vielen Vorrednern zum Ausdruck gekommen.
Frau Kollegin Lötzer, Sie haben die Konferenz in Porto
Alegre angesprochen. Da gab es zwar Vielstimmigkeit,
aber keineswegs Einstimmigkeit. Größtenteils gab es sogar Widersprüchlichkeit.
Ich möchte Ihnen sagen, wie einige dieser Regelungen
aussehen können. Ich bin davon überzeugt, dass wir
die Globalisierung nicht nur aktiv, sondern auch sozial
gestalten müssen. Dazu hat es Ansatzpunkte gegeben.
Kollegin Kopp hat beispielsweise die Armutsbekämpfung
angesprochen. Kollegin Buntenbach bezeichnete die Einhaltung der Menschenrechte als unverzichtbaren Standard. Meine Vorrednerin hat auch Umweltaspekte in den
Mittelpunkt gestellt. Ich möchte ergänzen, dass zu diesen
unverzichtbaren Standards auch der Kampf gegen Korruption, die Förderung demokratischer Strukturen und die
Gleichberechtigung der Frauen gehören. Das verstehen
wir unter sozialer Globalisierung.
({0})
Die Globalisierung ist ein Phänomen, das nicht mehr
aufzuhalten ist. Sich dagegen zu wehren ist genauso, als
wenn wir die Uhr anhalten wollten, Frau Kollegin Lötzer.
({1})
- Ihr Beitrag ist ebenso unverständlich wie unbedeutend. - Beides wird nicht gelingen.
({2})
- Nicht sehr schlimm; aber es hat gereicht.
Dass wir die Globalisierung auch und gerade im Interesse der Entwicklungsländer umsetzen müssen, das
wird uns immer wieder gerade in diesen Ländern vor Augen geführt. Nehmen wir das Beispiel Indonesien. Dort
kann man erkennen, welche extreme Berg- und Talfahrt
ein Entwicklungsland in einer sich globalisierenden
Wirtschaft durchmachen kann. Indonesien galt bis zur
fernöstlichen Finanzkrise immerhin als wirtschaftlich
erfolgreiches Schwellenland, dem hervorragende Zukunftsaussichten attestiert wurden. Dennoch verursachte
die Umschwenkung der internationalen Finanzströme
eine Finanzkrise und über Nacht war es ein von immensen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen
gekennzeichnetes Land mit einem rapide wachsenden
Armutsproblem.
Nicht nur Entwicklungsländer machen die bittere Erfahrung, dass sich Krisen mit geographisch eigentlich
weit entferntem Ursprung zumindest indirekt in das sicher
geglaubte Heimatland transportieren lassen, sondern auch
Industrienationen in Europa, zum Beispiel Deutschland.
Probleme, zum Beispiel im Umwelt- und Gesundheitssektor, lassen sich immer weniger auf eine Region oder
auf einen Kontinent eingrenzen, sondern dehnen sich
weltumspannend aus und treffen auch die so genannten
sicheren Heimatinseln.
Es geht also darum - darüber sind wir uns, denke ich,
einig -, der Globalisierung den richtigen Rahmen zu geben und die globale Ungleichheit zu überwinden. Kofi
Annan, der UN-Generalsekretär, hat auf dem Weltwirtschaftsforum in New York der Bekämpfung von Armut,
Hunger, Obdachlosigkeit und Wassermangel höchste Priorität zugemessen. Ungleichheit kann nur überwunden
werden, wenn wir die Hilfsleistungen konzentrieren und
wenn Wirtschaftswachstum stattfindet. Ebenso trägt
„good governance“ zum positiven Aspekt der Globalisierung bei. Wir dürfen weder das eine noch das andere
vergessen. Das heißt, wir brauchen einen umfassenden
Ansatz, der die Bereiche Finanzhilfen, Handel, Entwicklung und Menschenrechte in sich vereint sowie länderund regionenübergreifend ausgerichtet ist.
Bei der vielfach angesprochenen und als Erfolgsstory
beschriebenen WTO-Ministerkonferenz in Doha ist in der
Tat eine neue Weichenstellung in Richtung eines ausgewogenen multinationalen Handelssystems erfolgt. Das
war nach dem Scheitern der WTO-Ministerkonferenz von
Seattle auch dringend notwendig. Zwar enthält die Ministererklärung von Doha nur das Mandat für eine weitere
und breit angelegte Verhandlungsrunde, doch wird es eine
Fortführung der Verhandlungen, insbesondere in den Bereichen Landwirtschaft und Dienstleistungen, sowie die
Aufnahme von weiteren Themen, die hier zum Teil schon
angesprochen sind, geben.
Besonders hervorheben möchte ich das schon mehrfach angesprochene und wie auch alle anderen Dinge im
Konsens verabschiedete TRIPS-Abkommen. Das TRIPSAbkommen über handelsbezogene Rechte an geistigem
Eigentum trägt zum Schutz und zum kostengünstigen Zugang zu Medikamenten in der Dritten Welt bei.
({3})
Für die Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria
erhalten die Länder der Dritten Welt die Möglichkeit, das
Patentrecht auszusetzen und so kostengünstige lebenswichtige und lebenserhaltende Medikamente zu bekommen. Das wichtigste Kriterium ist und bleibt, denke ich, ein
ungehinderter Zugang zu dringend benötigten Therapien,
die vorher insbesondere aus finanziellen Erwägungen nicht
durchgeführt werden konnten. Es darf nicht sein, dass
Menschen nur aus Mangel an Finanzmitteln sterben. Das
im Konsens verabschiedete TRIPS-Abkommen zeigt insoweit, denke ich, den Weg in die richtige Richtung.
Von Herrn Bundesminister Müller ist der beschlossene
Themenkatalog angesprochen worden. Folgende Punkte
sind für die Entwicklungsländer besonders wichtig: die
Verbesserung des Marktzugangs für landwirtschaftliche
Produkte, der Abbau bzw. das Auslaufen von Subventionen in diesem Bereich, die Verhandlungen über den vorzeitigen Wegfall von Zöllen und die vorgezogene Liberalisierung im Textilsektor. All das werden wir nicht
erreichen, ohne dass wir über diese Punkte zäh und konsequent verhandeln. Ich bezweifle nach wie vor, dass drei
Jahre ausreichen. Erhard Eppler, der frühere Entwicklungsminister, hat einmal gesagt: Es kommt nicht auf
die Größe der Schritte an, sondern auf die richtige Richtung. - Insofern: Wir gehen hier in die richtige Richtung.
({4})
Unverzichtbar dazu gehören aber auch die Gelder für die
Entwicklungshilfe. Leider, meine Damen und Herren von
der SPD, entfernt sich die Bundesrepublik Deutschland
zunehmend von diesem Ziel.
({5})
Den großen Ansprüchen folgen kleine Zahlen.
({6})
So liegt die ODA-Quote bei uns lediglich bei 0,27 Prozent statt bei den international angestrebten 0,7 Prozent.
Das ist im Grunde genommen für die rot-grüne Regierungskoalition ein Armutszeugnis.
({7})
Mehr noch: Das ist ein Offenbarungseid für eine Regierung, die einmal angetreten war, neue Impulse in der Entwicklungspolitik zu setzen und mehr Mittel zur Verfügung zu stellen.
({8})
Das Gegenteil ist der Fall: So schrumpfte der Etat des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung von 1,9 Prozent im Jahr 2001 auf die
magere Quote von 1,7 Prozent des Gesamthaushaltes in
diesem Jahr. Wie in vielen anderen Bereichen so gilt auch
hier wieder einmal leider nicht das gesprochene, sondern
das gebrochene Wort.
({9})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/7900 zu dem Antrag der Fraktion der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Zugang der Zivilgesellschaft zur WTO-Ministerkonferenz in Doha,
Katar, gewährleisten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5805 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden.
Es gab keine Enthaltung.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/7924 zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU zur „Stärkung des freien
Welthandels durch neue WTO-Runde“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5755 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des
Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/7925 zu dem Antrag
der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zur „Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels
durch eine umfassende Welthandelsrunde“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7143
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie auf Drucksache 14/7899 zu dem Antrag
der Fraktion der PDS mit dem Titel „Neoliberale Globalisierung - kein Sachzwang“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/6889 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der
PDS, die zugestimmt hat, angenommen worden.
Zusatzpunkt 5: Interfraktionell wird die Überweisung
des Antrags auf Drucksache 14/8272 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Irmgard Schwaetzer, Dirk Niebel, Dr. Heinrich
L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für substanzielle Arbeitsmarktreformen im
Niedriglohnsektor
- Drucksache 14/8143 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch.
Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Abgeordneten
Irmgard Schwaetzer das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im vergangenen Jahr
gab es nur einen Bereich der Wirtschaft, der wirklich kräftig gewachsen ist: die Schattenwirtschaft.
({0})
Das Bruttoinlandsprodukt hat gerade um 1 Prozent zugenommen. Die Schattenwirtschaft stieg um geschätzte
6,3 Prozent - es ist sicherlich nicht weniger - auf einen
Wert von etwa 350 Milliarden Euro. Das muss uns doch
wirklich zum Handeln anregen und darf nicht, wie es
diese Regierung tut, dazu führen, immer nur anzukündigen, zu warten, zu prüfen und nichts zu tun. Das hat zu
dem Ergebnis geführt, dass wir jetzt 4,3 Millionen Arbeitslose zu beklagen haben.
({1})
Man kann sich über die Masse an Arbeitsplätzen streiten, die im Niedriglohnsektor tatsächlich vorhanden sein
könnten. Ich beziehe mich da auf eine Schätzung des
Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln,
die für diesen Bereich ein Potenzial von 3 Millionen Arbeitsplätzen ausweist. Das ist in der gegenwärtigen Situation doch wirklich Anlass genug, hier einzusteigen und
nicht das zu tun, was diese Koalition getan hat, nämlich
die Bereiche des Arbeitsmarktes, die noch ein bisschen
flexibel waren - wie die geringfügige Beschäftigung -,
auch noch durch ihre bürokratischen Regelungen kaputt
zu machen.
({2})
Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse - das
weiß wohl inzwischen jeder - haben in den Bereichen, in
denen sie am meisten gebraucht wurden, nämlich in der
Gastronomie und im Handel, deutlich abgenommen. Da
wäre in der Tat eine große Menge zusätzlicher Arbeit zu
schaffen. Deswegen fordert die FDP, es nicht bei den
325 Euro zu belassen, sondern den Bereich der geringfügigen Beschäftigung wieder deutlich auszuweiten, nämlich den Grenzbetrag auf 630 Euro festzusetzen.
({3})
Dieser Betrag entspricht in etwa dem steuerfreien Existenzminimum. Es spricht doch alles dafür, ihn in dieser
Größenordnung festzusetzen. Wenn wir als Parlament,
unterstützt vom Verfassungsgericht, gesagt haben, dass
der Bereich des Existenzminimums wirklich steuerfrei
sein soll, warum sollen wir dann von denjenigen, die einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, Steuern und
Sozialversicherungsbeiträge einsammeln? Das hat bloß
den Effekt, dass es in dem Bereich zwischen 325 und
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
630 Euro völlig uninteressant ist, eine Arbeit aufzunehmen.
({4})
Wer in dem Bereich allein über 40 Prozent Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zu zahlen hat, der hat wirklich kein Interesse daran, diese Arbeit zu leisten. Natürlich
müsste in dem Zusammenhang auch die maximale
wöchentliche Arbeitszeit verlängert werden. Es ist wichtig, im Bereich der geringfügigen Beschäftigung die richtigen Maßnahmen zu treffen, um vielen Menschen die
Hoffnung auf einen vollen Arbeitsplatz zu geben. Darum
geht es doch einfach.
({5})
Es ist vor allen Dingen einfacher als all die Erwägungen, die innerhalb der Koalition angestellt werden, aber
anschließend wieder versacken, sodass nichts passiert.
({6})
Wie lange schon diskutieren Sie über Kombilöhne? Sie
haben angekündigt, das Mainzer Modell auf die ganze Bundesrepublik auszuweiten, und nichts ist passiert. Das, was
wir vorschlagen, ist im Gegensatz zu all den bürokratischen
Regelungen, die Sie diskutieren, einfach. Es führt darüber
hinaus nicht zu Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt.
Es sind aber noch weitere Dinge notwendig. Die Anreize zur Rückkehr in das Erwerbsleben müssen gestärkt werden. Das heißt, diejenigen, die bisher Sozialhilfe bekommen haben und sich aus eigener Kraft darum
bemühen, auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren,
müssen einen deutlichen finanziellen Anreiz gegenüber
denjenigen bekommen, die sich um diese Wiedereingliederung nicht bemühen.
({7})
Deswegen brauchen wir dringend eine Reform der Sozialhilfe - nach unseren Vorstellungen soll das zu einem
Bürgergeld führen - die bewirkt, dass den bisherigen Sozialhilfeempfängern bei Arbeitsaufnahme mindestens die
Hälfte dessen, was sie jetzt auf dem ersten Arbeitsmarkt
verdienen, als Einkommen belassen und nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wird.
({8})
Erst dann wird dem Lohnabstandsgebot wirklich Geltung
verschafft. Das ist auch notwendig. Deswegen müssen die
Freibeträge für Sozialhilfeempfänger erhöht werden und
die Anrechnungssätze müssen langsamer steigen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen Bereich, der nicht nur jetzt im beginnenden Wahlkampf, sondern überhaupt weite Teile der Gesellschaft enorm bewegt: Das ist die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und
Familienarbeit. Das ist das zentrale Thema unserer Gesellschaft, heute und in den nächsten Monaten und Jahren.
Dieses Thema kann man nicht dadurch aufgreifen - wie
Sie das getan haben -, dass man die Freibeträge für Alleinerziehende abschafft. Ich bin einmal gespannt, was
das Verfassungsgericht dazu sagen wird.
({10})
Wir müssen eine deutliche zusätzliche Unterstützung der
Familien genau für diesen Bereich vorsehen. Deswegen
schlagen wir vor - wir hoffen, dass Sie uns zustimmen -,
mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im
Haushalt zu schaffen.
({11})
Das könnte vielen helfen, die sonst keine Chance auf dem
Arbeitsmarkt haben. Sie können unseren Vorschlag realisieren, indem Sie endlich wieder zulassen, was Sie abgeschafft haben, und tatsächlich der volle Steuerabzug für
Dienstleistungen im Haushalt eingeführt wird.
({12})
Sie haben die Hausarbeit durch den Begriff „Dienstmädchenprivileg“ diffamiert und diskriminiert. Dieser
Begriff diffamiert auch alle erwerbstätigen Mütter. Dagegen wehren wir uns. Deswegen fordern wir Sie auf, umzukehren und daran mitzuwirken, dass diese Arbeitsplätze
voll von der Steuer abgesetzt werden können.
({13})
Eine letzte kurze Bemerkung, meine Damen und Herren: Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe müssen zu einem
System verflochten werden. Sie haben das schon in der
Regierungserklärung vor dreieinhalb Jahren angekündigt.
({14})
Nichts ist passiert; jetzt haben Sie mit irgendwelchen Modellversuchen begonnen. Das brauchen Sie nicht zu tun; Sie
brauchen nur den Mut zu haben, Entscheidungen zu treffen.
({15})
Wir haben einen präzisen Vorschlag gemacht, wie die
Leistungen, aber auch die Ansprüche zusammengeführt
werden können. Das trüge zur Transparenz und damit
auch zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich bei. Wenn Sie darüber hinaus Arbeitsämter und Sozialämter zusammenlegten und zu wirklichen
Job-Centern machten, in denen auch vermittelt wird - das
war heute ja schon ein Thema -, in denen beraten wird und
in denen auch Qualifizierung angeboten wird, dann hätten
Sie etwas getan, was den Arbeitslosen hilft.
({16})
Meine Damen und Herren, Sie haben viel angekündigt.
Die FDP hat in diesem Bereich Vorschläge gemacht, die
Sie eigentlich nur aufgreifen müssen. Dass Sie das nicht
tun, macht eines deutlich:
({17})
Sie haben nicht den Mut, etwas zu tun. Unsere Maxime
aber ist: Machen, machen, machen! Dafür treten wir an.
({18})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Andrea Nahles.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Frau Schwaetzer, ich lade
Sie sehr herzlich ein, morgen früh ins Plenum zu kommen, weil dann etwas auf der Tagesordnung steht, was wir
gemacht haben: das Gesetz zur Bekämpfung der illegalen
Beschäftigung und Schwarzarbeit, die Sie eben so wortreich beklagt haben.
({0})
- Das taugt nichts? Sie verlangen von uns, dass wir etwas
machen, und wir machen etwas.
({1})
Wir verschärfen die Sanktionen bei der Schwarzarbeit,
wir werden die Generalunternehmerhaftung einführen.
Das sind zwei ganz konkrete und sehr wirksame Maßnahmen bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit. Seien Sie
also herzlich eingeladen. Ich hoffe, Sie morgen früh hier
zu sehen, Frau Schwaetzer.
({2})
Wir haben auch an anderer Stelle etwas gemacht: Wir
haben das Mainzer Modell bundesweit eingeführt. Als
Rheinland-Pfälzerin habe ich mir die Augen gerieben, als
ich gesehen habe, was Sie in Ihren heute vorliegenden Antrag hineingeschrieben haben:
Drittens sollte das „Mainzer Modell“ nicht auf Bundesebene ausgeweitet werden.
Erstens kommen Sie etwas zu spät und zweitens haben Sie
im Mainzer Koalitionsvertrag, den Sie, insbesondere Herr
Brüderle, mit verfasst haben, das Mainzer Modell ausdrücklich gelobt
({3})
und mit dem Vermerk besonders hervorgehoben, es weiter ausbauen zu wollen. Warum Sie dann auf der Bundesebene nicht mehr mitmachen wollen, verstehe ich nicht.
Aber das ist wohl die Politik, wie wir sie von der FDP kennen: Politik, wie es gerade in den Kram passt.
({4})
Sie sprachen die 630-Mark-Jobs an. Dazu kann ich
nur sagen: mit voller Kraft zurück!
({5})
Wo standen wir denn 1998? Wir haben bundesweit einen
Missbrauch von 630-Mark-Jobs gehabt. Es wurden sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in
eine Kette von 630-Mark-Jobs umgemünzt. Daran hat nur
einer verdient:
({6})
Der Unternehmer hat Sozialversicherungsbeiträge eingespart, die andere Arbeitnehmer und Arbeitgeber für ihn
mit bezahlen mussten.
({7})
Unter Ihrer Ägide sind dann logischerweise auch die
Lohnnebenkosten gestiegen und nicht abgesenkt worden.
({8})
Wir sehen überhaupt nicht die geringste Veranlassung,
unsere Reform zurückzunehmen. Denn welche Situation
haben wir heute? 4,1 Millionen Beschäftigungsverhältnisse bewirken, dass 5 Milliarden DM in die Sozialkassen
fließen. Das reduziert die Beiträge um 0,3 Prozentpunkte
und das kommt allen Arbeitnehmern und allen Arbeitgebern zugute. Das ist vorbildliche Politik in diesem Bereich.
({9})
Dann will ich Ihnen noch etwas sagen: Die rote Linie
Ihres Antrags ist auch, zu sagen, im Niedriglohnbereich
sei der Abstand von Nettoeinkommen zur Sozialhilfe zu
gering.
({10})
Ich muss ehrlich sagen: Dies ist ganz einfach falsch.
({11})
Durch unsere Familienpolitik, nämlich die Erhöhung des
Kindergeldes und des Steuerfreibetrages, und durch unsere Steuerpolitik haben wir den Lohnabstand seit 1999
kontinuierlich vergrößert.
({12})
Das lässt sich mit Zahlen belegen. Bei einer fünfköpfigen
Arbeitnehmerfamilie beträgt der Lohnabstand 641 DM.
Bei 60 Prozent der Familien beträgt der Abstandsbetrag
sogar 1 000 DM und mehr.
({13})
Dieser Lohnabstand ist ausreichend und gibt jedenfalls
keine Veranlassung, ihn zu vergrößern.
({14})
Ich will noch etwas zu der verallgemeinernden Behauptung sagen, die Leute verblieben, weil sie nicht genügend Geld verdienten, im Sozialhilfebezug.
({15})
27,9 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind allein erziehende Mütter mit Kindern. Die haben das Problem, dass
sie nicht wissen, wo ihre Kinder betreut werden können.
Das hindert sie an der Arbeitsaufnahme. Dazu sind ganz
andere Maßnahmen erforderlich, nämlich die Ganztagsbetreuung zu verbessern. Das vermisse ich in Ihrem Antrag. Das zeigt, dass Sie zu Verallgemeinerungen neigen.
Ich sage ja auch nicht, dass, weil ein Bundestagsabgeordneter Arbeitsvermittler war und die Statistik gefälscht hat,
alle Bundestagsabgeordneten Herr Niebel heißen.
({16})
Aus diesem Grund lehne ich es auch ab, zu sagen, dass
sich alle Sozialhilfeempfänger in die Hängematte legen,
nur weil sie keine Arbeit aufnehmen.
({17})
Das Allerschärfste ist, dass die FDP, die stets gegen
Subventionspolitik ist, auf einmal subventionieren will und zwar was? Sie sagen, Sie wollen die 630-Mark-Jobs
auf 630 Euro ausdehnen. Sie von der FDP wollen also die
stoibersche Euroumstellung.
({18})
Das wiederum bedeutet, dass Sie die existierenden
Jobs in dem Bereich von 325 bis 888 Euro - dort arbeiten
nämlich 2,3 Millionen Menschen in Deutschland - staatlich subventionieren wollen. Das ist also Ihre Politik! Das
schafft vielleicht eine Entlastung für Unternehmer,
({19})
aber, das schafft keinen einzigen zusätzlichen Job.
({20})
Herr Laumann, ich bin auf keinem Holzweg. Ich versuche, Sie zu überzeugen. Vielleicht hören Sie mir zu!
Sie tun so, als ob im Niedriglohnbereich die Zukunft
der Arbeitsmarktpolitik liegt. Das aber ist nicht der Fall.
Jedes Jahr werden immer weniger Jobs im Niedriglohnbereich in Deutschland angeboten,
({21})
weil die Qualifizierungsanforderungen in jedem Jahr steigen.
