Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die heutige Debatte über Ostdeutschland kommt zum
richtigen Zeitpunkt. Sie kommt zu einem Zeitpunkt, an
dem ein entschlossen handelnder Bundeskanzler
({0})
und eine mit einem fundierten Zukunftskonzept für den
Osten handelnde Bundesregierung eine Opposition gePräsident Wolfgang Thierse
genüberstehen, deren jetzigen Zustand man - ich habe in
die aktuelle Presse geschaut - mit den Worten vom „Sowohl-als-auch-Kandidaten“ und von der „Chaos-CDU“
- es handelt sich dabei noch um freundliche Umschreibungen - bezeichnen kann.
({1})
Die Bundesregierung hat eine klare Strategie. Die Opposition hat kein Konzept für Wirtschaft und Wachstum
vorgelegt.
({2})
Wer das nicht tut, der verbindet damit das ganz klare Signal an Ostdeutschland: Für Ostdeutschland ist nichts zu
erwarten.
Die Bundesregierung hat gerade in den letzten Monaten wichtige Weichenstellungen im Hinblick auf schwierige Entscheidungen der Wirtschaft - es ging um strukturpolitische Entscheidungen für ostdeutsche Regionen
und damit um wichtige Entscheidungen für die Zukunft
Ostdeutschlands - vorgenommen.
({3})
Daher besteht Grund zur Zuversicht und auch zu Selbstbewusstsein.
({4})
Ich will einige Beispiele dafür nennen.
Beispiel Nummer eins: Ammendorf.
({5})
Ich erinnere mich noch an die Aktuelle Stunde vom
15. November letzten Jahres, im Plenum des Deutschen
Bundestages. Ich erinnere mich daran, dass Sie, Herr
Nooke, damals eine Presseerklärung veröffentlicht hatten,
die unter dem Motto stand: Kümmern wir uns doch lieber
um die anderen Standorte, wie zum Beispiel um Hennigsdorf, die bessere Aussichten haben. - Die Richtung, in die
die Opposition wollte, war jenseits dessen, was außerhalb
des Parlaments artikuliert wurde, klar.
Nein, wir haben nicht zuletzt durch den Einsatz des
Bundeskanzlers selber eine wichtige Standortentscheidung nicht nur im Interesse des Erhalts der Waggonbaukompetenzen des Unternehmens Bombardier in Ammendorf, sondern auch im Interesse der gesamten Region
und besonders im Interesse von Halle bewegen können.
Es ist jetzt sicher, dass der dortige Standort bis zum Jahr
2004 erhalten bleibt.
({6})
Es ist völlig klar, worauf wir abzielen, wenn wir jetzt
gemeinsam mit der Landesregierung und mit den Beteiligten vor Ort, der Oberbürgermeisterin und der Belegschaft, in einer konzertierten Aktion die Kapazitäten und
die Zahl der Möglichkeiten außerhalb des Unternehmens
erhöhen: Wir schaffen eine neue Perspektive nicht nur für
das Unternehmen, sondern auch für die gesamte Region.
Ich glaube, das ist ein sehr gutes Arbeitsergebnis.
({7})
Beispiel Nummer zwei: BMW-Werk in Leipzig. Das
war eine wichtige Entscheidung des BMW-Konzerns
- deshalb muss sie noch einmal angesprochen werden für die neuen Bundesländer. Diese Entscheidung war ein
wichtiger Durchbruch für die Industrialisierung in den
neuen Bundesländern. Dass sich Ostdeutschland mittlerweile wieder zu einem Kompetenzschwerpunkt der Automobilindustrie entwickelt, dass in Ostdeutschland über
100 000 Menschen wieder Lohn und Brot in der Automobilbranche finden und dass im mitteldeutschen Raum, im
Raum Halle/Leipzig, 10 000 Arbeitsplätze in der Automobilindustrie entstehen, ist ein entscheidender Erfolg
und Durchbruch für die wirtschaftliche Emanzipation der
neuen Bundesländer.
({8})
Die Entscheidung, eine gläserne Fabrik in Dresden zu
bauen, und die Entscheidung von Daimler-Chrysler zugunsten Thüringens haben natürlich Folgewirkungen.
Das sagt etwas über die Kompetenzen der neuen Bundesländer in der Automobilbranche aus. Hier ist ein Stück
selbsttragender Aufschwung in Ostdeutschland entstanden. Ich lade Sie ein, sich das einmal anzuschauen. Machen Sie die Augen auf! Es war richtig, dass die Bundesregierung zusammen mit dem IIC die Bewerbung von
BMW unterstützt hat und so bei der Entscheidung für Mitteldeutschland mitgeholfen hat.
Drittes Beispiel: maritime Wirtschaft. An der Küste
von Mecklenburg-Vorpommern sind in den 90er-Jahren
Werftenstandorte entstanden, die im Hinblick auf ihre
Produktivität jedem internationalen Vergleich standhalten. Es sind aber damals Privatisierungsverträge unterschrieben worden - das fiel in Ihre Zuständigkeit, nicht in
unsere -, die den Werften ein Begrenzungsregime aufoktroyieren, das jenseits jeder Vernunft ist. Dass wir es
gemeinsam mit den Betroffenen vor Ort geschafft haben,
diese Kapazitätsbegrenzungen zu lockern, dort Produktivitätsfortschritte als Standortvorteil wirksam werden zu
lassen, Arbeitsplatzzuwächse zu ermöglichen - es musste
also nicht mit Kurzarbeit auf Produktivitätsfortschritte
reagiert werden; das wäre die Konsequenz gewesen, wenn
wir es nicht geschafft hätten -, ist ein wichtiger Erfolg für
Ostdeutschland, den die Bundesregierung erzielt hat.
Beispiel Nummer vier: Veag. Ich erinnere mich noch
- das spreche ich ausdrücklich an - an die anfänglich
schwierigen Diskussionen. In Ostdeutschland wird - die
letzten Entscheidungsebenen bei der BvS müssen noch
durchlaufen werden - der drittgrößte Stromkonzern
Deutschlands entstehen.
({9})
Damit stellen wir die Braunkohleverstromung auf eine
dauerhafte Grundlage. Ostdeutschland ist also nicht weiter die verlängerte Werkbank des Westens. Wir werden in
Ostdeutschland einen großen Konzern etablieren können,
und zwar nicht zuletzt - das möchte ich ausdrücklich erwähnen - wegen des so genannten Stabilisierungsmodells, das der Bundeswirtschaftsminister von Anfang an
zur Voraussetzung für diesen Privatisierungsvorgang gemacht hat.
Die Bundesregierung hat also in den zurückliegenden
Monaten zentrale Standortentscheidungen und wichtige
strukturpolitische Entscheidungen für Ostdeutschland getroffen.
({10})
Ich sage deshalb auch bei dieser Debatte heute klipp
und klar: Es gibt keine Alternative für ein Aufbau-OstKonzept, das sich der Perspektive einer mittelfristigen
Entwicklung der neuen Bundesländer verschreibt. Wir
werden deshalb in unserem Aufbau-Ost-Konzept an den
drei berühmten „I“ festhalten: Förderung von Investitionen, schwerpunktmäßige Innovationsstrategie und Infrastrukturausbau. Man kann klar sehen, dass sich das bewährt hat und dass wir es fortsetzen können.
({11})
Sie wissen, wir haben mit der Investitionszulage eine
dauerhafte, rechtsverbindliche Investitionsförderung
organisiert. Ich weiß noch, wie Sie 1998 damit in den
Wahlkampf marschiert sind, ohne dass sie modifiziert
war. Es handelte sich nicht um verbindliches Recht. Erst
wir haben die Investitionszulage in Europa durchgesetzt eine wichtige Entscheidung zugunsten der neuen Bundesländer.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska
Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Wir haben die Mittel aus den Strukturfonds der Europäischen Union gegenüber der letzten Förderperiode bis
1999 um 2 Milliarden DM erhöht - eine wichtige Verstärkung für die neuen Bundesländer. Trotz aller Neuüberlegungen innerhalb der Kommission zum so genannten multisektoralen Beihilferahmen sage ich klar: Wir
brauchen in der nächsten Zeit die Förderung von Großinvestitionen und werden uns dafür einsetzen, dass auch
in Zukunft die Förderung von Großinvestitionen in den
neuen Bundesländern möglich bleibt. Das ist ein zentraler
Bestandteil unseres Konzeptes.
({12})
Das gilt natürlich auch für die Innovationsstrategie.
Dort, wo auch Sie richtige Akzente gesetzt haben, haben
wir sie noch einmal verstärkt, zum Beispiel beim Hochschulausbau. Es ist in Ordnung und wichtig, die Innovationsstrategien in den Unternehmen zu befördern. Es
gibt aber auch Veränderungen und neue Zweige: So werden Netzwerkstrukturen gefördert und regionale Innovationsinitiativen unterstützt. Das tun wir zum Beispiel
mit Inno-Regio und mit der Förderung von regionalen
Wachstumskernen. Das hat sich klar bewährt. Die Innovationskompetenz der kleinen und mittelständischen Unternehmen hat sich massiv verbessert und kann internationalen Vergleichen standhalten. Auch das ist ein Erfolg.
({13})
Außerdem hat auch weiterhin der Infrastrukturausbau
in den neuen Bundesländern klare Priorität. Das ist eine
wichtige Aufgabe noch über viele Jahre hinweg. Deswegen ist es richtig gewesen, im Investitionsprogramm Verkehr 1999 bis 2002 über die Hälfte der Investitionen des
Bundes nach Ostdeutschland zu lenken.
({14})
Es war übrigens ebenfalls richtig, dass wir die manchmal
auch unpopuläre Entscheidung getroffen haben, ein
EFRE-Programm aus europäischen Mitteln in Bundeszuständigkeit für Ostdeutschland zu generieren. Das hat es
vorher nicht gegeben. 5 Milliarden haben wir insgesamt
mehr, 3 Milliarden davon gehen in den Infrastrukturausbau. Das war eine richtige Prioritätensetzung, wie übrigens auch beim Stadtumbau Ost, auf den ich gleich noch
zu sprechen komme.
Dass wir all dies heute frei von der Angst, wie eine dauerhafte Finanzierung sichergestellt werden kann ({15})
ich erinnere noch einmal an die Debatten von vor drei Jahren beim Solidarpakt, als die Frage im Raum stand, wie
das weitergeht -, diskutieren können und Planungssicherheit bis 2020 im Hinblick auf die finanzielle Ausstattung
der neuen Bundesländer in all diesen Bereichen herrscht,
ist eine großartige politische Leistung, die hier in den letzten drei Jahren erzielt worden ist.
({16})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Bemerkung zum Stadtumbauprogramm Ost machen, weil
das meiner Meinung nach wirklich besprechenswert ist.
In dieser Woche laufen gerade die Wettbewerbe in den
neuen Bundesländern dazu an. Sie sind letzte Woche in
Sachsen-Anhalt und diese Woche in Sachsen und Thüringen gestartet. Die Resonanz, die bezüglich dieser Wettbewerbe herrscht, und die Intensität, mit der sich die ostdeutschen Kommunen diesem Wettbewerb stellen, sind
ein klares Signal dafür, dass wir eine richtige Entscheidung getroffen haben,
({17})
und zwar im doppelten Sinne: Wir haben ein Programm
aufgelegt, das nicht nur einen ganzheitlichen Förderansatz bringt und finanzielle Hilfen für den Abriss gibt, sondern das auch Aufwertungsinvestitionen in den Städten
möglich macht, das eine Eigentumskomponente und eine
Investitionslenkungskomponente mit der I-Zulage besitzt.
Wir verbessern an der Stelle übrigens auch die Kreditmöglichkeiten. Das betrifft dann schon die finanzielle
Seite. Ich erinnere mich noch daran, als Herr LehmannGrube seinen Bericht vorlegte. Seien wir einmal ehrlich:
Wer hätte damals gedacht, dass wir ein Stadtumbauprogramm auf den Weg bringen würden, das bis 2009
2,7 Milliarden Euro mit einer solchen Planungssicherheit
für die nächsten Jahre mobilisieren können würde?
({18})
Weil ich weiß, dass es wieder Häme geben wird, sage
ich an dieser Stelle auch: Diese Entscheidungen - nicht
nur hinsichtlich Ammendorf oder BMW, sondern auch
hinsichtlich des Solidarpakts II und des Stadtumbauprogramms Ost - wären ohne den persönlichen Einsatz
des Bundeskanzlers überhaupt nicht denkbar gewesen.
({19})
Nun möchte ich gerne auf das zurückkommen, was Sie
im Angebot haben; denn ich finde, bei einer solchen Debatte muss man auch über das alternative Angebot in der
aktuellen Diskussion reden. Es ist nicht ganz so einfach,
dieses Angebot zu identifizieren. Ich lasse einmal alles
weg, worüber Sie sich noch streiten, und konzentriere
mich auf die Dinge, die einigermaßen klar zu erkennen
sind.
Da ist - ich sehe den thüringischen Ministerpräsidenten auf der Bundesratsbank - natürlich wiederum
der Vorschlag der so genannten 40 Milliarden für Ostdeutschland, auch wenn die Finanzierung dafür nicht
steht. Ich bin fest davon überzeugt: Die Menschen in den
neuen Bundesländern werden sich in der Wahlauseinandersetzung nicht auf inhaltslose Sprechblasen einlassen.
({20})
Ich habe Ihnen etwas aus dem Jahr 1999 mitgebracht.
„Bayern droht: Kein Geld mehr für den Osten“.
({21})
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Hören Sie auf mit diesen
Mogelpackungen, mit Wunsch und Wolke, und sagen Sie
konkret und verlässlich, was Sie meinen tun zu müssen!
Mit etwas anderem werden Sie in Ostdeutschland keinen
Blumentopf gewinnen können.
({22})
Es gibt natürlich auch ein paar Dinge, über die wir etwas ernsthafter reden müssen; denn so, wie Sie das artikulieren - nicht in diesem Fall, aber sehr wohl bei anderen Dingen -, vermute ich, dass Sie das tatsächlich
umsetzen wollen. Deswegen möchte ich darauf kurz eingehen.
Da ist zunächst Ihr Ansatz, in Ostdeutschland einen
radikalen Schnitt bei den ABM zu machen. Über dieses
Ansinnen muss heute hier geredet werden. Sie haben im
November im Deutschen Bundestag einen Antrag eingebracht, in dem steht: ABM und Strukturanpassungsmaßnahmen sollen drastisch zurückgefahren werden. - Inzwischen haben Sie das leicht abgemildert; jetzt
gibt es die modifizierte Form, diese Maßnahmen nur noch
für 50-Jährige und Ältere zuzulassen und den Rest wegzuschneiden.
({23})
Lesen Sie einmal nach, was Herr Jagoda gestern zur Notwendigkeit dieser Maßnahmenkategorie gerade in der
derzeitigen Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland gesagt hat.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, was es bedeuten
würde, wenn wir die ABM - ich lasse die Strukturanpassungsmaßnahmen einmal weg - nur noch für die 50-Jährigen und Älteren zulassen würden und den anderen, die
nur durch diese Maßnahmen eine Chance auf Beschäftigung haben, nicht mehr gewähren würden: Damit würden schlagartig 93 000 Personen mehr in die Arbeitslosigkeit geschickt,
({24})
davon fast 60 000 in Ostdeutschland. Das ist rund die
Hälfte aller ABM-Teilnehmer in Ostdeutschland. Das ist
also ein völlig unverantwortlicher Vorschlag in der politischen Landschaft.
({25})
Ich will noch etwas ansprechen, was Sie sozusagen im
Kleingedruckten stehen haben und bei dem ich sicher bin,
dass Sie das in Ostdeutschland ganz tief hängen werden
bzw. es, wenn es irgendwie geht, gar nicht erwähnen werden. Aber ich finde, der Wähler sollte die Angebotssituation kennen. Deswegen spreche ich das ausdrücklich an.
Die CDU hat auf ihrem Bundesparteitag in Dresden einen Antrag unter der Überschrift „Freie Menschen. Starkes Land“ verabschiedet. Was darin enthalten ist, ist hochinteressant und sehr nachlesenswert. Sie wollen an das
Arbeitszeitgesetz heran. Sie wollen im Arbeitszeitgesetz
die Zehn-Stunden-Tagesgrenze aufheben. Ob das in der
aktuellen Überstundendebatte ein vernünftiger Vorschlag
ist, lasse ich einmal dahingestellt.
Sie wollen unsere Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes, das wir modernisiert haben,
({26})
wieder zurücknehmen. Unterhalten Sie sich einmal mit
dem Betriebsrat in Ammendorf oder bei den Gröditzer
Stahlwerken, um zu erfahren, wie wichtig ein Mitspracherecht der Arbeitnehmer in Situationen, wie es sie dort
zurzeit gibt, ist. Ihr Vorschlag ist völlig kontraproduktiv.
({27})
Ich sage Ihnen zum Schluss, dass mir ein anderer Vorschlag am schwersten auf den Magen geschlagen ist: Sie
wollen im Arbeitsrecht ein Optionsrecht einführen, nach
dem der Arbeitgeber künftig bei jedem Arbeitnehmer
mit Abfindungsregelungen den Verzicht auf Kündigungsschutzklagen generell einfordern kann.
({28})
Was das unter ostdeutschen Bedingungen bedeutet, ist
völlig klar: Jeder, der künftig einen Arbeitsvertrag bekommt, hat seinen Kündigungsschutz von vornherein abzugeben.
({29})
Am Werktor ist Schluss mit Sozialauswahl und den
Rechten der Arbeitnehmer. Das ist Ihre Konzeption.
Es geht aber um mehr als nur um die Tatsache, dass Sie
keine Konzeption für Ostdeutschland haben. Sie wollen
vielmehr ein konservatives Rollback.
({30})
Das ist so! Darüber muss geredet werden.
({31})
Ich sagen Ihnen: Ich will solch ein Land nicht. Ich will
nicht, dass Tausende, Millionen von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, zu einer beliebigen Verfügungsmasse
degradiert werden. Darüber wird es in den nächsten Monaten viele muntere Diskussionen auf Veranstaltungen
- nicht nur hier im Bundestag, sondern vor allen Dingen
mit den Menschen - geben. Ich bin gespannt, was Sie
dazu sagen werden. Vielleicht kommen Sie jetzt ans Rednerpult und betonen wieder, dass das alles nicht gesagt
worden sei und nicht gelte. Ich bin auch in diesem Punkt
auf die Klarstellungen gespannt.
Schönen Dank.
({32})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr
verehrte Damen und Herren! Ich will den Vorwurf gleich
vorwegnehmen: Jedem, der sich ernsthaft mit der Situation in den neuen Bundesländern auseinander setzt, werfen Sie vor, er würde den Standort schlecht reden. Herr
Schwanitz, das, was Sie hier gesagt haben, hat mit der
Realität nichts zu tun.
({0})
Herr Bundestagspräsident, entschuldigen Sie, dass ich
Ihre Äußerungen in Anspruch nehme. Selbst in der Koalition gibt es hinsichtlich der Bewertung der Situation riesige Unterschiede. Ich mag das Bild von der Kippe nicht;
aber es ist inzwischen das meist gebrauchte Bild, wenn
man über den Osten spricht. Selbst Herr Schwanitz hat
vor drei Tagen in einem Interview gesagt, dass er denke,
wir seien in der Debatte jetzt einen Schritt weiter. - Herr
Schwanitz, was wollten Sie denn damit sagen? Der Osten
ist nicht mehr an der Kippe, sondern einen Schritt weiter?
({1})
Überlegen Sie einmal, was Ihnen für freudsche Fehlleistungen bei der Beurteilung der Situation unterlaufen.
({2})
Unser Antrag „Deutschland 2015“ ist ein guter Beitrag
zum Aufbau in den neuen Bundesländern und auch zur
Modernisierung von ganz Deutschland. Wir wollen
mehr Freiheit für eigene Wege.
({3})
Unser Antrag basiert auf der klaren Aussage - das haben wir vor einem Jahr geschrieben -, dass wir uns an einer Weggabelung befinden. Wenn ich sehe, was in diesem
Jahr passiert ist, stelle ich fest: Wir sind in der Tat viele
Schritte weiter, aber auf dem falschen Weg, hin zu mehr
Regulierung, mehr Bürokratisierung, wirtschaftsfeindlicher und ansiedlungsfeindlicher Politik.
({4})
Eine nüchterne Analyse der Situation in den neuen
Bundesländern tut meines Erachtens mehr Not denn je.
Das hat nichts damit zu tun, dass wir die Aufbauleistungen in den neuen Ländern in den letzten elf Jahren irgendwie klein reden wollen.
Um es vorweg zu sagen: Der Jahresbericht zum Stand
der deutschen Einheit ist - genauso wie Ihre Rede, Herr
Schwanitz - kein Beitrag zu einer nüchternen Bestandsaufnahme. Was unter der Ägide des Staatsministers zweifellos fleißig zusammengestellt wurde, ist nichts anderes
als unangebrachte Lobhudelei auf die gegenwärtige Bundesregierung und eine Aneinanderreihung von Selbstverständlichkeiten.
({5})
In dem vorliegenden Bericht verweist die Bundesregierung auf viele Erfolge. Aber in den meisten Fällen
sind es Erfolge, die aus der Arbeit vor 1998 herrühren.
({6})
Sie nehmen als Markenzeichen Ihrer Regierungszeit das
in Anspruch, was letztlich von der Regierung unter
Helmut Kohl erreicht wurde. Bundeskanzler Schröder
will damit von seinem Versagen 1990 bei der Wiederherstellung der deutschen Einheit ablenken.
Der vorliegende Jahresbericht 2001 zum Stand der
deutschen Einheit nennt in keiner Weise die Erfolge bis
1998.
({7})
Er enthält letztlich viele Tabellen, aber keinerlei Kommentare und Auswertungen. Ihr Bericht, Herr Schwanitz,
ist anstrengend zu lesen. Nach dem Lesen fragt man sich,
was man eigentlich daraus lernen kann.
({8})
An der Stelle, an der es um die Zahl der Beschäftigten und
um die Zahl der aus den neuen Bundesländern abgewanderten Menschen geht - um nur zwei Beispiele zu nennen -, vermisse ich Kommentare und Erklärungen, wie
diese Entwicklung zu erklären ist.
Gerade die Zahl der jungen Menschen, die das Land
verlassen, ist in den letzten drei Jahren sprunghaft angestiegen. Das alles ist bekannt. Den Bericht des Statistischen Bundesamtes einfach zu übernehmen bringt überhaupt nichts. Da Sie keine Interpretation anbieten, sage
ich Ihnen meine: Ihre Politik ist zum Davonlaufen.
({9})
Diese Bundesregierung kann sich drehen und wenden,
wie sie will: Unter ihrer Verantwortung ist der Aufbau Ost
zum Abschwung Ost verkommen.
({10})
Der Bundeskanzler hat den Aufbau Ost zur Chefsache
erklärt. Heute ist er aber nicht da.
({11})
Er hat die Chefsache inzwischen anscheinend abgetreten.
({12})
- Dann müssen Sie andere Termine finden. Ist Ihnen dieses Thema nicht so wichtig, Herr Struck? Zu dieser Feststellung muss man angesichts der Tatsache kommen, dass
Herr Wowereit in Berlin sagt, dass sich die PDS um den
Osten kümmere.
({13})
- Das wussten Sie doch vorher, als Sie die Debatte angesetzt haben.
Die zweieinhalbmal so hohe Arbeitslosigkeit in den
neuen Bundesländern im Vergleich zu der in den alten
Bundesländern müsste doch ein Warnsignal sein. Es sollte
klar sein, dass man dagegen etwas tun muss. Aber der
Kanzler hat auch im letzten Jahr nur eine Sommerreise gemacht. - Herr Schwanitz, Ihre Reden erwecken manchmal den Eindruck, dass auch Sie wieder mehr vor Ort sein
müssen. - Ich will es deutlich sagen: Auf diesen Sommerreisen nutzt der Bundeskanzler - das steht im Widerspruch zum Bericht zum Stand der deutschen Einheit - die
blühenden Landschaften von Helmut Kohl als Fotokulisse.
({14})
- Aber natürlich. Herr Schwanitz prahlt mit der BMWAnsiedlung in Leipzig. Ich frage mich: Was hat denn die
BMW-Ansiedlung in Leipzig mit Ihrer Politik zu tun?
Wann wurden der Flughafen und die Autobahn gebaut?
Das wurde natürlich während unserer Regierungszeit auf
den Weg gebracht.
({15})
Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn sich der Bundeskanzler im Blitzlichtgewitter mit einer Angestellten
des Waggonbauwerks in Ammendorf in den Armen liegt
und alle klatschen. Das ist in Ordnung. Es wird auch von
uns begrüßt, dass dort etwas unternommen wurde. Aber
machen wir uns doch nichts vor. Insgesamt gesehen ist
das Thema Aufbau Ost eine offene Flanke dieser Regierung. Sie stehen hier mit dem Rücken zur Wand. Ich
glaube, dass Sie verunsichert waren, als dieses Thema von
uns wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde.
({16})
Ich will Ihnen sagen, was Ihre Strategie beim Aufbau
Ost war. Sie haben das zynische Wort von der passiven
Sanierung gebraucht. Dabei geht es um den natürlichen
Rückgang der Bevölkerung durch den Geburtenknick des
Jahres 1990, der sich 2006 auf dem Arbeitsmarkt spürbar
bemerkbar machen wird. In der Zwischenzeit setzen Sie
darauf, dass sich die Menschen Arbeit in Süddeutschland
bzw. in Westdeutschland suchen.
({17})
Sie haben anscheinend bis vor kurzem gedacht, dass
Sie die Bundestagswahl 2002 quasi en passant gewinnen
können, dass sich bis zum Jahre 2006 die Arbeitslosenstatistik für die neuen Bundesländer von selbst bereinigt
und dass es dann keine Arbeitsmarktprobleme mehr geben wird. Dass aber am Ende nur ein begrüntes Altenheim
und nicht eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung dabei herauskommt, kritisieren wir. Wir wollen an dem Ziel
einer selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung festhalten.
Wir sagen, dass wir Wachstumspole verstärkt fördern
müssen und dass wir Forschungskapazitäten neu ansiedeln müssen.
Wir brauchen - da haben Sie völlig Recht - mehr Effizienz in der Arbeitsmarktpolitik.
({18})
Wir kritisieren, was jetzt in diesem Bereich passiert. Das
Geld, das in den neuen Bundesländern für die Arbeitsmarktpolitik ausgegeben wird, wird ineffizient eingesetzt.
Herr Riester, Sie haben den größten Etat. Damit könnten
Sie für die neuen Bundesländer viel tun. Aber es schafft
eher Frust, wenn die Menschen von einer AB-Maßnahme
in die nächste gehen müssen und die Arbeitsplätze auf
dem ersten Arbeitsmarkt nicht nur nicht geschaffen werden, sondern sich in Konkurrenz gegen ABM-Projekte
nicht behaupten können.
({19})
Für die Menschen in den neuen Bundesländern wäre es
besser, wenn die Bundesregierung nicht so viele offene
Flanken, sondern einmal offene Ohren für die tatsächliche
Situation hätte. Ich glaube, dass wir in der Tat auch durch
die Nominierung von Edmund Stoiber als Kanzlerkandidaten der Union das richtige Zeichen gesetzt haben.
({20})
- Da lachen Sie, aber Herr Schulz guckt nach unten.
Selbst Werner Schulz hat entgegen mancher hier gehaltener Rede mit dem Ostthema jetzt seine Wiedereinkehr in
den Bundestag gesichert.
({21})
Es scheint also hier schon einige besondere Probleme zu
geben. Das, was Sie in den letzten Tagen geboten haben,
war in diesem Sinne Aktionismus pur. Sie haben durcheinander geredet in dem Sinne, dass Sie bis heute nicht in
der Lage sind, irgendein Papier, das eine Konzeption zum
Aufbau Ost darstellt, vorzulegen. Sie können sich nicht
einigen. Der Bundestagspräsident wird quasi mit Narrenfreiheit vom Kanzler bedacht und darf die Dinge sagen,
die für das Volk sind, und Herr Schwanitz muss Herrn
Eichel und den anderen den Rücken frei halten. So ist die
Aufgabenverteilung, aber das haben die Menschen inzwischen längst bemerkt.
({22})
- Herr Schlauch, fahren Sie doch einfach ab und zu durch
das Land um Berlin herum und noch etwas weiter, dann
werden Sie das sehr wohl wahrnehmen.
({23})
Das Thema Infrastruktur wird zum Beispiel im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit de facto als
Fußnote abgehandelt. Ganze dreieinhalb Seiten von insgesamt 127 widmen Sie diesem wichtigen Kapitel. Ein
notwendiges Sonderprogramm Ost - wir halten in der Tat
daran fest - lehnen Sie ab. Ministerpräsident Vogel wird
darauf noch etwas genauer eingehen.
({24})
Was die Bundesregierung in Sachen Forschungsansiedlung in Ostdeutschland getan hat, will ich nun an
einem Beispiel deutlich machen, nämlich wo es um die
Zinsersparnisse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen
ging.
({25})
- Hören Sie mal gut zu, Frau Holzhüter!
({26})
Wegen des noch vorhandenen institutionellen und personellen Nachholbedarfs vieler Forschungseinrichtungen
und Universitäten in den neuen Bundesländern war es den
meisten Einrichtungen überhaupt nicht möglich, eine erfolgreiche Bewerbung um diese Projektgelder abzugeben,
weil nämlich die Hürde in den Bewerbungsunterlagen
viel zu hoch war. Hinzu kommt, dass in den neuen Bundesländern Forschungs- und Entwicklungskapazitäten
deshalb fehlen, weil auch keine Großunternehmen vorhanden sind. Die Verteilung der UMTS-Gelder ist quasi
nur in West- und Süddeutschland erfolgt. Es sind einige
hunderttausend Mark in den neuen Bundesländern angekommen. Das ist Ihre Forschungspolitik, das ist Ihre
Schwerpunktsetzung beim Aufbau Ost. Sie können, Herr
Schwanitz, aus dieser Sicht hier nicht in einer Rede so tun,
als hätten Sie ein Konzept, indem Sie die Kleinigkeiten,
die vielleicht noch den Anschein von positiver Entwicklung haben, aufzählen, sich aber im Großen und Ganzen
weigern, dieses Thema überhaupt einmal am Kabinettstisch ernsthaft zu vertreten. Wenn Sie schon nicht vor Ort
sind, hätten Sie wenigstens einmal auf die Vorlagen Ihrer
Kollegin Bulmahn schauen und sagen können: Das funktioniert nicht, es kommt kein Geld an, wenn ihr die Kriterien im Osten so festlegt. - Das wäre doch das Mindeste,
was man von einem Staatsminister erwarten kann, wenn
er schon in den Amtsstuben sitzt.
({27})
Gern wird beim Thema deutsche Einheit über Geld gesprochen. Das liegt auf der Hand und es geht auch nicht
ganz ohne Geld. Die Solidarität der Westdeutschen mit
den Menschen in den neuen Bundesländern war enorm.
Es ist insbesondere auch die materielle Solidarität, für die
ich mich hier grundsätzlich noch einmal bedanken
möchte.
({28})
Auch der Solidarpakt ist ein großes Verdienst aller Ministerpräsidenten in Deutschland und der Menschen im
ganzen Land.
({29})
Dass diese nicht einfachen Verhandlungen zum Abschluss
kamen, haben wir begrüßt. Aber zählen Sie nicht immer
die Milliarden bis zum Jahr 2020 zusammen und tun Sie
nicht so, als ob dieses Geld immer frisches Geld sei, das
jetzt nur für die neuen Bundesländer zur Verfügung steht.
Das ist pro Kopf gerechnet nicht mehr, als im Länderfinanzausgleich zum Beispiel Bremen auch bekommt.
({30})
Vielleicht sollten wir auch das einmal öffentlich sagen.
Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen. Was gerade
die Leistungen der südlichen unionsgeführten Bundesländer für den Osten betrifft, glaube ich, sie brauchen sich
wirklich nicht zu verstecken. „Bild“-Zeitungs-Überschriften sind ja beliebt, wenn sie einem passen, aber sie
sind nicht immer richtig.
({31})
Ich glaube auch, dass es einen Unterschied macht, ob ich
Ministerpräsident eines Landes bin und Interessen meines
Landes vertrete oder ob ich Spielführer einer Nationalmannschaft bin und weiß, wo jetzt das Tor steht. Ich
glaube, das zeigt auch etwas Kompetenz.
({32})
In Wirklichkeit waren Sie doch zutiefst darüber verunsichert, dass wir dieses Thema überhaupt auf der Prioritätenliste so weit nach oben gesetzt haben.
Vielleicht zum Abschluss noch ein Punkt, der sich mit
der inneren Einheit befasst: Der Jahresbericht zum Stand
der deutschen Einheit befasst sich ja nicht nur mit der
Wirtschaftspolitik. Über den Begriff innere Einheit mögen Politologen und Soziologen streiten. Wenn damit eine
gemeinsame historische und mentale Basis gemeint ist, ist
der Begriff in Ordnung. Aber es bedarf gleichwohl auch
symbolischer Zeichen. Hierzu muss ich noch einmal die
zweifelhafte Symbolik ansprechen, die sich in den letzten
Tagen gezeigt hat.
Vor einigen Monaten wurde hier in diesem Hause über
einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zur Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals abgestimmt.
({33})
Bemerkenswert war dabei vor allen Dingen, dass eine
große Zahl der Abgeordneten der SPD und der Bündnisgrünen, die diesen Antrag als Unterzeichner selbst mit
eingebracht hatten, urplötzlich gegen das Denkmal war.
Sie stimmten gegen ihren eigenen Antrag. Dieser bekam
dadurch keine Mehrheit. Das allein ist schon ein bemerkenswerter Vorgang.
Kurze Zeit später beschließen Sozialdemokraten in
Berlin zusammen mit der PDS, mitten in der Bundeshauptstadt ein Denkmal für Rosa Luxemburg zu errichten.
({34})
Die PDS wird von führenden Sozialdemokraten in Berlin
bei der Verbreitung der These unterstützt, die innere Einheit sei nur durch Machtbeteiligung der umbenannten
SED herstellbar.
({35})
Die Frage, wie man sich das vorstelle, hat Herr Wowereit
klar beantwortet. Auf die Frage eines Journalisten, warum
dem neuen Senat auf sozialdemokratischer Seite keine
Ostdeutschen angehören würden, sagte er, der Osten sei
durch die PDS hinreichend vertreten. Das ist Ihre Politik.
({36})
Ich will mir nicht den Kopf über die Zukunft der SPD
im Osten und vielleicht sogar in ganz Deutschland zerbrechen. Aber wenn in kürzester Zeit seitens der Sozialdemokraten einerseits ein Denkmal für die deutsche Einheit mit dem fadenscheinigen Argument, die Zeit sei dafür
nicht reif, abgelehnt wird, es andererseits aber gleichzeitig Sozialdemokraten in Berlin für richtig halten, ein
Denkmal für Rosa Luxemburg zu errichten,
({37})
Rosa Luxemburg, eine erbitterte Gegnerin nicht nur der
Demokratie, sondern auch der Sozialdemokratie
({38})
- Herr Staffelt, das passt Ihnen nicht -, dann kann man eigentlich nur hoffen, dass sich noch mehr Widerstand gegen Leute wie Wowereit und Strieder regt. Ich glaube, hier
in Berlin beginnt eine Mobilmachung der Bürger gegen
diesen Senat und für ihre Stadt.
Ich will auch noch sagen: Zur inneren Einheit gehört
auch, dass wir uns gemeinsam darüber unterhalten, ob
nicht eine spürbare Anerkennung der Menschen erfolgen
muss, die Widerstand und Opposition gegen die SEDDiktatur geleistet haben. Die CDU/CSU hält an ihrem
Grundentwurf eines Gesetzes für eine Ehrenpension fest.
({39})
Bei allem Streit über die besseren wirtschaftspolitischen Konzepte für den Aufbau Ost sollten wir auch solche Fragen der Geschichtsinterpretation nicht vergessen.
Auch Symbole und nicht erledigte Hausaufgaben in diesem Hause gehören dazu,
({40})
wenn wir zur Lage der Nation und zum Bericht zum Stand
der deutschen Einheit sprechen.
({41})
Ich danke Ihnen.
({42})
Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben gestern wieder einmal eine Sternstunde des Parlaments erlebt. Dies gilt insbesondere, wenn einem an
einem solchen Tag durch den plötzlichen Tod unserer Parlamentarischen Geschäftsführerin Kristin Heyne, die einen tapferen Kampf gegen eine schwere Krankheit geführt hat, bewusst wird, wie dünn die Trennlinie zwischen
Tod und Leben ist. Ich glaube, wir haben mit unserer Entscheidung gestern einen Beitrag dazu geleistet, dass die
Forschung in diesem Land gegen solche heimtückischen
Krankheiten nicht abgebrochen wird und sich die Hoffnungen, die wir alle haben, vielleicht erfüllen.
Eigentlich wäre das Thema „Jahresbericht zum Stand
der deutschen Einheit - Aufbau Ost“ ebenso geeignet,
über Parteigrenzen hinweg einen sachlichen Dialog zu
führen. Denn auch hier liegen Hoffnung und Wünsche
eng beieinander. Niemand kann behaupten, alles richtig
eingeschätzt und gemacht zu haben. Dazu ist der Prozess
viel zu einmalig, kompliziert und vielschichtig.
({0})
- Kollege Günter Nooke, ich sage das, weil es mich stört,
wenn das ganze Konzept für den Aufbau Ost nur darin besteht, Schwierigkeiten zu suchen, sie überall zu finden,
falsch zu beurteilen und ungeeignete Lösungswege
vorzuschlagen.
({1})
Das schmälert und diskreditiert den Erfolg beim Aufbau
Ost, den wir bisher in einem gemeinsamen Kraftakt aus
ostdeutscher Eigenleistung und westdeutscher Solidarität
erreicht haben. Diese Erfolge sind überall zu sehen und zu
greifen.
Wir sollten uns den richtigen Vergleichsmaßstab vor
Augen führen, nämlich unsere Ausgangslage im Jahre 1989
- daran müssen wir uns messen - und nicht die Situation in
einem entwickelten Land wie Bayern. Dieses Bundesland
hat über Jahrzehnte hinweg Aufbauhilfe und Subventionen
in Milliardenhöhe erhalten. Es hatte immer eine schlagkräftige Landesgruppe oder Kampfgruppe hier im Bundestag und auch einen Finanzminister, was diesem Land
durchaus zugute gekommen ist; das vergessen wir nicht.
Ostdeutschland hat in dieser Zeit eine Menge erreicht.
Es besteht wenig Grund zur Unzufriedenheit. Dort, wo sie
besteht, sollte sie eher eine Antriebskraft sein und nicht
zur Entmutigung führen. Ich habe mir das Bild vom
Osten, der auf der Kippe steht, nie zu Eigen gemacht;
denn ich finde, dass es falsch und kontraproduktiv ist und
in die Irre führt. Ehrlich gesagt: Was würde denn passieren, wenn der Osten kippt? - Er würde uns allen auf die
Füße fallen. Das kann doch wirklich niemand wollen.
({2})
Solche Bilder sind keine Leitbilder. Sie sind ungeeignet und geben eher Anlass zu Klage und Resignation. Gefragt sind aber Initiative und Unternehmergeist. Im Osten
hat nicht nur eine Fassadenrenovierung oder Oberflächenveredelung bzw. -veränderung stattgefunden, sondern auch ein tief greifender gesellschaftlicher Wandel.
Dieser war mit schmerzhaften Erfahrungen verbunden
und ist längst noch nicht abgeschlossen.
Wir sollten uns den Fakten stellen.
({3})
Staatsminister Schwanitz hat einen großen Bogen über
diese Erfolgsbilanz gespannt. Ich glaube, einen Teil können Sie sich selbst anrechnen. Insofern sollten Sie sich
nicht nur mit Kritik an den letzten Jahren beschäftigen.
Wem das nicht genügt, der sollte sich vielleicht einmal
den jüngsten Wochenbericht des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung vom 17. Januar anschauen.
({4})
Dort wird festgestellt, dass die ostdeutsche Industrie Boden gutgemacht hat, sie in Tritt gekommen ist und sich auf
überregionalen Märkten bewährt und behauptet.
Die größte Leistung in der letzten Zeit - in dieser Legislaturperiode - war der Solidarpakt II, eine Grundsatzentscheidung, die den ostdeutschen Ländern und
Kommunen Finanzsicherheit bis 2020 gibt. Ich glaube,
es würde vielen westdeutschen Kommunen gefallen, eine
solche Finanzsicherheit zu haben. Es mangelt also nicht
an Geld, sondern eher an Kreativität, mit diesen Mitteln
intelligent umzugehen. Das ist eine wichtige Aufgabe, die
sich jetzt im Osten stellt.
({5})
Wer hier Nachbesserungen oder Zulagen fordert - die
Kollegen Vogel und Biedenkopf werden nicht müde, solche Forderungen bezüglich Investitionsvorentscheidungen zu stellen -, der weckt unbezahlbare Wünsche;
denn sie sind im Grunde genommen nicht erfüllbar und
werden es auch nicht sein.
({6})
Insofern bleibt es rätselhaft, was Edmund Stoiber eigentlich dazu bewogen hat bzw. wer ihm den Hinweis gegeben hat, sich um den Aufbau Ost zu kümmern. Bisher
ist er mir nicht gerade durch besondere Kompetenz an dieser Stelle aufgefallen.
({7})
Vielleicht war das der politische Sonderasylant SchalckGolodkowski am Tegernsee, der immer der Meinung ist,
dass man im Osten noch etwas herausholen kann. Er hat
vielleicht auch zur Wahl diesen Hinweis gegeben. Das,
was Edmund Stoiber bisher für den Osten geleistet hat,
war jedenfalls ein einzigartiger Flop. Sein einziges Unternehmen, das wir bisher dort erlebt haben und in das viel
bayerisches Geld und viel Kraft investiert wurden, war
nämlich die DSU, dieser schwere Unfall.
Für meine Begriffe braucht der Osten Stetigkeit und
Vertrauen. Das wird nicht mit hektischem Aktionismus geschehen. Forderungen nach vorgezogenen Investitionen,
wie sie an den Bund gestellt werden, sind eben wohlfeil,
während Ministerpräsidenten wie Vogel und Biedenkopf,
wenn es um persönliche Entscheidungen, die natürlich
auch etwas mit der Perspektive ihrer Länder zu tun haben,
geht, eher etwas kleinlaut und sehr wortkarg werden sowie
auf dem Altenteil herumrutschen.
({8})
Wie in Sachsen geschehen, wird ein selbst geschaffener
Hofstaat plötzlich zu einem Hort von Königsmördern erklärt, was der politischen Kultur in diesem Land überhaupt nicht gut tut.
({9})
Ich möchte der landläufigen Fehlinterpretation entgegentreten, dass die momentanen Schwierigkeiten, die wir
bei der Wirtschaftsentwicklung in Gesamtdeutschland haben, also der Rückgang des Wachstums beim Bruttoinlandsprodukt, etwas mit den Sonderlasten der deutschen
Einheit zu tun hätten. Das Gegenteil ist richtig. Weil wir
die Erfahrungen im Westen unkritisch in den Osten übertragen haben, weil wir am Anfang die Chance zu einer Inventur, zu Modernisierung und Reformen viel zu wenig
genutzt haben und weil sich die Gebrauchsmuster West an
der ostdeutschen Realität gerieben haben, haben wir diese
Schwierigkeiten. Das ist etwas, was am Anfang der deutschen Vereinigung geschehen ist.
Viel zu spät werden heute die Hinweise zum Abbau von
Regelungsdichte gepriesen, so wie sie Helmut Schmidt in
der „Zeit“ vorgestellt hat. Ich kann mich gut entsinnen,
dass das zu der Zeit, als dies Willy Brandt gefordert hat, rigoros und mit unglaublicher Ignoranz abgelehnt wurde.
Das hätte uns damals schon etwas weitergeholfen.
Wir sollten uns den Problemen im Osten stellen, und
zwar so, dass wir aus Problemen Projekte machen. Ich finde
das alles nicht hoffnungslos und trostlos, auch wenn wir das
Problem haben, dass junge Leute die Regionen verlassen.
Dadurch bluten die Regionen nicht aus oder was sonst noch
alles an Übertreibungen aufgebauscht wird. Vielmehr ist es
eine Herausforderung an den Standortwettbewerb von
Regionen. Es ist eine Herausforderung, auch junge Menschen zurückzuholen, mit ihnen in Verbindung zu bleiben,
ihnen Angebote zu machen und Defizite zu beseitigen.
Wir haben doch diese Freiheit errungen, damit man
sich im ganzen Land umschauen und Erfahrungen sammeln kann, und nicht, um auf der Scholle zu kleben und
im Grunde genommen nur in der Region zu bleiben.
({10})
Regionen werden dann wieder aufblühen, wenn sie sich
selbst Mühe geben, ihre Potenziale auszuschöpfen und zu
entwickeln.
({11})
Ich finde die Kritik unberechtigt, dass in den letzten
Jahren beim Aufbau Ost nichts geschehen sei. Wenn man
sich allein den Bericht zum Stand der deutschen Einheit
mit seiner Qualität und Struktur anschaut, dann möchte
ich daran erinnern, was uns in den früheren Jahren aus
dem Bundesinnenministerium als Kanther-Bericht für
ein Sammelsurium vom Grenzschutz bis zum Trachtenverein zugemutet worden ist, was alles relativ wenig mit
deutscher Einheit zu tun hat.
({12})
Dieser Bericht hier ist in einer sehr klaren und deutlichen
Systematik geordnet worden. Ich muss sagen: Es ist dem
Staatsminister Schwanitz mit seiner Arbeitsgruppe gelungen, in wirklich beharrlicher und fleißiger Kleinarbeit
eine sachkompetente Leistung vorzulegen.
({13})
Vielleicht ist es manchmal bei der Berichterstattung etwas ungerecht, dass diejenigen, die die politische Performance beherrschen, meist besser als die Sacharbeiter
wegkommen. Ich sage das vor allen Dingen, weil wir
heute einen Politentertainer verabschieden werden. Ich
nehme an, Gregor Gysi, Sie werden hier heute Ihre letzte
Rede halten. Ich wünsche Ihnen viel Glück für die
schwere Arbeit, die Sie übernommen haben. Das Glück
können Sie gebrauchen; denn Ihre politischen Vorstellungen geben wenig Anlass zur Hoffnung, dass es Ihnen gelingen wird, diese Stadt aus der Krise zu holen.
Ich habe bisher immer registriert, dass Sie, wenn es um
den Aufbau Ost ging, kein gutes Haar an der Bundesregierung - ob sie nun von einem Kanzler Kohl oder von einem Kanzler Schröder geleitet wurde - gelassen haben.
Die Haarspalterei oder diese Spaltung überhaupt ist wahrscheinlich einer der Lebensnerven Ihrer Partei gewesen.
({14})
Insofern setzen Sie eine Tradition fort, die mit Ihrer Vorgängerpartei zu tun hat, die zwar den Begriff der Einheit
im Namen führte, aber damit relativ wenig zu tun hatte
und eher für das Gegenteil stand. Ich bin sehr gespannt darauf, wie Sie den Brückenbau zwischen Ost und West hinbekommen und ob Sie vom politischen Seiltanz über den
Gräben ablassen werden.
Ich möchte nicht, dass Ihnen das Lachen vergeht, aber
Sie sollten sich den Satz noch einmal gut überlegen, den
Sie zum Gaudi Ihrer Genossen auf dem Parteitag und in
den Medien verkündet haben: Berlin sei so heruntergekommen, dass man diese Stadt jetzt auch der PDS anvertrauen könnte. Entweder haben Sie damit nicht das Ausmaß und die Tiefe des Berliner Bankrotts ernsthaft
begriffen oder Sie versuchen mit Zynismus, sich der
Eigenverantwortung zu entziehen.
({15})
Ich meine, es geht schlicht darum, dass Sie die Chance
zur Wiedergutmachung haben; diese sollten Sie auch ergreifen. Sie werden in dieser Stadt etlichen Schäden und
Werner Schulz ({16})
Mängeln begegnen, die nicht erst in den 90er-Jahren entstanden sind. Die Zeit der Talkshows ist vorbei. Jetzt sind
nicht mehr Biolek und Kerner, sondern Kärrnerarbeit angesagt; das wünsche ich Ihnen jedenfalls.
({17})
Vielleicht werden Sie nicht nur den Empfang bei Siemens nicht verpassen, sondern auch Bosch nicht erst in
Spanien besuchen, sich jedenfalls demnächst stärker um
den Standort als um die persönliche Imagepflege kümmern. Unter Umständen wirkt das sogar auf den Regierenden Bürgermeister ansteckend, sodass er ein paar
Nachtschichten einlegt, die eher angeraten wären, anstatt
sich zur personifizierten Erfüllung der Berlin-by-nightWerbung zu machen und die Formel, dass hier überall der
Bär steppt, selbst umzusetzen.
({18})
Wenn Sie beide noch einmal nüchtern darüber nachdenken, werden Sie vielleicht zu der Überzeugung kommen,
dass es ein schwerwiegender wirtschaftspolitischer Fehler
ist, das FU-Klinikum Benjamin Franklin abzuwickeln;
({19})
denn damit schaden Sie dem Forschungs- und Wissenschaftsstandort Berlin. Wenn Sie sich darüber hinaus vor
Augen führen, dass die Medizintechnik mit zweistelligen
Wachstumsraten eine der Wachstumsbranchen des Ostens
ist, dann wird klar, dass Sie nicht nur dieser Stadt, sondern
dem gesamten Osten einen Schaden zufügen. Ihr Argument, dass man sparen müsse und sich nicht zwei solche
hoch qualifizierten Einrichtungen leisten könne,
({20})
verfängt nicht, sofern man nicht eine fantasielose Rotstiftpolitik betreibt; denn die Stadt ist tief verschuldet und
kann sich drei hoch subventionierte Opernhäuser leisten.
({21})
- Natürlich! Ich bin auch nicht gegen kulturelle Vielfalt.
Aber einen Wachstumszweig abzuschneiden, liebe Kollegin, ist noch etwas anderes. An dieser Stelle geht es wirklich um fantasievolles Sparen.
Mit dem Solidarpakt II und der Neustrukturierung des
Aufbaus Ost, insbesondere mit der neuen Förderpolitik,
ist uns eines gelungen: Es ist endlich deutlich geworden,
dass der Aufbau Ost eine Generationsaufgabe ist. Allein
die Jahreszahl 2020 zeigt, wie lange es noch dauern wird.
Es werden mehr als 30 Jahre vergangen sein, bis wir das
Ganze abgeschlossen haben. Wir haben das größte Stück
also noch vor uns. Ein Drittel - vielleicht ein bisschen
mehr, wenn wir über das parteipolitische Gezänk einmal
hinweg sehen - haben wir schon geschafft. Aber gut zwei
Drittel liegen noch vor uns.
({22})
Ich erteile Kollegin
Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Jahresbericht der Bundesregierung bietet eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, Bilanz über den Stand der Erfüllung des Verfassungsauftrags, die Lebensverhältnisse zwischen Ost und
West anzugleichen, Bilanz über den Anspruch der Bundesregierung, dem Aufbau Ost als Chefsache gerecht zu
werden.
Bevor wir in diesem Zusammenhang jegliche ökonomische oder fiskalische Diskussion in den Vordergrund
stellen, möchte ich gerade anlässlich dieses Jahresberichts
der Bundesregierung, nach den Ereignissen vom 11. September, nach diesen terroristischen Anschlägen, uns allen
noch einmal ins Bewusstsein rufen, dass das größte Geschenk, das uns die Ostdeutschen gemacht haben, die
selbst errungene Freiheit in einer friedlichen Revolution
gewesen ist.
({0})
Ich sage auch, dass der Strukturwandel, der damals
stattgefunden hat, gerade auch von den Ostdeutschen
höchste Leistungsbereitschaft, Kreativität und ein hohes
Maß an Mobilität eingefordert hat. Das, denke ich, sollte
man an dieser Stelle anerkennen.
({1})
Es geht nämlich nicht darum, im Zusammenhang mit dem
Jahresbericht allein über die ökonomischen Fragen zu
sprechen, sondern darum, auch über die Leistungen der
Menschen in Ostdeutschland zu reden. Das steht meines
Erachtens viel zu wenig im Mittelpunkt dieser Debatte,
meine Damen und Herren.
({2})
Nicht nur deswegen haben die Menschen in Ostdeutschland eine ehrliche Debatte verdient. Deshalb sollten wir die Diskussion nicht nur technokratisch, wie gesagt: allein aus ökonomischen Gesichtspunkten, führen,
sondern auch ernst nehmen, was die Menschen dort emotional bewegt. Dabei kann ich Ihren Ausführungen
manchmal nicht folgen, sehr verehrter Herr Staatsminister Schwanitz.
({3})
Sie haben es so dargestellt, als ob im Osten Deutschlands
alles in Butter wäre. Ich glaube, Sie haben jeglichen Realitätssinn verloren.
({4})
Ich möchte die Kritik jetzt nicht mit meinen eigenen
Worten vervollständigen, sondern zitiere mit der Genehmigung des Präsidenten den Vorsitzenden der IG Metall
Werner Schulz ({5})
in Chemnitz, Herrn Bender, aus einem Interview Ende
vergangenen Jahres:
Die IG Metall in Chemnitz will den Ostbeauftragten
der Bundesregierung, den Staatsminister Rolf
Schwanitz, dazu bringen, sein Amt aufzugeben.
Auf die Frage der Zeitung, was der Mann ihm getan habe,
antwortete die IG Metall in Gestalt von Herrn Bender:
Das ist es ja gerade: Er hat gar nichts getan.
({6})
Viel zu viele Jugendliche gehen noch immer weg.
Dass sie mehrheitlich wiederkommen, ist eine Illusion. Wir hatten 1998 bei der Regierungsübernahme
von Schröder andere Hoffnungen, aber wir wurden
bitter getäuscht. Der Osten findet nicht mehr statt.
Was hier betrieben wird, ist keine Aufbaupolitik; das
ist überhaupt keine Politik.
Das ist der O-Ton der IG Metall in Chemnitz, meine
Damen und Herren.
({7})
Was die Menschen in den neuen Bundesländern beschäftigt, ist das Thema Abwanderung.
({8})
Zu Recht treibt es Ostdeutsche mit der Sorge um, dass
trotz aller natürlichen Migrationsbewegungen per Saldo
die Abwanderungsraten von Ost nach West dramatisch
sind. Genau das zeigt Ihr Jahresbericht auch auf. 1999 betrug der Saldo der Abwanderung von Menschen von Ost
nach West 43 600. Davon sind 25 600 - das sind 59 Prozent - zwischen 18 und 25 Jahre alt.
Im Zusammenspiel mit dem Geburtenrückgang in den
neuen Ländern führt das zu einer dramatischen Entwicklung. Es kann doch nicht das Ziel dieser Bundesregierung
sein, diese Entwicklung mit mittelstandsfeindlichen Gesetzen noch zu forcieren.
({9})
Dass es in den neuen Ländern an Arbeitsplätzen fehlt,
ist allen bekannt. Sie kennen selber die dramatisch hohen
Arbeitslosenzahlen im Osten Deutschlands, insbesondere
der Frauen.
({10})
Ihre Bundesregierung hat nun einmal den Fehler gemacht, dass sie die Abwanderung junger Menschen nicht
zu stoppen weiß
({11})
und mit dem Gesetz Arbeitsplätze verhindert. Ich sage Ihnen deutlich: Wir müssen in diesem Zusammenhang auch
die Mobilitätshilfe überprüfen, zumindest was den Osten
anbelangt.
({12})
Mobilitätsprämien sind für die neuen Bundesländer in
dieser Situation Abwanderungsprämien. Das ist aber
schlecht.
({13})
Wir brauchen die Fachkräfte in den neuen Ländern. Das
ist das Pfund, mit dem diese Region immer wieder wuchern könnte.
({14})
Wir brauchen politische Rahmenbedingungen, die
Arbeitsplätze - vor allem im Handwerk und Mittelstand sichern.
({15})
In Ostdeutschland fehlen 150 000 Unternehmen.
Seit Ihrer Regierungsübernahme, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, wurden Gesetze
verabschiedet, die - das sagte ich schon - dem zarten
Pflänzchen Aufschwung das Wachstum nehmen.
Auch das ist eine Zahl aus Ihrem Jahresbericht: Mittlerweile hat die wirtschaftliche Entwicklung dazu geführt,
dass das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in
den neuen Bundesländern nach relativ stabilen Werten
von knapp mehr als 1 Prozent in den vergangenen vier
Jahren zum ersten Mal mit 0,6 Prozent negativ ausfällt.
Das ist eine Negativbilanz Ihrer Regierungsarbeit!
({16})
- Ich weiß, das regt Sie auf. Mich regt das ja auch auf.
({17})
- Nein. - Ich gebe zu: Man kann nicht alles dem Bundeskanzler und seiner Chefsache Aufbau Ost anlasten. Auch
die jeweiligen Landesregierungen in den neuen Ländern
sind, wie ich finde, für Investitionspolitik zuständig.
({18})
Da ist es schon verwunderlich, dass gerade in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt
({19})
das Wirtschaftswachstum minus 2,1 Prozent bzw. 1,8 Prozent beträgt.
({20})
Das sind die schlechtesten Ergebnisse, ausgerechnet dort,
wo die SPD gemeinsam mit der PDS regiert. Sachsen-Anhalt hat den größten Negativsaldo bei den Arbeitsplätzen.
Im Vergleich zu 1994 sind es minus 6,1 Prozent. Das
schafft noch nicht einmal Mecklenburg-Vorpommern.
Dort sind es bedauerlicherweise minus 1,4 Prozent.
({21})
Ich will damit nur sagen: Natürlich haben auch die
Landesregierungen eine Verpflichtung, für bessere Investitionsbedingungen und für Arbeitsplätze zu sorgen. Der
kommt der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt leider
nicht nach.
({22})
Je näher der Wahltag rückt, desto unruhiger wird die
ruhige Hand des Bundeskanzlers.
({23})
Deshalb kann ich mich eines bestimmten Eindrucks auch
nicht erwehren. Die Waggonbauer in Halle-Ammendorf
haben es auf den Punkt gebracht, als sie gesagt haben,
dass Sie, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, sich eigentlich nur wegen des nahe
gerückten Wahltags um den Waggonbau Halle-Ammendorf gekümmert haben.
({24})
Warum haben Sie denn Vetschau wie eine heiße Kartoffel
fallen lassen?
({25})
Wenn man sagt, der Aufbau Ost sei Chefsache, dann
hat man auch dafür zu sorgen, dass in den strukturschwachen Regionen in allen neuen Bundesländern die letzten
Industriestandorte erhalten bleiben. Aber das tun Sie eben
nicht. Sie machen es allenfalls dann, wenn Sie - als Beispiel - eine Landtagswahl gewinnen wollen. Das ist sehr
durchsichtig. Das haben die Waggonbauer in Halle auch
schon erkannt.
Pure Wahlkampftaktik hilft uns beim Aufbau Ost nicht
weiter. Es geht um menschliche Schicksale. Es geht um
Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben. Daher war die
Rettung von Waggonbau Halle-Ammendorf gerechtfertigt. Viele wissen noch, dass sich insbesondere der Ehrenbürger von Halle und ehemalige Außenminister HansDietrich Genscher gemeinsam mit der Bundesregierung
um den Erhalt dieses Standortes bemüht hat. Dafür will
ich ihm an dieser Stelle noch einmal meinen Dank aussprechen.
({26})
Man hört allerdings so eigenartige Sachen, etwa vom
Bombardier-Konzern, dass nun doch darüber nachgedacht wird, 20 Prozent der Belegschaft abzubauen. Von
der Deutschen Bahn AG wird geleugnet, dass Aufträge
vorgezogen und Waggonbau Ammendorf gegeben werden sollen. Da sollten Sie sich um Klärung bemühen.
Vielleicht darf ich Sie an dieser Stelle auch noch einmal an eine gute Tradition des früheren FDP-Bundeswirtschaftsministers Rexrodt erinnern.
({27})
Er hat 1994 gerade diesem Industriebetrieb das Leben gerettet, indem er einen Großauftrag aus Russland über
490 Waggons nach Halle geholt hat. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel, meine Damen und Herren!
({28})
Ich frage mich auch, was so mancher Handwerksmeister und Mittelständler im Osten Deutschlands mit fünf bis
20 Beschäftigten denkt, wenn so ein Großbetrieb gerettet
wird,
({29})
er aber keine Aufträge bekommt oder durch Ihre mittelstandsfeindlichen Gesetze in die Pleite getrieben wird.
({30})
Die Zahl der Insolvenzen in den neuen Bundesländern
nimmt dramatisch zu. Sie haben für eine Steuerreform zulasten von Personengesellschaften gesorgt.
({31})
Sie haben die Ökosteuer eingeführt und durch die Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes werden die Kosten
der kleinen, mittelständischen Betriebe in die Höhe getrieben. Sie haben für ein Gesetz zur Kriminalisierung der
Selbstständigkeit gesorgt; Stichwort Scheinselbstständige. Damit wird jegliche Motivation von Unternehmern
kaputtgemacht.
Ihr jüngstes Kind ist das Tariftreuegesetz.
({32})
Ich habe zu diesem Thema einen Brief von den Industrieund Handelskammern Magdeburg und Halle-Dessau erhalten, in dem deutlich gemacht wird, dass dieses Tariftreuegesetz Bauhandwerksbetriebe und mittelständische
Betriebe letztlich in die Pleite treiben wird.
({33})
Bei der Ausschreibung von Aufträgen in den alten Bundesländern haben diese Firmen keine Chance mehr, den
Zuschlag zu erhalten, wenn die Voraussetzung ist, dass sie
die örtlichen Tarife dort zahlen müssen. Das wissen Sie
doch genau. Sie machen damit noch mehr Arbeitsplätze
kaputt. Ziehen Sie dieses Gesetz zurück!
({34})
Kollegin Pieper, bevor Sie weitersprechen, weise ich Sie darauf hin, dass der
zweite Redner Ihrer Fraktion nur noch eine Minute Redezeit hat.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, an die Adresse der rot-grünen Bundesregierung kann ich nur sagen: Im Hinblick auf
den Aufbau Ost ist Ihre Bilanz nach vier Jahren Regierungszeit erbärmlich. Tun Sie mehr für den Osten! Die
Menschen dort haben es verdient.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Gregor Gysi das Wort.
({0})
Sie kennen die Berliner
Regelung nicht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema der heutigen Debatte lautet deutsche Einheit.
({0})
Das ist insofern interessant, als zumindest bisher nur Ostdeutsche gesprochen haben und eigentlich nur über die
neuen Bundesländer gesprochen wurde, was eine verkürzte Sicht auf die deutsche Einheit darstellt; denn die
deutsche Einheit ist selbstverständlich ein Problem der
gesamten Bundesrepublik Deutschland
({1})
und hat mit der Veränderung von Verhältnissen sowohl in
den neuen als auch in den alten Bundesländern zu tun.
({2})
Zunächst kann ich Ihnen immerhin versprechen, dass
das meine letzte Rede als Abgeordneter im Deutschen
Bundestag sein wird.
({3})
- Ich wußte, dass daraufhin jemand klatschen würde. Nur
muss ich diejenigen leider etwas enttäuschen. Es muss
nicht meine letzte Rede im Bundestag sein, aber wenn ich
noch einmal sprechen werde, dann von einer anderen
Bank aus.
({4})
Über den größten Fortschritt, der mit der deutschen
Einheit verbunden ist, wird am seltensten gesprochen.
Wir hatten in Deutschland seit 1945 und insbesondere seit
1949 eine Situation, die permanent die Gefahr in sich
barg, dass es nicht nur einen kalten, sondern einen heißen
Krieg zwischen Ost und West geben könnte. Wenn es ihn
je gegeben hätte, dann hätte es das deutsche Volk wohl
nicht mehr gegeben.
({5})
Mit dem Tag der deutschen Einheit war diese riesige Gefahr in Europa und gerade hier in Deutschland beseitigt.
({6})
- Ich sage gleich etwas dazu, Herr Schäuble.
Das ist das positivste Ergebnis dieses Vereinigungsprozesses, das jedoch mit am seltensten thematisiert wird.
({7})
Auf der anderen Seite sind seitdem andere Kriege wieder
leichter möglich geworden, was eine vertiefte Diskussion
erforderte, wozu heute keine Zeit ist.
Meiner Meinung nach hat es im Vereinigungsprozess
Generationsirrtümer gegeben. So unterschiedlich zum
Beispiel Helmut Kohl oder mein Vater oder auch
Bernhard Vogel waren bzw. sind, merkwürdigerweise hatten sie doch eine Gemeinsamkeit. Sie bestand darin, dass
sie ihre wichtigste Sozialisation noch in einem einheitlichen Deutschland erlebt und deshalb eine bestimmte Beziehung zu dem Land als Ganzem hatten. Ein Irrtum bestand darin, zu glauben, dass die nächste und die
übernächste Generation das genauso empfinde. Das
konnte gar nicht so sein. Wer in späterer Zeit geboren
wurde, sodass er seine Sozialisation nur noch in der alten
Bundesrepublik oder nur in der DDR erleben konnte,
hatte eben zu dem anderen Teil nicht dieselbe Beziehung
wie jene, die noch zu einer anderen Zeit in diesem Land
groß geworden waren.