({22})
Unsere Antwort im Job-Aqtiv-Gesetz ist deswegen
auch nicht, den Niedriglohnbereich zu zementieren, sondern die Qualifizierung gerade für Geringqualifizierte
und für Ältere zu verbessern.
({23})
Wir haben im Job-Aqtiv-Gesetz ein neues Förderinstrument für die Qualifizierung von Geringqualifizierten geschaffen.
({24})
Wir haben sogar die Möglichkeiten der Teilzeitarbeit
für Qualifizierung verbessert. Wir haben Job-Rotation
eingeführt und wir haben, was ich sehr wichtig finde, vor
allem die Qualifizierung von Menschen über 50 Jahren,
die in dieser Republik auf dem Arbeitsmarkt oft abgeschrieben werden, gezielt unterstützt.
({25})
Das ist ein ganzer Katalog von Qualifizierungsmaßnahmen, die ich als echte Alternativen zum Niedriglohnsektor ansehe.
({26})
Sie sprechen davon, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe
miteinander zu verzahnen. Sie nennen es „vereinheitlichen“. Da gibt es einen großen Unterschied. Ich sehe, dass
die Oberbürgermeister in meinem Wahlkreis Eurozeichen
in den Augen kriegen, weil sie das Gefühl haben: Die Zusammenlegung ist toll! Das heißt: Wir sparen kräftig Sozialhilfe ein. - Wenn ich nach Berlin komme und mit Ihnen oder anderen „Finanzern“ rede, erscheint es so, als ob
man bei der Arbeitslosenhilfe sparen könnte.
({27})
Ich möchte Folgendes dazu sagen: Die Arbeitslosenhilfe
ist genauso wenig der Sparstrumpf der Nation wie die Sozialhilfe.
({28})
Sehr wohl möglich sind aber Einsparpotenziale bei einer
intelligenten Verzahnung und genau die gehen wir an.
({29})
In der Stadt Andernach mit 30 000 Einwohnern, aus der
ich komme, hatten wir vor sechs Jahren pro 1 000 Einwohner 30 Sozialhilfeempfänger. Jetzt haben wir 22 pro
1 000 Einwohner. Das spart den Kommunen eine Menge
Geld. Was haben die Kommunen gemacht? - Sie haben
Beschäftigungsgesellschaften gegründet und Menschen
in den ersten und in den zweiten Arbeitsmarkt vermittelt
sowie Nischen ausgefüllt. Diese Strukturalternativen
kann man noch optimieren. Wenn wir es schaffen, gemeinsame Büros für Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu
gründen, wenn wir die doppelt durchgeführte Prüfung von
Einkommen oder sonstigen Verwaltungsaufwand reduzieren, wenn wir strukturelle Reformen durch eine Verzahnung hinbekommen, dann werden wir von 22 noch auf
18 Einwohner kommen. Das ist das Ziel, das wir verfolgen müssen. Das muss im Mittelpunkt der Reform stehen.
({30})
Letzter Punkt: Ich habe mit größter Überraschung gelesen, dass Sie die Arbeitszeit wieder verlängern wollen,
Frau Schwaetzer; das steht in Ihrem Antrag. Das heißt, Sie
wollen die vorhandene Arbeit in dieser Republik auf noch
weniger Schultern verteilen.
({31})
Ich will ganz deutlich machen: Wir schlagen den Ausbau
von Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen und den Abbau
von Überstunden vor. Damit wird die vorhandene Arbeit
auf mehr Schultern verteilt. Das ist genau das Gegenteil
von dem, was Sie, Frau Schwaetzer, wollen.
({32})
- Sie müssen mich in diesem Punkt nicht anmachen. Marx
zu lesen bildet. Ich empfehle Ihnen das wirklich, Herr
Laumann.
({33})
Ich möchte Ihnen nur sagen: Sie haben eine Arbeitsmarktpolitik - in diesem Punkt sind beide Oppositionsfraktionen gemeint - nach dem Gießkannenprinzip betrieben: Jeder bekommt AB-Maßnahmen - 200 000 oder
300 000 -, wenn gerade Wahlkampf ist. Wir dagegen wollen spezielle Gruppen fördern und haben die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und Schwerbehinderten ganz
gezielt zurückgeführt. Dabei sind wir nicht stehen geblieben. Wir haben ab dem 1. Januar 2002 den entscheidenden Schritt gemacht, indem wir das Individuum in das
Zentrum der Arbeitsmarktpolitik gestellt haben. Wir wollen mit dem Eingliederungsvertrag, den wir mit den Arbeitslosen abschließen, den Schritt zu einer Vereinfachung und zu einer individuelleren Betreuung der
einzelnen Arbeitslosen gehen.
Die Vermittlungsoffensive, die wir begonnen haben,
darf durch das, worüber wir jetzt diskutieren - die Statistiktricksereien, die es gegeben hat -, nicht gefährdet werden. Die Arbeitslosen sind darauf angewiesen, dass wir
eine gute Politik, die ihnen Perspektiven bietet, machen.
Deswegen müssten Sie uns eigentlich dabei helfen, dass
das Job-Aqtiv-Gesetz in den nächsten Monaten zu
100 Prozent umgesetzt wird, weil dies Arbeitslosigkeit
tatsächlich abbauen kann. Ich fordere Sie dazu auf. Jedenfalls brauchen wir von Ihnen nicht mehr daran erinnert
zu werden, weil wir schon längst auf dem Weg sind. Wir
werden diesen Weg auch konsequent weitergehen.
({34})
- Nein. Insoweit brauchen wir uns von Ihnen keine Belehrung anzuhören.
Vielen Dank.
({35})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war bei meinem
Auftreten etwas irritiert, weil von Ihnen, Herr Kollege
Brandner, Applaus kam.
Es ist schon erstaunlich, was Sie, Frau Nahles, dem Publikum vorsetzen. Heute sagen Sie, dass in dem gesamten
Niedriglohnbereich Subventionierung nicht möglich ist.
Aber gerade vor einer Stunde haben wir über Punkte debattiert, in denen Sie bis vor drei Jahren die Welt in Unordnung sahen und „Sozialabbau!“ gerufen haben, zum
Beispiel in der Frage der privaten Vermittlung. So wechseln Sie Ihre Hemden Jahr für Jahr und Tag für Tag.
({0})
Diese Chance werden Sie bei der nächsten Wahl nicht
mehr bekommen. Denn „Machen, Machen, Machen“, wie
es die Kollegin Schwaetzer gefordert hat, wird für Sie
nicht mehr möglich sein. Der Wähler wird dafür sorgen,
dass Sie sich vom Acker machen müssen. Dann machen
wir es nämlich. Das ist in der derzeitigen Situation auch
dringend notwendig.
({1})
Ich sage das auch im Zusammenhang mit der Debatte über
die Statistiken, die wir vor einer Stunde geführt haben. Ich
habe den Eindruck, Sie führen zurzeit eine große Debatte,
um davon abzulenken, wie die Situation am Arbeitsmarkt
wirklich aussieht.
({2})
Es geht mir nicht darum, darüber zu diskutieren, dass
es Fehler in der Statistik gegeben hat. Es geht mir aber darum, nicht zu vergessen, wo wir politisch zu handeln und
welche Vorgaben wir zu machen haben.
({3})
Es geht uns ähnlich wie der FDP darum, den Niedriglohnbereich flottzumachen. Wenn Sie sagen, dass hier
2 Millionen Menschen tätig sind, so ist das genau der
Punkt. Ich habe heute Mittag einen Termin mit Vertretern von Qualifizierungsverbänden gehabt. Sie versuchen,
berufliche Qualifizierung zu leisten. Wir waren uns darin
einig, dass es einen Bereich gibt, in dem berufliche Qualifizierung auch durch noch so viele Maßnahmen nichts
bringt. Vielmehr müssen wir einen Bereich für diejenigen
schaffen, die im Niedriglohnbereich Dienstleistungen erbringen könnten. Dort müssen Anreize geschaffen werden, damit es sich für den Betreffenden lohnt, eine Arbeit
aufzunehmen, und er mehr in der Tasche hat, als wenn er
in die Schwarzarbeit geht. Genau dieses Konzept ist erforderlich.
({4})
Was mich auch wundert ist: Die Grünen sind in der Frage,
wie man in diesem Bereich etwas erreichen kann, auch
näher bei uns als bei der SPD.
Das Ergebnis nach über drei Jahren Rot-Grün lautet:
Die Arbeitslosigkeit nimmt zurzeit über 14 Monate saisonbereinigt zu. Dazu sagen Sie, Frau Nahles: Wir tun etwas.
({5})
- Hören Sie mit den 16 Jahren auf. Wenn ich sehe, was Sie
in den vergangenen drei Jahren geschaffen haben, habe
ich eigentlich den größten Bammel davor, dass wir nach
der nächsten Wahl alles, was Sie an Durcheinander und
Unsinn geschaffen haben,
({6})
zügig zurücknehmen müssen. Was Sie an Umschichtungen vorgenommen haben, ist kaum noch reparierbar. Das
wird die größte Schwierigkeit werden.
Sie haben kein durchgreifendes Arbeitsförderungsreformgesetz geschaffen, stattdessen gab es das 630-MarkChaos und Regelungen zur Scheinselbstständigkeit. Das
alles hat dazu geführt, dass der Arbeitsmarkt nicht flottgemacht, sondern mit mehr Bürokratie überzogen worden
ist und dass mehr Hemmnisse entstanden sind. Darunter
leiden wir. Es ist dringend nötig, im Niedriglohnsektor
endlich Akzente zu setzen.
({7})
Die Union hat ein Dreisäulenmodell vorgeschlagen,
das ich Ihnen kurz vorstellen möchte. Diesbezüglich gibt
es große Schnittmengen mit dem Antrag der FDP-Fraktion.
({8})
Sie wissen, dass große Schnittmengen mit der FDP-Fraktion ein erster Schritt sind und dass man nach den Wahlen
durchaus zu gemeinsamen Konzepten kommen kann. Das
ist sicherlich eine gute Voraussetzung.
({9})
Dreisäulenmodell heißt, dass wir in der ersten Säule
die Grenze der geringfügigen Beschäftigung von 325 auf
400 Euro erhöhen und später dynamisieren wollen.
({10})
- Das mache ich gern. Aber lassen Sie mich nacheinander
darauf eingehen. Hören Sie erst einmal zu. Vielleicht bekommen wir dann auch mit Ihnen Schnittmengen. Aber
Sie brauchen wieder vier Jahre länger; das ist Ihr Problem.
Wir wollen außerdem die Gleichbehandlung von geringfügiger Beschäftigung und geringfügiger Nebenbeschäftigung. Das heißt, hiermit können wir durchaus auch
zum Überstundenabbau beitragen. Das führt auch dazu,
dass die Personen, die nicht mehr in den Nebenjobs bzw.
in den alten 630-Mark-Jobs arbeiten wollen, weil sich das
nicht mehr lohnt, wieder Anreize bekommen. Viele Familien brauchen das. Das ist insofern hilfreich. Was Sie bei
den 630-Mark-Jobs eingeführt haben, nämlich dass man
durch Beiträge in Höhe von 22 Prozent in die Sozialversicherung Rentenansprüche erwerben kann - Sie wissen
doch,
({11})
dass man ungefähr 150 Jahre arbeiten muss, um aus diesen Beiträgen eine Rente zu bekommen, die noch unter
dem Sozialhilfeniveau liegt -,
({12})
ist nicht interessant.
({13})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie so aufgeregt sind. Ich
habe den Eindruck, Sie sind so rappelig, weil Sie befürchten, dass die Menschen draußen im Land mitbekommen könnten, wie gut unser Modell ist.
Wir wollen, dass der Arbeitgeber wieder nur eine Pauschalsteuer von 20 Prozent zahlen muss. Das Aufkommen
aus dieser Pauschalsteuer soll in die Sozialkassen fließen,
damit dort keine Löcher entstehen. Das war bisher nicht
der Fall.
Die zweite Säule unseres Modells betrifft den Niedriglohnbereich. Sie alle wissen doch - Frau Nahles,
machen Sie doch Ihre Augen nicht zu -, dass die Niedriglohnfalle beginnt, sobald man mehr als 630 DM verdient. Kaum jemand nimmt einen Job an, in dem er zwischen 630 DM und 1 600 DM verdient.
({14})
- Das sind viel zu wenige. Wir müssen ein Angebot machen, damit wieder mehr Menschen solche Jobs annehmen.
({15})
- Frau Nahles, versuchen Sie doch einmal, mir geistig zu
folgen. Es gibt doch eine Beschäftigungslücke. Das ist
doch auch nachvollziehbar: Wenn ich Ihnen, Frau Nahles,
einen Job für 630 DM anbieten würde,
({16})
dann würden Sie sagen: Okay, den nehme ich an. - Aber
wenn ich Ihnen einen Job für 635 DM anbieten würde,
dann würden Sie sagen: Igittigitt! Finger weg! - Ihre Reaktion wäre verständlich; denn ein solcher Job würde sich
nicht lohnen, weil ab 630 DM in vollem Umfang Sozialversicherungsabgaben fällig würden. Wer ist denn so
dumm, dafür arbeiten zu gehen?
({17})
Das gilt für Jobs, in denen man bis 1 600 DM, also ungefähr 800 Euro, verdienen kann. In dem Lohnkorridor zwischen 400 und 800 Euro müssen wir etwas tun, weil schon
ab der ersten Mark über 630 DM die Sozialabgaben grausam zuschlagen. Wir wollen die Einkommen bis 800 Euro
degressiv besteuern. Der maximale Steuersatz soll 21 Prozent betragen. Wer dann eine Arbeit aufnimmt, mit der er
mehr als 325 Euro - in unserem Modell gehen wir von
400 Euro aus - verdient, wird nicht mehr das erleben, was
er momentan unter Ihrer Regierung erlebt, nämlich dass
er in vollem Umfang Sozialabgaben entrichten muss. So
machen wir diesen Lohnbereich attraktiv. Es lohnt sich
dann nämlich eine Arbeit anzunehmen, mit der man bis zu
800 Euro verdient, weil mehr Cash in der Tasche bleibt als
jetzt. Sie sind zurzeit nicht bereit, entsprechende Änderungen vorzunehmen. Ich wage aber vorauszusagen, dass
Sie, wenn Sie die Möglichkeit hätten, das tun und dann sagen würden: Ja, das ist es! - Sie sind immer vier, fünf
Jahre zu spät dran. Das ist das Problem in den letzten
dreieinhalb Jahren Ihrer Regierung gewesen. Hätten Sie
vieles von dem, was wir vor vier Jahren vorgeschlagen haben, unterstützt, dann wären wir in Deutschland wesentlich weiter.
({18})
Vieles von dem, was Sie heute als Ihr Ding verkaufen, haben Sie vor drei bis vier Jahren noch heftigst bekämpft.
Die dritte Säule betrifft die Anreize für Leistungsempfänger zur Aufnahme einer Arbeit. Wir wollen eine
Kombination aus Verstärkung der Anreize zur Arbeitsaufnahme und Verschärfung der Sanktionsmaßnahmen. Es
müssen auch strukturelle Änderungen vorgenommen
werden. Nach unserem Modell - über die Details können
wir noch reden, wenn wir nach der Wahl regierungsfähig
sind - wird das Arbeitsentgelt desjenigen, der bislang
Arbeitslosengeld bezogen hat und der eine Arbeit aufnimmt, deren Lohn niedriger ist als das Arbeitslosengeld,
bis zur Höhe des Arbeitslosengeldes durch die Bundesanstalt für Arbeit aufgestockt. Er erhält außerdem einen Zuschlag von 10 Prozent. Das verstärkt den Anreizeffekt,
weil mehr Cash in der Tasche bleibt, als wenn man nur Arbeitslosengeld beziehen würde.
Für Arbeitslosenhilfeempfänger haben wir ein ähnliches Modell entwickelt. Ihr Arbeitsentgelt wird um
20 Prozent aufgestockt, weil die Arbeitslosenhilfe etwas
unter dem Arbeitslosengeld liegt. Wir brauchen des Weiteren ein Einstiegsgeld für Sozialhilfeempfänger. Entsprechende Modellversuche sind viel versprechend angelaufen.
Frau Nahles, wir müssen vor allem dafür sorgen, dass
die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe angeglichen
werden. Ihnen fehlt aber der Mut zu wirklichen Reformen. Sie haben zwar alles in die Regierungsvereinbarung
hineingeschrieben. Aber Sie sind mitten in der Arbeit stehen geblieben. Manches haben Sie versprochen. Manches
haben Sie in Ansätzen verwirklicht. Manches haben Sie
gar nicht bis zum Ende gebracht. Sie werden an den hohen Arbeitslosenzahlen erkennen können, dass Sie gerade
im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, vor allem bei der Bezuschussung von Sozialbeiträgen, große Fehler gemacht
haben. Die Menschen merken, dass das, was Sie politisch
tun, nicht dem entspricht, was Sie versprochen haben.
Deswegen sage ich Ihnen zum Schluss:
({19})
- Ich habe das Kärtchen wirklich immer in der Tasche,
weil man dieses Angebot annehmen muss. Sie können
sich zurzeit - das ist ein Tipp auch an die Fernsehzuschauer - bei „Spiegel Online“ die Kärtchen anschauen;
dort werden die neun Versprechen von Schröder Tag für
Tag an der Wirklichkeit gemessen. Es ist ein Vergnügen,
das zu sehen.
({20})
Als ich den ersten Argumentationsstrang zum Thema
Arbeitsmarkt dort las, habe ich mir gedacht: Schau einmal
an, das entspricht ungefähr der Rede, die du vor drei Wochen hier gehalten hast. Das war Stück für Stück dasselbe.
Lesen Sie es nach, ich brauche es Ihnen jetzt nicht zu sagen.
({21})
Wir brauchen also dringend Förderangebote im Niedriglohnbereich. Wir haben heute festgestellt, dass Sie
sich weigern, hier etwas zu tun, genauso wie Sie sich vor
vier Jahren geweigert haben, andere Dinge zu tun. Diese
Maßnahmen sind aber notwendig.
({22})
Möglicherweise sind vier Jahre in der Opposition ganz
gut, weil man dann die Zeit hat, freier über die Dinge
nachzudenken. Wir haben das getan und treten mit unserem Modell an. Es wird 700 000 bis 800 0000 neue
Arbeitsplätze in diesem Bereich bringen. Deswegen ist es
ein gutes Modell.
Noch einmal: Die Aufforderung: „Machen, machen,
machen!“ an Sie reicht nicht aus, denn das Ergebnis, das
Sie hinterlassen, ist: „Murks, Murks, Murks“. Machen Sie
sich auf den Weg, wir gehen ihn dann nach dem 22. September weiter!
({23})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Ihrer engagierten Rede, Frau Schwaetzer, in der Sie den FDP-Antrag eingebracht haben, musste ich daran denken, dass die
FDP im Gegensatz zur CDU/CSU immerhin 28 Jahre an
der Regierung beteiligt war.
({0})
Da hätten Sie Ihre Wunderwaffen in der Arbeitsmarktpolitik in die Welt setzen können. Ich glaube, dass Ihre Regierungsbeteiligung eher der Grund ist, warum der Reformbedarf heute noch so riesengroß ist.
({1})
Wir brauchen, Herr Kollege Laumann, natürlich mehr
Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und flexiblere Möglichkeiten im Arbeitsmarkt, aber alles im Rahmen einer
soliden sozialen Sicherung. Wie die Vorschläge der FDP
erkauft werden sollen, kann man beim Durchlesen des
Antrages sehr gut erkennen: durch Abbau sozialer Leistungen. Genau das wollen wir nicht.
({2})
Wir brauchen auch keinen flächendeckend subventionierten Niedriglohnsektor und auch keinen Einstieg in ein
Working Poor, wie wir es aus den USA kennen.
({3})
Wir brauchen allerdings - und das ist sinnvoll - mehr
Brücken in den Arbeitsmarkt für bestimmte Personengruppen,
({4})
die es schwer haben, in den Arbeitsmarkt hereinzukommen. Außerdem brauchen wir mehr sozialversicherte Beschäftigungsverhältnisse. Das sage ich gerade an Ihre
Adresse, meine Damen und Herren von der FDP.
Die Vorschläge der FDP lassen für mich nur eine
Schlussfolgerung zu: Es ist besser, die Arbeitsmarktpolitik, wie es der Kollege Brüderle nennt, zu verriestern, als
sich mit der Arbeitsmarktpolitik der FDP in irgendeiner
Weise zu verbrüderlen. Ihre Vorschläge sind nämlich sehr
einfach.
({5})
Sie wollen den Salto rückwärts machen, die 325-EuroGrenze auf 630 Euro anheben und gleichzeitig für die entsprechenden Personen die Sozialversicherungspflicht abschaffen, sie dafür aber pauschal besteuern, also Steuern
abkassieren. Das ist nicht nur eine Rolle rückwärts, sondern bringt einen klaren Sozialabbau mit sich, den wir so
nicht wollen. Sie treffen damit 4 Millionen Beschäftigte,
die jetzt renten- und krankenversichert sind,
({6})
und ungefähr 1 Million Beschäftigte, die zwischen 325
und 630 Euro verdienen und bisher sowohl Beiträge in die
Arbeitslosen-, die Renten- und die Krankenversicherung
zahlen. Diesen Versicherungsschutz wollen Sie streichen.
Das bringt nicht nur Ausfälle in Milliardenhöhe für die
Sozialversicherung und höhlt die Sozialkassen weiter aus,
sondern es zerstört auch den sozialen Schutz der Betroffenen. Das wollen wir im Gegensatz zur FDP nicht.
Wir sind der Ansicht, dass auch die Bezieher kleiner
Einkommen den Schutz durch eine Sozialversicherung
brauchen und dass das soziale Sicherungssystem, wie wir
es von Ihnen übernehmen mussten, nicht ausbluten darf.
Wir wollen für die Probleme am Arbeitsmarkt ökonomische und sozialpolitisch vernünftige Lösungen finden.
Ihr Antrag hat in dieser Hinsicht nicht nur sozialpolitisch, sondern auch arbeitsmarktpolitisch einen blinden
Fleck. Wenn wir die Grenze bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen von 325 Euro auf 630 Euro erhöhen, dann erhöhen wir gleichzeitig die von Ihnen richtig dargestellte Barriere am Arbeitsmarkt, die darin
besteht, dass ab dem Bezug von 630 Euro auf einmal in
voller Höhe die Sozialabgaben gezahlt werden müssen.
Das führt doch zu den gleichen Verwerfungen am Arbeitsmarkt, die Sie selbst jetzt beklagen.
({7})
Wir Grüne haben vorgeschlagen, die so genannte Teilzeitmauer dadurch abzubauen, dass die Sozialbeiträge der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezuschusst werden.
({8})
Das wäre insbesondere für die Bezieherinnen und Bezieher von kleinen Einkommen ein Vorteil. Es wäre kein Vorteil für die Arbeitgeber. Deswegen würde es nicht dazu
führen, wie viele fälschlicherweise befürchten, dass die
Arbeitgeber die Arbeitsplätze aufspalten.
({9})
Das würde keine flächendeckende Subventionierung im
Niedriglohnbereich bedeuten, sondern eine Hilfestellung
für Menschen, die mehr Teilzeit arbeiten wollen.
Ich finde es ganz in Ordnung, dass die FDP unseren
Vorschlag, ein Einstiegsgeld zu zahlen, unterstützt.
Natürlich ist es vernünftig - das wird kaum jemand bestreiten -, dass Sozialhilfeempfänger von ihrem Zuverdienst möglichst viel behalten dürfen. Wenn ein Sozialhilfeempfänger etwa jeden zweiten Euro dessen, was er
dazuverdient, behalten kann, dann ist das eine gute
Größenordnung.
Die volle Wahrheit in Bezug auf das, was Sie vorschlagen, ist, dass Sie gleichzeitig den Anspruch von Sozialhilfeempfängern auf ein soziokulturelles Existenzminimum infrage stellen. Lassen Sie uns einmal Ihren
Vorschlag zur Zahlung eines Einstiegsgeldes - er deckt
sich mit unserem Vorschlag - und das, was Sie zusätzlich
vorschlagen, betrachten! Mit Ihren Vorschlägen für bessere Zuverdienstmöglichkeiten für Sozialhilfeempfänger
- sie sind gewissermaßen ein Trojanisches Pferd - soll die
Absenkung der Sozialhilfe anderer Personengruppen einhergehen. Das ist keine vernünftige Sozialpolitik. Wir
wollen diesen Weg nicht.
Außerdem schlagen Sie vor, die Höhe des Kindergeldes an die Sozialhilfesätze anzugleichen, um das Lohnabstandsgebot aufrechtzuerhalten. Auch dieser Vorschlag ist sozialpolitisch einäugig.
({10})
Ein großes Problem in Deutschland besteht heute darin,
dass das Kinderkriegen dazu führen kann, dass man in die
Sozialhilfe abrutscht.
({11})
Der von uns entwickelte Vorschlag, eine Kindergrundsicherung einzuführen, ist deswegen viel vernünftiger. Kinder sollen kein Armutsrisiko sein. Durch die Umsetzung
unseres Vorschlags können 4 Millionen Kinder in der
Bundesrepublik erreicht werden. Sozusagen ein Abfallprodukt der Umsetzung dieses Vorschlags wäre - Sie wollen das nur für eine bestimmte Personengruppe - ein vernünftiger Abstand zwischen Sozialhilfe und Löhnen.
({12})
Ich habe mich ungeheuer über das gewundert, was ich
in Ihrem Antrag über das Mainzer Modell gelesen habe
- wahrscheinlich haben Sie die neuesten Entwicklungen
nicht mitbekommen -: Die Höhe der Zuschüsse, die Menschen bekommen, die am Mainzer Modell teilnehmen,
werden nicht auf die Sozialhilfe angerechnet. Exakt das
fordern auch Sie.
({13})
Schließen Sie sich uns doch an!
Natürlich gibt es - auch dies ist in Ihrem Antrag falsch
dargestellt - eine Möglichkeit der Kombination mit den
Eingliederungszuschüssen. Es kann sein, dass eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer über das Mainzer
Modell gefördert wird und der Arbeitgeber dafür gleichzeitig einen Eingliederungszuschuss erhält. Diese Kombinationsmöglichkeit gibt es.
({14})
Außerdem ist die finanzielle Beteiligung der Länder weggefallen. Machen Sie sich also erst einmal kundig, bevor
Sie hier Anträge stellen. Wenn Sie sich das genau durchlesen, machen Sie letzten Endes an dieser Stelle bei uns
vielleicht auch noch mit.
Eines möchte ich zum Abschluss allerdings schon sagen: Auch wir Grünen sind wild entschlossen, weiter für
die Abzugsfähigkeit der Kinderbetreuungskosten ab
dem ersten Euro zu kämpfen.
({15})
Wir haben uns bisher damit nicht durchsetzen können,
aber wir halten diese Veränderung für notwendig und werden uns auch weiterhin dafür einsetzen.
Wenn man sich das, was die FDP vorschlägt, ansieht,
kann man in der Summe nur Folgendes feststellen: Es gibt
Reformbedarf, das ist richtig, aber wir brauchen keine Reform mit sozialer Schlagseite.
({16})
Wir wollen mehr Flexibilität und mehr soziale Sicherheit.
Das ist unser grünes Konzept.
({17})
Ich glaube, damit tun wir auch viel für die zukünftige Entwicklung in Deutschland.
({18})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Pia Maier von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Schwaetzer, mit diesem Antrag
bekämpfen Sie nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen.
({0})
Sie wollen noch mehr Menschen zwingen, zu niedrigen
Löhnen zu arbeiten.
({1})
Ihre Vorschläge sind nichts anderes als ein gigantisches
Programm für Armut trotz Arbeit. Das hält die PDS für
den falschen Weg.
({2})
Dass es der falsche Weg ist, kann ich Ihnen an jedem der
sechs Punkte Ihres Antrags nachweisen. Es muss ja auch
noch Unterschiede zwischen uns geben.
Erstens wollen Sie aus den 630-Mark-Jobs jetzt
630-Euro-Jobs machen, also geringfügige Beschäftigung
weiter ausweiten. Damit fielen die aus der Sozialversicherung wieder heraus, die gerade erst einbezogen wurden. Wenig Sozialversicherung ist aber besser als gar
keine. Viele Beschäftigte hätten wieder weniger Schutz,
wenn sie krank oder alt werden. Das ist doch keine Lösung. Sie schaffen damit heute nur die Armen von morgen.
({3})
Zum Zweiten glaubt die FDP, wenn sie Sozialhilfeempfängern erlaubt, mehr dazu zu verdienen, ihnen einen
Anreiz zur Arbeit zu geben. Damit werden die Betroffenen erstens nicht aus der Sozialhilfe geholt und
zweitens gibt es bessere Anreize zur Arbeit, zum Beispiel
einen ordentlichen, existenzsichernden Lohn. Dann kämen die Menschen aus der Sozialhilfe heraus und das ist
der richtige Weg.
({4})
Die FDP will das Prinzip einführen: Keine Leistung
ohne Gegenleistung. Nur wer eigenes Bemühen nachweist, bekäme dann noch genug, alle anderen nur das
Nötigste. Aber was ist mit denen, die sich nicht um Arbeit
bemühen können oder die sich bemüht haben und trotzdem keinen Job gefunden haben? Die meisten Arbeitslosen sind nicht faul. Sie wollen arbeiten und sie wollen,
dass die Arbeitslosigkeit bekämpft wird. Dafür machen
Sie keine Vorschläge.
Drittens wollen Sie das Mainzer Modell nicht auf
Bundesebene ausweiten. Da kann ich Ihnen zustimmen,
allerdings aus ganz anderen Gründen. Mit dem Mainzer
Kombilohn soll der Niedriglohnsektor ausgebaut werden.
Das heißt, es werden mehr Jobs angeboten, für die man
nur einen Hungerlohn bekommt. Von diesen Löhnen kann
niemand leben, erst recht keine Familie.
Da lohnt sich stattdessen ein Blick nach Frankreich.
Dort setzt man nicht auf Niedriglöhne, sondern versucht,
die Binnennachfrage anzukurbeln - mit Erfolg. Dort gibt
es einen gesetzlichen Mindestlohn. Wer den verdient, gibt
ihn auch aus, stärkt damit unmittelbar die Nachfrage
({5})
und schafft indirekt neue Arbeitsplätze. Gäbe es in
Deutschland einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn von zum Beispiel 9,20 Euro pro Stunde,
({6})
ich verspreche Ihnen, die Schwarzarbeit würde eingedämmt, die Binnennachfrage gestützt und Armut erfolgreich bekämpft.
({7})
Das ist notwendig, denn von Arbeit muss man leben können.
Viertens wollen Sie ordentliche sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Haushalt schaffen. Das ist
der einzige Punkt, an dem Sie in Ihrem Antrag wirklich
von neuen Arbeitsplätzen reden; sonst reden Sie nur von
neuen Sanktionen. Das ist ein alter Hut. Damit sind Sie
während Ihrer Regierungszeit schon einmal gescheitert.
Damals wollten Sie 50 000 Jobs damit schaffen.
Daraus ist nichts geworden und das wäre heute nicht anders. Egal, wie es besteuert würde, wer kann es sich schon
leisten, eine ordentliche sozialversicherungspflichtige
Stelle in einem Haushalt zu schaffen? Es gibt nicht genug
gut verdienende oder reiche Familien, die sich eine Haushaltshilfe leisten können, um damit ein Signal am Arbeitsmarkt auszulösen. Aber genau das gaukeln Sie vor.
Außerdem wollen Sie die Arbeitslosenhilfe abschaffen. Die so genannte Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist vor allem ein Verarmungsprogramm für alle qualifizierten Langzeitarbeitslosen und deren Familien. Dazu muss man sich das
Haushaltseinkommen der Familien ansehen. Das kann
schnell um 600 Euro geringer werden, wenn es statt der
Arbeitslosenhilfe nur noch den Anspruch auf Sozialhilfe
gibt; denn vor dem Anspruch auf Sozialhilfe müssen
eventuell das restliche Vermögen aufgebraucht und die
Wohnung gewechselt werden, wenn sie ein paar Quadratmeter zu groß ist. All das galt für Arbeitslosenhilfeempfänger und -innen bislang nicht. Die Arbeitslosenhilfe hat
einen Bezug zum letzten Lohn. Hier gilt auch die Qualifikation noch etwas, wenn es um die Zumutbarkeit von Arbeit geht. Gerade Betroffene mit einer hohen Qualifikation,
die auch hohe Beiträge in die Arbeitslosenversicherung
eingezahlt haben, bekämen ohne Arbeitslosenhilfe deutlich weniger, wenn sie lange Zeit arbeitslos sind.
Nein, diesen Ansatz gegen Arbeitslose wollen wir nicht.
Wir wollen keine Verarmung, sondern wir wollen, dass Arbeitslose zumindest eine Grundsicherung erhalten und
({8})
dass sie sich nicht mit zwei Ämtern herumschlagen müssen. Dazu muss man die Arbeitslosenhilfe nicht abschaffen, sondern die, die arbeiten wollen, aus dem Sozialamt
herausholen.
Am Schluss sprechen Sie auch von einer grundlegenden Arbeitsmarktreform. Das heißt bei Ihnen aber nur,
dass das Arbeitslosengeld gekürzt und die Arbeitslosen
gegängelt werden, damit sie schneller wieder arbeiten gehen. Wo sollen sie denn arbeiten? Es gibt gar nicht so viele
Jobs mit niedrigen Löhnen, wie Sie es immer darstellen.
({9})
Ihr Antrag hilft auch nicht, solche Jobs zu schaffen. Wohin sollen denn die 4,3 Millionen Arbeitslosen vermittelt
werden? Auf jede freie Stelle kommen im Bundesdurchschnitt zehn Bewerber.
Eine grundlegende Arbeitsmarktreform bedeutet,
Arbeitsplätze zu schaffen, von denen die Menschen auch
leben können. Dazu braucht man kein Job-Aqtiv-Gesetz.
Man braucht Investitionen in den Kommunen, die dafür
Geld benötigen, und man braucht Initiativen des Bundes
und der Länder, um die Wirtschaftsförderung auch beschäftigungswirksam einzusetzen. Damit der Aufschwung trägt, müssen die Leute auch etwas verdienen,
das sie ausgeben können.
({10})
Wir brauchen keine niedrigen Löhne, sondern wir brauchen bessere Löhne bei mehr Arbeitsplätzen.
Danke schön.
({11})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Jäger von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem heute zu debattierenden Antrag stellt die FDP einige Behauptungen und
Forderungen auf, die man sich in der Tat einmal genauer
ansehen sollte, weil darin einige grundlegende sozial- und
arbeitsmarktpolitische Vorstellungen dieser Partei sehr
deutlich werden. Das geht hin bis zu einem entwürdigenden Niedriglohnbereich, der sehr umstritten ist.
({0})
Der Hauptangriff der FDP richtet sich gegen die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung, die wir zum
April 1999 eingeführt haben. In diesem Zusammenhang
behauptet sie tatsächlich, dass durch diese gesetzliche
Neuregelung die geringfügige Beschäftigung deutlich
zurückgedrängt worden sei.
({1})
Diese Behauptung ist schlichtweg falsch, Frau Schwaetzer.
({2})
Richtig ist, dass die geringfügige Nebenbeschäftigung
neben einem sozialversicherungspflichtigen Haupterwerb
abgenommen hat. Die ausschließlich geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse haben aber zugenommen, sodass sich am Gesamtumfang nahezu nichts geändert hat.
Das können Sie auch in der Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nachlesen.
({3})
Von einer falschen Basis ausgehend kann die FDP
natürlich nicht zu richtigen Schlussfolgerungen kommen.
({4})
Sie will die Schwelle bei der geringfügigen Beschäftigung von derzeit 325 Euro auf 630 Euro anheben und
({5})
dabei die Sozialversicherungspflicht wieder gänzlich abschaffen. Wenn wir das machen würden, fielen wir wieder
in den alten Auflösungsprozess bei regulären Arbeitsverhältnissen zurück.
({6})
- Herr Meckelburg, reden Sie doch nicht! Die Arbeitslosigkeit im Januar 1998 betrug 4,8 Millionen. Diese Zahl spricht
für sich. Stellen Sie sie bitte der Zahl von heute gegenüber.
({7})
- Das stimmt nicht.
Auch Sie als Opposition müssten die negativen Auswirkungen dieses Verfallsprozesses kennen: kein Sozialversicherungsschutz für Arbeitnehmer, Aufweichung des
Kündigungsschutzes sowie der tariflichen Bezahlung,
Mindereinnahmen in den Sozialversicherungskassen.
Vergessen Sie bitte auch nicht, dass in dieser Zeit zuhauf
abhängig Beschäftigte in die Scheinselbstständigkeit geschickt wurden, die ebenfalls nicht in der Lage waren, für
ihre soziale Sicherung aufzukommen.
({8})
Damit haben Sie Armut und zusätzliche Kosten für die
Gesellschaft, ganz konkret für die Sozialhilfe, produziert.
Vielleicht hätte die alte Regierung die Mindereinnahmen in den Sozialversicherungssystemen mit Beitragserhöhungen um 0,3 Prozentpunkte ausgeglichen, den weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten hingenommen und
damit weitere Erschwernisse am Arbeitsmarkt in Kauf
genommen - ein Teufelskreis!
({9})
Diesen Teufelskreis haben wir durch unsere gesetzlichen
Regelungen durchbrochen. Wir haben in diesem Bereich
des Arbeitsmarktes Recht und Ordnung wieder hergestellt.
({10})
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bereinigt um die
geringfügigen Nebentätigkeiten hat sich die Zahl der geringfügigen, nunmehr aber sozialversicherten Beschäftigungsverhältnisse von 3,6 Millionen im Jahr 1999 auf
4,1 Millionen im Jahr 2001 erhöht.
({11})
- Aber es ist wenigstens eine Rente, Frau Schwaetzer.
({12})
Sie wissen genau, dass wir durch diese Regelungen
auch Einnahmen in der sozialen Rentenversicherung von
jeweils 3 Milliarden DM in den Jahren 2000 und 2001 und
in der Krankenversicherung von 2,2 Milliarden DM verbuchen können. Für mich ist es überhaupt nicht einsehbar,
warum man das alles aufgeben und der Auflösung von sozialversicherten Beschäftigungsverhältnissen das Tor
wieder weiter öffnen soll.
({13})
Herr Meckelburg, nun zu Ihrem Problem mit der Überschreitung der 325-Euro-Grenze, das Sie angesprochen
haben. Genau diesem Grenzproblem, dass sich der Nettolohn bei einer geringfügigen Überschreitung aufgrund der
zu zahlenden vollen Beiträge zur Sozialversicherung trotz
Mehrarbeit verringern kann, begegnen wir mit dem Mainzer Modell. Das sollten Sie sich einmal anschauen, dann
bräuchten Sie das hier nicht mehr zu kritisieren.
({14})
- Das Mainzer Modell steht allen Personen offen, die über
325 Euro bis 897 Euro verdienen. Es führt in sozialversicherte Beschäftigungsverhältnisse.
({15})
Die Förderung wird dabei entbürokratisiert. Gefördert
werden Sozialversicherungsbeiträge und ein Kindergeldzuschuss. Das hat etwas mit Sozialpolitik zu tun.
Lassen Sie mich noch einige Forderungen der FDP
nennen, die wir nicht mittragen können: Das Arbeitslosengeld ist zu senken, ABM und Strukturanpassungsmaßnahmen sind einzuschränken - wohlgemerkt unabhängig von der Höhe der Arbeitslosigkeit -, Wahltarife
sind einzuführen,
({16})
das Tarifrecht soll per Gesetz geöffnet werden, das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz soll wieder aufgeweicht
werden. All das sind Maßnahmen, Frau Schwaetzer, die
ebenfalls keine Arbeitsplätze schaffen.
({17})
Wenn wir das machen würden, schlügen wir den Kurs
zu einem Billiglohnsektor nach amerikanischem Vorbild
ein. Mit diesem Sektor geht die US-amerikanische Sozialkritikerin Barbara Ehrenreich hart ins Gericht. Sie
schreibt: „... wenn sich ein gesunder, allein stehender
Mensch trotz zehn Stunden Arbeit am Tag kaum über
Wasser halten kann“, dann ist etwas faul. Damit hat sie
Recht.
({18})
Sie muss es wissen, denn sie hat Billiglohnjobs ausgeführt
und dabei Willkür, Demütigung und Entwürdigung erfahren.
Diesen Weg in die völlige Entsolidarisierung der Arbeitswelt können wir nicht mitgehen. Jeder muss eine
Chance haben, sich durch Arbeit ein würdiges Leben aufzubauen.
({19})
Wenn dies nicht möglich ist, muss er das Recht haben, Solidarität einzufordern.
Frau Kollegin Jäger, kommen Sie bitte zum Schluss.
Damit bin ich bereits am
Schluss.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon ein
bisschen beschämend, dass trotz der 4,3 Millionen Arbeitslosen jeder neue Ansatz, Strukturen aufzubrechen
und frischen Wind in das System hineinzubringen, niedergemacht wird und von Ihnen ideologische Grabenkämpfe geführt werden.
({0})
Liebe Frau Nahles, Sie haben uns eloquent erzählt, was
Sie alles gemacht haben. Wir haben Ihnen von vornherein
gesagt: Das ist Murks und Gesetzgebungsaktionismus.
Sie haben aber nicht auf uns gehört.
({1})
Jetzt haben wir 4,3 Millionen Arbeitslose. Die Realität hat
also das bestätigt, was wir Ihnen immer gesagt haben.
({2})
Ich habe heute gehört, Frau Nahles, dass Sie Expertin
für Karl Marx sind.
({3})
Wahrscheinlich gibt es noch einige Kollegen bei der PDS,
die sich auf diesem Gebiet ebenfalls auskennen. Selbst
Karl Marx würde die Tatsache nicht bestreiten, dass die
wichtigsten Wohlstandseffekte in allen Industriestaaten
dadurch zustande kommen, dass es die Arbeitsteilung
gibt. Ich hoffe, Sie haben diesen Begriff schon einmal
gehört.
({4})
Unter Arbeitsteilung versteht man, dass jeder das, was er
kann, so gut wie möglich macht. Ich möchte Ihnen im Folgenden das Problem erklären, damit Sie es nachvollziehen
können. Frau Jäger, beim Herbert-Wehner-Bildungswerk
könnte man über diese Themen auch einmal diskutieren.
Wir haben den Prozess der Arbeitsteilung in einem
ganz wichtigen Bereich zum Erliegen gebracht, und zwar
ausgerechnet in dem Bereich, der weltweit als Jobmaschine gilt, nämlich im Dienstleistungsbereich. Wir haben
den Prozess der Arbeitsteilung durch Überbürokratisierung - das ist hier schon mehrfach gesagt worden -, durch
eine produktivitätsunabhängige Kostenbelastung der Arbeit und durch eine faktisch voraussetzungslose Gewährung von Sozialleistungen und von Transferzahlungen abgewürgt und zum Stillstand gebracht.
Frau Maier, auch das muss ich sagen: Durch unser Sozialsystem gibt es faktisch Mindestlöhne. Weil es ein bestimmtes Sozialhilfeniveau gibt, wird niemand unterhalb
dieses Niveaus arbeiten. Das ist auch nachvollziehbar.
Wir haben also faktisch das System der Mindestlöhne.
Sie werden nicht bestreiten, dass wir ein großes Potenzial von - zugegebenermaßen gering qualifizierten Menschen aus dem Prozess der Arbeitsteilung ausgeschlossen haben. Das Problem ist nicht nur, dass wir auf
die Arbeitsleistung dieser gering qualifizierten Menschen
verzichten. Wir verzichten gleichzeitig darauf, die Arbeitsbedingungen für besser qualifizierte Menschen zu
verbessern.
Das Beispiel von der Haushaltshilfe in dem Antrag der
FDP macht das Problem deutlich. Wenn wir nicht die Bedingungen dafür schaffen, dass die ungelernte Kraft in einem Haushalt einen Arbeitsplatz finden kann, dann
ermöglichen wir es der gut ausgebildeten Filialleiterin,
der Handwerkerin oder der Lehrerin nicht, in ihrem Beruf
tätig zu sein und eine höher qualifizierte Leistung zu erbringen,
({5})
weil sie einkaufen und daheim kochen und waschen muss.
Sie muss also Tätigkeiten verrichten, die eigentlich jemand, der weniger qualifiziert ist, genauso gut machen
könnte.