Das ist überhaupt kein Vorwurf. Für mich ist völlig
klar, dass jemandem wie Joschka Fischer logischerweise
Länder wie Frankreich oder Italien näher standen als die
DDR. Sie gehörte nicht zu seiner Sozialisation.
({8})
- Ja. - Ähnlich erging es Bürgerinnen und Bürgern der
DDR, die die Bundesrepublik Deutschland zwar aus dem
Fernsehen kannten, aber nie unmittelbar erlebt hatten.
Ich denke, dass die ältere Generation unterschätzt hat,
welche Art von Fremdheit entstanden ist. Dafür tragen
diese Generationen keine Verantwortung, denn die Mauer
und der Einschluss der Bevölkerung mit den entsprechenden Folgen war in der DDR organisiert worden.
({9})
Diese Art von Fremdheit braucht Zeit, bis sie überwunden
ist, bis man also auch emotional eine Beziehung zu Regionen entwickelt, die man bis dahin nicht erlebt hat, deren Lebensweise man nicht kannte, die einem zunächst
einfach fremd vorkamen. Dennoch ist der allergrößte Teil
der Bevölkerung der DDR meines Erachtens mit Zuversicht, mit Freude und Hoffnung in diese Einheit gegangen. Aber natürlich ist auch ein Teil der Bevölkerung mit
Skepsis den Weg in die deutsche Einheit gegangen, ein
anderer Teil vielleicht sogar mit Ablehnung.
Ich gehörte eher zu den Skeptikern. Das hatte allerdings einen Vorzug: Ich konnte nicht so leicht enttäuscht
werden. Von bestimmten Dingen war ich angenehm überrascht, durch andere fühlte ich mich bestätigt.
({10})
Aber gerade diejenigen, die mit besonders viel Hoffnung
und Freude in diesen Prozess gegangen sind, haben nicht
selten bestimmte Enttäuschungen erlebt. Manche haben
sie schnell verkraftet, bei manchen allerdings ist dies bis
heute noch nicht geschehen. Die Hoffnungen wichen aus
den verschiedensten Gründen. Um dies zu verstehen,
muss man sich mit der unterschiedlichen Sozialisation beschäftigen.
Eine Diktatur, wie immer sie auch organisiert ist, verleiht dem Einzelnen einen bestimmten Grad an Bedeutung. Ich glaube, dass für viele Ostdeutsche ein großes
Problem darin bestand, dass sie das Gefühl hatten, gerade
im Arbeitsleben - aber nicht nur dort - diese Bedeutung
verloren zu haben. Es sind ja einzelne Schicksale: Wenn
du mit Mühen, zum Beispiel im Rahmen eines Fernstudiums, Ingenieurökonom geworden bist und deine Ausbildung plötzlich nicht mehr gefragt ist, wenn du dann
eine Umschulung machst und auch dies nicht wirklich
nachgefragt wird, dann fängst du an, an dir selbst zu zweifeln, daran, ob die Gesellschaft dich überhaupt braucht.
Das führt logischerweise zu Frustrationserscheinungen,
die sich entsprechend auswirken.
Sie wissen, dass die Eliten in Deutschland - aus welchen Gründen auch immer - nicht vereinigt wurden, auch
nicht die wissenschaftlichen und kulturellen. Ich will auf
die Ursachen gar nicht eingehen, sondern nur sagen, was
die Folge ist. Die Folge ist, dass die Eliten, die es im Ostteil weiterhin gibt, nicht zu Multiplikatoren des Einheitsgedankens werden, sondern eher zu Multiplikatoren der
Kritik an der Einheit, weil sie sich selbst nicht angenommen fühlen. Damit haben wir es zum Teil noch heute zu
tun.
Auch haben wir noch keine gemeinsame Sprache gefunden.
({11})
Warum machen sich die bedeutenden Nachrichtenmagazine, die in Hamburg und anderswo ihren Sitz haben, so
wenig Gedanken darüber, dass ihre Produkte in den neuen
Bundesländern so unterdurchschnittlich gelesen werden?
Das müsste doch irgendwann einmal zu Konsequenzen
hinsichtlich der Sprache führen. Die Verantwortlichen
müssten sich fragen: Warum ist die Art, wie ich die Zeitung mache, dort nicht von besonders großem Interesse?
Aber solche Überlegungen finden meist nicht statt.
Wir haben inzwischen die Situation, dass wir viele
Gremien quotenmäßig mit Ostdeutschen besetzen; Herr
Nooke, glaube ich, hat in diesem Zusammenhang den Senat angesprochen.
({12})
Ich darf einmal daran erinnern, dass in der über Jahrhunderte dauernden Frauenbewegung
({13})
zu einem bestimmten Zeitpunkt die Quote eingeführt
wurde, um die Gleichstellung ein wenig zu erzwingen.
Dahinter stand die Überlegung, dass es allein mit Freiwilligkeit und mit guten Absichten nicht getan ist, dass wir
uns selbst zwingen müssen, Frauen in eine andere gesellschaftliche Stellung zu bringen. Das Interessante ist, dass
im Rahmen des Vereinigungsprozesses dieser Quotengedanke wieder aufgekommen ist, diesmal allerdings in Bezug auf Ostdeutsche. Das allein sagt schon etwas über ihre
Stellung aus. Ich kann nur hoffen, dass wir wenigstens mit
diesem Hilfsmittel eine andere Stellung der Ostdeutschen
in der Gesellschaft erreichen.
({14})
Einzige Ausnahme ist hier natürlich die PDS. Da läuft
es genau umgekehrt:
({15})
Sie hat eine so genannte Wessiquote eingeführt. Das ist
aber nicht weniger problematisch; denn im Kern bringt
dies das gleiche Problem, nur andersherum, zum Ausdruck.
Ich denke, dass ein großes Problem der deutschen Einheit darin bestand, dass fast nichts aus dem Osten übernommen wurde. Nun werden Sie gleich sagen: Da war ja
auch nichts zu übernehmen. Ich sehe das anders. Es geht
ja hier nicht um die Ideologie oder gar die Machtkonzentration oder um den Mangel an Demokratie und Freiheit.
Es geht vielmehr um bestimmte Lösungen, die sich die
Menschen in dieser Gesellschaft erarbeitet hatten und die
vielleicht über die Lösungen der alten Bundesrepublik
hinausgingen.
({16})
Ich will jetzt nicht mit Beispielen operieren.
({17})
Man kann verschiedene nennen: zum Beispiel das Abitur
nach 12 Jahren, die Ganztagsbetreuung in Kindertagesstätten oder auch in Schulen, die unbestritten sehr
gute Ausbildung von Fachärztinnen und Fachärzten oder
die Erfassung von Abfall und seine Wiederverwendung in
Form von Sekundärrohstoffen. Mir geht es aber gar nicht
so sehr darum. Mir geht es um das Problem, das damit
verbunden ist.
Wenn wir einige dieser Dinge übernommen hätten,
dann hätte das nicht nur - das wäre ein Vorteil gewesen das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt, weil sie
darin eine Art Anerkennung und eine Akzeptanz gesehen
hätten, sondern - das wäre viel wichtiger gewesen - dann
hätten auch die Menschen in Kiel, in Passau und in Frankfurt am Main das Erlebnis gehabt, dass sich mit der Vereinigung in ihrem eigenen Leben etwas zum Positiven hin
verändert hätte.
({18})
- Ja, Herr Merz, das ist ein Problem. - Dieses Erlebnis haben Sie ihnen nicht gegönnt. Die Westdeutschen sollten
sich abstrakt darüber freuen, dass die Einheit da ist.
({19})
Das Erlebnis war dann aber, dass es sie Geld kostet.
Das Erlebnis, das sie haben, ist, dass die Ostdeutschen
dennoch vielfach unzufrieden sind. Außerdem gehen sie
davon aus, dass im Osten falsch gewählt wird. Das heißt,
es konnte sich keine positive Einstellung entwickeln, weil
keine konkreten Veränderungen stattgefunden haben, die
damit verbunden waren, dass sich die Menschen in den
westdeutschen Städten gesagt haben: Es ist durch die Einheit gekommen, dass ich hier jetzt eine andere Struktur
vorfinde, was meine Lebensqualität erhöht hat.
({20})
Deshalb glaube ich, dass man in dieser Hinsicht noch einiges hätte unternehmen können.
In diesem Zusammenhang sage ich etwas zur PDS. Diesbezüglich kann man natürlich eine unterschiedliche Sicht
haben. Die PDS selbst meint, dass sie durchaus eine Partei
ist, die einen Beitrag zur Einheit leistet. Sie meinen - neulich hat das auch ein CDU-Abgeordneter in Berlin gesagt -,
dass die PDS in Wirklichkeit das Problem der Einheit sei.
({21})
Herr Merz, wer sich das einmal genau überlegt, der
müsste sagen: Wenn überhaupt, dann ist die PDS vielleicht Ausdruck eines Problems der Einheit. Das ist aber
noch etwas anderes. Die PDS ist - zumindest bei den letzten Wahlen - immer stärker geworden. Vor diesem Hintergrund folgt aus Ihrer Sicht der Dinge, dass die Probleme der Einheit ständig zunehmen. Vielleicht ist dieser
Ansatz nicht ganz richtig. Wenn er doch richtig ist, dann
muss man sich wenigstens fragen, woher das kommt. Es
genügt dann nicht, diesen Umstand aus Ihrer Sicht einfach
zu kritisieren.
({22})
Herr Kollege Gysi,
Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Danke, Herr Präsident.
Ich wollte noch ein paar Vorschläge machen, was man
verändern könnte, um auf diesem Gebiet weiterzukommen. Ich lasse das bleiben.
Da Sie auch über Berlin gesprochen haben - ich lasse
jetzt einmal den leichten Neidkomplex weg, der darin
zum Ausdruck kam, Herr Schulz,
Herr Kollege Gysi,
Sie können nicht mit einem neuen Thema anfangen.
({0})
- möchte ich sagen, dass wir
die Akzeptanz einer gemeinsamen Hauptstadt im Sinne
von nationaler Einheit - das ist auf der einen und auf der
anderen Seite dieses Hauses ein Problem - erreichen müssen. Daran, ob wir dieses Ziel erreichen, wird sich zeigen,
ob wir das, was vor uns liegt, packen oder nicht packen.
Unabhängig davon, wie das alles in den letzten zwölf
Jahren hier war - ich hatte hier schöne und ich hatte hier
schwere Stunden -: Ich möchte mich zumindest bei denen
bedanken, die in dieser Zeit mir gegenüber fair waren. Ich
bedanke mich auch bei denjenigen, die mir jetzt aufrichtig Glück wünschen. Ihnen wünsche ich auch Glück.
Selbst denjenigen, die mir kein Glück wünschen, wünsche ich wenigstens persönliches Glück und Gesundheit.
Das ist noch immer das wichtigste Gut, das wir alle haben.
Darüber haben wir gestern ausführlich diskutiert.
Lassen Sie uns doch endlich ein anderes Verhältnis zur
deutschen Geschichte entwickeln!
({0})
Kollege Gysi, beginnen Sie nicht mit dem nächsten Thema!
Ich möchte noch diesen Gedanken ausführen.
Bismarck hat die Sozialdemokraten als Erster verfolgt;
dennoch ist er eine wichtige historische Persönlichkeit
in Deutschland. Auch Frau Luxemburg ist eine wichtige
historische Persönlichkeit in Deutschland. Sie ist aufgrund ihrer Überzeugung sogar ermordet worden. Ich
sage Ihnen: In Frankreich würde man beide Persönlichkeiten akzeptieren. Nur in Deutschland verlangt man eine
gleiche ideologische Ausrichtung, bevor man eine historische Persönlichkeit würdigt. Davon müssen wir uns
trennen, wenn wir die deutsche Einheit wollen.
({0})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Sabine Kaspereit.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch nach den Bemerkungen, die Frau Pieper vorhin gemacht hat, hoffe ich,
dass ich für alle Mitglieder dieses Hauses spreche, wenn
ich dem Bundeskanzler für sein erfolgreiches Engagement am Standort Ammendorf danke.
({0})
Wer hier leichtfertig von „Wahlkampfgetöse“ spricht,
sollte eines nicht vergessen: Wir reden von menschlichen
Schicksalen, von 900 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie deren Familien,
({1})
deren wirtschaftliche Zukunft nunmehr gesichert ist. Das
ist es, was zählt, und dafür bin ich dem Bundeskanzler
dankbar.
({2})
Es ist unbestritten - ich glaube, auch aufseiten der Opposition dieses Hauses -: Seitdem der Bericht zum Stand
der deutschen Einheit jährlich fortgeschrieben wird, hat er
an Übersichtlichkeit und Aussagekraft gewonnen. Die
Entwicklungstendenzen werden deutlicher und die sich
daraus ergebenden Aufgabenstellungen für staatliches
Handeln gewinnen an Präzision. Der Weg, den die Bundesregierung durch den eingeleiteten Politikwechsel nun
seit drei Jahren geht - weg von unrealistischem Wunschdenken hin zu Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit, weg von Aktionismus und immer neuen Sonderprogrammen hin zu einer effizienteren Förderung von
Entwicklungspotenzial -, ist besser.
({3})
Das wird zwar nicht immer auf den ersten Blick sichtbar. Aber wer genau und unvoreingenommen hinsieht, erkennt sehr schnell die positiven Entwicklungen der letzten Jahre. Die Standortentscheidung von BMW
zugunsten von Leipzig war ja nicht zufällig. In Konkurrenz mit Dutzenden von anderen Standorten überall in
Ost- und Westeuropa hatte ein ostdeutscher Standort die
Nase vorn. Daraus ein parteipolitisches Süppchen zu kochen, meine Damen und Herren von der Union, wird Ihnen nicht gelingen. Damit will ich keineswegs die Rolle
des Mittelstandes unterschätzt wissen. Es ist richtig: Das
Rückgrat der wirtschaftlichen Entwicklung auch in den
neuen Ländern ist der Mittelstand: die Hunderttausende
Handwerker, kleinen und mittleren Unternehmen, Einzelhändler und Dienstleister. Dennoch brauchen wir dringend weitere Neuansiedlungen wie die von BMW. Wir
brauchen industrielle Großinvestitionen, die Gravitationszentren in einem Netzwerk wirtschaftlicher Verflechtung einer Region sind.
({4})
Die BMW-Entscheidung zeigt uns aber auch: Die
neuen Länder sind zwischenzeitlich zu einem exzellenten
Standort für Investoren und zu einer guten Adresse für
Firmen mit Weltgeltung geworden.
({5})
Das hat viele überrascht. Doch das kommt nicht von ungefähr. Seit 1998 haben sich nach Umfragen des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung fast alle zentralen Standortbedingungen für ostdeutsche Industrieunternehmen verbessert, teilweise sogar erheblich. Das gilt für zentrale Parameter von Investitionsentscheidungen wie Lohnkosten,
Kunden- und Lieferantennähe, das Angebot an Gewerbeflächen, Grundstückspreise, den öffentlichen Nahverkehr
und Autobahnanschlüsse, die Unterstützung durch die
Wirtschaftsförderungsgesellschaften und natürlich auch für
die Struktur und die Höhe der Fördermittel selbst.
Die weichen Standortfaktoren haben sich ebenfalls
seit 1998 verbessert. So werden die Naherholungsmöglichkeiten, das kulturelle Angebot, das Wohnungs- und
Wohnumfeld sowie das Image der Städte oder der Regionen heute höher bewertet als je zuvor. Auch die Tätigkeit
der Landesregierungen und der öffentlichen Banken hat
sich nach Aussagen von Investoren deutlich verbessert. Es
zahlt sich jetzt aus, dass die Landesregierungen der neuen
Länder zusammen mit der Bundesregierung den sicherlich
mühsamen Weg der Verbesserung der Standortqualitäten
konsequent gegangen sind, auch wenn sich der Erfolg von
Ansiedlungen und Erweiterungen erst langsam einstellt.
Entscheidend ist: Ostdeutschland kann sich heute als
Standort für Ansiedlungen auch und gerade von Weltfirmen von Rang sehen lassen. Die Standortentscheidung
von BMW zugunsten von Leipzig macht uns Mut, den
eingeschlagenen Weg konsequent und beharrlich weiterzugehen. Wir sind nämlich auf dem richtigen Weg.
({6})
- So ist das.
Sicherlich gelten diese Beispiele noch nicht für alle Regionen und Branchen Ostdeutschlands. Jeder weiß, dass
die Lage auf den Arbeitsmärkten der neuen Länder alles
andere als zufrieden stellend ist. Es ist bedrückend und
eine Herausforderung für alle, wenn knapp ein Fünftel der
aktiven Bevölkerung arbeiten will, aber nicht kann. Es ist
ja in Mode gekommen, das arbeitsmarktpolitische Engagement des Staates madig zu machen. Ich kann diesen Generalangriff auf die Arbeitsmarktpolitik nicht nachvollziehen. Mir fehlen auch in der heutigen Debatte realistische
Alternativvorschläge der Kritiker. Solange auf dem ersten
Arbeitsmarkt nicht genügend Arbeitsplätze angeboten
werden können, muss der Staat durch seine aktive Arbeitsmarktpolitik alles daransetzen, die Qualifikation der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Arbeitsmotivation zu verbessern und zu erhalten. Die Bundesregierung hat das getan und tut es weiter, auch wenn sie
zurzeit nur wenig Lob dafür einstreichen kann.
Die Union und vor allem auch Sie, Herr Ministerpräsident Vogel, fordern seit Jahren ein 40-Milliarden-Investitionsprogramm für die ostdeutschen Gemeinden.
({7})
Investitionen sollen vorgezogen werden - das hört sich
gut an. Nur, wie wollen Sie das finanzieren? Da schauen
Sie auf den Bund und halten die Hand auf. Ihre Vorschläge
zu Einsparungen sind unausgegoren und unsolide. Sie
müssen sich hier entscheiden und Farbe bekennen, meine
Damen und Herren von der Opposition. Sie können nicht
den so genannten blauen Brief der EU-Kommission mit
Schadenfreude kommentieren, aber gleichzeitig zusätzliche Milliardenforderungen an den Bund richten. Wo
bleibt denn da die Logik? Wir lassen Ihnen diese Art von
Populismus nicht durchgehen. Das ist doch keine ernsthafte Politik!
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen noch
ein bisschen lernen, um hinter den Durchschnittszahlen
ein durchaus differenziertes Bild erkennen zu können.
Wir müssen auf die sektoralen und regionalen Entwicklungen schauen, um ein realistisches Bild zu erkennen.
Deshalb - Sie haben es sicher bemerkt - spreche ich bewusst von Arbeitsmärkten und nicht von dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Die Spreizung der Arbeitslosenquoten von Arbeitsamtsbezirk zu Arbeitsamtsbezirk ist
nämlich ein Indiz für eine recht unterschiedliche Strukturentwicklung.
Einheitlich ist die Situation allenfalls in der Bauwirtschaft. Deshalb werden seitens der Regierung und meiner
Fraktion nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen, um dieser bedrückenden Tatsache zu begegnen. Ein
Beispiel dafür ist das Stadtumbauprogramm. Dieses Programm wird eine zweifache Wirkung entfalten: Es wird
nicht nur das Wohnumfeld verbessern und den für die
Wohnungsgesellschaften ruinösen Wohnungsleerstand
beseitigen, sondern auch Beschäftigung in der Bauwirtschaft sichern.
({9})
Rechnet man die Bauwirtschaft heraus, kommt man zu
dem Ergebnis, dass die ostdeutsche Wirtschaft nicht
langsamer als die westdeutsche oder auch die europäische
Wirtschaft wächst. Ich will aber gleich hinzufügen: Das
stellt mich nicht zufrieden. Nachweisbar liegen die
Wachstumsraten des verarbeitenden Gewerbes in den
neuen Ländern deutlich höher als in den alten. Das muss
auch so sein, wenn der Aufbau Ost gelingen soll. Die ostdeutsche Industrie steht heute hinsichtlich der Modernität
und der Ertragslage der Unternehmen besser da. Allerdings - auf die Beseitigung dieses Nachteils wird sich die
Politik konzentrieren müssen - ist die industrielle Basis
noch immer zu schmal.
Ein Beispiel, um einmal die Dimension zu verdeutlichen: Um die Ausrüstungslücke der ostdeutschen Wirtschaft in etwa auszugleichen, bedarf es Investitionen in
Höhe von circa 130 Milliarden Euro.
({10})
Es ist völlig klar, dass diese Lücke von privaten Kapitalgebern nur über einen längeren Zeitraum hinweg geschlossen werden kann. Der Staat wäre hier hoffnungslos
überfordert.
Die schlimme Lage auf den Arbeitsmärkten ist ganz
wesentlich durch die Situation in der Bauwirtschaft verursacht, die sich einem dramatischen und - das setze ich
gleich hinzu - notwendigen Strukturwandel unterziehen
muss. Die schmerzlichste Wegstrecke haben die Bauunternehmen und die Beschäftigten heute hinter sich gelassen. Es kommen aber noch zwei oder drei schwierige
Jahre.
Warum ist der Strukturwandel in der ostdeutschen Bauwirtschaft so dramatisch und so schmerzhaft für die Beteiligten? Sie wissen es: Aufgrund der total überzogenen
Sonderabschreibungsmöglichkeiten für wohlhabende Einkommensbezieher wurde am Beginn der 90er-Jahre grandios am Markt vorbei gebaut und investiert. 1 Million
Wohnungen stehen zurzeit leer. Schlimmer noch ist die
Lage bei den Gewerbeflächen. Selbst in Städten wie Leipzig ist über ein Viertel der Büroflächen unvermietbar. Gewerbeparks, mit Hast und unüberlegt aus dem Boden gestampft, sind häufig nur zur Hälfte oder noch weniger
belegt. Eine solche volkswirtschaftliche Fehlsteuerung ist
beispiellos; diese haben Sie, meine Damen und Herren von
der Union und von der FDP, zu verantworten.
({11})
Sie sind für das gigantischste Programm zur Vernichtung
von Kapital und zur Verschwendung von Steuergeldern
verantwortlich, das je in Friedenszeiten in Gang gesetzt
worden ist.
({12})
Kollegin Kaspereit,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ich kenne Frau Piepers
Meinung sehr gut. Ich möchte jetzt nicht. Danke.
({0})
Vor allem die Bauunternehmen und ihre Beschäftigten
müssen jetzt die Suppe auslöffeln, die Sie mit Ihrer verfehlten Politik gekocht haben. Da helfen keine Ablenkungsmanöver.
({1})
Der Arbeitsmarkt in den neuen Ländern ist von dieser
enormen Fehlsteuerung volkswirtschaftlicher Ressourcen
noch immer zutiefst geprägt. Jedem war klar, dass eine
völlig überdimensionierte Bauwirtschaft, wie sie in der
ersten Hälfte der 90er-Jahre entstanden war, am Markt
keinen Bestand haben konnte.
({2})
Eine strukturelle Anpassung war unausweichlich und sie
ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Nun müssen wir
die Folgen am Arbeitsmarkt tragen. Wir werden für etwas
gescholten, was die alte Regierung zu verantworten hat.
Wir können über die wirtschaftliche Entwicklung in
den neuen Ländern nur dann sachgerecht sprechen, wenn
wir hinter die Durchschnittszahlen schauen. Wir müssen
die Branchen und die regional durchaus unterschiedlichen
Strukturentwicklungen beachten.
({3})
Wir dürfen dabei nicht die realistischen Zeiträume außer
Acht lassen und schon gar nicht den realistischen Blick
für das verlieren, was seit 1990 geschafft worden ist. Die
unumgängliche Umstrukturierung alter Industrieregionen
oder gar der Neuaufbau einer modernen Industrielandschaft ist nur über einen langen Zeitraum hinweg erfolgreich zu verwirklichen. Das Ruhrgebiet hat dies schmerzhaft erfahren. Dieser Prozess ist im Osten allerdings
wesentlich gravierender und fast flächendeckend verlaufen. Der Aufbau Ost erfordert viel Zeit, aber vor allem
auch Geduld und Disziplin bei den Betroffenen.
({4})
Insofern war das Bild von den blühenden Landschaften
nichts anderes als unverantwortliches Propagandageschwätz.
Im Übrigen ist es unverantwortlich, den Menschen in
Wahlveranstaltungen opportunistisch etwas zu versprechen,
({5})
von dem mancher Politiker oder manche Politikerin
glaubt, dass die Menschen dies hören wollen. Es gehört
schon etwas Mut zu einer nüchternen, kritischen und realistischen Beurteilung der Lage, die man den Menschen
nicht vorenthalten darf.
Das bedeutet für mich dreierlei:
({6})
Erstens. Wir müssen den Menschen erklären, dass die
Rolle des Staates und seine Möglichkeiten in der Marktwirtschaft begrenzt sind.
({7})
Marktwirtschaft ist primär keine staatliche Veranstaltung. Ich kann und will hier keine wirtschaftswissenschaftliche Vorlesung halten. Aber die Entscheidungen
über das Produzieren, Konsumieren, Sparen und Investieren werden in aller Regel von den Privaten getroffen
und nicht vom Staat. Der Staat kann durch Rahmenbedingungen wie Steuer- und Haushaltspolitik und die
Bereitstellung von Infrastrukturen oder durch die Gewährung von Zuschüssen die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen und auch sozial gestalten. Er kann
aber nicht die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung vorgeben oder gar über die Verwendung von Gewinnen entscheiden.
Zweitens. Die Bedeutung und die Verantwortung der
großen gesellschaftlichen Gruppen für die wirtschaftliche
Entwicklung, insbesondere auch der Tarifvertragsparteien, muss öffentlich debattiert werden. Hier darf es
keine Tabus geben.
Drittens. Wir müssen aus den sehr unterschiedlichen
regionalen Entwicklungen die richtigen Konsequenzen
ziehen. Die Lösung liegt nicht mehr in einem einheitlichen Politikansatz, der die teilungsbedingten Sonderlasten allein in den Mittelpunkt stellt. Das war am Beginn
des Einigungsprozesses verständlich und notwendig,
greift aber heute zu kurz. Es kann angesichts der differierenden Entwicklung kein Konzept geben, das auf die sehr
unterschiedlichen Herausforderungen eine einheitliche
Antwort gibt.
Was mir noch immer Sorge macht, ist die übertriebene
- vor allem ostdeutsche Staatsgläubigkeit - in Bezug
auf die Machbarkeit wirtschaftlicher Prozesse. Das Verantwortlichmachen des Staates für die wirtschaftliche
Entwicklung, insbesondere beim Aufholprozess, wird
immer mehr zu einer mentalen Schranke, die die Motivation aushöhlt und das Handeln lähmt. Ich habe den Eindruck, dass, nachdem der Aufbau Ost als Nachbau West
eher ein Langzeitprojekt geworden ist, sich allenthalben
Ratlosigkeit, Mutlosigkeit und Resignation breit machen.
Die Frage, ob ein solcher Ansatz überhaupt realistisch
war, wird nicht gestellt. Dabei ist die Beantwortung gerade dieser Frage von zentraler Bedeutung für die Freisetzung von Aufbruchstimmung und Kreativität des Einzelnen, die wir in den neuen Ländern so dringend
brauchen.
Allem Krisengerede zum Trotz meine ich, dass Ostdeutschland auf dem richtigen Weg ist. Dieser Weg ist
steinig und mühsam. Das wissen wir und das haben wir
den Menschen von Anfang an gesagt.
({8})
Es gibt aber wahrlich keinen Grund zu Verzweiflung und
Resignation. Dennoch muss man realistisch bleiben. Die
Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben in dieser erst
kurzen Regierungszeit mit Erfolg gemacht.
({9})
Wer hätte denn im Jahr 1999 gedacht, dass noch in dieser
Legislaturperiode neue Regelungen zum Länderfinanzausgleich vereinbart würden? Die massiven Angriffe
Bayerns und Baden-Württembergs auf die derzeit geltenden Regelungen des Finanzausgleichs hätten die neuen
Länder in den finanziellen Ruin getrieben und stellten somit eine Bedrohung für die staatliche Eigenständigkeit
dar. Über 15 Milliarden DM jährlich weniger an die Finanzminister der neuen Länder, das waren die Pläne des
bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber.
({10})
Zum Glück ist es anders gekommen. Die Ministerpräsidenten Stoiber, Teufel und Koch sind vor dem Bundesverfassungsgericht abgeblitzt. Durch unser Solidarpaktfortführungsgesetz wurde die finanzielle Grundlage für
die neuen Länder gesichert und geregelt. Nicht nur die
Summe von 150 Milliarden Euro ist beeindruckend. Der
Solidarpakt II ist von kaum zu unterschätzendem Wert für
die Verlässlichkeit und Stetigkeit von öffentlichen Investitionen.
({11})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und Stetigkeit in der Politik für die
neuen Länder - das ist unser Weg, von dem Sie uns nicht
abbringen werden. Aktionismus und Populismus wird es
mit uns nicht geben.
({12})
Ich erteile dem thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel das Wort.
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0})
({1}): Sehr verehrter
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren
Abgeordnete! Ich begrüße es, dass erneut ein Bericht zum
Stand der deutschen Einheit vorgelegt worden ist. Ich begrüße es, dass dieser Bericht hier im Bundestag diskutiert
wird.
Erlauben Sie mir als Betroffenem, mich dazu zu Wort
zu melden. Ich habe Anlass, einem Teil der Aussagen dieses Berichtes durchaus zuzustimmen, distanziere mich
aber von den polemischen Bemerkungen, die vom Herrn
Staatsminister vorhin zur Einführung gemacht worden
sind.
({2})
Der Bundestagsabgeordnete Schulz hat Recht, wenn er
sagt, dass niemand alles richtig gemacht hat. Wer etwas
anderes sagt, war nicht dabei. Niemand hat alles richtig
gemacht, aber einige haben besonders viel falsch gemacht. Das muss einmal gesagt werden.
({3})
Ich stimme einigem, wie gerade gesagt, ausdrücklich
zu, kritisiere allerdings, dass eine unserer wichtigsten
Aufgaben, der Ausbau der Infrastruktur, in diesem Jahresbericht eher nebenbei erwähnt wird.
({4})
Von den über 80 Seiten widmen sich gerade drei dem Ausbau der Infrastruktur. Ich kritisiere ferner, dass neben den
vielen schönen Worten eine ehrliche Analyse der gegenwärtigen Situation fehlt.
({5})
Es wird nicht deutlich, wie weit wir die Aufarbeitung der
Hinterlassenschaft der deutschen Teilung bewältigt haben. Ich vermisse die Festlegung von Schwerpunkten und
Prioritäten.
({6})
Mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, darf ich zitieren:
Der Aufbau Ost... ist eine Generationenaufgabe, die
wir in nationaler Solidarität erfolgreich vollenden
werden.
Diesem Satz aus dem Vorwort zum Jahresbericht stimme
ich ausdrücklich zu. Gerade deswegen bedanke ich mich
ausdrücklich dafür, dass der Aufbau Ost über das Jahr
2004 hinaus fortgeschrieben worden ist und dass der
Solidarpakt II zustande gekommen ist.
({7})
Ich bedanke mich bei Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, und insbesondere beim Bundestagssonderausschuss „Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsgesetz“. Ich bin auch der Meinung, dass ich Grund habe,
mich bei der Bundesregierung zu bedanken.
Ich bedanke mich darüber hinaus bei den anderen Ländern.
({8})
Ich bedanke mich dafür, dass kein Land die Notwendigkeit des Solidarpakts II infrage gestellt hat und, dass alle
Länder diesen Pakt von Anfang an wollten und ihm zugestimmt haben. Das ist Ausdruck nationaler Solidarität.
Das gibt den jungen Ländern die Möglichkeit zu langfristiger Planung.
({9})
Ich begrüße, dass es zu einer Neuregelung des
Länderfinanzausgleiches gekommen ist, nachdem die
Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen beim
Bundesverfassungsgericht geklagt und in den entscheidenden Punkten Recht bekommen haben. Ich wundere
mich, wie oft hier das Land Bayern zitiert wird und wie
oft verschwiegen wird, dass Hans Eichel genauso wie
Edmund Stoiber geklagt hat und dass sich das Urteil auf
beide bezieht.
({10})
Zur ehrlichen Analyse der gegenwärtigen Situation
gehört es, deutlich zu machen, dass sich die Schere zwischen Ost und West, die sich bis 1997 zu schließen begann, wieder öffnet. Wenn der Schwächere den Stärkeren,
wenn der Osten den Westen einholen soll, dann muss das
Wachstum im Osten höher sein als im Westen. Sonst erreichen wir das Ziel nie.
({11})
Leider ist seit Jahren das Gegenteil der Fall.
Die Rezession der Wirtschaft heute trifft den Osten erheblich stärker als den Westen. Fehler, die in Deutschland
in den letzten Jahren in der Wirtschaftspolitik gemacht
worden sind, wirken sich bei uns noch stärker aus als im
Westen. Die Arbeitslosigkeit - das weiß jeder - liegt in
den jungen Ländern mehr als doppelt so hoch wie in den
alten Ländern. Der Trend verschärft sich und wird sich
weiter verschärfen. Meine Damen und Herren, verstehen
Sie bitte, wenn ich sage: Das kann nicht so bleiben. Hier
besteht Handlungsbedarf - und zwar nicht irgendwann,
sondern jetzt.
({12})
Ich wiederhole: Wir brauchen kein Konjunkturprogramm und keine höhere Neuverschuldung. Aber wir
brauchen eine Verbesserung der Infrastruktur und der
gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Wir müssen - das leugnet niemand - die ohnehin notwendigen und allseits anerkannten Infrastrukturprojekte,
beispielsweise die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“,
vorziehen.
({13})
Das liegt dem vor Jahresfrist von mir geforderten und
heute so häufig angesprochenen - ich bedanke mich dafür - Sonderprogramm Ost zugrunde, in dem ich nicht
nur zusätzliche Investitionen gefordert, sondern - nehmen
Sie das bitte zur Kenntnis - konkrete Finanzierungsvorschläge gemacht habe. Ich bin doch nicht nach der Methode Scharping vorgegangen: Erst bestellen und dann im
Bundestag über die Bezahlung sprechen. Ich habe konkrete Finanzierungsvorschläge gemacht.
({14})
Auch heute schlage ich ganz konkret vor, die Bahn
möge die nicht verbrauchten Mittel aus 2001 - es gibt
diese Mittel in erheblichem Umfang ({15})
in dringliche Projekte der jungen Länder sofort investieren. Das kann man sofort tun, wenn man will.
({16})
Ich freue mich, dass sich - wenn auch nicht in seiner Eigenschaft als Bundestagspräsident - der Kollege Thierse
am letzten Wochenende in Erfurt in meinem Sinn für einen schnelleren Ausbau der Infrastruktur ausgesprochen
hat.
({17})
Offensichtlich zahlt sich das Bohren dicker Bretter aus.
Das Bundesprogramm „Stadtumbau Ost“ belegt im
Übrigen, dass inzwischen auch die Bundesregierung den
Handlungsbedarf sieht. Auch das entspricht meiner Forderung. Wenn sich aber Herr Schwanitz des Bundesprogramms „Stadtumbau Ost“ rühmt, dann muss er bitte auch
hinzufügen, dass er uns dafür die Mittel bei der Städtebauförderung Ost wegnimmt.
({18})
Er darf hier nicht den Eindruck erwecken, als hätte er
ein zusätzliches Geschenk gemacht. Wir haben dem Bundesprogramm „Stadtumbau Ost“ zugestimmt, aber nur
unter Schmerzen, weil an anderer Stelle Mittel gestrichen
wurden. Wir haben also kein zusätzliches Geschenk aus
gütiger Hand entgegengenommen.
Hätte die Bundesregierung im Februar des letzten Jahres meine Vorschläge in die Tat umgesetzt und nicht zögerlich und hinhaltend reagiert, stünden die jungen Länder heute besser da. Jetzt erleben wir, dass das eine oder
andere von dem, was ich vorgeschlagen habe, tröpfchenweise gemacht wird. Aber leider wird nicht alles in Angriff genommen.
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Matschie?
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Ja, von dem Herrn Kollegen Matschie besonders gerne.
({1})
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({2})
Herr Vogel,
({0})
können Sie mir bitte einmal erklären, wie es zu Ihrer Forderung nach mehr Investitionen passt, dass Ihr Finanzminister vor einigen Tagen angekündigt hat, dass im Thüringer Landeshaushalt die Investitionen und auch die
Zuweisungen an die Kommunen gekürzt werden müssten?
({1})
Sie fordern hier mehr Investitionen, tun aber in Ihrem
Lande selbst nichts dafür. Können Sie diesen Widerspruch
erklären?
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({2}):
Herr Matschie, diese Frage kann ich Ihnen in der Tat beantworten. Durch die meiner Ansicht nach falsche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik des Bundes
({3})
hat das Land Thüringen in diesem Jahr Steuerausfälle in
Höhe von 600 Millionen DM. Das müssen wir ausgleichen.
({4})
Das ist der Grund, warum Kollege Trautvetter diese
Ankündigung gemacht hat.
Herr Ministerpräsident, der Kollege Matschie will noch einmal nachfragen.
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Nein, eine Meldung von Herrn Matschie reicht für einen
Beitrag von mir.
({1})
Es geht um die Rahmenbedingungen, die uns in den
jungen Ländern Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum ermöglichen sollen. Dabei ist es nicht damit getan, den
Abbau von Überkapazitäten in der ostdeutschen
Bauindustrie für das Auseinandergehen der Schere
verantwortlich zu machen.
({2})
- Verehrte Kollegin Kaspereit, ohne die Bauindustrie
wäre die Entwicklung nach 1990 überhaupt nicht in Gang
gekommen. Um die unersetzlichen Kulturgüter zu retten
- das war gerade noch möglich -, war schnelles Handeln
notwendig. Ebenso war schnelles Handeln notwendig, damit die Menschen nicht noch länger zu zum Teil unerträglichen Bedingungen wohnen mussten.
({3})
Sie können doch nicht - zehn Jahre später - die Leerstände von heute
({4})
denen anlasten, die Gott sei Dank 1990 nach 40 Jahren
endlich Neubaumaßnahmen in Gang gesetzt haben.
Schauen Sie sich doch einmal die Wohnungen an, in denen die Leute heute wohnen, und schauen Sie sich die an,
die heute leer stehen. Das war doch nun wirklich eine
Aussage, die keinerlei praktische Erfahrung verrät.
({5})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Eichstädt-Bohlig von den Grünen?
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Wegen der Gleichberechtigung, ja.
Danke schön, Herr Ministerpräsident.
Ich glaube, Einigkeit besteht darüber, dass es nach der
Wende sehr wichtig war, die Bauwirtschaft im Osten aufzubauen und sehr viel zu erneuern und zu bauen. Aber stimmen Sie mir zu, dass mit dem Fördergebietsgesetz und mit
den exorbitanten Sonderabschreibungen zwei Fehler gemacht worden sind? Der eine ist, dass enorme Überkapazitäten am Bedarf vorbei geschaffen worden sind, im Wohnungsbau genauso wie im Gewerbebau und im Bürobau.
Stimmen Sie mir - zweitens - zu, dass das Fördergebietsgesetz mit seinen Sonderabschreibungen den großen
Fehler hat, dass damit indirekt die Wirtschaftskraft West
gefördert wurde und dass die Sonderabschreibungen den
Investoren West zugute gekommen sind, statt eine nachhaltige Stärkung der Wirtschaft im Osten zu bewirken?
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Frau Kollegin, ich würde Sie gern für ein Wochenende
nach Erfurt einladen.
({1})
Dann schauen wir uns die Projekte, die Sie gerade angesprochen haben, einmal an.
({2})
Ich habe vorhin gesagt, dass auch Fehler gemacht worden sind. Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten damit, solche zu benennen. Vielleicht ist das eine oder andere zu viel getan worden. Aber dass das Bauen im Osten
in Gang gekommen ist, war die Voraussetzung dafür, dass
überhaupt ein Aufschwung möglich war und blühende
Landschaften entstehen konnten. Das können Sie doch
nicht nach zehn Jahren wegreden.
({3})
Wir müssen die Standorte in den jungen Ländern so attraktiv machen, dass sich niemand gezwungen sieht, sein
Glück anderswo zu suchen. Mit der Hilfe für die Unternehmen in den jungen Ländern dürfen wir nicht ihre Wettbewerbschancen in den alten Ländern verbauen. Darum
weist beispielsweise der Entwurf des Tariftreuegesetzes
in die falsche Richtung.
({4})
Er zeigt keinen Ausweg aus der Krise der Bauwirtschaft
in den jungen Ländern, sondern verstärkt die Probleme
der Bauwirtschaft, weil er es ostdeutschen Firmen unmöglich macht, sich um Aufträge der öffentlichen Hand
in den alten Ländern zu bewerben. Der Osten wird durch
ein solches Gesetz ausgesperrt. Das darf nicht sein und darum werden wir uns gegen dieses Gesetz wehren.
({5})
Wir brauchen nach meiner Überzeugung eine flexible
Tarifpolitik, wobei Lohnerhöhungen grundsätzlich der
Produktivitätsentwicklung entsprechen sollten, damit sie
nicht zu neuer Arbeitslosigkeit beitragen.
({6})
Die Lohnentwicklung darf nicht zusätzliche Anreize zu
mehr Rationalisierung und zu weniger Arbeitsplätzen
schaffen. Darauf ist in den Auseinandersetzungen der
nächsten Wochen zu achten.
Das A und O ist: Wir brauchen neue Arbeitsplätze. Wir
brauchen gute Rahmenbedingungen für Investoren, die
sich entscheiden sollen, bei uns im Osten und nicht im europäischen oder außereuropäischen Ausland Arbeitsplätze zu schaffen. Wir haben dafür durchaus Chancen.
Ich freue mich, dass sich BMW in den letzten Monaten
entschieden hat, in Sachsen ein neues Werk zu bauen.
Natürlich freue ich mich auch, dass sich DaimlerChrysler entschieden hat, nach Thüringen zu kommen.
Herr Schwanitz, IIC hat damit aber nicht das Geringste zu
tun.
({7})
Aber es ist in Deutschland ja üblich, dass sich dann, wenn
jemand Erfolg hat, viele finden, die ihn mit ihm teilen
wollen; aber das zu Unrecht.
({8})
Das sind Ansiedlungen, die zeigen, dass die jungen Länder durchaus für Investitionen attraktiv sind.
({9})
- Wir können ja auch einmal einer Meinung und müssen
nicht immer anderer Meinung sein.
Solche Großinvestitionen sind wichtig. Sie dürfen aber
in Zukunft nicht durch die von der EU-Kommission geplanten massiven Einschränkungen der Förderungsmöglichkeiten zusätzlich erschwert, ja unmöglich gemacht werden.
({10})
Gegen die entsprechenden Pläne haben sich die neuen
Länder entschieden zur Wehr gesetzt und hierbei übrigens
auch die Unterstützung der Bundesregierung gefunden.
Aber ich füge hinzu: Auch der inzwischen nachgebesserte
Richtlinienentwurf darf nicht in Kraft treten. Die Folgen
wären verheerend. Berlin muss Druck machen, damit die
EU die Situation in Ostdeutschland nicht schönredet.
Nach der von uns natürlich unterstützten Osterweiterung
werden die Hilfen aus Brüssel für die neuen Länder
selbstverständlich geringer. Jetzt muss doch angesichts
unserer Bereitschaft, der Osterweiterung zuzustimmen,
und angesichts unserer dringenden Bitte, uns in Bezug auf
Großinvestitionen nicht abzuwürgen, Berlin handeln. Wir
in den Ländern, wollen das auch unterstützen.
Es ist natürlich erfreulich, wenn in Sachsen-Anhalt die
Schließung eines Werkes zunächst für die nächsten drei
Jahre verhindert werden kann. Vor allem ist es dann erfreulich, wenn dies nicht auf Kosten anderer Standorte
und auch nicht auf Kosten von Aufträgen für andere deutsche Unternehmen geht. Aber nur die Schließung von
Werken zu verhindern ist mir ein bisschen wenig. Es geht
um die Eröffnung neuer Werke. Darüber müssten wir mindestens so viel wie über die Abwehr von Schließungen reden.
({11})
Große Unternehmen sind wichtig. Leuchttürme sind
wichtig. Aber zur gegenwärtigen Lage in den neuen Ländern gehört vor allem, dass der Mittelstand und das
Handwerk voller Sorgen in die Zukunft blicken. Es darf
nicht der Eindruck entstehen, wir kümmerten uns um die
großen Betriebe, wenn es dort Probleme gibt, aber die
kleinen überließen wir dem Konkursverwalter. Dieser
Eindruck darf nicht entstehen.
({12})
Es ist alarmierend, wenn eine Analyse der Sparkassen
ergibt, dass es zu einer Verschlechterung der Eigenkapitalquote bei mehr als drei Viertel aller mittelständischen
Unternehmen in den neuen Ländern kommt. Ich weiß
- ich habe heute gehört, dass es hier auch viele wissen -,
dass ein schwieriger Strukturwandel zu bewältigen ist.
Gerade deswegen wollen wir uns den Erfolg nicht
schlechtreden lassen. Frau Kollegin Kaspereit, Mutlosigkeit macht sich nicht breit, jedenfalls nicht bei uns in
Thüringen, vielleicht bei manchen Leuten in Sachsen-Anhalt.
({13})
Kollege Vogel, ich
muss Sie bitten, zum Ende zu kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Jawohl. - Der Osten steht nicht auf der Kippe, Herr PräMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel ({1})
sident. Der Osten ist trotz allem auf einem guten Weg und
niemand soll die Aufbauleistungen kleinreden.
Niemand übersieht dabei die Unterschiede, die sich dabei nach gleicher Ausgangslage im Jahre 1990 herausgebildet haben. Diese Unterschiede sind nicht grundlos.
Beispielsweise ist die Politik - ich nenne den zweiten Arbeitsmarkt - unterschiedlich. Wir können ablesen, wo
die Arbeitslosigkeit niedrig und wo sie hoch ist. Der
zweite Arbeitsmarkt muss eine Brücke zum ersten sein,
die ABM müssen in der Tat abgebaut werden.
Lassen Sie mich eines sagen, weil es so aktuell ist: Ich
kenne kein Land in der Bundesrepublik Deutschland, das
als Partnerland seinen Partnern mehr geholfen hat als der
Freistaat Bayern dem Freistaat Sachsen und dem Freistaat
Thüringen. Hier werden Popanze aufgebaut.
({2})
Herr Ministerpräsident, ich habe Sie schon an Ihre Redezeit erinnert.
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Ja, ich mache Schluss.
Die Redezeit geht
dem nächsten Redner der CDU/CSU-Fraktion verloren.
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({0}):
Herr Präsident, er wird mir das verzeihen. - Zum Schluss
sage ich: Beim Aufbau Ost geht es nicht nur um die neuen
Länder, es geht um die ganze Bundesrepublik. Unsere eigenen Anstrengungen und die westdeutsche Hilfe haben
nur ein Ziel, nämlich vergleichbare Lebensbedingungen
zu schaffen. Gelänge es uns nicht, wäre es zum Schaden
für uns alle. Gelingt es uns, ist es zum Nutzen für uns alle.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile Kollegin
Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Die meisten Reden
über die deutsche Einheit und zu den neuen Bundesländern beginnen mit einer Aufzählung der Probleme, die,
was ich nicht leugnen will, in den neuen Bundesländern
vorhanden sind. Ich glaube aber, dass wir einen Fehler
machen, wenn wir, wie es heute wieder zum Beispiel dem
Kollegen Nooke passiert ist und wie es sich teilweise in
den Anträgen, die von der Opposition vorgelegt wurden,
wiederfindet - meinen Vorredner möchte ich dabei ausnehmen -, mit den Problemen anfangen.
Es geht erst einmal darum, festzustellen: Ist der Osten
ein liebenswertes Land mit durchaus ein paar Macken
- diese haben die Bayern aber auch -, ein Land mit gut
ausgebildeten Arbeitern, hoch motivierten Studenten, der
besten Infrastruktur sowie den besten Zukunftschancen
für die nächsten Jahre, oder ist der Osten ein Land mit zu
hoher Arbeitslosigkeit und zu hoher Abwanderung, ein
Land, in dem man zwar Wahlen verlieren, aber nicht gewinnen kann, wie es in der Politik immer wieder diskutiert wird? Ich glaube, dass die Gewichtung, wie wir im
Bundestag und in Berlin auf den Osten schauen, heute das
Entscheidende ist, wenn wir über den Stand der deutschen
Einheit diskutieren.
Das beste Beispiel für das falsche Herangehen bietet
sich in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt; die Sicherung des Waggonbauwerkes in Ammendorf ist heute
schon angesprochen worden. Ich glaube, dass man darüber diskutieren kann, ob diese Art der Sicherung von Arbeitsplätzen als langfristiges Modell mit größerer Tragweite möglich ist.
Wenn der Kandidat der CDU für die Landtagswahl in
Sachsen-Anhalt das, was dort passiert ist, aber damit
kommentiert, dass eine dauerhafte Sicherung des Werkes
nicht erreicht sei und es sich lediglich um eine zeitliche
Verschiebung des Problems handele, anstatt sich auch nur
einen Moment mit den Waggonbauern in Ammendorf darüber zu freuen, dass deren Arbeitsplätze gesichert worden sind,
({0})
dann zeigt es, dass der Osten und auch das Waggonbauwerk in Ammendorf für Sie in erster Linie Probleme sind.
Es geht Ihnen nicht um die Menschen, die dort arbeiten.
Das nächste Beispiel ist der heute vorgelegte Antrag
der FDP. Dort heißt es gleich im zweiten Satz: Viele Probleme und negative Entwicklungen bleiben im Bericht
der Bundesregierung ausgespart. - Das liest sich so, als ob
Sie geradezu nach den Problemen gesucht und den ganzen
Bericht danach durchforstet hätten.
({1})
Sie konnten gar nicht genug Probleme und Kataströphchen finden. Frau Pieper, ich mache Ihnen zum Vorwurf,
dass es Ihnen dabei nicht um die Problemlösung geht,
sondern dass Sie die Probleme für Ihren Wahlkampf in
Sachsen-Anhalt instrumentalisieren wollen.
({2})
Vielleicht werden Sie bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt daraus sogar Profit schlagen, aber den neuen
Bundesländern wird es nicht helfen.
Ich finde es eine Unverschämtheit, wenn der Spitzenkandidat der CDU das Wahljahr in Sachsen-Anhalt zum
Schicksalsjahr für Sachsen-Anhalt erklärt.
({3})
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({4})
Ich frage mich: Was werden denn die Menschen in Sachsen-Anhalt tun, wenn der CDU-Spitzenkandidat nicht Ministerpräsident wird?
({5})
Sollen Sie dann abwandern, weil es ihr Schicksal gewesen
ist, sich an den Spitzenkandidaten der CDU zu binden?
({6})
Natürlich braucht Sachsen-Anhalt einen neuen Ministerpräsidenten. Es ist doch klar, dass die Ministerpräsidenten der ersten Stunde, die nach 1990 mit der Aufbauarbeit in den neuen Bundesländern begonnen haben, vor
einem Generationenwechsel stehen. Das ist aber nicht nur
in Sachsen-Anhalt so. Herr Vogel wird mir vermutlich
Recht geben, dass dies auch in Thüringen so ist und auch
in Brandenburg so sein wird.
({7})
Ich wünsche mir für mein Bundesland, dass dieser Generationenwechsel anders stattfindet, als das in Sachsen
passiert ist. Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen,
dass sich Ministerpräsident Biedenkopf Verdienste um die
deutsche Einheit erworben hat. Umso bedauerlicher ist,
dass er diese Verdienste durch sein eigenes Fehlverhalten
selber diskreditiert.
({8})
Die rot-grüne Bundesregierung hat für die neuen Bundesländer eine klare Prioritätensetzung vorgenommen:
({9})
Mit der Fortschreibung des Solidarpaktes wird in den
nächsten Jahren eine tragfähige, sichere Finanzierung für
den Aufbau Ost geschaffen.
({10})
Ich freue mich, dass es zumindest einem ostdeutschen
Ministerpräsidenten, der nicht zu einer die Regierungskoalition dieses Hauses tragenden Partei gehört, gelungen
ist, dies positiv darzustellen. Offensichtlich erkennt er,
dass die rot-grüne Bundesregierung in gemeinsamen Anstrengungen mit den Bundesländern eine positive Entwicklung für die neuen Bundesländer angestoßen hat.
({11})
Wir haben darüber hinaus mit verschiedensten Programmen - ich will sie nicht alle aufzählen, weil sie im Bericht zur deutschen Einheit detailliert dargelegt sind - eine
zielgenaue Anpassung vorgenommen, um den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren neue Entwicklungschancen zu ermöglichen.
Ich will als ein Beispiel das Programm „Stadtumbau
Ost“ herausgreifen. Sie haben kritisiert, dass dafür Mittel
aus der Städtebauförderung herausgenommen worden sind.
({12})
Natürlich wird ein kleiner Teil der Mittel aus der bisherigen Städtebauförderung Ost verwendet, um das Programm „Stadtumbau Ost“ zu finanzieren. Warum tut man
das? - Wir tun dies, um neue Entwicklungsmöglichkeiten
zu schaffen, um neue Entwicklungsrichtungen anzustoßen, um Innovationen zu ermöglichen, so wie das beispielsweise mit der Internationalen Bauausstellung in
Sachsen-Anhalt passieren wird. Nur so wird man die eingefahrenen Gleise, die der Bauwirtschaft in den letzten
Jahren nicht mehr geholfen haben, verlassen können. Der
Stadtumbau Ost erhält eine neue Ausrichtung. Es wird
nicht neuer Leerstand produziert, sondern mit dem qualitativen Stadtumbau begonnen.
({13})
Sie haben gesagt: Richtig an der damaligen Förderung
ist gewesen, dass damit überhaupt erst einmal ein Aufschwung in der Bauwirtschaft erreicht wurde. Aber Sie
haben sich nicht darum gekümmert, was danach passiert,
wenn die Aufbauleistung vollbracht ist, wenn dort
Büroräume und Wohnräume neu gebaut worden sind. Was
geschieht denn mit den Kapazitäten, die Sie aufgebaut haben? Sie haben in diese Entwicklung Steuermillionen hineingesteckt, ohne darauf zu achten, was hinterher passiert, und damit in den neuen Bundesländern neue
Probleme produziert, weil die Städte jetzt mit diesem
Leerstand zu kämpfen haben.
Darauf wird das Programm „Stadtumbau Ost“, das wesentlich auf Initiative von Bündnis 90/Die Grünen in diesem Hause zustande gekommen ist, eine Antwort geben.
Die Bundesländer sind - da bin ich mir sicher - in der
Lage, das entsprechend umzusetzen.
({14})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen: die Abwanderung. Ich glaube, dass uns die Abwanderung in den
nächsten Jahren tatsächlich vor größere Aufgaben stellen
wird, als dies die Arbeitslosigkeit im Moment tut. Ich
warne davor, als einzige Ursache der Abwanderung die
Arbeitslosigkeit anzuführen. Wenn man mit den jungen
Menschen redet, die sich mit Abwanderungsgedanken
tragen, die überlegen, in die alten Bundesländer zu wechseln - leider versuchen die wenigsten, sich auf internationaler Ebene fortzubilden, um irgendwann in den Osten
zurückzukommen, sondern die meisten wollen dauerhaft
in die alten Bundesländer gehen -, dann erfährt man, dass
die primären Motive nicht Arbeitslosigkeit oder Lehrstellenmangel sind. Immer öfter hören Sie, dass die Verdienstmöglichkeiten in den neuen Bundesländern zu gering sind, dass die Lebensqualität in den neuen
Bundesländern niedrig ist oder dass es einfach besser ist,
im Westen zu leben, selbst wenn man in den neuen Bundesländern eine Arbeitsstelle hat.
Frau Kollegin Lemke,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Daran
zu arbeiten, die Lebensqualität in den neuen BundeslänSteffi Lemke
dern zu erhöhen und auch beim Tariftreuegesetz - Sie haben dieses angesprochen - nicht mehr nur auf einen Niedriglohnsektor in den neuen Bundesländern zu setzen, weil
dadurch höchstens mittelfristig Probleme gelöst, aber
keine Entwicklungsperspektiven aufgezeigt werden,
({0})
das wird die Aufgabe sein, vor der wir hier im Bundestag
und auch in Sachsen-Anhalt stehen.
Danke.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Cornelia Pieper das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lemke hat
mich direkt angesprochen. Deswegen sehe ich mich dazu
verpflichtet, hier darauf zu reagieren.
({0})
Wenn Sie mich kennen, Frau Lemke, dann wissen Sie,
dass ich bereits seit Jahren darauf hinweise, dass es darauf
ankommt, die Gefühle der Menschen in den neuen Bundesländern ernst zu nehmen, und dass darüber mit einer
unehrlichen Analyse, wie sie im Jahresbericht der Bundesregierung vorgenommen wird, nicht einfach hinweggegangen werden darf.
Sie können sicher sein, dass wir mit den Versuchen
nicht nachlassen werden, die deutsche Einheit zu vollenden und die Lebensverhältnisse anzugleichen. Sie tun es
nämlich nicht. Darauf habe ich gezielt hingewiesen. Sie
dagegen haben im Deutschen Bundestag beispielsweise
mit der Steuerreform ein Gesetz verabschiedet, das zum
Nachteil des Handwerks und des Mittelstands im Osten
ist, oder mit der Ökosteuer eine zusätzliche Belastung eingeführt, die zudem sozial ungerecht ist und insbesondere
für die Bürger im Osten eine Belastung darstellt.
({1})
Sie haben Gesetze beschlossen, die sich zum Nachteil
der Situation in den neuen Bundesländern auswirken. Das
kann und werde ich als Abgeordnete des Deutschen Bundestages nicht hinnehmen; vielmehr werde ich auch mit
meiner Stimme für die Menschen in den neuen Bundesländern Partei ergreifen. Das lasse ich mir auch von Ihnen
nicht verbieten.
({2})
Frau Kollegin Lemke,
Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Frau
Pieper, ich will Ihnen gar nichts verbieten. Das liegt mir
wirklich fern. Aber ich bin Ihnen für die Kurzintervention
dankbar; denn Sie haben in Ihrer Kurzintervention deutlich gemacht, dass ich Recht hatte. Sie haben noch einmal
deutlich dargelegt, dass es Ihnen nicht um die Menschen
in den neuen Bundesländern geht;
({0})
denn Sie bestreiten Ihren Wahlkampf mit falschen Behauptungen,
({1})
was beispielsweise die Folgen der Steuerpolitik in den
neuen Bundesländern betrifft. Ich sage Ihnen: Sie verletzen
die Gefühle der Menschen in den neuen Bundesländern mit
dem, was Sie mit Ihrem Wahlkampf in Sachsen-Anhalt treiben. Mit Ihren 18-Prozent-Seifenblasen und Ihrer Spaßkandidatur als Ministerpräsidentin instrumentalisieren Sie
die Probleme in den neuen Bundesländern für Ihren Wahlkampf. Die Wahl in Sachsen-Anhalt ist keine Spaßwahl,
sondern es geht dort um einen Wettbewerb der besten Ideen
und Konzepte in den neuen Bundesländern. Das, was Sie
dort mit dem Kollegen Möllemann veranstalten, ist keine
Beteiligung am Wettbewerb um die besten Ideen und Konzepte, sondern einfach eine Spaßkandidatur.
({2})
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass die Bundesregierung nicht sagt, dass
beim Aufbau Ost nichts mehr läuft. Gleichwohl ist eine
schonungslose Bestandsaufnahme erforderlich; denn wer
Probleme nicht kennt, nicht löst oder verschweigt, wird
mit mindestens vier Jahren Opposition bestraft.
({0})
- Das ist so.
Die Abstimmung mit den Füßen hat schon begonnen.
Aufgabe war und ist es, den Aufbau Ost so zu organisieren, dass sich die Schere zwischen Ost und West allmählich schließt. Was stellen wir fest? - Das Gegenteil ist der
Fall. Sie aber heben nur die Hände und sagen, Sie wüssten
auch nicht, was Sie da machen sollten.
In den neuen Bundesländern hat Rot-Grün Stillstand
und Rezession erreicht. Die Bundesregierung sagt, nur die
böse Bauwirtschaft sei schuld. Ohne Bauwirtschaft wäre
alles Klasse, dann würden die Leute auch nicht wegrennen. Natürlich muss Baukapazität abgeschmolzen werden, aber nicht von einem Tag zum anderen, zumal nachweislich noch ein großes Infrastrukturdefizit besteht.
({1})
Es ist doch Unsinn, zu behaupten, es liege nur am Bau,
wenn wir noch so viel zu tun haben.
Wir brauchen den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
- Herr Ministerpräsident Vogel hat dies mit Recht festgestellt - und eine Stärkung des Wissenschaftsstandorts.
Natürlich stellt sich die Frage, was jetzt getan werden
kann und muss - und zwar gezielt, nicht mit der Gießkanne!
({2})
Wir brauchen eine gezielte Grenzlandförderung. Ich
möchte daran erinnern, dass Ostdeutschland zur Hälfte
aus Grenzland besteht. Das ist also nicht nur für ein paar
Leute, die abseits wohnen, ein Problem. Nein, dieses Problem ist flächendeckend; denn dort ist die Entvölkerung
besonders stark. Dabei handelt es sich auch nicht nur um
eine normale Mobilität, wie es der Bundeskanzler genannt
hat, sondern das ist ein Problem, über das man nicht einfach hinweggehen kann.
({3})
Die Jungen und Kräftigen verlassen nicht nur die Älteren und Schwächeren, sondern auch Kommunen, die
nicht mehr funktionieren können.
({4})
Es muss auch offen gesagt werden, dass die EU-Gemeinschaftsaktion, auf die hier die Aufmerksamkeit gelenkt wurde - man konnte den Eindruck gewinnen, dies
könne alle Probleme lösen -, nichts gebracht hat. Herr
Verheugen hat festgestellt, dass diese Aktion gar nichts
bringen konnte, weil die Bundesregierung ihren Anteil
nicht erbracht hat. Es muss einmal deutlich gesagt werden: Diese große und strukturschwache Grenzregion einfach ihrem Schicksal zu überlassen ist eine Schweinerei.
({5})
- Ich empfinde das so. Das ist kein Quatsch. Fahren Sie
doch an die Grenze! Ich lade Sie ein. Kommen Sie mit und
sehen Sie sich das an!
({6})
- Das kennen Sie nicht. - Es ist auch kein Geheimnis, dass
wir den Stadtumbau im Osten brauchen, natürlich auch
bedingt durch die Entvölkerung, die dort eingesetzt hat.
Wir brauchen übrigens nicht nur den Abriss. Streichen Sie
endlich die Altschulden, damit wir diese Mittel für die
Verbesserung des Wohnumfelds verwenden können! Das
gehört auch zum Stadtumbau.
({7})
Wir müssen auch den Kleinen und Mittleren helfen. Ihr
Ansatz Inno-Regio ist zwar - ich möchte auch einmal etwas Positives sagen - der richtige Ansatz, aber bauen Sie
ihn doch bitte auch flächenmäßig aus, statt ihn abzubrechen, wie es nämlich zurzeit der Fall ist.
Wenn schon der Waggonbau - auch das ist heute ein
Thema, selbst wenn es bisher vergessen wurde - unterstützt wird, dann stellt sich die Frage, warum die Politk
nicht auch in Brandenburg, in Hennigsdorf und Vetschau
geholfen hat. Es ist bereits gesagt worden: Wenn hier gewählt worden wäre, wäre der Kanzler in Vetschau gewesen. Jedenfalls geht es in Vetschau nicht um Subventionen. Der Betrieb schreibt schwarze Zahlen.
({8})
Die Mitarbeiter sind gut qualifiziert.
({9})
Die Auftragsbücher sind voll -
Und Ihre Redezeit ist
leider jetzt vorbei, Herr Kollege Türk.
({0})
Ich bin davon überzeugt, dass die
Vetschauer auch ohne Herrn Schröder Erfolg haben werden, wenn sie diese Argumente dem Aufsichtsrat vortragen. Ich bitte Sie um Unterstützung dafür, damit das Werk
in Vetschau nicht schließen muss, sondern die Menschen
in dieser strukturschwachen Region richtig Gas geben
können.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich
zunächst zwei Vorbemerkungen machen. Dass Ihre Rede,
Herr Nooke, für Listenplatz 1 oder 2 der CDU/CSULandesliste Berlin tatsächlich ausreichend war, möchte
ich ernsthaft bezweifeln.
({0})
Sie gibt wirklich keinen Hinweis auf größere Sachkenntnisse über die Lage und Entwicklung in Ostdeutschland.
Wohltuend davon abgehoben hat sich die Rede des Ministerpräsidenten Vogel. Zwar muss man nicht unbedingt
in jeder seiner Aussagen mit ihm einig sein, aber wir können wohl feststellen, dass er weiß, worum es in den
Grundbedürfnissen der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung und der Gesamtentwicklung von Ostdeutschland geht.
({1})
Ich teile auch seine Auffassung, was die Entwicklung
in den vergangenen elf Jahren in Ostdeutschland betrifft.
Selbstverständlich sind da Fehler gemacht worden, und
zwar von vielen. Gleichwohl befinden wir uns in einem
Wettstreit für die Menschen und die Entwicklung dieses
Teils unseres Landes und nicht in einer Situation, in der
wir auf dem Rücken der Ostdeutschen unsere parteipolitische Polemik ausbreiten sollten.