({6})
Denselben Effekt, wenn gleich nicht so plastisch darstellbar wie das Beispiel von der Haushaltshilfe, gibt es in
der gewerblichen Wirtschaft. Ich habe bei vielen Besuchen von Unternehmen festgestellt, dass es in den allermeisten deutschen Unternehmen ohne weiteres möglich
wäre - ich wage es jetzt, eine Zahl zu nennen -, die Zahl
der Beschäftigten sofort um 10 Prozent zu erhöhen, wenn
es denn möglich wäre, ohne bürokratischen Aufwand und
in einem angemessenen Verhältnis von Produktivität zu
Arbeitskosten entsprechende Regelungen umzusetzen.
Stattdessen muss die Arbeit von denen miterledigt werden, die aufgrund ihrer Qualifikation im Grunde eine viel
höherwertige Arbeit verrichten und eine höhere Produktivität erzielen könnten.
Meine Damen und Herren, dieser Zusammenhang ist
auch der Grund, warum der Niedriglohnbereich für die
Frage der Mobilisierung von Wachstum eine viel größere
Bedeutung hat, als viele annehmen. Umgekehrt können
Sie dies auch daran sehen, dass sich durch die Vernichtung
Hunderttausender von Arbeitsplätzen im 630-DM-Bereich, also bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, durch Ihre Gesetzgebung
({7})
im Grunde genommen ein viel dramatischerer Negativeffekt
({8})
für die Konjunktur eingestellt hat, als sich dies viele vorher vorgestellt haben.
({9})
Wir müssen die Wachstumsbremsen beseitigen. Das
heißt: weg mit der Bürokratie, weg mit den motivationsvernichtenden Kostenbelastungen für Arbeitgeber und
Arbeitnehmer
({10})
und vor allem her mit Anreizen für die Arbeitsaufnahme.
({11})
Dies gilt auch für diejenigen, die jetzt im sozialen Netz
aufgefangen werden, auf deren Leistung wir aber nicht
verzichten dürfen und nicht verzichten können.
({12})
Ich sehe in einem Punkt eine Differenz zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, den ich
ansonsten voll und ganz unterstützen kann. Wir müssen
Dr. Hans-Peter Friedrich ({13})
diejenigen, die heute Zahlungen aus öffentlichen Kassen
erhalten, zur Arbeitsaufnahme bewegen. Damit bin ich
einverstanden. Wir müssen Anreize für die Arbeitsaufnahme und umgekehrt auch Sanktionen verstärken. Auch
damit bin ich einverstanden.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP
- wenn Sie mir einen Moment zuhören, dann werde ich Ihnen sagen, was mir an Ihrem Antrag weniger gut gefällt -,
an einer Stelle schütten Sie das Kind mit dem Bade aus.
Sie bestrafen nämlich die eigentlichen Opfer der wirtschaftlichen Katastrophe, die diese rot-grüne Regierung
angerichtet hat und für die sie auch verantwortlich ist.
({14})
Es ist nicht in Ordnung - lassen Sie mich das sagen -,
wenn Sie heute einem 53-Jährigen, der seinen Arbeitsplatz
verloren hat, weil sein Unternehmen Insolvenz anmelden
musste, sagen: Jetzt bekommst du noch 12 Monate Arbeitslosengeld und dann musst du sehen, wo du bleibst.
({15})
Ich denke, dass so etwas erst dann gerechtfertigt und fair
ist, wenn wir alle Möglichkeiten der Chancenverbesserung, insbesondere für ältere Arbeitnehmer, ausgeschöpft
haben.
({16})
Das Einzige, was wirklich hilft, ist der Appell an die
Tarifpartner, dass wir in dieser Richtung neue Wege gehen. Es ist völliger Quatsch, sinnlos hohe Lohnforderungen zu stellen. Denn die Menschen bekommen zwar ein
bisschen mehr Geld. Aber dann holt Herr Eichel es ihnen
über Abgaben und Steuern wieder aus der Tasche.
({17})
Ich denke, die Tarifpartner sollten sich vielmehr auf
eine Qualifikationsoffensive in den Betrieben konzentrieren.
({18})
Ich bin mir darüber im Klaren, dass dies für die Unternehmen sicher eine teure Angelegenheit wird. Aber diese
Investition in Humankapital kommt den Arbeitgebern wie
den Arbeitnehmern gleichermaßen zugute.
Meine Damen und Herren, was hilft es denn dem Arbeitnehmer - auch das sage ich in Richtung Gewerkschaften -, wenn er heute 4 oder 5 Prozent mehr Lohn bekommt,
({19})
in drei oder vier Monaten aber ohne eine Chance auf Wiederbeschäftigung arbeitslos ist? Besser wäre es, Arbeitgeber und Arbeitnehmer würden ihre Kraft und ihr Geld in
betriebsbezogene Qualifikationen investieren. Ich denke,
dann könnten sich die Arbeitgeberverbände auch ihre Arie
von der Zuwanderung sparen.
Erst dann, wenn wir einem 53-Jährigen die Chance
bzw. die Aussicht geben können, dass er, wenn er arbeitslos geworden ist, noch einen Arbeitsplatz findet, kann
man ihm zumuten, Frau Schwaetzer, mit einer kürzeren
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auszukommen.
({20})
Ich komme zurück zum Niedriglohnbereich. Ich begrüße außerordentlich Ihren Ansatz, der zwar nicht weiter
ausgeführt ist, aber zumindest andeutet, die Rolle der
Kommunen bei der Arbeitsvermittlung zu verstärken.
Denn hier besteht in der Tat die Chance, dass die Arbeitsvermittlung etwas näher an das reale Arbeitsleben und an
die Unternehmerschaft heranrückt.
Ich habe viel mit Bürgermeistern gesprochen, die im
Hinblick auf den Sozialhilfebereich Vermittler einstellen,
die in die Betriebe gehen, die auch die Zeit haben, mit den
Unternehmern darüber zu reden, was sie brauchen, wen sie
nehmen könnten, die also einen viel besseren Überblick
haben als eine sehr stark zentralisierte und mit Verwaltungsaufgaben überlastete Arbeitsverwaltung. In diese
Richtung sollten wir weiter überlegen. Natürlich muss
man den Kommunen - das sage ich von vornherein, damit
unsere Bürgermeister nicht erschrecken - auch das dafür
notwendige Geld geben; das wird ein wichtiger Punkt sein.
({21})
Jedenfalls scheint es mir richtiger und sinnvoller zu
sein, eine Strukturreform der Arbeitsvermittlung anzupacken, als in einem ständigen Gesetzgebungsaktionismus, den Sie vonseiten der rot-grünen Koalition hier betreiben, weiter mit wenig leistungsfähigen oder gar nicht
mehr leistungsfähigen Strukturen zu hantieren.
Der dramatische Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit
- wir haben das vor zwei Wochen gehört - beweist ja auch,
dass Ihre viel gepriesenen Konzepte wie JUMP und was es
da alles gibt einfach an der Realität gescheitert sind, und
das müssen Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
({22})
Unsere Vorschläge zur Entbürokratisierung der 630DM- oder der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
liegen auf dem Tisch. Wichtig ist vor allem, dass wir auch
eine Senkung der Sozialversicherungsabgaben für Löhne
über 400 Euro durchsetzen. Notwendig ist ein linearer Anstieg, um genau das zu vermeiden, was vorhin schon angesprochen worden ist - Frau Dückert, ich glaube, Sie waren es, die das angesprochen hat -, nämlich Sprünge bei
starren Obergrenzen. Solche starren Obergrenzen darf es
nicht geben. Notwendig ist ein linearer Anstieg der Belastungen. Dann, denke ich, kann man auch im Bereich von
Löhnen über 400 Euro etwas bewegen.
Für den Niedriglohnbereich - da stimme ich Ihnen, Frau
Schwaetzer, zu - wird offiziell ein Potenzial von 700 000
bis 800 000 Arbeitsplätzen gesehen.
({23})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({24})
Das Potenzial ist, denke ich, sogar größer, wenn es uns gelingt, auch die Existenzgründer im Bereich der personennahen Dienstleistungen wieder stärker zu ermutigen.
Wenn es den Menschen dient, muss man notfalls auch
ideologische Grundpositionen aufgeben. Dazu rufe ich
Sie auf.
Es ist sehr bedauerlich, dass sich Rot-Grün einer ernsthaften Debatte - das haben wir heute wieder gemerkt verweigert. Sie sind am Ende. Sie haben keine Konzeption. Sie haben keinen Ansatz. Sie wissen nicht, wohin Sie
wollen. Sie haben keine Vision für dieses Land.
({25})
Deswegen hofft die Nation auf neue Mehrheiten im Deutschen Bundestag.
Ich bedanke mich.
({26})
Das Wort
hat nun der Herr Kollege Peter Dreßen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Friedrich, ich habe mir Ihre Ausführungen
und Ihre Vorstellungen über Tarifgespräche angehört. Dazu
kann ich nur sagen: Gott sei Dank sind Sie da nicht betroffen und müssen da nicht entscheiden. Die letzten
50 Jahre haben gezeigt, glaube ich, dass die Tarifpartner verantwortungsbewusst gehandelt haben. Wir sind noch immer
Exportweltmeister; so schlimm können die Tarifverträge in
den letzten 50 Jahren also nicht gewesen sein. Sie können
sicher sein, dass es auch in Zukunft so sein wird.
Ernsthafte Vorschläge sind bei uns immer gut aufgehoben. Sie werden durchdacht. Der FDP-Antrag „Für substanzielle Arbeitsmarktreformen im Niedriglohnsektor“
ist insofern nicht sonderlich überraschend, als wieder einmal eine ganze Liste von neoliberalen Forderungen zur
Liberalisierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
vorgetragen wird. Die Umsetzung solcher Forderungen
würde wohl kaum zusätzliche Beschäftigungseffekte haben, wohl aber einen Beitrag dazu liefern, dass Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt
weiter zunähmen. Nichts anderes lese ich aus Ihrem Antrag heraus.
({0})
Ihr Antrag ist so ein richtig bunter Mix aus Falschinformationen, Forderungen nach Maßnahmen, die wir
bereits durchgeführt haben, sowie Vorschlägen, die weder
eine Wende am Arbeitsmarkt herbeiführen noch überhaupt finanzierbar sind. Über die Finanzierung machen
Sie sich überhaupt keine Gedanken. Als Opposition stellen Sie fleißig Anträge und fordern, diese Steuer müsse
weg oder jene Steuersenkung müsse vorgezogen werden,
aber dazu, wie das Ganze finanziert werden soll, hört man
aus der Opposition nie ein Wort.
Beim Lesen Ihres Antrags hatte ich auch den Eindruck,
dass es vonnöten ist, Sie nochmals auf die Leistungen der
Regierung aufmerksam zu machen.
({1})
Sie haben einige Dinge nicht richtig verstanden und Ihr
Wissen muss auch auf den aktuellen Stand gebracht werden.
Wenn Sie zum Beispiel eine organisatorische Zusammenarbeit von Arbeits- und Sozialämtern fordern, so
muss ich Sie darauf hinweisen, dass wir mit dem Modellversuch MoZArT
({2})
bereits derzeit die verstärkte Kooperation der Ämter erproben. MoZArT steht für Modellprojekt zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
der Sozialhilfe. Bundesweit werden mit rund 30 Millionen DM 30 Projekte gefördert, die zum Ziel haben, mehr
Menschen in Arbeit zu bringen, Eingliederungsverfahren
effizienter zu gestalten und die Verwaltung zu vereinfachen.
({3})
Herr Meckelburg und Frau Schwaetzer haben eben
wieder gesagt, wir hätten auf dem Arbeitsmarkt wenig
oder fast nichts getan. Ich will Ihnen einiges in Erinnerung
rufen.
({4})
Ich will vorausschicken, dass die Bundesregierung keine
Arbeitsplätze schaffen, sondern nur Rahmenbedingungen
festlegen kann. Arbeitsplätze müssen dann in den Betrieben geschaffen werden. Wenn wir uns darüber einig sind,
ist das schon einmal ein Schritt nach vorne.
Was haben wir konkret getan? Wir haben durch die
Steuerreform, die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge sowie die Erhöhung des Kindergeldes und des
BAföGs die Kaufkraft kräftig gesteigert.
({5})
Auch die Wohngeldnovelle darf man nicht vergessen.
Wenn Sie das alles zusammenzählen, Kollege Laumann,
dann kommen Sie auf 50 Milliarden Euro mehr in den Taschen von Familien und Arbeitnehmern. Ihre Alternative
war doch, dass Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit
die Lohnnebenkosten von 34 auf 42 Prozent hochgejagt
haben. Wer hat denn dieses Desaster hinterlassen? Doch
nicht wir. Das waren Sie. Ihre Alternativen in Ehren, aber
sie sind nichts wert.
({6})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({7})
Als Regularium müssen natürlich auch faire Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt herrschen. Hier haben wir
einiges getan: Wir haben den Kündigungsschutz, den Sie
und auch andere abgelehnt haben, eingeführt. Sie haben
widerrechtlich behauptet, dass die Regelungen der
630-DM-Jobs Arbeitsplätze vernichtet hätten. Sie wissen
genau, dass das Gegenteil der Fall ist.
({8})
Wir haben mit den 630-DM-Jobs einiges erreicht. Ich
möchte darauf nicht näher eingehen. Lesen Sie bitte noch
einmal nach, was die Kollegin Nahles dazu gesagt hat.
Thema Scheinselbstständigkeit: Auch hier haben wir
versucht, wieder faire Bedingungen für Menschen zu
schaffen, die in die Armut getrieben worden waren. Das
Entsendegesetz, das Schlechtwettergeld und das Betriebsverfassungsgesetz sind Maßnahmen für faire Wettbewerbsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, mit denen wir
Erfolg hatten.
({9})
Ich denke auch an das Sofortprogramm, den Abbau der
Jugendarbeitslosigkeit durch das JUMP-Programm. Sie
haben es lächerlich gemacht. Es hat aber über 400 000 Jugendlichen wieder zu einer Perspektive verholfen.
({10})
Wir haben eine Initiative für Schwerbehinderte gestartet. Sie hat zwar nur einer kleinen Gruppe geholfen,
aber immerhin haben wir schon über 26 000 Schwerbehinderte in Arbeit gebracht. Das Ziel, bis Ende nächsten
Jahres 50 000 Schwerbehinderte in Arbeit zu bringen,
werden wir mit unseren Aktivitäten ebenfalls erreichen.
Sie sehen: Wir haben einiges getan.
({11})
Dazu kommt noch das Zukunftsinvestitionsprogramm. Auch dazu haben Sie gesagt: Das Geld sollte anders eingesetzt werden. Ich muss Ihnen sagen: In meinem
Wahlkreis freuen sich zwei Gemeinden riesig darüber, dass
sie nun zwei Ortsumgehungen haben; sie haben 40 Jahre
dafür gekämpft. Sie haben das während Ihrer 16 Jahre
Regierungszeit nicht erreicht. Wir haben es nach drei Jahren geschafft.
({12})
Ich denke - auch das wird von Ihnen immer lächerlich
gemacht - an das Bündnis für Arbeit. Beim Bündnis für
Arbeit haben wir es immerhin geschafft, dass ein Ausbildungskonsens und eine positive Ausbildungsbilanz erreicht wurden. Das haben Arbeitgeber, Gewerkschaften
und Regierung als gemeinsames Ergebnis erzielt. Auch
wurde - das war nicht so erfolgreich - der Abbau von
Überstunden vereinbart. Hier haben die Arbeitgeber zwar
zugesagt, etwas zu tun. In der Praxis haben sie leider
Gottes zu wenig getan. Aber immerhin hat man zumindest
etwas erreicht.
Dann haben wir das Teilzeitgesetz und die befristeten
Arbeitsverträge geschaffen. Auch Ihnen müsste es entgegenkommen, dass wir dadurch mehr Flexibilität haben.
Auch die Qualifizierungsoffensive ist hier zu nennen. Ich
meine, wir haben einiges getan.
Wenn Sie sich jetzt unser neues Projekt, das JobAqtiv-Gesetz anschauen, dann werden Sie erleben, dass
damit die größte Vermittlungsoffensive, die es in diesem
Land je gab, durchgeführt wird. Es ist zwar bedauerlich,
was bei der Bundesanstalt für Arbeit passiert ist. Aber ich
bin mir sicher: In zwei oder drei Wochen haben wir es mit
dem Job-Aqtiv-Gesetz in den Arbeitsämtern erreicht, dass
wir die Arbeitslosen wirklich zielgenauer, effizienter und
unbürokratischer schnell in Arbeit bekommen.
({13})
Das Thema Arbeitsplatz hängt natürlich auch mit Bildung zusammen. Wir haben das Meister-BAföG, das Sie
abgeschafft haben, wieder eingeführt, weil wir gesehen
haben, dass es 40 000 Handwerksbetriebe ohne Nachfolger gibt. Es war notwendig, das Meister-BAföG wieder
einzuführen, damit auch Menschen, die nicht so viel Geld
haben, zu einem Meisterbrief kommen. Also auch dies ist
eine dauerhafte Investition.
({14})
Letzter Punkt. Sie reden immer von innovativen Arbeitsplätzen. Was haben wir denn mit dem Förderprogramm für erneuerbare Energien und dem 100 000Dächer-Programm getan? Ich will Ihnen nur in
Erinnerung rufen, wie viele Handwerker dadurch Arbeit
gefunden haben.
({15})
Oder wenn ich an die Windkraft denke: Da arbeiten inzwischen 30 000 Menschen. Die Windkraftindustrie hat
heute einen so hohen Stahlverbrauch wie die gesamte
Werftindustrie.
Wenn wir die alte Politik weitergemacht hätten, wären
wir heute bei 5 bis 6 Millionen Arbeitslosen. Wenn Sie die
Bilanz hätten, die wir haben, dann würden Sie sich beim
Papst den Heiligenschein holen.
({16})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8143 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 g auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Anpassung bestimmter Bedingungen in der Seeschifffahrt an den internationalen
Standard ({0})
- Drucksache 14/6455 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Rainer
Funke, Hildebrecht Braun ({2}), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Seeunfalluntersuchungsgesetzes ({3})
- Drucksache 14/6892 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({5})
- Drucksache 14/8264 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Wolfgang Börnsen ({6})
Helmut Wilhelm ({7})
Dr. Winfried Wolf
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Annette Faße, Reinhard Weis ({8}),
Hans-Günter Bruckmann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Kerstin Müller ({9}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des Deutschen Binnenschifffahrtsfonds
({10})
- Drucksache 14/6159 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
- Drucksache 14/7882 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({13}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission für den Europäischen
Rat von Biarritz über die Gesamtstrategie der
Gemeinschaft für die Sicherheit im Seeverkehr
KOM ({14}) 603 endg.; Ratsdok. 11997/00
- Drucksachen 14/4945 Nr. 2.24, 14/6251 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Konrad Kunick
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({15})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christine
Lucyga, Annette Faße, Gerd Andres, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Kerstin Müller ({16}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schiffssicherheit auf der Ostsee verbessern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({17}), Dirk Fischer ({18}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Optimierung der Ostseesicherheit im Bereich
der Kadetrinne
- Drucksachen 14/6211, 14/5752, 14/6909 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christine Lucyga
Wolfgang Börnsen ({19})
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({20}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an das Europäische
Parlament und den Rat
Verbesserung der Dienstqualität in Seehäfen:
Ein zentraler Aspekt für den europäischen Verkehr
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über den Marktzugang für Hafendienste
KOM ({21}) 35 endg.; Ratsdok. 06375/01
- Drucksachen 14/6214 Nr. 2.2, 14/7890 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Konrad Kunick
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({22}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Reinhard Weis
({23}), Hans-Günter Bruckmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Kerstin Müller ({24}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
ILO-Übereinkommen über die soziale Betreu-
ung der Seeleute ratifizieren
- Drucksachen 14/5247, 14/7898 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singhammer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
g) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({25}), Dirk Fischer
({26}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Untersuchung von Seeunfällen ({27})
- Drucksache 14/8108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({28})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Angelika Mertens, Parlamentarische Staatssekretärin, das Wort.
Herr
Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung bekräftigt ihre Auffassung, daß
die breite Palette der teilweise gemeinsam mit den
Küstenländern eingeleiteten Vorsorge- und Bekämpfungsmaßnahmen die Sicherheit und den Schutz der
maritimen Umwelt in der Deutschen Bucht gewährleisten.
Das war die Antwort der ehemaligen Bundesregierung auf
die Kleine Anfrage „Sicherheit in der Deutschen Bucht“
vom 28. September 1998. Die ehemalige Regierung sah
also genau einen Monat vor der „Pallas“-Havarie keine
Veranlassung, ihr maritimes Notfallkonzept zu überarbeiten.
({0})
Wir haben umgehend nach der Havarie Verantwortung
für die Verbesserung der maritimen Sicherheit übernommen. Wir stützen uns dabei auf drei Komponenten: ein optimiertes Notfallmanagement, den sicheren Verkehrsweg
und das sichere Schiff. Wir haben die Empfehlungen der
unabhängigen Expertenkommission „Havarie Pallas“
unter dem Vorsitz von Senator a. D. Claus Grobecker vom
Februar 2000 als Grundlage genommen und das bisherige
Notfallvorsorgekonzept umfassend auf den Prüfstand gestellt, um es, wo erforderlich, zu verbessern. Zur Bewertung und Umsetzung der Empfehlungen der Expertenkommission wurde im März 2000 eine interministerielle
Projektorganisation eingerichtet. Im November 2000 hat
die Bundesregierung ihren ersten und im Oktober 2001
ihren zweiten Sachstandsbericht dieser Projektgruppe
vorgelegt.
Dabei ist besonders hervorzuheben, dass eine Einigung
auf eine Organisationsstruktur für ein Havariekommando
erfolgte, das heißt, auf eine Struktur für eine zentrale, einheitliche Einsatzleitung für alle Einsatzkräfte des Bundes
und der Küstenländer. Einsatzzentrale wird ein maritimes
Lagezentrum mit 24 Stunden Dienstbetrieb sein, das aus
dem Bereich der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes und den Wasserschutzpolizeien der Küstenländer
aufgebaut wird. Bei einer schweren Havarie übernimmt
der Leiter des Havariekommandos die Führung des Einsatzes. Arbeitsstäbe für Schadstoff- und Brandbekämpfung, Verletztenversorgung, Bergung und Öffentlichkeitsarbeit werden ihn beraten.
Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, deren Arbeit ich an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich würdigen möchte, ist eine Organisation, die
sich gänzlich aus Spendengeldern finanziert. Ich kann nur
sagen: Hut ab vor dem, was die Gesellschaft zur Rettung
Schiffbrüchiger leistet.
({1})
Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger
und die Marine werden durch Kooperationsvereinbarungen in die Arbeit des Havariekommandos eingebunden.
Zurzeit werden die für die Einrichtungen des Havariekommandos erforderlichen Vereinbarungen zwischen
Bund und Küstenländern abgestimmt. Ich gehe davon
aus, dass das Havariekommando voraussichtlich noch in
diesem Jahr, also in 2002, seine Arbeit aufnehmen wird.
Große Erfolge haben wir auch bei dem wichtigen
Thema Notschleppkapazität erzielt. Wir haben erreicht,
dass seit Beginn der Schlechtwetterperiode in der Nordsee weiterhin vollständig und in der Ostsee an den Verkehrsschwerpunkten, also in der Kieler Förde, im KielOstsee-Weg und in der Kadetrinne, ausreichende
Notschleppkapazitäten zur Verfügung stehen. Damit stellen wir sicher, dass es keine Sicherheitslücken bei der
Notschleppkapazität in Nord- und Ostsee gibt.
({2})
Die laufende Charter des Hochseeschleppers „Oceanic“
endet am 15. April 2002. Wir haben Ende Januar die Ausschreibung für eine Anschlusscharter gestartet. Die Ausschreibung orientiert sich an den Zielvorgaben, die von
Experten nach neuestem Stand von Wissenschaft und
Technik formuliert worden sind. Der zu charternde
Schlepper soll diese Zielvorgaben bestmöglich erfüllen.
In absehbarer Zeit wird zusätzlich ein Interessenbekundungsverfahren durchgeführt, in dem alle interessierten Schleppreedereien aufgefordert werden, zur Vorbereitung längerfristiger Lösungen ihre Möglichkeiten zur
optimalen Notschleppversorgung in Nord- und Ostsee
und ihr Interesse daran darzulegen.
({3})
Wir haben für die Ostsee den stufenweisen Ausbau der
Notschleppkapazität, die im November 2001 mit der Bereitstellung von zwei Schleppern in Kiel und Warnemünde eingeleitet worden ist, planmäßig fortgesetzt.
Der sichere Verkehrsweg gehört auch zu dem, was wir
uns vorgenommen haben. Sie wissen, dass wir zur Erkennung und Überwachung von Schiffen die IMO gebeten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
haben - das ist auf unser Drängen zustande gekommen -,
die Einführung eines automatischen Schiffsidentifizierungssystems, AIS, vorzusehen. Im Juli dieses Jahres werden alle neuen Schiffe mit derartigen Systemen ausgerüstet sein und bis 2008 werden alle größeren Schiffe mit AIS
nachgerüstet sein.
Ich komme zu einer weiteren Empfehlung der
Grobecker-Kommission. Sie hat 30 Empfehlungen gegeben; die Empfehlung 24 lautet:
Die Expertenkommission empfiehlt, unverzüglich
den Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Seeunfalluntersuchungsgesetzes... an den internationalen Standard ({4}) vorzulegen.
In Tokio haben 22 Staaten vor kurzem ein internationales Programm zu den Qualitätssicherungsaufgaben der
Flaggenstaaten im Seeverkehr beschlossen. Dazu zählt
ausdrücklich auch die Staatenverpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit bei der Unfalluntersuchung.
Bisher fehlen unserer Verkehrsverwaltung nahezu alle
Voraussetzungen dafür. Deutsche Untersuchungsführer
können eigentlich noch nicht einmal mit ihren ausländischen Kollegen telefonieren, ohne gegen den Datenschutz
zu verstoßen.
({5})
Der Regierungsentwurf trennt erstmals die unabhängige,
objektive Ermittlung der Unfallursachen zum Zwecke des
Lernens und Vorbeugens von der individuellen Fehleranlastung und dem Patententzug. Hierfür gibt es weder nach
dem internationalen Standard noch nach dem deutschen
Verfassungsrecht eine Alternative. Sie wissen, dass die
Seeämter Behörden sind und nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes nicht unabhängig tätig
sein dürfen, wie es für die Unfalluntersuchung unerlässlich ist. Damit würden sie gegen das Demokratiegebot
verstoßen.
Der Gesetzentwurf,
({6})
den wir vorlegen, greift auf Bewährtes zurück. Bei der Eisenbahn wird seit hundert Jahren und beim internationalen Luftverkehr seit einem halben Jahrhundert so untersucht. Alle Bundesländer verfahren in dieser Weise und
die IMO hat das Verfahren des Luftverkehrs auf den Seeverkehr übertragen.
Frau
Ich
komme zum Schluss.
Eigentlich müssten Sie zum Schluss kommen. Erlauben Sie zuvor aber noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Ja,
Herr Koppelin.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Frau Staatssekretärin, halten Sie es auch mit der Demokratie für vereinbar, dass die
Presse und die Öffentlichkeit aus dem Verfahren ausgeschlossen werden, wie Sie es jetzt vorgesehen haben?
({0})
Der
Fehler, den auf der rechten Seite des Hauses alle machen,
ist folgender: Sie unterscheiden nicht genügend. Auch
Seeamtsverhandlungen werden weiterhin öffentlich stattfinden können.
({0})
Sie wollen einfach nicht unterscheiden. Das ist das Problem in Ihrer Argumentation, in der Sie auch von interessierter Seite unterstützt werden.
({1})
Sie müssen einfach zwischen dem unterscheiden, was
dem Vorbeugen und Lernen gilt, und dem, was zum Patententzug führen kann.
({2})
Wenn Sie darüber noch einmal nachdenken oder wenn wir
darüber noch einmal reden,
({3})
dann werden Sie diesen Unterschied feststellen und hoffentlich dem, was an der Küste verbreitet wird, keinen
Glauben mehr schenken.
Dieses Gesetz, das wir jetzt vorlegen, ist ein Schutz für
die Seeämter.
({4})
- Es ist ein Schutz für die Seeämter.
({5})
Die Seeämter sind darin ausdrücklich festgeschrieben. Insofern sollten Sie bitte davon Abstand nehmen, an der
Küste zu verbreiten, die Seeämter würden geschlossen.
Das ist nicht der Fall. Ich bin, wie gesagt, jederzeit bereit,
mit Ihnen darüber auch noch einmal einen kleinen Diskurs zu machen.
({6})
Diese Unterscheidung aber zwischen dem Patententzug und dem, was wir mit diesem Gesetz beabsichtigen,
also auch den internationalen Anschluss zu finden, bitte
ich zu treffen. Wir liegen in dieser Frage wirklich auf einem Platz ganz hinten. Mit diesem Gesetz werden wir
wieder an den internationalen Standard anknüpfen.
Frau Kollegin Mertens, erlauben Sie eine weitere Frage des Kollegen Koppelin?
Bitte, Herr Koppelin.
Frau Staatssekretärin, würden Sie, da Sie gesagt haben, dass unsere Argumentation
falsch sei, behaupten, dass die norddeutschen Küstenländer einschließlich der Sozialdemokraten in diesen Ländern der Opposition auf den Leim gegangen sind?
Da
unterscheiden Sie meines Erachtens auch nicht richtig.
Der Bundesrat hat dieses Gesetz ausdrücklich begrüßt.
Das ist die Grundlage, auf der wir auch mit den Bundesländern diskutieren. Dass es in der einen oder anderen
Frage vielleicht ein paar Unterschiede gibt, ist in diesem
Fall relativ unerheblich. Der Bundesrat hat diesen Gesetzentwurf begrüßt.
({0})
Jetzt bitte
ich aber, zum Schluss zu kommen.
Ja,
ich komme zum Schluss.
Die Bundesregierung nimmt die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger an der Nord- und Ostsee sehr ernst. Deshalb steht die Sicherheit für die internationale Schifffahrt
in Nord- und Ostsee im Bereich unserer Hoheitsgewässer
im Zentrum unserer politischen Zielsetzungen. Ich sage
noch einmal: Wir haben mit dem SeeUG wieder den Standard erreicht, den uns andere vorgegeben haben. Mit AIS
und mit Notschleppkapazitäten setzen wir Standards. Ich
denke, das, was wir gemacht haben, kann sich mehr als sehen lassen.
({0})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Adam
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Staatssekretärin, Sie
haben eben beschrieben, dass die Öffentlichkeit zukünftig
nicht außen vor ist. Dann würde ich Sie aber noch fragen,
warum der Deutsche Journalisten-Verband MecklenburgVorpommern mir ein dringendes Schreiben genau mit
dem Inhalt schickt,
({0})
- dies ist nicht bestellt! -, dass man das befürchtet.
Ich will Ihnen noch eines sagen: Ich habe mich in diesem Zusammenhang jetzt bewusst gemeldet,
({1})
weil wir im Augenblick im Petitionsausschuss einen Fall
auf dem Tisch haben, nämlich das Seeunglück der „Beluga“ vor - fast auf den Tag genau - drei Jahren, den wir
nur deswegen auf dem Tisch haben, weil Journalisten sich
darum gekümmert und nicht das akzeptiert haben, was
Seeämter getan haben.
({2})
Deswegen halte ich es schon für wichtig, wenn hier darüber gesprochen wird. Ich bitte Sie, das zu erklären.
({3})
Denn gerade bei solchen Fällen haben zumindest die
Hinterbliebenen ein Anrecht darauf, alle Möglichkeiten
wahrnehmen zu können, dass sie über das Schicksal ihrer
verunglückten Männer genau Bescheid wissen, dass alles
ausgeschöpft ist. Es darf jetzt nicht die Möglichkeit außen
vor bleiben, dass Journalisten sich darum noch kümmern
können. Die schreiben darüber doch nicht aus reinem
Übermut heraus, sondern haben gute Gründe dafür. Insofern ist, so meine ich, auch unsere Kritik an dieser Sache
gerechtfertigt.
Ich erwarte, dass das entsprechend geändert wird.
Denn das sind wir gerade denen schuldig, die letztendlich
an diesen Unglücken zu tragen haben. Das sind in jedem
Fall und im speziellen Fall der „Beluga“ die Hinterbliebenen.
Frau
Staatssekretärin, wollen Sie erwidern? Bitte schön.
Journalisten sind sicherlich manchmal kluge Leute, aber in
diesem Falle sind Sie auf dem Holzweg. Ich sage noch
einmal: Die Seeamtsverhandlungen werden weiterhin
stattfinden.
({0})
Wie bei der Flugunfalluntersuchung, wie bei der Eisenbahn geht es hier darum, dass wir diese Unfälle untersuchen und aus ihnen lernen. Alles, was zivilrechtlich dahinter steht, wird weiter so gemacht, wie es nach Recht
und Ordnung geschehen muss. Die Seeämter werden auch
weiterhin Patententziehungen vornehmen. Ich bin
manchmal ganz verzweifelt, weil überall auf der Welt anders verfahren wird und nur wir uns mit unseren Verfahren total abgekoppelt haben.
Ich sage noch einmal: Ein Seeamt ist eine Behörde und
darf nach dem Grundgesetz sowie der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts nicht unabhängig agieren.
Ich glaube, der große Unterschied in der Argumentation
zwischen uns liegt darin, dass Sie das einfach nicht wahrhaben wollen. Ich kann auch verstehen, dass die Seeämter
vielleicht um ihren Bestand fürchten. Aber das ist nicht
das Problem. In dem Entwurf des SeeUG ist ausdrücklich
festgelegt worden, dass die Seeämter weiterhin ihren Aufgaben nachkommen sollen. Diese liegen zum Beispiel
auch beim Patententzug.
Ungewöhnlich ist - man kann das an dieser Stelle auch
einmal sagen - die Tatsache, dass das Verfahren immer öffentlich stattgefunden hat. Wenn Sie beispielsweise Ihren
Führerschein verlören und es gäbe eine Verhandlung darüber, dann würden Sie sich wundern, wenn 150 Leute im
Publikum säßen.
({1})
- Es sei denn, jemand macht von seinem Grundrecht auf
informationelle Selbstbestimmung Gebrauch.
Wir befinden uns wirklich auf sehr sicherem Gebiet.
Insofern können Sie Ihrem Journalistenverband sagen,
dass er auch weiterhin Seeamtsuntersuchungen mit Patententzug erleben wird. Er wird auch die Erkenntnisse einer unabhängigen Unfalluntersuchung verwerten und darüber diskutieren können. Die zivilrechtliche Ebene muss
davon getrennt werden; das ist eine völlig andere Sache.
Wir diskutieren über die Materie seit eineinhalb Jahren.
Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass man solche Probleme bereits am Anfang hätte klären können. Dann
wären Sie auch nicht in die falsche Richtung gelaufen.
({2})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Börnsen von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn
man den Gesetzentwurf ganz genau liest, kommt man zu
einer anderen Auslegung als der, wie sie von der Parlamentarischen Staatssekretärin vorgenommen worden ist.
Dieser Gesetzentwurf ist kein Schutz für die Seeämter,
sondern eine Schande für die Demokratie.
({0})
Ich will das auch genau begründen.
Heute brennen an der Nordsee die traditionellen BijkeFeuer, mit denen in alter Zeit die Winterstürme ausgetrieben und die Walfänger zu ihrer Frühjahrsfahrt verabschiedet wurden. Doch die Bevölkerung ist zornig. An
Nord- und Ostsee läuft man Sturm gegen einen Gesetzentwurf, den niemand will und der heute von Rot-Grün
durchgepeitscht werden wird. Die geballte Bürgerwut
richtet sich gegen einen Bodewig-Gesetzentwurf, der als
fachlich falsch, zeitlich unpassend und inhaltlich antidemokratisch angesehen wird.
({1})
Der vorliegende Entwurf eines Seeunfalluntersuchungsgesetzes schließt in Zukunft die Öffentlichkeit
weitgehend von Seeamtsverhandlungen aus,
({2})
verlagert die Fachaufsicht auf die Bundesbehörde, ermöglicht die Weitergabe aller personengeschützten Daten
und schafft das Widerspruchsverfahren ebenso ab wie die
Einbeziehung von ehrenamtlichen Fachleuten.
({3})
Der Gesetzentwurf verstößt gegen den Grundsatz der
Transparenz bei der Untersuchung von Seeunfällen, bei
denen der Staat oder eine Behörde eine Mitschuld tragen.
Der Angeklagte ist in Zukunft sein eigener Richter.
({4})
Der Gesetzentwurf verstößt gegen die Pressefreiheit,
weil aus den bisher öffentlichen Seeamtsverhandlungen
jetzt behördeninterne Verfahren werden.
({5})
Den Journalisten ist es in Zukunft weitgehend verboten,
an Seeamtsverhandlungen teilzunehmen.
Außerdem verstößt der Gesetzentwurf gegen den Persönlichkeitsschutz. Kommt es zu einem Seeunfall und
wird ein Matrose oder ein Offizier beschuldigt, können sie
sich nicht mehr öffentlich dagegen wehren.
({6})
Die Verhandlungen erfolgen hinter verschlossenen Türen.
Auch wenn der Beschuldigte schuldlos ist, den Makel
behält er. Dem Rufmord sind Tür und Tor geöffnet. Recht
hat in Zukunft nur noch die Behörde.
Das Gesetz verstößt gegen eine Reihe grundsätzlicher
Prinzipien unserer Demokratie.
({7})
Deshalb kämpfen aufrechte Demokraten wie Hans von
Wecheln von der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste, Fachleute von Nord- und Ostsee sowie Verbände
gegen dieses Kritikverhinderungsgesetz von Rot-Grün.
({8})
Gewerkschafter und Greenpeace protestieren dagegen.
Die Lotsenkammer, die Reeder, die Nautischen Vereine,
die Schiffsingenieure, die Seglerverbände, die Wasserschutzpolizei,
({9})
Betriebs- und Personalräte aus der maritimen Wirtschaft,
Umweltschützer, Fischer und auch die norddeutschen
Journalistenverbände protestieren dagegen. Obwohl sich
unter dieser geballten Front von Küstenkritikern Sympathisanten der Koalition befinden, lässt Bundesminister
Kurt Bodewig dieser Protest völlig kalt.
({10})
Diese Kaltschnäuzigkeit im Umgang mit kritischen
Bürgern gilt auch für Teile der SPD und der Bündnisgrünen. Keine Anregung, kein Ratschlag von uns - so ein
Sprecher der „Aktionskonferenz Nordsee“ - wurde von
Bodewigs Ministerium oder von SPD und Grünen akzeptiert. Zweimal standen wir als Bittsteller vor verschlossenen Türen. Dieser außergewöhnliche Vorgang lässt
nach den Beweggründen des Bundesverkehrsministers
Bodewig fragen. Warum soll hier ein Gesetz in undemokratischer Weise mit der Brechstange durchgesetzt werden?
({11})
Zuerst einmal geht es um das Reformgesetz des Ministers. Mit diesem Gesetz werden die Seeämter von
Emden, Bremerhaven, Hamburg und Rostock im Prinzip
aufgelöst und das Seeamt Kiel verkleinert.
({12})
Es bleibt das Oberseeamt in Hamburg, das in Zukunft für
die Seeamtsverhandlungen zuständig sein wird - unter
Ausschluss der Öffentlichkeit. Jetzt kommt es: Die Aufsicht über dieses Amt übt das Berliner Bundesverkehrsministerium aus.
({13})
Verwaltungstechnisch ist das Hamburger BSU beim
Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie angesiedelt. Auch diese Behörde wiederum ist Berlin unterstellt.
Reformziel erreicht, kann Bodewig dem Bundeskanzler
melden: mehr Zentralisierung, weniger Personal und doppelte Abhängigkeit der neuen Behörde vom eigenen Ministerium.
({14})
Einen weiteren Beweggrund dieser eiskalten Seeamtsreform sehen die Küstenkritiker in der Tatsache, dass sich
nach der Havarie der „Pallas“ Seeämter, also Behördenvertreter, erdreistet haben, ebenso wie viele Fachleute
Kritik an dem dilettantischen Krisenmanagement von
Rot-Grün in Kiel, aber auch am Berliner Ministerium zu
üben. Der schleswig-holsteinische Journalistenverband
spricht mit Recht von einer Lex „Pallas“, die heute verabschiedet werden wird. Gleichzeitig wird in diesem
Transparenzverhinderungsgesetz eine Mauer des Schweigens um das zukünftige Havariekommando errichtet. Damit wird verhindert, dass mögliche zukünftige Behördenfehler aufgedeckt werden, wie Greenpeace heute noch
einmal öffentlich angeprangert hat.
Noch nie hat diese Bundesregierung eine so klare Aussage zu ihrem politischen Grundverständnis getroffen wie
in der Begründung für das neue Seeunfalluntersuchungsverfahren. Darin heißt es wörtlich, dass eine öffentliche
Verhandlung Ausdruck einer - jetzt kommt es von alters her überkommenen, staatlich geordneten,
als konfrontativ verstandenen Streitkultur
ist. Ich wiederhole: Die Bundesregierung, Frau Staatssekretärin, hält ein transparentes öffentliches Verfahren für
das Instrument einer überkommenen Streitkultur. Das
steht in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs.
({15})
Ich bin tief enttäuscht, dass Kollegen von den Sozialdemokraten und den Grünen, die ich sehr schätze, heute
ihre Hand für diesen Gesetzentwurf heben werden.
({16})
Schließlich - daraus ergibt sich ein drittes Motiv - hat
Bundesverkehrsminister Bodewig seine Sparbringschuld
gegenüber dem Bundesfinanzminister noch nicht erfüllt.
Es ist aufmerksamen Gewerkschaftern zu verdanken,
dass im Spätsommer vergangenen Jahres die Pläne des
Bundesministers für einen radikalen Stellenabbau von
6 200 Planstellen im Bereich der See- und Wasserbehörden bekannt wurden.
({17})
Durch Privatisierung von Diensten, Ausgabenverlagerung
und Abbau von Arbeitsplätzen will Bodewig sein ehrgeiziges Ziel durchsetzen. Zwar hat ihn der Protest der Personalräte derzeit einknicken lassen. Doch die Gutachten haben ihre Aktualität nicht verloren. Die jetzt beginnende
personelle Entleerung der Seeämter wird von Gewerkschaftern als Anfang des größten Personalabbaus in der
Geschichte des Bundesverkehrsministeriums gesehen.
({18})
Wolfgang Börnsen ({19})
Auch wenn Bodewig seine Pläne zurzeit in der Schublade
hat verschwinden lassen: Unruhe, Besorgnis und Ängste
an der Küste sind gewachsen.
Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich,
warum SPD und Grüne mit Hast und Hetze den vorliegenden Gesetzentwurf durchpeitschen.
({20})
Man will nämlich vor dem Wahlkampf Ruhe an der Küste
haben. Kennzeichnend für diese Strategie von Rot-Grün
ist ein Vorgang, der sich im federführenden Verkehrsausschuss abgespielt hat und den die Öffentlichkeit ruhig erfahren sollte: Änderungsanträge mit einem Umfang von
fast 50 DIN-A-4-Seiten wurden uns am Beginn der Ausschusssitzung auf den Tisch geknallt. Trotz der Bitte von
CDU/CSU, FDP und PDS, die Debatte so lange zu verschieben, bis man die Vorlagen gelesen habe, haben Sie
Ihre Mehrheit rücksichtslos genutzt, um eine Behandlung
der entsprechenden Punkte zu verhindern.
({21})
Dafür bestand weder eine zeitliche noch eine sachliche
Notwendigkeit. Das, was hier mit den Abgeordneten der
Opposition getrieben worden ist, war in höchstem Maße
unkollegial. Ich habe mich richtig getroffen gefühlt.
({22})
Es ist gegen jede parlamentarische Kultur, so mit der Opposition zu verfahren.