({2})
Das jedenfalls wird bei den Menschen in Ostdeutschland
in keiner Weise geschätzt. Das weiß ich aus sehr vielen
Veranstaltungen in Ostdeutschland, an denen ich teilgenommen habe.
({3})
Lassen Sie mich einige Aspekte aufnehmen, die in der
Rede des Ministerpräsidenten Vogel eine Rolle gespielt
haben, zunächst das Thema Ammendorf. Ich muss ganz
offen sagen: Mir fehlt die tiefere Einsicht darin, wie irgendjemand hier im Haus einen solchen Erfolg für die
Menschen, die dort arbeiten, und für die Region überhaupt infrage stellen und in dieser Weise heruntermachen
kann.
({4})
Wem nutzt eine solche Polemik eigentlich? Das ist doch
reines parteipolitisches Gewäsch!
Ich erinnere mich noch an Holzmann. Da konnten Sie
es nicht groß genug dargestellt haben, dass Frau Roth,
die Oberbürgermeisterin von Frankfurt, und der werte
Herr hessische Ministerpräsident auch dabei waren, als
Schröder Holzmann gerettet hat. Heute polemisieren Sie
nur noch in dieser Weise, vergessen allerdings eines dabei: Der größte Staatsinterventionist ist übrigens Herr
Stoiber in Bayern. Denken Sie an die Maxhütte oder
ganz aktuell an die Schmidt-Bank!
({5})
Seien Sie also sehr vorsichtig. Diese Polemik wird Sie
sehr schnell wieder einholen, wenn Sie so weitermachen.
({6})
Widmen Sie sich vielmehr den positiven Nachrichten!
Als ehemaliger Westberliner kann ich Sie an das Thema
Waggon-Union erinnern. Das war ja ein ähnliches Thema.
Zigfach haben die dortigen Geschäftsleitungen und die jeweiligen Eigentümer beim Berliner Senat, bei Elmar
Pieroth - erkundigen Sie sich einmal bei ihm! -, und bei
der Bundesregierung nachgefragt: Besteht die Möglichkeit, von der Deutschen Bahn weitere Aufträge aus dem
Bereich des ÖPNV zu bekommen, um so die Arbeitsplätze erhalten zu können, um Kurzarbeit vermeiden zu
können? Das ist doch ein ganz normales Anliegen.
({7})
Wenn die Möglichkeit besteht, dann bin ich sehr wohl
dafür, solche Waggons und Fahrzeuge zu bestellen, die in
unserem Land hergestellt und von unseren Arbeitnehmern
produziert werden. Das ist doch ganz selbstverständlich.
Wo leben wir denn hier?
({8})
Sie haben ganz offensichtlich außer Acht gelassen - damit tun Sie sich gar keinen Gefallen, weil doch auch Vertreter Ihrer Partei an diesem Erfolg beteiligt sind -, dass
wir heute wirklich hervorragende Wachstumszentren in
Ostdeutschland haben: Dresden, Erfurt, Halle/Leipzig,
Jena, Rostock, Potsdam, Frankfurt, um nur einige zu nennen.
({9})
- Und Berlin natürlich auch.
({10})
Das ist eine große Aufbauleistung, an der viele beteiligt
sind.
Unsere Aufgabe seit 1998 war es, das, was ursprünglich als Anschubförderung gemacht wurde, auf die Spezialitäten der neuen Zeit und der neuen Etappen dieser
Unternehmen und dieser Region einzustellen. Genau das
haben wir versucht.
({11})
Dabei sind wir ausweislich der Zahlen sehr erfolgreich.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Glücklicherweise sind
wir nicht mehr in den 90er-Jahren, in denen allein die
Bauwirtschaft Ostdeutschland puschen sollte. Heute existiert ein verarbeitendes Gewerbe, das sich sehr gut entwickelt hat. Es gibt ein Beschäftigungsplus von 2,9 Prozent.
({12})
Inzwischen sind dort 613 000 Menschen beschäftigt. Die
Lohnstückkosten liegen fast auf Westniveau. Der Auslandsumsatz im Jahr 2000 ist um 28,3 Prozent gestiegen.
Die Exportquote hat sich seit 1995 fast verdoppelt. Das
sind Erfolge, die wir unterstützen wollen.
({13})
Das Einzige, was die Menschen von uns hören wollen, ist
doch, dass es vorangeht.
Natürlich kann man sich immer wieder über Mittel und
Methoden streiten. Aber schauen Sie sich doch einmal an,
was Ihre „Abschreibungssubventionitis“ im Neubau letztlich gebracht hat! Sie hat Kapazitäten aufgebaut, die heute
zu mehr Arbeitslosigkeit führen. Sie hat darüber hinaus zu
erheblichem Leerstand geführt, weil einige den Rachen
nicht voll genug kriegen konnten. Deshalb setzen wir einzig und allein auf die Altbaumodernisierung und deshalb
haben wir die entsprechenden Instrumente im Programm
„Stadtumbau Ost“ und auch im Städtebauförderungsgesetz.
({14})
Werter Herr Ministerpräsident Vogel, ich will Ihnen an
dieser Stelle nur noch einmal folgenden Hinweis geben:
Es hat zwar eine Umstrukturierung beim Städtebauförderungsgesetz gegeben, aber saldiert mit dem Stadtumbauprogramm Ost ergibt sich ein Plus von 150 Millionen
Euro oder 300 Millionen DM. Das kann sich durchaus sehen lassen.
({15})
Das hat sich, wie Herr Schwanitz richtig sagte, in den letzten Monaten hervorragend bewährt.
({16})
- Hier kam der Hinweis, dass sich diese Angaben
selbstverständlich auf ein Jahr beziehen. Wir reden immer
nur von jährlich aufgewandten Summen, insbesondere
dann, wenn sie groß sind.
Nun will ich das Thema der EU-Osterweiterung ansprechen, weil mich das sehr beschäftigt. Ich bin der Auffassung, dass wir hierüber auch mit den ostdeutschen Firmen, mit den Handwerksmeistern reden müssen. Bei aller
Zustimmung zur EU-Osterweiterung werden wir angemessene Fristen für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern
und von Dienstleistungen vorsehen. Das steht bereits fest.
Ich möchte in diesem Zusammenhang alle ermuntern,
sich stärker um die Zukunftsmärkte jenseits der heutigen
EU-Grenze zu kümmern, sich auf die Menschen dort einzustellen, so schnell es irgend geht, Joint Ventures und
Kooperationen mit dortigen Firmen in Angriff zu nehmen.
({17})
- Und die Sprache zu lernen! Dies darf nicht allein denen
überlassen werden, die in die EU wollen, die „hungrig“
sind und an unseren Märkten verdienen wollen. Das Überleben der kleinen und mittleren Strukturen in Ostdeutschland wird ganz wesentlich davon abhängen.
Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland an der
EU-Osterweiterung saldiert ganz erheblich verdienen
wird, möchte ich nicht, dass die Handelsströme nur nach
München, Frankfurt, Nordrhein-Westfalen und Hamburg
fließen. Ich möchte, dass auch für Ostdeutschland ein entsprechender Anteil am Kuchen gesichert wird. Das schafft
man nur mit Flexibilität und der richtigen Einstellung auf
die Zukunft.
({18})
Meine Damen und Herren, ich will einen weiteren
Punkt ansprechen, der mir am Herzen liegt. Ein solcher
Bericht erschöpft sich nicht allein in seinen ökonomischen und finanzpolitischen Dimensionen. Es steht völlig
außer Frage, dass wir zwar heute schon einen Zustand relativer Normalität erreicht haben. Man darf aber nicht den
Fehler machen, diese Erkenntnis immer mit dem gleichzusetzen, was die Menschen in unserem Land und insbesondere in Ostdeutschland fühlen.
({19})
In den letzten zehn, elf Jahren ist auf der materiellen
Ebene in der Tat unendlich viel geschehen; das darf ich als
Berliner sagen. Es gab einen gewaltigen Solidarbeitrag
aller Bundesländer und des Bundes. Das steht außer
Frage.
({20})
- Wissen Sie, Herr Nooke, das ist mir echt zu doof, darauf
einzugehen,
({21})
auch wenn es mir eigentlich Leid tut.
({22})
Mein Petitum, in das Sie eigentlich einstimmen sollten,
besteht darin, neben den Bemühungen in finanz- und wirtschaftspolitischer Hinsicht noch mehr dafür zu tun, dass
die Menschen einander näher kommen, dass man sich in
Ost wie West gleichermaßen zu Hause fühlt. Das ist nämlich heute nicht in jedem Falle so. Es gibt viele Menschen,
die sich inzwischen auf ihre regionalen Räume zurückgezogen haben.
In der Jugend liegt eine große Chance. Mit großer
Freude verfolge ich, wie viele junge Menschen - gleichermaßen aus Ost und West - sich an Schulen, Universitäten, anderen Bildungseinrichtungen und auch in Firmen näher kennen lernen. Allein mit materiellen Förderprogrammen werden wir nämlich nicht erfolgreich sein.
Wir werden in Deutschland nur erfolgreich sein, wenn wir
uns auch von unserer Mentalität, unseren Gefühlen her
als eine erstklassige Bevölkerung empfinden. Es darf
nicht sein, dass sich Menschen schon aufgrund ihres eigenen Empfindens als Menschen zweiter oder dritter
Klasse verstehen.
({23})
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Viele Menschen in
Ostdeutschland - gerade diejenigen, die in den Wachstumsbranchen tätig sind, auch viele Selbstständige - sind
stolz darauf, dass sie den Weg aus der Planwirtschaft in
die Marktwirtschaft erfolgreich beschritten haben. Doch
Sie reden hier nur über die negativen Botschaften. Sie reden nicht darüber, dass wir die Menschen bestärken müssen, diesen Weg in Eigenverantwortung fortzusetzen, um
ihr Land aufzubauen. Das aber wäre doch die richtige Botschaft.
({24})
Herr Nooke - ich beschäftige mich trotz Ihrer Anmerkungen noch immer mit Ihnen -, ich möchte Sie auf eines hinweisen: Ob wir noch ein Denkmal für Rosa
Luxemburg in Berlin haben oder nicht, ist mir persönlich
nicht ganz so wichtig. Aber: Wir haben 1991 oder 1992
im Berliner Abgeordnetenhaus eine sehr ernsthafte und
differenzierte Diskussion über die Umbenennung von
Plätzen und Straßen im Hinblick auf Personen wie Rosa
Luxemburg, die natürlich eine gebrochene Geschichte
haben, geführt. Rosa Luxemburg steht für Emanzipation
und Freiheit und nicht dafür, sich leninscher oder stalinscher Positionen zu bedienen;
({25})
sie hat an keiner Stelle der Diktatur das Wort geredet.
({26})
- Das müssen Sie ausgerechnet mir sagen, Herr Nooke.
Ich bin in dieser Hinsicht ganz unverdächtig. Ich warne
Sie nur davor, hier einen unnötigen Popanz aufzubauen;
denn es hilft der deutschen und damit der inneren Einheit
nicht, wenn mit dem Dreschflegel geschlagen wird. Ansonsten landen Sie dort, wo Landowsky gelandet ist - und
das möchte ich Ihnen nicht gönnen -, nämlich im politischen Abseits.
({27})
Ich glaube, dass wir sehr viel weiter sind, als die Debatte es an einigen Punkten belegt hat, und dass es Grund
gibt, Optimismus zu zeigen. Viele Menschen in Ostdeutschland sollten motiviert werden, ihren Weg fortzusetzen.
Das Gleiche gilt übrigens für die Ministerpräsidenten.
Ich finde es gut, dass Herr Ministerpräsident Vogel auf die
Hilfe Bayerns hingewiesen hat. Auch in anderen Regionen stehen diese Hilfen in unmittelbarem Wettbewerb.
Das gilt beispielsweise für die, die Nordrhein-Westfalen
Brandenburg gegenüber geleistet hat - manchmal zum
Leid der Berliner. Es steht aber, wie ich glaube, außer
Frage, dass hier Hilfe erforderlich geworden ist. Richten
Sie Herrn Stoiber aber von uns aus, er möge, wenn er die
Bundesregierung kritisiert, nicht ganz vergessen, wo er in
den letzten Jahren gestanden hat und wie beckmesserisch
er sich zum Teil gegenüber Ostdeutschland verhalten hat.
Man kann es nicht von der Hand weisen: Das war schon
beschämend. Und das werden viele nicht vergessen.
({28})
Ich glaube, wir haben die richtige Richtung für die Entwicklung Ostdeutschlands eingeschlagen. Ich bin sicher,
dass wir weiter erfolgreich an dem Projekt der Angleichung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse in unserem Lande arbeiten werden.
Danke schön.
({29})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Werner Kuhn für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Wiedervereinigung Deutschlands
war nach meinem Dafürhalten der geniale gesellschaftspolitische Akt des 20. Jahrhunderts.
({0})
Das sage ich trotz aller Schwierigkeiten, die die Menschen auf ihrem Weg ins gemeinsame Deutschland noch
haben. Die Wiedervereinigung ist ein Sieg der Freiheit
über die Diktatur in Deutschland. Da können Sie, meine
sehr verehrten Damen und Herren von der Grünen-Fraktion und von der linken Seite dieses Hauses, Ihre Untersuchungsausschüsse bemühen, Ihre Tribunale befragen:
Dieser historische Schritt ist unauslöschlich mit dem Namen unseres Altbundeskanzlers Dr. Helmut Kohl verbunden.
({1})
Ich sage Ihnen: Die Menschen in Ostdeutschland sind
nach wie vor zum überwiegenden Teil für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes dankbar.
({2})
Herr Staatsminister Schwanitz, Sie haben als Vertreter
der Bundesregierung in dieser Debatte den Auftakt gemacht. Wie Sie hier den Bericht der Bundesregierung dargelegt haben, war unangemessen. Sie haben sofort Wahlkampf betrieben.
({3})
Ich meine, das ist der Sache überhaupt nicht dienlich gewesen. Sie brauchen sich daher über eine so polemische
Debatte nicht zu wundern.
Im Rückblick müssen wir von der Union einräumen,
dass wir Fehler gemacht haben. Ich erinnere nur an viele
fehlgeschlagene Privatisierungen der Treuhand oder an
die Abwicklung universitärer Einrichtungen. Dabei hat
oft das nötige Feeling gefehlt. Bei der Union bedarf es
aber nicht der Erwähnung, dass die deutsche Einheit und
der Aufbau Ost Chefsache sind. Bei der Union ist das Herzenssache! Wir brauchen da nicht mit der ruhigen Hand
zu arbeiten.
({4})
Ich weiß, dass wir das Problem der Arbeitslosigkeit
1997/1998 nicht so in den Griff bekommen haben, wie wir
es wollten. Deshalb haben uns die Menschen 1998 auch
abgewählt. Aber eines will ich Ihnen sagen: Das Wachstum der ostdeutschen Wirtschaft lag damals zwischen
6 und 8 Prozent. Seitdem Sie regieren, haben Sie eine
höhere Arbeitslosigkeit und ein Nullwachstum zu verantworten.
({5})
In vielen Bundesländern gibt es sogar einen Abschwung.
Das ist Ihre Bilanz.
({6})
Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen, als wir
- Ministerpräsident Vogel hat darauf hingewiesen - zuerst
die Infrastruktur ausgebaut haben. Das geschah oft gegen den Widerstand des jetzigen grünen Koalitionspartners. Schauen Sie sich doch einmal an, was die Grünen alles dagegen getan haben, dass die A 20 gebaut wird! Die
Brücke über die Wakenitz ist bis heute noch nicht fertig.
({7})
Darum fährt man 30 Kilometer nach Lübeck, um dort auf
die A 1 zu kommen und in dieselbe Richtung zurückzufahren. Das nennen Sie den ökologischen Umbau der Gesellschaft. Darüber lache ich doch!
({8})
Die Thüringer-Wald-Autobahn - eine reine Verzögerung: In den Bundeshaushalt wurden umfangreiche
Mittel für Investitionen eingestellt. Dennoch musste
- Stichwort „VDE Straße“ - als Haushaltsausgaberest
1 Milliarde zurückgegeben werden. Für die Schiene
mussten 2,1 Milliarden zurückgegeben werden.
({9})
- Herr Schmidt, Sie als großer Bahnfreak: Was sind denn
das für Aktivitäten, um die deutsche Einheit und den Aufbau Ost nach vorne zu bringen? Ich sage Ihnen: Das ist dilettantisch.
({10})
Genauso funktionieren die Angelegenheiten mit der
Europäischen Union. Herr Schwanitz hat angesprochen,
dass die Kapazitätsbeschränkungen der Werften in
Mecklenburg-Vorpommern und in Ostdeutschland insgesamt nur auf die Vertragsunterzeichnung der Union
zurückzuführen seien. Wenn man einen Vertrag über Kapazitätsbegrenzungen mit einer Laufzeit von zehn Jahren macht und wenn sich die politischen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb der
vergangenen fünf Jahre ändern, dann muss man einfach
handeln. Die Bundesregierung ist dann dazu veranlasst,
sich mit der Europäischen Union auseinander zu setzen.
Das darf aber nicht auf zweiter oder dritter Ebene geschehen und man darf nicht dilettantisch vorgehen.
Dann muss sich die ruhige Hand bewegen und die Angelegenheit muss zur Chefsache werden; aber die ruhige
Hand hat nichts getan.
({11})
Herr Schwanitz, die drei „I“, die Sie genannt haben,
will ich gar nicht interpretieren. Ich möchte nur ein weiteres „I“ hinzufügen: Das ist die Ignoranz gegenüber der
realen Situation in den neuen Bundesländern.
({12})
Wenn Sie durch die Regionen Ostdeutschlands fahren,
dann sehen Sie ganz genau, dass dort aufgrund des Nullwachstums und der rezessiven Entwicklung der Hund begraben ist. Die Menschen suchen sich andere Perspektiven, weil sie das Vertrauen in die Bundesrepublik
verloren haben.
({13})
Da nützen zahlreiche tolle Programme zur Sanierung der
Plattenbauten - eine für die DDR typische Architektur nichts.
({14})
Auf dem Lande liegt die Kaltmiete bei 9,50 DM. Viele
Menschen ziehen dort weg und die Leerstandsquote liegt
bei 30 Prozent. Die Gemeinden werden mit den überschuldeten Wohnungsunternehmen allein gelassen. Dabei
müssen Sie ihnen helfen!
Vorhin wurde Holzmann angesprochen. Es ist zwar in
Ordnung, wenn die Bundesregierung bei einer Krise der
Bauwirtschaft einschreitet. Das muss sie tun. Aber bedenken Sie: In den letzten beiden Jahren hatten wir in den
neuen Bundesländern über 30 000 Insolvenzen zu verzeichnen, speziell in der Baubranche. Die Pioniere der
deutschen Einheit und des Aufbaus Ost haben alles
verpfändet, was sie hatten. Ihre Familien sind in die Unternehmen mit eingestiegen. Ihre Häuser und ihre Lebensversicherungen stehen auf der Liste der Banken. Um
die hat sich niemand von der Bundesregierung gekümmert. Die haben keinen Zuschuss bekommen.
({15})
Meine Damen und Herren, so sieht Ihre Bilanz aus. Hier
müssen wir als Union den Menschen wieder den richtigen
Weg weisen.
Herr Schulz - er ist im Moment nicht anwesend -, auch
wenn wir uns sehr gut verstehen, weil wir beide gemeinsam in der 89er-Bürgerbewegung aktiv waren, muss ich
Ihnen sagen: Mit den knappen Mitteln können wir uns
einfach nicht abfinden. Wir müssen dafür sorgen, dass in
der Produktinnovation neue Wege gegangen werden können. Wir müssen die Exportchancen der Firmen in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen und in Sachsen verbessern. Wir müssen
gemeinsam auch Strategien für die hochinteressante SiWerner Kuhn
tuation innerhalb des europäischen Wirtschaftsgebietes
entwickeln,
({16})
die dadurch gekennzeichnet ist, dass auf der einen Seite Polen Beitrittskandidat ist und dass es auf der anderen Seite
die Rhein-Main-Schiene, Hessen und Baden-Württemberg
gibt. Hier müssen strategische Allianzen für die Zulieferung, für den Kapitalverkehr und für die Erreichbarkeit der
Kunden gebildet werden. Deshalb haben wir damals die Infrastruktur ausgebaut. Es wird ja immer so getan, als habe
der Ausbau der Infrastruktur nur die Abwanderung von Arbeitskräften aus Ostdeutschland in andere Gebiete begünstigt. Nein, der Ausbau der Infrastruktur war lebenswichtig.
Industriepolitik darf sich nicht in der Aussage erschöpfen: Wir haben die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur“; da bekommen Sie eine
Förderung von 50 Prozent. Dann habe ich noch eine I-Zulage für Sie; dort gibt es 10 Prozent obendrauf. Schließlich
gibt es noch das Verwaltungsverfahrensgesetz. Also können wir Dienst nach Vorschrift machen! - Nein, es müssen
neue Ideen entwickelt werden, um den Wirtschaftsstandort
Ostdeutschland fit zu machen. Es müssen Fachleute ran.
({17})
Sie können über Edmund Stoiber reden, was Sie wollen. Fest steht: Das ist ein Ministerpräsident, der für sein
Bundesland sehr engagiert gekämpft hat, so wie es
Bernhard Vogel für Thüringen getan hat.
({18})
Daran kann man erkennen, dass sich Edmund Stoiber für
seine Landsleute engagiert und dass er kein Überflieger ist.
Wenn wir den Klubtrainer Edmund Stoiber zum Nationaltrainer machen, dann werden Sie Ihr blaues Wunder erleben. Er ist der Hoffnungsträger auch für Ostdeutschland.
({19})
Ich bin 1989 nicht auf die Straße gegangen und habe
für Freiheit statt Sozialismus demonstriert, damit Sie
durch die Hintertür Ihr sozialistisches Regelwerk in ganz
Deutschland einführen! Dagegen werden wir uns wehren.
({20})
Das Tariftreuegesetz, die Regelung, wonach Unternehmen
eine Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Finanzamt
vorweisen müssen, und das neue Betriebsverfassungsgesetz, das die Unternehmen zwingt, ein zusätzliches Mitglied des Betriebsrats freizustellen und zu bezahlen, sind
investitionsunfreundliche Maßnahmen. Mit denen werden
wir den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht fit machen.
Sie gehören deswegen am 22. September abgewählt!
({21})
Das war zeitlich fast
eine Punktlandung.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6979 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/8132. Ich verweise darauf, dass der Kollege Paul K.
Friedhoff gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine schrift-
liche Erklärung zur Abstimmung abgegeben hat.1)
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der FDP? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsan-
trag ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf Druck-
sache 14/6978. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur „Stärkung von
Absatz und Export der ostdeutschen Wirtschaft“ auf
Drucksache 14/3094 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2911 mit
dem Titel „Exportchancen im Ausland nutzen -
Absatzförderung Ost intensivieren“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7973 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe Einverständ-
nis im Hause. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jella
Teuchner, Matthias Weisheit, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Steffi Lemke, Kerstin Müller ({1}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Vorsorgende Verbraucherpolitik gestalten
und stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle,
1) siehe Anlage 4
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Stiftung Warentest in die Unabhängigkeit
entlassen
- zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Verbraucherschutz auf nationaler und EU-
Ebene fortentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Ulrich Heinrich, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Acht Maßnahmen für eine umfassende und
eigenständige Verbraucherpolitik
- Drucksachen 14/6067, 14/4284, 14/6039,
14/6053, 14/6654 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jella Teuchner
Gudrun Kopp
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes
- Drucksache 14/6753 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3})
- Drucksache 14/8090 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gustav Herzog
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({4}) zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Pflanzenschutzrecht darf Existenz des deut-
schen Obst- und Gemüsebaus nicht gefährden
- Drucksachen 14/7141, 14/8090 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gustav Herzog
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({5}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit
KOM ({6}) 719 end.; Ratsdok. 05761/00
- Drucksachen 14/3341 Nr. 2.1, 14/6115 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Wodarg
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({7}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum „Girokonto für jedermann“
- Drucksachen 14/3611, 14/3857 Nr. 1, 14/5216 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Dr. Barbara Höll
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({8}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Wirksamer Schutz der Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Euro-Umstellung
- Drucksachen 14/6895, 14/7530 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Barbara Höll
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
zu dem Bericht der Bundesregierung zum „Girokonto für
jedermann“ vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die den Raum
jetzt dringend verlassen müssen, dies schnell tun, kann ich
den ersten Redner aufrufen. Es ist der Kollege Dr. Klaus
Lippold für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau
Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin Künast, Sie sind jetzt ein Jahr im Amt. Bei
Ihrem Amtsantritt haben Sie viel angekündigt und den
Mund ausgesprochen voll genommen. Leider haben Sie
bislang wenig und in Teilen gar nichts von dem gehalten,
was Sie damals zum Ausdruck gebracht haben.
({0})
Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“:
Schließlich blieben auch Künasts großspurig verkündete Pläne für mehr Verbraucherschutz weit gehend
Ankündigung. Taten … fehlen noch.
Recht hat die „Süddeutsche Zeitung“.
Umfassenden Verbraucherschutz wollten Sie betreiben, neben der Lebensmittelsicherheit auch die Belange
des wirtschaftlichen und des rechtlichen Verbraucherschutzes vorantreiben. Davon ist ein Jahr nach Ihrem
Amtsantritt wenig bis nichts geblieben. Die Liste Ihrer
Versäumnisse ist lang: BSE-Krise nur unzureichend bewältigt,
({1})
Kosten für Rinderhalter und Fleisch verarbeitende Betriebe nicht übernommen, bei der Entsorgung der Tiermehlrestbestände kläglich versagt, Forschung im Bereich
BSE stiefmütterlich behandelt, keine Zustimmung zu
Ihren Vorschlägen zur vorgezogenen Reform im Rahmen
der Midterm-Review der Agenda 2000 in Brüssel, keine
Resonanz auf Ihren Vorschlag zur Verbesserung des TierVizepräsidentin Petra Bläss
schutzes im Agrarrat, beim Ökosiegel „Klasse statt
Masse“ weniger strenge Anforderungen, als bisher bei
deutschen Ökobetrieben üblich, durch Orientierung an
der EU-Bioverordnung.
Bezüglich des Verbraucherinformationsgesetzes muss
man festhalten, dass Sie die Einwände der anderen Ministerien nicht umgehen konnten. Ein Punkt ist allerdings
vernünftig - das muss man sagen -: Den geplanten und zu
weit gehenden Auskunftsanspruch gegenüber Unternehmen haben Sie schließlich zurückgenommen.
({2})
Wenn Sie einmal ausnahmsweise etwas Vernünftiges machen, wird das gelobt. Ich würde Sie ja häufiger loben,
wenn das im Interesse der Verbraucher auch möglich
wäre, aber leider kann man das nicht. Vor dieser Problematik stehen wir hier.
Sie, Frau Künast, haben auch nach einem Jahr Ihr Ministerium nicht im Griff. Das ist ein Punkt, den ich Ihnen
ganz einfach vorhalten muss. Sie hätten wirklich Zeit gehabt, es zu organisieren; aber Sie haben es nicht im Griff.
({3})
Das macht deutlich, dass wir die Vorstellungen, die wir
entwickelt haben, schnell und zügig umsetzen müssen.
Sie haben sich, Frau Ministerin, statt mit Verbraucherschutz im klassischen Sinne viel mehr mit Fragen der
Landwirtschaftspolitik auseinander gesetzt. Auch da ist
Ihr Ansatz grundlegend falsch. Statt sich ausschließlich
auf Ökowende und die Zielvorgabe von 20 Prozent zu
konzentrieren, hätten Sie dafür sorgen sollen, die deutsche
Landwirtschaft verbraucherfreundlich weiterzuentwickeln,
und zwar mit Investitionszuschüssen, mit Fördermaßnahmen, damit die Betriebe das leisten können, was Sie von
ihnen verlangen. Das wäre gerechtfertigt gewesen. Gerechtfertigt ist nicht, den Bauern das Leben schwer zu machen und sie gleichzeitig zu kritisieren und ihnen die Realisation vernünftiger Vorstellungen unmöglich zu
machen.
({4})
Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang auch: Es
bringt nichts, wenn Sie hier auf EU-Vorschriften draufsatteln und damit die Wettbewerbsposition der Deutschen
im europäischen Vergleich verschlechtern. Wir brauchen
in der Bundesrepublik Investitionssicherheit auf lange
Zeit. Wir können keine Fristverkürzungen hinnehmen,
wie Sie sie vorgenommen haben; denn dann können Bauern keine vernünftige Investitionsplanung machen. Ohne
eine vernünftige Investitionsplanung kann auch all das
nicht realisiert werden, was für den Umweltschutz und
den Verbraucherschutz gut und besser wäre.
Deshalb sagen wir noch einmal: Wichtig ist, dass die
Vorstellungen, wie wir sie in unserem Konzept entwickelt
haben, realisiert werden. Sie wollten eine Konzentration
der wirklich wichtigen Bereiche des Verbraucherschutzes
im Ministerium, aber Sie haben sie nicht durchgesetzt.
Unser Antrag spricht hier eine klare und deutliche Sprache. Die Verbesserung der Kommunikationswege ist notwendig. In den Verbraucherschutz, Frau Künast, muss
auch die Verbesserung des Verbraucherschutzes in der
privaten Altersvorsorge einbezogen werden. Hier bestehen ganz erhebliche Unsicherheiten, weil der Riester-Entwurf zur Rente mehr Fragen aufwirft, als er Antworten
gibt, und die Verbraucher nicht wissen, worauf sie sich
einstellen sollen.
({5})
Sie müssten wenigstens das, was Herr Riester verschlampt hat, klar und deutlich machen und die Verbraucher in dieser Frage unterstützen. Darüber hinaus müssen
Sie darauf achten, dass Anträge der Verbraucherschutzzentrale, in dieser Hinsicht Beratung vorzunehmen, von
dieser Bundesregierung nicht abgelehnt werden.
Sie versagen vollständig in ganz wesentlichen Fragen,
in denen die Verbraucher Sie fordern.
({6})
Das Gleiche gilt für die anderen Bereiche des Verbraucherschutzes, für das Bauen und auch für die Verbraucherbildung.
Nein, Frau Künast, so geht es nicht weiter. Stützen Sie
sich auf die Vorstellungen, die wir entwickelt haben,
({7})
dann kommen Sie in diesem Punkt ganz entscheidend
voran.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Es spricht jetzt die
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft, Renate Künast.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und
Herren! Ich würde heute hier gerne über den allgemeinen
Verbraucherschutz und über das Verbraucherinformationsgesetz, auf das viele neidisch blicken, reden.
({0})
- Sie haben es ja nicht geschrieben, deshalb sind Sie neidisch. Sie haben Jahrzehnte Zeit gehabt, aber es ist nichts
passiert.
({1})
Ich will einen Satz zu Herrn Lippold sagen. Herr
Lippold, ich verstehe eines gut: Bei der Halbzeitbilanz
sind Sie neidisch auf unsere Vorschläge. Warum? - Weil
der Vorschlag von Herrn Fischler zum Großteil unseren
Vorschlägen entsprechen wird.
({2})
Dr. Klaus W. Lippold ({3})
Da gibt es durchaus ein gemeinsames Vorgehen. Sie sind
neidisch, weil die Erweiterungsvorschläge, die jetzt von
der Kommission der EU kommen, in ihrer Ausgestaltung
für die Beitrittsländer zeigen, dass wir bei der Reform der
Agrarpolitik in der EU auf dem richtigen Weg sind. Sie
sind neidisch, weil die Verbraucherverbände uns im
Großen und Ganzen loben. Das verstehe ich.
Jetzt sage ich Ihnen einmal, worum es heute in Sachen
Verbraucherschutz wirklich gehen muss; das haben Sie,
Herr Lippold, verschwiegen. Sie sollten sich einmal fragen, ob das, was Sie tun, wirklich Verbraucherschutz ist.
Verbraucherschutz - auf alles andere, das sage ich Ihnen
gleich, komme ich am 14. März bei einer Regierungserklärung zum Verbraucherschutztag zurück - heißt
nämlich heute im Kern wieder BSE und Bayern. Das
wissen Sie genau, aber Sie trauen sich nicht, darüber zu
reden.
({4})
Wer glaubt, dass 14 Monate nach dem ersten BSE-Fall
in Deutschland alles getan sei, der irrt. Wir dürfen auch
heute die Hände nicht in den Schoß legen. Das wurde anlässlich der Vorfälle der letzten Wochen deutlich: Salmonellen in der Schokolade, ungenießbarer Lachs zur Weihnachtszeit, Chloramphenicol in Shrimps, PCB-Einsatz in
belgischen Schweinemastbetrieben,
({5})
Metallsplitter in Cornflakes.
({6})
Außerdem gab es - da können Sie besonders aufgeregt
brüllen - einen Skandal bei den BSE-Tests in Bayern.
({7})
Wir haben, meine Damen und Herren, ein Jahr lang geackert, haben uns, gemeinsam mit den Bauern und den
Bundesländern, abgestrampelt, um bei den Bürgerinnen
und Bürgern wieder Vertrauen zu gewinnen. Die Bürgerinnen und Bürger haben uns wie auch den Bauern ihr Vertrauen wieder gegeben.
({8})
Sehen wir uns einmal ganz genau an, was in den letzten Wochen in Bayern passiert ist.
({9})
Am 17. Dezember haben die bayerischen Behörden festgestellt, dass vom Institut Milan mit der Zweigstelle
Westheim fast 40 000 Schnelltests durchgeführt wurden,
({10})
ohne dass das Labor eine Zulassung hatte. Ich habe
ausgerechnet,
({11})
dass, ausgehend von einer Fleischportion von 200 Gramm
bei Tieren mit circa 300 Kilogramm und 39 500 Tests,
57 Millionen Fleischportionen nicht richtig getestet von
Bayern aus auf den Markt gebracht worden sind. Und das
ein Jahr nach BSE! Darüber sagen Sie kein Wort?
({12})
Was ist in Bayern passiert?
({13})
Seit dem 17. Dezember kamen täglich, ja teilweise stündlich Beweise von Inkompetenz, Feigheit und Unfähigkeit,
und das zulasten der Gesundheit.
({14})
Können Sie aufzählen, wie oft Herr Sinner unterschiedliche Positionen vertreten hat? Ich sage Ihnen: Das können
Sie nicht. Erst sagt er - das hat er noch letzte Woche, im
Bayerischen Landtag am 23. Januar, vertreten -, dass das
gesamte dort getestete Fleisch nicht verkehrsfähig sei.
Gestern früh schickt er einen Bescheid an alle Bundesländer, in dem er mitteilt, dass bis auf 46 Tests doch alles
Fleisch verkehrsfähig und wieder freizugeben sei. Was ist
denn los? Man muss sich doch wohl einmal entscheiden
können.
({15})
- Dass Ihnen das peinlich ist, das weiß ich. Ihnen steht das
Wasser bis zum Hals; denn Sie wissen, wie viele Arbeitsplätze davon abhängen.
Vom 17. Dezember bis zum 14. Januar haben Sie in
Bayern gebraucht, um das mitzuteilen. Herr Sonnleitner
wusste es schon einige Tage vorher und schweigt seitdem.
Der Präsident des Bauernverbandes wurde seitdem nicht
mehr gesehen. Seit dem 14. Januar kennen wir den Fall.
Von da an haben wir täglich mehrmals mit den Zuständigen in Bayern telefoniert und gesagt, dass sie endlich
entscheiden müssen. Nachdem das alles nichts genutzt
hat, hat Herr Sinner uns am letzten Wochenende um Hilfe
gebeten. Wir sollten ihm Wissenschaftler schicken. Da
waren aber schon fast sechs Wochen vergangen.
({16})
Wir haben die Wissenschaftler geschickt. Wir haben
gemerkt, dass Bayern noch immer nicht in der Lage ist zu
entscheiden. Wir haben am Dienstag bundesweit alle
Staatssekretäre eingeladen und haben gemeinsam Druck
auf Bayern ausgeübt. Am Mittwoch früh hat sich Bayern
entschieden und hat gesagt, dass alle außer den 46 Tests
verkehrsfähig seien. Gestern Nachmittag habe ich auf eiBundesministerin Renate Künast
ner Telefonkonferenz gefragt, ob es denn angehen könne,
dass in Deutschland Rindfleisch zur Ernährung von Menschen verwendet wird, das in Frankreich zum Beispiel
nicht ausgegeben würde. Frankreich würde uns das wieder zurückschicken, weil es nicht in einem zugelassenen
Labor getestet ist. Auch in Nordkorea dürfte ich wegen
des EU-Rechts dieses Rindfleisch nicht an die Menschen
herausgeben. Aber die Deutschen dürfen es essen. Ich als
Bundesministerin habe gesagt, dass ich das nicht mitmache. Der Anspruch auf Gesundheit ist unteilbar, er gilt für
alle und gilt weltweit.
({17})
Das Fazit ist: Herr Sinner hat gestern Nachmittag seinen Bescheid von gestern früh ad absurdum geführt und
gesagt, es bleibe alles komplett sichergestellt. So verfahren alle Bundesländer. Ein kleines Aperçu am Rande:
Bayern hatte schon lange alles Fleisch sichergestellt, nur
die anderen Bundesländer haben sie als die Dummen dastehen lassen.
({18})
Auch Folgendes kann ich Ihnen nicht ersparen. Herr
Sinner hat bei der Telefonkonferenz gefragt, was denn die
Wissenschaftler aus Bund und Ländern dazu sagen. Das
kann ich Ihnen sagen; gestern Abend haben wir nämlich
den Bericht bekommen, von unseren Wissenschaftlern
und vom Chefveterinär aus Bayern unterschrieben. Die
Antwort ist: Wir müssen erst EU-rechtlich klären, ob dieses überhaupt verkehrsfähig ist. - Das ist ein Schlag ins
Gesicht der Bayerischen Staatsregierung, weil sie am
Morgen schriftlich noch das Gegenteil gesagt hat. Das ist
Ihr Verbraucherschutz! Warum reden Sie eigentlich nicht
darüber?
({19})
Fazit: eineinhalb Monate, also sechs Wochen, Verzögerung und Angst vor Entscheidungen auf Kosten der
Verbraucher und Bauern. 33 000 Bauern zittern.
({20})
Sie wissen genau, dass Herr Stoiber Angst hat, dass diese
Bauern demnächst vor der Staatskanzlei stehen. Zehntausende von Arbeitsplätzen und die Existenz von Südfleisch
sind gefährdet. Ich sage Ihnen: Wenn Sie nicht in der Lage
sind, diese Arbeitsplätze zu sichern, kümmern wir uns
auch noch darum.
({21})
Sechs Wochen Chaos in Bayern und sechs Wochen
keine Entscheidung! Wir haben 48 Stunden gebraucht,
({22})
um ein einheitliches Vorgehen von Bund und Ländern zu
erreichen, sodass Gesundheit in Deutschland, Europa und
Nordkorea den gleichen Stellenwert hat.
({23})
- Auch wenn Sie noch so brüllen,
({24})
muss ich Ihnen sagen: Ihr Handeln in Bayern hat System.
({25})
- Ich muss ja ein bisschen lauter sprechen als Sie. Wahrscheinlich waren Sie am Wochenende als bayerischer Abgeordneter auf einer der Krisensitzungen, wo beraten
wurde, wie das vertuscht werden kann. Es gibt genug Beispiele dafür in Bayern.
({26})
Ich sage Ihnen: Das alles hat System, weil Bayern noch
nie - das gilt auch für BSE - den Verbraucherschutz nach
vorne gebracht hat und bis heute noch nicht verstanden
hat, dass die Arbeitsplätze für die Bauern und für andere
nur dann eine Zukunft haben, wenn der Verbraucherschutz vorne steht.
({27})
Herr Miller hat die Risikoeinstufung von einem Teil
der Materialien immer abgelehnt. Er hat von den Exportfolgekosten gesprochen und davon, dass es uns doch
nichts nutzt, wenn die Menschen das Fleisch nicht essen
und dadurch Jobs draufgehen.
({28})
- Ja, natürlich. - Frau Stamm hat die Bundesregierung
noch im Jahre 2 000 aufgefordert, Klage gegen die
EU-Kommission zu erheben, als es um das Risikomaterial ging.
({29})
Das Ergebnis ist, dass mehr als 50 Prozent aller bundesdeutschen BSE-Fälle in Bayern auftreten. Darauf können
Sie nicht stolz sein.
Sie haben im letzten Jahr versucht, vorne zu sein. Was
haben Sie gemacht? Herr Stoiber hat angekündigt - bundesweit beachtet -: Wir werden in Bayern ein viel besseres Verbraucherschutzprogramm als der Bund machen.
({30})
Das Juwel war ein 600-Millionen-DM-Programm.
({31})
- Sie tun also etwas? Dann schauen wir uns das 600-Millionen-DM-Programm, mit dem mehrere Hundert Kontrolleure finanziert werden sollten, einmal an.
Wir haben damals gewusst, dass es sich nicht um zusätzliches Geld handelt, sondern um Geld, das aus allen
Teilen der Verwaltungen zusammengekratzt wurde.
({32})
Diese Gelder wurden dann zu einem schönen Programm
zusammengefasst. Heute wissen wir, dass es dieses Programm nicht gibt. Im Oktober des letzten Jahres wurde
dieses Programm nämlich mit einer Haushaltssperre belegt.
({33})
Verbraucherschutz findet in Bayern gar nicht statt. Ist das
das Modell für die Bundesrepublik Deutschland, das Sie
uns anbieten wollen?
({34})
Eine Haushaltssperre auf die Gelder für den Verbraucherschutz und für die Kontrolleure, die Sie nach Westheim
und Passau hätten schicken können, um im Sinne des Verbraucherschutzes früher testen zu können! Ich zitiere
Herrn Stoiber vom Oktober des vergangenen Jahres:
Ferner wird die Verbraucherschutzinitiative ab 2002
in die Haushaltssperre einbezogen werden. Dies erscheint mir angesichts der neuen Herausforderungen
um die innere Sicherheit vertretbar, zumal
- so Herr Stoiber weiter die Sofortmaßnahmen der Verbraucherschutzinitiative rasch und wirkungsvoll gegriffen haben.
Das sehen wir! Nichts hat gegriffen!
({35})
Bayern ist das Land, das am Verbraucherschutz nicht
interessiert ist. Man erkennt daran, dass Herr Stoiber ein
Konjunkturritter ist. Das Fehlen von Kontrollen in Bayern
gefährdet nicht nur die Gesundheit, sondern auch Arbeitsplätze vor allem in Bayern - Bayern trägt nämlich
mit einem Fünftel zum deutschen Rindfleischexport bei -,
weil der Export nach Frankreich und der mühsam aufgebaute Export nach Russland gefährdet wird. Wenn in den
nächsten Tagen wieder Rinderzüchter auf die Straße gehen, dann schicke ich sie zu Ihnen und zu Herrn Stoiber.
Sie sind es nämlich, die den Rindfleischmarkt kaputtmachen.
({36})
- Ja, die Wahrheit ist nur hart zu ertragen. Aber das ist
noch nicht alles. Warum habe ich gesagt, er sei ein Konjunkturritter und könne keinen Verbraucherschutz machen? Fahrlässige Nachlässigkeiten in Bayern gibt es
ohne Ende. Bayern bekommt einen blauen Brief. Jetzt
werden Sie sagen, dass wir ja auch einen bekommen.
({37})
Wenn wir einen blauen Brief bekommen sollten, dann bekommen wir ihn, weil die EU damit klar machen will,
dass unser Sparkurs richtig ist und dass er noch stärker
verfolgt werden müsste.
({38})
Wissen Sie, wofür Bayern den blauen Brief bekommt?
Herr Stoiber bekommt von der EU einen blauen Brief,
weil er die Regeln zur Rinderkontrolle, die das Ziel haben,
Sicherheit bei Tierseuchen und Tierkrankheiten herzustellen, nicht umsetzt. Auch das gehört zur BSE-Bekämpfung, zur Sicherung der Arbeitsplätze und der Einkommen der Bauern: Bayern müsste jährlich 9 000 Kontrollen
durchführen. Es hat aber - und dafür bekommt es den
blauen Brief - seit 1999 9 000 Kontrollen durchgeführt.
Das ist Verbraucherschutz in Bayern, meine Damen und
Herren!
({39})
Sie werden hier noch manches über dies und das erzählen. Sie suchen sich immer etwas heraus, mit dem wir
noch nicht fertig sind. Aber ich sage Ihnen: Wir haben in
12 Monaten mehr für den Verbraucherschutz getan als Sie
in zwölf Jahren. Es ist ein Gesetzentwurf im Umlauf. Wir
haben seit Anfang dieses Jahres zwei Behörden.
({40})
Die Mitarbeiter dieser Behörden sind besser als alles andere, was Sie so vorgelegt haben.
Für mich ist das Fazit: Wir haben schon wieder mit
BSE in einem Bundesland zu tun, das die Regeln nicht
umsetzt. Wir haben im Augenblick Sorgen um unsere
Tierexporte. Herrn Stoiber, Herrn Sinner und all den
bayerischen Vertretern hier möchte ich sagen: Bevor Sie
den Mund so weit aufmachen und versuchen, der ganzen
Republik eine Alternative zu geben, räumen Sie erst einmal in Bayern auf; die haben es nötig.
({41})
Zwei Kollegen fühlten
sich durch die Rede der Bundesministerin ganz besonders
angesprochen. Sie rufe ich jetzt zur Kurzintervention, die
rechtzeitig angemeldet worden ist, auf: zunächst Kollegen
Ronsöhr, dann Kollegen Lippelt.
({0})
- Also ist jetzt erst der Kollege Ronsöhr an der Reihe,
dann Kollege Lippold. Anschließend hat die Bundesministerin Gelegenheit zu erwidern.
Frau Präsidentin, meistens passiert es, dass mein Name nicht richtig ausgesprochen wird. Von daher bin ich dankbar, dass
Sie meinen Namen richtig ausgesprochen haben.
({0})
Es ging eben um den Export von Rindern. Ich möchte
darauf hinweisen, dass Zuchtverbände in der Bundesrepublik Deutschland mich darüber informiert haben,
dass Russland sehr viele Zuchtrinder abnehmen will und
dass Frau Ministerin Künast den stellvertretenden russischen Landwirtschaftsminister empfangen sollte, damit
dieses Geschäft so abgewickelt werden kann, wie es aus
Sicht der deutschen Landwirtschaft abgewickelt werden
sollte. Frau Künast hat keine Zeit gefunden, mit diesem
stellvertretenden Landwirtschaftsminister zu sprechen.
Ich finde es schon eine Ungehörigkeit, dass man, während
man hier davon spricht, den Export forcieren zu wollen,
sich einem stellvertretenden russischen Landwirtschaftsminister verweigert, der mit diesen Zuchtverbänden im
Gespräch war.
({1})
Frau Künast, wenn es denn schon um BSE-Risikomaterial geht: Ich habe in der letzten Ausschusssitzung darauf hingewiesen, dass kontaminierte Rinder aus den Niederlanden geliefert worden sind. Es wurde von Ihrem
Staatssekretär verteidigt, dass die Kontamination dieser
Rinder mit BSE erst nach vier Monaten den zuständigen
Landesbehörden mitgeteilt worden ist, weil angeblich der
Postweg verstopft gewesen sei, als wäre es eine Überforderung der Post, wenn man die Landesbehörden umgehend über bestimmte Dinge informieren würde. Ich kann
das nicht verstehen. Wenn Sie hier andere auf die Anklagebank setzen, räumen Sie bitte erst einmal die Anklagen,
die wir gegen Sie ausgesprochen haben, aus.
({2})
Es ist schon eigenartig, dass eine Ministerin, die lange
braucht, bis sie die Öffentlichkeit über Hochrisikomaterial informiert, das aus den Niederlanden zu uns hereingekommen ist, anderen Informationsdefizite unterstellt.
Wir haben im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft von Ihrem Staatssekretär erfahren, dass Bayern nichts vorzuwerfen sei. Herr Staatssekretär Müller aus Ihrem Hause von den Grünen hat allen
rot-grünen Abgeordneten widersprochen, die Bayern auf
die Anklagebank setzen wollten. Jetzt sind im Grunde Argumente nachgeschoben worden,
Herr Kollege Ronsöhr,
jetzt ist Ihre Redezeit abgelaufen.
- die man
im Ausschuss nicht auf den Tisch gelegt hat.
({0})
Jetzt kommt die
zweite angemeldete Kurzintervention, die des Kollegen
Lippold.
Frau
Präsidentin! Frau Ministerin, ein Punkt vorweg, weil Sie
gesagt haben, Sie hätten die Rückendeckung der Verbraucherschutzverbände. Ich will einmal deutlich sagen, dass der Vorsitzende des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen beklagt, dass es kein geschlossenes
verbraucherpolitisches Programm der Ministerin gibt.
Hieran wird die Kritik derjenigen, die Sie für sich in
Anspruch nehmen, mehr als deutlich. Sie sagen nicht die
Wahrheit, wenn Sie sagen, dass die Verbraucherschutzverbände kritiklos hinter Ihnen stehen. So stimmt das
nicht und das muss hier klargestellt werden.
({0})
Einen zweiten Punkt hat der Kollege Ronsöhr gerade
angesprochen. Ich will einmal die Unterschiede deutlich
machen: Sie sind ein Jahr im Amt und nach einem Jahr haben Sie Ihr Ministerium noch nicht so im Griff, dass die
Kommunikationswege funktionieren. Ein Jahr lang hätten
Sie organisieren können. Ein Jahr lang haben Sie gepennt,
ein Jahr lang haben Sie geschlampt.
({1})
- Ich sage das so, wie es ist.
Jetzt kommt dieser Fall in Bayern. Worin liegt der Unterschied? Es handelt sich hierbei um das rechtswidrige
Vorgehen einer Firma, das ich scharf verurteile. Nachdem
die Bayerische Staatsregierung von diesem rechtswidrigen Vorgang erfahren hat,
({2})
hat sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Dinge aufzuklären und abzuarbeiten. Sie hat sich bereits im Januar mit
Ihrem Hause in Verbindung gesetzt. Es hat eine ständige
Kooperation mit Ihrem Staatssekretär gegeben. Jetzt tun
Sie doch nicht so, als würden Sie alles auf einmal neu entdecken. Der zuständige Staatssekretär hat die Vorgehensweise Bayerns akzeptiert, woraus man schließen kann,
dass er keinen Fehler in dieser Vorgehensweise gesehen
hat. Nur Ihnen hat das nicht gepasst. Ihnen hat nicht gepasst, dass dieser Staatssekretär aus Hessen nach Sachkriterien geurteilt hat. Sie haben seit einigen Tagen einen
Stoiber-Komplex, den Sie abreagieren wollten. Das können Sie mit anderen machen, aber nicht mit uns.
({3})
Für Sie gilt: Ein Jahr lang nichts gemacht. Bayern hat
nach Erkennen des Fehlers sofort gehandelt,
({4})
sich mit Ihnen abgestimmt. Die Spitze Ihres Ministeriums
stimmt dem zu, aber Sie wollen jetzt aus WahlkampfVizepräsidentin Petra Bläss
zwecken alles anders darstellen. Das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen.
({5})
Jetzt hat die Bundesministerin Künast die Gelegenheit zur Erwiderung.
Herr Lippold, Sie
sagen, ich hätte ein Jahr lang nichts gemacht. Warum haben Sie dann eigentlich ein Jahr lang gemeckert und sich
beklagt? Beides zusammen geht nicht. Das ist Ihnen klar,
oder?
({0})
Sie und auch Herr Ronsöhr sagen, was wir alles hätten
umorganisieren können. Warum beklagen Sie sich dann
ständig, wenn ich Personal umsetze? Ich will Ihnen sagen,
warum. Immer dann, wenn ich einen umsetze, befürchten
Sie, dass Ihnen irgendeiner Ihrer Zuträger oder sonst einer
Ihrer Mannen bei uns im Haus, von denen Sie zuhauf haben, vielleicht nicht mehr das Material zuträgt. Das ist die
Wahrheit.
({1})
Sie können nur nicht damit leben, dass mittlerweile
nach Fachkompetenz und Zuverlässigkeit entschieden
wird, weil Sie dadurch den einen oder anderen Ihrer
Claqueure loswerden. Das ist die Wahrheit. Ihre alte Regel zählt in meinem Ministerium aber nicht mehr und das
wird auch in Zukunft so sein.
({2})
Wenn es stimmt, was Sie sagen, nämlich dass ich ein
Jahr lang nichts gemacht hätte, weiß ich nicht, warum die
Zeitungen ein Jahr lang immer wieder über Ihre Kritik geschrieben haben.
({3})
Sie waren doch immer wieder getroffen, weil wir umorganisiert und umstrukturiert haben, weil wir die Dinge
verändern. Mittlerweile sind selbst die Bauern an der Basis so weit, das zu verstehen. Nur die Funktionäre haben
es manchmal noch nicht verstanden - und Sie auch nicht.
({4})
Nun komme ich zu Bayern und dem rechtswidrigen Vorgehen einer Firma. Hierbei geht es nicht nur um die betroffene Firma, sondern auch um die bayerischen Behörden.
({5})
Jedes Stück Fleisch hat den Stempel des amtlichen Tierarztes bekommen.
({6})
40 000 Mal der Stempel einer bayerischen Behörde! Damit müssen Sie sich auseinander setzen.
({7})
Sie sprechen von ständiger Kooperation und Herr
Sinner versucht jetzt, so zu tun, als hätten wir entschieden.
So geht das nicht, meine Damen und Herren. Wir sind,
weil wir das Sprachrohr für den Bund ins Ausland sind
und die Außenvertretung nach Europa wahrnehmen, verpflichtet, Informationen weiterzugeben.
({8})
Seit dem 14. Januar - vorher haben wir keine Informationen erhalten; dazwischen liegt also schon einmal ein
Monat - haben wir oft miteinander telefoniert. Der Staatssekretär hat dies immer mit meinem Wissen und in Absprache mit mir getan. Wir können Ihnen beweisen, dass
es immer um einen Kern ging: Wann entscheiden Sie,
Herr Sinner? Bayern muss das entscheiden. Sie können
sich nicht abducken und alle anderen dieses Fleisch essen
lassen. - Das ist die Wahrheit.
({9})
- Dass es so war, kann ich Ihnen, wenn Sie wollen, gerne
schriftlich zeigen.
({10})
Herr Sinner hat gestern Morgen entschieden; diese
Entscheidung gilt schon nicht mehr, weil alle Länderminister - auch die von Hessen und Baden-Württemberg, die
CDU-regiert sind; fangen Sie also nicht mit Ideologien
an - sagen: So ist es richtig, das gesamte Fleisch wird erst
einmal sichergestellt.
Herr Ronsöhr, nun zu Russland. Sie sagen, ich hätte
den von Ihnen angesprochenen Minister nicht getroffen.
Eigentlich hätte Ihnen mehr einfallen können, weil ich
mehr als eine Stunde sehr detailliert und intensiv mit dem
russischen Agrarminister geredet habe.
({11})
- Wir stehen in intensivem Kontakt mit Russland und ich
brauche nicht den zu treffen, der zufällig bei Ihnen vorbeikommt.
({12})
Dr. Klaus W. Lippold ({13})
Ich habe mich mit dem russischen Agrarminister getroffen; eine höhere Zuständigkeit in Sachen Agrar gibt es in
Russland nicht.
Im März werde ich dorthin fahren und auch Wirtschaftler mitnehmen. Dass die Menschen dort von der
Qualitätssicherung hier überzeugt sind, muss aber auch
dazu führen, dass die Länder sie umsetzen, sodass der Export nach Russland gehalten werden kann. Genau darum
werden wir uns, wie ich denke, erfolgreich kümmern.
({14})
Wir fahren in der Debatte fort. Ich erteile jetzt der Kollegin Gudrun Kopp für
die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Herren und Damen! Frau Ministerin, das war ein wahrhaft
furioser Auftritt heute Morgen.
({0})
Ich möchte Sie einmal fragen: Was hätten Sie wohl gemacht und wie wären Sie heute Morgen hier ans Mikro
gegangen, wenn es diesen Vorfall in Bayern nicht gegeben hätte?
({1})
Ich kann Ihnen nur sagen: Was illegal geschieht, muss
geahndet werden. Das ist überhaupt keine Frage.
({2})
In der Debatte im entsprechenden Ausschuss wurde sehr
dezidiert gefragt, ob man private Labors in Zukunft überhaupt noch mit einbeziehen dürfe und ob diese BSE- und
weitere Tests durchführen dürften.
({3})
Hier wird ein ganz schmaler Grat begangen. Dinge, die
nicht in Ordnung sind, muss man natürlich beim Namen
nennen. Auf diesem Weg aber zu versuchen, einen
Flächenbrand auszulösen, halte ich für höchst problematisch.
({4})
Frau Ministerin, ich will einmal auf Ihren Laden
schauen;
({5})
denn der ist im Augenblick wieder ein wenig aus der Kritik geraten. Wenn ich zurückblicke, denke ich, dass wir im
Ausschuss viel zu harmlos und freundlich mit Ihnen umgegangen sind.
({6})
Am 8. Dezember haben Sie, als Sie die Eckdaten Ihres
neuen Informationsgesetzes vorlegten, in einer Agenturmeldung - ich habe sie noch vorliegen - gesagt, dass in
Ihrem Ministerium Vorgänge nicht bearbeitet würden, sie
liegen blieben oder in den Schubläden verschwänden. Sie
haben von den Schwächen in Ihrem Ministerium schon
längere Zeit gewusst. Bei der Fischmehlverseuchung haben Sie kläglich versagt. Ich glaube Ihnen nicht,
({7})
dass Wohl und Wehe in Ihrem Ministerium auf den Schultern von zwei Unterabteilungsleitern ruhen sollen. Das
kann ich mir nicht vorstellen.
({8})
Ich bin der Ansicht, dass Sie dem Parlament - in diesem Fall zunächst einmal dem Ausschuss - Erklärungen
schulden. Diese sind Sie uns bis zum heutigen Tage schuldig geblieben.
({9})
Das ist das eigentlich Skandalöse. Sie stellen sich heute
Morgen hier hin, freuen sich, dass Sie Grund haben, auf
den Fall in Bayern einzuschlagen und kümmern sich nicht
um den eigenen Dreck, den Sie vor Ihrer Haustüre wegzukehren haben.
({10})
Ich gehe jetzt auf den eigentlichen Punkt, den wir heute
Morgen besprechen wollten, ein, nämlich auf Ihre Jahresbilanz. Frau Künast, ich habe die 37 Seiten sehr sorgfältig gelesen, wovon Sie auf 25 Seiten Absichtserklärungen abgeben, Maßnahmen und Ankündigungen für die
Zukunft beschreiben, und zwar ausschließlich im Agrarund Ernährungsbereich. Sie haben eine ganze Seite Ihres
Jahresberichtes für Themen wie allgemeiner Verbraucherschutz, Euroeinführung, Fernabsatzgesetz, Schuldrechtsreform und elektronischer Geschäftsverkehr übrig.
Kein Wort zum Datenschutz! Kein Wort zum Thema
Ladenschluss! Kein Wort über den Wettbewerb am Markt;
das ist derzeit aktuell. Die nötige Modernisierung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, in dem es um
den Schutz des Wettbewerbs und nicht den Schutz vor
Wettbewerb geht, ist Ihnen kein Wort wert. Ich finde keinerlei Aussagen zur grünen Gentechnik und zur nötigen
Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz.
({11})
Kein Wort zu den leidigen Rasselisten, an denen Sie die
Gefährlichkeit von Hunden festmachen, wozu Ihnen jeder
Experte sagt, dass das unverantwortlich ist. Kein Wort
zum nötigen Heimtierzuchtgesetz! Überhaupt kein Wort
zur Informationssäule Nummer eins, nämlich zur Stiftung Warentest.
Unser Antrag dazu liegt heute noch einmal vor. Ich
finde es wirklich blamabel, dass Sie den Verbrauchern
wirklich unabhängige Informationen und der Stiftung Warentest Planungssicherheit für die Zukunft unnötig vorenthalten, indem Sie die Stiftung weiterhin von den jeweiligen Haushaltsplanberatungen und den Geldern, die
Sie bereit sind in den Haushalt einzustellen, abhängig machen, statt durch ein langsam aufzubauendes Stiftungskapital eine völlige Unabhängigkeit herbeizuführen. Ich
meine, diese Säule der Information für Verbraucher ist unerlässlich.
Ich fordere Sie auf: Kümmern Sie sich um den Verbraucherschutz und um Verbraucherfragen insgesamt.
Lassen Sie diese partielle Blickweise auf ganz bestimmte
Bereiche, die Ihnen vielleicht am meisten am Herzen liegen. Ich sage Ihnen: Dieses Verbraucherministerium,
wie es heißt, ist in Wahrheit nach wie vor das Landwirtschaftsministerium alter Prägung, heutzutage umgeben
mit einem grünen Mäntelchen, und nichts anderes.
({12})
Wir fordern Bürokratieabbau, Klarheit, Deklaration
und Information für die Verbraucher, damit sich diese Verbraucher, die wir als mündige und eigenständige Bürger
sehen, überhaupt am Markt zurechtfinden können. Ich
finde es unmöglich - das sage ich auch im Namen meiner
Fraktion -, dass Sie dabei sind, zwei neue Behörden zu
gründen, obwohl Sie mit dem eigenen Ministerium nicht
klarkommen.
({13})
Wir können keinerlei klare Strukturen erkennen. Das trägt
nicht zum Vertrauen von Verbrauchern in die Politik bei.
Das finde ich skandalös.
Noch eine Zahl zum Schluss: Wir haben in Deutschland zu wenige Lebensmittelkontrolleure. Das wissen
auch Sie. Nach neuesten Zahlen kommt ein Kontrolleur
auf circa 1 400 Betriebe bei 200 000 Lebensmittelinfektionen im Jahr. Frau Künast, Sie mögen zwar meinen, dies
auf die Länder abschieben zu können.
({14})
Aber wenn Sie in diesem Haus und auch in Ihren Papieren ständig davon sprechen, dass Sie absolute Lebensmittelsicherheit anstreben, dann haben Sie dafür zu sorgen,
dass es zu anderen Verhältnissen kommt, zum Beispiel im
Rahmen einer Bund-Länder-Konferenz. Natürlich müssen Sie auch sagen: Was sollen die Länder machen? Wie
sollen sie das alles finanzieren? Muss man hier nicht eine
Kooperation eingehen?
({15})
Ein letztes Wort zum Informationsgesetz. Dieses Informationsgesetz ist Ihnen von den Ministerien, insbesondere vom Wirtschaftsministerium, im Vorfeld quasi
um die Ohren gehauen worden. Ich finde es richtig, auf
Selbstkontrolle und Selbstinformation zu setzen; denn
viele Firmen haben genau diesen Marketingvorteil bereits
erkannt. Es ist falsch, mehr Dirigismus und mehr Bürokratie auf die Firmen niederprasseln zu lassen, was übrigens meist zulasten der Länder geht, die das Ganze wieder finanzieren sollen. Aber über das Informationsgesetz
sprechen wir noch.
Vielen Dank.
({16})
Für die Fraktion der
PDS spricht jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte Bayern jetzt nicht in den
Mittelpunkt meiner Rede stellen. Ich denke, das haben die
Bayern nicht verdient.
({0})
Aber auch für sie gilt: Der Verbrauch ist der einzige
Zweck einer jeden Produktion, wie Adam Smith schon
einmal treffend formulierte. Der Markt kann allerdings
nur funktionieren, wenn Konsumenten den Produzenten
trauen. Nun hat aber der Mensch mehr Bedürfnisse beim
Essen als den bloßen Konsum. Er will auch mit Leib und
Seele sicher genießen. Genau das jedoch kommt auf dem
Markt nicht zusammen. So werden zum Beispiel über
30 000 Artikel aus dem Lebensmittelsortiment von nicht
mehr als zehn Lebensmittelketten standardisiert und beworben. Ich denke, es steht außer Frage, wer hier das
letzte Wort zuungunsten der Verbraucher und der Landwirte spricht.
Tüchtig auf den Magen geschlagen sind dem preisorientierten und gutgläubigen Verbraucher die Horrormeldungen der letzten Monate aus der Lebensmittelbranche: Industrieöl in Speiseöl, Hühnerembryos in Flüssigei,
Altöl in Tierfutter, Dioxin im Hühnerfutter, Nematoden
im Fisch, Salmonellen in Schokolade, Nikotin, Frostschutzmittel, Chloramphenicol, Hormone - die Liste
nimmt kein Ende. Doch der Ruf lautet: Klasse statt Masse.
Auch bei der Klasse allerdings ist sich der verunsicherte
und sensibilisierte Feinschmecker nicht mehr sicher,
selbst nicht bei Markenprodukten wie „Du Darfst“, Delikatessen wie Kalbfleisch, edelst verarbeitete Putenbrüste
oder Birnen aus der Region Bodensee.
Das sind aber nur die an die Öffentlichkeit gelangten
Fehltritte der Industrie. Die Dunkelziffer dürfte weitaus
höher liegen. Der Verbraucher ist mittlerweile so weit aufgeklärt, dass er weiß, dass fast jedes Nahrungsmittel
schon einmal von einem Skandal betroffen war. Das wirft
natürlich die Frage auf: Haben Skandale System? Ich
sage: Sie haben System; denn sie sind die logische Konsequenz von Profitstreben und Kostensenkungen, von
Verboten, die nicht hinreichend kontrolliert werden. Unerlaubte Mittel werden angewendet und es werden Qualitäts- und Hygienestandards unterlaufen, wo immer sich
Schlupflöcher ergeben, um sich auf Kosten der Landwirte
und der Verbraucher zu bereichern.
Die ehrliche Aufklärung über die bestehenden Missstände und ihre Beseitigung sind aber nur die eine Seite
der Medaille. Die Wiederherstellung des Verbrauchervertrauens ist die andere.
({1})
Aber dazu bedarf es einer Rückbesinnung bei der Agrarund Ernährungspolitik auf ein starkes Vorsorgeprinzip in
der Lebensmittelsicherheit, ein starkes Umwelthaftungsund Produkthaftungsrecht und stärkere Kontrollen in der
gesamten Kette.
Oftmals kann die Nachsorge nicht mehr den gesetzlich
zulässigen Zustand herstellen, weil Lebensmittel kontaminiert und Futtermittel vermischt sind, die Umwelt
verseucht ist oder Antibiotika und Hormone in die Nahrungskette gelangten.
Mit der Europäischen Lebensmittelbehörde wurden
auch Fragen der Risikoanalyse und der Lebensmittelsicherheit verwaltungstechnisch europäisiert. Was aber
nicht vollbracht wurde, ist eine Harmonisierung des Verbraucherleitbildes auf der europäischen Ebene. Doch das
ist dringend geboten,
({2})
und zwar nicht nur angesichts der vielen Klagen von Mitgliedsländern vor dem EuGH, um Ausnahmeregeln im Interesse des Schutzes ihres eigenen Marktes durchzusetzen. Ich denke zum Beispiel an den Bocksbeutel beim
Wein oder die Mars-Entscheidung. Die Rechtsprechung
kann doch nicht in jedem Land unterschiedlich sein.
({3})
Setzt man beim Recht des Verbrauchers auf Transparenz, Information und Bildung, so sollte Verbraucheraufklärung nicht in erster Linie Kommunikationsprobleme
abbauen, sondern die Verbraucher tatsächlich über die Sicherheits- und Gesundheitsrisiken der heute angebotenen
Produkte und Ernährungsweisen aufklären.
({4})
Damit könnte letztendlich langfristig auch viel Geld im
Gesundheitswesen gespart werden.
({5})
Auch für falsches Essverhalten kann nicht nur der Verbraucher allein verantwortlich gemacht werden. Die im
gesellschaftlichen Fortschrittsprozess entstandenen Probleme der Zivilisation sind hausgemacht. Die Verarbeitungs- und Veredlungsindustrie treibt es mit ihren
hochgradigen Veredlungen von Lebensmitteln mit synthetischen Zusatz- und Ersatzstoffen nahezu auf die
Spitze. Frau Künast, wenn Sie jetzt auch noch bei dem
groß angekündigten Verbraucherinformationsgesetz
einknicken, dann zeigt sich wieder einmal, vor wem die
Politik den Bückling macht, ob vor dem König Kunden
oder vor der Wirtschaftslobby.
({6})
Ich denke, dass gerade mit der weiteren Vergesellschaftung aller Lebens- und Ernährungsbereiche der
Menschen eine Verbraucheraufklärung, beginnend im
Schüler- und Jugendbereich, immer wichtiger wird und
durch den Staat als Regulativ zwischen wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Interessen zu leisten ist. Meines
Erachtens müssen die Konzerne für eine unabhängige
Aufklärung mit aufkommen.
(Beifall der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS]
Eine Europäische Lebensmittelbehörde soll nun richten, was jahrelang in unterschiedlichen Ländern in unterschiedlichem Maße an Risiko analysiert, bewertet und
gemanagt wurde. Unbedingt analysiert werden sollte auch
einmal, welche Glieder in der Lebensmittelkette mit welchen Belastungen und Gefährdungen für die Verbraucher
gesorgt haben. Es geht nicht an, dass die Landwirtschaft
für alles, was die Lebensmittelkette betrifft, in den Medien verantwortlich gemacht wird.
({7})
Oftmals wissen Landwirte selbst nicht, was mit Futtermitteln, mit Zusatzstoffen, mit Arzneimitteln und Klärschlamm so daherkommt.
({8})
Gewährleistet werden muss in der Strukturierung der
Behörde die Einbeziehung von Gewerkschaftsvertretern
in den Aufsichtsrat der Behörde. Nur so kann die Behörde
über die Situation in den Betrieben informiert und können
die Entscheidungen der Behörde schnell in die Belegschaften transportiert werden.
Nun soll auch die Einbeziehung von Verbraucherorganisationen in Entscheidungsprozesse zur Lebensmittelsicherheit laut Beschlussempfehlung zum Weißbuch Berücksichtigung finden.
Im Bericht der Arbeitsgruppe zur Reorganisation des
gesundheitlichen Verbraucherschutzes wurde die Neustrukturierung des BMVEL allerdings nicht mitberücksichtigt. Aber im „von-Wedel-Gutachten“ wurde dies ausdrücklich gefordert.
Darüber hinaus wurde der Bereich Tiergesundheit
weder bei der Reorganisation noch im „von-Wedel-Gutachten“ ausreichend berücksichtigt. Die Fragen von Tierseuchen, ansteckenden Tierkrankheiten und Zoonosen
sind im Zusammenhang mit der Neustrukturierung von
größter Bedeutung.
({9})
Auch deshalb muss das Rahmenkonzept für die Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des BMVEL
neu durchdacht und korrigiert werden.
Es ist auch nicht mehr nachvollziehbar, warum ein vorhandenes Objekt - eine Forschungseinrichtung -, eingebunden in den ländlichen Raum, mit seinen Versuchsbetrieben und den vorhandenen Arbeitsplätzen der Familien
- wie das Institut für Viruskrankheiten in Wusterhausen aufgrund eines alten Rahmenkonzeptes an einen Standort
umziehen soll, für den erst noch mit hohem Aufwand gebaut werden muss.
({10})
Meine Damen und Herren, nun macht schon die Vielzahl der in diesen Tagesordnungspunkt gepackten Drucksachen sichtbar, wie vielschichtig der Verbraucherschutz
ist. Es geht eben nicht nur um Lebensmittelsicherheit oder
um Pflanzenschutz, sondern auch um Girokonten. Dazu
hat die PDS-Fraktion einen Entschließungsantrag vorgelegt und möchte damit dafür sorgen, dass zum Beispiel
auch die 90 000 Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfeempfänger und die 70 000 Empfänger von Kindergeld, die
derzeit über kein Girokonto verfügen, die Möglichkeit erhalten, sich Konten einzurichten, was ihnen bis heute verwehrt ist.
({11})
Es lässt sich also abschließend feststellen: Verbraucherschutz geht alle an, aber die Politik trägt die Hauptverantwortung dafür.
Danke schön.
({12})
Die Kollegin
Naumann hatte sich nicht vorgedrängelt, sondern ich bin
irrtürmlicherweise eine Zeile nach unten gerutscht. - Jetzt
spricht die Kollegin Jella Teuchner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir reden heute über verschiedene Anträge zum Verbraucherschutz, die die ganze
Breite des Verbraucherschutzes deutlich machen. In der
ersten Lesung haben wir darüber umfassend diskutiert.
Ich habe schon damals für unseren Antrag „Vorsorgende
Verbraucherpolitik gestalten und stärken“ geworben und
möchte das auch heute tun. Konzentrieren möchte ich
mich heute allerdings auf den Bereich der Lebensmittelsicherheit, zum einen, weil dies die Menschen am meisten interessiert, und zum anderen, weil die Opposition
nicht müde wird, uns Untätigkeit vorzuwerfen.
Wie oft haben wir uns anhören müssen, wir würden nur
ankündigen und nicht handeln?
({0})
Wie oft steigerten sich die Vorwürfe dahin, dass auch in
den rot-grünen Ländern nur geredet, in den unionsregierten dagegen gehandelt würde?
({1})
Sie haben hier und im Verbraucherausschuss hohe Ansprüche an die Verbraucherministerin gestellt.
({2})
Sie haben eine Kampagne begonnen, die man gutwillig
als Wahlkampf bezeichnen kann. Wenn man aber gleichzeitig sieht, wie die CSU in Bayern mit ihren Versäumnissen im Fall Milan umgeht, dann wundere ich mich,
warum Sie diese Debatte zur Kernzeit und nicht um
23.45 Uhr führen wollen. Ich bewundere Ihren Mut, diese
Kampagne weiterzuführen.
Gibt es eine Aktion der Bayerischen Staatsregierung,
die den Ansprüchen gerecht wird, die Sie in den letzten
Wochen an das Bundesverbraucherministerium gestellt
haben? Dann dürfen Sie aus der Ecke, in der Sie sich eigentlich schämen sollten, wieder zurückkommen.
({3})
Ich möchte die Vorgänge in Bayern kurz darstellen, da
sie deutlich machen, worin die Probleme eigentlich liegen.
Erstens. Nach EU-Recht ist klar: Rindfleisch von Tieren, die älter als 24 Monate sind, ist nur dann verkehrsfähig, wenn es in einem zugelassenen Labor negativ auf
BSE getestet wurde.
({4})
Das heißt: Das Fleisch, das bei Milan in Westheim getestet wurde, ist nicht verkehrsfähig. Staatsminister Sinner
hat dies auch am 23. Januar so gesagt. - Herr Straubinger,
vielleicht fragen Sie einmal bei Ihrem Minister nach. Warum wurde dies bis heute vom zuständigen Staatsministerium nicht rechtswirksam festgestellt?
Zweitens. Es ist klar: Milan in Passau hat keinen Antrag auf Zulassung der Filiale in Westheim gestellt. Wie
kann es aber passieren, dass ein Labor ein halbes Jahr lang
mit Behörden und Amtstierärzten zusammenarbeitet,
ohne dass irgendjemandem auffällt, dass dieses Labor gar
nicht auf der Liste steht?
({5})
Haben Sie diese Liste eigentlich schon einmal gesehen?
Am 15. Januar 2002 standen auf dieser Liste 25 Labors
und zwei Zweigstellen.
({6})
Die Prüfung der Frage, ob Milan in Westheim eine Zulassung hat, dürfte auch einem Laien nicht schwer fallen.
({7})
Fällt eigentlich niemandem im bayerischen Verbraucherschutzministerium etwas auf, wenn von einem nicht zugelassenen Labor Probeergebnisse gemeldet werden?
({8})
Wenn sich die Bayerische Staatsregierung damit rühmt,
umfangreiche Lieferverträge mit Russland abgeschlossen
zu haben und Hauptlieferant von Mc Donald‘s zu sein,
aber ein nicht zugelassenes Labor akzeptiert,
({9})
dann kann das so nicht in Ordnung sein.
Lassen Sie mich noch einmal auf die Zuständigkeiten
hinweisen - das muss ganz klar auseinander gehalten
werden -: Zuständig für die Kontrollen und die Zulassung
der Labors sind die Länder. Ein nicht zugelassenes Labor
wird logischerweise aber auch nicht kontrolliert, weil davon ja angeblich nichts bekannt ist. Der Bund ist für die
Rahmengesetzgebung und die Koordination zwischen
den Ländern zuständig. Der Bund hat in seinem Zuständigkeitsbereich die Hausaufgaben gemacht.
({10})
Das hilft aber nichts, wenn ein Bundesland lieber Blindekuh spielt, als zu kontrollieren.
({11})
Was haben wir im Bund erreicht? Die Bundesregierung
hat kurz nach dem Auftreten der ersten BSE-Fälle nicht
nur die Aufgaben des Verbraucherschutzes im neuen Verbraucherschutzministerium konzentriert, sondern auch
bei der Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der
Verwaltung, Dr. Hedda von Wedel, eine Schwachstellenanalyse zum gesundheitlichen Verbraucherschutz im Lebensmittelbereich in Auftrag gegeben.
({12})
Dieses Gutachten wurde am 10. Juli der Bundesregierung
übergeben. Es enthält insbesondere die Anforderung, Risikobewertung und Risikomanagement zu trennen.
({13})
Dazu werden seit dem 1. Januar das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sowie das
Bundesinstitut für Risikobewertung eingerichtet.
({14})
- Ich weiß nicht, ob Sie diese Zeitung in Schleswig-Holstein so intensiv lesen, dass Sie das beurteilen können.
({15})
Wir ziehen somit die notwendigen Konsequenzen aus der
Schwachstellenanalyse und verbessern insbesondere die
Koordination zwischen Bund, Ländern und Europäischer
Union.
({16})
Gleichzeitig haben wir aber auch die rechtlichen Vorgaben verschärft. Mit der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die Durchführung der amtlichen Überwachung nach dem Fleischhygienegesetz und dem Geflügelfleischhygienegesetz sowie der Änderung der Lebensmittelkontrolleur-Verordnung haben wir unseren
Beitrag zur Verbesserung und Vereinheitlichung der
Lebensmittelkontrollen geleistet.
({17})
- Mit dem Unterschied, dass bei uns in den Behörden gearbeitet wird!
({18})
Mit zahlreichen Verordnungen haben wir aus Gründen
des vorbeugenden Verbraucherschutzes Stoffe verboten.
Mit Kennzeichnungsregelungen haben wir für bessere
Transparenz gesorgt. Wir haben gerade im Bereich der
Futtermittel wesentliche Fortschritte in Bezug auf Sicherheit und Transparenz erreicht.
({19})
Wir können sagen, denke ich: Die Lebensmittel werden beständig sicherer. Dies ist auch notwendig. Die
Preisentwicklungen zeigen, dass wir es geschafft haben,
dass die Verbraucherinnen und Verbraucher wieder Vertrauen in die Lebensmittel haben.
({20})
Die BSE-Krise ist noch nicht vorbei. Der Absatz und die
Preise werden aber wieder besser.
({21})
Auch in Zukunft werden wir auf Qualität setzen müssen. Ich sehe darin die Zukunftsperspektive für unsere
Landwirte.
({22})
Dazu müssen sie sich aber darauf verlassen können, dass
die Qualitätssicherungssysteme - nichts anderes sind
das Lebensmittel- und Futtermittelrecht und die darin vorgeschriebenen Kontrollen - funktionieren. Das heißt, dass
auch Bayern endlich die Verantwortung für die Lebensmittelsicherheit in seinem Zuständigkeitsbereich übernehmen muss. Hinsehen statt Wegsehen! Handeln statt
Reden!
({23})
Wann kommt eigentlich die Pressemitteilung der CSULandesgruppe, die das von Staatsminister Sinner fordert?
({24})
„BSE-Schlamperei wird teuer“, titelte die „taz“ am
25. Januar und sprach schon von einem drohenden Exportverbot. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen.
Wir alle hier sind froh, dass sich der Rindfleischmarkt
wieder erholt und die Bauern wieder mehr Geld für ihr
Fleisch bekommen.
Ich will aber trotzdem eines klarstellen: Wenn jetzt das
Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher, das wir
mühsam wieder aufgebaut haben, erneut verloren geht
und wenn dies Folgen für die Märkte hat, dann trägt die
Verantwortung dafür ganz allein das Land Bayern.
({25})
Wir haben die weitergehenden Anträge zum Verbraucherschutz gestellt. Unsere bisherigen Maßnahmen zeigen, dass wir sie auch umsetzen werden. Nur mit dem Anspruch, Verbraucherschutz grundlegend anzupacken,
werden wir dem Thema gerecht.
({26})
Daher bitte ich nochmals darum, unsere Anträge zu unterstützen.
({27})
Nächste Rednerin ist
Kollegin Simone Violka für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreulich, dass
durch die freiwillige Regelung der Kreditwirtschaft innerhalb von vier Jahren die Zahl der so genannnten „Girokonten für jedermann“ von circa 250 000 auf rund
1,1 Millionen angewachsen ist.
({0})
- Das ist das Thema, das auf der Tagesordnung steht. Das
ist nicht mein Problem.
Trotz dieser positiven Entwicklung sehen wir noch immer Handlungsbedarf; denn es gibt nach wie vor Fälle, in
denen Kreditinstitute die Empfehlungen des Zentralen
Kreditausschusses nicht beachten und eine Ablehnung
der Einrichtung eines Girokontos bzw. eine Kontokündigung zu Unrecht erfolgt.
Auf der Liste der Tagesordnungspunkte steht auch dieser Punkt. Das sind zwar PDS-Anträge; aber ich hoffe,
auch die CDU/CSU hat es jetzt gefunden.
({1})
Es ist für mich unverständlich, wieso die CDU/CSU im
Hinblick auf dieses Thema keinen Handlungsbedarf sieht.
Das zeigt auch die jetzige Unruhe. Mit Grauen erinnere
ich mich an die Bezeichnung, die im Ausschuss von Ihrer
Seite für diesen Personenkreis verwendet wurde. Für Sie
sind diese Menschen „statistische Restgrößen“. Ich halte
es für eine Unverschämtheit, Menschen als statistische
Restgrößen zu bezeichnen, ganz gleich, in welchem Zusammenhang.
({2})
Es ist sehr zu begrüßen, dass die Verbände der inländischen Kreditwirtschaft Beschwerde- und Schlichtungsstellen eingerichtet haben bzw. es in einem Fall zum April
dieses Jahres tun werden. Wie dringend notwendig diese
Stellen sind, zeigt auch die Auswertung der AG
Schuldnerberatung der Verbände. Dort wurde festgestellt, dass lediglich bei 23 von 298 Fällen, also bei nur
7,7 Prozent, die Verweigerung der Einrichtung eines Girokontos tatsächlich nachvollziehbar war. Bei den von der
Bank aus gekündigten Girokonten verhält es sich ähnlich.
Erstaunlich ist auch, dass die meisten Menschen, die
kein Girokonto bekommen können, ausgerechnet aus
Bayern kommen. An zweiter Stelle bei solchen Verweigerungen steht Hessen. Vielleicht erkennen Sie aufgrund
dessen doch einen gewissen Handlungsbedarf, zumindest
die CSU-Landesgruppe.
({3})
Um das auswerten zu können, sind Unterlagen vonnöten.
({4})
- Das sind übrigens Zahlen, die sich auf den Zeitraum vor
2000 beziehen. An dritter Stelle rangierte Berlin. Ich
glaube, an dessen Regierung war die CDU auch beteiligt.
({5})
- Ja, als kleiner Partner. Das hat sich aber inzwischen
geändert.
Daher wurde in einer Besprechung der AG Schuldnerberatung der Verbände mit den vier Verbänden der deutschen Kreditwirtschaft unter Beteiligung des BMF und
des BMFSFJ über einen Vorschlag beraten, Ablehnungen
und Kündigungen künftig schriftlich zu begründen und
auf die zuständige Schlichtungsstelle hinzuweisen. Diese
Vorschläge wurden vom Deutschen Sparkassen- und
Giroverband und vom Bundesverband der Deutschen
Volksbanken und Raiffeisenbanken auch angenommen.
Lediglich der Bundesverband deutscher Banken lehnte
sie weiterhin ab.
Dennoch stimme ich dem PDS-Antrag nicht zu, aus
dem hervorgeht, die freiwillige Selbstverpflichtung habe
ihr Ziel verfehlt. Ich sehe viele aufgrund der Selbstverpflichtung erzielte Fortschritte. Leider haben noch nicht
alle Banken bzw. Verbände die Einsicht in diese Notwendigkeit. Aber ich halte es für verfrüht, bereits jetzt eine gesetzliche Regelung zu treffen.
Es gibt eine kontinuierliche Berichterstattung. Damit
wird sichergestellt, dass dieses Thema nicht aus den Augen verloren wird. Gleichzeitig haben die Institute Zeit,
sich weiter um eine selbstständige Lösung zu bemühen.
Selbstverständlich behalten wir uns aber vor, eine gesetzJella Teuchner
liche Regelung zu verabschieden, wenn es keine weitere
spürbare Verbesserung gibt.
({6})
Das gilt auch für das Problem der Mehrfachpfändungen.
Ich fordere daher von dieser Stelle aus vor allem die
privaten Banken auf, ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. Es kann nicht sein, dass sie sich nur
die Rosinen aus dem Kundenmarkt herauspicken und einige dabei auf der Strecke bleiben. Das ist auf Dauer nicht
hinnehmbar, ebenso wenig wie die Abwälzung der Kosten auf die öffentliche Hand. Den Kommunen und den
Rentenversicherungsträgern entstehen nämlich enorme
Kosten, wenn der Empfänger nicht am bargeldlosen Zahlungsverkehr teilnehmen kann.
Der zweite Antrag der PDS - darin geht es um die
Euro-Einführung - ist in Teilen bereits überholt. Die angesprochene Hotline gab es schon vor Antragstellung;
dieser Punkt kann also abgehakt werden. Im Übrigen ging
die Euro-Einführung weitestgehend reibungsloser vonstatten, als im Vorfeld gedacht. Der Euro setzte sich schon
nach kürzester Zeit als neues Zahlungsmittel durch.
({7})
Die Gruppe der Bürgerinnen und Bürger, die momentan leider kein Girokonto besitzen, konnte und kann noch
in D-Mark bezahlen und bekommt ihr Geld durch das
Wechselgeld automatisch umgetauscht. - An dieser Stelle
geht ein Dank an den Handel, der eine enorme Kraftanstrengung unternommen und zu einem reibungslosen Ablauf beigetragen hat. Das ist schließlich nicht selbstverständlich.
Bei größeren Summen wäre es Leuten ohne Girokonto
auch möglich gewesen, das Geld auf ein Sparbuch einzuzahlen und so den Barumtausch zu umgehen. Zudem können bei den Landeszentralbanken auch zukünftig DM-Beträge kostenfrei umgetauscht werden.
Ich denke, damit sind die Interessen der Bürgerinnen
und Bürger ausreichend geschützt. Somit kann der Antrag
der PDS abgelehnt werden.
({8})
Ich erteile jetzt dem
bayerischen Staatsminister für Gesundheit, Ernährung
und Verbraucherschutz, Eberhard Sinner, das Wort.
Eberhard Sinner, Staatsminister ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Bundesministerin Künast, ich habe Ihnen eben zugehört und
kann bestätigen: Was große Reden anbetrifft, sind Sie
Spitze.
({2})
Da ich mit Ihnen im Wettbewerb stehe, möchte ich aber
auch sagen: Wir haben lieber leisere Töne, aber dafür
mehr Taten. Und da glänzen Sie nicht so.
({3})
Ich will es an Beispielen verdeutlichen: Wo bleiben
denn Ihre BSE-Tests? Die BSE-Tests wurden ausschließlich von den Ländern durchgeführt. Sie haben sie nicht
einmal finanziert.
({4})
Wo bleiben denn Ihre Initiativen hinsichtlich der Klärschlammverordnung? Wissen Sie nicht, wie viele Arzneimittelrückstände im Klärschlamm vorhanden sind?
({5})
Seit November liegt ein entsprechender Antrag von uns
im Bundesrat. - Sehr geehrte Frau Künast, welcher Verbraucher hat Sie aufgefordert, wieder Fischmehl zuzulassen? Sie spielen russisches Roulette mit der Sicherheit der
Verbraucher und der Existenzfähigkeit der Landwirte.
({6})
Bei mir hat kein Verbraucher angerufen. - Was haben Sie
mit dem Ökosiegel gemacht? Sie haben eine grafische Arbeit einer zehn Jahre alten Verordnung abgeliefert und für
Verunsicherung gesorgt, weil in ein und demselben Betrieb sowohl konventionell als auch ökologisch produziert
werden darf. Und die Länder sollen das kontrollieren.
Meine Damen und Herren, ich gehe gerne auf den Fall
Milan ein. Hier hat ein illegales Labor unter dem Deckmantel eines zugelassenen Labors gearbeitet - leider,
muss ich sagen; ich bedaure es. Wir haben dies aufgedeckt
und, da dieses Labor nicht kooperationsbereit war, letzten
Endes mithilfe der Staatsanwaltschaft festgestellt, was
dort geschehen ist. Alle Unterlagen, die vorhanden waren,
sind sichergestellt und von uns ausgewertet worden. Auch
das betroffene Fleisch ist, soweit wir Zugriff hatten, sichergestellt worden. Leider hat aber auch die Fleischfirma
nicht mit uns kooperiert, sondern ist vor Gericht gegangen
und hat bis zur Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof in Bayern die Herausgabe der Daten verweigert.
({7})
Sehr geehrte Frau Künast, wir haben von Anfang an
mit Ihnen und Ihrem Haus in Kontakt gestanden. Staatssekretär Müller, der, wie ich meine, von der Sache in manchen Dingen mehr versteht als Sie - Gott sei Dank -,
({8})
hat am 14. Januar mit mir gesprochen und wir haben nachfolgend alles im Einvernehmen bewerkstelligt. Wenn Sie
jetzt solche Probleme mit dem Rindfleisch haben, dann
frage ich Sie: Was haben Sie denn in der Zeit vom 15. bis
zum 28. Januar gemacht? Bis zum 29. Januar haben Sie
geschwiegen. Sie waren in Ihrem Haus auf der Suche nach
Post, weil Sie nicht einmal mit Schnellmeldungen umgehen können. Dann werfen Sie den Ländern - sie haben auf
diesem Gebiet in brutaler Form mit Illegalität zu tun auch noch vor, geschlampt zu haben.
({9})
Nein, Frau Künast, wir haben aufgedeckt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Das ist die Tatsache.
({10})
Jetzt gehen Sie auf uns los. Ich verweise auf das Protokoll des Landwirtschaftsausschusses. Sie haben in der
entsprechenden Sitzung über einen besseren Zugriff diskutiert. Auch Ihr Staatssekretär war dabei und hatte keine
besseren Vorschläge. Das ist leider so. Auf diesem Gebiet
gibt es sicherlich Handlungsbedarf. Das gebe ich gerne
zu. Es fehlen gesetzliche Grundlagen. Wenn Sie aber mit
illegalen Machenschaften zu tun haben, müssen Sie eingreifen und durchgreifen.
({11})
Wir tun das konsequent.
Jetzt komme ich zu Ihrer Frage: Was ist mit der Verkehrsfähigkeit? Leider ist es so, dass wir bis zum letzten
Mittwoch nicht wussten, was mit dem Fleisch los war. Darum habe ich gesagt: Das gesamte Fleisch ist nicht verkehrsfähig. Dann haben wir von der Staatsanwaltschaft
neue Unterlagen erhalten, die vom Landeskriminalamt
und von unserem Landesamt ausgewertet worden sind.
Als Ergebnis lag uns in der Nacht des letzten Sonntags die
Mitteilung vor, dass sich die Anzahl der problematischen
Fälle auf 46 reduziert und dass das restliche Fleisch materiell in Ordnung ist.
Was ist das für ein Risiko? Ich sage: Ein wichtiger
Punkt ist, dass das Fleisch formal nicht in Ordnung ist,
auch wenn es materiell so sicher wie Rindfleisch aus der
Schweiz ist, wo der BSE-Test bis heute nicht durchgeführt
wird. Das Fleisch aus der Schweiz ist auch in Deutschland
verkehrsfähig.
({12})
Fraglich ist deswegen, ob man nachträglich Korrekturen
vornehmen kann.
Sehr geehrte Frau Künast, nicht Sie haben mir Ihre
Kontrolleure geschickt, sondern ich habe mit Ihrem
Staatssekretär vereinbart, dass Ihre Mitarbeiter kommen
und überprüfen, was wir gemacht haben, weil wir Transparenz wollen und diese Schritte schwierig zu vermitteln
sind.
({13})
Das Gutachten Ihrer Mitarbeiter besagt, dass insgesamt
38 390 Partien in Ordnung sind, dass bei der EU die Verkehrsfähigkeit beantragt werden kann und dass letzten
Endes noch 38 Schlachtkörper, die wir ermittelt haben,
problematisch sind.
({14})
Das ist das Ergebnis.
Sehr geehrte Frau Künast, wir haben gestern die Entscheidung, die Sie von uns verlangt haben, getroffen, damit Sie auf der EU-Ebene endlich handeln. Natürlich bin
ich bereit - das habe ich sofort erklärt -, die Sicherstellung - unsere wie auch die der anderen Länder - aufrecht
erhalten. Sie haben jetzt die Aufgabe, auf der EU-Ebene
schnellstmöglich zu klären, wie es weitergeht. Das ist Ihr
Job.
({15})
Wenn der Veterinärausschuss am 15. Februar tagt, dann
müssen Sie die Weichen stellen, damit früher entschieden
und früher gehandelt werden kann.
({16})
Auch wir machen unsere Hausaufgaben.
({17})
Ich möchte betonen, dass die Erkenntnisse aus dem Fall
Milan sehr deutlich zeigen, dass wir dafür sorgen müssen,
dass bei den Schnelltests die staatliche Regie mehr als bisher greift. Wir müssen ein Gesetz in Bezug auf das mobile
Veterinärteam in Bayern schaffen, damit wir dieselben
Zugriffsmöglichkeiten wie die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft erhalten. Wir müssen ein System der Qualitätssicherung aufbauen. Wir müssen die Überwachungsmaßnahmen verstärken. Wir müssen letzten Endes
Experten aus dem Landesamt einbeziehen.
Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Bundesministerin, der Fall Milan zeigt, dass es sich nicht auszahlt, wenn Unternehmen in solchen Fällen - Milan und
Südfleisch - nicht mit dem Verbraucherschutz kooperieren.
({18})
Die Schäden sind sonst umso größer - Das ist die erste
Botschaft.
Die zweite Botschaft ist, dass die Eigenverantwortung
der Wirtschaft nicht durch noch so viele staatliche Kontrollen ersetzt werden kann. Es ist bezeichnend, Frau
Teuchner, dass der Chef des Qualitätsmanagements bei
Südfleisch von Anfang an wusste, dass in Westheim getestet wurde, dass dieses Labor aber unter dem Deckmantel
des zugelassenen Labors von Passau gearbeitet hat.
({19})
Staatsminister Eberhard Sinner ({20})
Ich erkläre Ihnen - privatissime et gratis -, was der Unterschied zwischen einem amtlichen Tierarzt und einem
Amtstierarzt ist.
Die letzte Bemerkung, sehr geehrte Frau Künast: Wir
brauchen bei der Aufklärung und bei der Verfolgung solcher Vorfälle die Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern. Sie haben diese Zusammenarbeit bis zum
29. Januar perfekt gemacht. Dafür danke ich Ihrem Staatssekretär. Nach dem 29. Januar haben Sie aber entdeckt,
dass sich dieses Thema wohl zu Wahlkampfzwecken eignet.
({21})
Das war Ihre Aussage. Kehren Sie wieder zur sachlichen
Arbeit zurück! Lassen Sie das Wahlkampfgetöse! Der
Verbraucherschutz ist zu wichtig, als dass wir uns streiten
könnten. Natürlich könnte ich Ihnen auch Ihr Versagen bei
dem Import der verseuchten Shrimps vorwerfen, wobei
man sagen muss, dass Kontrollen auf diesem Gebiet eher
überwacht werden können als 700 000 BSE-Tests in Bayern. Kehren Sie also zur sachlichen Arbeit zurück! Lassen
Sie den Verbraucherschutz nicht auf der Strecke! Arbeiten
Sie mit uns bei der Bekämpfung illegaler Machenschaften
weiter zusammen!
Ein letztes Wort: Leider gibt es in der Branche, mit der
wir es zu tun haben, eine Unkultur - ich drücke es derbbayerisch aus - des Bescheißens. Diese Unkultur muss
durch eine Kultur des Vertrauens und der Transparenz ersetzt werden. Das sollte unser gemeinsames Ziel sein.
Danke schön.
({22})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Matthias
Berninger.
Herr Minister Sinner, Sie haben die Rückkehr zur Sachlichkeit gefordert. Sie haben des Weiteren auf den gemeinsamen Bericht vom gestrigen Abend hingewiesen,
der in der Tat die Ergebnisse der Untersuchung der Zustände in Bayern wiedergibt. Die Untersuchung wurde gemeinsam von unseren Experten und von Experten der
Bayerischen Staatsregierung durchgeführt. Ich möchte
feststellen, dass Sie, schon bevor die Ergebnisse dieser
Untersuchung vorlagen, per Pressemitteilung und Brief
angekündigt haben, dass große Teile des betreffenden
Fleisches unbedenklich seien.
Lassen Sie mich aus dem Bericht zwei Stellen zitieren,
die nach meiner Meinung für die Debatte sehr interessant
sind. Die erste Stelle lautet:
Ungeachtet der nachfolgenden Ausführungen muss
festgestellt werden, dass das Labor keine Zulassung
für die Durchführung solcher Untersuchungen besaß.
({0})
- Ich bin noch nicht fertig.
Im Rahmen der von der EU vorgeschriebenen
fleischhygienischen Untersuchungen dürfen BSESchnelltests jedoch ausschließlich in den von den zuständigen Behörden zugelassenen Labors durchgeführt werden.
({1})
Jetzt kommt der entscheidende Satz:
Deshalb ist unabhängig von der Bewertung eines
möglichen BSE-Risikos für den Menschen die
Verkehrsfähigkeit des Fleisches dieser Schlachttiere
zu prüfen.
Sie haben den Bericht der Experten nicht abgewartet. Sie
haben also ohne Prüfung die Verkehrsfähigkeit des Fleisches angekündigt.
An einer anderen Stelle des Berichts wird auf das Personal eingegangen - das ist ein spannender Punkt -:
Aufgrund der fehlenden diesbezüglichen Dokumente können zum Personalstand ({2}), zur Qualifikation der Mitarbeiter und zur Regelung der Verantwortlichkeiten
keine Aussagen gemacht werden.
Wie kann man dann einen Persilschein ausstellen? Das ist
uns völlig unverständlich.
({3})
In dem Bericht heißt es weiter:
Schließlich bleibt festzuhalten, dass das Labor
Milan-Westheim aufgrund der fehlenden Zulassung
keiner amtlichen Überwachung unterlag und damit
auch keine amtlichen Kontrollen stattfinden konnten.
({4})
Wenn man zur Sachlichkeit zurückkehren will, dann ist es
vor diesem Hintergrund angemessen, wenn Sie erklären,
warum Sie im Laufe eines Tages Ihre Position zweimal
geändert haben. Mit Ihrem ständigen Hin und Her verunsichern Sie nicht nur die Verbraucher. Sie gefährden damit auch mindestens 3 500 Arbeitsplätze in Bayern. Wir
hatten - mein Kollege Staatssekretär Müller hat mit Ihnen
darüber diskutiert; ich war bei einem Teil der Telefonate
anwesend - von Ihnen eine Entscheidung verlangt. Kaum
hatten Sie entschieden - das zeigt der gestrige Tag -, stand
schon fest, dass Sie Unsinn entschieden hatten.
({5})
Zur Erwiderung Herr
Staatsminister Sinner, bitte.
Eberhard Sinner, Staatsminister ({0}): Sehr geehrter Herr Staatssekretär Berninger, das, was Sie mir beStaatsminister Eberhard Sinner ({1})
richtet haben, ist ja ungeheuer neu. So schlau waren wir
auch schon vorher.
Wir haben die von Ihnen angesprochene Entscheidung
nicht umgesetzt. Sie verlangen ständig, dass wir entscheiden. Soll ich entscheiden, dass das Fleisch nicht verkehrsfähig ist, oder nicht? Wir haben damit zumindest die
Telefonkonferenz erzwungen,
({2})
bei der wir uns abstimmen konnten und bei der ein Weg
aufgezeigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt lagen die Ergebnisse noch nicht vor. Wir haben bis letzten Sonntag ermittelt. Erst nachts lagen die Ergebnisse vor, weil die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft äußerst mühsam
waren. Wir haben erst in der zweiten Wochenhälfte aufgrund der Unterlagen der Bundesforschungsanstalt für
Viruskrankheiten erfahren, dass der betreffende Laborleiter - er war zunächst nicht erreichbar - sechs Jahre dort
gearbeitet hat. Das heißt, die Mitwirkung der Betroffenen
an der Aufklärung war - leider - alles andere als positiv.
Ich kenne die Rechtslage.
Ich möchte, dass aufgrund des nun vorliegenden Berichts so verfahren wird, wie Ihre und meine Experten es
vorgeschlagen haben, nämlich dass bei der Europäischen
Kommission angefragt wird, ob es möglich ist, die prinzipielle Verkehrsfähigkeit der 38 390 Schlachttiere, die
mit negativem Ergebnis getestet worden sind, erneut zu
überprüfen. Das ist der Kernpunkt. Erst mit unserem
Schreiben ist Bewegung in die Sache gekommen.
Sie können nicht auf der einen Seite Entscheidungen
aufgrund unserer Ermittlungen einfordern und auf der anderen Seite dann, wenn wir diese getroffen haben, sagen,
diese seien falsch. Hätte ich gesagt, das Fleisch sei nicht
verkehrsfähig, dann hätten Sie überhaupt nichts mehr
weiterleiten müssen. Dann wäre der Fall beendet gewesen. Dann hätte es nur noch verbrannt werden können. So
gibt es noch die Chance, dass man dieses Fleisch über die
EU-Kommission - da stimme ich Ihnen völlig zu - anhand der Ermittlungsberichte, die wir verfasst haben,
noch einmal prüfen lässt. Das ist unsere Forderung an Sie,
das zu machen. Das ist Ihr Job. Den kann ich Ihnen nicht
abnehmen.
Danke.
({3})
Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
({0})
Ich
finde das nicht lustig, worüber wir heute diskutieren. Es
handelt sich um eine sehr ernst zu nehmende Krise mit
möglicherweise enormen Auswirkungen.
Gestern Morgen wollten Sie, Herr Sinner, das Fleisch
freigeben. Gestern Abend wurde es sichergestellt. Das ist
sehr wohl Anlass genug, dass wir uns hier im Deutschen
Bundestag mit diesen Vorfällen beschäftigen.
({0})
- Ich wollte eigentlich eine andere Rede halten; das ist
schon richtig. Ich wollte davon sprechen, dass erstmals
seit Jahren die finanzielle Förderung der Verbraucherschutzarbeit auf Bundesebene verbessert worden ist, dass
die Modernisierung des Schuldrechtes sehr wohl sehr
viele positive Auswirkungen hat, und über das Verbraucherinformationsgesetz. Die Darstellungen von Frau
Kopp waren ja ein Widerspruch in sich. Die FDP springt
immer als Tiger und landet als Bettvorleger.
({1})
Sie hat nämlich beim Verbraucherinformationsgesetz gefordert, dass eine Auskunftspflicht der Wirtschaft doch bitte
schön nicht festgeschrieben werden solle und einiges mehr.
({2})
Nur, diese Rede muss ich jetzt beiseite legen, weil unser Thema nun die vorsorgende Verbraucherschutzpolitik
ist. Das gilt für den Lebensmittelbereich genauso wie für
den Non-Food-Bereich. Deswegen muss ich hier auf
BSE und die nicht durchgeführten Tests in Bayern zu
sprechen kommen. Bayern ist und bleibt BSE-Land Nummer eins.
({3})
In Bayern ist leider auch der erste große Kontrollskandal
seit der Krise im letzten Jahr aufgetreten. Man muss sich
einmal vor Augen führen, was das für Konsequenzen hat.
Es geht um das Vertrauen der Verbraucher, das wir und
Frau Künast gemeinsam mit der Wirtschaft und dem Handel im letzten Jahr wieder mühsam aufgebaut haben. Das
heißt, dass Sie das, was wir vorne aufbauen, hinten wieder einreißen.
({4})
Fehlendes Vertrauen der Verbraucher richtet aber auch
einen Riesenschaden in der Wirtschaft an, nicht nur bei
den Bauern in Bayern, sondern auch bei denen in Rheinland-Pfalz. Auch der Schlachthof Zweibrücken in der
Nordpfalz ist von dem drohenden Bankrott der Südfleisch
betroffen. Herr Berninger hat gerade darauf hingewiesen,
dass 3 500 Arbeitsplätze in ländlichen und strukturschwachen Regionen in Gefahr sind;
({5})
Staatsminister Eberhard Sinner ({6})
mit ihrem Vorgehen bringen CDU/CSU diese erst recht in
Gefahr.
({7})
Was bedeutet das eigentlich für den Betrieb McDonalds? Auch bei dem Unternehmen, das sich bemüht hat,
Qualitätsfleisch auf den Markt zu bringen und Transparenz herzustellen, sind Arbeitsplätze gefährdet. Die haben
viele Tonnen dieses Fleisches auf Lager und es ist nicht
klar, wie sie jetzt damit verfahren können.
Was denken Sie eigentlich, wer die Kosten für die
Schiffe bezahlt, die jetzt nach Nordkorea unterwegs sind? 900 Millionen hat der Bund bereits in die
Bewältigung der BSE-Krise gesteckt. Wir verlangen, Herr
Minister Sinner, dass die Folgen dieses Skandals von
Bayern getragen werden.
({8})
Wir wenden uns ja immer so schön an Herrn Sinner, aber
eigentlich verantwortlich dafür ist der Ministerpräsident
Stoiber.
({9})
Was heißt das? Die erste Bewährungsprobe nach den vollmundigen Versprechen wurde von seinem Musterländle
überhaupt nicht bestanden. Sie haben versagt und keine
Konsequenzen gezogen.
({10})
Das ist kein Zufall, sondern das ist System. Auch das
muss man dazu sagen. Es fängt bei der Verharmlosung an,
zu der auch der Deutsche Bauernverband beiträgt, indem
er die BSE-Erkrankungen als Einzeltiererkrankungen verharmlost.
({11})
Das geht weiter, indem in Süddeutschland, aber auch in
anderen Bundesländern BSE-Labors unter Druck gesetzt
werden, sodass fast nur noch ein einziges dort diese Tests
durchführt, und zwar unter Bedingungen, die, wie wir
hören, mehr als skandalös sind. Das ist nicht nur ein
Leichtsinn, sondern eine Fahrlässigkeit, eine vorsätzliche
Sicherheitsgefährdung der Verbraucher und sehr wohl ein
Thema für die innere Sicherheit, für die Geld zur Verfügung gestellt werden sollte.
Ich will an etwas erinnern, was Sie vielleicht schon
wieder vergessen haben und was zum Beispiel in dem Bericht von Herrn Groschup von der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten von Mitte letzten Jahres
steht. In diesem Bericht wurde darauf hingewiesen, dass
in den nächsten zehn Jahren Hunderte von Menschen in
ganz Europa an den Folgen von BSE sterben werden und
dass nach Hochrechnungen allein im laufenden Jahr
36 Menschen an dieser neuen Krankheit erkranken. Es
wurde prognostiziert, dass sich die Zahl der Erkrankungen etwa alle drei Jahre verdoppelt und dass in Großbritannien im Jahr 2010 der Höhepunkt der Epidemie erreicht wird,
({12})
und es wurde zum Ausdruck gebracht, dass wir noch immer nicht die Inkubationszeit und den Erreger kennen und
nicht wissen, welche Gefahren davon ausgehen.
({13})
Eine Fahrlässigkeit angesichts einer solchen Sicherheitslage ist unglaublich.
({14})
Ministerpräsident Stoiber hat auf der letzten Grünen
Woche erklärt, die Bauern seien Opfer der BSE-Krise
und nicht Täter. Ich finde, sie sind alle Opfer dieser
bayerischen Regierung, Opfer eines Systems Stoiber.
({15})
Sie haben ja sehr hohe Ansprüche an den Verbraucherschutz gestellt. Wir haben im Rahmen der BSE-Maßnahmen - auch das ist noch einmal angekreidet worden - folgende Maßnahmen ergriffen: Tiermehlverfütterungsverbot,
Entfernen von Risikomaterialien - von der CDU/CSU heftig bekämpft -,
({16})
BSE-Tests, Töten von Rindern, Investition von 27 Millionen DM in die BSE-Forschung - all diese Maßnahmen
sind von der rot-grünen Regierung, von der Ministerin
Renate Künast, ergriffen worden.
Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir
uns an den Ansprüchen des vorsorgenden Verbraucherschutzes messen lassen müssen, nämlich im Falle der
Shrimps. Dazu muss man erstens sagen: Dass diese
Shrimps überhaupt europaweit, also auch in den Niederlanden, kontrolliert worden sind, war die Initiative von
Renate Künast, von der deutschen Bundesregierung.
({17})
Zweitens. Als sich in ihrem Ministerium Verzögerungen von 14 Tagen ergeben haben, hat sie sofort gehandelt.
({18})
Drittens hat sie dafür gesorgt, dass aufgrund dieser
Fehler der Import aller tierischen Produkte aus China jetzt
unterbunden wird.
({19})
Renate Künast hat das durchgesetzt, was immer verlangt
wird.
({20})
Insofern gibt es hier eine riesige Differenz zwischen
der Art und Weise, wie in Bayern verfahren wird, und der,
wie aufseiten der Bundesregierung mit dem vorsorgenden
Verbraucherschutz umgegangen wird.
Dazu möchte ich aus der Presseerklärung von Herrn
Ronsöhr zitieren, wo er verlangt, „souverän die Verantwortung zu übernehmen“. - Ich möchte gerne, dass all
diese Forderungen in Bezug auf das Übernehmen von
Verantwortung, die Sie in großer Breite in der Ausschusssitzung an Frau Künast formuliert haben, an den bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber gerichtet werden.
({21})
Ein letztes Wort zum Verbraucherschutz und zu den
Pflanzenschutzmitteln. Wir haben bei den Pflanzenschutzmitteln den gleichen Anspruch wie in den anderen
Bereichen des Verbraucherschutzes, der von Ihrer Seite
nicht geäußert wird. Aber zu den Bauern, die hier die Opfer sind, wie gerade Sie vollmundig behaupten, muss man
sagen: Ähnlich wie im Fall von BSE, ähnlich wie im gesamten Lebensmittelbereich haben wir hier die Situation,
dass 1991 von der alten Bundesregierung ein Gesetz erlassen wurde, dann sieben Jahre nichts passierte und
schließlich 1998 von der alten Bundesregierung das
Pflanzenschutzgesetz erlassen wurde, das Sie jetzt so heftig kritisieren. Auch hier müssen wir die Folgen tragen,
sowohl beim vorsorgenden Verbraucherschutz als auch
im originären landwirtschaftlichen Bereich, und müssen
die Probleme von dieser Bundesregierung gelöst werden.
({22})
Ich denke, wir haben allen Grund, uns gerne diesen
Debatten zu stellen. Wir dürfen auch als Parlament in der
Aufmerksamkeit bezüglich dieses Sektors nicht nachlassen. Das Motto kann hier nicht sein, alles laufen zu lassen,
sondern es müssen gut begründete Rahmenbedingungen
im Agrarbereich geschaffen werden, die dann auch entsprechend kontrolliert werden.
Danke schön.
({23})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Peter
Harry Carstensen.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es erstaunt mich - das konnte man auch bei der Rede der Kollegin Höfken wieder hören -, dass man mit solch unterschiedlichem Maß misst. Wenn im Ministerium Künast
Unsinn passiert, dann gibt es einige Bauernopfer, wenn
woanders Fehler geschehen, dann soll der Ministerpräsident dran glauben müssen. Hier wird eine unterschiedliche Wertung vorgenommen.
({0})
Es erstaunt auch, liebe Kollegin Höfken, dass man es
einfach so hinnimmt, dass zum Beispiel von Herr
Berninger oder von der Frau Kollegin Höfken sehr gezielt
aus Papieren zitiert wird, dass aber bei der Rede von
Herrn Minister Sinner nicht zugehört wird. Ich bin Herrn
Sinner sehr dankbar, dass er hier gesprochen hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der
Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]
Auch mir liegt das Papier vor, aus dem Herrn
Berninger zitiert hat. Auch ich gestatte mir daraus ein Zitat, weil es darum geht, dass gesagt wurde, die Qualifikation des Labors und anderer Dinge sei nicht gegeben. In
dem Papier heißt es:
Eine Begehung der Laborräume in Westheim ...
durch das Bayerische Landesamt für Gesundheit und
Lebensmittelsicherheit ({1}) und die Regierung
von Mittelfranken ergab, dass „die räumliche und
sachliche Ausstattung der Laborräume ... für BSEUntersuchungen geeignet“ ist.
({2})
- Wenn ich mit dem Kollegen Wodarg über die Einstellung von Personal sprechen muss, dann ist das schon ein
bisschen eigenartig.
Nach Aktennotiz der Regierung von Mittelfranken
vom 30.01.2002 ist die fachliche Qualifikation des
Laborleiters gegeben.
Ich finde es unerträglich, dass man, weil Herr Stoiber
eine herausragende Funktion bei uns in Deutschland nicht
nur im Wahlkampf, sondern auch anschließend übernehmen wird, diese Geschehnisse, nur weil sie in Bayern passiert sind, dazu nutzt, alles gegen Bayern zu richten. Wenn
Sie, liebe Frau Kollegin Höfken, uns gestatten würden,
die positiven Dinge, die in Bayern geschehen, hier aufzuführen, dann wären wir wesentlich besser dran. Das wäre
auch ganz gut für Deutschland.
({3})
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie auch bei Ihren
Erklärungen zu dem Skandal mit Chloramphenicol bei
Shrimps dieselben Maßstäbe anlegen würden, wie Sie sie
damals bei den Vorfällen bei Karl-Heinz Funke und jetzt
in Bayern anlegen. Es darf nicht darum gehen, Unterabteilungsleiter zu schassen, sondern diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die damit etwas zu tun haben.
({4})
Zur Erwiderung gebe ich das Wort Frau Kollegin Höfken.
Ich
möchte betonen: Alle Bundesländer sind der gleichen
Auffassung, die auch von der Frau Ministerin und von
Herrn Berninger geäußert wurde, dass es nämlich zu einem entsprechenden Versagen von Bayern gekommen ist
und dass die notwendigen Konsequenzen gezogen werden müssen. Es bleibt, ungeachtet der Passage, die Herr
Carstensen gerade zitiert hat, Folgendes festzuhalten - ich
trage es noch einmal vor -:
Aufgrund der fehlenden diesbezüglichen Dokumente
können zum Personalstand ..., zur Qualifikation der
Mitarbeiter und zur Regelung der Verantwortlichkeiten keine Aussagen gemacht werden.
Schließlich bleibt festzuhalten, dass das Labor ... aufgrund der fehlenden Zulassung keiner amtlichen
Überwachung unterlag und damit auch keine amtlichen Kontrollen stattfinden konnten.
Daraus müssen doch die Lehren gezogen werden.
Ich fürchte, der Vorfall hat auf EU-Ebene die Konsequenz, dass ganz Deutschland für dieses Fehlverhalten in
Haftung genommen wird. Es wurde, wie ich am Anfang
meiner Rede gesagt habe, morgens die Aussage gemacht,
das Fleisch könne in Verkehr gebracht werden, am Abend
wurde sie zurückgenommen;
({0})
das Fleisch wurde sichergestellt, und zwar mit enormen
Folgen und Kosten. Hinzu kommt, dass das schon seit Juli
des letzten Jahres passiert ist. Seit diesem Zeitpunkt wurden Untersuchungen von diesem Labor gemacht, die alle
amtlich bearbeitet wurden. Aber erst am 10. Dezember hat
eine amtliche Tierärztin - dieser Frau sei gedankt - erstmals gesagt, dass hier etwas faul ist.
An dieser Stelle muss man einfach fragen: Wie kann es
denn sein, dass sich unter den Augen der staatlichen
Behörden ein solcher Vorgang, durch welchen den Mitarbeitern von Südfleisch Arbeitslosigkeit droht, über diesen langen Zeitraum abspielt? 48 000 Bauern haben ihr
Geld in diesen Betrieb investiert, der jetzt Bankrott zu gehen droht. Hierfür muss jemand die Verantwortung übernehmen.
Im Gegensatz dazu ist bei dem Skandal hinsichtlich der
Shrimps ganz schnell gehandelt worden.
({1})
Handeln Sie in Bayern genauso!
({2})
- Es ist lächerlich, wenn in diesem Zusammenhang von
Bauernopfern gesprochen wird. Es wurden zwei verantwortliche Beamte versetzt. Das war genau richtig.
({3})
Nun erteile
ich der Kollegin Marita Sehn für die Fraktion der FDP das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Ulrike Höfken, man kann nur
staunen, welchen Popanz Sie hier aufbauen. Frau Ministerin, bei Ihrer Rede ist mir folgender Spruch eingefallen:
({0})
Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen.
({1})
Ihre Rede hat mich außerdem an die PISA-Studie erinnert:
Thema verfehlt, Note fünf, bitte setzen.
Pflanzenschutz - auch das ist unser Thema - ist praktizierter Verbraucherschutz.
({2})
Dass unsere Verbraucher aus einem großen Angebot an
qualitativ hochwertigem Obst und Gemüse zu günstigen
Preisen auswählen können, das verdanken wir nicht zuletzt dem Pflanzenschutz. Ein verantwortungsbewusster
Pflanzenschutz trägt maßgeblich dazu bei, dass bei uns
kein Mensch aufgrund seiner finanziellen Situation auf
eine gesunde und ausgewogene Ernährung verzichten
muss.
({3})
Pflanzenschutz und Verbraucherschutz sind kein Widerspruch. Sie gehen vielmehr Hand in Hand. Eine gesunde
und ausgewogene Ernährung ist für uns praktizierter Verbraucherschutz.
Was ist eigentlich ein vorsorgender Verbraucherschutz
nach Ansicht der Bundesregierung? Wenn vorsorgender
Verbraucherschutz heißt, dass der Staat bereits bei theoretisch denkbaren Gefährdungen eingreift, dann führt das
zwangsläufig zu gesellschaftlichem und wirtschaftlichem
Stillstand; denn die Null-Risiko-Gesellschaft gibt es
höchstens in grünen Wunschvorstellungen. Der vorsorgende Verbraucherschutz ist bei den Grünen zu einem
vorgeschobenen Argument für eine latente Technik-, Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit verkommen.
({4})
Ob grüne Gentechnik, ob Pflanzenschutz, ob Biotechnologie: Immer muss der vorsorgende Verbraucherschutz
als Ablehnungs- und Verzögerungsgrund herhalten. Dabei
betreibt die Regierung einen potemkinschen Verbraucherschutz. Die Fassade ist schön anzusehen; aber hinter den
Kulissen geht es drunter und drüber. Der Fischmehlskandal hat dies wieder einmal eindrucksvoll belegt.
Wenn es bei Lebensmittelskandalen mehrere Wochen
dauert, bis die Öffentlichkeit informiert wird, dann ist das
Problem in der Regel gegessen, und zwar im wahrsten
Sinne des Wortes. Eine schnelle und kompetente Information der Verbraucher ist für uns moderner Verbraucherschutz.
({5})
In Deutschland ist mittlerweile eine Vielzahl von
Pflanzenschutzmitteln verboten, die in anderen europäischen Ländern eingesetzt werden dürfen. Selbstverständlich darf das Obst und Gemüse, welches mit den in
Deutschland verbotenen Mitteln behandelt wurde, in
Deutschland verkauft werden. Ich frage Sie: Wo bleibt
denn dort der vorsorgende Verbraucherschutz?
({6})
Nicht nur die Obst- und Gemüsebauern, lieber Herr
Herzog, wundern sich über die schizophrene Verbraucherpolitik der Bundesregierung. Glauben Sie denn ernsthaft, Pflanzenschutzmittel sind unbedenklicher, wenn sie
der italienische, spanische, französische oder niederländische Bauer einsetzt? Haben Sie eine so geringe Meinung
von der Zuverlässigkeit und Kompetenz unserer deutschen Obst- und Gemüsebauern?
Sie, Frau Künast, sind mittlerweile zur größten Exportgehilfin für die ausländischen Obst- und Gemüseproduzenten geworden, und das alles unter dem Deckmantel
des vorsorgenden Verbraucherschutzes.
({7})
Die FDP ist der Meinung: Entweder sind die Mittel gefährlich - dann darf kein Verbraucher ihnen ausgesetzt
werden - oder sie sind unbedenklich. Dann gibt es keinen
Grund, den Einsatz zu verbieten. Entscheiden Sie, Frau
Ministerin.
({8})
Was Sie zurzeit praktizieren, ist keine Verbraucherschutzpolitik, sondern Ausdruck rot-grünen Wischiwaschis. Damit verspielen Sie das wichtigste Gut des
Verbraucherschutzes, nämlich das Vertrauen und die Akzeptanz bei allen Beteiligten.
Nur ein europäischer Verbraucherschutz ist ein vorsorgender Verbraucherschutz. Europa ist die Zukunft. Nationale Alleingänge sind die Politik von gestern. Verbraucherschutz findet heute auf europäischer Ebene statt. Und
genau dort, Frau Künast, haben Sie versagt.
Die FDP bekennt sich zu einem starken Verbraucherschutz. Eine Null-Risiko-Gesellschaft, wie sie Rot-Grün
propagiert, wird es nie geben. Deshalb brauchen wir eine
fundierte Abwägung zwischen Chancen und Risiken. Der
ideologisierte Verbraucherschutz, wie ihn die Bundesregierung betreibt, macht genau das unmöglich. Anstelle eines fundierten, sachlichen Abwägungsprozesses steht hier
eine ideologisch geprägte Fortschritts- und Technologiefeindlichkeit.
({9})
Wir fordern in der Verbraucherschutzpolitik eine Abkehr
von der Ideologie und eine Hinwendung zu einer neuen
Sachlichkeit.
Schönen Dank.
({10})
Für die
SPD-Fraktion spricht die Kollegin Heidi Wright.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verbraucherschutzdebatte am Anfang des Jahres sollte und muss
ein gutes Signal an die Verbraucherinnen und Verbraucher
sein. Das Signal muss lauten: Schaut her, wir sind aufgeklärte, selbstbewusste Verbraucher, die ihre Rechte einfordern; da gibt es Anbieter, die Qualität und ein vielfältiges Angebot feilbieten;
({0})
und es gibt eine Politik, die sich kümmert, die Verbraucherschutz mit oberster Priorität besetzt.
({1})
Als wichtigste Aufgabe ist hier die Lebensmittelsicherheit zu sehen. Man wähnt sich gerade auf dem guten Weg,
da naht das Unheil wieder aus derselben berühmt-berüchtigten Ecke, aus Bayern. Wieder hat ein bayerisches
Staatsministerium in eklatanter Weise seine Aufgaben
nicht wahrgenommen. Man glaubt es ja nicht, dass immer
noch und immer wieder via Bayern der Verbraucherschutz auf die leichte Schulter genommen wird.
({2})
Es ist einfach nicht zu fassen, mit welcher Arroganz die
Bayerische Staatsregierung nach den Skandaljahren 2000
und 2001
({3})
zuerst die eigenen Fehler negiert und dann mit Trotz,
Großsprecherei und falschen Versprechungen ein Verbraucherministerium kreiert, das jetzt kläglich im alten
Sumpf unterzugehen droht.
({4})
Zuerst schien es so, dass in Bayern kein Schwein geschlachtet wird, ohne dass der Herr Verbraucherminister
Sinner persönlich dabeisteht. Und dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, weiß der Herr Sinner nichts von
40 000 Schnelltests, die in einem Labor ohne Genehmigung durchgeführt wurden. Ja, wo waren Sie denn da,
Herr Sinner, und Ihre Ministerialbürokratie?
({5})
- Nein, aber er muss es wissen, liebe Kollegen. Dann hat
er es gewusst, am 17. Dezember, und dann hat er vier Wochen gebraucht, von München nach Berlin eine Meldung
zu machen.
({6})
Glaubten Sie da den Weihnachtsfrieden nicht stören zu
sollen oder glaubten Sie, dass die bayerischen Schotten
schon dicht halten und dass nichts herauskommt?
({7})
Das neue bayerische Staatsministerium hat dem Ansehen
Bayerns, dem Vertrauen in das Lebensmittel Fleisch und
somit den Bauern und der Fleischwirtschaft schwer geschadet. Und nicht nur das: Letztlich sind wir durch diesen neuerlichen Skandal in unseren föderalen Kontrollstrukturen im europäischen und internationalen Handel
gefährdet. Herr Minister Sinner, wissen Sie eigentlich,
welchen Flurschaden Sie anrichten, welche finanziellen
Lasten dadurch auf Sie, auf uns alle zukommen können?
Oder glauben Sie, dass Sie den bayerischen Agrarstandort
noch mit einer verblassenden CSU-Glorie beleuchten
können?
({8})
Die Verbraucher, die Bauern, der Bayerische Landtag und
der Deutsche Bundestag warten auf Antwort. Wir werden
Sie von diesen Antworten nicht entbinden. Wir werden
täglich neue Fragen stellen und auf baldige Beantwortung
drängen. Die Fragen lauten zum Beispiel: Wohin überall
ist das nicht verkehrsfähige Fleisch verkauft worden?
Welche Konsequenzen hat der Skandal für Südfleisch?
Welche Folgen hat der Skandal für die mühsam hergestellten Handelsbeziehungen ins Ausland? Wie wird Russland reagieren? Das Geschäft „München-Moskau“
wurde so groß propagiert. Was werden Sie den russischen
Handelspartnern sagen?
({9})
Wie angeschmiert muss sich Mc Donald‘s vorkommen?
Mc Donald‘s wirbt im Land mit heimischem Fleisch, mit
Fleisch aus Bayern. Die müssen sich doch angeschmiert
vorkommen.
({10})
Weil es mir wichtig ist, will ich noch ein weiteres
Thema ansprechen. Ich weiß, dass uns Obst- und
Gemüsebauern aus Franken und Schwaben - aus AsbachBäumenheim von der Tribüne aus - zuschauen. Diese wollen Antworten auf die Fragen zum Pflanzenschutz haben.
({11})
Laxer Umgang mit Verbrauchersicherheit zahlt sich nicht
aus. Das gilt zuvorderst für die Fleischproduktion, gilt
aber auch für alle anderen Lebensmittel, auch für Obst
und Gemüse.
({12})
- Moment! Wir sind das deutsche Parlament. Deutsche
Obst- und Gemüsebauern haben vorbildliche Anbau- und
Pflanzenschutzmethoden entwickelt. Das gilt es zu würdigen und positiv darzustellen.
({13})
- Mein Gott! Schauen Sie doch einmal an den Bodensee,
Kollege Hornung!
({14})
Aber es gibt auch in diesem Bereich schwarze Schafe,
die immer noch meinen, viel hilft viel und was früher gut
war, ist auch heute noch gut. Das ist nicht so.
({15})
Im Bereich des Pflanzenschutzes befinden wir uns in
Europa und in Deutschland in einer Phase des Umbruchs
und - im Interesse der Umwelt und der Verbraucher - der
Umsetzung der europäischen Pflanzenschutzrichtlinie.
Aber bei allem Bemühen ist hier über Jahre viel versäumt
worden - die Kollegin Höfken hat es dargestellt -, weil
Sie überhaupt kein Bewusstsein für das Problem in diesem Bereich hatten.
({16})
- Das ist so, Kollege.
({17})
- Ich nehme keine Zwischenfragen an.
Ich weiß, wir werden nicht alle pflanzenschutzrechtlichen Probleme lösen können. Aber das jetzt Erreichte darf
nicht das letztlich Erreichbare sein.
({18})
- Es ist ganz viel erreicht worden.
({19})
Wir werden die 7. Verordnung zur Änderung der
Rückstandshöchstmengen noch rechtzeitig für diese
Vegetationsperiode umsetzen.
({20})
Frau Ministerin, ein herzlicher Appell an Sie, bei der Umsetzung des Pflanzenschutzrechtes die Interessen der
deutschen Anbauer nicht außer Acht zu lassen.
({21})
Ich will beides: Ich will nach wie vor den deutschen
Anbauer und meinen politischen Einfluss. Diesen habe
ich natürlich auch nur auf den deutschen Anbauer.
({22})
Ich will zum Schluss noch einmal klar machen: Jeder,
der Verbrauchersicherheit aus Selbstherrlichkeit oder
falscher Kumpanei fahrlässig aufs Spiel setzt, hat seinen
Job verfehlt und muss die Konsequenzen ziehen.
({23})
Ich frage noch einmal: Welche Konsequenzen werden
in Bayern gezogen? Wir werden dafür sorgen, dass sich
die Bayerische Staatsregierung nicht wieder hinter die
Kulissen ihrer jeweils unzuständigen Ministerien zurückzieht. Ich sage als Bayerin: Das Land hat mehr verantwortliche Politik und weniger Schaumschlägerei und
Großsprecherei verdient. Wegducken gilt nicht mehr.
Herr Minister Sinner, Sie sind angezählt.
({24})
Jetzt gebe
ich dem Kollegen Norbert Schindler das Wort.
Norbert Schindler ({0}) ({1}): Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Ich bitte,
mich nicht zu verwechseln.
({0})
Da ich Sie persönlich sehr schätze, werden Sie mir dies nachsehen, Herr
Präsident.
({0})
Die besondere Anrede gilt stellvertretend für hunderttausend Existenzen im Obst- und Gemüsebau, die heute
durch Berufskollegen aus Franken vertreten werden.
({1})
Frau Kollegin Wright, Sie haben mit Recht darauf
hingewiesen - das war ja der Ursprung der heutigen Debatte -: Dass man mit der Wahlkampfauseinandersetzung in der Parteipolitik schon heute beginnt, ist ein Armutszeugnis.