Auch aus den Reihen der Sozialdemokraten gibt es
Widerstand gegen das SeeUG. Ich gehe davon aus, dass
er echt ist und keine Alibifunktion hat. So teilte der aus
Schleswig-Holstein stammende Kollege Opel in einem
Rundbrief, der an viele Verbände ging, mit, ihn bedrücke
die Tatsache, dass alle Bundesländer, insbesondere die betroffenen Küstenländer, gegen das Gesetz seien, Frau
Staatssekretärin, und dass es bisher strikt vermieden worden sei, einen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen, der eindeutig auf die Ablehnung der betroffenen
Bundesländer stoße. Doch das geschieht heute! Vorletzten
Monat hat sich die rot-grüne Koalition in SchleswigHolstein und gestern hat sich die große Koalition in
Bremen gegen das Gesetz entschieden, und zwar mit
großer parlamentarischer Mehrheit.
({23})
Herr Kollege Börnsen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weis?
Nein,
ich möchte im Zusammenhang vortragen.
({0})
Die Stellungnahme des Bundesrates ist eindeutig: Der
vorliegende Gesetzentwurf ist nicht vertretbar; denn im
Kern bleibt dieser Entwurf bei seinem für jeden Demokraten unvertretbaren Ansatz der Geheimhaltung.
Ich fasse zusammen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt den vorliegenden Entwurf eines Seeunfalluntersuchungsgesetzes ab, weil das bisher unabhängige, öffentlich tagende Seeamtsgericht zugunsten eines internen
Behördenverfahrens abgeschafft werden soll, weil hochkompetente Fachleute wie Kapitäne, Lotsen und Rechtsanwälte aus dem Ehrenamt zugunsten weisungsgebundener Behördenbeauftragter ausgesperrt werden
sollen, weil die bisherigen Sofortmaßnahmen der Seeämter wie zum Beispiel Patententzug bei Trunkenheit von
Steuerleuten zugunsten eines bis zu zwölf Monaten dauernden bürokratischen Verfahrens abgeschafft werden
sollen,
({1})
weil auf der Basis von Seeamtssprüchen, die bisher in
70 Prozent der Fälle zu außergerichtlichen Vergleichen
geführt haben, eine Einigung nicht mehr möglich sein soll
und weil es jetzt zu langwierigen Verhandlungen vor den
Zivil- und Strafgerichten kommen wird.
({2})
Alles wird wesentlich teurer und komplizierter. Das sagen
die Reeder, die Hafenlotsen, die Fachleute von Greenpeace und die Betriebsräte.
({3})
Die Versicherungskosten werden steigen. Das sagen die
Vertreter der Kleinschifffahrt. Alle befürchten eine Rufschädigung durch unkontrollierbare Verfahren. Nur das
Bundesverkehrsministerium behält in Zukunft stets eine
weiße Weste.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, über den die Öffentlichkeit ständig falsch informiert worden ist. Ausgangspunkt der Gesetzesinitiative ist die EG-Richtlinie
1999/35, die die Mitglieder der IMO verpflichtet, den
Code A849 ({4}) bei der Untersuchung von Schiffsunfällen
anzuwenden. Andere EU-Länder haben mit einer Rechtsanpassung darauf reagiert. Auch das wäre bei uns durch die
Änderung von zwei Paragraphen möglich gewesen.
({5})
Ohne aufwendiges Gesetz wäre das bei uns machbar.
({6})
So sehen es die Bundesländer, so sah es die Mehrzahl der
Rechtsexperten bei der öffentlichen Anhörung.
Doch das Verkehrsministerium produziert 26 Seiten
mit neuen Paragraphen allein mit dem Ziel, die bestehenden Seeämter zu disziplinieren und die Beachtung, die die
Öffentlichkeit Seeamtsverhandlungen widmet, zu minimieren, wohl wissend, dass vonseiten der EU ein eigenes
Wolfgang Börnsen ({7})
Verfahren vorbereitet wird. Aber anstatt abzuwarten - wie
der Reederverband geraten hat -, wird stur dem Eigeninteresse des Bodewig-Ministeriums gefolgt. Auch der
heute hier vorliegende Gesetzentwurf der Union geht von
der Notwendigkeit einer Veränderung aus.
Wir schlagen eine unbürokratische Anpassung an die
EU-Norm vor. Mit diesem Ansatz erreichen wir, dass Havarieverhandlungen weiterhin öffentlich stattfinden und
die Strukturen demokratisch bleiben. Täglich sind folgenschwere Unfälle auf See möglich. Allein in der Deutschen
Bucht verkehren pro Jahr über 80 000 große Boote, in der
Kadetrinne, in diesem gefährlichsten Bereich der Ostsee,
60 000. Das heißt, wir haben immer wieder mit neuen Risiken zu tun. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die
Risiken abgebaut werden und Strukturen geschaffen werden, aus denen klar hervorgeht, dass Vorsorge von den politisch Handelnden als wichtigste Maßnahme angesehen
wird.
({8})
Wir wollen deshalb, dass die riesigen Lücken, die noch
weiterhin bestehen, geschlossen werden.
Schwerpunkt der maritimen Strategie muss die Unfallvermeidung und nicht die Unfallnachsorge sein.
({9})
Das im Sommer konzipierte Havariekommando ist ein
erster Schritt, erfüllt jedoch nicht die notwendigen Anforderungen, die für ein maritimes Sicherheitskonzept aus einem Guss erforderlich sind. Deshalb hält die Union an ihrer Forderung nach einer nationalen Küstenwache mit
einheitlicher Führung und einem übergreifenden Handlungskonzept fest. Das Havariekommando steht nur in einem konkreten Havariefall unter einheitlicher Führung,
sonst nicht. Kontraproduktiv ist, dass die Landesbehörden
und die Bundesmarine außen vor gelassen werden. Auch
die Einbeziehung der SAR-Hubschrauber, der Ölaufklärungsflugzeuge und der Ölauffangschiffe der Bundesmarine erfolgt nicht. Erst wenn das alles in einem Zusammenhang gesehen wird und entsprechende Regelungen
getroffen werden, halten wir die Vorsorgemaßnahmen für
effektiv. Die über 100 Boote des Bundes fallen immer
noch in die Zuständigkeit von fünf verschiedenen Ministerien und Behörden. Deshalb bleibt es dabei, dass immer
noch ein Risiko bleibt, wenn wir nicht eine Krisenmanagementzentrale aus einem Guss und mit einer Zielrichtung schaffen.
Handlungsdruck kommt unter anderem vom Bundesrechnungshof und vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages. Alle sagen, dass die Seedienste konzentriert werden müssen. Handlungsdruck kommt auch
von der EU: Beide, das Parlament und die Kommission,
wollen eine europäische Küstenwache. Doch diese Küstenwache kann nur dann geschaffen werden, wenn vorher
eine nationale See- und Küstenwache geschaffen wurde.
Mit dem Havariekommando wird das nicht möglich.
({10})
Es stellt nur einen ersten Schritt dar und ist aufgrund der
fehlenden Einheitlichkeit keine Voraussetzung dafür.
({11})
Was muss man tun? Man muss dafür sorgen, dass durch
eine Grundgesetzänderung endlich die auf eine Vielfalt
von Behörden verteilte Kompetenz zusammengefasst
wird. Davor hat man sich bisher immer gedrückt,
({12})
obwohl sich inzwischen die Parlamente in Niedersachsen,
in Schleswig-Holstein und in Mecklenburg-Vorpommern
dafür ausgesprochen haben. Man hätte nach der „Pallas“Katastrophe wirklich anders reagieren und Nägel mit
Köpfen machen müssen. Stattdessen kommt man nicht
über erste Schritte zur Erreichung wirklich guter Ziele hinaus.
({13})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich
komme zum Schluss.
In dieser Situation - das wird auch durch die heutige
Abwesenheit des Bundesverkehrsministers deutlich wird das Seeunfalluntersuchungsgesetz viel wichtiger
- das haben auch die Ausführungen der Staatssekretärin
gezeigt - als ein praktikables Konzept zur Vorbeugung
von Schiffsunfällen mit einem Notfallmanagement aus einer Hand.
Danke schön.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Helmut Wilhelm vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Börnsen, über weite Strecken Ihrer
Rede hatte ich den Eindruck, dass Sie von einem völlig
anderen Gesetzentwurf als von dem gesprochen haben,
der heute auf der Tagesordnung steht.
({0})
Wie so oft: Ein Blick ins Gesetz fördert die Rechtskunde. Auch und gerade im Bereich der Seefahrt muss die
Tätigkeit des Gesetzgebers darauf ausgerichtet sein, die
deutsche Rechtslage neuen, aktuellen Entwicklungen und
Standards ebenso wie internationalen Anforderungen anzupassen. Die Bundesregierung setzt sich im Rahmen der
Internationalen Seeschifffahrts-Organisation, IMO, aktiv
für die ständige Verbesserung der Seeschifffahrt ein. Darum wird heute der präventive maritime Umweltschutz
Wolfgang Börnsen ({1})
verbessert und etwas für die Umsetzung der europaweiten
Sicherheitsanforderungen getan.
Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist insbesondere die
Unfallverhütung. Die Bevölkerung und die Natur der Küsten sollen zukünftig effektiver als bisher geschützt werden
können. Darum muss die Frage der persönlichen Vorwerfbarkeit in Bezug auf einen Unfallhergang von der
systematischen, objektiven Unfalluntersuchung und den
Lehren, die daraus zu ziehen sind, getrennt werden.
Der Gesetzentwurf sieht daher eine Reform der Seeunfalluntersuchung nach internationalem Standard vor. Er
trennt erstmals die objektiven Ermittlungen der Unfallursachen - zuständig hierfür ist zukünftig eine unabhängige
und weisungsungebundene Bundesstelle - von der individuellen Verantwortlichkeit und dem damit unter Umständen verbundenen Entzug der Patente, wofür weiterhin die
Seeämter zuständig sind.
Das Verfahren vor den Seeämtern bleibt, wie es ist: Es
bleibt öffentlich, wenn nicht - das ist eine datenschutzrechtlich notwendige Neuerung - die betroffene Person,
um deren Patent und damit berufliche Zukunft es geht, beantragt, die Öffentlichkeit auszuschließen. Gegen die Entscheidung des Seeamtes kann Widerspruch bei der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord eingelegt werden.
Hiergegen ist wiederum die Klage vor dem Verwaltungsgericht zulässig. Dort ist das Verfahren dann natürlich,
wie bei jedem anderen Gericht, ebenfalls öffentlich.
Sämtliche Seeämter bleiben erhalten. Sie haben auch
künftig das zu klären, was bereits heute ihre Aufgabe ist.
An der Zusammensetzung des Entscheidungsgremiums
ändert sich durch den Gesetzentwurf ebenfalls nichts Wesentliches.
Ich will die Arbeit der Seeämter an dieser Stelle ausdrücklich loben. Sie haben ihre Unfalluntersuchungsaufgaben - gerade mithilfe des Sachverstands von ehrenamtlichen Beisitzern - bislang in guter Art und Weise erledigt.
Für die neue Bundesstelle sehe ich demgegenüber allerdings noch deutlich bessere Möglichkeiten bei der Unfalluntersuchung. Die Vorteile gegenüber den Seeämtern
liegen zum einen in ihrer Unabhängigkeit und zum anderen in ihrer internationalen Untersuchungsbefugnis.
({2})
Weit über die persönliche Anhörung hinaus können im
Rahmen der Untersuchung Praktiker und Wissenschaftler
nach Wahl dieser Behörde als Sachverständige hinzugezogen werden.
Das Unfalluntersuchungsverfahren der Bundesstelle
wird nicht öffentlich sein. Das ist gewollt und wegen des
Untersuchungsvorgangs praktisch auch nicht anders
denkbar. Auch das Eisenbahn-Bundesamt, die Polizei und
die Staatsanwaltschaft untersuchen nicht öffentlich. Aus
praktischen Gründen können sie das nicht.
Genauso verhält es sich bei dieser Behörde. Die
Behörde untersucht zukünftig weltweit Unfallszenarien
vor Ort und kraft eigener Untersuchungszuständigkeit,
wenn deutsche Schiffe oder deutsche Bürger beteiligt
sind. Bisher ist das nur begrenzt möglich.
Die weisungsunabhängige Behörde soll neben der umfassenden Unfalluntersuchung auch Vorschläge - das ist
das Entscheidende, meine Damen und Herren - zur
zukünftigen Unfallvermeidung unterbreiten. Der Bericht,
den die Bundesstelle erarbeitet, hat den Sinn und Zweck,
gerade die Öffentlichkeit über den Unfall und über mögliche Präventionsmaßnahmen zu unterrichten. Der Bericht soll Fakten liefern, die in erster Linie die Politik unterstützen sollen, um geeignete Gegenmaßnahmen
beschließen zu können.
({3})
Der Gesetzentwurf entspricht damit voll dem 1998 in diesem Haus einstimmig verabschiedeten Flugunfalluntersuchungsgesetz.
({4})
Das neue Verfahren greift auf Bewährtes zurück. Bei
der Eisenbahn wird seit über 100 Jahren so untersucht, im
internationalen Luftverkehr ist es seit mehr als 50 Jahren
Praxis. Dazu gibt es meines Erachtens auch bei der Seeschifffahrt keine stichhaltige Alternative.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von der FDPFraktion.
({0})
Ob Sie hinterher
noch etwas zu Lachen haben, wage ich sehr zu bezweifeln. Lächerlich ist die Sache sicherlich nicht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Geschätzte Kollegin Mertens, die FDP ist für
Sicherheit auf See; dafür hat sie eine Menge getan. Wenn
Sie all die Dinge zusammenfügen, die wir gerade in der
letzten Zeit als Anfragen und Anregungen an Sie herangetragen haben, werden Sie zu dem gleichen Urteil kommen.
({0})
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass der Kollege
Koppelin Sie vor einiger Zeit gefragt hat, was aus den
Empfehlungen der Grobecker-Kommission geworden ist.
Damals hatten Sie nichts aufzubieten. Heute gibt es Gott
sei Dank das Havariekommando. Wir stehen hundertprozentig zu dieser Entwicklung.
Zweiter Punkt: Sie sagen, dass die „Pallas“-Kommission die 24. Empfehlung ausgesprochen hat. Liebe Kollegin, das ist falsch. Ihr Haus hat dafür gesorgt, dass diese
Empfehlung in den Bericht aufgenommen wurde. Ich
weiß das hundertprozentig. Die Empfehlung passt überhaupt nicht in die Systematik dessen, was der GrobeckerBericht vorgibt. Sie haben also zunächst eine falsche
Grundlage angeführt.
Helmut Wilhelm ({1})
Drittens. Sie haben behauptet, die EU zwinge Sie zu irgendetwas. Sie haben immer behauptet, es gebe ein
Schreiben, eine Verfahrensandrohung seitens der EU. Wir
haben uns vor Ort erkundigt. Es stimmt nicht. Mittlerweile gibt es ein solches Schreiben, weil Sie so lange darum gebettelt haben, bis die EU-Kommission endlich gesagt hat: In diesem Bereich muss sich etwas tun.
({2})
Ihr Referentenentwurf, den Sie 2000 ins Verfahren gegeben haben, ist eine Katastrophe.
({3})
Das sagen nicht wir, sondern das sagen alle, die von der
Materie Ahnung haben. Die Ablehnungsfront ist beeindruckend. Ich fand es interessant, Herr Kollege Weis, dass
Sie vorhin, als der Kollege sagte, der VDR wende sich dagegen, sagten, das sei typisch. Der VDR wehrt sich gar
nicht besonders dagegen. Die haben ihre Sache nämlich in
trockenen Tüchern; das wissen Sie sehr genau.
Der Bundesrat, die Deutsche Schutzgemeinschaft
Nordseeküste, alle deutschen nautischen Vereine, der Verband der Schiffsingenieure, der Verband der See- und Hafenlotsen, die Bundeslotsenkammer, die Direktionen der
Wasserschutzpolizei, der Bundesgrenzschutz See, der
Deutsche Journalistenverband, Greenpeace, Verdi-Westküste, der Landtag Schleswig-Holstein, die Bürgerschaft
Bremen, der Landesverband Niedersachsen-Bremen von
Bündnis 90/Die Grünen - alle sind dagegen, weil sie sagen, dass der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf dem,
was wir brauchen, nicht Rechnung trägt.
({4})
Sie sind in diesem Punkt außerordentlich unaufrichtig.
Nun will ich Ihnen aus meiner Sicht einmal sagen, wie
das mit den Seeämtern ist. Die Seeämter haben im Moment bei etwa 10 bis 15 Prozent der Verfahren mit Patententzug zu tun. Nur diese Verfahren behalten die Seeämter.
Ihre Regelung sieht ganz klar vor, dass von den zurzeit bestehenden fünf Seeämtern nur ein Seeamt bleibt, nämlich
das Seeamt Kiel. Von Kiel sollen die anderen Seeämter im
Bedarfsfall beschickt werden. Noch einmal: Die Seeämter sind nur noch für die Patententzugsverfahren zuständig.
({5})
Nur noch diese Verfahren finden öffentlich statt - sofern
nicht einer der Beteiligten sagt: Ich will nicht, dass das
Verfahren öffentlich ist. - Sie sagen: Das ist Datenschutz.
({6})
Vorhin hat die Frau Staatssekretärin einen sehr interessanten Vergleich gezogen. Sie hat gesagt, wenn jemandem
der Führerschein entzogen wird, sei das ja auch nicht öffentlich. Genau das ist der Punkt. Seeamtsverhandlungen,
die sowieso nur noch 10 bis 15 Prozent der Fälle ausmachen werden, sollen in Zukunft nicht öffentlich sein. Sie
wollen mauscheln, Sie wollen vertuschen und den Dingen
nicht auf den Grund gehen.
({7})
Das ist die Basis für das, was Sie hier machen. Das ist
eine eindeutig falsche Behauptung, Kollege Wilhelm. Ich
schätze sonst Ihre Fachlichkeit sehr - hier liegen Sie
falsch. Orientieren Sie sich an Ihrer Kollegin EichstädtBohlig; die hat das scharf kritisiert und sie hat Recht.
({8})
Ich komme zu den Auslandsuntersuchungen. Sie behaupten, dass Auslandsuntersuchungen nicht möglich
sind. Mich ärgert das maßlos. Sie haben es auch erhalten
und es liegt Ihnen vor. Die Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord schreibt in der Pressemitteilung - ich lese vor zum Seeunfall der „Prins Richard“:
Das Seeamt Kiel hat die Untersuchung des Fährunglücks der dänischen Fähre „Prins Richard“ gemeinsam mit der dänischen Untersuchungsbehörde zum
Abschluss gebracht.
Sie sagen, dass heute keine Untersuchung möglich ist, die
einen anderen Partner hat. Was soll der Blödsinn, den Sie
hier in den Raum stellen?
({9})
Sie wissen ganz genau - das steht in Ihrem Gesetz -, dass
Sie solche Dinge untersuchen können. Das setzt aber voraus, dass die Länder, die davon betroffen sind, das mitmachen.
Die Situation wird mit Ihrem neuen SeeUG - im Vergleich zu der mit dem jetzt schon bestehenden SeeUG kein Stück besser. Ganz im Gegenteil, sie wird schlechter,
weil Sie dafür noch nicht einmal die Mittel bereitstellen,
die nötig sind.
({10})
- Frau Faße, in dem Bericht, der Ihnen auch vorliegt, können Sie das bestens nachlesen.
Ich komme zum nächsten Punkt. Sie sprechen von einer Culture of Blame und tun so, als ob die Leute vor den
Seeämtern irgendwie schändlich behandelt würden. Beispielhaft sage ich, dass 80 bis 90 Prozent aller Fälle, die
vor Seeämtern verhandelt werden, zu einer Befriedung
führen. Es kommt sehr selten zum Anrufen des Oberseeamtes. Die Dinge sind vor Ort bestens geregelt. Die Untersuchungen vor den Seeämtern entsprechen dem IMOCode. Ihr SeeUG entspricht dem IMO-Code nicht. Das ist
eindeutig festzustellen.
({11})
Sie wissen genau, dass die vom Ministerium beabsichtigte
Abschaffung der Feststellung fehlerhaften Verhaltens gegen die Anforderungen des IMO-Codes verstößt. Ihr Gesetz ist fachlich dilettantisch gemacht.
Lesen Sie nach, was die Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nordwest - Seeamt Bremerhaven - schreibt. Sie
behaupten ja, die Seeämter würden keine Empfehlungen
geben. Dort stehen Empfehlungen auf acht Seiten. Sie
müssen die Unterlagen, die Ihnen die Fachbehörden zuleiten, einmal lesen.
Ich komme zur Öffentlichkeit. Ich habe eben schon
gesagt, dass Sie die Öffentlichkeit ausschließen. Sie
führen die ganze Sache im Grunde genommen klammheimlich durch. Dafür haben Sie gute Gründe. Bei der Untersuchung des „Pallas“-Unglücks hat sich nämlich herausgestellt, dass in einigen Fällen Behördenversagen
- vor allen Dingen ein Versagen des Ministeriums - vorlag.
({12})
Deswegen wollen Sie mit Ihrem neuen SeeUG ein Behördenschutzverfahren einführen.
({13})
Ich komme zur Umsetzung des IMO-Codes und zur
Unverständlichkeit des Regierungsentwurfs. Herr Weis,
Sie haben vorhin Beifall geklatscht, als gesagt wurde,
man würde die Flugunfalluntersuchungen auf das
SeeUG übertragen. Es tut mir Leid, Herr Weis, in diesem
Fall haben Sie keine Ahnung. Die Flugunfalluntersuchung ist sehr speziell. Sie basiert vor allen Dingen darauf, dass technisches Versagen die häufigste Unfallursache ist.
({14})
Bei Seeunfällen ist das aber größtenteils anders.
({15})
Dort kommt es häufig zu einer Vernetzung von technischem und menschlichem Versagen.
({16})
- Herr Kollege Wilhelm, dabei wird derjenige, der den
Unfall verursacht hat, nicht als nackt hingestellt. Tun Sie
doch nicht so! Die Seeamtsuntersuchungen haben auch
bei den Kapitänen eine hohe Akzeptanz.
Es gibt einen, der das nicht will. Ich unterstelle demjenigen, dass er ein ganz spezielles Interesse daran hat. Sein
Verband will das, was er will, nicht. Ich sage Ihnen hier
ganz deutlich: Machen Sie nicht eine Person, die sich in
dieser Frage kritisch äußert, zum Zeitzeugen. Ich habe es
vorhin vorgelesen; Sie können noch jede Menge mehr haben. Ich bin bei vielen Verhandlungen und Veranstaltungen an der Küste gewesen. Ich habe nicht einen Einzigen
getroffen, der Ihrem SeeUG zuneigte. Ihr SeeUG ist - das
habe ich vorhin schon gesagt - wirklich maritimer
Schrott. Nehmen Sie das zurück!