({2})
Man will von den schlechten Ergebnissen, die Frau
Künast in der Halbzeitbilanz vorzulegen hat, ablenken. Es
ist schon mehr als eine Halbzeit vergangen. Sie beginnt
den Wahlkampf mit der Strategie, händeringend ein
Thema zu besetzen. Man lechzt nach einem Lebensmittelskandal, damit man den Beweis antreten kann, dass
man der Lordsiegelbewahrer der Gesundheits- und der
Verbraucherpolitik in diesem Staat ist.
({3})
Allein aus billiger parteipolitischer Überlegung versucht
man, die Ernährungswirtschaft und Deutschlands Bauern
als Büttel sowie als Spielmaus für eine Katze zu benutzen.
({4})
Frau Ministerin Künast, ich hätte mir gewünscht, dass
Sie auf Ihre Versäumnisse im Fischmehlskandal hingewiesen hätten. Ich hätte mir auch gewünscht, dass zu den
Sachanträgen, die auch aus Ihren Reihen kommen - es
geht darum, dass wir im Pflanzenschutzrecht endlich zu
Potte kommen -, heute verbindliche Aussagen von Ihnen
zu hören gewesen wären.
({5})
- Nein, davon war nichts zu hören.
({6})
Sie waren dankbar und haben nur über das Thema gesprochen, obwohl Herr Minister Sinner in sauberer Darstellung über den Werdegang berichtet und auf Versäumnisse
von Instituten hingewiesen hat. Nach Ihrer Auffassung muss
er diese jetzt politisch allein verantworten. Das ist nicht fair
und so geht man - ich könnte auf die Vergangenheit zu sprechen kommen - mit einem wichtigen Thema - es geht um
die Angst der Republik vor BSE -, wenn man beruhigen
will und verantwortungsvoll ist, nicht um.
({7})
Frau Ministerin, ich erinnere allein an Ihren Tonfall
und daran, wie Sie an diesem Pult geschrien haben. Bitte
argumentieren Sie in Brüssel bei der Vertretung der deutschen Interessen bezüglich der Bewältigung dieses Problems nicht in gleicher Tonlage,
({8})
sonst fliegen Sie nämlich noch häufiger und stärker auf
die Schnauze, als es Ihnen in der Vergangenheit schon
passiert ist.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir während der
Hysterie bezüglich BSE alles hörten: 500, ja 1000 Fälle
würden in einem Jahr gefunden werden. - Gottlob sind es
nur 120 bis 130 geworden. Man hat von Seuchen geredet.
All das - auch die Kollegin Bärbel Höhn aus NordrheinWestfalen hat vom Super-GAU in der deutschen Landwirtschaft gesprochen - war verantwortungslos. Man hat
absolut Angst schüren wollen, dies wird heute Morgen in
einer Sachdebatte wiederum versucht. Man will nämlich
von der Verantwortlichkeit, die diese Bundesregierung
bei der Pflanzenschutzverordnung und der Höchstmengenverordnung federführend zu tragen hat, ablenken.
Jetzt komme ich zum Eingemachten. Wir haben einen
Antrag gestellt. Frau Ministerin Künast, Sie wollen an
dieses Thema absolut nicht heran. Aufgrund der politischen ideologischen Verbohrtheit kann ich es menschlich
noch nachvollziehen.
({10})
Der Sache dient es aber nicht.
Sie wollen bewusst, dass 80 000 bis 100 000 Existenzen in der Landwirtschaft in diesem Frühjahr keine Mittel mehr haben, um Pflanzenschutz in der Bundesrepublik
Deutschland legal betreiben zu können.
({11})
Sie wollen bewusst, dass ausländische Gemüse- und
Obstsorten bei uns angeboten werden dürfen,
({12})
die mit im Ausland zugelassenen Präparaten behandelt
wurden. In Deutschland sind diese Präparate und Mittel
verboten. Das wollen Sie so. Wir sollen bei diesem Wettbewerb in Frankfurt, Berlin oder Hamburg vorgeführt
werden, weil deutsche Gemüse- und Obstarten illegal produziert wurden. Dazu kommt dann noch der Importdruck
aus dem Ausland.
({13})
Ich fordere Sie hiermit im Namen der CDU/CSU-Fraktion auf, ein Verbot des Imports für im Ausland erzeugte
Gemüse- und Obstarten, die nach deutschem Recht nicht
herzustellen wären, einzuführen.
({14})
Wenn Sie das nicht hinbekommen, weil Ihnen gegenüber Brüssel der Mut fehlt, dann sorgen Sie um Himmels
willen in der sachlichen Auseinandersetzung bei der
7. Änderungsverordnung dafür, dass wir Rechtssicherheit
schaffen.
({15})
Wir sind bereit, unter den CDU/CSU-geführten Ländern
dafür zu sorgen, dass wir auf Länderebene nicht im Mai
oder Juni dieses Jahres - das sind die Vorlagen -, sondern
schon im Februar oder im März zu einem Ergebnis kommen. Aber Sie verfolgen seit Februar 1999 eine Verschleppungstaktik. Damals hatten wir den ersten Antrag
auf Lückenindikation. Wie Sie diese Sache über die Jahre
hinweg verschleppt haben, ist unverantwortlich hoch drei.
Mehr kann man dazu nicht sagen.
({16})
Die Regierungsmehrheit sperrt sich bei der Lösung dieses
wichtigen Problembereichs. Das gilt für das Alte Land,
die Region Bonn und die Donauniederung. Überall, wo
wir führend sind - egal, ob das innerhalb der EU oder auf
dem Weltmarkt ist -, werden Fallstricke gelegt. Das ist die
erklärte Absicht Ihrer Politik.
Verbraucherschutz beginnt damit, dass wir Rechtssicherheit für die Konsumenten schaffen und dass sie Vertrauen in
unsere Gesetzgebung haben. Er beginnt auch damit, dass
diese Rechtssicherheit nicht nur für unsere Obsterzeuger in
Franken, sondern auch für unsere Gemüseerzeuger in der
Pfalz in diesem Frühjahr gilt. Sie wollen dies nicht. Dieses
Versäumnis bedeutet nicht nur eine Schlamperei, sondern es
wird in diesem Frühjahr zu einem Skandal kommen. Für
diesen Skandal sind allein Sie verantwortlich.
Vielen Dank.
({17})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Gustav Herzog.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen dieser Verbraucherschutzdebatte reden wir auch über den chemischen
Pflanzenschutz. Dieser ist hier richtig platziert, weil wir
hoffentlich gemeinsam das Vertrauen der deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher in das deutsche Obst und
Gemüse erhalten wollen.
({0})
Lieber Kollege Schindler, die Vorgänge in Baden-Württemberg und die Anträge der CDU/CSU sind dafür allerdings nicht geeignet. Gleiches gilt für die Reden, die Bauernverbandsfunktionäre mit CDU-Parteibuch halten.
Damit bringen sie auch noch den letzten Verbraucher
dazu, sich für dieses Thema zu interessieren.
({1})
Wer lechzt denn hier nach dem Skandal? Die Bundesregierung war in der Sondersitzung des Ausschusses mit
ihrem Bericht noch nicht fertig, als der Kollege Ronsöhr
schon draußen war und den Rücktritt der Ministerin gefordert hat. Man muss doch einmal sehen, wer die Sachen
hier hochputscht.
({2})
Seitens der Koalitionsfraktionen begrüße ich das erfolgreiche Bemühen der Bundesregierung bei der Umsetzung
der hohen Anforderungen des Umweltschutzes und des
Schutzes der Menschen im Rahmen der bestehenden Gesetze. Dadurch, dass das deutsche Pflanzenschutzgesetz,
das in Europa den integrierten Pflanzenschutz verankert
hat, zum maßgeblichen Vorbild für die einschlägige Richtlinie geworden ist, hat die Bundesregierung das hohe deutsche Schutzniveau für Menschen, Tier und Naturhaushalt
auch auf europäischer Ebene durchgesetzt.
({3})
Darüber hinaus ist es richtig, auch im Rahmen von notwendigen Anpassungen an das EU-Recht die Harmonisierungsmöglichkeiten zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen zu nutzen.
({4})
Die Drucksachennummer, aus der ich fast wörtlich zitiert habe, trägt eine 13 vor der vierstelligen Zahl. Es handelt sich um eine Beschlussempfehlung des Agrarausschusses zur ersten Änderung des Pflanzenschutzgesetzes
aus dem Jahre 1997.
({5})
Die zitierte Regierungskoalition ist die heutige Opposition.
({6})
Herr Kollege Herzog, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ronsöhr?
Nein.
Ich wollte hiermit nur noch einmal deutlich machen,
dass die heutige - zugegebenermaßen dramatische - Zulassungsproblematik im Pflanzenschutz ihre Wurzeln
bereits in einer ganz anderen Regierungskoalition als in
der unsrigen hat.
Dazu könnte ich auch einen Griff in das Archiv meines
Vorgängers, des früheren agrarpolitischen Sprechers
Horst Sielaff, machen. Dort fand ich einen Brief aus dem
Jahre 1993 von dem Präsidenten der Bundesvereinigung
Obst und Gemüse, der schon 1993 angemahnt hat, etwas
zu tun. Es folgten fünf Jahre CDU/CSU-FDP-Regierung,
in denen nichts erreicht worden ist.
({0})
Auch in den Fachverbänden wird das deutlich formuliert,
so geschehen in einem Referat in der letzten Woche:
Von 1991 bis 1998 haben das Bundeslandwirtschaftsministerium und die Politik gebraucht, bis endlich das
Pflanzenschutzgesetz verabschiedet wurde.
Diese Kritik der Fachverbände weise ich auch für die
alte Bundesregierung ein Stück weit zurück; denn so einfach ist es nicht. Auch die Industrie hatte mit ihren Haftungsproblemen und Bedenken, was die Hauptzulassung
angeht, für Verzögerung gesorgt. Aber eines ist doch wohl
klar: Frau Künast hatte in dem angesprochenen Zeitraum
von 1991 bis 1998 wohl an alles Mögliche gedacht, aber
niemals daran, dass sie Landwirtschaftsministerin und für
Pflanzenschutzmittel zuständig wird.
({1})
Ihr diesen Ball zuzuspielen geht an der Sache vorbei.
({2})
Mit dem endgültigen In-Kraft-Treten der Indikationszulassung zum 1. Juli letzten Jahres lastet auf der jetzigen
Koalition die Bürde des schwarzen Peters. Dass seit dem
Regierungswechsel aber konsequent gehandelt wurde,
({3})
habe ich gestern Abend von unerwarteter Seite bestätigt
bekommen. Deshalb will ich für die Öffentlichkeit wiedergeben, was Vertreter der Pflanzenschutzmittelindustrie
- unverdächtig, uns nahe zu stehen - beim parlamentarischen Abend neben kritischen Anregungen zur zukünftigen Gestaltung der Zulassungsbehörden zum Thema
„Schließung von Lückenindikationen“ gesagt haben:
„Seit 18 Monaten gibt es keine Unsicherheiten mehr. Es
wird mit Hochdruck und Erfolg beantragt und genehmigt.“
Ein Blick auf die Zahlen hilft beim Erkennen der Realität: Im Künast-Jahr 2001 wurde die höchste Zahl an AnGustav Herzog
wendungsgebieten seit 1995 genehmigt. 338 waren es
ausweislich des Berichts der Agrarministerkonferenz.
1999 waren es nur 63, 2000 164.
Wir sind jetzt in der Regierungsverantwortung und wir
werden den Erzeugern schnellstmögliche Hilfe zukommen lassen. Mit unserem Entschließungsantrag fordern
wir, im bestehenden rechtlichen Rahmen alles Mögliche
zu unternehmen, um die noch bestehenden Lücken für die
kommende Vegetationsperiode so gering wie möglich zu
halten, und zwar ohne den vorsorgenden Verbraucherschutz hierbei aus den Augen zu verlieren.
({4})
In diesem Zusammenhang will ich auf die Entscheidung im Umweltausschuss hinweisen. Der Entwurf des
Bundesrates
({5})
wurde auch mit den Stimmen der FDP, Frau Kollegin
Sehn, und bei Stimmenthaltung von CDU/CSU und PDS
abgelehnt.
({6})
Da hat wohl die Kommunikation nicht so ganz geklappt.
Unsere Ansätze zeichnen sich durch Sinn für das Machbare aus. Vorgesehen ist eine höchstmögliche Beschleunigung für die siebte Rückstandshöchstmengenverordnung.
({7})
Über 100 Indikationslücken werden geschlossen. Ferner
wollen wir eine unmittelbare Rechtswirksamkeit europäischer Höchstmengen und eine konkrete Umsetzung von
Maßnahmen zur Bekämpfung des Feuerbrands.
Ich lade alle, die guten Willens sind, ein, daran mitzuwirken. Eigentlich müssten die selbst ernannten Verbraucherschützer der Union unseren Anträgen zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Ich gebe der
Kollegin Annette Widmann-Mauz das Wort. Sie spricht
für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn uns
diese Debatte heute Morgen wieder etwas gelehrt hat,
dann Folgendes: Es geht Frau Künast weniger um die Sache der Verbraucherinnen und Verbraucher als vielmehr
um ideologisch gefärbte Parteipolitik.
({0})
Frau Künast, Sie haben heute Morgen nicht einen Satz
zu Ihren eigentlichen Verantwortungsbereichen gesagt.
Sie haben nur Verantwortungsbereiche von anderen angesprochen. Aber zu dem, worum Sie sich zu kümmern hätten, wofür Sie die Verantwortung tragen, haben Sie geschwiegen.
({1})
Bis zum heutigen Tag wurden die Aufgaben innerhalb
der Bundesregierung im Sinne eines ganzheitlichen Verbraucherschutzes nicht klar geregelt. Der Verbraucherministerin wurden keine umfassenden und klaren Zuständigkeiten zugewiesen. Kompetenzstreitigkeiten zwischen
dem BMVEL, dem Gesundheits-, dem Wirtschafts- und
dem Justizministerium sind doch an der Tagesordnung.
Sie haben zwar die Abteilung Verbraucherschutz aus dem
Gesundheitsministerium bekommen. Aber richtig angenommen haben Sie sie anscheinend nicht.
Das zeigt der Fischmehlskandal der vergangenen Wochen sehr eindrücklich. Im Unterschied zur Bundesregierung hat Bayern bei dem Skandal gehandelt.
({2})
- Warten Sie es ab. - Wo war denn Ihr Frühwarnsystem,
Ihr internes Schnellwarnsystem beim Fischmehlskandal?
Wie kann es eigentlich passieren, dass eine solche Warnmeldung weit mehr als zehn Tage unbearbeitet in Ihrem
Haus liegen bleibt? 195 Tonnen verseuchter Shrimps
kommen in sieben LKW-Lieferungen nach Deutschland,
aber Ihr Schnellwarnsystem erfährt nichts davon.
Wo waren Sie, Frau Ministerin? Wo waren Ihr Staatssekretär und Ihr Abteilungsleiter? Diejenigen, die da waren, streiten sich innerhalb der zuständigen Abteilung um
den richtigen Schreibtisch.
Wäre der Fall nicht so ernst, dann wäre es mehr als komisch, dass Ihr Krisenmanagement lediglich darin besteht, dass Ihre Leute zum Telefonhörer greifen sollen, anstatt verstaubte Aktendeckel zu benutzen, und das in
Zeiten von E-Mail, Fax und Internet. Das scheinen Nachwehen grüner Fortschrittsfeindlichkeit zu sein.
({3})
Es geht nicht an, dass den Letzten die Hunde beißen.
Das Bauernopfer scheint bei Ihnen zwar schon Methode
zu sein, aber ich will Ihnen deutlich sagen: Bei diesem
Fischmehlskandal stinkt der Fisch vom Kopfe her.
({4})
Sie haben aus der BSE-Krise nichts gelernt.
({5})
Sie wissen doch, dass das Risiko am Anfang der Kette ausgeschaltet werden muss; sonst bekommt man die
Gefahr nicht mehr in den Griff und alles läuft aus dem
Ruder. Je mehr Zeit vergeht und je länger Sie abwarten,
desto mehr kann vermischt und vermanscht werden und desto weniger lässt sich am Ende nachweisen. Allein
142 Händler und Betriebe in Deutschland sind betroffen. Sie
wissen selbst, dass das nur ein Drittel der Gesamtzahl darstellt. Stellen Sie sich nur einmal vor, beim Fischmehlskandal wäre es nicht um Antibiotika, sondern um Dioxine gegangen.
Wo bleiben denn Ihre Vorschläge zur Reform des Haftungsrechts im Lebensmittelbereich? Im letzten Jahr ist
nichts geschehen.
({6})
Mit Ihrer großartig angekündigten Reorganisation
der Bundesbehörden sind Sie doch bisher nicht einmal
über den Organisationserlass hinausgekommen, obwohl
der von-Wedel-Bericht schon weit mehr als ein halbes
Jahr vorliegt. Sie haben bisher nicht überzeugend darlegen können, wie eine praktikable und effiziente Verzahnung zwischen diesen beiden Ebenen aussehen soll. Einen
neuen Namen haben Sie zwar schon gefunden, aber mehr
als ein Telefon und einen Stuhl davor haben Sie nicht.
Wenn Sie, Frau Künast, noch nicht einmal die Zusammenarbeit zwischen zwei Referaten in Ihrem eigenen
Haus organisieren können, dann müssen wir uns schon
fragen, wie Sie die Zusammenarbeit von zwei großen
neuen Behörden gewährleisten wollen.
Selbst Ihre Wissenschaftler und Berater laufen Ihnen in
der Zwischenzeit schon davon. Ihr wissenschaftlicher
Beirat ist geschlossen zurückgetreten,
({7})
und zwar, weil Frau Künast die Neubesetzung nach Ihrem
politischen Gusto statt nach fachlicher Qualifikation
durchsetzen wollte.
({8})
So erreicht man nichts und gewinnt auch kein Vertrauen.
({9})
So verspielt man Glaubwürdigkeit, Frau Künast. Die
Menschen in unserem Land erwarten ein Jahr nach Ihrer
Amtsübernahme endlich gefestigte und effizient arbeitende Strukturen.
({10})
Jetzt haben Sie ein Verbraucherinformationsgesetz
angekündigt. Doch was verbirgt sich dahinter? Noch bevor Sie den ersten Entwurf an die Öffentlichkeit bringen,
müssen Sie wesentliche Elemente Ihrer Eckpunkte wieder
zurücknehmen. Erst wollten Sie die Unternehmen in die
Pflicht nehmen, jetzt ist der Anspruch auf Information gegenüber den Unternehmen wieder verschwunden. Nicht
einmal in den eigenen Reihen Ihrer Regierung finden Sie
Unterstützung für Ihre Vorhaben.
Es ist richtig, dass die Behörden durch mehr Information und Aufklärung zum Verbraucherschutz beitragen
sollen. Aber haben Sie sich, Frau Künast, auch Gedanken
über das Ausmaß und die möglichen Folgen Ihres Vorhabens gemacht? Muss jetzt auf jedes Brötchen ein Beipackzettel geklebt werden? Wie wollen Sie sicherstellen, dass
aus einer neutralen Information keine tendenziöse Auskunft wird? Oder ist das etwa Ihre Absicht? Was ist, wenn
sich die Auskunft im Nachhinein als falsch herausstellt?
Haben Sie überhaupt geklärt, wie das Gesetz personell und
finanziell umgesetzt werden kann? Von mehr Bürokratie,
Reglementierung und Ideologie haben die Verbraucher in
unserem Land nichts. Sie wollen greifbare Ergebnisse.
Ein Jahr nach Ihrer Amtsübernahme schaue ich mir an,
was Sie gemacht haben. Sie wollen Gütesiegel einführen,
das Ökosiegel oder das geplante Siegel für die konventionell erzeugten Produkte. Gerade noch haben Sie auf der
Grünen Woche die Werbetrommel für das Ökosiegel
gerührt. Sie rühmen das Wachstum von mehr als 20 Prozent im Ökolandbau. Man soll beeindruckt sein. Doch
was steckt dahinter? Statt die hohen deutschen Ökostandards beizubehalten, haben Sie niedrigere EU-Standards
übernommen. Um Ihre Ökoquote zu erfüllen, haben Sie
Importe von minderer Qualität gefördert - und das zulasten der deutschen Biobauern.
({11})
Genau dasselbe geschieht jetzt im Bereich der Pflanzenschutzmittel. Dieselben Pflanzenschutzmittel, die bei
uns verboten sind, werden von italienischen oder anderen
EU-Bauern benutzt. Ergebnis: Die italienischen Produkte
landen auf unseren Tellern und die deutschen Landwirte
werden in den Ruin getrieben - und das deshalb, weil Sie
so national-ideologisch arbeiten und europaweit überhaupt nichts hinbekommen.
({12})
Unsere Landwirtschaft wird ständig mehr belastet und
der Verbraucher wird nicht wesentlich besser geschützt.
Noch immer gibt es mangelhafte Produktionsanlagen für
Tierfette innerhalb der Europäischen Union. Das ist gefährlich, weil über diese Tierfette offene Pfade für BSEErreger bestehen. Schon mehrfach hieß es, Sie setzten
sich für ein Verbot solcher Fette ein. Aber erreicht, Frau
Künast, haben Sie auch da nichts.
({13})
Sie sind Mitglied im Agrarministerrat der Europäischen
Union. Sie tragen dort Verantwortung. Auch die Länder tragen eine große Verantwortung für die Lebensmittelsicherheit. Niemand kann sich da herausreden. Frau Künast, Sie
müssen Ihre Verantwortung endlich wahrnehmen
({14})
und dürfen sich nicht wahlpopulistisch um Themen kümmern, bei denen das die Menschen von Ihnen nicht erwarten.
({15})
Sie haben wichtige Felder außen vor gelassen: RiesterRente, Explosion bei den KrankenversicherungsbeiträAnnette Widmann-Mauz
gen, nächtliche Fax- und lästige Internetwerbung. Ich
könnte mit der Aufzählung noch lange fortfahren.
Verbraucherschutzpolitik, Frau Künast, hat möglichst
nahe am Menschen zu sein, damit sie verstanden wird. Sie
muss praktikabel und möglichst wirkungsvoll sein. Das
haben Sie in diesem Jahr nicht geleistet. Das Gegenteil ist
der Fall.
Ich danke Ihnen.
({16})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wenn ich diesen armen Sünder
Sinner - nomen est omen - hier so sitzen und agieren
sehe, dann frage ich mich, was die Kollegen von der
rechten Seite wohl täten, wenn da Bärbel Höhn oder gar jemand aus einer Regierung säße, an der die PDS beteiligt ist.
({0})
Ich stelle mir einmal plastisch vor, wie Sie sich aufregen
und aufblasen würden. Da würden alle Glocken zusammen läuten.
({1})
Das zeigt, dass Sie in einem tüchtig sind, nämlich im
Verleugnen und im angeblichen Aufklären, nachdem Sie
erwischt worden sind.
({2})
Dort, wo vorgebeugt werden muss, dort, wo man der
Sünde widerstehen muss, sind Sie weit weg.
({3})
Aber wenn man Sie erwischt hat, dann tun Sie so, als ob
Sie an allem dran wären. Es ist halt so wie immer bei der
CSU: Sie ist an nichts schuld; hat tausend Gründe.
({4})
Mit dem Philosophen Lichtenberg kann ich dem Sinner
nur sagen: „Du kannst den Hintern schminken, wie du
willst, es wird nie ein ordentliches Gesicht daraus.“ So
kommt mir die ganze Sache hier vor.
({5})
Wenn andere das getan hätten, hätten Sie sie in die ewige
Verdammnis geschickt.
Das bayerische Verbraucherschutzministerium ist gegründet worden, um vorzubeugen. Es ist nicht gegründet
worden, um nachzulaufen. Es ist aber wie immer: Die
CSU ist in der Konstruktion einer falschen Wirklichkeit
sehr fähig. Im Vergleich zu dem, was Sie aufbauen, war
Potemkin ein Stümper.
({6})
Einerseits habe ich manchmal den Eindruck, dass dieses schnell errichtete bayerische Verbraucherministerium
nur als Paravent diente, um dahinter weiter sündigen zu
können.
({7})
Andererseits muss ich mit Herrn Sinner schon wieder
gnädig sein. Einem Kabinettsmitglied, dessen Ministerpräsident nicht einmal Frau Merkel von der Frau
Christiansen unterscheiden kann,
({8})
kann ich nicht zumuten, ein reales Labor von einem
schwarzen Labor zu unterscheiden.
({9})
Meine Damen und Herren, der Schaden ist eingetreten,
aber wir werden dem reuigen Sünder helfen.
({10})
Jetzt muss vermieden werden, dass die Arbeitnehmer in
der Fleischindustrie die Dummen sind.
({11})
Jetzt muss verhindert werden, dass schwerer wirtschaftlicher Schaden entsteht. Statt frech mit Frau Künast zu reden, sollten Sie die Frau anständig umschmusen, damit sie
Ihnen in Brüssel aus der Patsche hilft. In Brüssel brauchen
Sie Frau Künast.
({12})
Es haut nicht hin, hier erst mit vollen Hosen zu stinken
und dann auch noch frech zu sein.
({13})
Wir müssen jetzt alles tun, damit nicht am Ende die unschuldigen Bauern die Opfer der Schlamperei in der CSU
sind.
Da kommt der Kandidat, plustert sich auf wie ein
Truthahn, um am Ende wie ein gerupftes Suppenhuhn
dazustehen, das der Koch verwirft. So ist doch die Lage,
meine Damen und Herren.
({14})
Es bewahrheitet sich wieder, dass Hochmut vor dem Fall
kommt. Das haben wir hier erlebt.
({15})
Aber wir lassen die Bauern nicht im Stich.
({16})
Sie können sich auf uns verlassen. Frau Künast wird mithelfen,
({17})
dass auch dieser reuige Sünder nach Umkehr auf den
rechten Weg am Ende seine Glückseligkeit wieder erreicht.
Vielen Dank.
({18})
Jetzt wird es
wieder ernst, denn wir kommen zu den Abstimmungen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Drucksache 14/6654, ab. Der Ausschuss empfiehlt die Annahme des Antrags der Koalitionsfraktionen
auf Drucksache 14/6067 mit dem Titel „Vorsorgende Verbraucherpolitik gestalten und stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
({0})
Der Ausschuss empfiehlt gleichzeitig die Ablehnung des
Antrags der FDP-Fraktion „Stiftung Warentest in die Unabhängigkeit entlassen“, Drucksache 14/4284. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie zu dem vorausgegangenen Antrag ist diese Beschlussempfehlung angenommen.
({1})
Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der CDU/CSU „Verbraucherschutz auf nationaler und EU-Ebene fortentwickeln“, Drucksache
14/6039. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Enthaltung der Fraktion der PDS und gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antrags
der FDP-Fraktion „Acht Maßnahmen für eine umfassende und eigenständige Verbraucherpolitik“, Drucksache 14/6053. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
({2})
- Die CDU/CSU-Fraktion hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 3 b: Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes, Drucksache 14/6753. Der Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8090, den Gesetzentwurf abzulehnen. Wer dem
Gesetzentwurf des Bundesrates zustimmen möchte, den
bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? ({3})
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen von SPD - bei einer Enthaltung
vonseiten der SPD - und Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen von CDU/CSU1) und FDP bei Enthaltung der
PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 3 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft auf Drucksache 14/8090 zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Pflanzen-
schutzrecht darf Existenz des deutschen Obst- und Gemü-
sebaus nicht gefährden“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
sache 14/7141 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der PDS ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt weiter unter Nr. 3 seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme einer Entschließung.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Gesundheit, Drucksache 14/6115. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung
durch die Bundesregierung „Weißbuch zur Lebensmittel-
sicherheit“ eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
1) Anlage 2
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 e: Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Bericht der Bundesregierung
zum „Girokonto für jedermann“, Drucksachen 14/3611
und 14/5216. Der Ausschuss empfiehlt die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/8093. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsan-
trag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen
der PDS abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 3 f: Beschlussempfehlung des Fi-
nanzausschusses auf Drucksache 14/7530 zu dem Antrag
der Fraktion der PDS mit dem Titel „Wirksamer Schutz
der Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Euro-Um-
stellung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/6895 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hau-
ses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 i und 19
sowie Zusatzpunkte 5 a bis 5 d auf:
22. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 14/8043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Verbesserung der personellen
Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und
in den Unternehmen der Deutschen Bundespost
- Drucksache 14/8044 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 14/7466 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 19. Juni 2001 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Kap Verde über
den Luftverkehr
- Drucksache 14/7976 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Ver-
trägen vom 15. September 1999 des Weltpost-
vereins
- Drucksache 14/7977 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 2. Oktober 2000 zur Änderung
und Ergänzung des Abkommens vom 18. Juni
1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Staat Bahrain über den Luftverkehr
- Drucksache 14/7978 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ände-
rung des Abkommens vom 4. Dezember 1991
zur Erhaltung der Fledermäuse in Europa
- Drucksache 14/7980 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines post- und telekommu-
nikationsrechtlichen Bereinigungsgesetzes
- Drucksache 14/7921 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg
Tauss, Harald Friese, Ludwig Stiegler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Grietje Bettin, Cem Özdemir,
Kerstin Müller ({7}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
e-Demokratie: Online-Wahlen und weitere Partizipationspotenziale der Neuen Medien nutzen
- Drucksache 14/8098 Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
19. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Abgrenzung zwischen der erwünschten Einwerbung von Drittmitteln durch Hochschullehrer und Vorteilsnahme nach dem Korruptionsbekämpfungsgesetz ({9})
- Drucksache 14/6323 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes
- Drucksache 14/8009 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschrechte und humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sabine
Bergmann-Pohl, Bärbel Sothmann, Dr. Gerhard
Friedrich ({12}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CDU
Dringender Handlungsbedarf in der Alternsforschung
- Drucksache 14/8105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({13})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
30 Jahre Berufsverbote - Bereinigung von Verstößen gegen Art. 10 und Art. 11 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ({14})
- Drucksache 14/8083 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschrechte und humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christa
Luft, Dr. Barbara Höll, Heidemarie Ehlert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Mit Nachdruck auf mittelstandsgerechte Eigenkapitalrichtlinien ({16}) hinwirken
- Drucksache 14/8115 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({17})
Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 9 und 23 a
bis 23 d sowie 23 f bis 23 w. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache
vorgesehen ist.
Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Anni Brandt-Elsweier,
Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Volker Beck ({18}), Kerstin Müller ({19}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die
Bewertung der Kapitalanlagen von Versicherungsunternehmen und zur Aufhebung des DiskontsatzÜberleitungs-Gesetzes ({20})
- Drucksache 14/7436 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({22})
- Drucksache 14/8097 Berichterstattung:
Abgeordneter Alfred Hartenbach
Dr. Susanne Tiemann
Volker Beck ({23})
Rainer Funke
Sabine Jünger
Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? ({24})
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS
angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Statistik im produzierenden Gewerbe und zur Änderung des Gesetzes über Kostenstrukturstatistik
- Drucksache 14/7556 ({25})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({26})
- Drucksache 14/8055 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Lennartz
Elke Wülfing
Heidemarie Ehlert
Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes
- Drucksache 14/8008 ({27})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({28})
- Drucksache 14/8133 Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt ({29})
Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses
bei Enthaltung der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung von Abkommen über soziale
Sicherheit und zur Änderung verschiedener
Zustimmungsgesetze
- Drucksache 14/7759 ({30})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({31})
- Drucksache 14/8135 Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singhammer
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den
bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Änderungen vom 20. Mai 1999 des Übereinkommens zur Gründung der Europäischen
Fernmeldesatellitenorganisation „Eutelsat“ ({32})
- Drucksache 14/7544 ({33})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({34})
- Drucksache 14/8129 Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller ({35})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt die Annahme des Gesetzentwurfs. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das
Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Seemannsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksachen 14/7760, 14/7797 ({36})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({37})
- Drucksache 14/8128 Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thea Dückert
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 14/8144 vor. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalition und der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchten, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des
Hauses bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
dem gleichen Stimmergebnis wie in der zweiten Beratung
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes
und anderer Gesetze
- Drucksache 14/7260 ({38})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({39})
- Drucksache 14/8127 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
Hierzu liegen sechs Änderungsanträge der Fraktion der
PDS vor.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/8136? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/8137? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/8138? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/8139? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/8140? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/8141? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 h:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. November 1999 zur Ergänzung des Abkommens
vom 9. September 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta über den
Luftverkehr und zu dem Protokoll vom 27. Mai
1999 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Staates Katar zum Abkommen vom 9. November
1996 über den Luftverkehr
- Drucksache 14/6109 ({40})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({41})
- Drucksache 14/7886 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt Annahme. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
({42})
- Da hat wohl jemand geklatscht, der gerade auf Malta war.
({43})
Tagesordnungspunkt 23 i:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 18. Dezember
1997 über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen
- Drucksache 14/7038 ({44})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({45})
- Drucksache 14/7888 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({46})
Heinz Seiffert
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 j:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
24. August 2000 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Österreich zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 14/7040 ({47})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({48})
- Drucksache 14/7913 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Dr. Barbara Höll
Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 k:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Juni
2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Volksrepublik
China über die Zusammenarbeit auf den
Gebieten der Wirtschaft, Industrie und Technik
- Drucksache 14/7037 ({49})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({50})
- Drucksache 14/8049 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt Annahme. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 l:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({51})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr,
Dr. Dieter Thomae, Dr. Irmgard Schwaetzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Hochwertige Hilfsmittelversorgung durch
Gesundheitshandwerker sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Lohmann ({52}), Dr. Wolf Bauer,
Dr. Sabine Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Abgabe von Hilfsmitteln durch Gesundheitshandwerker sichern
- Drucksachen 14/2787, 14/3184, 14/8039 Berichterstattung:
Abgeordneter Eike Maria Hovermann
Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antrags
der FDP-Fraktion mit dem Titel „Hochwertige Hilfsmittelversorgung durch Gesundheitshandwerker sichern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung
von CDU/CSU und PDS angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt die Ablehnung des Antrags
der CDU/CSU mit dem Titel „Abgabe von Hilfsmitteln
durch Gesundheitshandwerker sichern“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({53})
Sammelübersicht 336 zu Petitionen
- Drucksache 14/8060 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 336 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({54})
Sammelübersicht 337 zu Petitionen
- Drucksache 14/8061 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 337 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({55})
Sammelübersicht 338 zu Petitionen
- Drucksache 14/8062 Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 338 ist bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({56})
Sammelübersicht 339 zu Petitionen
- Drucksache 14/8063 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 339 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({57})
Sammelübersicht 340 zu Petitionen
- Drucksache 14/8064 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 340 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 r:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({58})
Sammelübersicht 341 zu Petitionen
- Drucksache 14/8065 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 341 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 s:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({59})
Sammelübersicht 342 zu Petitionen
- Drucksache 14/8066 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP
angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 t:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({60})
Sammelübersicht 343 zu Petitionen
- Drucksache 14/8067 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 343 ist gegen die Stimmen von FDP und
PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 u:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({61})
Sammelübersicht 344 zu Petitionen
- Drucksache 14/8068 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 344 ist gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 v:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({62})
Sammelübersicht 345 zu Petitionen
- Drucksache 14/8069 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 345 ist gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 w:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({63})
Sammelübersicht 346 zu Petitionen
- Drucksache 14/8070 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 346 ist gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 4 auf:
Wahl eines Vertreters und eines Stellvertreters
des Deutschen Bundestages in den EU-Verfassungskonvent
- Drucksachen 14/8116, 14/8117 Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
schlagen auf der Drucksache 14/8116 als Mitglied den
Kollegen Dr. Jürgen Meyer ({64}) vor. Wer stimmt für
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Wahlvorschlag ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS sowie
denen einer Reihe von Mitgliedern der CDU/CSU gegen
eine Anzahl von Stimmen von Kolleginnen und Kollegen
aus der CDU/CSU-Fraktion bei einer großen Anzahl von
Enthaltungen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
({65})
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksa-
che 14/8117 als stellvertretendes Mitglied den Kollegen
Peter Altmaier vor. Wer stimmt für diesen Wahl-
vorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Dieser Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der Fraktionen
von CDU/CSU, FDP, PDS sowie einer Anzahl von Stim-
men von Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von
Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion und von
einzelnen Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 f
auf:
5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. R. Werner Schuster, Brigitte Adler, Ingrid
Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian
Ströbele, Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Förderung der Zivilgesellschaft im Norden und
im Süden - eine Herausforderung für die Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 14/5789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({66})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Rühe, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Strategische Neuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik auf die internationale Terrorismusbekämpfung
- Drucksache 14/7609 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({67})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Ingrid Becker-Inglau, Adelheid Tröscher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({68}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Entwicklungspolitisches Jugendprogramm „So-
lidarisches Lernen“
- Drucksache 14/8006 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({69})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin
Kortmann, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Ekin Deligöz, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinderrechte schützen - Kinderhandel
wirksam bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun
({70}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Kinderhandel in Afrika verhindern
- Drucksachen 14/4152, 14/2705, 14/6290 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Klaus-Jürgen Hedrich
Joachim Günther ({71})
Carsten Hübner
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({72}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker,
Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, HansChristian Ströbele, Kerstin Müller ({73}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Freiwillige Agrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierung
für Entwicklungsländer
- Drucksachen 14/4802, 14/7030 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Hemker
Siegfried Helias
Joachim Günther ({74})
Carsten Hübner
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({75}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Schmidt
({76}), Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({77}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Förderung von Entwicklungspartnerschaft mit
der Wirtschaft/Vergabe eines Preises für Unternehmerinnen und Unternehmer
- Drucksachen 14/3810, 14/7031 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Schmidt ({78})
Siegfried Helias
Joachim Günther ({79})
Carsten Hübner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich möchte mit der Eröffnung der Aussprache warten,
bis diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte
nicht beiwohnen möchten, den Saal verlassen haben.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Reinhold Hemker für die
Fraktion der SPD.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben in unserem Antrag
zum Thema „Solidarisches Lernen“ festgestellt, dass in
Deutschland eine umfassende konzeptionelle und finanzielle Förderung der entwicklungspolitisch orientierten
Jugendarbeit fehlt, die auch den Aufenthalt in einem
Entwicklungsland und einen Austausch mit den Entwicklungsländern ermöglicht. Das hatten wir allerdings, liebe
Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU/CSU, bereits in der letzten Legislaturperiode festgestellt. Unser
entsprechender Antrag wurde von der damaligen Koalitionsmehrheit abgelehnt.
Jetzt gibt es wieder einen Antrag, mit dem die Bundesregierung aufgefordert werden soll, Maßnahmen zu ergreifen, um den offensichtlichen Mangel auf diesem Gebiet zu beseitigen. Ich gehe davon aus, dass es diesmal
gelingen wird, ein solches Programm durchzusetzen.
Ich gehe auch davon aus, dass die Einsichtsfähigkeit
bei der jetzigen Opposition so groß ist, dass alle Mitglieder des Bundestages dem Antrag „Entwicklungspolitisches Jugendprogramm ‚Solidarisches Lernen‘“ zustimmen werden. Dazu gehört auch, dass in den
Ausschussberatungen konkrete Vorschläge gemacht werden, wie ein solches Programm ausgestaltet werden kann.
Ein Aufenthalt in Entwicklungsländern fördert nicht
nur die partnerschaftliche Seite der entwicklungspolitischen Arbeit, sondern stärkt auch den Prozess der Bewusstseinsbildung und die Erkenntnisse über die politischen,
ökonomischen und sozialen Zusammenhänge in der Welt.
Das ist nach dem 11. September nötiger als je zuvor.
({0})
Die Erfahrungen zum Beispiel mit dem Programm
„Konkreter Friedensdienst“ des Landes Nordrhein-Westfalen zeigen, dass junge Menschen nach entsprechenden
Aufenthalten in Afrika, Asien oder Lateinamerika in dem
genannten Sinne dazugelernt haben und später verstärkt
ehrenamtlich tätig wurden. Diejenigen, die schon vorher
aktiv waren, haben dann meistens ihren Einsatz für eine
gerechtere Welt verstärkt. Das wollen wir alle.
In der im Dezember 1995 erschienenen Studie des Instituts für Theologie und Politik in Münster zu „Situation
und Perspektiven von Dritte-Welt-Gruppen“ ist eine Diskrepanz zwischen der Existenz einer Vielzahl von Basisgruppen in der Eine-Welt-Arbeit einerseits und einer unzureichenden öffentlichen Aufmerksamkeit für diese
Arbeit andererseits festgestellt worden. Es ist auch auf die
Defizite in der Zielorientierung vieler Gruppen hingewiesen worden, die unter anderem aus fehlenden Kontakten
und zu geringem personellen Austausch mit den Ländern
des Südens resultieren. Daraus ist gefolgert worden, dass
die Motivation und die Glaubwürdigkeit von Eine-WeltGruppen und engagierten Einzelpersonen in beträchtlichem Maße von diesen direkten Kontakten abhängen. Ich
kann das vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen nur
bestätigen. Das zeigt: Unser Antrag ist mehr als notwendig.
({1})
Oft konnte ich eine Weiterentwicklung und erhebliche
Fortschritte in der Arbeit der Gruppen beobachten. Aus
schulischen Gruppen haben sich oft sehr konstante Gruppen weiterentwickelt. Die Projektreise war eine Art von
Basis, die das Interesse an der Auseinandersetzung mit der
Nord-Süd-Problematik nachhaltig geweckt und dazu angeregt hat, auch über die Schulzeit hinaus in diesem Bereich aktiv zu bleiben. Das sind Ergebnisse, die wir in
ganz Deutschland haben wollen.
Entscheidend für den Erfolg bisheriger vergleichbarer
Programme und des von uns gewünschten Programms
„Solidarisches Lernen“ ist eine gute Vorbereitung. Wer
eine Projektreise machen will, muss wissen, wie die
gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen sind, auf die man sich gemeinsam mit
den Partnern einlassen muss. Auch ist es wichtig, zu
klären, was man selbst zur interkulturellen Kommunikation beitragen kann.
Ein mir im letzten Jahr von Studierenden der Universität Münster zugänglich gemachter Bericht über einen
Arbeits- und Lerneinsatz in Peru zeigt, worauf es ankommen kann und sollte. Dort heißt es unter anderem:
Die Frauen der Volksküche bezogen uns gerne in ihre
Arbeit mit ein und waren immer offen für Fragen und
Gespräche. Hier fand des Öfteren ein kultureller Austausch statt, da sie sehr an anderen Kulturen und
Bräuchen interessiert sind.
In einem anderen Bericht einer Gruppe, die in Simbabwe war, heißt es:
Aufgrund des heißen Klimas wurde nur bis zum
frühen Nachmittag gearbeitet. Nach einer Mittagspause verblieb uns Zeit für persönliche Freizeitgestaltungen ... Abwechslungsreich verliefen unsere ...
Abende.
In einem Resümee, das vielleicht für viele sprechen kann,
heißt es:
Dieser intensive kulturelle Austausch, verbunden mit
der Möglichkeit zum persönlichen Einblick in lokale
Gegebenheiten und Probleme des Landes, wird uns
sicherlich auch weiterhin prägen.
Ich denke, diese Ausschnitte aus Berichten zeigen,
welche positiven Ergebnisse mit einem solchen Programm erzielt werden können. Ich hoffe, dass wir die entsprechende Ausgestaltung in den Ausschussberatungen
miteinander besprechen können.
Ich habe auf dem Hintergrund der Darstellung einer der
Partnerorganisationen, die langjährige Erfahrung mit der
Durchführung nationaler, regionaler und internationaler
so genannter Workcamps hat, im letzten Jahr geschrieben:
Teilnehmer aus der ganzen Welt kommen in diese
Workcamps und leben unter sehr einfachen Bedingungen zusammen in den Dörfern. Im Mittelpunkt
steht neben der praktischen Arbeit und den damit zusammenhängenden Erfolgen die Motivation zur
Selbsthilfe.
Das ist eine unter vielen Begründungen dafür, dass ein
Programm „Solidarisches Lernen“ von der Bundesregierung vorgelegt werden soll.
Es geht dabei darum, in vielfältiger Hinsicht andere
Menschen und Länder kennen zu lernen. Es geht darum,
sich mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen
Beziehungen der Herkunfts- und Gastländer auseinander
zu setzen, vor allem aber aktiv und aus einem Verantwortungsbewusstsein heraus gegen die Missstände der Zeit zu
handeln und Zusammenhänge zwischen den industrialisierten und den so genannten Entwicklungsländern zu
thematisieren. Eine solche Thematisierung kann unter anderem bei der Behandlung der Inhalte erfolgen, die in dem
Antrag „Freiwillige Agrar-Umwelt-/Sozial-Zertifizierung
für Entwicklungsländer“ angesprochen werden.
Auch der Handel zwischen Entwicklungs- und
Industrieländern bekommt im Rahmen der Globalisierung eine immer größere Bedeutung. Umso wichtiger ist
es, dass die Bedingungen für die Produktion und den Handel unter anderem durch Verhaltenskodizes von Unternehmen bei der Umsetzung von Standards in ökologischer
und sozialer Hinsicht verbessert werden. Wir gehen
besonders nach der großen Zustimmung in den an der
Beratung des Antrages beteiligten Ausschüssen davon
aus, dass die Bundesregierung die bereits initiierten
Bemühungen zur Förderung des verantwortlichen Unternehmertums im Sinne des „corporate social responsibility“ weiterführt und ausbaut. Wir begrüßen ausdrücklich,
dass die Bundesregierung in dem „Programm zur Förderung sozialer und ökologischer Standards in Entwicklungsländern“ schon jetzt einzelne Elemente unseres Antrages berücksichtigt.
Es wird in Zukunft darum gehen, den organisatorischen Rahmen für den Austausch und die Zusammenarbeit von Produktion, Handel, Nichtregierungsorganisationen - wie zum Beispiel Transfair, der Gepa und dem
Dachverband der Weltläden - und der Wissenschaft in den
im Antrag genannten Bereichen auszubauen. Das gilt
auch für das, was unter dem Markenzeichen Private Public Partnership - PPP - angeboten wird.
Wir gehen davon aus, dass die Bundesregierung dabei
nicht nur dorthin schaut, wo die über den fairen Handel
nach Deutschland kommenden Produkte ihren Ursprung
haben, sondern auch in andere europäische Länder, wie
zum Beispiel Holland und Österreich, aber auch die
Schweiz. Denn dort ist der Marktanteil der zertifizierten
und fair gehandelten Produkte schon viel größer als in
Deutschland. Einen solchen Marktanteil wollen wir auch
hier erreichen.
Was von dieser Regierung schon auf einen guten Weg
gebracht worden ist, ist noch ausbaufähig: bei Blumen
und Obst, bei Kaffee und Tee, bei Reis und Saft, bei Gewürzen und Wein und vielen anderen Produkten. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Nicht nur die
Liebe, auch die Entwicklungszusammenarbeit geht durch
den Magen - mit Genuss. Beides kann und soll etwas sehr
Schönes sein.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Christian
Ruck.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich konzentriere meine Ausführungen auf die strategische
Neuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik auf
die internationale Terrorismusbekämpfung. Die Terroranschläge vom 11. September haben uns gezeigt, wie
abhängig Sicherheit, Wachstum und Friede auch bei uns
in den Industrieländern von Geschehnissen in anderen
Erdteilen, auch in Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern, sind. Die sozialen Spannungen und
Gegensätze, die Krisen und Gefahrenherde dort sind zwar
nicht der unmittelbare Anlass und die unmittelbare Ursache des internationalen Terrorismus; aber sie führen doch
zu steigender Perspektivlosigkeit, zu wachsendem Radikalismus und zur politische Destabilisierung und bilden
damit den notwendigen Nährboden für terroristische Gewalttaten und deren politische Erfolge.
Wenn Hunderte von Millionen Menschen für sich und
ihre Kinder keine Perspektiven sehen, weil sie keinen Zugang zu Bildung, zu Einkommen, zu politischer Teilnahme haben, während wir unsere Überflussprobleme
bekämpfen, dann kann der Terror in der Tat langfristig zu
einem Flächenbrand werden. Deshalb ist es richtig, dass
die Entwicklungspolitik von vielen, zum Beispiel auch
von unseren Wirtschaftsverbänden, in einem neuen Licht
gesehen wird: als elementarer Pfeiler der Sicherheits-,
Außen- und Außenwirtschaftspolitik, als entscheidender
Beitrag zur Konfliktbekämpfung und zur Vermeidung von
Katastrophen, aber auch als Instrument zur Förderung einer Welt mit größerer sozialer Balance.
({0})
Die Entwicklungspolitik, vor allem auch die deutsche
Entwicklungspolitik, hat in den letzten Jahrzehnten beachtliche Erfolge errungen. Aber zu Beginn des neuen
Jahrtausends sind diese Erfolge gefährdet: Die Demokratie steht oftmals auf schwachen Füßen; Kriege und Bürgerkriege zerstören jahrzehntelange Aufbauarbeit; die
Umweltzerstörung hat dramatische Ausmaße angenommen; die Einkommensschere zwischen Industrie- und
Entwicklungsländern hat sich weiter geöffnet. Aber auch
die Ungleichverteilung von Einkommen und Lebenschancen innerhalb der Entwicklungs- und Schwellenländer spitzt sich weiter zu. Die Zahl der absolut Armen
steigt, und dies vor dem Hintergrund einer demographischen Entwicklung, bei der die Zahl der Menschen in den
Entwicklungsländern in den kommenden zwei Jahrzehnten noch einmal um 2 Milliarden zunehmen wird.
Wie kann man unter diesen Umständen eine Welt
größerer sozialer Balance durchsetzen? Der 11. September 2001 hat uns gezwungen, darüber neu nachzudenken
und einen neuen Anlauf zu nehmen, das heißt auch einen
neuen Anlauf hin zu mehr Effizienz in der Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung weltweit
und im umfassenden Sinne.
Unsere gestrige Anhörung zur Ernährungssicherheit
hat uns noch einmal plastisch vor Augen geführt, in welche Richtung wir weiterarbeiten müssen:
Erstens: Stichwort Globalisierung. Die wirtschaftliche Globalisierung muss so ausgestattet werden, dass die
Einkommensschere zwischen Nord und Süd nicht weiter
aufgeht. Wenn die Liberalisierung der Märkte dazu führt,
dass zum Beispiel ein Land wie die Philippinen zwar etwas mehr exportiert, aber noch viel mehr importiert, dann
ist das kein Beitrag zu größerer Stabilität.
Auch die in der Anhörung befürchtete Strategie der
OECD gegenüber den Entwicklungsländern gemäß dem
Motto „Wir subventionieren unsere Produkte, ihr öffnet
eure Märkte“ wäre ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Unsere Aufgabe im Rahmen einer effizienteren Entwicklungspolitik ist zum einen, den Entwicklungsländern
beim Prozess der Eingliederung in die Weltwirtschaft zu
helfen: im Bereich der Bildung und Ausbildung, beim
Aufbau eines funktionierenden öffentlichen Sektors
- möglichst ohne Korruption - und eines funktionierenden Finanzwesens. Zum anderen können vor allem
wir Europäer den offenen oder versteckten Protektionismus und das Subventionsunwesen weiter zurückführen.
Mich hat das gestern angeführte Beispiel von der billigen europäischen Milch, die die kleinbäuerliche thailändische Milchwirtschaft zu ruinieren droht, einmal mehr
daran erinnert, dass man mit europäischen Lippenbekenntnissen gerade auch im Agrarbereich nicht weiterkommt.
Ich bekenne mich zu einem offenen Welthandel, der
eine Chance auch für die Entwicklungsländer bietet. Aber
im Sinne einer internationalen sozialen Marktwirtschaft müssen die Regeln fair sein. Es darf nicht das
Recht des Stärkeren gelten. Auch die Entwicklungsländer
müssen in der Lage sein, auf die Schwachen in ihrer Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Dies müssen wir auch im
Rahmen der WTO sicherstellen.
({1})
Zweitens. Genauso wichtig wie eine verbesserte internationale Wettbewerbsposition der Entwicklungsländer
sind meistens auch tief greifende interne wirtschaftliche, soziale und politische Reformen. Auch das wurde
bei der Anhörung gestern etwa am Beispiel Brasiliens
deutlich, wo die Zahl der Landlosen dramatisch angestiegen ist. Hinzu kommt, dass von den verbliebenen 4,8 Millionen Kleinbauern nur 800 000 Zugang zu Krediten haben. Gerade die Kleinbauern werden immer mehr von
ihren eigenen lokalen Märkten abgeschnitten. Die zunehmende innere Kluft in vielen Entwicklungsländern zu
überwinden und die eigene breite Bevölkerung an der
Entwicklung teilhaben zu lassen ist für eine größere soziale Balance unerlässlich; aber dies ist in erster Linie
natürlich Aufgabe der dortigen Regierungen und Eliten.
„Good governance“ ist jedoch ein entscheidendes Effizienzelement. Wenn nämlich unsere Hilfen und die Impulse von außen die breite Bevölkerung in den Entwicklungsländern nicht erreichen, dann ist alles vergebens.
Deswegen müssen wir noch stärker als bisher „good governance“ zu einem Schlüsselkriterium für unsere Unterstützung und zum Gegenstand des Politdialogs machen.
Drittens. Im Zusammenhang mit dem 11. September
und seinen Folgen haben wir aber auch gesehen, dass wir
im kurz- und langfristigen Kampf gegen den internationalen Terrorismus eine neue Einstellung und eine neue
Politik gegenüber den Ländern und Regionen brauchen,
die eine „bad governance“ aufweisen: Schurkenstaaten,
Diktaturen, Kleptokratien oder in Einzelfragmente zerfallende Staatswesen. Hier ist natürlich eine positive Einflussnahme von außen zugunsten der Menschen besonders schwierig, aber auch besonders wichtig.
Wir haben in den letzten Jahren überdeutlich erlebt,
welchen verhängnisvollen Einfluss Regierungen mit „bad
governance“ oder Staaten, die im Chaos versinken, auf
ganze Regionen haben, zum Beispiel in Afrika südlich der
Sahara, aber auch im Bereich der islamischen Länder.
Deswegen müssen wir gerade in dieser Hinsicht im internationalen Konzert unsere Anstrengungen erhöhen, und
zwar konzeptionell und materiell. Dazu sehe ich folgende
Ansatzpunkte:
Wir müssen regionale Zusammenschlüsse erfolgreicher als bisher fördern, die in der Lage sind, regionale Krisen und Konflikte selbst dauerhaft zu bereinigen.
Wir müssen international bereit und in der Lage sein,
schneller und entschlossener gegen „bad governances“
vorzugehen, siehe Afghanistan, Ruanda, Simbabwe. Dazu
ist auch ein neuer Reformanlauf für die Vereinten Nationen notwendig.
Wir müssen unser eigenes politisches Instrumentarium
zur Unterstützung von Reformkräften verbessern, und
zwar vor allem dort, wo aus berechtigten Gründen die offizielle Entwicklungszusammenarbeit nicht möglich ist.
Wir müssen also noch viel stärker als bisher die Arbeit der
Kirchen, der Stiftungen und der NGOs fördern; wir müssen auch in islamischen Ländern, wo die Zusammenarbeit
mit Kirchen kaum möglich ist, neue geeignete NGO-Partner für eine Zusammenarbeit suchen.
Und schließlich: Wir müssen auch selbst flexibler werden. Der Erfolg eines Reformprozesses in einem Land,
das Überleben eines zarten Ansatzes von „good governance“ hängt oft entscheidend davon ab, wie schnell und
wie kräftig wir von außen helfen. Hier sind wir - siehe Pakistan - viel zu schwerfällig und kompliziert. Zwei Jahre
hat es gedauert und es musste erst der 11. September kommen, bis man dem von Anfang an reformorientierten Präsidenten Musharraf geholfen hat. So etwas darf einfach
nicht mehr passieren.
({2})
Eine vierte Bedingung zur Durchsetzung von mehr sozialer Balance in der Welt als Schutz gegen Radikalismus
und Fundamentalismus ist für mich eine stärkere und geschlossenere Rolle der Europäischen Union. Hier sind
zwar Fortschritte erzielt worden, aber insgesamt ist die
Politik Europas nach außen ein Torso. Außenpolitisch ist
die EU eine lahme Ente und entwicklungspolitisch kann
von Koordination und Kohärenz keine Rede sein. Dies hat
natürlich auch negative Folgen für die Effizienz: Wenn
beispielsweise Frankreich die Unterstützung Simbabwes
erhöht, während wir die Untaten Mugabes ächten wollen,
ist das Konzept von „good governance“ gestorben.
({3})
Meine Damen und Herren, aus all den genannten Gründen - und es kommen sicher noch manche Punkte hinzu;
ich gebe dem Kollegen Hemker Recht, wenn er sagt, dass
wir auch für die entwicklungspolitische Bildung nach innen mehr tun müssen - steht gerade die Entwicklungspolitik vor großen Herausforderungen. Diesen Herausforderungen aber - lassen Sie mich dies hinzufügen - wird die
rot-grüne Bundesregierung bis jetzt in keiner Weise gerecht.
({4})
Statt konzeptionell vorauszudenken, hecheln Sie medienwirksam den Katastrophen hinterher. Sie erfinden großartige Programme, aber nur auf dem Papier. Ihre vollmundigen Ankündigungen zu Armutsbekämpfung und
Kaukasus-Initiative stehen im krassen Widerspruch zur
Haushaltswirklichkeit. Die Versprechen von Rot-Grün
nach mehr Geld im Entwicklungshaushalt lösen inzwischen nur noch ein müdes Lächeln aus, gerade auch bei
denen, die die Zivilgesellschaft fördern sollten, den Kirchen, den Stiftungen und den Nichtregierungsorganisationen. Den tieferen Sinn Ihrer Länderliste versteht bis heute
weder Freund noch Gegner und Ihre Länderschwerpunkte sind ein entwicklungspolitischer Bumerang erster
Klasse: Ausgerechnet das, was wir als wichtigstes Instrument der Hilfe zur Selbsthilfe ansehen, nämlich Bildung
und Ausbildung, ist durch den Rost gefallen. Ähnliches
gilt auch für den Schutz der natürlichen Ressourcen, obwohl sich gerade hier die Situation dramatisch zuspitzt.
Auch von einem gezielten und koordinierten Vorgehen
zwischen Außen- und Entwicklungspolitik kann keine
Rede sein und die Handschrift Deutschlands für mehr Koordination und Kohärenz in Europa, für ein effizienteres
UN-System oder für eine stärkere Verzahnung zwischen
bilateralen und multilateralen Entwicklungspolitiken ist
nicht erkennbar.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
mein Fazit: Die internationale Staatengemeinschaft hat
mit Geschlossenheit und Entschlossenheit große diplomatische und militärische Erfolge gegen den internationalen Terrorismus erzielt.
Nun geht es darum, mit derselben Entschlossenheit dem
Terrorismus den Nährboden langfristig zu entziehen durch eine wirksame internationale Entwicklungspolitik
mit dem Ziel einer größeren sozialen Balance in dieser
Welt. Aber wenn Sie als rot-grüne Bundesregierung, als
rot-grüne Koalition dazu etwas Substanzielles beitragen
wollen, müssen Sie konzeptionell und materiell mehr bieten. Sie müssen Ihre Versprechen einlösen und Ihre Hausaufgaben machen.
Vielen Dank.
({5})
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erteile ich der
Kollegin Angelika Köster-Loßack das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser Debatte liegen uns eine ganze Reihe von
Anträgen vor, die wichtige Themen der Entwicklungszusammenarbeit der letzten Jahre aufgreifen und im Einzelnen zeigen, dass in den Jahren der rot-grünen Regierung
viel erreicht wurde. Dies zu bestreiten gehört natürlich
zum Geschäft der Opposition.
({0})
Ich möchte aber jetzt nicht weiter darüber reden, sondern die Gelegenheit wahrnehmen, einige grundsätzliche
Überlegungen anzustellen, wiewohl ich sagen muss, dass
vieles von dem, was der Kollege Ruck gesagt hat, doch
noch einiger Anmerkungen bedürfte. Die Zeit dazu habe
ich aber nicht.
Das Gefühl von Ausgrenzung und Unterlegenheit gegenüber dem westlichen Kultur- und Entwicklungsmodell
ist einer der Hintergründe dafür, dass die mörderischen
Anschläge des 11. September in Teilen der Welt mit
Gleichgültigkeit oder sogar mit Zustimmung wahrgenommen wurden. Der Prozess der Globalisierung aber
kann nur dann bewältigt werden, wenn sich der Süden
darin als gleichberechtigter Partner mit seinen Identitäten
und Traditionen wiederfindet, aber nur, soweit - ich betone das - dies nicht der universellen Deklaration der
Menschenrechte entgegensteht. Eine Globalisierung allerdings, die sich an unregulierten Finanzmärkten und
Shareholder-Value orientiert, wird nicht nur Armut und
Elend vergrößern, sondern auch unsere eine Welt gefährlicher und unsicherer machen.
In diesem Jahr ist Gelegenheit, auf zwei Weltkonferenzen entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen. In
Monterrey in Mexiko geht es im März dieses Jahres um
die internationale Entwicklungsfinanzierung, das heißt,
um die gesamte Palette der ökonomischen Beziehungen
zwischen Nord und Süd. Im September steht zehn Jahre
nach Rio die Nachfolgekonferenz zu Umwelt und Entwicklung in Johannesburg an. Dabei muss es uns gelingen, der friedlichen internationalen Zusammenarbeit,
dem Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern sowie der nachhaltigen Entwicklung mit konkreten Entscheidungen Priorität einzuräumen. Diese Chance dürfen
wir nicht verspielen.
({1})
Gerade nach dem 11. September gilt es für die Entwicklungspolitik umso mehr, aus der Nische herauszutreten. Die Wirksamkeit internationaler Strukturpolitik
muss verbessert und interkulturelle Dialoge müssen vertieft werden. Selbstverständlich müssen dabei auch für die
Entwicklungspolitik - wie für jede andere Politik - Qualität und Effizienz im Mittelpunkt stehen. Die Institutionen und Instrumente müssen also so gestaltet werden,
dass mit den verfügbaren Mitteln der größtmögliche und
nachhaltigste Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen geleistet werden kann. Neben dem
Kohärenzgebot ist dies eine der wichtigsten Leitideen rotgrüner Entwicklungspolitik.
({2})
Durch die wichtige deutsche Rolle bei den Entschuldungsbemühungen, durch Schwerpunktsetzung in regionaler und inhaltlicher Hinsicht sowie durch die Zusammenführung von Durchführungsorganisationen der
Entwicklungszusammenarbeit wurde dies in den vergangenen Monaten und Jahren unterstrichen.
Trotz dieser qualitativen Fortschritte ist der finanzielle
Handlungsspielraum für die Entwicklungszusammenarbeit immer noch viel zu eng. Die Quote der öffentlichen
Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit, die so genannte ODA-Quote der OECD-Staaten, ging zwischen
1990 und 2000 um ein Drittel zurück und liegt gegenwärtig bei einem Durchschnittswert von 0,22 Prozent; und
das angesichts der steigenden Herausforderungen in diesem Bereich.
Vor kurzem hat der zuständige EU-Kommissar Poul
Nielson im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Formulierung verwendet: „We
can’t take a shower without getting wet.“ - Wir können
uns nicht den Pelz waschen, ohne uns nass zu machen. Er
meinte damit, dass die internationale Gemeinschaft in
Monterrey ihre Bereitschaft zeigen muss, konkrete
Schritte zu gehen, um ihre finanziellen Versprechen einzulösen und die Entwicklungsziele des Millenniumgipfels
zu erreichen. Wörtlich sagte Nielson:
Damit diese Konferenz zum Erfolg führt, muss ein
wichtiger Aspekt erfüllt werden: mehr offizielle
- das heißt öffentliche Entwicklungshilfe. Und ich wiederhole mich: Auf
das Volumen kommt es an.
({3})
Ich halte aber nichts davon, dass die Entwicklungsländer das Geld der Geberländer nur abrufen, ohne gleichzeitig eigene Strukturveränderungen vorzunehmen. Genauso sollten die Industrieländer nicht versuchen, die
Verantwortung für Entwicklungsblockaden einseitig auf
die Entwicklungsländer abzuwälzen. Diese Partnerländer
müssen ihre Hausaufgaben natürlich machen, um durch
die Entwicklung von mehr Rechtsstaatlichkeit, die
Gleichstellung der Geschlechter und eine gute Regierungsführung die Grundlagen für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen.
Gleichzeitig kann die dringend notwendige Verstärkung der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung nur in
unmittelbarem Zusammenhang mit Veränderungen in der
internationalen Strukturpolitik wirksam werden. Dies
wird insbesondere anhand folgender Zahlen deutlich: Die
Exportsubventionen in den Industrieländern sind fünfmal
so hoch wie die gesamten Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit. Durch Zolleskalationen und Importbeschränkungen, vor allem im Agrar- und Textilbereich,
gehen den Entwicklungsländern Exporteinnahmen in
Höhe von jährlich annähernd 100 Milliarden US-Dollar
verloren. Jährlich verlieren die Entwicklungsländer rund
50 Milliarden US-Dollar durch Steuerflucht und illegale
Kapitalflucht, vor allem in so genannte Steueroasen, wie
Offshorezentren.
Die Märkte der Industriestaaten müssen weiter geöffnet werden. Seit März 2001 gelten für die am wenigsten
entwickelten Länder, die so genannten LDCs, Zoll- und
Quotenfreiheit in der EU. Für eine solche Regelung sollte
auch bei Nicht-EU-Industrieländern geworben werden.