({17})
Herr Weis, wir haben Ihnen in diesem Verfahren - in
dem Zusammenhang bin ich auch menschlich enttäuscht - unseren eigenen Gesetzentwurf viele Male zur
gemeinsamen Diskussion angeboten. Wir haben Ihnen
Kompromissvorschläge auf der Basis der Bundesratsinitiativen vorgelegt. Wir haben an den Bundeskanzler geschrieben. Ich habe Frau Mertens angeschrieben und Frau
Faße angesprochen. Wir haben versucht, zu retten, was zu
retten ist. Sie waren taub und blind und haben ein Gesetz
durchgesetzt. Das hat meiner Meinung nach entscheidend
etwas damit zu tun, dass sich hier ein Ministerialbeamter
verwirklichen will. Ein solches Gesetz kann Ihre Zustimmung nicht finden. Ihre Kollegen vor Ort sind dagegen.
Hier im Raum sitzen Leute, mit denen ich Veranstaltungen durchgeführt habe. Die haben gesagt, dass
das Gesetz nichts taugt und dass es den neuen Herausforderungen nicht gerecht wird.
({18})
Herr Kollege Goldmann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie noch einmal, Ihr Gesetz
zurückzunehmen. Lassen Sie uns in eine neue Diskussion
einsteigen! Wir haben die Zeit und die Gelegenheit dazu.
Sie wissen ganz genau, dass wir uns hier auf einem gemeinsamen Weg bewegen können. Ich würde es sehr bedauern, wenn wir in dieser Frage, bei der es eigentlich keinen Parteienstreit geben müsste, nicht zu einer
gemeinsamen Lösung kommen würden. Ich bitte Sie darum.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Winfried Wolf von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! In der heutigen
Debatte, in der es auch viele andere wichtige Punkte gibt,
sind wir jetzt bei einem Thema, das hier am meisten diskutiert wird: dem Zweiten Seeschifffahrtsanpassungsgesetz. Meine Partei kommt bei diesem Thema zu der gleichen Position wie CDU/CSU und FDP.
({0})
Dazu kommen wir nicht, Frau Kollegin Faße, aufgrund irgendeiner Voreingenommenheit, sondern aufgrund des
Versuchs, die Unterlagen zu studieren, und nach der kritischen Auswertung dessen, was in der Anhörung vorgetragen wurde.
Die Frau Staatssekretärin hat hier vorgetragen, dass
eine Verfahrensweise kritisch bilanziert werde, weil sie
althergebracht sei. Es ist eine Verfahrensweise, von der
bisher alle vor Ort gesagt haben, sie funktioniere einigermaßen gut und sie habe einen hohen Anerkennungsgrad;
es sei wichtig, dass die Seeämter unter anderem große Revierkenntnisse haben. Sie ist auch auf die richtige, die
ideale Zusammensetzung von ehrenamtlicher und hauptamtlicher Tätigkeit eingegangen. Aber das alles wird abgetan und die Verfahrensweise soll abgeschafft werden,
weil angeblich eine Anpassungsnotwendigkeit besteht.
Zweitens. Ich möchte unterstreichen, dass die Argumentation, dass die Anhörungen weiterhin öffentlich
seien, falsch ist, nicht allein wegen dem, was die Verbände, die angeblich voreingenommen sind, sagen, sondern auch wegen dem, was Sie schreiben. Sie schreiben in
der Begründung Ihres Gesetzentwurfes:
Die öffentliche Verhandlung im Seeamtsverfahren
ist Teil einer von alters her überkommenen, staatlich
geordneten, als konfrontativ verstandenen Streitkultur: alle Interessierten machen „Einfluss“ geltend ...
Dagegen ist das vorgesehene neue Verfahren einer
unabhängigen Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung Teil einer modernen kooperativen Sicherheitskultur. ... An die Stelle des Streitregulativs
„mündliche Verhandlung“ tritt in der Verkehrsverwaltung das Sicherheitsregulativ der Produktion von Expertenwissen und Qualitätsressourcen
sicherheitsorientierter Sachkompetenz sowie der Sicherheitspartnerschaft der Verantwortlichen ...
Das ist einfach lächerlich. Vor dem Hintergrund und mit
der gleichen Begründung können Sie jede öffentliche Gerichtsverhandlung ad absurdum führen
({1})
und sagen, das sei eine falsche, überkommene Streitkultur und man müsse stattdessen eine neue, sicherheitsorientierte Streitkultur einführen.
Ich zitiere dazu die „Bremer Nachrichten“, die vor einigen Tagen geschrieben haben:
Gerade die Regierung Schröder/Fischer hat während
des Spendenskandals jedwede Geheimniskrämerei
vehement angeprangert und Öffentlichkeit als
wesentliches Element demokratischer Kontrolle gefordert. Dass Rot-Grün sich jetzt bei der Seeunfalluntersuchung von diesem Prinzip radikal verabschiedet, hat vielfach an der Küste Verwunderung
ausgelöst.
({2})
- Ist geschmeichelt, einverstanden.
({3})
Auch die Behauptung, dass hier eine Anpassung an
EU-Recht erforderlich wäre, ist mehrfach widerlegt worden. Es ist gesagt worden, dass die entsprechende Anpassung unter anderem durch zwei konkrete Änderungen
realisiert werden könne.
({4})
Der vielfache Verweis auf die Unfallursache im Fall
der „Pallas“ erscheint bei Ihnen, Frau Staatssekretärin, einerseits konstruiert und andererseits ein bisschen so, als
wären Sie schlechte Verlierer. Wir haben uns bei der „Pallas“-Untersuchung differenziert geäußert und nicht alles
geteilt, was FDP und CDU/CSU vorgetragen haben. Aber
jetzt in der Folge dessen das althergebrachte Verfahren
aufzulösen, das ist meiner Ansicht nach problematisch.
({5})
Letzte Anmerkung. Sie alle sagen, die breite Phalanx
derjenigen, die für die Aufrechterhaltung des Verfahrens
seien, bestehe aus der interessierten Seite von der Küste,
Frau Kollegin Mertens. Das würde heißen, es ginge nur
um eine einzige Seite. Wenn aber alle Seiten, Arbeitgeber
und Arbeitnehmer, Küstenländer und Verbände, diese Position einnehmen,
({6})
dann müssten Sie doch vielleicht ein Moratorium schaffen,
dann müsste noch einmal darüber nachgedacht werden,
wieso versucht wird, die Auflösung des Verfahrens gegen
alle Stimmen auch der eigenen Basis durchzusetzen. Ich
bitte Sie um den Versuch, ein Moratorium zu schaffen.
Danke schön.
({7})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette Faße von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem Punkt sind wir uns heute
sicherlich einig: Die Vermeidung von Schiffsunfällen
steht an erster Stelle.
({0})
Präventive Maßnahmen müssen zum Schutz der Seeleute,
der Passagiere und der Meeresumwelt eindeutig Priorität
vor der Schadensbegrenzung und der Schadensbekämpfung haben.
Ich möchte jetzt, abweichend von meinem Konzept, zu
einigen Punkten Stellung nehmen.
Erster Punkt. Warum wollen wir eine Änderung und legen einen entsprechenden Gesetzentwurf vor? Es ist richtig, dass wir uns den internationalen Standards anpassen
müssen. Dazu gibt es keine Alternative. Es ist auch richtig, dass die EU von uns verlangt, dass wir ihre Richtlinie
umsetzen.
Zweiter Punkt. Ich halte es aber für eine Unterstellung,
Herr Kollege Goldmann, wenn Sie sagen, dass der zweite
Brief, der eingetroffen ist, ein bestellter Brief der EU gewesen sei. Diesen Vorwurf weise ich entschieden zurück.
({1})
Dritter Punkt. Sie sagen, dass die 24. Empfehlung der
„Pallas“-Kommission bestellt gewesen sei. Die „Pallas“Dr. Winfried Wolf
Kommission hat vollkommen unabhängig getagt. Fragen
Sie bitte einmal den Vorsitzenden Grobecker danach, wie
er seine Arbeit beurteilt. Wer behauptet, dass dies eine bestellte Formulierung sei, dem muss ich sagen, dass das
nicht wahr ist.
Wir haben 1998 die Flugunfalluntersuchung in diesem Haus einstimmig neu geregelt.
({2})
Diese unterscheidet zwischen dem persönlichen Verschulden und der Frage die Unfallursache.
({3})
Die entsprechenden Regelungen übertragen wir zwar
nicht wörtlich, aber im Kern.
Ich habe die Jahre zuvor keinerlei Kritik an der zuständigen Bundesstelle in Braunschweig gehört. Wenn
Sie auch dieser Bundesstelle Geheimniskrämerei vorwerfen, dann muss ich diesen Vorwurf zurückweisen.
({4})
Die Flugunfalluntersuchungsstelle in Braunschweig leistet sachliche und transparente Arbeit. Auch das Eisenbahn-Bundesamt geht genauso vor.
({5})
Sie müssen also schon einen Antrag stellen, der zum Inhalt hat, wie diese Arbeit verändert werden soll.
({6})
Wir teilen Aufgaben auf. Diese Feststellung ist richtig
und korrekt. Die Seeämter bleiben erhalten. Das ist in allen Protokollen und auch im Ausschussprotokoll eindeutig nachzulesen. Die Aufgabenstellung ist klar.
({7})
Die Seeämter tagen weiter öffentlich, es sei denn, der Betroffene widerspricht. Ich sage ganz deutlich: Das Recht des
Betroffenen ist an dieser Stelle höher zu bewerten als das Interesse der Öffentlichkeit. Das dient dem Schutz des Einzelnen. Wer meint, in öffentlichen Veranstaltungen würde
die Wahrheit eine größere Rolle spielen als in geschlossenen
Veranstaltungen, der möge dieses erst einmal belegen.
({8})
Ich komme jetzt zur Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung. Diese Bundesstelle ist unabhängig. Sie kann weiterhin Experten hinzuziehen, wenn sie es für richtig hält.
({9})
Es gibt keine Vorgabe des Ministeriums oder des Ministers. Diese Bundesstelle erstellt einen Bericht, der veröffentlicht wird und zu dem alle Beteiligten Stellung nehmen können.
({10})
Es gibt an dieser Stelle auch die Möglichkeit eines Minderheitenvotums. Eine große Geheimniskrämerei zu unterstellen ist also nicht korrekt. Auch den Vorwurf, dass
wir Verwaltungen, einzelne Personen oder Mitglieder des
Ministeriums schützen wollen, weise ich zurück. Das
Wort Kungelei, das hier an verschiedener Stelle gefallen
ist, ist nicht berechtigt. Es ist eindeutig falsch.
({11})
Die SPD-Arbeitsgruppe hat sich sowohl im Rahmen
einer Fachkonferenz in Cuxhaven als auch in der Anhörung sehr früh mit dem Entwurf befasst.
({12})
Der Bundesrat hat die Bundesstelle begrüßt.
({13})
Die Länder haben im Nachhinein eine andere Stellungnahme abgegeben. Dieser Stellungnahme können wir
nicht folgen.
({14})
Es ist nach diesem Text nicht möglich, die Regelungen bezüglich des IMO-Codes und die EU-Richtlinie zu berücksichtigen. Wir müssen sie aber Stück für Stück in deutsches Recht umsetzen.
({15})
Jetzt lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Änderungsanträgen sagen.
({16})
Es ist eindeutig falsch, dass sie erst als Tischvorlage vorhanden waren.
({17})
Es ist eindeutig korrekt, dass der Bote diese Unterlagen
am Nachmittag des Vortages verteilt hat.
({18})
Sie können gerne sagen, dass es viele Blätter waren. Wir
haben eine wunderbare Synopse aufgestellt. In dieser Synopse gab es Seiten, in denen überhaupt keine Veränderungen vorgenommen worden waren. Damit Sie es leichter haben, waren die Veränderungen auch aufgeführt.
({19})
Auf Wunsch der Küstenländer haben wir Veränderungen vorgenommen.
({20})
Das zweistufige Verfahren ist wieder eingeführt worden.
Wir haben die Petition, die jetzt angesprochen worden ist,
berücksichtigt. Wir haben zum ersten Mal datenschutzrechtliche Fragen geklärt. Wir haben dafür Sorge getragen,
dass das Parlament für die Umsetzung zukünftiger internationaler Regelungen alleine zuständig ist. Die im Entwurf vorgesehene Regelung haben wir herausgenommen.
Ich sage ganz deutlich: Wir haben viele Punkte aufgenommen, die die Küstenländer über den Bundesrat eingebracht haben.
({21})
Wir haben viele Punkte eingeführt, die in der Anhörung
angesprochen wurden. Aber wir sind bei dem Grundprinzip, das wir für richtig halten, geblieben. Es ist auch richtig so, dass wir dies getan haben.
Danke.
({22})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Gila Altmann vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn
möchte ich daran erinnern, dass auch noch andere Themen bzw. Anträge auf der Tagesordnung stehen. Auf die
Frage, warum diese keine bzw. fast keine Berücksichtigung finden, komme ich gleich zu sprechen.
({0})
Ich versuche es mit Sachlichkeit.
({1})
Deshalb, Herr Goldmann, sage ich Ihnen: Auch ich war
hinsichtlich des Seeunfalluntersuchungsgesetzes zu Beginn skeptisch.
({2})
Ich habe dieselben Schwierigkeiten gesehen und dieselben Zweifel gehabt, die auch Sie hier lautstark formuliert
haben.
({3})
Nur ging es darum, eine gerechte Abwägung zwischen
Transparenz und Datenschutz zu schaffen. Denn genau
diesen demokratischen Anspruch haben wir.
Dann habe ich mich intensiv in diesen Gesetzentwurf
eingearbeitet. Ich verstehe überhaupt nicht, warum auch
seitens der PDS ein relativ einfaches und klares Verfahren, das jetzt in Angleichung an die Flugunfalluntersuchung und die Eisenbahnuntersuchung vorgesehen wird,
({4})
so schwer zu vermitteln ist - es sei denn, man möchte es
gar nicht vermitteln.
({5})
Was jetzt neu ist, ist die Tatsache, dass zu einem bisher
üblichen Verfahren ein weiteres hinzukommt, das von einer unabhängigen Bundesstelle geführt wird.
({6})
- Das waren sie vorher auch. An der Rolle der Seeämter
ändert sich in dieser Hinsicht überhaupt nichts.
({7})
- Herr Präsident, würden Sie den Herrn bitte etwas in die
Schranken weisen? Sonst muss ich noch lauter brüllen.
({8})
Es geht darum, dass in Zukunft zwei verschiedene Verfahren angewendet werden. Das heißt, ein Verfahren
kommt hinzu. Ich muss sagen: Wenn die verehrte Opposition nicht zwischen Ermittlungen und Verhandlungen
unterscheiden kann, dann tut sie mir wirklich Leid.
({9})
Denn diese Nichtöffentlichkeit bezieht sich eben nicht auf
Verhandlungen, sondern auf Ermittlungen. Das ist ein
ganz übliches Verfahren. Die Berichte darüber sind nach
wie vor öffentlich.
({10})
Insofern wird sich an dem Bisherigen nichts ändern.
({11})
Ich habe einen ganz anderen Verdacht. Die Opposition
schwingt sich zum Rächer der Enterbten auf, schürt dabei
Ängste - das ist das Problem ({12})
und will damit letztlich von den Verfehlungen ihrer eigenen Regierungszeit ablenken. Wir haben in den letzten
dreieinhalb Jahren die Schiffssicherheit vorangetrieben.
({13})
- Genau so ist es!
Wenn wir nach dreieinhalb Jahren über Schiffssicherheit reden, dann ist auch eine Bilanz dessen zu ziehen, was
wir übernommen haben.
({14})
Als wir kurz nach dem „Pallas“-Unfall die Regierung
übernommen haben, haben wir eine Zersplitterung der
Zuständigkeiten vorgefunden, die Sie zu verantworten
hatten und die mit dazu beigetragen hat, dass dieser Unfall überhaupt stattfinden konnte.
({15})
Wir haben in der Zwischenzeit entschieden, dass ein zentrales Havariekommando aufgebaut wird, das seine Effizienz beweisen wird.
Herr Börnsen, Ihr neues Problembewusstsein ist sehr
schön. Die neuen Vorschläge, die Sie hier bringen, muss
ich aber wirklich mit Skepsis sehen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie sich echauffieren können; denn als
Sie es in der Hand hatten zu handeln, haben Sie jegliche
Gefahr geleugnet. Das bezog sich besonders auf die Gefahren in der Ostsee. Wenn Sie eine hellere Stimme hätten, dann hätte ich vorhin, als Sie die Gefahren in der Ostsee beschworen haben, geglaubt, die Englein singen zu
hören.
({16})
Ich persönlich habe damals in Anfragen und Nachfragen
und Anträgen immer wieder darauf hingewiesen. Immer
ist gesagt worden: Es ist alles in Butter.
Selbst Ihr Antrag zum Ostseeschutz ist irgendwie nicht
auf der Höhe der Zeit. In der Antragsbegründung - das
darf ich einmal herausgreifen - benennen Sie drei anscheinend - Sie haben es eben immer noch nicht gelernt unumstößliche Aspekte für ein erhöhtes Gefahrenpotenzial in der Ostsee. Ich zitiere:
Da es sich um ein internationales Gewässer handelt,
gibt es hier weder eine Lotsannahmepflicht noch eine
Radarüberwachung, noch ist es ein Verkehrstrennungsgebiet.
Sie haben nicht gemerkt, dass die Bundesregierung längst
gehandelt hat. Bezüglich der Lotsannahmepflicht sind inzwischen deutliche Schritte eingeleitet worden. Die Bundesregierung hat eine Initiative bei der IMO ergriffen
- das ist Ihnen anscheinend durchgegangen - und sie wird
sich auch weiterhin genau darum kümmern.
Bei der Radarüberwachung ist es genau dasselbe. Die
Radarüberwachung ist unabhängig vom Status der Kadetrinne. Anfang 2001 wurde die neue Revierzentrale
„Rostock-Warnemünde“ in Betrieb genommen.
({17})
- Genau! - Die Bundesregierung hat für das gesamte System 13,5 Millionen DM bereitgestellt.
({18})
Die bisherige Verkehrszentrale ist durch ein hochleistungsfähiges Verkehrssicherungssystem ersetzt worden,
das unter anderem mit einer Radar- und Schiffsdatenverarbeitung ausgerüstet ist.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Als Letztes möchte ich noch etwas zum Problem
der Verkehrstrennung sagen. Auf Initiative von Deutschland und Dänemark hat die IMO bereits den Verkehrsweg
T verlängert, quasi einen Lückenschluss hergestellt. In
das Ganze ist jetzt die Kadetrinne einbezogen worden.
Damit ist genau diese Sicherheitslücke geschlossen worden.
Herr Börnsen und Herr Goldmann, Sie sehen also:
Während Sie noch diskutieren, hat Rot-Grün längst tatkräftig angepackt; Sie haben es, wie gesagt, nur nicht gemerkt.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Lucyga von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen Börnsen und
Goldmann, eines kann man Ihren Beiträgen nun wahrlich
nicht absprechen: Sie hatten einen beträchtlichen Unterhaltungswert.
({0})
- Herr Goldmann, darauf komme ich gleich. - Bei dem,
was Sie gesagt haben, musste ich an den alten Pennälerspruch denken: Wir wissen zwar nicht so recht, was wir
wollen, aber das wollen wir mit ganzer Kraft.
Gila Altmann ({1})
Wir wissen, was wir wollen. Wir wollen die Schifffahrt
sicherer machen.
({2})
- Reden Sie oder rede ich jetzt? Sie haben Ihre Redezeit
schon gehabt. Jetzt müssen Sie mir zuhören. Ich habe mir
den ganzen Stuss, den Sie erzählt haben, lange genug anhören müssen.
Wir wollen, dass die Schifffahrt in der Ostsee sicherer
wird. Wir wollen Schiffsunfälle möglichst verhindern und
ein effektiveres Notfallmanagement betreiben. Das sind
unsere erklärten Zielsetzungen.
Ich möchte jetzt aber auf etwas anderes zu sprechen
kommen, nämlich auf die Maßnahmen, die seit dem
30. März des vergangenen Jahres durchgeführt wurden,
als die deutsche Ostseeküste von einer Ölpest bedroht
wurde. Sie wissen: Eine der riskantesten Passagen in der
Ostsee ist die so genannte Kadetrinne, die jährlich circa
60 000 Schiffspassagen zu verzeichnen hat. Es hat dort
seit 1990 etwa 20 Kollisionen oder Grundberührungen
gegeben. Die schwerste davon war die Kollision des Tankers „Baltic Carrier“ mit dem Massengutfrachter „Tern“.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie groß das Entsetzen war, als die dänischen Strände kilometerweit verseucht wurden und Mecklenburg-Vorpommern noch einmal mit dem Schrecken davonkam, wie die öffentliche
Berichterstattung immer wieder von den Bildern toter
Seevögel, aber auch vom mühevollen Kampf der Menschen gegen die Ölpest beherrscht wurde.
Ich erinnere mich aber mit genauso großem Unbehagen daran, dass seinerzeit etwas geschah, was hier im
Grunde genommen wieder geschieht: dass die Ängste der
Menschen und diese Katastrophe in einer üblen Form politisch instrumentalisiert wurden.
({3})
Die geschmackloseste und zynischste Darbietung hat im
Übrigen die Truppe von Stoiber-Berater Rehberg im
Schweriner Landtag abgezogen. Ich erinnere mich noch
sehr gut an diese Vorstellung. Das Prinzip ist immer das
gleiche: Sie setzen nicht auf Problemlösung, sondern auf
Schlammschlacht.
({4})
Hilfreich ist das nicht und verantwortungsbewusst
schon gar nicht. Da wir von gemeinsamer Verantwortung
reden, möchte ich noch einmal sagen, dass sich gerade die
Kollision in der Kadetrinne wie kaum ein anderes Beispiel dafür eignet, noch einmal die Notwendigkeit einer
Änderung am Seeunfalluntersuchungsverfahren darzulegen; denn keines der fünf Seeämter ist bis jetzt in der Lage
oder befugt, einen solchen Unfall zu untersuchen. Das
kann uns doch nur nahe legen, die Unfalluntersuchung
diesen Erfordernissen anzupassen. Ich frage Sie: Was hindert Sie, einer Verbesserung des Seeunfallverfahrens
zuzustimmen? Warum verweigern Sie sich?
Unsere Anträge zur Schiffssicherheit in der Ostsee entstanden unmittelbar nach dem 30. März 2001 aus der Situation heraus; denn unser erklärtes Ziel ist es, in Ost- und
Nordsee die Schiffssicherheit und maritime Notfallvorsorge entsprechend den Sicherheitsbedürfnissen von
Mensch und Umwelt auf einheitlich hohem Niveau zu gewährleisten. Konkrete Maßnahmen sind bereits sehr rasch
eingeleitet worden. Ich brauche nicht das zu wiederholen,
was Frau Staatssekretärin Altmann dazu ausgeführt hat.
Ich erinnere unter anderem an die deutschen Initiativen
zur Verlängerung des Tiefwasserweges der Kadetrinne
und zur Verbesserung der Betonnung. Auch wurden auf
deutsche Initiative sehr rasch wichtige Beschlüsse in der
Ostseeministerkonferenz gefasst. Deutschland wird im
Übrigen in nächster Zeit zu einem Workshop einladen, um
die Wirksamkeit und Umsetzung dieser Maßnahmen zu
bewerten. Ich glaube und meine, dass das Parlament in
diesen Prozess gleichberechtigt einbezogen sein muss.
Das werden wir so durchsetzen.
Den in unserem Antrag enthaltenen Prüfauftrag nehmen wir genauso ernst wie die Beschlüsse und Anforderungen, die aus der HELCOM-Sonderkonferenz hervorgegangen sind. Ich denke zum Beispiel an die
Notwendigkeit, die Problematik von Nothäfen und Notreeden ausreichend zu klären. Es gibt viel zu tun; denn
Schiffssicherheit in der Ostsee ist für uns keine
Showveranstaltung wie für Sie, sondern ein Prozess, den
wir konstruktiv gestalten müssen.
Danke.
({5})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir beraten heute Abend in dieser
hitzigen Diskussion auch über den Binnenschifffahrtsfonds, über den im Verkehrsausschuss gemeinsam beraten
worden ist. Dem Gesetzentwurf über die Errichtung des
Deutschen Binnenschifffahrtsfonds stimmen wir im Interesse der deutschen Binnenschifffahrt zu, da die Mittel
des Fonds zur Förderung der Binnenschifffahrt und im
Falle einer schweren Marktstörung für Abwrackmaßnahmen verwendet werden können. Der Fonds verfügt über
Einnahmen, die die deutschen Binnenschifffahrtsunternehmen im Rahmen der so genannten Alt-für-Neu-Regelung bei Erweiterung ihrer Schiffskapazitäten entrichten.
So weit, so gut.
Es handelt sich hier um einen Gesetzentwurf von RotGrün. Die Bundesregierung war laut Verordnung des Rates vom März 1999 eigentlich zum Handeln aufgefordert,
ist aber untätig geblieben. Wahrscheinlich ist die Angelegenheit beim ständigen Ministerwechsel im Ministerium
untergegangen. Deshalb wurde sie vom Parlament aufgegriffen.
Kollegin Faße von der SPD, es gibt noch eine fraktionsübergreifende Gruppe Binnenschifffahrt, die seit 1995
gemeinsam - ich betone: gemeinsam - viel für das deutsche Gewerbe getan hat, insbesondere in den Jahren bis
zur Bundestagswahl 1998. Mit Ihrem Entwurf - ohne je
mit mir oder dem Kollegen Goldmann darüber gesprochen zu haben, obwohl Sie sicherlich ahnten, dass wir uns
einem gemeinsamen Gesetzentwurf nicht verweigern
würden - haben Sie den Weg der gemeinsamen Bemühungen für die Binnenschifffahrt verlassen, aus welchen Gründen auch immer.
({0})
Was ist das Ziel des Binnenschifffahrtsfonds? Nach
der in den letzten zehn Jahren zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage des Gewerbes realisierten
Strukturbereinigung in der Güterschifffahrt der Europäischen Union ist das erreichte Ergebnis durch weitere
Marktbeobachtung und -regulierung abzusichern. Vor allem ist der Neuzugang an Frachtraum zu regeln, um das
erneute Entstehen struktureller Überkapazitäten zu verhindern. Das Schifffahrtsgewerbe, die EU und die beteiligten Mitgliedstaaten Belgien, Frankreich, die Niederlande, Österreich und Deutschland kamen überein, das
Inverkehrbringen neuer Kapazitäten für eine Übergangsphase von vier Jahren nur unter bestimmten Voraussetzungen zu ermöglichen. Die vier Jahre sind bald um. Deswegen muss weiter im Interesse des deutschen Gewerbes
gehandelt werden.
Das deutsche Gewerbe braucht dringend Unterstützung. Es genügt nicht, sich in Sonntagsreden hinzustellen
und vom umweltfreundlichen Verkehrsträger Binnenschiff zu sprechen, was insbesondere die Grünen gerne
tun. Es muss gehandelt werden. Dazu gehört nun einmal,
dass man sich um die Wasserstraßeninfrastruktur kümmert, damit die Binnenschifffahrt in der Lage ist, Logistikketten aufzubauen.
({1})
Wenn Sie alle Ausbaumaßnahmen ablehnen oder
verzögern, hilft dies der Verlagerung von Verkehr auf das
Binnenschiff überhaupt nicht. Die gestrige Anhörung zum
Donau-Ausbau hat doch deutlich gemacht, dass die Bundesregierung endlich tätig werden muss. Alles, aber auch
wirklich alles, ist nun untersucht und begutachtet worden.
({2})
Allein in den letzten zehn Jahren sind es mindestens
30 Gutachten gewesen. Minister Bodewig muss das
Raumordnungsverfahren nun zügig einleiten.
({3})
Dabei sind die Maßnahmen aufzunehmen, die gewährleisten, dass die im Jahre 1996 zwischen dem Bund und
Bayern vertraglich vereinbarte Ausbautiefe erreicht wird.
Mit flussbaulichen Maßnahmen allein - das ist gestern
deutlich geworden - ist die Abladetiefe von 2,5 Metern
nicht zu erreichen.
({4})
Wir brauchen gut ausgebaute Verkehrswege, ausreichende Transportkapazitäten, Maßnahmen zum Abbau
des Harmonisierungsdefizits auf EU-Ebene im fiskalischen und sozialen Bereich, Hilfen für den Modernisierungsbedarf der Flotte, verkehrspolitische Maßnahmen,
um die Kooperation auszuschöpfen, die Förderung von
Umschlageinrichtungen, ein Konzept für eine gesamteuropäische Binnenschifffahrtspolitik, eine Reform der Besatzungsordnung, die Einhaltung und Kontrolle der Kabotagebestimmungen und der Tarife in den bilateralen
Binnenschifffahrtsabkommen sowie im Hinblick auf die
Osterweiterung Maßnahmen, um die Wettbewerbssituation des deutschen Gewerbes zu erhalten und zu sichern.
Die Bundesregierung hat die deutsche Binnenschifffahrt vernachlässigt.
({5})
Mittlerweile scheint sie aber erkannt zu haben, dass
Handlungsbedarf besteht, weshalb sie sich dazu durchgerungen hat, ein Gutachten „Potenziale und Zukunft der
deutschen Binnenschifffahrt“ auszuschreiben. Allerdings
wird dieses Gutachten erst Mitte 2003 vorliegen. Bis dahin aber werden die Partikuliere in Deutschland noch weniger geworden sein. Aber es besteht eine Hoffnung für
das Binnenschifffahrtsgewerbe, wenn wir am 22. September wieder die Regierungsverantwortung übernehmen.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sie erinnern sich an die Kollision des Tankers „Baltic Carrier“ mit dem kleinen
Frachter „Tern“ in der Ostsee. Zur Reparatur lief die
„Tern“ Rostock an. Lassen Sie uns für einen Moment zu
den philippinischen, rumänischen und polnischen Seeleuten an Bord gehen.
Durch die Kollision schwer traumatisiert, darf die Besatzung dennoch nicht von Bord. Sie muss aufräumen und
steht dabei oft knöchelhoch im Ölschlamm. Telefonieren
ist erlaubt: fünf Minuten pro Mann und Tag unter Aufsicht
der Schiffsleitung oder eines Reedereivertreters. Nach einer Woche dürfen die Männer erstmals an Land. Sie können im Rostocker Seemannsclub aufatmen und ungestört
und lange mit der Familie telefonieren. Seelsorge wird
möglich; auf Wunsch der Besatzung wird eine gemeinsame Andacht abgehalten.
Begleiten Sie mich nach Hamburg in den Internationalen Seemannsclub „Duckdalben“, eine von zahlreichen Einrichtungen der weltweiten Seemannsmission.
Sonntagabend, 19 Uhr: Ein Seemann aus Tuvalu bittet um
Teststreifen für sein Diabetesmessgerät von einem deutschen Hersteller und geht davon aus, dass sie bis Montagmittag wohl zu besorgen sein sollten. Die Realität sieht
anders aus. Das Testgerät wurde in Frankreich gekauft
und die passenden Streifen gibt es nur dort. Die Internationale Apotheke braucht 14 Tage, um sie zu besorgen.
Vom „Duckdalben“ wird der Kollege in Le Havre angerufen. Er kauft sie und schickt sie zum nächsten Hafen
voraus. In Felixstowe wartet der Seemannsdiakon mit den
Teststreifen auf den Seemann aus Tuvalu.
Ohne die Missionen wären Seeleute oft hilflos: ohne
Telefonkarten oder -zellen, allein zwischen Containern,
Kränen und Kaimauern, kein Taxi weit und breit. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist soziale Betreuung
von Seeleuten.
({0})
Kennen Sie das weltweit einschlägige Symbol für
festen Boden unter den Füßen? - Es ist der Billardtisch.
Können Sie sich die unbändige Freude des nigerianischen
Seemanns vorstellen, der mitten im Winter in leichter
Sommerkleidung von Bord kommt, im Seemannsclub zufällig einen Fußball sieht und dem auf seine Frage ein
ganzjährig bespielbares Fußballfeld bestätigt wird sowie
Winterkleidung und feste Schuhe aus dem ITF-Fonds gezeigt werden? Verwunderung im Club: Er lässt sich sofort
zurück an Bord bringen. Dort erst zeigt sich das ganze
Ausmaß seiner Begeisterung. Aus allen Ecken stürmen
Seeleute hervor: in Kochskleidung, im Blaumann, mit
Helm, mit Sicherheitsschuhen und Badelatschen. So viele
wie möglich quetschen sich in den Kleinbus und stürmen
die Schuh- und Kleidungskiste im Club. Sie genießen das
Fußballspiel, wie es sich wohl kaum jemand von uns jemals vorstellen könnte. Dank ITF und Seemannsmission
ist dies eine gute, freundliche, liebevolle Visitenkarte eines deutschen Hafens.
1,2 Millionen Seeleute sind immer in der Ferne, fremd
unter Fremden. Sie finden Fürsorge, Zuwendung, Freundlichkeit, Hilfe, wenn nötig auch ein Stück Zuhause im
Seemannsheim, im Club und manchmal sogar in der
Home Mission, der Aufnahme in die Familie des Seemannsdiakons. Können Sie ermessen, was Seeleute empfinden, wenn sie - oft monatelang fern von der eigenen
Familie, fern von den eigenen Kindern - möglicherweise
gerade in der Weihnachtszeit in einem Seemannsclub
plötzlich auf ein kleines Kind oder auf einen Hauskater
treffen? Ich glaube, wir können uns kaum vorstellen, was
dann in den Seeleuten vorgeht.
Support of Seafarer’s Dignity - das kann man nicht
kaufen, das muss man leben. In unseren Missionen wird
das gelebt. Deshalb hat der Bundespräsident die Schirmherrschaft über die Weltkonferenz der Seemannsmissionen übernommen und deshalb beschließen wir heute die
Ratifizierung der ILO-Resolution 163.
({1})
Ich danke Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dafür, dass das möglich ist.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Konrad Kunick.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich will noch einmal ganz
kurz die Debatte zum SUG aufnehmen. Wenn man einigen Debattenrednern heute zugehört hat, dann wird ja
wohl die Axt an ein demokratisch-rechtsstaatliches Gerichtsverfahren zugunsten der Einschränkung von Transparenz gelegt.
({0})
So klang das zumindest.
({1})
- Herr Goldmann, nun bleiben Sie mal ganz ruhig!
Worum geht es wirklich? Das bisherige Seeamtsverfahren ist in einem Behördenakt zugleich Unfalluntersuchung und Schuldzuweisung durch ein Expertengremium, bestehend aus einem Volljuristen als Vorsitzenden
und drei Beisitzern, die aus den Verbänden vorgeschlagen
werden, sachverständigen Beisitzern aus Seefahrts- und
mit der Seefahrt eng verbundenen Berufen.
Parallel zu diesem Verfahren laufen in der Praxis die
Verhandlungen über den Schadensausgleich zwischen
den Juristen der Reeder und den Juristen der Versicherer.
Wenn es für den Abschluss des Verfahrens erforderlich ist,
folgt als Abschluss der Schuldspruch gegen den Kapitän.
Der ist nämlich für das Schiff umfassend verantwortlich
und hinter dem tritt der Reeder völlig zurück. Wenn es gelingt, nachzuweisen, dass der Kapitän schuld ist, haftet
nach deutschem Recht der Reeder nicht mehr.
({2})
Das ist der Kern der Angelegenheit. Darum geht es - und
weniger um Transparenzfragen.
Dieses bisherige Verfahren der Seeamtsverhandlung ist
nur dann wirksam, wenn Unfälle in deutschen Hoheitsgewässern verhandelt werden.
({3})
Unfälle deutscher Schiffe und deutscher Staatsbürger auf
hoher See und in anderen Hoheitsgewässern können so
nicht untersucht werden.
({4})
Wir führen deshalb jetzt eine Unfalluntersuchungsbehörde ein, die zuständig ist für die technische Unfalluntersuchung auf Schiffen „round the world“, wenn deutsche Schiffe, deutsche Mannschaften oder deutsche
Staatsbürger betroffen sind.
({5})
Sie ist außerdem für die technische Unfallermittlung in
deutschen Hoheitsgewässern zuständig.
Wir führen eine Untersuchungsbehörde mit einem
technischen Unfalluntersuchungsverfahren ein, das dem
der Flugunfalluntersuchung entspricht. Das ist eine der
Forderungen der Grobecker-Kommission, der Sie nun unDr. Margrit Wetzel
terstellen wollen, sie hätte dies aber nicht aus vollem Herzen empfohlen.
({6})
Kritiker wie Sie, Herr Goldmann, empören sich, die Arbeit der zukünftigen Untersuchungsbehörde für Schiffsunfälle, die beim Oberseeamt angesiedelt wird, werde nun
nicht öffentlich sein. Wie ist denn die kriminaltechnische
Untersuchung bei einem an einen Baum gefahrenen Omnibus? Wird der im Zweifelsfall nicht erst einmal beschlagnahmt und untersucht? Wird der Fahrer nicht erst
einmal zu dem Unfallhergang ohne Öffentlichkeit gehört,
bevor ein öffentliches Gerichtsverfahren eingeleitet wird?
Oder wurde das ICE-Unglück von Eschede nicht zunächst
nicht öffentlich durch das Eisen-Bahnbundesamt untersucht? Wird denn zum Beispiel der Unfall eines Omnibusses hinsichtlich der technischen Ursachen wie eventuellen menschlichen Versagens vor einem „Amt“
genannten Gremium aus einem hauptamtlichen Juristen
und Beisitzern aus den Reihen des ADAC, von Fahrlehrern, Busherstellern und Reparateuren untersucht?
({7})
Und ist der Busunternehmer dann aus allen Kalamitäten
heraus, wenn sich die Juristen der Versicherer und der Betroffenen geeinigt haben und dem Busfahrer der Führerschein abgenommen wird? So nämlich sieht es vergleichsweise in unserem alten Seeunfallsverfahren aus.
({8})
Bedeutende und schwerwiegende Unfälle in der Luft
und an Land werden zunächst durch Untersuchungsbehörden ohne die Öffentlichkeit der Interessenten voruntersucht, ehe es zu öffentlichen Gerichtsverfahren
kommt, von denen Sie, Herr Börnsen, sagen, man wisse
dann ja nicht, was dabei herauskommt. Ein unkontrolliertes Verfahren vor den Gerichten drohe.
({9})
Wir führen eine Untersuchungsbehörde ein, die die
Weiterentwicklung von internationalen Schiffsführungsvorschriften, Arbeitssicherheitsvorschriften und Schiffbauvorschriften im nationalen und internationalen Rahmen zur Aufgabe hat.
Die Kompetenzen der Seeämter für den Entzug von
Schifffahrtspatenten bleiben im bisherigen Maße erhalten. Die technischen Unfallursachen werden zukünftig
genauer geklärt, als dies bisher bei den Seeämtern der Fall
war.
({10})
Natürlich werden dabei keinem Beteiligten die Rechte beschnitten, Gegengutachten zu bestellen und gegebenenfalls den Weg der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu beschreiten. Gegen die Seeamtssprüche kann auch
zukünftig die Wasser- und Schifffahrtsdirektion angerufen werden und gegen Entscheidungen der Wasser- und
Schifffahrtsdirektion die Verwaltungsgerichtsbarkeit
Herr Kollege
Kunick, Sie müssten nun eine elegante Wendung zum
Schluss finden.
Ich fasse also zusammen: Das
neue Schiffsunfallrecht dient der Verbesserung der Sicherung der maritimen Umwelt, dem Schutz der Bevölkerung
an der Küste, der Sicherheit der Schiffsbesatzungen und
der Stärkung der Rechte des Kapitäns; auf ihn kann nicht
mehr alles abgeladen werden. Es berücksichtigt die neuesten internationalen IMO-Bestimmungen sowie die Praxis
der Unfallermittlung in Deutschland bei anderen Verkehrsmitteln.
({0})
Wir sind an sich
am Schluss der Debatte. Herr Kollege Börnsen, wollten
Sie noch eine Kurzintervention machen?
({0})
Da Sie geredet haben, wäre es nicht so glücklich, eine
Kurzintervention zu machen, zumal wir am Ende der Debatte sind.
Frau
Präsidentin, ich werde darauf verzichten, Herrn Kunick
zu fragen, warum sich gestern die Bremer Bürgerschaft
einstimmig gegen das SeeUG ausgesprochen hat.
Es wird keine
Antwort erwünscht. - Wir sind damit am Schluss dieser
Debatte.
Tagesordnungspunkt 6 a: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Seeschifffahrtsanpassungsgesetzes. Der Auschuss für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wenn Sie dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, bitte ich Sie, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung angenommen.
Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Seeunfalluntersuchungsgesetzes auf Drucksache 14/6892. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8264, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 6 b: Abstimmung über den von
den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Binnenschifffahrtsfondsgesetzes auf Drucksache 14/6159. Der Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7882, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie
dem Gesetzentwurf auch in der dritten Beratung zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen
worden.
Tagesordnungspunkt 6 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den
Bericht der Kommission für den Europäischen Rat von
Biarritz über die Gesamtstrategie der Gemeinschaft für
die Sicherheit im Seeverkehr. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/6251, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/6909. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/6211 mit dem Titel „Schiffssicherheit auf der Ostsee verbessern“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen,
der FDP und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSUFraktion angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/5752 zur Optimierung der Ostseesicherheit im Bereich der Kadetrinne abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 e: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung über die
Mitteilung über die Verbesserung der Dienstqualität in
Seehäfen und über einen Vorschlag für eine Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über den Marktzugang für Hafendienste. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7890, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 f: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 14/7898 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel: „ILO-Übereinkommen über die soziale Betreuung der Seeleute ratifizieren“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/5247 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 6 g: Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/8108 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 14/6929 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({1})
- Drucksache 14/8176 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({2})
Die Parlamentarische Staatssekretärin Mertens, die
Kollegin Rehbock-Zureich sowie die Kollegen Brunnhuber, Schmidt ({3}) und Goldmann möchten ihre
Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Gesetzent-
wurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzei-
chen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
1) Anlage 3
Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in dritter Lesung angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/8247. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP bei Enthaltung der PDS abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/8311. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Ent-
schließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Gentechnikgesetzes
- Drucksache 14/8230 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Gentechnikgesetzes
- Drucksache 14/5929 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz
- Drucksache 14/6763 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung über Erfahrun-
gen mit dem Gentechnikgesetz
- Drucksachen 13/6538, 14/272 Nr. 119, 14/6894 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Harald Kahl
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Reimann,
Heiderich, Höfken, Parr und Naumann sowie die Parla-
mentarische Staatssekretärin Schaich-Walch möchten
ihre Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/8230, 14/5929 und 14/6763 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 14/6894 zu dem Bericht der Bundesregierung
über Erfahrungen mit dem Gentechnikgesetz. Der Aus-
schuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die
Bundesregierung auf Drucksache 13/6538, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Peter Paziorek, Dr. Klaus
W. Lippold ({8}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Weißbuch der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften: Strategie für eine zukünftige
Chemikalienpolitik
- Drucksache 14/8029 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({10}) zu dem An-
trag der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita
Sehn, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
1) Anlage 4
Für eine wirksame und vernunftgeleitete
Chemikaliengesetzgebung
- Drucksachen 14/5761, 14/6422 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Christian Ruck
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Reimann, Dr. Ruck,
Hermann, Homburger und Bulling-Schröter möchten ihre
Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall.
Tagesordnungspunkt 9 a: Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8029 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 9 b: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/6422 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine
wirksame und vernunftgeleitete Chemikaliengesetzge-
bung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/5761 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rosel
Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Barbara Höll,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
- Drucksache 14/7225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christina Schenk, Rosel Neuhäuser, Dr. Barbara
Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
- Drucksache 14/7226 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Kolleginnen und Kollegen Humme, Stöckel,
Blumenthal, Schewe-Gerigk, Lenke und Schenk möchten
ihre Reden zu Protokoll geben. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/7225 und 14/7226 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Februar 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.