Daneben gilt es, eine stärkere Marktöffnung gegenüber
den Ländern, in denen die Bevölkerung niedrige Einkommen hat, vorzunehmen.
({4})
Entwicklung erfordert, dass Exportchancen eingeräumt werden. Für Europa haben die USA diese Rolle
nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt, die über Jahrzehnte
mehr importierten, als sie in Richtung Europa schickten.
Marktöffnung ist ein entwicklungspolitisches Muss. In
vielen Entwicklungsländern hat die Erfahrung des vergangenen Jahrzehnts aber gezeigt, dass die Öffnung der
Märkte nicht allein zu steigendem Wohlstand führt. Unkontrollierte Marktkräfte können nämlich gerade in Ländern mit unzureichenden gesetzlichen und institutionellen
Rahmenbedingungen enorme soziale, ökologische und
natürlich auch politische Probleme hervorrufen. Deshalb
müssen die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen politisch gestaltet werden. Darauf ist im WTO-Prozess besonders zu achten, wenn soziale und ökologische Fortschritte im Sinne aller Beteiligten erzielt werden sollen.
Für die Gestaltung einer nachhaltigen und zukunftsorientierten Produktion ist auch eine international anerkannte und freiwillige Umwelt- und Sozialzertifizierung
unverzichtbar. Entwicklungszusammenarbeit kann einen
wichtigen Beitrag bei der Definition von Standards und
Leitlinien leisten und international anerkannte Zertifizierungsorganisationen unterstützen, insbesondere beim
Aufbau und bei der Implementierung.
({5})
Entwicklung braucht privates und öffentliches Kapital.
Wir können uns nicht auf eine Kompensation von sinkenden öffentlichen Mitteln allein durch privates Kapital verlassen, weil sich sowohl regional als auch bezüglich des
Investitionsobjektes private und öffentliche Mittel grundlegend unterscheiden. Auf den afrikanischen Kontinent
entfiel Ende der 90er-Jahre nur noch gut ein Prozent der
gesamten ausländischen Direktinvestitionen. Das bedeutet, dass öffentliche Mittel der Entwicklungszusammenarbeit die einzige Finanzquelle in diesem Raum darstellen.
Durch die Vorschläge von Anne Krueger vom IWF hat
die Diskussion um ein faires, transparentes und effizientes Schiedsverfahren zur Bereinigung der Überschuldung
von Staaten in den vergangenen Monaten neue Impulse
bekommen. Durch das so genannte internationale InsolDr. Angelika Köster-Loßack
venzverfahren soll es neue Entwicklungsoptionen für
hoch verschuldete Länder geben.
In diesem Zusammenhang soll auch Ländern wir Argentinien geholfen werden, die für eine HIPC-Lösung nicht
infrage kommen und doch eine massive Unterstützung für
einen Neuanfang benötigen, um die schwere ökonomische, soziale und politische Krise überwinden zu können.
({6})
Für eine Realisierung günstigerer Entwicklungsbedingungen sollten folgende Vorschläge auf jeden Fall berücksichtigt werden: die schon erwähnte Selbstverpflichtung der Industrieländer in Monterrey; ein größeres
Mitspracherecht von Entwicklungsländern in internationalen Gremien; eine optimale Kombination von öffentlichen und privaten Mitteln und Instrumenten, vor allem
im Hinblick auf das Zusammenspiel von Entwicklungszusammenarbeit, Direktinvestitionen, öffentlicher und
privater Finanzierung; aber auch mehr Innovationskraft
und Mut in der internationalen Politik, um angesichts nationaler Haushaltsrestriktionen neue Wege bei der Erschließung von zusätzlichen Finanzquellen zu gehen.
Dies ist vor allem im Hinblick auf den enormen Finanzbedarf, der sich bei der Sicherung der globalen öffentlichen Güter wie Umwelt und Gesundheit ergibt, dringend
geboten.
Wir dürfen bei all den langfristigen Zielen aber nicht
vergessen, dass viele Menschen tagtäglich konkreter und
unmittelbarer Hilfe bedürfen. In der Regel sind dies die
Ärmsten in den jeweiligen Gesellschaften. Als Beispiel
zum Abschluss möchte ich den Handel mit und den Verkauf von Kindern ansprechen, der eine eklatante Menschenrechtsverletzung darstellt.
({7})
Der Kinderhandel findet oftmals mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung oder des Verkaufs in sklavenähnliche
Arbeitsverhältnisse statt. Die Rahmenbedingungen dafür
sind Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Bildung und
fehlendes Problembewusstsein bei den Erwachsenen.
Die Bundesregierung hat sich - das ist als wichtiger Erfolg zu werten - mit rund 50 Millionen Euro an dem internationalen Programm der Internationalen Arbeitsorganisation zur Abschaffung der Kinderarbeit engagiert.
Konkrete Menschenrechtsverletzungen in diesem Bereich
müssen auch im Rahmen des zwischenstaatlichen Politikdialogs mit den Entwicklungsländern prinzipiell immer
wieder angesprochen werden.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich gebe
dem Kollegen Joachim Günther für die Fraktion der FDP
das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vielzahl
der heute zur Diskussion stehenden Themen und Anträge
steht für mich die Frage im Vordergrund: Welche Konsequenzen haben wir für die Entwicklungspolitik nach dem
11. September gezogen? Ich bin der Meinung, dass wir dieses Thema auch heute gründlich beleuchten sollten. Vielleicht sollten wir sogar noch einmal in den Ausschüssen
überlegen, ob wir unter diesem Gesichtspunkt bei manchem Antrag nicht zu einer neuen Bewertung kommen.
Dies gilt natürlich auch für den vorliegenden Antrag
zum Schutz der Kinder in den Entwicklungsländern. Ich
sehe nach dem 11. September ein noch dringenderes Anliegen, die Frage der Kinder in Entwicklungsländern zu
einem zentralen Bestandteil einer globalen Strategie der
Bekämpfung des Terrorismus zu machen.
({0})
Heute sollten wir uns jedoch aufgrund der Aktualität
des Themas vorrangig der Frage der konzeptionellen
Konsequenzen für den 11. September für unsere Entwicklungsarbeit zuwenden. Die FDP war die erste Fraktion, die unmittelbar nach dem 11. September einen umfassenden Antrag für eine nachhaltige Verstärkung und
konzeptionelle Überarbeitung der Entwicklungspolitik
vorgelegt hat. Dabei begrüßen wir, dass sich die
CDU/CSU diesem wichtigen Thema angenommen hat,
und unterstützen ihre Forderung an die Bundesregierung,
konzeptioneller und finanzieller Vernachlässigung der
Entwicklungspolitik endlich Einhalt zu gebieten.
({1})
Doch aus dem BMZ kommt, mit Verlaub, heiße Luft.
({2})
Frau Wieczorek-Zeul kann einem fast schon Leid tun.
Auf der Geberkonferenz in Tokio verkündet sie mit feierlicher Miene, Deutschland werde Afghanistan 320 Millionen Euro für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen,
um kurze Zeit später zuzugeben, dass davon gerade einmal ein Fünftel tatsächlich bewilligt wird. Der Rest ist wie
immer ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft.
({3})
Kaum aus Tokio zurück, legte die Ministerin der erstaunten Öffentlichkeit das bereits im Herbst mit viel
Tamtam angekündigte Konzept für die zentralasiatischen Staaten vor. Doch wer sich dieses Papier einmal
anschaut und hofft, darin das Bekenntnis zu verstärktem
deutschen Engagement zur Stabilisierung der Krisenregionen in Afrika zu finden, der wird bitter enttäuscht.
Nach langatmigen Ausführungen werden hinlänglich bekannte Situationen der afghanischen Nachbarstaaten beschrieben: demokratische Strukturen, desolate Wirtschaftslage, soziale Spannungen. So weit, so gut. Doch
was will das BMZ eigentlich dagegen tun? Eine Antwort
darauf erwartet man von einem Konzept. Hier gleicht das
Konzept dem Werfen von Nebelkerzen. Von konkreten
Aktionsplänen, von Projekten, von entwicklungspolitischen Strategien und vor allem von dem hierzu erforderlichen Finanzrahmen ist nichts zu sehen.
({4})
Das Konzept gipfelt in dem an Kreativität kaum zu überbietenden Vorschlag, Zentralasien insgesamt als Partnerregion zu betrachten.
({5})
Kirgistan, Usbekistan und Kasachstan waren bisher so
genannte Partnerländer. Wenn das Konzept auch nur den
Anflug von Glaubwürdigkeit haben soll, dann müssen alle
diese Länder als Schwerpunktländer aufgenommen werden. Nur so könnte in der Region eine Stabilisierung erfolgen. Aber es werden alte Ladenhüter entstaubt und als neue
Konzepte verpackt. Dabei sollten Beiträge zum Aufbau der
Zivilgesellschaft, zum Abbau regionaler Vorurteile, zur
Förderungsmöglichkeit von Juristen usw. geleistet werden.
All das sind nützliche Maßnahmen. Aber sie waren allesamt schon vor dem 11. September im Rahmen unserer Politik ein Schwerpunkt der Entwicklungsarbeit.
Angesichts dieser Mittel- und Ideenlosigkeit mutet es
geradezu abenteuerlich an, wenn Frau Wieczorek-Zeul abschließend behauptet, mit dem Konzept wolle sie die
makroökonomischen Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung in Zentralasien leisten. Selbst
wenn Sie die Mittel dafür hätten, Frau Ministerin, muss ich
Sie fragen: Wie wollen Sie in Zentralasien etwas erreichen,
was Sie nicht einmal in Deutschland geschafft haben?
({6})
Das ist wieder einmal Anschauungsmaterial für die tiefe
Kluft zwischen Traumvorstellungen und Wirklichkeit.
({7})
Die Wirklichkeit ist, dass sich Deutschland unter Ihrer
Verantwortung unter Einberechnung der Antiterrormittel
weiter von dem 0,7-Prozent-Ziel entfernt hat als jede
Bundesregierung zuvor.
({8})
Entgegen der Ankündigungen im Koalitionsvertrag, die
Mittel zu erhöhen, sind sie inzwischen auf 0,27 Prozent
geschrumpft.
Bei so viel heißer Luft könnte man eigentlich zur Tagesordnung übergehen, wenn von dieser Vollmundigkeit
nicht auch die deutschen Interessen insgesamt betroffen
wären. Eine deutsche Ankündigungsministerin, die weltweit Wohltaten verspricht, die sie zu Hause wieder
zurücknehmen muss, beschädigt auch die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der internationalen Öffentlichkeit.
({9})
Sie beeinträchtigt im Übrigen auch den deutschen Handlungsspielraum in Europa; denn anstatt wieder einmal nationale Alleingänge zu propagieren, wäre ein Konzept mit
den Partnern der Europäischen Union abzustimmen.
Hierzu hat die FDP im Bundestag einen Antrag vorgelegt. Wir fordern gegenüber den EU-Partnern eine Initiative zur Erarbeitung und raschen Umsetzung einer umfassenden Strategie zur politischen und wirtschaftlichen
Stabilisierung der zentralasiatischen Krisenregion. In deren Mittelpunkt muss ein europäischer Stabilitätspakt zur
Bündelung sämtlicher Hilfeleistungen stehen; denn eine
derart große Herausforderung kann nur durch einen gemeinsamen Kraftakt der Europäer geleistet werden. Mit
einer gemeinsamen europäischen Strategie hätte die
Union überdies auch die Gelegenheit, der Weltöffentlichkeit endlich einmal zu beweisen, dass sie es mit europäischer Außenpolitik ernst meint.
({10})
Bosnien, Kosovo, Mazedonien und jetzt Afghanistan weltweit sind circa 6 000 deutsche Soldaten im Einsatz.
Deutsche Außenpolitik darf sich jedoch nicht auf die Bereitstellung von Truppen beschränken. Sie braucht auch
ein Engagement mit entwicklungspolitischen Anstrengungen der gesamten Europäischen Union. Doch im Konzept von Frau Wieczorek-Zeul ist das Wort „Europa“
überhaupt nicht zu finden.
({11})
Das heißt, wir warten auf Konzepte. Wir warten auf
Strategien und wir warten auf verlässliche Finanzierungen. Ich bin nicht sicher, ob wir das in dieser Legislaturperiode mit Rot-Grün noch erreichen.
({12})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund der Erkrankung
meines Kollegen Carsten Hübner ist mir der Beitrag zur
Entwicklungspolitik übertragen worden. Zunächst einmal
wünsche ich daher Carsten Hübner gute Besserung.
({0})
Ich sehe die mir damit zugekommene Möglichkeit als
Herausforderung, mich über die Gemeinsamkeit - oder
besser gesagt: über die Klüfte - der Außen- und Entwicklungspolitik zu verbreiten.
Ich finde es schon bemerkenswert, dass die Absicht zur
inhaltlichen Übereinstimmung - wenn man die Polemik
ausklammert - in der Entwicklungspolitik offensichtlich
größer ist als in der Außenpolitik. Ich nehme auch wahr,
dass die Kollegen, die die Entwicklungspolitik verantworten, gemeinhin einen entspannteren Umgang miteinander pflegen als die Außenpolitiker.
({1})
Joachim Günther ({2})
Hinzu kommt, dass sie in der Öffentlichkeit im Allgemeinen eher als „die guten Menschen“ betrachtet werden,
während bei den Außenpolitikern immer die knallharte
Interessenlage im Vordergrund steht.
All das bringt mich aber auch zu der Vermutung, dass
noch immer das Bild vorherrscht, dass Entwicklungspolitikerinnen und -politiker zwar bessere Menschen, aber
einflusslos sind. Dieser Frage der Einflusslosigkeit deutscher Entwicklungspolitik muss sich auch diese Debatte
stellen.
({3})
Ich meine, dass im Zusammenspiel von Staat und ziviler Gesellschaft ein ganzes Bündel von Sozial-, Kultur-,
Finanz- und Rechtspolitik - wie auch gute Diplomatie eine moderne Außenpolitik ebenso wie eine moderne Entwicklungspolitik ausmachen. Neuerdings nennt die Bundesregierung - der Staatsminister hat sich von der Regierungsbank verdrückt - das „Weltinnenpolitik“. Das ist
nicht nur die übliche rot-grüne Überhöhung eines Problems, für das sachliche Lösungen fehlen, sondern lenkt
auch von den tatsächlichen Problemen ab, die ich in der
Aussage „global denken und lokal handeln“ viel besser
gebündelt finde, das heißt, am eigenen Handeln zu überprüfen, was man zu dem Weltzustand beizutragen hat.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich das
anhand einiger Schlaglichter deutlich machen. Ich greife
auf die gestrige Debatte zum Stammzellenimport
zurück, die in der Öffentlichkeit bzw. in der Presse sehr
gerühmt worden ist. Auch viele Kolleginnen und Kollegen haben sich höchst angenehm über die Debatte
geäußert. Ich muss ehrlich sagen: Bei mir ist schon
während der Debatte ein schaler Nachgeschmack eingetreten, der auch geblieben ist. Ich will versuchen, Ihnen
das zu erklären.
Ein Grundthema der Debatte war für alle Parteien der
Schutz des ungeborenen Lebens. Das möchte ich weder
kommentieren noch kritisieren. Ich frage mich aber, ob es
der Schutz des ungeborenen Lebens nicht mit sich bringen sollte, mehr über den Schutz des geborenen Lebens in
aller Welt zu reden.
({5})
Ich würde mir - meine Fraktion eingeschlossen; die geringe Besetzung ist schließlich auch kein Zufall - eine Debatte wünschen, in der wir über den Schutz des geborenen
Lebens weltweit genauso engagiert diskutieren. Alle sieben Sekunden verhungert ein Kind auf dieser Welt.
60 Millionen Menschen in 33 Ländern sind akut vom Verhungern bedroht. Das ist das Schlaglicht, das ich deutlich
machen will. Vor diesem Hintergrund werden viele Debatten, die wir führen, in anderen Teilen der Welt völlig
anders verstanden.
Ich möchte auch, dass in einer solch kritischen Debatte
zugleich die spezifische Rolle der Pharma- und Biotechnologieindustrie thematisiert und problematisiert statt
ausgeklammert wird, wenn wir über die großen Krankheiten dieses Jahrhunderts wie Aids, Tuberkulose und Lepra sprechen.
Man muss wohl zugeben, dass die Konzepte der Armutsbekämpfung gescheitert sind, weil die Umverteilung
und die wirtschaftliche Kontrolle nicht genügend thematisiert worden sind. Eine solche Debatte - nicht als Ersatz,
sondern als Minimum - kann meiner Meinung nach vernünftigerweise nur dann geführt werden, wenn endlich
eine Verabredung getroffen wird - wir werden das in
Form eines Gesetzentwurfs machen -, dass innerhalb der
nächsten fünf Jahre diese Regierung oder möglicherweise
eine andere gesetzlich verpflichtet wird, einen Anteil der
Entwicklungshilfe von 0,7 Prozent zu erreichen. Das darf
nicht länger von der Konjunktur abhängig gemacht und
nicht länger als Wohltat verstanden werden. Wir brauchen
ein Gesetz, das vorschreibt, diese Quote innerhalb von
fünf Jahren in Stufen zu erreichen.
({6})
Wir sollten überlegen, ob nicht endlich auch in den
Entwicklungsdebatten in Deutschland und den USA Fragen der Abrüstung - obwohl sich nach dem 11. September gezeigt hat, dass Hochrüstung keine Lösung ist, erleben wir, dass weiter hochgerüstet wird - und der
Verwendung von frei werdenden Mitteln zur Armutsbekämpfung und Entwicklung wieder eine Rolle spielen
müssen.
Momentan ist das Gegenteil der Fall. Alle Abrüstungsinitiativen werden abgebügelt. Wir hatten in unserem Antrag zu der Frage, wie der Terror wirksamer zu bekämpfen ist, vorgeschlagen, 10 Prozent der Gelder, die weltweit
für Rüstung ausgegeben werden, über einen Fonds bei den
Vereinten Nationen für Armutsbekämpfung und
Krankheitsbekämpfung einzusetzen.
({7})
Als Reaktion haben wir immer gehört: Es ist völlig unrealistisch, was ihr vorschlagt. - Wenn ich die Mehrheitsverhältnisse sehe, akzeptiere ich das natürlich auch. Ich
frage mich aber, ob die Mehrheitsverhältnisse in einem
Parlament oder in einer Regierung die Realität sind oder
ob der Zustand der Welt die Realität ist. Am Zustand der
Welt, finde ich, sollten wir Politik, und zwar nicht nur Entwicklungspolitik, ausrichten, damit irgendwann einmal
gesagt werden kann: Die Entwicklungspolitiker sind nicht
nur nett, sondern sie haben auch Einfluss.
Danke sehr.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dagmar Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Der Teufel wird uns alle
holen!“, so warnte einst Willy Brandt als Vorsitzender der
Nord-Süd-Kommission der Vereinten Nationen. Wenn
uns der Teufel nicht holen soll, dann muss es uns gelingen, die zunehmende Kluft zwischen den reichen und den
armen Ländern der Erde zu überwinden. Entwicklungspolitisch geschulte Menschen weisen seit Jahren
- nicht erst seit dem 11. September und den entsetzlichen
Auswüchsen des internationalen Terrorismus - auf die
komplexen Zusammenhänge zwischen Entwicklungsdefiziten und der Entstehung von Gewalt hin. Bürgerkriege, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der eigenen
Ohnmacht bilden den Nährboden, auf dem eine entstaatlichte, gleichsam privatisierte Gewalt ganzer Gesellschaften gedeihen kann.
Meine Damen und Herren von der Union, lange vor
den Ereignissen von New York hat Rot-Grün erkannt,
dass eine zeitgemäße Entwicklungspolitik Teil eines umfassenden friedens- und sicherheitspolitischen Ansatzes
sein muss. Schön, wenn Sie nun nachziehen wollen. Nur:
Wenn Sie erst jetzt eine strategische Neuausrichtung fordern, bedeutet dies nichts anderes als den Versuch Ihrerseits, konzeptionell das nachzuholen, was bereits seit
mehr als drei Jahren unser Handeln bestimmt.
Zudem liegt Ihrem Antrag ein viel zu enges Sicherheitsverständnis zugrunde. Er degradiert Entwicklungspolitik allein zum Instrument internationaler Terrorismusbekämpfung und macht sie so zum unbedeutenden
Appendix anderer Politikbereiche.
({0})
Dem setzt die rot-grüne Bundesregierung das eigenständige Konzept einer globalen Strukturpolitik entgegen. Es ermöglicht ein flexibles Reagieren auf veränderte
Rahmenbedingungen in einer Region; siehe das Zentralasienkonzept des BMZ. Ein solcher Ansatz hat nicht nur
in Zeiten von Krisen, Kriegen und Terrordrohungen Konjunktur. Er ist langfristig angelegt und steht für ein breites
globales Reformbündnis.
({1})
Konkret heißt das: Wir wollen eine gerechte Beteiligung der Entwicklungsländer in internationalen Institutionen. Wir halten am ambitionierten, aber erreichbaren
Ziel einer Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 und an
Wirtschaftsreformen fest. Wir werben für eine Erweiterung der Entschuldungsinitiative für die ärmsten Entwicklungsländer und tragen damit zur Festigung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen bei.
({2})
Wir sehen die Partnerländer im Kontext einer Region,
weil zum Beispiel Umweltprobleme keine Staatsgrenzen
kennen. Wir setzen uns mit Nachdruck für einen festen
Zeitplan zur Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels ein.
({3})
Die vor uns liegenden internationalen Konferenzen in
diesem Jahr werden wichtige Herausforderungen auf diesem Weg sein. Die Zielstrebigkeit unseres Konzepts liegt
auf der Hand. Wir sehen die Globalisierung nicht als wirtschaftlichen Selbstläufer, sondern wir sehen die Notwendigkeit ihrer Einbettung in soziale und ökologische Leitlinien. So wird Schritt für Schritt politische Handlungsfähigkeit zurückgewonnen. Wir sind nicht blind gegenüber den Auswirkungen privatwirtschaftlicher Investitionen auf die Entwicklungspotenziale der Länder des Südens. Wir wollen Einfluss nehmen, damit daraus ein für
die Entwicklung positiver Trend wird.
Eine dieser Möglichkeiten sind die PPP-Programme.
Seit 1999 arbeiten staatliche Stellen und Privatwirtschaft
im Rahmen von Entwicklungspartnerschaften bei der
Realisierung von entwicklungspolitisch sinnvollen und
betriebswirtschaftlich rentablen Projekten zusammen.
Nachhaltigkeit, Effektivität und Rentabilität sind die
Grundsätze dieser gemeinsamen Vorhaben. Sie beruhen
auf dem beiderseitigen Interesse am Erfolg der Projekte.
Die Zahlen der ersten beiden Jahre sprechen eine deutliche Sprache. Rund 500 Projekte mit einem öffentlichen
Beitrag von fast 1,5 Milliarden DM haben eine nahezu
gleich große Summe an privatem Kapital aktiviert - ein
schöner Erfolg, der allerdings nicht unumstritten ist. Viele
Kritiker von Entwicklungspartnerschaften stellen die
Frage, ob es sich hierbei nicht um versteckte Außenwirtschaftsförderung handelt. Die Antwort lautet Nein. Nicht
am Förderbedarf deutscher Unternehmen orientiert sich
eine Entwicklungspartnerschaft, sondern an entwicklungspolitischen Zielen. Aber ist es falsch, wenn sie dennoch zum Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland
beiträgt?
Die Voraussetzung, an diesen Programmen zu partizipieren, ist das langfristige entwicklungspolitische Engagement eines Unternehmens. Dies garantieren die festgeschriebenen Kriterien zur Prüfung der Projektvorschläge.
Uns sollte aber nicht nur das zusätzlich aktivierte Investitionsvolumen interessieren, denn durch die Verhandlungen zwischen Privatwirtschaft und Ministerium gewinnen
wir zusätzliche Multiplikatoren für eine globale Strukturverantwortung.
Es gibt bereits zarte Erfolge. Einige Unternehmen haben ethische Verhaltenskodizes und Gütesiegel zum Bestandteil ihrer Unternehmensphilosophie gemacht. Auch
wenn es mehr sein dürften, auch wenn es immer noch zu
viele schwarze Schafe gibt, wie das „Schwarzbuch Markenfirmen“ von Werner und Weiss an zahlreichen Beispielen belegt, müssen wir den positiven Trend unterstützen und stärken. Privatinvestitionen in den Ländern des
Südens dürfen keine Einbahnstraßen sein. Beispielsweise
dürfen Näherinnen in Südostasien nicht mehr unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und unterhalb vereinbarter Minimallöhne Markenartikel für unsere Warenhäuser produzieren.
({4})
Globale Sozial- und Ökostandards allein auf dem Papier
bringen aber nichts. Durchgesetzt werden sie erst, wenn
es allen nützt, wenn auch Produzenten den Marktvorteil
fairer Produkte erkennen.
Aber wie weiß der Käufer oder die Käuferin, an welchen Produkten kein Blut klebt, hinter welchen Dumpingpreisen sich keine verlorene Kindheit verbirgt? Eine
Dagmar Schmidt ({5})
Möglichkeit, das zu verdeutlichen, besteht darin, die
schwarzen Schafe an den Pranger zu stellen. Das bleibt
eine wichtige Aufgabe des kritischen Journalismus. Die
Politik muss jedoch primär den Weg in die Köpfe suchen,
immer und überall. Neben der großen im Inland zu erfüllenden Aufgabe der entwicklungspolitischen Bildung
wäre die jährliche Verleihung eines Unternehmerpreises
für nachahmenswertes entwicklungspolitisches Verhalten
ein kleiner Schritt in diese Richtung. Ein solcher Preis
könnte sowohl einer breiten Öffentlichkeit die globale
Verantwortung bewusster machen als auch den Erkenntnisprozess in der Wirtschaft beschleunigen, dass ihr Agieren in der Welt Folgen für uns alle hat.
({6})
Ich hoffe auf mehr Unternehmen mit globaler Strukturverantwortung, mehr Unternehmen, die sich nicht
mehr aus ihrer Verantwortung herauswinden wollen.
Meine Bitte lautet: Unterstützen Sie unseren Antrag.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Erika Reinhardt.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht alle Kinder werden gleich geboren, manche nämlich in reichen und manche in armen Ländern. Aber sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind unschuldig. Niemand hat das Recht, Kinder
wie Ware zu behandeln.
({0})
Kinder haben Rechte und die Politik trägt die Verantwortung für den Schutz dieser Rechte.
Meine Damen und Herren, Sie merken es schon: Ich
werde mich auf die vor uns liegenden Anträge beschränken, da Herr Kollege Ruck bereits alles andere, was notwendig war, gesagt hat.
Afrika ist der Kontinent der Kinder; mehr als die
Hälfte der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt. Afrika ist
aber auch der Kontinent, der uns die größten Sorgen bereitet, und zwar wegen Aids, Unterernährung, Mangel an
Bildung, Korruption, aber eben auch wegen des Kinderhandels. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, so
steht doch fest, dass Frauen- und Kinderhandel wesentlich
zugenommen hat und - zum Entsetzen von uns allen - inzwischen zu einem ähnlich lukrativen Geschäft geworden
ist wie Waffen- und Drogenhandel.
Kinderarbeit und damit Kinderhandel haben viele
Ursachen: Armut, verbunden mit fehlender Bildung, die
Verstädterung Afrikas - erst gestern in der Anhörung wurden wieder die Auswirkungen verdeutlicht -, aber auch
Aids führen dazu, dass Kinder fast zwangsläufig in die Erwerbstätigkeit getrieben werden und der Kinderhandel
somit begünstigt wird.
Wir erleben, wie schrecklich sich der großflächig organisierte Handel mit Kindern auswirkt: Netzwerke von
Händlern arbeiten sich durch Städte, ländliche Gebiete
und Flüchtlingscamps, um Kinder und Frauen in ihren Besitz zu bringen. Es ist unerträglich, festzustellen, dass
skrupellose Menschenhändler am Kinderreichtum Afrikas verdienen.
({1})
Kongresse, Deklarationen und Protokolle sind wichtige
Maßnahmen, um das Bewusstsein auch in den Entwicklungsländern zu verändern, und hier besteht Handlungsbedarf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sind natürlich empört über die Kindersklaverei. Aber was ist bisher
passiert? Staatliche Maßnahmen gegen Kinderhandel stehen erst am Anfang. Vielversprechend erscheinen mir
Vereinbarungen wie die zwischen Mali und der Elfenbeinküste zur Rückführung von minderjährigen malischen Zwangsarbeitern aus den Plantagen der Elfenbeinküste. Das sind zwar nur kleine Schritte, aber hier
bestehen Handlungsmöglichkeiten. Der Weltkongress in
Yokohama hat gezeigt, dass wir die regionale, die nationale, aber auch die internationale Zusammenarbeit verstärken müssen, um den Händlern das Handwerk zu legen.
({2})
Es ist klar, dass erst entsprechende Gesetze verabschiedet werden müssen, bevor Kinderhandel als Delikt
verfolgt werden kann. Die Bundesregierung verweigert
sich seit langem den Forderungen der CDU/CSU, die
Grundfälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern - dies
ist mit dem Kinderhandel verbunden -, die derzeit nur als
Vergehen eingestuft werden, als Verbrechen zu kennzeichnen. Hier muss sich die Bundesregierung endlich bewegen.
({3})
Die Bekämpfung des Kindermissbrauchs ist nicht allein
ein internationales Problem. Auch auf nationaler Ebene
müssen längst überfällige Korrekturmaßnahmen ergriffen
werden.
Es ist aber nur eine Seite der Medaille, wenn die Staaten, wie es in beiden Anträgen zum Ausdruck kommt, aufgefordert werden, beispielsweise die Kinderkonvention
der UNO in nationale Gesetze umzusetzen. Was nützt
eine Vorschrift, wenn man sie in der Praxis nicht anwendet? Wir brauchen eine verstärkte regionale, nationale
und - ich sage es noch einmal - internationale Zusammenarbeit. Wir brauchen auch ein Bewusstsein für die
Problematik in den betroffenen Ländern. Deshalb ist es zu
begrüßen, dass in beiden Anträgen der Aufklärungsarbeit
eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Sowohl der
FDP-Antrag als auch der Antrag der Regierungskoalition
verurteilen den Kinderhandel und stimmen insoweit mit
unserer Position grundsätzlich überein.
Dagmar Schmidt ({4})
Wir brauchen Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmen
für besonders gefährdete Gruppen. Wir brauchen besondere Maßnahmen zum Schutz von Mädchen und Frauen.
Bei der Strafverfolgung fehlt die Koordinierung. Ein
weltweiter Datenaustausch ist deshalb notwendig.
Um all das umzusetzen, bedarf es aber auch der entsprechenden Mittel. Es nützt überhaupt nichts - das ist
hier schon ein paar Mal angesprochen worden -, neue
Programme und Maßnahmen zu fordern, auf der anderen
Seite den Haushalt aber so zusammenzukürzen, dass
Maßnahmen gar nicht mehr finanziert werden können.
({5})
Der Antrag von Rot-Grün bleibt die Antwort darauf schuldig. Der Koalitionsantrag verschweigt - im Gegensatz
zum Antrag der FDP, in dem das sehr deutlich angesprochen wird -, dass all das Geld kostet und dass all dies nicht
durchgesetzt werden kann, wenn die Mittel nicht vorhanden sind.
({6})
Das alles steht im Widerspruch zu Ihren Willensbekundungen bezüglich des Kampfes gegen Kinderhandel.
Ich sage Ihnen: Ich finde es unverantwortlich, dass es
zwei Jahre dauert, bis Anträge hier, im Plenum, behandelt
werden.
({7})
Im Februar 2000 lag der Antrag der FDP auf dem Tisch,
Ihrer im September. Inzwischen haben wir das Jahr 2002.
Wir sollten uns das eigentlich nicht gefallen lassen
({8})
- so ist es -; denn damit wird deutlich, welchen Stellenwert Kinderhandel, Kindesmissbrauch oder Entwicklungspolitik überhaupt hat. Angesichts dessen müsste eigentlich ein Aufschrei durch unser Plenum gehen.
({9})
Wir werden deshalb dem FDP-Antrag zustimmen, uns
aber bei der Abstimmung über den Antrag der Regierungskoalition - wir halten ihn von der Sache her für richtig - der Stimme enthalten.
Lassen Sie mich zum Schluss auf den Antrag auf
Drucksache 14/8006 zu sprechen kommen. Lieber Kollege Hemker, es tut mir fast Leid, hier sagen zu müssen:
Vom Grundsatz her ist der Gedanke Jugendaustausch/Jugendwerk gut; aber auch hier gilt genau das Gleiche:
Wenn man dafür keine Mittel bereitstellt, dann werden sie
an irgendeiner Stelle im BMZ-Haushalt abgezwackt.
Diese Mittel fehlen dann in anderen Bereichen. Wir können diesem Antrag - so gut er von der Idee her sein mag
- daher nicht zustimmen; denn seine Finanzierung ist
nicht geklärt. Wir haben - darauf hast du richtigerweise
schon hingewiesen - uns mit solch einem Antrag bereits
vor zwei Jahren auseinander gesetzt. Auch damals wurde
er abgelehnt; aber aus anderen Gründen. Es gibt in diesem
Bereich viele Projekte, die gut sind und verbessert werden
sollten. Aber, Frau Ministerin - ich sage es noch einmal -,
dafür bedarf es zusätzlicher Mittel, um die Sie in der Regierung, bei Herrn Eichel, kämpfen müssen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kinder bedeuten Zukunft. Wir sollten alles tun, um die Zukunft der Kinder zu
sichern. Gerade die Kinder in den Entwicklungsländern
sind auf unsere Hilfe besonders angewiesen. Ich bitte Sie,
in deren Interesse alles zu tun, damit im Haushalt - leider
Gottes wurde gerade bei den Organisationen, die diese
Maßnahmen durchführen, gekürzt; auch Herr Kollege
Ruck hat das deutlich gemacht - mehr Mittel für das BMZ
eingestellt werden, statt hier Scheinanträge zu stellen, die
uns nicht weiterhelfen.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Karin Kortmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich beschleicht
bei den entwicklungspolitischen Debatten zunehmend das
Gefühl, dass wir auf einer Insel der Glückseligen leben
und die Rahmenbedingungen, die auch für die deutsche
EZ gelten, dermaßen außer Acht lassen, dass wir überhaupt nicht mehr über die Instrumentarien, die wir folgerichtig zur Verfügung stellen können, positiv berichten
dürfen.
({0})
Herr Gehrcke, Sie haben vielleicht Recht, wenn Sie sagen, wir seien im AWZ diejenigen, bei deren Positionen
es die meisten Übereinstimmungen im Hause gibt, und
wir seien eher die guten, netten Menschen, mit denen man
sich verständigen könne. Aber der eben von Herrn
Günther vorgetragene Rundumschlag über eine angebliche - von ihm so wahrgenommene - deutsche Entwicklungszusammenarbeit macht deutlich, dass die FDP ihren
alten Antrag aus der Tasche gezogen hat, wonach das
BMZ abgeschafft und der Entwicklungszusammenarbeit
als eigenständiger Aufgabe einer guten Regierungsarbeit
kaum noch ein Stellenwert beigemessen werden soll.
({1})
- Auf das Geld komme ich gleich zu sprechen. Hören Sie
zu und dann können Sie mir gleich antworten.
Ich kann es kaum noch ertragen, dass das 0,7-ProzentZiel als einziger Schlüssel zum Glück der Entwicklungszusammenarbeit angesehen und permanent wie eine Art
Monstranz vor sich hergetragen wird,
({2})
als gäbe es keine anderen Instrumente. Wir reden über
eine internationale Entwicklung, die auf einer von uns initiierten Entschuldungskampagne basiert, mit der wir
den ärmsten Ländern der Welt bei ihrem Versuch, sich zu
entschulden, helfen wollen.
({3})
Sie haben einen Haushalt hinterlassen, der jeder einzelnen
deutschen Familie Schulden in Höhe von 70 000 DM aufbürdet.
({4})
Trotzdem werden Sie nicht müde, permanent Nachbesserungen zu fordern und nach zusätzlichen Mitteln zu rufen,
ohne einmal zu fragen, warum es das 0,7-Prozent-Ziel
überhaupt gibt und welche anderen Förderungskriterien
noch berücksichtigt werden müssen.
({5})
- Nein, nein! Wenn Sie schon Grundsatzfragen ansprechen, erinnere ich Sie sehr gerne daran, dass im Vorfeld
der Bundestagswahl 1998 zwei wichtige katholische Träger, nämlich Misereor und der BDKJ, der damaligen Bundesregierung ein Armutszeugnis im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit ausgestellt haben und auf die
Versprechen hingewiesen haben, die Sie nicht eingelöst
haben.
({6})
Ich weiß noch genau, wie der damalige Entwicklungshilfeminister Spranger händeringend nach Begründungen
gesucht hat, um einigermaßen auf die Vorwürfe, die in
dem von den beiden katholischen Organisationen vorgelegten Papier erhoben wurden, antworten zu können. In
einer solchen Situation befinden wir uns nicht.
({7})
Das werden Sie feststellen, wenn Sie sich die Zeugnisse
anschauen, die Nichtregierungsorganisationen dieser Bundesregierung und der Entwicklungsministerin ausstellen.
({8})
Folgendes ist auch interessant: Heute liegen mehrere
Anträge vor. Die Union hat es nicht geschafft, zur Frage
der Förderung der Zivilgesellschaft irgendeinen gescheiten Satz in den Mund zu nehmen.
({9})
Sie fordert ausschließlich monetäre Verbesserungen.
({10})
Wenn ich mir alle Anträge genau anschaue, dann stelle ich
fest - das ist der rote Faden -, dass wir alle Anstrengungen darauf verwenden sollten, den Aufbau und die Verbesserung der Demokratie weltweit in Angriff zu nehmen
und dort, wo noch immer Partizipation und Mitbestimmung verhindert wird, durch unsere Entwicklungszusammenarbeit entsprechende Anreize und Rahmenbedingungen zu schaffen. Hier greife ich gerne das auf, was
Hannah Arendt, die jüdische Philosophin, einmal geistreich gesagt hat:
Macht bedeutet die Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen politisch zu handeln.
Wir wissen sehr wohl, wie vielen Menschen gerade in den
Ländern des Südens dieses Recht nach wie vor verwehrt
wird. Deswegen setzen wir auf einen anderen, einen
neuen Gesellschaftsvertrag, auf einen Gesellschaftsvertrag, der die eigenständige politische Verantwortung sowohl des Staates als auch der Wirtschaft wie auch der Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt stellt und dadurch zu
neuen Kooperationsmodellen beitragen will.
({11})
Wir haben uns längst von dem alten Unionskonzept
verabschiedet, wonach der Staat und der Markt es alleine
richten sollten und die Förderung der Zivilgesellschaft als
nicht prioritär angesehen wurde. Wir wollen die Zivilgesellschaft im Norden fördern, weil wir wissen, dass eine
lebendige und gemeinwohlorientierte Zivilgesellschaft
eine Voraussetzung für Demokratie darstellt. Wir wollen
sie im Süden fördern, weil wir wissen, dass die Regierungen in den Entwicklungsländern komplexen Problemen
wie Armutsbekämpfung, Gesundheitsvorsorge und Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung alleine nicht gewachsen sind. Ohne eine weit reichende Partizipation
gesellschaftlicher Kräfte ist eine nachhaltige Entwicklung nicht sicherzustellen.
Zivilgesellschaftliche Akteure sind, um es einmal zu
definieren, nicht all diejenigen, die sich jenseits von Staat
und Markt befinden, sondern regierungsunabhängige, gemeinwohlorientierte und nicht auf Profit ausgerichtete
Organisationen und Vereinigungen, die staatliches Regierungshandeln präzisieren und ergänzen, aber auch - das
mag nicht jedem schmecken - korrigieren können. Sie haben damit eine soziale Wächterfunktion. Es darf ihnen
aber keinesfalls die Aufgabe übertragen werden, staatliche Pflichtaufgaben zu übernehmen. Sie organisieren sich
- das wissen wir und da wollen wir sie auch haben - im
Raum zwischen Staat und Markt und artikulieren dort die
Interessen der benachteiligten Bevölkerungsgruppen.
({12})
Gerade im Bereich der Entschuldungsprogramme
kommt der Zivilgesellschaft eine besondere Bedeutung
zu. Ich habe es bisher immer so verstanden, dass auch Sie
diesen Ansatz teilen. Dabei konnten wir bisher ganz beeindruckende und auch hoffnungsvolle Beispiele einer zivilgesellschaftlichen Beteiligung verzeichnen. Zugleich
macht aber eine Studie von Misereor, Brot für die Welt
und dem Evangelischen Entwicklungsdienst auch deutlich, dass zivilgesellschaftliche Kräfte in manchen Bereichen überfordert sind und existenziell auf ermöglichende
Rahmenbedingungen des Nationalstaates aber auch der
internationalen Gemeinschaft angewiesen sind.
Nichtregierungsorganisationen verfügen über ein
wertvolles Wissen, das die staatliche Entwicklungszusammenarbeit bereichert. Das wurde auch im Koalitionsvertrag bereits sehr deutlich, weil dort die Bundesregierung
ein besonderes Gewicht auf die entwicklungspolitische
Arbeit von Nichtregierungsorganisationen legt und deren
Arbeit nachhaltig unterstützen will. Daran ist sie auch zu
messen.
({13})
Wir fordern nichtsdestotrotz die Bundesregierung auf,
auch die Nichtregierungsorganisationen weiterhin partizipativ an der Erarbeitung von Länderkonzepten zu beteiligen und sie systematisch bei allen Entscheidungen, die
ihre Arbeit betreffen, stärker mitberatend einzubeziehen.
Dazu gehört vor allem auch, ihnen größere Beteiligungsmöglichkeiten innerhalb der EU, aber auch bei UN-Konferenzen zu ermöglichen.
Einen Baustein von besonderer Bedeutung aus unserem umfangreichen Katalog, den wir mit dem Antrag zur
Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen vorgelegt haben, möchte ich zumindest noch hervorheben, nämlich die Bitte an die Bundesregierung, zu prüfen, inwieweit die Errichtung einer
Stiftung auf Bundesebene zur Finanzierung der Trägerstrukturen der deutschen EZ unabhängig gestaltet und
auch langfristig gesichert werden kann. Nach dem von
uns vorgelegten und verabschiedeten neuen Stiftungsrecht sind gerade hier gute neue Möglichkeiten eröffnet
worden.
Als Nordrhein-Westfälin darf ich auch noch einmal an
die Möglichkeiten erinnern, 50 Pfennig pro Einwohner für
die Entwicklungszusammenarbeit der Inlandsbildungsarbeit zur Verfügung zu stellen oder auch das bewährte Promotorenmodell bundesweit einzuführen.
Das haben Sie von der CDU/CSU ja immer wieder unterbunden. Ich warte darauf, dass die unionsregierten
Bundesländer endlich diesen wertvollen Schritt nachvollziehen. Dann kommen wir auch mit der Entwicklungszusammenarbeit einen Schritt weiter.
({14})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/5789 und 14/7609 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind
Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel: „Entwicklungspolitisches Jugendprogramm‚ Soli-
darisches Lernen‘“. Wer stimmt für den Antrag auf
Drucksache 14/8006? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache
14/6290. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktio-
nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
14/4152 mit dem Titel: „Kinderrechte schützen - Kinder-
handel wirksam bekämpfen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
FDP auf Drucksache 14/2705 mit dem Titel „Kinder-
handel in Afrika verhindern“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung, Drucksache
14/7030, zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Freiwillige
Agrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierung für Entwicklungs-
länder“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/4802 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung, Drucksache
14/7031, zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Förderung von
Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft/Vergabe ei-
nes Preises für Unternehmerinnen und Unternehmer“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen
worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinz
Riesenhuber, Wolfgang Börnsen ({0}),
Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Förderung der Innovation im Mittelstand
- Drucksache 14/7615 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({2}), Gunnar Uldall,
Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Unternehmer im Netzwerk - für eine Kultur
der Selbstständigkeit
- Drucksachen 14/5838, 14/6866 Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir diskutieren auf der Grundlage zweier Vorlagen der Union;
denn wir gehen davon aus, dass der Mittelstand der Bereich ist, der in diesen Jahren Arbeitsplätze schafft - nur
der Mittelstand, nicht der öffentliche Dienst, nicht die
großen Unternehmen. Wir diskutieren über den innovativen Mittelstand. Zum Mittelstand im Netzwerk wird
mein Freund Wolfgang Börnsen sprechen.
Entscheidend ist, wie wir in dem Bereich, in dem
Arbeitsplätze entstehen können, helfen können. Es ist
nicht so, als wollten wir die Zukunft des Mittelstands bestimmen, aber wir müssen uns fragen, wo wir dienstbar
sein können.
Wir haben die Freude, eine höchst innovative Staatssekretärin zu haben. Vielen Dank, sehr verehrte liebe Frau
Wolf!
({0})
Wir haben, weil Sie die modernen Techniken nutzen, aus
dem Internet erfahren, was Sie uns heute sagen wollen. Es
ist beglückend, zu erfahren, dass Sie uns sagen wollen:
Freunde, die Stimmung hellt sich auf, die Vorhersagen
werden besser, seid nicht so kummervoll, schaut zuversichtlich in die Zukunft! Das ist ein kraftvoller und ermutigender Geist.
({1})
Aber die Frage ist, ob man nur an die Weltkonjunktur
glaubt oder ob man auch selbst etwas machen will.
({2})
Der „Spiegel“ hat in einer Ausgabe vom letzten Dezember die interessante Frage gestellt: Regieren - wozu?
Sie regieren, aber man weiß nicht, wozu.
({3})
Auch ich habe einmal in einem Ministerium gearbeitet.
Damals habe ich mir aus gegebenem Anlass eine Zeit lang
ein Spruchband an die Wand gehängt. Darauf stand: Arbeiten Sie mit an der Lösung - oder sind Sie ein Teil des
Problems?
({4})
Sehr verehrte Frau Wolf, wir vertrauen darauf, dass Sie
an der Lösung mitarbeiten, kraftvoll in die Zukunft schreiten, Visionen entwickeln und die Zukunft gestalten.
Wir haben Anträge zum Haushalt gestellt. Wir freuen
uns, dass wir der Bundesregierung helfen konnten. Es gibt
eine Reihe von Erhöhungen, die ich hier nicht im Einzelnen darstellen werde. Ich hoffe, die Bundesregierung ist
uns angemessen dankbar.
({5})
Wir haben aber in unserem Antrag darüber hinaus auch
andere Themen angesprochen. Wir haben ein Gesamtkonzept der mittelständischen Forschungsförderung angesprochen. Wir haben zum Ausdruck gebracht, dass die
Regierung uns sagen soll, was sie will und wie die Ziele
und Instrumente aussehen. Das letzte Konzept stammt
von 1997 von der alten Regierung.
({6})
Eine neue Vorlage gibt es nicht.
Das Problem liegt ein bisschen darin, dass die Forschungsförderung des Mittelstandes vom BMBF, vom
Bildungs- und Forschungsministerium, weggegangen ist,
aber in der Spitze des Wirtschaftsministeriums anscheinend nicht angekommen ist. Daher fehlt es an strategischen Konzepten. Die tüchtigen Beamten, die Mittel
und die Titel sind alle mitgegangen. Es müssen aber Ziele
gesetzt werden.
Das ist eine Frage des Geldes. 200 Millionen DM waren für das Jahr 2000 angekündigt, 300 Millionen DM für
2001 und 2002. Das Geld ist nicht da. Aber es ist auch eine
Frage der Konzepte. Wenn Sie keine Konzepte haben, bekommen Sie kein Geld. Der Finanzminister stellt sich auf
die souveräne Position „nicht haushaltsreif“ und dann bekommen Sie nichts. Insofern ist die Frage, ob und wann
man die entsprechenden Konzepte entwickelt, strategisch
entscheidend.
Wo sind die Konzepte? Wir sehen lauter alte und
hochverehrte Bekannte. Die AiF ist eine großartige Institution; an ihr will niemand von uns etwas im Grundsatz
ändern. Sie wäre aber glücklich, wenn sie ihrer Haushaltsmittel sicher wäre. „Pro Inno“ ist ein vorzügliches
Programm. Das ist unsere alte Vertragsforschung; der Unterschied ist gering. „FUTOUR“ kennen wir mit großem
Vergnügen seit längerer Zeit. „BTU“ ist ein gutes Programm. Es hat nur das Problem, dass es unter den gegebenen Rahmenbedingungen in echten Schwierigkeiten
ist. Die Ausfälle sind so groß geworden, weil der Laden
nicht läuft.
Ich könnte noch über einige kleinere Programme sprechen.
Die Stärke eines innovativen Ministeriums zeigt sich in
seinen innovativen Ideen für die Zukunft. Da gab es in der
Vergangenheit in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder etwas Neues: die Idee des Wettbewerbs: „BioRegio“ war ein glanzvolles Programm, mehrfach angemessen kopiert, aber nie so erfolgreich. Da waren die
indirekt spezifischen Programme. Da kann man, wenn
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
man will, Themen wählen. Es sind nicht nur, wie in der
Vergangenheit, zum Beispiel Mikrosystemtechnik und
Qualitätsmanagement möglich. Es können heute genauso
gut Fragen im Bereich der optischen Systeme und der
Nanotechnologie sein. Man kann hier Neues ansetzen,
und zwar so, dass nicht das Projekt gesteuert wird, sondern ein Forschungsfeld so sichtbar wird, dass Wissenschaft und Wirtschaft wissen: Hieran lohnt es sich zu arbeiten.
({7})
Sie können auch in Querschnittstechnologien, in Querschnittsfragen ganz anderer Art gehen. Der Bundeskanzler hat in seiner Weitsicht, die wir alle sehr bewundern,
eine Benchmarking Group eingesetzt. Sie sollte sagen:
Wo ist Deutschland schlechter als andere Länder? Wo
können wir besser werden, von anderen lernen? Die
Benchmarking Group hat auch etwas gesagt. Dass der
Bundeskanzler das dann nicht angenommen hat, ist bedauerlich; aber es ist nicht meine Aufgabe, hier den Bundeskanzler zu ärgern.
Der Benchmarking-Bericht nennt als höchste Priorität,
in beschäftigungspolitischer Sicht, Forschung und Innovation im Bereich der Dienstleistungen und der Spitzentechnik, er nennt die Schnittstellen zwischen Wirtschaft
und Forschung. Er spricht darüber, dass die innovativen
unternehmensnahen Dienstleistungen gefördert werden
sollen. Er stellt Nachholbedarf fest. Ein umfassendes, von
mir aus indirekt spezifisches Programm - es kann wie das
alte Personalkostenzuschussprogramm gestaltet werden;
man kann hier die Mitnahmeeffekte vermeiden - wäre
eine reizvolle Sache, um die Dienstleistungen weiterzubringen.
In einer Zeit, in der Forschung outgesourct wird, ist das
nicht nur für die kleineren Unternehmen interessant, die
Forschung betreiben, sondern auch für die kleinen Unternehmen, die Forschung brauchen. Denn die Welt ist so
komplex geworden, dass ein einziges Unternehmen nie
mehr sämtliche Bereiche, die es braucht, die es verstehen
und gestalten muss, im eigenen Laden beherrschen kann.
Es wird ein Netzwerk werden. Es werden virtuelle Unternehmen werden. Es wird ein komplexes Zusammenspiel werden. Das kann die Bundesregierung nicht organisieren. Gott behüte uns davor, dass die Bundesregierung
kreativ sei! Das macht die Sache gefährlich.
({8})
Aber die Bundesregierung kann Signale geben, wo interessante Punkte sind, wo Schwellen überwunden werden können, um in neue Märkte, neue Paradigmen, ein
neues Koordinationskonzept einzutreten. Das braucht
man, um eine breite Forschungslandschaft zu entwickeln
und um die Dynamik in den Mittelstand zu bringen, die
wir brauchen.
({9})
Wir müssen auch über die Neugründung von Unternehmen sprechen. Unter der alten Regierung wurden jedes Jahr mehr Unternehmen neu gegründet als im Jahr zuvor. Seit 1998 sinken die Zahlen aber.
({10})
Liegt es an der unsäglichen Diskussion über die Scheinselbstständigkeit? Ich weiß es nicht. Liegt es daran, liebe
Frau Staatssekretärin, dass Sie die Regelungen zur Besteuerung von Aktienoptionen, bei deren Einführung wir
Sie unterstützen, noch nicht mannhaft - oder besser: frauhaft - im Kabinett durchsetzen konnten, um zu neuen
Ufern aufzubrechen? Liegt es daran, dass die Wesentlichkeitsgrenzen bei Beteiligungen herabgesetzt wurden und
dass damit die Business Angels verärgert werden? Liegt
es an der innovativen Idee des Finanzministers, Fonds neu
zu besteuern, was dazu führt, dass sie aus Deutschland abwandern? Dies ist ebenfalls ein Thema, das dringend der
liebevollen Begleitung des Wirtschaftsministers bedarf.
Ich vertraue auf dessen Durchsetzungskraft.
({11})
Man kann sich diesem Thema auch von einer anderen
Seite nähern. Die Welt ist komplex und wird immer komplexer. Es wird immer schwieriger, je komplexer sie wird.
Es wird immer schwieriger, die Paradigmen, die Forschungsfelder und die Querschnittstechnologien in Einzelprogrammen anzugehen. Warum denken Sie in diesem
Zusammenhang nicht einmal über Tax Credits nach? Ich
kenne diese Debatte aus anderen Ländern. Große und
konkurrenzfähige Länder in der OECD fördern dadurch
indirekt. Mit Tax Credits schaffen Sie eine breite Attraktivität unseres Standortes in Bezug auf die Forschung.
Ich behaupte nicht, dass damit alle Fragen beantwortet
seien. Ich beklage nur, dass es darüber keine Diskussion
gibt, dass ich keine Ideen und Pläne sehe, die über diese
Legislaturperiode hinausreichen. Wenn Sie nicht länger
regieren wollen, dann wäre das in der Tat ein Konzept.
({12})
Wenn Sie die Absicht haben, länger zu regieren, dann
wäre es klug, an dieses Thema mit feurigem Eifer, mit Visionen und mit konzeptioneller Gestaltungskraft heranzugehen oder zumindest die richtigen Fragen zu stellen.
({13})
Wenn wir im Herbst die Regierung übernehmen sollten,
gäbe es einen fliegenden Wechsel.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Wir verteilen
hier leider keine Preise für rhetorische Leistungen. Sonst
wäre der Herr Kollege ein guter Anwärter darauf.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jelena Hoffmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege
Riesenhuber, Ihnen zuzuhören ist mir immer eine Freude.
({0})
Sie sind ein begnadeter Redner. Nach Ihnen zu sprechen
ist für mich eine Herausforderung.
({1})
Ihnen zu widersprechen ist aber meine Pflicht;
({2})
das muss und das werde ich auch tun. Es wird mir bestimmt nicht sehr schwer fallen.
In einem Punkt sind wir uns aber bestimmt einig:
Kleine und mittlere Unternehmen spielen im wirtschaftlichen Zusammenleben eine bedeutende Rolle als
Spezialisten, Nischenproduzenten, Dienstleister und Zulieferer. Als solche wirken sie innovativ durch die Umsetzung von Ideen. Sie geben der Wirtschaft den Anschub zur
Selbsterneuerung.
Der Druck im internationalen Wettbewerb auf den Mittelstand wird stärker und stärker, die technologische Entwicklung dynamischer, die Produktzyklen kürzer. Unter
diesen Bedingungen müssen mittelständische Unternehmen innovativ sein und bleiben. Das ist ihre Überlebenschance.
Es liegt auf der Hand, dass gerade KMUs besser miteinander kommunizieren, besser zusammenarbeiten, aber
auch mit Universitäten und Forschungseinrichtungen kooperieren müssen. Die Opposition wirft uns vor, dass wir
uns angeblich nicht in ausreichendem Maße um Innovation und Vernetzung von KMUs kümmern. Dann müssen
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in das Konzept des
Wirtschaftsministeriums „Technologiepolitik - Wege zu
Wachstum und Beschäftigung“ schauen. Dieses Konzept
konzentriert sich auf Innovation, Forschungskooperation
und technologische Beratung. Die Maßnahmen enthalten
zum Beispiel die Bereitstellung von Beteiligungskapital,
die zinsgünstige Kreditfinanzierung von Innovationsvorhaben, die Unterstützung nationaler und internationaler
Kooperationen im Forschungs- und Entwicklungsbereich
sowie die Förderung der Verbundforschung und vieles
mehr.
Im Haushalt 2002 werden für Forschung, Entwicklung und Innovation im Mittelstand rund 540 Millionen
Euro bereitgestellt. Das bedeutet eine Steigerung von
26 Prozent gegenüber 1998, als Sie noch an der Regierung
waren.
({3})
Insgesamt ist Deutschland seit 1998 an die dritte Stelle der
G-7-Staaten aufgerückt, was die Ausgaben für Forschung
und Entwicklung betrifft. Und Sie, liebe Oppositionskollegen, tun so, als ob Sie Innovation und Kooperation im
Mittelstand entdeckt hätten.
({4})
In Ihrem Antrag sprechen Sie das Programm „NEMO“ an.
Das Programm wird bereits im nächsten Monat starten.
Das sollten Sie eigentlich wissen, es sei denn, Sie haben
die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage
nicht einmal gelesen. Aber ich helfe Ihnen da gerne auf die
Füße: Im Haushalt 2002 werden 2,8 Millionen Euro für die
Förderung regionaler Netzwerke im NEMO-Programm
zur Verfügung gestellt. Dazu kann ich noch die Programme Exist, Zutech, Innonet und Pro Inno nennen. Alle
diese Programme helfen kleinen und mittleren Unternehmen, ihr Innovationspotenzial zu steigern und zu festigen.
({5})
Das ist unsere Antwort auf Ihren Antrag und auf Ihre
Große Anfrage, Herr Kollege.
Übrigens gibt es von den Ministerien für Wirtschaft
und Technologie sowie Bildung und Forschung sehr
schöne Broschüren. Wenn Sie, Herr Riesenhuber, hineingeschaut hätten, hätten Sie die Hälfte Ihrer Rede sparen
können.
({6})
Besonders wichtig sind diese Programme für die
neuen Bundesländer. Eine KfW-Studie beweist, dass in
den neuen Bundesländern die Innovationstätigkeit deutlich gestiegen ist. Seit 1998 hat die Zahl der Unternehmen
im F- und E-Bereich um 18,2 Prozent zugenommen. Die
Zahl der Beschäftigten ist um 8,2 Prozent gestiegen.
29 Prozent der vernetzten Unternehmen in den neuen
Ländern arbeiten mit fünf oder mehr Partnern zusammen,
in den alten Bundesländern sind es 22 Prozent. 64 Prozent
der kooperierenden Unternehmen arbeiten in den neuen
Ländern mit Forschungseinrichtungen zusammen, in den
alten Ländern sind es 59 Prozent.
Es hat mich natürlich interessiert, wie diese Zahlen in
der Praxis aussehen, was da an Ort und Stelle passiert. In
meinem Wahlkreis Chemnitz zum Beispiel steigt durch
die Vernetzung der Unternehmen im Bereich Mikrotechnologien sowohl der Umsatz als auch die Zahl der Mitarbeiter jährlich. Also erzählen Sie mir bitte nichts über das
sinkende Schiff Innovation - und schon gar nicht in den
neuen Bundesländern. Hier zeigt sich doch ganz eindeutig,
dass die Ostdeutschen keineswegs hinter dem Wald groß
geworden sind, nicht einmal hinter dem Bayerischen.
Außerdem tut die Opposition immer so, als ob die Unternehmen nicht in der Lage wären, aus eigener Kraft innovativ zu sein. Da beleidigen Sie aber den Mittelstand,
meine Damen und Herren von der Opposition. Wir müssen die Unternehmen unterstützen und ein Stück auf dem
Weg begleiten, aber dann wollen und können sie auch selber laufen. Die Unternehmen sind kreativer, als Sie sich
das in Ihren kühnsten Träumen vorstellen können.
Schauen Sie sich doch nur einmal die Zahl der Patentanmeldungen an: Im Jahr 2000 wurden in Deutschland über
110 000 Patente angemeldet.
({7})
In Ihrer Zeit, im Jahr 1995, waren es lediglich knapp
54 000.
Ich weiß, dass Sie uns, wenn Sie über den Mittelstand
sprechen, immer wieder vieles vorwerfen und zum Teil
Unwahrheiten verbreiten. Sie wollen einfach nicht glauben, dass wir zum Beispiel mit der Steuerreform auch
den Mittelstand entlastet haben. Aber Sie wissen doch
hoffentlich, was ich weiß: dass die Wirtschaft, das Vertrauen der Unternehmen und der Verbraucher zu einem
guten Teil, wenn nicht zu 50 Prozent, davon abhängen,
welche Stimmung gemacht wird. Ich möchte nicht sagen,
dass wir Zweckoptimismus propagieren sollen. Doch die
Prognosen der führenden Wirtschaftsinstitute sind durchweg positiv, auch schon für dieses Jahr. Im Jahr 2003 wird
in Deutschland sogar ein Wachstum von 2,9 Prozent erwartet.
Wenn Sie das aus rein politischen, wahltaktischen Interessen kaputtreden, mache ich Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, persönlich für den Schaden
verantwortlich,
({8})
den Sie durch Ihre Hexenküchenpsychologie herbeireden.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle. - Übrigens habe
ich gerade Narren im Haus gesehen; nur dass Sie sich
nicht darüber wundern.
({0})
Frau Präsidentin, Ihre Aufgabe ist eigentlich eine unabhängige und Sie sollten sich
ein Stück Humor durchaus bewahren.
Die Ratlosigkeit der Grünen bezüglich des Themas Mittelstands zeigt sich auch darin, dass mich die tüchtige Bundestagsverwaltung schon als Redner für das Bündnis 90/
Die Grünen ankündigt. Ich lege aber Wert auf die Feststellung: Ich spreche für die FDP-Fraktion.
({0})
Sie können mich nicht einfach vereinnahmen und für die
Grünen reden lassen. So weit kommt es noch.
({1})
Das ist ungeheuerlich.
Ich habe nichts
von den Grünen gesagt.
Frau Präsidentin, ich habe
erwähnt, dass die tüchtige Bundestagsverwaltung mich
auf der Rednerliste seit etwa einer Stunde als Redner der
Grünen ankündigt.
Ach so!
Ich vermute, dass mich die
Grünen - da die Verwaltung tüchtig ist und keine Fehler
macht - wegen ihrer Ideenlosigkeit missbrauchen wollen.
Darauf hatte ich hingewiesen.
Auf meinem
Zettel sind Sie ordentlich und richtig genannt.
Frau Präsidentin, Ihr Zettel
ist ein Geheimnis. Ich kenne ihn nicht. Ich kenne nur das,
was uns über den Bildschirm mitgeteilt wird.
Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin!
Seit 1998 sind die Zahlen der Existenzgründungen in
Deutschland rückläufig.
({0})
Im Jahre 2000 - in dem Jahr hatten wir noch eine Wachstumsrate von 3 Prozent - gab es in Deutschland zum Beispiel mehr als 40 000 weniger Existenzgründungen als
noch zwei Jahre zuvor. Das ist ernüchternd.
Gleichzeitig ist die Ertragslage des Mittelstandes
rückläufig. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband
hat ermittelt, dass die Umsatzrendite im vergangenen Jahr
bei den größeren Mittelständlern bei rund 3 Prozent und
damit unterhalb des Niveaus von 1996 lag. Bei 31 Prozent
der mittelständischen Kundschaft der Sparkassen fiel im
Jahr 2000 überhaupt kein Gewinn an. Das ist besorgniserregend.
Diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Sie ist
in ein politisches Klima eingebettet, das die kleinen und
mittleren Unternehmen und die Existenzgründer in Sonntagsreden hofiert, um sie am folgenden Montag noch ein
Stück mehr zu drangsalieren. Grün-Rot hat den Mittelstand steuerlich benachteiligt.
({1})
Die großen Konzerne bekommen in diesen Tagen kräftige
Körperschaftsteuerrückzahlungen, aber die kleinen und
mittleren Unternehmen ächzen noch immer unter dem
viel zu komplizierten Steuerrecht und den viel zu hohen
Steuersätzen. Zudem treffen die verschlechterten Abschreibungsbedingungen vor allem den Mittelstand.
({2})
Dabei ist der Mittelstand der klassische Konjunkturstabilisator. Er hält die Arbeitsplätze, wenn die großen
Jelena Hoffmann ({3})
Unternehmen schon Zehntausende entlassen haben. Der
Mittelstand braucht mehr finanzielle Spielräume. Nur
dann entsteht Wachstum. Nur so gibt es mehr Jobs.
Wir haben jedenfalls einen klaren Vorschlag auf den
Tisch gelegt: Drei Steuersätze - 15, 25 und 35 Prozent für alle Bürger und Unternehmen.
({4})
Das ist einfach, niedrig und gerecht.
({5})
Während ein ehemaliger Staatsmonopolist, die Deutsche Post AG, eine rechtlich zweifelhafte Umsatzsteuerbefreiung in Höhe von rund 1 Milliarde Euro zugebilligt
bekommt,
({6})
werden die kleinen und mittleren Unternehmen mit dem
Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz immer mehr in
den Würgegriff genommen. So sieht es real um den Mittelstand aus.
({7})
Mit diesem Gesetz werden steuerehrliche Existenzgründer und Mittelständler nicht nur kriminalisiert, sondern auch in ihrer Liquidität und Existenz gefährdet.
({8})
Wenn es um die eigenen Interessen geht, muss der Fiskus
en passant auf Milliardeneinnahmen verzichten. Wenn es
um die fleißigen und tüchtigen Mittelständler geht, wird
gnadenlos zugeschlagen. So ist die Realität.
({9})
Grün-Rot legt der dynamischen Entwicklung der kleinen und mittleren Unternehmen mit einer Vielzahl von
Arbeitsmarktregulierungen Fesseln an. So sind der
Kündigungsschutz für Kleinbetriebe verschärft, die bürokratische und teure 630-Mark-Neuregelung eingeführt
und zusätzliche Reglementierungen bei so genannten
Scheinselbstständigen eingeführt worden. Das ist ein
Anti-Existenzgründer-Programm.
({10})
Hinzu kamen die Beschränkungen befristeter Beschäftigungsverhältnisse, die Zwangsteilzeit und die Verschärfung der Mitbestimmung.
({11})
All das hat die Arbeitskosten des Mittelstandes erhöht,
die Personalflexibilität eingeschränkt und zusätzliche
Bürokratie eingeführt. Allein der bürokratische Aufwand,
den unser Mittelstand und unsere Wirtschaft pro Jahr aufbringen müssen, hat eine Größenordnung von 60 Milliarden DM.
({12})
Wir haben versucht, mit unserem Gesetzentwurf zur
Vereinfachung der Umsatzsteuerermittlung einen konkreten Vorschlag zu machen. Wenn man die Steueranmeldungen nur noch vierteljährlich durchführte, könnten auf
einen Schlag 12 Millionen Steuererklärungen entbehrlich
werden. Frau Scheel, Sie haben das mit der Begründung
abgelehnt, wir würden den Umsatzsteuerbetrug durch unsere Wirtschaft begünstigen.
({13})
Unsere Mittelständler sind anständige Leute.
({14})
Ich weiß nicht, wo Sie Ihre Erfahrungen gesammelt haben; ich kenne nur Anständige.
Meine Damen und Herren, Sie von der grün-roten Regierung denken, dass die Unternehmer böse sind, Sie stellen die Mittelständler an den Pranger, setzen mittelstandsfeindliche Regelungen um und diffamieren die
Mittelständler als schwarze Schafe.
({15})
Wenn der grundsätzliche Kurs nicht stimmt, brauchen wir
nicht über Förderprogramme und Arabesken zu diskutieren. Darum geht es.
({16})
- Sie als IG-Metall-Fritze schreien immer dazwischen.
Hören Sie lieber zu! - Wir haben die besten Mittelständlerinnen und Mittelständler; denn wer bei diesem Steuerrecht, diesen Belastungen und dieser Bürokratie überhaupt
noch Arbeitsplätze erhalten und wenigstens teilweise Gewinn machen und einigermaßen gute Ergebnisse erreichen
kann, muss zu den Besten der Welt gehören.
({17})
Deshalb hilft es nicht, über das eine oder andere Pipiprogramm zu diskutieren. Der Kurs muss grundsätzlich
geändert und die Weiche richtig gestellt werden. Mit einem Abkassieren des Mittelstandes und einem kleinen,
gnadenhaften Förderprogramm, für das eine komplizierte
Antragstellung nötig ist, wird das nicht gelingen. Etwas
nach Gutsherrenart auszuzahlen ist kein Substitut für eine
grundsätzliche Kurskorrektur und für andere Rahmenbedingungen, damit der Mittelstand seine Chancen im Interesse der Beschäftigung und der Wirtschaft einbringen
kann. Das ist der entscheidende Punkt; um diesen reden
Sie herum.
({18})
- Lieber Dr. Staffelt, es hilft kein Schreien; es hilft nur
Einsicht, Umkehr und es besser machen.
({19})
Das Wort hat
jetzt für die Bundesregierung die Staatssekretärin
Margareta Wolf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Brüderle, es ist ja bald Karneval. Manchmal hat man hier
den Eindruck, dass Sie für die Auszeichnung „Orden wider den tierischen Ernst“ üben.
({0})
Ich kann Ihnen dringend die Rede des Herrn Bohrer empfehlen. Dabei kann man nämlich wirklich noch etwas lernen.
Alle Gutachter sagen, dass die Steuerreform nicht den
Mittelstand benachteiligt.
({1})
Das wissen Sie auch. Ich finde es wirklich eine intellektuelle Zumutung, was Sie uns hier jedes Mal antun.
({2})
- Sie können spazieren gehen und Ihre Rede ins Internet
stellen, dann brauchen wir sie nur einmal nachzulesen.
({3})
Herr Riesenhuber, wir haben bereits im Jahre 2000 ein
neues Technologiekonzept entwickelt und es auch veröffentlicht. Da Sie offensichtlich, wie ich gerade sehen
durfte - ich hatte das aber auch schon vorher angenommen -, gern im Internet surfen, rate ich Ihnen: Schauen
Sie nach, wir haben es veröffentlicht.
({4})
Im Moment wird es überarbeitet. Demnächst kommt ein
neues Modell.
Sie haben gesagt, wir hätten nichts Neues gemacht. Im
Bereich der Energieforschung haben wir zum Beispiel
240 Millionen eingesetzt und 80 Projekte finanziell begleitet. Das sind Projekte wie Brennstoffzellen für den
stationären und den mobilen Einsatz, aber auch neue Antriebstechnologien.
({5})
- Herr Kollege Riesenhuber, Daimler betreibt eine, wie
ich finde, wirklich überzeugende Forschung in Sachen
Brennstoffzellen mit uns zusammen. Seit wann tut Daimler das denn?
({6})
Gottschalk hat mir erst neulich erzählt, dass man schon
viel weiter sein könnte, wenn man viel früher damit angefangen hätte. Man kann nicht sagen, dass wir nichts tun.
Ich nenne nur den gesamten Bereich der Windenergie und
der Geothermie.
Um mit einer Geschichte aufzuräumen: Auch ich habe
das Gerücht gehört, dass das BMF die VC-Gesellschaften
besteuern will. Ich war bei Herrn Koch-Weser und ich
kann Ihnen sagen: Das BMF will das nicht. Das hat er uns
in die Hand versprochen. Das Ministerium hat niemals
eine solche Idee gehabt. Das finde ich richtig und wichtig.
({7})
Eine Bemerkung zum Neuen Markt. Sie wissen, dass
sich gerade die technologieintensiven Unternehmen
hierüber finanziert haben und dass der Neue Markt zusammengebrochen ist. Wir haben ziemlich große Kraftanstrengungen unternommen, um dem Neuen Markt mit
dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz und dem Analystenkodex wieder zu einem neuen Image zu verhelfen.
Ich jedenfalls hoffe, dass es jetzt wieder aufwärts geht,
und bin relativ optimistisch.
({8})
Da Herr Riesenhuber verkündet hat, ich wollte hier Zuversicht verbreiten, und er mir gewünscht hat, dass ich
kraftvoll in die Zukunft schreite, möchte ich Sie jetzt mit
einem Zitat zur Lage der Nation aus der „Wirtschaftswoche“, das Sie in meiner Rede nicht gefunden haben, konfrontieren:
Die Finanzmarktexperten, die das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung ({9})
regelmäßig befragt, bewerteten im Januar die Konjunkturaussichten deutlich positiver als in den Vormonaten. Der Saldo aus positiven und negativen
Antworten stieg im Vergleich zum Dezember um
10,1
- Herr Kollege auf 35,9 Punkte. Damit haben die Analysten und
institutionellen Anleger zum dritten Mal in Folge optimistischere Einschätzungen als im Vormonat abgegeben.
Darüber hinaus heißt es in der „Wirtschaftswoche“,
dass die Erzeugerpreise auf Talfahrt sind und dass das
Preisniveau auch bei den Energiekosten deutlich gesunken ist. Sie wissen alle, dass die Inflationsrate bei nur
1,7 Prozent liegt. Wenn die Unternehmen und die Verbraucher die eingesparten Mittel in vollem Umfang für Investitionen und für den Konsum ausgeben würden, dann
wäre das Bruttoinlandsprodukt um 1 Prozent höher.
Wahrscheinlich haben auch Sie den Ifo-Geschäftsklima-Index zur Kenntnis genommen, der den höchsten
Stand seit dem vergangenen August erreicht hat. Herr
Brüderle hat auf den Mittelstandindikator der KfW für das
vierte Quartal hingewiesen.
({10})
- Ich habe keinen falschen Text; aber vielleicht erinnere
ich mich falsch. Ich komme nachher noch auf die Sparkassen zu sprechen, Herr Kollege.
Die KfW blickt optimistisch in das Jahr 2002. Sie geht
von einer Wachstumsdynamik gerade bei der Mittelstandskonjunktur aus. Ich möchte Sie bitten, das zur
Kenntnis zu nehmen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Riesenhuber?
Ja, wenn es nicht
auf meine Redezeit angerechnet wird.
Das wird es
nicht.
Liebe Frau Kollegin, würden Sie mir liebenswürdigerweise - erstens - abnehmen, dass ich mich freuen würde, wenn die Stimmung
besser wäre, dass ich - zweitens - festgestellt habe, dass
dies so ist, und dass ich aber - drittens - hier mein Bedauern ausgedrückt habe, dass die Bundesregierung auf
eine sich fröhlich entwickelnde Stimmung baut, anstatt
selber mannhaft die Zukunft zu gestalten? Dies scheint
mir ein Unterschied zu sein.
({0})
Herr Kollege
Riesenhuber, Ihre Aussagen werden nicht besser, wenn
Sie sie ständig wiederholen. Ich freue mich, dass Sie die
Stimmung genauso einschätzen wie wir.
({0})
Wir bauen aber nicht nur auf diese Stimmung.
({1})
Sie erinnern sich vielleicht, dass wir zum ersten Mal ein
umfassendes Konzept für Mittelstandspolitik auf den
Tisch gelegt haben. Sie haben vorhin gesagt, wir sollten
die Forschung mehr fördern. Sie wissen vielleicht, dass
wir das BTU-Programm, das auch Sie erwähnt haben, mit
einem Volumen von 2,3 Millionen Euro auf den Tisch gelegt haben, weil wir perspektivisch von der Fremdkapitalfinanzierung ein Stück weit herunterkommen wollen.
Wir haben einen Paradigmenwechsel vollzogen, der sehr
erfolgreich ist. Dass das nicht unbedingt dazu führt, dass
der Finanzbedarf immer zu 100 Prozent gedeckt wird,
finde ich natürlich.
Bei der Rentenversicherung sind wir in die Kapitaldeckung mit dem Effekt eingestiegen, dass die Beitragssätze sinken. Sie wissen, dass dies eine Entlastung für die
Unternehmen bedeutet. Von der Steuerreform möchte ich
gar nicht reden.
Ich möchte sehr davor warnen, dass wir mit Umfrageergebnissen herumjonglieren, Herr Brüderle, die unter
dem Eindruck des 11. September des letzten Jahres entstanden sind. In vielen Studien - so auch in einer Studie
des Sparkassen- und Giroverbandes - werden Bilanzen
analysiert. Sie wurden vor den maßgeblichen Entlastungen des Mittelstandes durch die Unternehmensteuerreform geschrieben. Mit so etwas kann man die gegenwärtige Lage und das Klima nicht tatsächlich wiedergeben.
Ich halte das - mit Verlaub - sogar für unseriös.
({2})
Wir sollten auch im Wahljahr dem Mittelstand nicht
den Mut zum Aufschwung, zu notwendigen Investitionen
und zur Gewinnerwirtschaftung nehmen. Zudem wissen
wir: Wirtschaftspolitik ist zu einem nicht unerheblichen
Teil auch Psychologie.
Ich möchte noch auf das von Ihnen angesprochene
Stichwort „Umsatzrentabilität“ eingehen. Auch mich
stimmt sehr bedenklich, dass Mittelständler in 2000 nur
gut 3 Prozent des Umsatzes als Gewinn erwirtschaftet haben. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen - Sie haben
lange genug regiert -, diese Zahlen hatten wir auch schon
1996. Da wir diese Zahlen hatten, haben wir uns der Aufgabe gestellt, dieses Dilemma des Mittelstands zu lösen.
Deshalb gibt es eine Unternehmensteuerreform. Deshalb
gibt es eine ökologische Steuerreform und deshalb gibt es
eine Rentenstrukturreform; denn dadurch werden die Abgabenlast und die Kosten auf Dauer reduziert.
Ich komme zum Stichwort „Eigenkapitalquote“. Hier
können wir mit knapp 7 Prozent sogar einen leichten Aufwärtstrend während der letzten zweieinhalb Jahre erkennen. Das ist immer noch nicht gut. Die Eigenkapitalausstattung der kleinen und mittleren Unternehmen muss
noch besser werden. Daran arbeiten wir.
Man kann, ohne sich selbst zu loben, wirklich sagen:
Wir haben mit unserer Förderpolitik und der Verbesserung der finanzwirtschaftlichen Rahmenbedingungen
wirklich einen Grundstein gelegt, übrigens auch im internationalen Kontext. Das wird uns auch bestätigt. Laut den
Ergebnissen des Global Entrepreneurship Monitor vom
Herbst des letzten Jahres liegt die öffentliche Förderung
in Deutschland im 29-Länder-Vergleich auf Platz eins. Da
Sie immer gerne internationale Vergleiche anführen, sollten Sie auch diesen einmal berücksichtigen.
({3})
Bei diesem Vergleich hat man vor allem die Frage der
Effizienz und der Struktur der Förderung berücksichtigt.
In keinem anderen Land orientieren sich die Fördermaßnahmen so zielgenau an den Bedürfnissen der kleinen und
mittleren Unternehmen.
Wichtige Impulse haben wir auch im Bereich der Forschung und Entwicklung für den Mittelstand gesetzt; Sie
haben darauf hingewiesen. Wir stellen dafür 540 Millionen Euro bereit. Es stimmt, 90 Millionen Euro kamen
durch das parlamentarische Verfahren hinzu. Das ist - wie
wir finden - überaus gut und begrüßenswert. Gegenüber
dem Ansatz von 2001 ist das eine Steigerung von 40 Prozent und somit ein deutliches Signal auch im Innovationsbereich. Von daher, Herr Riesenhuber, glaube ich, dass
Ihr Antrag zur Förderung der Innovation im Mittelstand
überholt ist.
Der Mittelstand braucht verlässliche, wirtschaftsfreundliche Rahmenbedingungen und kein Chaos von
Ankündigungen, die im Stundentakt wieder zurückgenommen oder modifiziert werden. Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen von der CDU, zu Ihrem ständigen Hin und Her - heute Vorziehen der Steuerreform,
morgen Rückkehr zum Konsolidierungskurs - hat Ihnen
„Die Welt“ am letzten Sonntag ins Stammbuch geschrieben:
Die Chaos-CDU - Fünf Stimmen mit sechs Meinungen, so startete die CDU in den Wahlkampf. Der
Union fehlt ein Konzept für Wirtschaft und Wachstum.
So nachzulesen in der „Welt“ vom 27. Januar.
({4})
- Das war „Die Welt“ und nicht der „Vorwärts“.
Ich erinnere Sie in diesem Zusammenhang auch noch
einmal an Folgendes - denn Sie haben der Steuerreform
im Bundesrat zugestimmt -: Wir haben bei der Steuerreform die Reinvestitionsrücklage wieder eingeführt. Das
ist ein ganz wichtiger Punkt, gerade im Hinblick auf die
Steuerentlastung der kleinen und mittleren Unternehmen.
Erstmals sind wir die Probleme der Rentenversicherung
- wie ich finde - fundamental angegangen. Sie wissen
vielleicht, dass jeder Prozentpunkt, um den der Beitrag
nicht steigt, für die Unternehmen eine Entlastung von
7,5 Milliarden Euro jährlich bedeutet. Nur weil Ihnen
nichts einfällt, müssen Sie nicht ständig sagen, wir täten
nichts.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rolf Kutzmutz.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage und
auch der Antrag beleuchten aus meiner Sicht höchst verschiedene Bereiche eines weiten Feldes, das mit dem Begriff „Mittelstand“ nur sehr unzureichend umschrieben
ist; denn offenkundig versteht jeder von uns etwas anderes darunter. Das halte ich für das größte Problem. Wir
hatten in der alten Regierung einen Mittelstandsbeauftragten und wir haben in dieser Regierung eine Mittelstandsbeauftragte. Wir streiten uns ständig darüber. Wir
meinen, etwas Gutes zu tun; aber offensichtlich kommt es
dort nicht an, wohin wir es haben wollen.
Ich halte es auch für dreist, wenn die Bundesregierung
den geplanten Flughafen Berlin-Brandenburg und den geplanten Zentralbahnhof in Stuttgart als Beispiele für privatrechtlich geführte Netzwerke im Bereich der Privatisierung kommunaler Dienstleistungen anführt, und das
auch noch unter der großen Überschrift „Unternehmer im
Netzwerk - für eine Kultur der Selbstständigkeit“. Denn
es weiß jeder, welche Art Selbstständige dort arbeiten.
Es würde doch auch kein Mensch auf die Idee kommen, die Rentenansprüche eines Ministers, die in einem
Konzern entstanden sind, mit der Rente für einstige Aushilfsarbeiten bei einem Handwerksmeister zu vergleichen. Ich meine aber, an solchen Unschärfen krankt letztlich die gesamte Mittelstandspolitik.
Es wäre für eine zielgenauere Politik viel hilfreicher,
statt des groben deutschen Rasters, das immer noch angewandt wird, auf Basis der EU-Definition endlich die Daten für mittlere, kleine und Kleinstunternehmen zu ermitteln. Wer glaubt denn ernsthaft, er könne für Betriebe mit
zehn oder 20 Beschäftigten und höchstens 1 Million oder
2 Millionen Euro Jahresumsatz dieselbe Politik betreiben
wie für solche mit 500 Beschäftigten und 50 Millionen
Euro Umsatz? Aber genau das wird immer wieder versucht. Ich meine, der Hauptmangel unserer Bemühungen
besteht darin, dass wir die Unterschiede im Mittelstand
zwischen den kleinen und Kleinstunternehmen und den
etwas größeren Unternehmen nicht im Blick haben, wenn
wir hier über den Mittelstand sprechen.
Insofern ist es auch richtig, dass die CDU/CSU-Fraktion ihren Vorschlag zum Mittelstandsetat im Wirtschaftshaushalt 2002 mit dem Antrag des Kollegen Riesenhuber
noch einmal gesondert debattieren lässt. Auch die PDSFraktion hält die so genannte Forschungsinvestitionsmilliarde der Koalition für eine Legende. Tatsache ist, dass
bei neuen Förderungen Kürzungen erfolgen, um die Ausfälle alter Förderungen zu bezahlen. Dabei geht es nicht
so sehr um immer wieder neue Mittel.
Es ist auch eine Tatsache, dass die Kreditzusagen der
Deutschen Ausgleichsbank sowohl zahlenmäßig als
auch größenordnungsmäßig ständig zurückgehen. Offensichtlich muss sich also in der Förderkulisse und nicht nur
beim Volumen etwas tun. Es geht nicht um die Anzahl der
Programme, sondern darum, dass die Bundesregierung
selbst in der bunten Broschüre, die Frau Hoffmann uns gezeigt hat, angibt, die Passgenauigkeit dieser Programme
solle ständig und kontinuierlich überprüft werden. Nur
dann, wenn wir das tun, werden wir feststellen, was wir
aussondern können und was neu entwickelt werden muss.
Das Netzwerkmanagement-Ost-Projekt kann dabei nur
ein erster Schritt sein.
Die rasante politische Entwicklung lässt sich auch
beim Blick auf die vorliegenden Drucksachen belegen.
NEMO ist von der PDS-Fraktion bereits im Januar 2000
beantragt worden, wurde aber weitgehend ignoriert. Noch
am 5. September 2001 antwortete die Bundesregierung
der CDU/CSU-Fraktion, angesichts der „umfangreichen
bereits initiierten Maßnahmen zur Netzwerk- und Kooperationsförderung“ plane sie keine weiteren Schritte.
Insofern, Frau Kollegin Hoffmann, konnte die
CDU/CSU-Fraktion in der Antwort auf die Große Anfrage deshalb etwas nicht lesen, weil es gar nicht darin
enthalten war.
({0})
Denn die Regierung hat erst auf gemeinsame Intervention
aller Fraktionen im Wirtschaftsausschuss im Oktober
gehandelt und angekündigt, die Sache aufzunehmen.
({1})
Ich halte es für richtig, dass sie aufgenommen worden ist,
und meine, das ist ein sinnvoller Ansatz.
Unabdingbar ist, dass wir im Interesse von Existenzgründern und anderen ideenreichen, aber kapitalschwachen Unternehmen künftig noch häufiger und schneller
eine solche fraktionsübergreifende Einigkeit herstellen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf Basel II
zu sprechen kommen. Über die Fraktionsgrenzen hinweg
besteht große Einigkeit, dass wir alles tun müssen, um die
Mittelstandskomponente bei Basel II zu sichern. Die
Chancen sind nicht so groß, wie wir sie uns manchmal
ausrechnen, obwohl immer wieder darauf verwiesen
wird, dass vieles bereits sozusagen in Sack und Tüten ist.
Wir sollten es aber trotzdem versuchen und wir sollten darüber hinaus etwas Weiteres machen:
In einem Gespräch mit einem Unternehmen hat sich
heute Morgen etwas Interessantes ergeben. Wenn es nicht
so verläuft, wie wir alle hoffen, könnten die Unternehmen
eine Alternative zu Basel II bieten, indem größere Unternehmen kleine und mittelständische Unternehmen fördern; das heißt, durch Outsourcing aus größeren Unternehmen werden kleinere Unternehmen gefördert.
Dadurch wird sozusagen ein Äquivalent für das geschaffen, was vielleicht durch Basel II nicht mehr erreicht werden kann. Wir sollten das zumindest in die Überlegungen
mit aufnehmen, wenn wir es mit der Mittelstandsförderung ernst meinen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Lange.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Herausforderungen durch Globalisierung, der Übergang zur Wissensgesellschaft, der technologische Wandel, das alles
können wir nur durch eine hohe Investitionsdynamik
meistern. Die Bundesregierung hat bereits im Januar 2000
mit ihrem Konzept zur Technologiepolitik mit den drei
Förderrichtlinien „Innovation“, „Forschungskooperation“ und „Technologische Beratung und Qualifikation“
ein Gesamtkonzept zur Förderung des innovativen Mittelstands vorgelegt. Der CDU/CSU-Antrag kommt deshalb mal wieder zu spät oder - um es genauer zu sagen -:
Der Antrag ist durch die Ergebnisse der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom November letzten Jahres und durch die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2002, Einzelplan 09
überholt.
Wir haben mit der Aufstockung der Mittel im Innovationsbereich ein deutliches Signal für die Gründung und
Entwicklung von technologieorientierten mittelständischen Unternehmen gesetzt. Wir haben den Haushaltsansatz 2002 gegenüber dem Ansatz von 2001 um rund
14 Prozent, gegenüber dem Ist von 1998, dem Ist der
Kohl-Regierung also, um sage und schreibe 26 Prozent erhöht. Damit können wir so wichtige neue Initiativen wie
die Förderung von innovativen Netzwerken, Inno-Net,
und das Initiativprogramm „Zukunftstechnologien für
kleine und mittlere Unternehmen“, anbieten. Das sind
konkrete Hilfeleistungen für mittelständische Unternehmen, mit denen sie auch etwas anfangen können.
Übrigens haben wir trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung die Mittel für die Förderung der Forschungszusammenarbeit und der Unternehmensgründungen, Pro Inno, für 2002 im parlamentarischen
Verfahren um weitere 7 Millionen Euro aufgestockt. Das
sind konkrete, effektive und auch finanzierbare Maßnahmen für Handwerk und Mittelstand.
Ihr Antrag dagegen - lassen Sie uns den einmal
anschauen - ist nicht nur bereits im Ansatz überholt, sondern er trägt auch deutliche Züge des allgemeinen Steuerchaos von CDU/CSU. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Stock Options - um einen Vorschlag
herauszugreifen - ist ohne Zweifel ein schöner Vorschlag.
Nur bleiben Sie uns leider die Antwort auf die Frage
schuldig, mit welchen Mitteln Sie das finanzieren wollen.
Dann wollen Sie die Wesentlichkeitsgrenze bei der
Besteuerung des Wertzuwachses von Beteiligungen von
10 Prozent auf 1 Prozent senken. Auch hier bleiben Sie einen Finanzierungsvorschlag schuldig.
Sicherlich werden Sie uns Genaueres verraten können,
wenn Sie die komplett neue Steuerreform, von der ich
kürzlich in der Zeitung gelesen habe, in die Wege geleitet
haben und damit vorangekommen sind. Unser Kollege
Wolfgang Schäuble hat noch in der vergangenen Woche
die unzähligen, sich ständig widersprechenden steuerund finanzpolitischen Vorschläge der Union als - ich zitiere - „wenig optimal“ bezeichnet.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen
Riesenhuber?
Aber gern.
Lieber Herr
Kollege Lange, nur eine kurze Erkundigung. Sind wir uns
darüber einig, dass die vorzüglichen Vorschläge zur
Optionsbesteuerung ursprünglich von unserer hoch
geschätzten Kollegin Wolf stammen und dass wir uns
gemeinsam aufgemacht haben, sie zu unterstützen, damit
sie in ihrer Arbeit wirklich erfolgreich sein kann?
Wir sind uns
darin einig. Auch ich meine, dass das hervorragende Vorschläge sind. Von einer konstruktiven Opposition, auf die
der Mittelstand angeblich wartet, hätte ich aber erwartet,
dass sie uns hier auch sagt, wie sie das finanzieren will,
wie die Alternative ist. Die Antwort darauf sind Sie uns
bis heute schuldig geblieben.
({0})
Wir alle warten noch auf diese neue Steuerreform, von
der man in den Zeitungen lesen kann und bei der - auch
das konnte man lesen - die Stabilitätskriterien des
Maastricht-Vertrags eingehalten werden sollen und die
Neuverschuldung nicht erhöht werden soll. Wenn Sie das
wollen, dann dürfen Sie meines Erachtens solche Anträge
nicht stellen. Was gilt denn jetzt: Das, was angekündigt
worden ist, oder das, was Sie hier beantragen?
({1})
Mir scheint es so zu sein, dass der vorliegende Antrag
noch nicht so richtig in die neuen Überlegungen mit einbezogen worden ist. Was die CDU/CSU besser und anders
als die Koalitionsfraktionen machen will, bleibt weiterhin
ihr Geheimnis.
({2})
Bis zum Jahr 2005, Herr Kollege, ist die Steuerpolitik
der Koalition schon durch Bundestag und Bundesrat.
Wenn die CDU/CSU eine komplett neue Steuerreform
machen will, dann müsste sie zunächst die beiden noch
anstehenden Stufen der Steuersenkung zurücknehmen.
Das wiederum hieße, massive Entlastungen bei der Einkommensteuer, die Arbeitnehmern genauso wie Personengesellschaften und damit kleinen und mittleren Unternehmen zugute kommen, zurückzunehmen. Im Vergleich
zur Zeit der Regierung Kohl gibt es bis zum Jahr 2005
eine Gesamtentlastung für Privathaushalte und für den
Mittelstand von sage und schreibe 47,75 Milliarden Euro.
Die Unternehmensteuerreform hat zu Beginn des vergangenen Jahres vielen Betrieben deutliche Erleichterungen verschafft. Insgesamt ging die Belastung für Kapitalgesellschaften durch Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer
und Solidaritätszuschlag von 51,8 Prozent noch zu Ihrer
Zeit auf 38,6 Prozent zurück.
Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmensteuerrechts schaffen wir weitere Erleichterungen. Wichtiger Teil des Gesetzentwurfs ist die
Reinvestitionsrücklage, die - wir haben es gehört - als
Mittelstandskomponente zu einer weiteren Steuerentlastung um 150 Millionen Euro führt und mittelständischen
Personenunternehmen die Umstrukturierung des Beteiligungsbesitzes erleichtert.
Personengesellschaften können damit ab 1. Januar dieses Jahres - ähnlich wie Kapitalgesellschaften - Gewinne
aus der Veräußerung von Anteilen steuerfrei stellen, sofern sie diese innerhalb von zwei Jahren wieder investieren. Das bedeutet, dass die Betriebe je 100 Euro einbehaltenen Gewinn jetzt 13,2 Euro weniger als vor der
Reform abführen müssen. Das will die Opposition, wenn
sie ihre neue Steuerreform durchsetzen sollte, wieder
zurücknehmen. Im Gegenzug gibt es dann die konzeptions- und zusammenhanglosen Steuergeschenke. Angesichts dessen wundert es nicht, wenn Ihr Kandidat ins
Stammeln kommt.
Meine Damen und Herren, die Opposition übersieht
aber auch die Notwendigkeit - das sei noch nebenbei gesagt - eines auf Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit ausgerichteten Kurses zur Modernisierung von Wirtschaft
und Gesellschaft. Wie von den Instituten in ihrer Gemeinschaftsdiagnose empfohlen, müssen wir am finanzpolitischen Konsolidierungskurs und am mittelfristigen
Ziel eines ausgeglichenen Haushalts festhalten. Die Nettokreditaufnahme wird deshalb weiter reduziert: von
32,6 Milliarden Euro im Jahre 1997 - das war also noch
zu Ihrer Zeit - auf 21,1 Milliarden Euro im Jahr 2002. Dadurch werden wir die Maastricht-Kriterien im Übrigen
einhalten. Wir dürfen uns allerdings nicht in nicht finanzierbare Steuergeschenke verstricken.
Eine letzte Bemerkung: Das aktuelle Ifo-Geschäftsklima hat die Börsen positiv überrascht; es hat uns in
diesem Kurs bestärkt. Das Ifo-Institut erkennt bereits ein
klassisches Aufschwungmuster. Die Wirtschaft scheint
die Schockwirkung nach den Terroranschlägen überwunden zu haben. Ich bin davon überzeugt, dass in
Kombination mit den Technologiekonzepten der Bundesregierung und mit der Steuerreform der Mittelstand
Motor des Wirtschaftsaufschwungs bleiben wird. Und
das ist gut so.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Börnsen.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen ganz konkreten
und konstruktiven Antrag sowie eine Große Anfrage vorgelegt, zu denen ich jetzt Stellung nehmen werde. Fairerweise weise ich darauf hin, dass wir unsere Anträge bereits im April 2001 eingebracht haben. Wenn wir erst jetzt,
zehn Monate später, darüber diskutieren, dann darf man
nicht vergessen, dass die Bundesregierung mit ihrer Antwort auf die Große Anfrage ein wenig gezögert hat. Deshalb darf man uns keinen Vorwurf machen, dass Anregungen aus diesen Anträgen überholt worden sind. Das
lag nicht an uns.
Die aktuellen wirtschaftlichen Fakten sprechen eine
ganz klare Sprache. Sie verdeutlichen viele politische
Versäumnisse in der Mittelstandpolitik. Zu ihnen gehört
auch, dass Wirtschaftsminister Müller bei der heutigen
mittelstandspolitischen Debatte fehlt.
({0})
Die Ertragslage des deutschen Mittelstandes ist unzureichend. Nur 3 Prozent des Umsatzes werden als Gewinn
erwirtschaftet. Rund ein Drittel aller mittelständischen
Unternehmen erzielen keinen Gewinn mehr. Das ist bitter
für die Betroffenen. Über die Hälfte der kleineren Mittelständler arbeitet ohne Eigenkapital. Die Investitionsbereitschaft geht besorgniserregend zurück. Die anerkennenswerte Ausbildungsbereitschaft von Handwerk,
Handel und Gewerbe ist ebenso gefährdet wie deren
Funktion als gesellschaftliche Stabilisatoren.
Unsere 3,5 Millionen mittelständischen Unternehmen
beschäftigen 70 Prozent aller Arbeitnehmer sowie 80 Prozent aller Auszubildenden und erzeugen 50 Prozent aller
Wirtschaftsgüter in Deutschland.
({1})
Die augenblickliche Politik aber hat viele entmutigt.
Steuern und Abgaben steigen, hohe Lohnnebenkosten
werden zu Jobkillern. Verschärfte Gesetze in Bezug auf
Mitbestimmung und Teilzeitarbeit werden als Diktat empfunden, neue Umweltauflagen führen zu mehr Reglementierung und Bürokratie.
({2})
Von Rot-Grün aus Berlin kommen wirklich keine neuen
Impulse mehr. Dabei könnte die Schaffung richtiger Rahmenbedingungen zu einem Jobwunder führen, wenn man
sich am Zauberwort Franchising orientierte. Nach Ansicht von Experten könnten innerhalb von fünf Jahren
500 000 Arbeitsplätze entstehen, wenn die richtigen Voraussetzungen geschaffen würden.
Franchising ist eine in Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten völlig unterentwickelte Wirtschaftsform. Dabei kauft der Franchisenehmer beim Franchisegeber ein fertiges Betriebskonzept, profitiert von
dessen Werbung und Know-how, agiert jedoch weitgehend wie ein selbstständiger Unternehmer. Die oft
langjährige Anlaufphase einer Unternehmensgründung
verkürzt sich deutlich und liegt bei manchen Systemen
fast bei null. Die Zahl der Gründerpleiten wird auf ein
Minimum reduziert.
Meine Damen und Herren, allein 30 000 Pleiten von
Jungunternehmern im Jahr 2001 in unserem Land vergeuden nicht nur Steuergelder und Investitionskapital; sie
zerstören auch so manche Biografie.
({3})
Verglichen mit herkömmlichen Betriebsgründungen ist
die begleitete Existenzgründung im Rahmen des Franchising wesentlich erfolgreicher.
350 000 Menschen arbeiten heute in Deutschland in
Franchiseketten - von Photo Porst bis hin zu den Fröhlich-Musikschulen - in ungefähr 850 verschiedenen Franchisesystemen. Meine Heimatstadt Flensburg ist Sitz von
bekannten und angesehenen Systemzentralen wie Beate
Uhse oder TEXfit
({4})
und in meiner Nachbarschaft gibt es Systemzentralen wie
Mobilcom, Blume 2000 und das Dach- und Fassadenbegrünungsunternehmen optima. Bunt ist der Strauß der
Franchisesysteme
({5})
- und fröhlich die Stimmung meiner Kollegen.
Nach Ansicht von Fachleuten hätten aber rund 2 000 solcher Unternehmensnetzwerke in Deutschland Platz, wenn
denn die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen würden. Doch statt dieses Entwicklungspotenzial zu nutzen,
baut die Bundesregierung zurzeit neue Hürden bei der
Schaffung von Arbeitsplätzen seitens des Mittelstands
auf, und zwar durch die Reform des Kündigungsschutzes,
die verkorkste Steuerreform und die Regelungen zur
Scheinselbstständigkeit. Hier blickt die Bundesregierung
am Ende ihrer Regierungszeit auf eine Politik verpasster
Chancen zurück.
In den USA ist Franchising ein Instrument aktiver
Arbeitsmarktpolitik, bei uns nicht. Dabei schafft ein Existenzgründer in Deutschland im Durchschnitt drei Arbeitsplätze. Franchisesysteme bedienen zwei Kundenkreise:
einerseits den Verbraucher und Nutzer ihrer Produkte
und Dienstleistungen, andererseits potenzielle Existenzgründer.
Diese Netzwerkwirtschaft wartet darauf, Rechtssicherheit zu erhalten. Sie bewegt sich in mehreren Bereichen auf ungeklärten Grenzlinien: In der Praxis ist oft
nicht klar, ob die Tätigkeit eines Franchisenehmers von
den Gerichten als selbstständige Tätigkeit akzeptiert wird,
ob die EU-Gruppenfreistellungsverordnung greift, ob das
jeweilige Franchisesystem vom Kartellverbot freigestellt
ist und wie weit die Aufklärungspflichten des Franchisegebers reichen. Die Folge ist, dass zum Beispiel das Landgericht in München die Wirksamkeit eines Franchisevertrages bestätigt, das Oberlandesgericht in Hamm
denselben Vertrag aber für sittenwidrig erklärt.
({6})
Hierdurch werden Geld, Arbeitsplätze und Existenzen
vernichtet - zum Schaden für die gesamt Volkswirtschaft.
Die Risiken dieser Wirtschaftsform dürfen vom Gesetzgeber nicht übersehen werden:
({7})
Wolfgang Börnsen ({8})
Unzureichend qualifizierte Menschen können in eine
Existenzgründung gedrängt werden, eine zu hohe Lizenzgebühr kann frustrieren und nicht fördern. Schwarzen
Schafen ist das Handwerk zu legen. Franchisegeber und
Franchisenehmer sind Partner, sie sitzen im selben Boot;
zur Galeere darf dieses Boot aber nicht werden.
In den Vereinigten Staaten, im Ursprungsland der
Netzwerkwirtschaft, gelten harte Regeln; es gibt aber
auch Rechtssicherheit. In 30 Jahren ist die Erfahrung gewachsen. 8 bis 10 Millionen Menschen bietet diese Wirtschaftsform eine aktive Wirtschaftsbeteiligung. Dort
müssen alle Franchisesysteme angemeldet, zertifiziert
und in öffentliche Register aufgenommen werden. Diese
Regelung schafft Schutz vor Missbrauch und wirkt wie
eine Vermittlungsbehörde. - Eine solche Lösung ließe
sich bei uns ohne Reglementierung der Branche durch die
Einführung eines freiwilligen Prüfsiegels für Franchisesysteme erreichen. An der Vergabe eines solchen Zertifikats sollten alle Betroffenen beteiligt sein.
Auch die Finanzierung der Existenzgründungen bedarf
einer deutlichen Verbesserung. Banken und Sparkassen
entziehen sich immer mehr dieser Aufgabe und die
Basel-II-Vereinbarung könnte ein Erschwernis für diese
Systeme bedeuten. Es ist unsinnig, bei jeder Filialgründung eines Franchisepartners das gesamte Franchisekonzept auf Herz und Nieren zu überprüfen. Das muss nicht
sein.
Um den rechtlichen finanziellen Rahmenbedingungen
Genüge zu tun, muss man zu einem anderen Unternehmensbewusstsein kommen. Diesbezüglich gibt es bei uns
Defizite in der Bildung und in der Ausbildung.
Von diesem Mangel in der Ausbildung einmal abgesehen, brauchen wir einen neuen Weg: fort von einer Neidkultur, hin zu einer Unternehmenskultur. Risikobereite,
leistungsstarke Vertreter der Wirtschaft verdienen Anerkennung. Dieser Respekt gilt auch Franchiseunternehmen.
Sie fungieren in vielem als Schule für Unternehmer. Dort
lernt man das Handwerkszeug für verantwortliche Unternehmensführung. Dort findet Eigenverantwortung in der
Praxis statt. Dort kommt es zur Qualifizierung zukünftiger
Unternehmer. Und das ist gut so.
Ich glaube sehr wohl, dass es bei richtiger Einschätzung dieses Erfolgssystems und bei klugem politischen
Handeln möglich ist, in den nächsten fünf Jahren über
500 000 neue Arbeitsplätze im Bereich des Franchisesystems zu schaffen. Für uns von der Union ergeben sich daraus fünf Empfehlungen im Hinblick auf das, was wir für
notwendig erachten:
({9})
Erstens. Wir benötigen dringend eine fundierte Studie
über die Entwicklungschancen von Franchising in
Deutschland.
Zweitens. Wir sind für die Schaffung eines freiwilligen
Zertifizierungssystems.
Drittens. Wir plädieren für die Schaffung klarer rechtlicher Rahmenbedingungen.
Viertens. Wir sind für das Berufsbild eines Franchisemanagers.
Fünftens. Wir glauben, es ist richtig, dass wir zu einer
einfachen, unbürokratischen Regelung von Existenzgründungen kommen müssen, womit zur Förderung der
Gründung von Franchisesystemen beigetragen wird.
({10})
Herr Kollege
Börnsen, achten Sie bitte einmal auf die Zeit. Sie ist schon
längst abgelaufen.
({0})
Ich
komme zum Ende. Ich glaube sehr wohl, dass auch wir in
Deutschland die neuen Systeme in aller Ernsthaftigkeit
viel stärker unterstützen müssen; denn 500 000 Arbeitsplätze mehr oder weniger sind für unser Land wirklich
kein Pappenstiel.
Danke schön.
({0})
Jetzt hat der
Kollege Rainer Wend das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wir hatten bis jetzt eine
knappe Dreiviertelstunde Zeit, um uns über Wirtschaftsund Mittelstandspolitik zu unterhalten. Ich räume gerne
ein: Die Regierung wird sicherlich die sich möglicherweise abzeichnende positive Entwicklung in den Vordergrund stellen.
({0})
Sie erinnern ein bisschen mehr als wir an die Vergangenheit. Sie werden aber nicht darum herumkommen, sich
von mir das vorhalten zu lassen, was schon die Parlamentarische Staatssekretärin aus der „Welt am Sonntag“ - die
Überschrift des Artikels lautet „Die Chaos-CDU“ - zitiert
hat. Ich mache das - Sie werden dafür Verständnis haben genüsslich; schließlich haben wir nicht allzu oft Gelegenheit, Ihnen etwas aus der „Welt am Sonntag“ vorzuhalten.
Ich zitiere:
Sonntag, 10.42 Uhr: CDU/CSU-Chefin Angela
Merkel will die letzte Stufe der Steuerreform vom
Jahr 2005 auf das Jahr 2003 vorziehen. 22.15 Uhr:
Kanzlerkandidat Edmund Stoiber unterstützt den
Vorstoß.
Montag, 14.38 Uhr: CSU-Landesgruppenchef Glos
bremst ab. Merkel habe eine veraltete Beschlusslage
vorgetragen. 14.48 Uhr: Fraktionschef Merz erklärt,
die Union wolle nur Teile der Reform vorziehen.
Wolfgang Börnsen ({1})
Dienstag, 12.33 Uhr: Glos rechnet vor, ein Vorziehen
der Steuerreform sei zeitlich nicht zu schaffen.
13.12 Uhr: CDU-Vize Rüttgers fordert keine Steuererleichterungen, sondern einen nationalen Stabilitätspakt. 18.12 Uhr: Stoiber schweigt, auch auf
Nachfrage.
({2})
Was da geschehen ist, ist mit „Chaos-Combo“ wirklich
unzureichend beschrieben. Die sprichwörtlichen Hühner
auf dem Hühnerhof bilden im Vergleich zu dem, was die
Unionsspitze zu bieten hat, eine preußisch korrekte Militärformation.
({3})
Herr Kollege Riesenhuber, ich möchte mir einen etwas
anmaßenden Rat erlauben: Als alter Fahrensmann könnten Sie vielleicht einen 630-Mark-Job bei Ihrem Kanzlerkandidaten annehmen und Ordnung in Ihre Reihen bringen, was die Steuer- und Wirtschaftspolitik angeht.
({4})
Damit bin ich beim Thema 630-Mark-Jobs. Gestern
hat Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, Herr Wissmann,
einen neuen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt: Wir wollen aus den 630-Mark-Jobs 400-Euro-Jobs machen. Es
soll also alles wie früher bleiben, nur mit dem Unterschied, dass nun jeder Verdienst bis 800 DM steuer- und
sozialabgabenfrei bleiben soll. Ich gebe zu, dafür gibt es
auch vernünftige Argumente. Mit Schwarz-Weiß-Malerei
kommen wir hier nicht weiter.
Aber Sie müssen sich, wenn Sie solche Jobs einführen
wollen, zwei Problemen stellen. Problem Nummer eins:
Bis 1998 gab es das Problem, dass die Arbeitgeber vor allem im Handelsbereich aus den Sozialversicherungssystemen geflüchtet sind, indem sie ordentliche versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in mehrere
630-Mark-Jobs aufgeteilt haben. Das erhöhte den Druck
auf die Sozialversicherungssysteme gewaltig. Wenn Sie
also die Bemessungsgrundlage der Sozialversicherungssysteme verengen, dann erhöhen Sie zwangsläufig den
Druck, die Beiträge zu erhöhen. Das sollten wir vermeiden. Deswegen rege ich an: Denken Sie noch einmal über
diesen Vorschlag nach.
Problem Nummer zwei: Wenn ein Arbeitnehmer in
dem mittelständischen Betrieb, in dem er beschäftigt ist,
mit Zustimmung des Betriebsrates Überstunden macht,
um für sein Unternehmen vorübergehend die Aufträge
besser abarbeiten zu können, muss er auf das, was er für
seine Überstunden bekommt, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Soll es steuer- und sozialabgabenfrei sein, wenn er nach sieben Stunden Feierabend macht
und im Nachbarbetrieb auf 630-Mark-Basis arbeitet? Das
kann nicht im Interesse des Arbeitnehmers, aber auch
nicht im Interesse des mittelständischen Betriebes sein,
der gut motivierte Arbeitnehmer braucht.
({5})
Sie haben die Rahmenbedingungen - das war richtig immer wieder angesprochen. Ich muss Ihnen noch einmal
die Staatsverschuldung vorhalten. Als wir 1998 an die
Regierung kamen, lag die zusätzliche jährliche Staatsverschuldung bei über 30 Milliarden. Wir haben sie auf
21 Milliarden im Jahr 2002 senken können. Die Steuerreform entlastete kleine und mittelständische Betriebe in
beträchtlichem Maße, und zwar insgesamt um 15,3 Milliarden DM. Wir haben - das ist wichtig für die Höhe der
Lohnnebenkosten - in der Rentenversicherung für den
Umstieg in Richtung Eigenvorsorge gesorgt. Wir haben
damit etwas geschafft, was die FDP sicherlich bis 1998
schon über viele Jahre hinweg versucht hatte, was aber
mit der Union und mit Herrn Blüm niemals zu erreichen
war. Dieser Umstieg sollte also nicht unterschätzt werden.
Zum Abschluss möchte ich sagen: Die Politik hat gewiss Verantwortung. Wir versuchen Rahmenbedingungen
zu verbessern. Wir streiten auch darüber. Auch die Gewerkschaften - Stichwort Tarifabschlüsse - haben Verantwortung. Aber auch die Unternehmen selbst haben
Verantwortung. Ich möchte Ihnen zwei, drei Beispiele
nennen. Die Unternehmen klagen heute über den Facharbeitermangel. Sicherlich müssen wir uns in diesem
Zusammenhang auch über unser Bildungssystem Gedanken machen. Aber wer war es denn, der zu Beginn der
90er-Jahre die Zahl der Ausbildungsplätze in den Betrieben, vor allem in den Großbetrieben, reduziert und die betriebliche Ausbildung für überflüssig erachtet hat? Das
waren die Unternehmer selber. Ich frage: Tun die Unternehmer wirklich alles, um die betriebliche und die außerbetriebliche Qualifizierung zu fördern? Erkennen sie in
ausreichendem Maße die Kompetenzen älterer Arbeitnehmer, die sie in ihrem Betrieb sehr wohl gebrauchen könnten?
Das Funktionieren der Wirtschaft und des Mittelstandes ist davon abhängig, dass die politischen Rahmenbedingungen in Ordnung sind, dass die Gewerkschaften
ihre Verantwortung erkennen und dass die Unternehmer
ihre Verantwortung erkennen. Nur das Zusammenspiel
aller drei Akteure im Bündnis für Arbeit würde Erfolg haben. Wir streiten um die richtigen politischen Rahmenbedingungen. Wir glauben nicht, dass wir alles im Griff haben. Aber wir glauben, dass wir auf einem Weg sind, den
weiterzugehen sich lohnt.
({6})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7615 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktion der
CDU/CSU hat beantragt, die Vorlage um die Drucksache
14/8171 zu ergänzen und sie zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zur
Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie
an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Helga KühnMengel, Anni Brandt-Elsweier, Dr. Carola
Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika
Knoche, Irmingard Schewe-Gerigk, Christa
Nickels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Frauenspezifische Gesundheitsversorgung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Widmann-Mauz, Eva-Maria Kors, Dr. Sabine
Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen
- Drucksachen 14/3858, 14/4381, 14/7889 Berichterstattung:
Abgeordnete Helga Kühn-Mengel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung haben wir
eine halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. - Kein
Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Helga Kühn-Mengel.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kollegen und Kolleginnen! Dieser Antrag - einige hier im Raum wissen es - geht auf eine Initiative von
Rot-Grün zurück, die schon zu Oppositionszeiten ergriffen wurde. Wir haben diesen Antrag noch einmal aktualisiert aufleben lassen, um ganz bestimmte Ziele einzubringen, zum Beispiel, dass bei der Bewilligung von
Projektanträgen in den Ministerien generell als Bewertungskriterium die Berücksichtigung frauenspezifischer Belange eingeführt wird. Das wäre neu, ist aber
wichtig. Das müssen wir betonen.
Wir fordern, dass kontinuierlich eine Berichterstattung über die gesundheitliche Situation von Mädchen und
Frauen erfolgt und diese auch fest verankert wird. Wir
wollen auch, dass gerade die gesundheitliche Versorgung
von Frauen, deren Gesundheit besonderen Belastungen
ausgesetzt ist, speziell gefördert wird. Von solchen Fördermaßnahmen sollen zum Beispiel behinderte Frauen,
Migrantinnen, ältere Frauen und auch junge Mädchen, die
zum Beispiel an Aids erkrankt sind, profitieren.
Liebe Frau Kollegin Widmann-Mauz, bevor Sie wieder
behaupten, dass unser Antrag von dem Ihren abgekupfert
sei, möchte ich kurz auf die numerische Reihenfolge der
Drucksachennummern verweisen: Der Antrag aus der
letzten Legislaturperiode trug die Nummer 13/10532; unser heute vorliegender Antrag vom 7. Juli 2000 hat die
Drucksachennummer 14/3858, jener der Opposition hat
die Drucksachennummer 14/4381.
({0})
Wir haben dieses Thema hier eingebracht und ihm
Raum gegeben, weil wir es für sehr wichtig halten. Wir
haben eine sehr positive Resonanz vonseiten der Verbände und auch im wissenschaftlichen Raum erfahren.
Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, will ich Ihnen
aus einem Brief zitieren, den eine Bürgerin aus Bayern geschrieben hat - ich zitiere Frau H. vom Ammersee -:
Mein Mann und ich haben den gleichen Hausarzt und
wir haben zum Teil die gleichen gesundheitlichen
Probleme.
({1})
Ich habe schon oft festgestellt, dass die Probleme bei
meinem Mann ernst genommen werden, bei mir dagegen ziemlich locker genommen werden; so, als
würde ich mir meine Schmerzen einbilden.
({2})
Dann kommen gewisse Ausführungen über die Wehleidigkeit der Männer, die hier aber nicht so viel zur Sache
tun.
({3})
Dann schreibt die Bürgerin:
Die Männer haben in der Regel sogar noch den Vorteil, dass sie sich ins Bett legen können; sie werden
dann umsorgt. Wir Frauen versorgen uns trotz unserer Krankheit meistens selbst.
({4})
Dieser Brief einer Bürgerin zeigt dasselbe, auf was uns
auch schon Studien und Untersuchungen seit langem hinweisen, dass nämlich Frauen ganz besondere Rollen und
Verpflichtungen wahrnehmen, die dafür sorgen, dass sich
auch Krankheiten anders gestalten und darstellen. Wir
wissen zugleich, dass diese Besonderheiten der Rolle
der Frauen - ich nenne als Stichwort nur Doppel- und
Dreifachbelastung, besondere Sozialisation, besondere
Gewalterfahrungen - in der Medizin nicht oder noch nicht
in gebührendem Umfang berücksichtigt werden. Frauen
sind im Medizinbetrieb lukrativ, aber sie werden oft nicht
vor dem Hintergrund dieser frauenspezifischen Aspekte
versorgt. Sie haben andere Lebensbedingungen. All dies
haben wir zum Thema gemacht.
Die von uns aufgegriffenen Punkte fanden ihre Bestätigung in der Anhörung. Aber auch im Gutachten des
Bundesgesundheitsministeriums finden sich eine Fülle
von Hinweisen, die das bestätigen, was wir über Unter-/Fehlversorgung und mangelhafte Qualität wussten:
100 000 überflüssige Operationen beim Brustkrebs,
35 000 überflüssige Eierstockentfernungen, darüber hinaus ebenso unnötige Blinddarm- und GallenblasenopeVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
rationen, unterschiedliche Behandlungen beim Herzinfarkt - Forschungsdefizite, wohin wir auch schauen.
Deswegen, liebe Kollegen und Kolleginnen von der
Opposition, greift Ihr Antrag zu kurz, wenn Sie sagen:
Frauen nehmen Gesundheit anders wahr als Männer, sie
gehen häufiger zum Arzt. Das vermeidet den kritischen
Blick auf ärztliches Verhalten und degradiert das Anliegen
Ihres Antrages.
({5})
Wir haben bereits für Veränderungen gesorgt, die mit
unseren Bemühungen zusammenhängen, die Qualität im
Gesundheitsbereich endlich zu fördern, nachdem wir
jahrelang nur Kostendämpfungsdebatten geführt haben.
Das hat nicht nur mit Geld zu tun. Die genannten Beispiele, die überflüssigen Operationen, die Folgen falsch
positiver Befundungen im Bereich des Brustkrebses, machen sehr deutlich, dass hier viel Geld bewegt wird. Wir
müssen dieses Geld jedoch in Richtung Qualität verschieben.
({6})
Die Ergebnisse der Anhörungen haben das deutlich gemacht.
Was haben wir inzwischen verändert? Es gibt einen
Antrag „Brustkrebs“, der aus der Anhörung resultierte. Es
gibt Verbesserungen in der Qualitätssicherung der kurativen Mammographie. Es gelang, den Brustkrebs als
eine der vier Krankheiten im Disease-Management-Programm aufzunehmen. Das ist für die Frauen und die Onkologie sehr wichtig. Es gibt eine Fülle von Modellprojekten beim Bundesministerium für Gesundheit, die,
unseren Auftrag vorwegnehmend, ganz speziell frauenspezifische Aspekte berücksichtigen, zum Beispiel die
Arbeitsgruppe „Armut und Gesundheit“, die sich mit
der besseren medizinischen Versorgung von wohnungslosen Migrantinnen, Prostituierten und Alleinerziehenden
beschäftigt.
Zur Gesundheitsberichterstattung ist zu sagen, dass
es einen Bericht vom Frauenministerium zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland gibt. Zugegebenermaßen ist dies eine Maßnahme, die bereits von der
alten Regierung in Gang gesetzt wurde; auch das gehört
dazu. Aber ganz neu ist eine Langzeitstudie über die Wirkung von Hormonsubstitution in den Wechseljahren,
die pharmaunabhängig finanziert wird. Das ist ein wichtiges Signal.
({7})
Nicht zuletzt gibt es die Verbesserungen für behinderte
Frauen im SGB IX. Auch das müssen wir hier betonen.
Vor diesem Hintergrund können wir sagen: Wir haben
Anstrengungen im Bereich der Qualität unternommen
und werden diese Bemühungen fortsetzen. Aber zum
Schluss möchte ich das sagen, was ich immer sage: Es ist
genauso wichtig, dass wir in allen Gremien fordern, dass
dort mehr Frauen vertreten sind. Der Bundesausschuss
der Ärzte und Krankenkassen hat 30 Mitglieder, unter denen keine Frau ist, allenfalls in einem Unterausschuss. Bei
den C-4-Professoren und -Professorinnen sind es gerade
2 Prozent und in den Chefetagen der Krankenkassen und
Rentenversicherungsträger suchen wir verzweifelt nach
weiblicher Repräsentanz. Auch das müssen wir ändern.
Erst dann wird unser Ziel in allen Gremien und Etagen
verwirklicht.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau
Kühn-Mengel, ich hätte es Ihnen gerne erspart, aber nachdem Sie das Thema mit den leidigen Drucksachennummern noch einmal aufgegriffen haben, muss ich Ihnen sagen: Wir haben nie behauptet, dass unser Antrag, der hier
heute zur Debatte steht, vor dem Ihrigen, der heute zur
Debatte steht, eingereicht worden wäre. Wir haben immer
klar gesagt, dass es schön ist, dass Sie mit Ihrem Antrag
- ich nenne Ihnen gerne noch einmal die Drucksachennummer - 14/6453 vom 27. Juni des Jahres 2001 die
Anregungen und Forderungen des Unionsantrages,
Drucksache 14/4381 vom 24. Oktober des Jahres 2000 er nennt sich „Konkrete Gesundheitspolitik für Frauen“;
wir stimmen heute über ihn ab -, aufgenommen haben.
Das begrüßen wir und das haben wir nie kritisiert. Wir
freuen uns, dass die Opposition gute Vorschläge macht,
die in der Regierung leider zu lange auf ihre Umsetzung
warten.
({0})
Ich habe mein Schicksal in die Hand genommen und
viel Hilfe erfahren - von guten Freunden, Ärztinnen
und Ärzten und auch von Gott. Heute bin ich wieder
gesund.
So das Happy End einer Brustkrebspatientin, die mir
ihren Leidensweg und ihren Sieg über den Krebs in ergreifender Weise geschildert hat. Nicht immer geht es gut
aus; leider geht es immer noch viel zu häufig nicht gut aus.
Traurige prominente Beispiele sind die Leidensgeschichten von Regine Hildebrandt oder auch von Kolleginnen
aus unseren Reihen.
Die meisten Frauen fühlen sich im Angesicht einer lebensbedrohenden Diagnose den Ärzten und der Situation
ausgeliefert. Ob diese Diagnose Brust- oder Gebärmutterhalskrebs oder aber Osteoporose, Rheuma, Demenz,
Herz- und Kreislaufkrankheiten, Depressionen oder Essstörungen heißt: Ein Hoffnungsschimmer ist, wenn die
besten Behandlungsmöglichkeiten offen stehen. Ärztinnen und Ärzte müssen alles tun - und sie müssen es auch
richtig tun können -, um den Kampf gegen die Krankheit
gewinnen zu können.
Mindestens ebenso wichtig wie die richtige Bekämpfung einer Krankheit ist die Prävention. Erfolgreiche
Früherkennung braucht hohe Beteiligungsquoten. Vermeintliche hohe Zugangsschwellen und auch die Angst
vor einem möglichen positiven Befund lähmen viele
Frauen, sodass sie die Möglichkeiten der Vorsorgemaßnahmen nicht wahrnehmen. In ländlichen Räumen nehmen nur noch 30 Prozent der Frauen die Krebsvorsorge in
Anspruch. Hier muss die Politik ansetzen.
Vor diesem Hintergrund fordert die Union ein Aktionsprogramm Prävention. Denn wir müssen die verschiedenen Anreizsysteme zur Verbesserung der Inanspruchnahme von Präventionsleistungen sinnvoller nutzen und
ausbauen. Deshalb fordern wir ein Präventionsgesetz als
Teil des Sozialgesetzbuches, mit dem eine Bündelung der
Vorgaben erreicht werden kann. Die Zeit drängt nämlich.
Mehr Vorsorge ist vordringlich.
Gerade die ältere Bevölkerung hat heute einen höheren Bedarf an ärztlicher Versorgung, Rehabilitation und
Pflege. Dies ist auch rein finanziell in Zukunft nur zu bewältigen, wenn die Ausgaben für mittel- und langfristige
Prävention steigen. Experten wie Ulla Walter von der
Medizinischen Hochschule Hannover geben an, dass sich
durch wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen theoretisch
25 bis 30 Prozent der heutigen Gesundheitsausgaben vermeiden ließen. Dies wäre eine sinnvolle Perspektive.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erfahrungen aus anderen Ländern können hier wegweisend sein. Die 1998 in
Großbritannien gestartete Kampagne „Our Healthier Nation“ zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung
unter Beteiligung von sage und schreibe elf Ressorts ist erfolgversprechend. Definiert wurden Gesundheitsziele auf
unterschiedlichen Ebenen, für deren nationale und lokale
Erreichung Ressourcen bereitgestellt werden. Auch die
Prävention von Herz- und Kreislauferkrankungen zum
Beispiel in Finnland ist ein gelungenes Beispiel für einen
gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der in Deutschland noch
fehlt.
Ich denke, spätestens nach dem niederschmetternden
Gutachten des Sachverständigenrats zur Gesundheitspolitik und auch angesichts des negativen Abschneidens
Deutschlands im europäischen Vergleich sind wir uns bei
dieser Debatte heute doch wohl alle in einem Punkt einig:
Es muss mehr in puncto Frauengesundheit getan werden.
({2})
Denn die Zahlen sind erschreckend, besonders im Bereich der Brustkrebserkrankungen. Etwa 47 000 Frauen
erkranken jährlich in Deutschland an Brustkrebs; circa
18 000 sterben daran. Wie Dr. Harlfinger vom Berufsverband der Frauenärzte im Rahmen der öffentlichen Anhörung im März des vergangenen Jahres ausgeführt hat,
haben 14,2 Prozent der Frauen, die an Brustkrebs erkranken, einen Tumor, der größer als fünf Zentimeter ist.
60 Prozent der Tumore sind größer als zwei Zentimeter,
also in einem Stadium, in dem der Tumor meist schon gestreut hat. Diese Zahlen sind eine Katastrophe.
Warum haben nicht mehr Frauen die Chance auf Heilung? Warum wird der Krebs oder eine andere todbringende Krankheit oft erst entdeckt, wenn jede Hilfe zu
spät kommt? Diese Fragen fanden in unserem Antrag, den
wir heute beraten, erste Antworten. Fast eineinhalb Jahre
später stehen wir heute hier, um diesen Antrag und einen
Antrag der Regierungsfraktionen zu debattieren. Jede betroffene Frau wird uns und auch die Bundesregierung
- Frau Schmidt ist heute nicht da - fragen: Warum muss
es so lange dauern, bis wir zur konkreten Umsetzung
kommen?
({3})
Der Antrag, der von Ihnen, meine Damen und Herren
von der Regierungskoalition, heute vorgelegt wird, muss
in Teilen leider schon als veraltet bezeichnet werden. Es
gibt nämlich keine konkreten Antworten auf die wichtigsten Herausforderungen frauenspezifischer Gesundheitsprobleme, mit denen wir uns gegenwärtig konfrontiert sehen. Die öffentliche Anhörung zu diesem Thema
hat dies deutlich gemacht. Deshalb haben Sie ja auch den
von mir eingangs zitierten neuen Antrag zum Mammographie-Screening eingebracht, der im Februar Gegenstand einer Anhörung sein wird.
Die Women‘s Health Coalition, die Brustkrebsinitiative und alle anderen für die Frauengesundheit engagierten Gruppierungen haben die Bundesregierung aufgefordert, endlich konkret zu handeln. Denn es reicht nicht, wie
in Ihrem Antrag noch unterstützt, weitere fünf bis sechs
Jahre zu warten, bis die laufenden Modellversuche zum
Brustkrebs ausgewertet worden sind. Es ist gar keine
Frage mehr, dass ein qualitätsgesichertes Screeningverfahren die beste Methode zur Erkennung von Brustkrebs
ist.
Im Oktober vergangenen Jahres haben wir bereits Ihren
Antrag zum Mammographie-Screening gegen Brustkrebs
debattiert, in dem Sie unsere Forderungen nach einem
flächendeckenden, qualitätsgesicherten und fachübergreifenden Brustkrebsfrüherkennungskonzept aufgenommen haben. In diesem heute hier zu debattierenden alten
Antrag hielt das Ministerium - auch Ministerin Schmidt langjährige Modellprojekte noch für ausreichend. Sie werden sich Schritt für Schritt der Richtigkeit unseres Antrages bewusst. Das ist zu begrüßen.
({4})
Erforderlich ist nämlich eine rasche Umsetzung der europäischen Richtlinie in eine bindende Richtlinie des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Qualitätsstandards müssen erfüllt werden wie die regelmäßige Doppelbefundung des Bildmaterials, eine spezielle Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte und des
nichtärztlichen Personals im Bereich der radiologischen
Diagnostik, ein hoher technischer Standard der Geräte
und eine laufende Kontrolle ihrer technischen Qualität.
Ich denke, in den wesentlichen Punkten sind wir uns in
dieser Frage inzwischen einig. Dies macht mich für die
Zukunft zuversichtlich.
Die Forderung nach einer qualitätsgesicherten Früherkennung muss aus unserer Sicht mit der Nutzung der in
Deutschland vorhandenen Versorgungsstrukturen verknüpft werden. Diese sind nicht immer unmittelbar verAnnette Widmann-Mauz
gleichbar mit denen anderer europäischer Länder. Dieser
Tatsache müssen wir auch Rechnung tragen. Eine ausschließliche Konzentration auf Frauengesundheitszentren
schränkt unsere Chancen auf eine flächendeckende, bessere Frauengesundheit ein. Wir müssen auf gewachsene
und flächendeckenden Strukturen zurückgreifen können,
wenn ihre Qualität gesichert ist.
In diesem Zusammenhang sind aus unserer Sicht deshalb auch die Ankündigungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu begrüßen, dass nun alle Ärzte, die
Mammographien durchführen wollen, eine Prüfung abzulegen haben und dass eine regelmäßige Fortbildung
verpflichtend gemacht werden soll.
Auch die Planungen der KBV sind zu unterstützen, ab
dem Jahr 2003 jeder Frau zwischen 50 und 69 Jahren eine
Brustkrebsuntersuchung als Kassenleistung zu ermöglichen, ohne dass - wie bisher vorausgesetzt - ein Verdachtsfall vorliegt. Damit besteht die Aussicht, dass aus
wenigen Modellprojekten auf diesem Wege schnell eine
flächendeckende, qualitätsgesicherte Versorgung werden
kann. Je nach den lokal vorliegenden Bedingungen können dann auch die vorhandenen vertragsärztlichen Kompetenzen und Strukturen in das Mammographie-Screening eingebunden werden. Diese Maßnahmen bestätigen
das Konzept der Union zur Verbesserung der Frauengesundheit.
({5})
Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsfraktionen, Ihre späte Einsicht in die Dringlichkeit der flächendeckenden, qualitätsgesicherten Brustkrebsbekämpfung
hat uns viel Zeit gekostet. Jetzt gilt es, endlich zu handeln.
Wir haben nicht ausschließlich konkrete Maßnahmen zur
Bekämpfung von Brustkrebs gefordert - das war nur unsere erste Forderung -, sondern darüber hinaus gibt es eine
Vielzahl drängender Gesundheitsprobleme von Frauen,
die wir aufgegriffen haben. Ich erinnere daran, dass in
Deutschland jährlich 6 000 Frauen an Gebärmutterhalskrebs erkranken und dass 2 800 Frauen jährlich daran sterben. Damit nimmt Deutschland in Westeuropa den drittschlechtesten Rang ein.
({6})
Weltweit ist diese Krebsart mit etwa 500 000 Fällen im
Jahr die zweithäufigste Krebsart bei Frauen.
Und wieder gilt: Wenn der Krebs rechtzeitig entdeckt
wird, dann gibt es auch hier sehr gute Heilungschancen, wie
die Anhörung aufgezeigt hat. Der herkömmliche PapAbstrichtest hat nur eine begrenzte Genauigkeit. Qualitätssteigerungen bei der Abstrichentnahme und bei der Auswertung sowie neue Tests zur Erkennung des HP-Virus sind
dringend notwendig.
Wir haben viele andere Bereiche angesprochen: von
der Osteoporose über die Gesundheitserziehung bis hin
zur Verbesserung der Situation der Demenzkranken in der
Pflegeversicherung.
({7})
Wir müssen Sie treiben, treiben, treiben; denn von allein
würden Sie nicht zur Verbesserung in diesen Bereichen
kommen.
({8})
Es ist schon erwähnenswert, dass die SPD-Fraktion unseren Antrag in den Ausschüssen abgelehnt hat, weil er,
wie Sie sagen, die Forderung nach Abschaffung der Budgetierung im Bereich der Arznei- und Heilmittel enthält.
Da die Bundesregierung von der Budgetierung in diesem
Bereich jetzt von sich aus abgerückt ist, steht Ihnen nun
eigentlich nichts mehr im Wege, unserem Antrag zuzustimmen.
Frau Kollegin,
könnten Sie bitte zum Schluss kommen?
Ich komme
zum Schluss.
Es wird aber nur gelingen, zu einer Verbesserung zu
kommen, wenn wir eine wirkliche Gesundheitsreform in
dieser Republik noch vor der nächsten Bundestagswahl
auf den Weg bringen; denn Stückwerk bleibt Stückwerk.
Packen Sie Ihre Aufgaben endlich an! Lassen Sie mich
mit einem chinesischen Sprichwort in Ihre Richtung enden: Nur mit den Augen der anderen kann man seine Fehler gut sehen. - Es warten viel zu viele Frauen darauf, dass
endlich etwas geschieht.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Knoche.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und
Damen! Frau Widmann-Mauz, Sie wissen, dass ich mir
immer viel Mühe gebe, Abgeordneten mit dem Respekt zu
begegnen, mit dem ich gerne hätte, dass man mir auch begegnet. Aber ich muss Ihnen sagen: Sie waren in der
13. Legislaturperiode nicht Mitglied dieses Bundestages
und ich wage die Behauptung, dass Sie damals als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion weder diese Forderung
noch diesen Duktus in diesem Parlament vorzutragen eine
Chance gehabt hätten.
({0})
Damals, sehr verehrte Frau Kollegin, bin ich hier für
geschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung eingetreten. Und wissen Sie, was ich für eine Antwort von der damaligen Regierung, von Herrn Seehofer, bekommen
habe: Geschlechtsspezifische Gesundheitsversorgung?
Was haben Sie eigentlich, die Frauen werden doch alle älter; wir haben kein Problem. ({1})
Sie können es in den Dokumenten der letzten Legislaturperiode nachlesen.
Die Tatsache, dass wir beim Mammographie-Screening einen durchaus bedauernswerten Zustand haben
- den wir erkennen und gegen den wir tatsächlich etwas
tun, hat etwas damit zu tun - Frau Widmann-Mauz, dass
wir in der Bundesrepublik Deutschland mindestens zehn
Jahre zu spät begonnen haben, uns mit all diesen Fragen
zu beschäftigen.
({2})
Ich möchte das nicht allzu lang ausdehnen. Aber es gehört
auch Seriosität zu dieser Debatte.
({3})
Was will ich sagen? Wir haben beispielsweise einen
Koordinierungsausschuss eingerichtet, dem jetzt das
vorliegt, was die Frau Kollegin vorgetragen hat. Dazu
gehört Mammographie-Screening. Dazu gehören bei Diabetes, koronaren Herzerkrankungen und Asthma die geschlechtsspezifischen Erkenntnisse, von denen wir in der
öffentlichen Anhörung von hochkompetenten Wissenschaftlerinnen und Selbsthilfegruppen, die erstmals im
Deutschen Bundestag gehört worden sind, erfahren haben. Mithilfe dieser Qualitätskriterien müssen auch die
vom Koordinierungsausschuss festgelegten Krankheitsbilder auf die qualitative Versorgung hin betrachtet werden. Disease Management muss eine geschlechtsspezifische Komponente haben.
Das hat nun wirklich niemand anders als Standard in
die Politik, in die Wissenschaft und in die Versorgung eingeführt als diese Regierung. Wäre es nicht so, würden wir
Frauen, die wir Politikerinnen sind, uns nicht schämen zu
sagen: Neben einer gesundheitspolitischen Kernkompetenz muss geschlechtsspezifische Kompetenz vorhanden
sein. Wer diese Kompetenz nicht hat, kann gar keine frauengerechte Gesundheitsreform machen.
({4})
Frau Widmann-Mauz, Sie sprechen von den nächsten
Schritten in der Gesundheitsreform. Ich kenne den Katalog der CDU, der all die Leistungen enthält, die ausgegrenzt werden sollen, sehr gut, und weiß genau, was wir
mit unseren Reformschritten alles zurücknehmen mussten, damit Frauen im Müttergenesungswerk, in der Rehabilitation usw. ihre eigenen Ansprüche gesichert bekommen.
({5})
Bei der Auflistung der Leistungen, die nicht mehr Bestandteil des Sachleistungskatalogs sein sollen, fällt auf,
dass an allererster Stelle zum Beispiel Krankheitsbilder
stehen, die zu Unfruchtbarkeit führen. Hier sollten Sie die
Debatte von gestern und ihre Bedeutung noch ein bisschen im Kopf behalten: Wenn es je dazu käme, dass die
krankheitsbedingte Unfruchtbarkeitsbehandlung nicht
mehr das ausschlaggebende Kriterium für die Durchführung einer In-vitro-Fertilisation wäre, wäre es ein
schuldhaftes Unterlassen der Politik, nicht dafür zu sorgen, dass wir nicht solche Zustände wie in anderen Ländern bekommen, wo es überzählige Embryonen gibt.
({6})
Das sind alles wichtige Fragen. Diesbezüglich kann ich
mit Fug und Recht behaupten: Wenn es nicht solche Altfeministinnen wie bei den Grünen und der SPD gäbe - die
rar geworden sind, die aber immer den Mut hatten, zu sagen, Reformfragen und Qualitätsfragen sind Frauenfragen -, wären wir heute nicht so weit, wie wir sind.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute liegen uns Anträge vor,
in denen sich kritisch mit dem Thema Frauengesundheit
auseinander gesetzt wird. Die im März 2001 durchgeführte Anhörung unseres Ausschusses hat leider nicht zu
einer wesentlichen inhaltlichen Verbesserung dieser Anträge geführt. Die Ergebnisse dieser Anhörung wurden
nicht in Ihre Anträge eingebaut, sodass uns diese Anträge
aus dem Jahre 2000 jetzt unverändert vorliegen.
Beide Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen, beinhalten sowohl unterstützenswerte Positionen als auch
Positionen, die die FDP anders beurteilt.
({0})
In einigen Punkten treiben Ihre Anträge seltsame Blüten.
So sieht der Unionsantrag Familienplanung als ein frauenspezifisches Gesundheitsproblem an. Dieser Sichtweise können sich Liberale nicht anschließen.
({1})
Unsere Unterstützung finden Sie bei der Forderung,
spezielle Krebsregister einzurichten. Hier hat Deutschland in den letzten Jahren Fehler gemacht, die es zu korrigieren gilt. Dem stimmen wir zu. Überhaupt finden Sie
unsere Unterstützung, wenn es um die Verbesserung der
Krebsfrüherkennung geht. Hier plädiert die FDP allerdings entschieden dafür, die jetzt angelaufenen Modellversuche zum flächendeckenenden Screening auszuwerten, um dann zu einer fundierten und wissenschaftlich
abgesicherten Entscheidung im Bundestag zu gelangen.
({2})
Das darf natürlich auch nicht ewig dauern, sondern hier
müssen wir darauf drängen, dass uns die Ergebnisse
früher als vorgesehen vorgelegt werden.
Unsere Fraktion begrüßt ausdrücklich die Einigung der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen über die Prüfung und Verbesserung der Qualifizierungsangebote für Ärzte, die Mammographien an ihren Patientinnen vornehmen. Ich denke,
hierin sind wir uns alle einig.
({3})
Durch diese Einigung wird die Diagnosequalität wesentlich gesteigert.
Richtig ist auch der Grundtenor der Anträge, da es frauenspezifische Krankheitsbilder und Gesundheitsprobleme gibt. Dies muss - auch darin sind wir uns alle
einig - in der Gesundheitspolitik einen größeren Stellenwert erhalten.
Meine Damen und Herren, je mehr Gruppen Sie spezifizieren, umso eher werden Sie feststellen, dass es auch
gruppenspezifische Krankheitsbilder gibt. Das gilt
nicht nur für Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, sondern auch für Menschen mit einer genetischen
Disposition für schwere Erkrankungen und solche, die das
Glück haben, davon verschont zu sein, für Raucher und
Nichtraucher und für Sportler und Nichtsportler. Sie selber unterteilen die Gruppe der Frauen in Ihrem Antrag
noch einmal in Untergruppen: ältere Frauen, behinderte
Frauen, Migrantinnen und misshandelte Frauen.
Mir ist nicht klar, wie Sie Ihre Anträge letztendlich ausrichten; denn sind diese Gesundheitsprobleme nicht derart gruppenspezifisch, dass es keine Rolle spielt, ob es
letztendlich Frauen oder Männer sind? Warum in aller
Welt haben Sie die HIV-Prävention - ich zitiere aus Ihrem
Antrag - „in Prostitutionsszenen im grenzüberschreitenden Raum zu östlichen Nachbarstaaten“ in Ihrem Antrag
für besonders erwähnenswert gehalten, während Sie die
illegal in Deutschland arbeitenden und lebenden Prostituierten, die genau die gleichen Probleme haben, in Ihrem
Antrag nicht erwähnen?
Ich denke von daher, dass Ihre Anträge sicherlich viele
bemerkenswerte Positionen enthalten, andererseits aber
so ins Detail gehen, dass Sie kein umfassendes Konzept
vorgelegt haben.
({4})
Frau Knoche hat darauf hingewiesen, dass die Ärzte
ausgebildet werden müssen und ihnen in ihrer Ausbildung
ganz deutlich gemacht werden muss, dass Frauen und
Männer andere Dispositionen haben und aus anderen
Gründen krank werden. Frau Knoche, ich empfinde es als
Fehler, dass dieser Punkt - es geht darum, dass auch bei
der Arztausbildung mehr Wert darauf gelegt wird - in
Ihrem Antrag fehlt; diesen Punkt finde ich in Ihrem Antrag nicht.
({5})
Ich komme jetzt zum Schluss; die Präsidentin mahnt
mich schon. - Unserer heutigen Diskussion über das
Thema Frauengesundheit werden sicherlich weitere folgen müssen, damit die Belange von Frauen im
Gesundheitsbereich nachhaltig verbessert werden. Wir
wollen unseren Beitrag dazu leisten und werden Ihnen in
den nächsten Monaten dazu etwas vorlegen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass das Bewusstsein für die
Notwendigkeit frauenspezifischer Gesundheitsversorgung so gewachsen ist.
Frau Widmann-Mauz, an eines muss man wirklich erinnern: Erst in dieser Legislaturperiode wurde dieses
Thema angemessen auf die politische Tagesordnung gesetzt. Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir hier vor
allem durch die Anregungen von Medizinerinnen und
Wissenschaftlerinnen, aber auch von den vielen Aktivistinnen aus den Netzwerken „Frauen und Gesundheit“
ganz substanzielle Anregungen erhalten haben.
({0})
Der erste Frauengesundheitsbericht des Jahres 2001
macht sehr deutlich, dass es sehr wohl geschlechtsspezifische Unterschiede nicht nur bei den Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern auch bei Krankheiten,
gesundheitlichen Einschränkungen und beim Umgang
mit der Gesundheit, der Krankheit und den Belastungen
gibt.
Wir haben es nach wie vor mit dem Problem zu tun,
dass all die Erkenntnisse bisher kaum Eingang in die Praxis von Vorsorge und Gesundheitsversorgung gefunden
haben. Um hier tatsächlich Änderungen herbeizuführen,
müssen wir verbindliche Schritte gehen. Nach wie vor
sind wir weit davon entfernt, von einer angemessenen
frauenspezifischen Gesundheitsversorgung in diesem
Lande sprechen zu können.
Meines Erachtens ist der entscheidende Schritt dazu
eine konsequente Umsetzung des Gender-Mainstreaming-Ansatzes. Das bedeutet für mich, dass alle Bereiche
auf ihre Auswirkungen auf die Geschlechter untersucht
werden und daraus ermittelt wird, welche konkreten Konsequenzen wir zu ziehen haben. Das bedeutet aber auch,
dass bei sämtlichen Fördervorhaben die geschlechtsspezifischen Aspekte berücksichtigt und vor allen Dingen die
Projekte gefördert werden, mit denen diese umgesetzt
werden. Die medizinische Forschung muss geschlechtsspezifisch ausgerichtet werden, das heißt auf besondere
Krankheitsrisiken von Frauen Rücksicht nehmen.
Schließlich und endlich muss die Gesundheitsberichtserstattung weiter qualifiziert werden. Ein erster
wesentlicher Schritt ist der Frauengesundheitsbericht des
vergangenen Jahres. Aber es gibt immer noch genug Felder, auf denen es kaum Daten gibt. Ich erinnere an die Gesundheit von Alleinerziehenden oder an die psychischen
Erkrankungen von Frauen.
Wir alle sind hier im Hause in Sachen Brustkrebsprävention und -bekämpfung ein ganz schönes Stück vorangekommen. Ich verweise auf die Debatte im Herbst
und unser Ringen um die notwendige Einführung des
flächendeckenden Screenings zur Früherkennung. Aber
- Frau Kollegin Knoche hat bereits darauf hingewiesen wir sollten auch, und zwar parteiübergreifend, darauf achten, dass in der bioethischen Debatte, die gestern nur eine
Zäsur erfahren hat und noch nicht beendet worden ist - sie
wird auch niemals beendet sein -, die Würde und die Gesundheit der Frau einen viel entscheidenderen Stellenwert einnehmen.
({1})
Wenn wir über Stammzellenforschung reden, dann
wird überhaupt nicht über die gesundheitlichen Risiken
der Frauen geredet, die am Anfang dieser Kette stehen.
Ich erinnere an die Risiken der hormonellen Stimulierung,
die notwendig sind, um IvF und dann eventuell auch PID
überhaupt durchführen zu lassen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die besten Bekenntnisse nützen nichts, wenn wir es nicht schaffen, gemeinsam im Hause für ein wirklich solidarisches Gesundheitssystem zu sorgen, in dem alle Patientinnen und Patienten
zur gesamten medizinischen Gesundheitsversorgung Zugang haben. Gesundheitsversorgung muss für alle erreichbar und finanzierbar sein. Die Erfahrung ist, dass
Frauen von jeglichen Kürzungen ganz besonders betroffen sind, weil sie nicht nur für sich selbst, sondern auch
für ihre Kinder und Angehörigen sorgen. Gesundheit ist
eine kostbare Ware, aber wir sollten sie nicht zur Ware
verkommen lassen.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Marlene Rupprecht.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Was ich in vielen Beiträgen zur
frauenspezifischen Gesundheitsversorgung bis jetzt
gehört habe, war eine Ansammlung von Organen, die man
überwiegend Frauen zuschreibt. Aber ich verstehe unter
frauenspezifischer Gesundheitsversorgung etwas anderes.
Als Familien- und Frauenpolitikerin sehe ich Frauen
bzw. auch Männer in ihrem Umfeld und in ihrer Gesamtheit. Ich denke, wir können die Probleme, die wir in der
Gesundheitsversorgung von Frauen haben, überhaupt nur
lösen, wenn man den ganzheitlichen Ansatz sieht.
Damit komme ich zum Antrag der Fraktion der
CDU/CSU. Wenn ich mir den Antrag anschaue, dann
stelle ich fest, dass er ebenfalls eine Ansammlung von Organen enthält, die man in den Mittelpunkt stellt. Man
könnte noch einen Antrag für Männer machen. Damit
hätte man eine geschlechterspezifische Gesundheitsversorgung. Davon halte ich nichts. Für mich ist wichtig:
Gesundheit ist ganz besonders bei Frauen gesamtgesellschaftlich zu sehen.
({0})
Ich nehme ein Beispiel heraus: die Mütter. Wenn Mütter zum Arzt gehen, dann haben sie Rückenschmerzen,
eine Hautkrankheit, Herzbeschwerden oder vielleicht ein
Nervenleiden. Aber man sieht sie nie als ein gesamtes Wesen in einer Gesamtsituation. Nur wenn man das so sieht,
kann man Gesundheitsvorsorge und -versorgung tatsächlich machen, und zwar mit Erfolg.
({1})
Wenn wir dies nicht tun, dann werden wir eine Kostenexplosion im Gesundheitssektor haben. Dafür bin
nicht ich, sondern dafür sind die Gesundheitspolitiker zuständig. Wir werden aber auch eine Explosion der volkswirtschaftlichen Kosten haben. Denn wenn Mütter erkranken und längere Zeit für ihre Genesung brauchen,
erkranken die Kinder, was Folgekosten für die Familie
und die Gesellschaft verursacht. Das heißt, wir haben
volkswirtschaftlich einen Schaden, obwohl wir mehr ausgeben. Wir müssen also nicht nur den Rücken der Frauen
behandeln, sondern alles darum herum.
Deshalb hat die Familienministerin in Absprache mit
der Gesundheitsministerin und den anderen Ressorts ein
Projekt auf den Weg gebracht, das Frauen bei der Entlastung der Familienarbeit stärkt, indem wir die Elternarbeit
anders gewichten, indem wir bessere Chancen eröffnen
und mehr Geld zur Verfügung stellen, indem wir Gleichstellung durchsetzen - Frauen haben dann bessere Chancen im Beruf -, indem wir wirklich versuchen, Familien
zu helfen. Indem wir Frauen entlasten, tun wir ganz viel
für die Gesundheitsvorsorge.
Ich weiß, dass das für unsere Gesundheitspolitiker immer ein völlig neuer Aspekt ist. Aber ich glaube, nur so
können wir es sehen. Aus dem Grunde haben wir auch - im
Gegensatz zu manchen Behauptungen - beim Müttergenesungswerk keine Kürzungen vorgenommen, sondern wir
haben weiterhin Mittel zur Verfügung gestellt. Diese Mittel
werden sinnvoll dafür eingesetzt, dass Prävention bzw. Rehabilitation im Bereich der Familien bzw. der Frauen und
damit auch der Kinder stattfinden kann.
({2})
Das ist konkrete frauenspezifische Politik und nichts anderes.
Natürlich sind wir mit dem, was wir bisher haben, noch
nicht glücklich. Aber wir sind erst am Anfang des Weges,
den wir gemeinsam gehen müssen. Ich würde vorschlagen: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Er ist der weitestgehende.
({3})
- Das kann man noch ausdifferenzieren. Aber, wie gesagt,
ich bin keine Gesundheitspolitikerin. In unserem Antrag
sind alle betroffenen Ressorts aufgeführt, angefangen
vom Ressort für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
über Gesundheit bis hin zu Bildung und Forschung. Ich
denke, da erkennt man den ganzheitlichen Ansatz. Eine
solchen habe ich bei Ihnen leider vermisst.
({4})
- Sie sollten erkennen, dass man in dem Bereich einen ganzheitlichen Ansatz braucht. Einen solchen haben Sie nicht
berücksichtigt. Er wäre jedoch als Teilelement sinnvoll.
({5})
Wenn wir wirklich Erfolg haben wollen, dann müssen
auch in der Wissenschaft und in der Forschung Frauen
vertreten sein. Da sieht es zurzeit schlecht aus. Meiner
Ansicht nach muss in dem Bereich viel getan werden. Wir
haben zwar ein Gleichstellungsgesetz. Da, wo der Bund
eingreifen kann, versuchen wir es massiv umzusetzen.
Frauen sind im gesamten Gesundheitsbereich aber nach
wie vor unterrepräsentiert.
Wenn wir also wollen, dass sich in der frauenspezifischen Gesundheitsversorgung etwas tut, dann müssen wir
auch im Bereich der Medizin die Belange von Männern
und Frauen differenziert berücksichtigen. Dann wird sich
langfristig etwas verändern, aber nicht dadurch, dass wir
das Ganze auf ein paar Organe reduzieren, die differenziert dargestellt werden.
Danke.
({6})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit auf Drucksache 14/7889. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,
den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zur frauenspezifischen Gesundheitsversorgung,
Drucksache 14/3858, anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 sei-
ner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zur konkreten Gesundheitspolitik für Frauen,
Drucksache 14/4381, abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP1) bei Stimmenthaltung der
PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer
Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Landwirtschaftsanpassungsänderungsgesetzes
({0})
- Drucksache 14/7834 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP-Fraktion sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die FDPFraktion ist der Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lie-
ben Kolleginnen und Kollegen! Rund 850 000 Menschen
waren Ende der 80er-Jahre, also noch zur DDR-Zeit,
LPG-Mitglieder oder in LPG-Betrieben beschäftigt. Im
Zuge der Wiedervereinigung und der darauf folgenden
Jahre vollzog sich ein dramatischer Anpassungsprozess,
bei dem etliche Betriebe liquidiert wurden und viele Men-
schen ihre Arbeit verloren. Allein in den ersten beiden
Jahren der Anpassung verlor mehr als eine halbe Million
Menschen ihren Job. Heute gibt es in den neuen Bundes-
ländern nur noch rund 162 000 Beschäftigte in der Land-
wirtschaft.
Zu diesem Transformationsprozess kamen die äußerst
komplizierten Fragen der Vermögensauseinandersetzung
hinzu. Die Menschen waren verunsichert und wussten
nicht, worin sie Recht haben und worin sie Recht bekom-
men.
Wir haben mit dem Landwirtschaftsanpassungsge-
setz den Versuch unternommen, die gewaltige Umstruk-
turierung in geordneten rechtsstaatlichen Bahnen verlau-
fen zu lassen. Inzwischen sind zehn Jahre vergangen, aber
trotzdem müssen wir feststellen, dass es in der Anwen-
dung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes bis heute
immer noch einige sehr problematische Bereiche gibt.
Dazu gehören unter anderem die Ansprüche von Erben
und nicht bestehende Abfindungsansprüche aufgrund von
Bilanzkorrekturen. Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt,
dass viele Bilanzen nicht ordnungsgemäß waren und kor-
rigiert werden mussten und dass daraus resultierend wei-
tere Konsequenzen zu ziehen waren.
1) Anlage 3
Wir haben, wie gesagt, mit dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz versucht, die Umstrukturierung in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen. Die Probleme der Vermögensauseinandersetzung und die Ansprüche früherer
LPG-Mitglieder beschäftigen seit mehr als zehn Jahren
die Betroffenen, die Politik und die Öffentlichkeit. Teilweise haben sie in der Gesellschaft sehr tiefe Gräben aufgerissen. Diese Gräben sind bis heute noch nicht geschlossen; auch sind noch nicht alle entsprechenden
Verfahren aufgenommen worden.
Die schwierige Gesetzeslage und vor allen Dingen
auch fehlende Informationen haben mit dazu beigetragen, dass die Aufarbeitung der Enteignungen und die Vermögensauseinandersetzung selber mehr Zeit in Anspruch
nehmen, als ursprünglich vorgesehen war. Nach wie vor
bestehen ein erhebliches Informationsdefizit und ein erheblicher Aufklärungs- und Beratungsbedarf bei den Betroffenen.
({0})
Zum Beispiel haben aufgrund fehlender Informationen in
manchen Regionen noch nicht einmal ein Viertel der Geschädigten ihre Ansprüche geltend gemacht. Das ist, wie
gesagt, regional sehr unterschiedlich. Die Ursachen dafür
sind vor allem bzw. auch bei den Ländern zu suchen, deren Personalpolitik der Sache nicht dienlich war.
({1})
Die Handhabung der Beschwerden von abzufindenden
Personen erfolgt in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. Während zum Beispiel in Thüringen und
Sachsen stets alle Betroffene einer ehemaligen LPG über
die Untersuchungsergebnisse informiert wurden, wurden
in Sachsen-Anhalt nur den Beschwerdeführern die Kontrollergebnisse zur Verfügung gestellt.
({2})
Die anderen mussten selbst dafür sorgen, die entsprechenden Informationen zu bekommen. Das hat auch zur
Verschlechterung der Situation der Beschwerdeführer
beigetragen.
Deshalb kann noch nicht festgestellt werden, ob die
Entwicklung einer vielfältig strukturierten Landwirtschaft und die Wiederherstellung aller leistungs- und
wettbewerbsfähigen Betriebe gelungen und ob tatsächlich
eine Anpassung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern an die soziale Marktwirtschaft erfolgt ist. Die Ergebnisse einer dazu bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Auftrag gegebenen Studie werden erst im
Mai vorliegen. Man hat zwar schon vor einiger Zeit erkannt, dass eine wissenschaftliche Begleitung notwendig
ist, aber wir bekommen erst im Mai die Ergebnisse.
Darüber hinaus muss klar und deutlich festgestellt werden, dass die Bundesrepublik bei dem gesamten Transformations- und Abwicklungsprozess besonders in der
Pflicht ist, eine Vorbildfunktion gegenüber den Staaten
des ehemaligen Ostblocks wahrzunehmen, die sie auch
ausfüllen muss.
({3})
Auch aus diesem Grund ist eine sorgfältige Überprüfung
aller Vorgänge notwendig.
Die FDP will mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zu einer Befriedung aller Betroffenen beitragen.
({4})
Deshalb sollen in § 3 b des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes nach den Wörtern „verjähren in 10 Jahren“ die
Wörter „frühestens jedoch mit Ablauf des 31. Dezember
2003“ eingefügt werden.
({5})
Damit erhalten Betroffene die Möglichkeit, ihre Ansprüche noch geltend zu machen.
Zudem wird durch diese Regelung die Entwicklung einer mittelständischen, gesunden Unternehmensstruktur
im ländlichen Raum gefördert.
({6})
Dies wird ganz besonders deutlich durch die durchschnittliche Betriebsgröße aller landwirtschaftlichen Betriebe, die heute in den neuen Bundesländern bei etwa
203 Hektar liegt. Legt man dagegen die Betriebe juristischer Personen zugrunde, so liegt sie bei weit mehr als
1 400 Hektar.
Bei der von uns vorgeschlagenen Änderung geht es
zwar vor allem um die Frage der Rechtsstaatlichkeit. Die
Änderung hat natürlich aber auch gravierende Auswirkungen auf die Betriebsstrukturen bzw. die Landverteilung
selbst. Wo Betriebsgrößen zwischen 2 000 Hektar und
8 000 Hektar vorherrschen,
({7})
gibt es - dies muss man erkennen - kein gesundes Nebeneinander von Betrieben unterschiedlicher Rechtsformen, von Betrieben juristischer Personen, von Personengesellschaften und von Betrieben von Einzelpersonen.
({8})
In diesem Zusammenhang sind natürlich auch die Entschädigungen bei Vermögensauseinandersetzungen von
großer Bedeutung;
({9})
denn diejenigen, die keine Entschädigung bekommen haben, können sich nicht niederlassen und können ihre Ansprüche hier auch nicht aktiv verfolgen. Diese Zusammenhänge muss man sehen. Das ist also nicht nur eine
Frage der rechtlichen Bewertung.
Fristen sind zur Befriedung in unserer Gesellschaft generell notwendig und sinnvoll. Wenn wir aber erkennen
- wie in diesem Fall - dass die Frist zu früh abläuft, dann
müssen wir als Parlament den Mut haben, eine VerlängeUlrich Heinrich
rung durchzusetzen, und das Engagement dafür aufbringen.
Herr Kollege Heinrich,
ich kann Ihnen jetzt leider keine Redezeitverlängerung
geben.
Wir wollen dies mit diesem
Gesetzentwurf erreichen. Ich bitte um wohlwollende
Überprüfung.
({0})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Kollege Heinrich, selbst bei
wohlwollender Prüfung: Die Bundesregierung kann nur
zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Gesetzentwurf
abzulehnen ist. Die Gründe dafür sind schnell aufgelistet.
Der erste und entscheidende Grund ist: Das ist überhaupt nicht ernst gemeint.
({0})
Wenn eine Fraktion 14 Tage vor Eintritt der Verjährung einen solchen Gesetzentwurf einbringt, wohl wissend, dass
die Zeit viel zu kurz ist - er hätte mindestens ein halbes
Jahr früher eingebracht werden müssen -, dann erkennt
man: Das tritt nicht in Kraft. Insofern kann man nur zu
dem Ergebnis kommen: Das war nicht ernst gemeint.
({1})
Man stelle sich die Folgen vor! Es gilt das Prinzip der
Rechtsstaatlichkeit und das Rückwirkungsverbot. Eine
Verjährung, die schon eingetreten ist, müsste nachträglich
wieder aufgehoben werden. Ein solcher Vorschlag von der
Rechtsstaatspartei FDP - da kann man nur staunen. Herr
Kollege Heinrich, ich habe mir einmal heraussuchen lassen, wie viele Juristen es in der FDP-Fraktion gibt. Es sind
immerhin 25 Prozent die Fraktionsangehörigen. Darüber,
dass dann ein solcher Gesetzentwurf unterschrieben wird,
kann man nur mit dem Kopf schütteln. Das gilt insbesondere, wenn man die Zielmarke von 18 Prozent anvisiert. Das entspricht eher der 5-Prozent-Situation.
Herr Staatssekretär,
bevor Sie in den Reihen der FDP weiterzählen: Genau aus
diesen Reihen möchte jemand eine Frage stellen, und
zwar der Kollege Heinrich. Ich frage Sie, ob Sie die Frage
gestatten.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär, würden
Sie mir darin Recht geben, dass die zehnjährige Frist nicht
zu einem Zeitpunkt, sondern zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu laufen beginnt, dass also, wenn im letzten Jahr
eine Beschwerde bzw. Klage eingereicht wurde, natürlich
noch die Frist von zehn Jahren Gültigkeit hat?
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Nein, ich kann Ihnen nicht Recht geben.
Die LPG-Umwandlungen mussten bis zum 31. Dezember
1991 vollzogen sein. Anschließend waren die LPGs kraft
Gesetzes aufgelöst. Daraus ergibt sich die Zehnjahresfrist.
({0})
Das Erste war also, dass der Gesetzentwurf nicht ernst
gemeint ist. Daran anknüpfend erlaube ich mir zweitens
die Bemerkung, Kollege Heinrich, dass der Antrag überflüssig ist. Sie begründen den Antrag damit, dass es nach
wie vor eine ganze Reihe offener Fragen gebe und dass
- ich bringe es einmal salopp auf den Punkt - einige der
ausgeschiedenen Mitglieder einfach über den Tisch gezogen worden seien. Das mag in einigen Fällen so sein.
Dann war das aber - ich formuliere es jetzt juristisch exakt - eine unzulässige Rechtsausübung der Vorstände.
In diesen Fällen greift die Verjährung ohnehin nicht. Das
heißt, für die Fälle, für die Sie den Gesetzentwurf eingebracht haben, würde das Gesetz am Ende überhaupt nicht
gelten.
Drittens ist der Antrag inkonsequent; das ist ein ganz
entscheidender Sachverhalt. In welchen Fällen hat es
denn Probleme bei der LPG-Umwandlung gegeben? Vor
allen Dingen in den Fällen, in denen unseriöse ({1})Anwälte die Betriebe in Ostdeutschland beraten haben. Diese
unseriöse Beratung ist einschließlich der Haftung nach
drei Jahren verjährt. Sie aber verlangen nun eine Verlängerung der Verjährung. Konsequent wäre es, zu verlangen, dass auch die Verjährung der Haftung bei unzulässiger Umwandlung aufgehoben werde, sodass die Anwälte
wieder in Haftung genommen werden könnten, wenn festgestellt würde, dass etwas nicht in Ordnung war.
({2})
Beschäftigt man sich mit diesem Sachverhalt etwas intensiver, dann stößt man darauf, dass es in Sachsen einen Anwalt gab, der eine Reihe verunglückter LPG-Umwandlungen wie eine Blutspur hinter sich her zog, was
seinerzeit zu katastrophalen Folgen für die Betriebe und
Menschen geführt hatte. Diese Betriebe konnten sich
dann, wenn es um die Haftung ging, nie bei dem Anwalt
schadlos halten.
({3})
Konsequent wäre es also gewesen, auch die Haftung von
Anwälten von der Verjährung auszunehmen.
Dann noch ein Wort zur Unehrlichkeit des Antrages.
Sie haben auf mangelnde Information Bezug genommen.
Auch hier habe ich einmal recherchiert: An vier der fünf
ostdeutschen Landesregierungen war die FDP beteiligt.
Ich erinnere mich noch an einen Antrag der SPD-Fraktion,
der damals auch von mir initiiert worden war und der die
Einsetzung der Landwirtschaftsgerichte zum Inhalt hatte.
Seinerzeit war es entscheidend, dass die Registergerichte,
die Landwirtschaftsgerichte ordentlich arbeiteten, da es in
diesem Bereich erhebliche Versäumnisse gab. Dort, wo es
heute Probleme gibt, hängen sie mit nicht ordnungsgemäßer Arbeit der Landwirtschaftsgerichte zusammen.
Damals wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, einiges zu
ändern. Mit einer Änderung der Verjährung kann man das
heute nicht mehr hinbekommen.
Es ist also folgendes Fazit zu ziehen: Mit der Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes 1991 ist
eine Rechtssituation geschaffen worden, mit der dieser
Tatbestand recht gut zu bewältigen war; als Vergleich
ziehe ich die Auseinandersetzung um die Treuhandanstalt
heran. Mit dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz haben
wir die Zukunft der Betriebe in die Hände der Betroffenen
gelegt. Natürlich gab es Streit; es ging um Geld. In gewisser Weise handelte es sich ja um Erbauseinandersetzungen. Aber es ist eine gute Regelung geschaffen worden. Dasselbe gilt für die Novelle von 1996. Damals
wurde bewusst die Verjährung um fünf Jahre verlängert.
Die FDP ist uns in ihrem Gesetzentwurf die Antwort
schuldig geblieben, warum bis jetzt niemand einen Antrag
gestellt hat
({4})
und was in Zukunft anders wäre, sodass man dann noch
einen Antrag stellen könnte.
({5})
Im Übrigen weise ich auf eines hin: Auch wenn immer
wieder beschworen wird, was damals alles ungenau und
schlecht gelaufen ist, so war eine der wichtigsten Änderungen, über die wir damals gestritten haben, die Umkehr
der Beweislast im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Geschäftsführung. Dies führte dazu, dass der Geschäftsführer nachzuweisen hatte, dass er ordentlich gearbeitet hat.
Auch bei dieser Frage habe ich mich im Vorfeld der heutigen Debatte erkundigt: Nicht in einem Fall ist zu diesem
Punkt bisher ein Gerichtsverfahren anhängig. Das heißt,
von der Möglichkeit, Vorstände, die unkorrekt arbeiten,
zu belangen, die der Gesetzgeber nach - zugegebenermaßen - einigem Streit geschaffen hat - damals auch mit
den Stimmen der SPD-Fraktion -, ist bis jetzt nicht Gebrauch gemacht worden. Wir hatten in dem Bereich sehr
wohl Probleme: Registergerichte und mangelhafte anwaltliche Beratung habe ich bereits angesprochen.
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Die Länderbehörden hatten und haben noch immer die Möglichkeit,
eingehende Prüfungen durchzuführen. Selbst der begünstigte Flächenerwerb ist heute noch an die Voraussetzung
einer ordnungsgemäß verlaufenen Vermögensauseinandersetzung gebunden. Es gibt nach wie vor die Prüfmöglichkeiten. Für diejenigen, die ihre Ansprüche geltend gemacht haben, ist es jederzeit möglich, gerichtlich vorzugehen. Das heißt, die Verjährungsfrist würde in diesen
Fällen sowieso nicht wirken.
Daher kann man nur zu der Schlussfolgerung kommen:
Der Gesetzentwurf ist überflüssig. Jetzt geht es darum,
den Streit, der noch besteht, vor Ort zu klären. Der Gesetzgeber ist an dieser Stelle nicht mehr gefordert. Wir haben in der Zeit, in der es darauf ankam, ordnungsgemäß
gearbeitet: 1991 und 1996 bei den Novellierungen. Ich
denke, wir können mit der Arbeit, die damals gemeinsam
geleistet wurde, zufrieden sein.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der vorliegende, von der FDP eingebrachte Gesetzentwurf zur Verlängerung der Verjährungsfrist von
Ansprüchen nach dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz wirft eine Reihe von Fragen auf. Es ist ja so, dass
- egal, Ulrich Heinrich, ob das, was der Staatssekretär
gesagt hat, oder das, was von der FDP formuliert worden
ist, richtig ist - am 1. Januar 2002 für Ansprüche eine Verjährung geltend gemacht werden kann. Die Frage ist, ob
man in der Tat gesetzliche Ansprüche rückwirkend durchsetzen kann.
({0})
Es gibt Urteile vom Bundesverfassungsgericht, die das
im Grunde genommen untersagen. Es müsste schon ein
Gesetz vorliegen, das den Rechtsfrieden auf Dauer stören
würde. Ich glaube, wenn man die Situation anhand der Urteile des Bundesverfassungsgerichts beurteilt, kann man
nicht zu dem Ergebnis kommen, dass ein Gesetz, das kurz
vorher verabschiedet worden ist, den Rechtsfrieden stört.
Vielmehr geht es um gesetzliche Regelungen, die vor
mehr als fünf Jahren noch einmal verlängert worden sind
und mit denen die Verjährungsfrist auf zehn Jahre festgeschrieben wurde.
Nun wird von der FDP ein Gesetzentwurf eingebracht,
der - man kann ihn vielleicht auch anders lesen; ich lese
ihn so, wie ich das hier vortrage - eine rückwirkende Geltung vorsieht. Jetzt stellen wir uns einmal vor, wir lassen
uns für die Befassung mit diesem Gesetz hinreichend Zeit.
Dann würden wir dieses Gesetzgebungsvorhaben vielleicht in einem halben Jahr abschließen und würden rückwirkend, bezogen auf den 1. Januar dieses Jahres, eine
Gesetzesänderung vornehmen. Nach allem, was ich - ich
bin kein Jurist - über die Urteilsfindung beim Bundesverfassungsgericht weiß, ist so etwas vom Bundesverfassungsgericht bisher immer untersagt worden.
In diesem Hause haben wir uns häufig, zum Beispiel
im Rahmen der Beratungen über die rot-grüne Steuerpolitik, mit einem Gesetz auseinander gesetzt, das die steuerlichen Bedingungen rückwirkend verändert hat. Damals
haben wir auf die Brisanz für die Wirtschaft hingewiesen.
Die rückwirkende Änderung steuerlicher Bedingungen
war - wie auch immer man das sieht - mit zusätzliche BeParl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
lastungen verbunden. Ein solches Vorgehen ist vom Verfassungsgericht bisher nicht ermöglicht worden.
Im letzten Jahr haben wir uns im Ausschuss ständig mit
dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz auseinander gesetzt. Ich kann mich daran erinnern, dass wir mehrere Anträge gestellt haben, den entsprechenden Tagesordnungspunkt in der Ausschusssitzung zu behandeln, was auch
geschah. Damals haben wir festgestellt, dass es unter
rechtsdogmatischen Gesichtspunkten äußerst brisant ist,
eine Verjährungsfrist ständig zu verlängern.
({1})
Dem ist weitestgehend nicht widersprochen worden. Zu
Beginn des letzten Jahres, spätestens Mitte des letzten
Jahres hätte man einen entsprechenden Gesetzentwurf
einbringen können.
Bei diesem Gesetzentwurf geht es um das Recht auf Eigentum; das ist sehr wichtig. Ich glaube, dass sich jeder in
diesem Hause - vielleicht mit Ausnahme der PDS - als
Garant des Rechts auf Eigentum in der Bundesrepublik
Deutschland versteht.
({2})
Die Regelung muss doch so erfolgen, dass am Ende möglichst diejenigen Rechtspositionen garantiert werden, die
hier vonseiten der FDP beschrieben wurden. Nach meiner
Auffassung - darüber haben wir mit Juristen diskutiert ist das kaum möglich. Hier trifft im Grunde genommen
der Vorwurf zu: Wenn man so etwas will, dann hätte man
es vorher machen müssen.
Etwas anderes kommt hinzu: Die Agrarpolitik der rotgrünen Bundesregierung führt zu einer ständigen Verunsicherung der Landwirtschaft. Die Landwirte haben
keine längerfristigen Perspektiven. Es geht nicht an, die
landwirtschaftlichen Betriebe in der Bundesrepublik
Deutschland - gleich welche - im Zustand der Rechtsunsicherheit zu belassen.
({3})
Das tritt ein, wenn dieser Gesetzentwurf verabschiedet
wird. Man sollte daher nicht von vornherein ankündigen,
diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({4})
Das halte ich für ein unmögliches Vorgehen.
Landwirtschaftliche Betriebe benötigen vielmehr Planungs- und Rechtssicherheit. Deswegen sage ich noch
einmal: Wenn man auf diesem Gebiet handeln möchte,
dann hätte man es früher tun müssen und nicht erst jetzt;
({5})
sonst wird der ganze Gesetzentwurf zu einer plakativen
Aktion und bietet nicht die Rechtssicherheit, die man den
Betroffenen angekündigt hat. Deshalb glaube ich, dass es
wichtig ist, für Planungssicherheit zu sorgen.
Bis zum Regierungsantritt von Rot-Grün
({6})
ist die Landwirtschaft im Osten unseres Vaterlandes, also
in den neuen Bundesländern, der Träger der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen.
({7})
„Gewesen“ sage ich.
({8})
Die Verunsicherung der Landwirtschaft in vielen Bereichen trägt jetzt dazu bei, dass sich die Landwirtschaft
nicht mehr so entwickelt, wie sie sich entwickeln könnte.
Diese entscheidende Voraussetzung muss bedacht werden, wenn man diese Gesetzesinitiative berät. Ich verstehe nicht, warum die FDP diesen Antrag so lange verzögert hat, wie es letztlich der Fall war.
Man muss an dieser Stelle wirklich einmal die Frage
stellen - ich stelle sie auch dem Parlamentarischen Staatssekretär Thalheim -: Ist das tatsächlich ernsthaft gewollt?
Wenn man es ernsthaft wollte, dann hätte man den Antrag
früher stellen müssen. Es ist eine enorme Verzögerung
eingetreten. Man kann doch heute nicht so tun, als wenn
es diese Verzögerung nicht gäbe.
Im Übrigen, Herr Staatssekretär, kündige ich an, dass
wir eine gemeinsame Diskussion darüber zu führen haben
- ich will das heute nicht ausdiskutieren ({9})
ob die Verjährung tatsächlich für alle Bereiche bereits eingetreten ist. Die Bauernverbände im Osten sagen uns etwas anderes. Das gilt es zumindest klarzustellen; denn
wenn in bestimmten Bereichen keine Verjährung eingetreten ist, dann sollte man die Betroffenen auch darüber
informieren. Sie haben angekündigt, jedem Betroffenen
bei der Durchsetzung seiner Ansprüche zu helfen. Dann
müssen wir aber auch die richtigen rechtspolitischen Erklärungen abgeben. Ich habe meine Zweifel, ob das geschehen wird; denn der Deutsche Bauernverband, der
auch über Juristen verfügt, hat uns etwas anderes gesagt.
Darüber muss im Ausschuss noch einmal diskutiert werden, damit wir möglichst vielen Betroffenen helfen können, ihre Rechtsansprüche durchzusetzen.
Herr Kollege
Ronsöhr, bevor Sie Ihre Rede beenden, möchte ich Sie
fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Carstensen zulassen.
Mein Ausschussvorsitzender darf immer Fragen stellen, vor allen
Dingen, wenn er mit seiner Zwischenfrage meine Redezeit verlängert.
({0})
- Kannst du auch.
Herr
Kollege Ronsöhr, sind Sie mit mir der Auffassung
({0})
- damit Sie nicht nur mit Ja antworten, frage ich Sie auch,
ob Sie es begründen können -, dass über die Sachverhalte,
über die wir heute diskutieren und die in den letzten zehn
Jahren eine Rolle gespielt haben - ({1})
- Herr Kollege, dass die Agrarpolitik und die Probleme
der Landwirte bei den Grünen keine große Rolle spielen,
wissen wir schon. Das müssen Sie uns nicht noch durch
Ihre Zwischenrufe bestätigen.
({2})
- Frau Präsidentin, ist es möglich, in diesem Plenarsaal
eine ordentliche Frage zu stellen?
({3})
Das können Sie jetzt
tun. Wenn es eine ordentliche Frage ist, immer.
Sie von
der PDS sollten sich etwas ruhiger verhalten; denn Sie haben dazu beigetragen, dass in Ostdeutschland ständig
Rechte missachtet worden sind. Wir versuchen das jetzt
aufzuarbeiten.
({0})
- An dieser Stelle könnte ich eigentlich auch einmal ein
bisschen Beifall von der SPD bekommen.
Herr Kollege
Ronsöhr, Ihr Kollege muss erst noch seine Frage stellen.
Dann sollte man nicht dauernd dazwischenrufen.
Herr
Kollege Ronsöhr, sind Sie mit mir der Auffassung, dass es
hier in vielen Bereichen noch einen erheblichen Frageund Antwortbedarf gibt?
({0})
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass es notwendig ist,
mehr Informationen von der Bundesregierung über die
Vermögensauseinandersetzungen der letzten fünf Jahre zu
bekommen?
({1})
Ich bin
immer der Auffassung, dass wir mehr Informationen bekommen können.
({0})
Der Staatssekretär ist nicht in der Lage, den entsprechenden Sachverhalt in zehn Minuten darzustellen. Aber
wir werden das im Ausschuss noch aufarbeiten. Das halte
ich für richtig. Wir müssen auch noch einmal darüber reden, wann welche Ansprüche verjährt sind.
({1})
- Es ist mir klar, dass Sie nicht wollen, dass wir die Betroffenen über ihre Rechte informieren. Sie waren schon
immer gegen die Bauern. Das werden Sie auch weiterhin
sein. Das ist bei der CDU/CSU anders. Bei uns sind alle
Bauern, egal, in welcher Betriebsform, gut aufgehoben.
Wir werden das auch in der Ausschussberatung hinlänglich zum Ausdruck bringen.
({2})
Wir werden im Ausschuss noch einmal genau nachfragen,
ob alle Ansprüche tatsächlich verjährt sind. Dies ist zumindest strittig, auch wenn der Staatssekretär meint, diese
Frage eindeutig beantwortet zu haben. Ich behaupte, dass
der Bauernverband hier wahrscheinlich besser Bescheid
weiß als der Staatssekretär. Insofern ist es sinnvoll, über
den vorliegenden Gesetzentwurf im Ausschuss hinreichend zu beraten.
Vielen Dank, dass Sie, Herr Carstensen, mir Gelegenheit gegeben haben, etwa eine Minute länger zu reden.
({3})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
schlage vor, dass wir nach dem, was gerade geboten
wurde, zum parlamentarischen Ernst in der Beratung
Vizepräsidentin Petra Bläss
zurückkehren. Ich möchte eingangs für meine Fraktion
ausführen, dass wir den Gesetzentwurf der FDP für falsch
und überflüssig halten, und zwar nicht nur, weil er sachlich nicht richtig ist, sondern auch, weil Sie mit ihm, Herr
Heinrich, ganz andere Motive verfolgen als das, sich
ernsthaft um die Verjährung der Ansprüche zu kümmern.
({0})
Lassen Sie uns einen Blick in die Vergangenheit werfen: CDU/CSU und FDP haben im Juni 1996 einen Gesetzentwurf zur vierten Novelle des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf war
damals offensichtlich nicht mit den ostdeutschen Landesverbänden der jeweiligen Parteien abgestimmt und löste
in den neuen Bundesländern heftige Proteststürme und
Diskussionen aus. Auch damals war dieser Gesetzentwurf
erstens falsch, versuchte zweitens, Interessenkonflikte,
die es in der Landwirtschaft im Osten durchaus gibt, zu
instrumentalisieren, und war drittens auch noch handwerklich schlecht gemacht.
({1})
Das führte letztendlich dazu, dass CDU/CSU und FDP,
die damals noch die Regierung im Bund stellten, ihren
Antrag im Vermittlungsausschuss fallen gelassen haben.
Das heißt, sie haben bereits damals blamable Erfahrungen
mit diesem Gesetzentwurf gemacht. Ich befürchte, dass
sich dieses - zumindest bezogen auf die FDP - diesmal
wiederholen wird.
({2})
Ich habe mich damals gemeinsam mit Gerald Thalheim
dafür eingesetzt, über Parteigrenzen hinweg eine Verlängerung der Verjährungsfristen durchzusetzen, weil
zum damaligen Zeitpunkt nach fünf Jahren diese Verjährungsfristen auslaufen sollten. Wir haben damals im
Ausschuss eine konstruktive und sachliche Diskussion
über diesen Detailpunkt geführt. Parteiübergreifend bestand die Einschätzung, dass die fünf Jahre zu kurz gewesen sind. Wir haben uns dann darauf verständigt, die Verjährungsfristen auf insgesamt zehn Jahre zu verlängern,
sie also zu verdoppeln. Diese Diskussion, Herr Heinrich,
haben auch Sie damals mitverfolgt und durchaus mitgestaltet. Ihnen war also bekannt, dass die Verjährungsfristen zum 1. Januar 2002 auslaufen würden.
({3})
Wenn Sie dann mit Datum vom 12. Dezember 2001
diesbezüglich einen Gesetzentwurf vorlegen, muss ich Ihnen entweder vorwerfen, dass Sie ein Spaßparlamentarier
sind
({4})
- fragen Sie sich einmal, warum ich das getan habe -, weil
Sie Ihre eigenen Gesetzentwürfe nicht ernst nehmen. Es
hätte überhaupt keine Möglichkeit mehr bestanden, diesen Gesetzentwurf ordentlich parlamentarisch zu beraten
und zum Abschluss zu bringen, bevor die ersten Fristen
verjähren. Oder ich muss Ihnen sagen, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf die schwierigen Umstrukturierungsprozesse in den neuen Bundesländern, die zum Teil schon
gelaufen sind, zum Teil aber noch immer laufen, instrumentalisieren wollen.
({5})
Sie haben in Ihrer Rede ja auch ausgeführt, worum es
Ihnen eigentlich geht, nämlich darum, dass es Ihnen ein
Dorn im Auge ist, dass es in den neuen Bundesländern Betriebe gibt, die 1 000 oder 2 000 Hektar Betriebsfläche
haben,
({6})
weil Sie der Meinung sind, dass der Osten solche Betriebsstrukturen nicht haben sollte. In Ihrem Antrag stellen Sie infrage, ob die Anpassung der Betriebe in den
neuen Bundesländern an die Marktwirtschaft und die
deutsche Gesetzgebung schon vollzogen ist. Sie fragen
zehn Jahre nach der deutschen Einheit, ob die Betriebe in
den neuen Bundesländern leistungsfähig sind und sich in
der Marktwirtschaft zurechtgefunden haben. Ich will Ihnen auf diese Fragen gerne antworten: Wir haben in den
neuen Bundesländern leistungsfähige Betriebe, die sehr
wohl mit der Marktwirtschaft zurechtkommen,
({7})
mit Betrieben in den alten Bundesländern und in Europa
konkurrieren können und im Übrigen auch - diese Auseinandersetzung führen wir hier ja öfter - bezüglich der
Umweltverträglichkeit durchaus führend sind. Beispielsweise nehmen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern bei der Ausstattung mit Flächen, die im ökologischen Landbau betrieben werden, eine führende Rolle ein.
Frau Kollegin Lemke,
jetzt gibt es eine Frage des Kollegen Heinrich auch an Sie.
Bitte
sehr.
Frau Kollegin, würden Sie
mir Recht geben, dass erst im Mai die Ergebnisse eines an
die Universität Jena vergebenen Forschungsvorhabens zu
erwarten sind und die Frage, die ich aufgeworfen habe
und die Sie gerade eben noch einmal angesprochen haben,
noch nicht endgültig beantwortet ist?
Ich
gebe Ihnen Recht, dass man im Detail untersuchen sollte,
wie dieser Umstrukturierungsprozess abgelaufen ist und
wie weit er vorangeschritten ist. Ich gebe Ihnen definitiv
nicht Recht, wenn Sie die Ankunft der ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe in der Marktwirtschaft und deren
Leistungsfähigkeit infrage stellen. Ihre Haltung ist hier
ein Stück weit unlogisch: So behaupten Sie einerseits, sie
würden die ganzen Fördermillionen abgreifen, viel zu viel
Geld bekommen und wären außerdem sowieso nicht gut,
und andererseits - ({0})
- Ich weiß nicht, Herr Heinrich, vielleicht sollten Sie einmal Ihre Ausführungen im Protokoll nachlesen.
({1})
Wenn Sie nur die Frage aufwerfen, ob ein Betrieb eine solche Flächenausstattung haben darf oder nicht, dann frage
ich mich, worauf Sie Ihre Auseinandersetzung in diesem
Bereich fokussieren. Worauf wollen Sie hinaus? Geht es
darum, dass Ihnen die Betriebe zu groß sind, oder wollen
Sie ernsthaft darüber diskutieren, wie dieser schwierige
Umstrukturierungsprozess zu bewältigen ist?
({2})
- Ich möchte keine weiteren Zwischenfragen zulassen,
Herr Heinrich; Sie hatten glaube ich, genug Redezeit.
({3})
Der Gesetzentwurf der FDP wird aus meiner Sicht
nicht dazu beitragen, dass wir in irgendeiner Form mehr
Rechtssicherheit für eine Seite der Beteiligten in der Vermögensauseinandersetzung bekommen. Der Antrag suggeriert fälschlicherweise, dass die Vermögensauseinandersetzung mit dem Auslaufen der Verjährungsfristen
beendet werden würde. Das ist definitiv falsch. Die Vermögensauseinandersetzung wird davon nicht tangiert.
Die Ansprüche, die angemeldet werden konnten, haben
weiterhin zur Folge, dass die Vermögensauseinandersetzung in diesen Betrieben kontrolliert wird und dass Unregelmäßigkeiten, die es gegeben hat, geahndet werden
können. Es wird dort nicht, wie der Antrag uns weismachen will, eine Tür zugemacht, sodass gesetzliche Regelungen nicht mehr umgesetzt werden könnten, im Dunkeln gemauschelt werden könnte und sich irgendjemand
entgegen den Gesetzen bereichern könnte. Das wird nicht
passieren. Die Vermögensauseinandersetzung kann ordnungsgemäß fortgeführt werden.
In den wenigen Fällen, in denen heute noch keine Ansprüche angemeldet worden sind, sollte die Bundesregierung - dem würde ich durchaus zustimmen - darüber informieren, wo möglicherweise noch Ansprüche geltend
gemacht werden können. In diesen Fällen eine Informationsfunktion wahrzunehmen halte ich für richtig. Allerdings glaube ich, dass das tatsächlich sehr wenige Fälle
sind. Der Antrag macht deutlich, dass die FDP falschen
Informationen aufgesessen ist.
Herr Tanneberger, mit dem Sie bei Ihrem Gesetzentwurf offensichtlich kooperiert haben, hatte ursprünglich
angekündigt, dass, von Sachsen ausgehend, eine Bundesratsinitiative zu diesem Thema erfolgen sollte. Die Sächsische Staatsregierung hat sich dann aber anscheinend
entschlossen, eine solche Bundesratsinitiative nicht zu ergreifen. Auch das sollte Ihnen deutlich machen, dass Sie
mit diesem Gesetzentwurf falsch liegen.
Im Übrigen hat Herr Tanneberger, einer der führenden
Protagonisten in dieser Diskussion in den neuen Bundesländern, gefordert, die Verjährungsfrist um 30 Jahre zu
verlängern. Ich glaube, das zeigt, worum es bei diesem
Gesetzentwurf der FDP geht und welchen Fehler wir machen würden, wenn wir ihm zustimmen würden. Das
würde dazu führen, dass wir in den neuen Bundesländern
im ländlichen Raum erneut Unfrieden schaffen würden
und die Diskussion dort neu angeheizt werden würde,
ohne dass es dafür einen realen sachlichen Hintergrund
gibt.
Deshalb empfehle ich im Namen meiner Fraktion, diesen Gesetzentwurf der FDP abzulehnen und stattdessen
gemeinsam darüber zu diskutieren, wie wir der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern die Leistungsfähigkeit, die sie bereits jetzt hat, in Zukunft erhalten und weiter fördern können.
Danke.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Kersten Naumann für die Fraktion der PDS.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Kollege Heinrich, ich bin Ihnen eigentlich sehr dankbar, dass Sie ziemlich genau gesagt haben, worum es Ihnen geht. Ich habe herausgehört, dass es
Ihnen um die Zerschlagung der gewachsenen stabilen
Strukturen im Osten geht.
({0})
Ich kann Ihnen auch sagen - die Frage wurde hier öfter gestellt -, warum Sie diesen Gesetzentwurf erst am
12. Dezember eingereicht haben: weil nämlich Herr
Tanneberger erst Ende des Jahres mobil gemacht hat. Ich
habe das Gefühl, Sie sind Herrn Tanneberger aufgesessen.
Es wurde hier schon mehrfach gesagt, dass bereits
1996, auch auf Ihre Initiative hin, die Verjährungsfrist für
alle Abfindungs- und Ausgleichsansprüche nach dem
Landwirtschaftsanpassungsgesetz von fünf auf zehn Jahre
verlängert wurde. Somit hatten alle Berechtigten die
Möglichkeit, ihre Ansprüche weitere fünf Jahre geltend zu
machen. Nun ist das geltende Recht noch nicht vollständig umgesetzt, da wollen Sie es schon wieder ändern.
Nicht Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit sind offensichtlich Ihr Ziel, sondern Rechtsregelungen, die den Interessen einer speziellen Klientel nützen sollen.
({1})
Tatsache ist doch, dass auch mit den geltenden gesetzlichen Regelungen die Interessen der Personen geschützt
sind, die noch einen Klärungsbedarf hinsichtlich der Vermögensauseinandersetzung entsprechend dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz haben, und zwar über den Stichtag 31. Dezember 2001 hinaus. Der Staatssekretär hat dies
hier gesagt. Wenn es tatsächlich noch einen „hohen Aufklärungs- und Beratungsbedarf für die Betroffenen“ gäbe,
dann wäre für mich viel naheliegender, dem Deutschen
Bauernverband die notwendigen Gelder für den dort existierenden Beratungsfonds zur Verfügung zu stellen.
Es ist schon merkwürdig, wenn die FDP behauptet,
dass „noch nicht einmal ein Viertel der Geschädigten ihre
Ansprüche geltend gemacht“ hätten.
({2})
Sie haben das jetzt nach Ländern differenziert.
({3})
- Das habe ich eben betont. - Trotzdem habe ich das Gefühl, dass Sie zwar im Hinterkopf haben, wie viele Geschädigte das sind, aber die Geschädigten davon nichts
wissen. Das macht doch stutzig.
({4})
Besonders hellhörig sollten die Bauern in Ostdeutschland jedoch werden, wenn die FDP orakelt - Kollegin
Lemke hat es hier gesagt -:
... ob die Anpassung der Landwirtschaft
- in den neuen Bundesländern an die soziale und ökologische Marktwirtschaft gelungen ist, steht noch nicht fest.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die
FDP die alten junkerlichen Verhältnisse in Ostdeutschland
({5})
wieder herstellen möchte.
({6})
Die PDS unterstützt alle Bemühungen, die auf die
Rechtssicherheit des Prozesses der Anpassung der
LPGs an die Rechtsverhältnisse in der Bundesrepublik gerichtet sind. Dieser Prozess war für viele der ehemals in der Landwirtschaft der neuen Bundesländer Beschäftigten sehr schmerzlich.
({7})
Nach mehr als zehn Jahren beginnen einige Wunden zu
heilen und die umgewandelten Agrarbetriebe erstarken
wieder. Sie erhalten und schaffen Arbeitsplätze. Sie leisten einen wichtigen Beitrag für die Lebensfähigkeit der
Dörfer. Bei entsprechenden ökonomischen Ergebnissen
sind sie auch in der Lage, die Ansprüche der ehemaligen
Mitglieder aus der Vermögensauseinandersetzung gewissenhaft und schnell zu bedienen.
Die PDS wendet sich deshalb mit Nachdruck gegen
Versuche, durch immer neue Gesetzesänderungen den
Aufbauprozess in den neuen Bundesländern zu behindern.
({8})
Schließlich gipfelt ein offener Brief des Bürgerbüros,
bekannt durch Frau Bohley, nach Verbalangriffen auf die
ehemaligen LPGs in der Forderung nach einer Verlängerung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes. Aber die
Initiative kam laut Briefunterschrift im Auftrag der Mitglieder des Bürgerbüros zustande, zu denen unter anderem Bundesminister Scharping und Staatsminister
Schwanitz, aber auch Altkanzler Kohl und die zu Christdemokraten mutierten Bürgerrechtler Lengsfeld, Nooke
und Vaatz gehören.
({9})
Es stellt sich die Frage: Was haben sich die genannten
Damen und Herren des Bürgerbüros dabei gedacht?
Insbesondere stellt sich die Frage an den aus Ostdeutschland stammenden Staatsminister Rolf Schwanitz,
der auf seiner Homepage verkündet: „Mein Interesse und
mein persönliches Engagement gilt dem Aufbau Ost.“ Es
fragt sich bloß, wo das Engagement ist. Weiß Minister
Schwanitz nicht, dass die Forderung des Bürgerbüros
rechtlich überflüssig, betriebswirtschaftlich zerstörerisch,
gesamtwirtschaftlich unvernünftig und sozial verheerend
ist?
({10})
Vielleicht konsultiert er einmal seine Parteigenossen und
das Regierungsmitglied Thalheim, damit nicht der eine
Hü und der andere Hott sagt.
Die Probleme der von den schmerzlichen Folgen der
Wiedervereinigung Betroffenen werden mit dem vorliegenden Entwurf instrumentalisiert.
({11})
Die PDS lehnt deshalb diesen Gesetzentwurf ab.
({12})
Nächster Redner ist
der Kollege Karsten Schönfeld für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das letzte Mal wurde hier vor
fünf Jahren über das Landwirtschaftsanpassungsgesetz
gesprochen. Damals ging es um die vierte Novelle. Hier
flogen wohl ziemlich die Fetzen. Am Ende gab es sogar
eine namentliche Abstimmung. Das bleibt uns bei Ihrem
großen Wurf, den Sie, Herr Kollege Heinrich, hier geliefert haben, hoffentlich erspart. Ich hoffe, dass uns auch
eine zweite und dritte Lesung erspart bleiben werden.
({0})
Es ging damals auch um mehr als nur um die Verlängerung einer Verjährungsfrist. Der BGH hatte mit seinem
Verkehrswertbeschluss für Handlungsbedarf gesorgt.
Die gerichtlichen Auseinandersetzungen über die Richtigkeit von Umwandlungsbilanzen und die Vermögensauseinandersetzungen hatten einen Höhepunkt erreicht.
In dieser rechtlich schwierigen Materie standen noch
höchstrichterliche Entscheidungen an. So gab es sicherlich für die damalige Verlängerung der Verjährungsfrist
gute Gründe. Im Übrigen stimmte damals auch die SPDFraktion dieser Verlängerung zu, wenn auch in einem geringeren Maße.
Heute, im Jahr 2002, gibt es - das hat eine Reihe von
Vorrednern hier schon herausgearbeitet - solche Gründe
nicht mehr. Im Gegenteil: Was Sie, Kollege Heinrich, in
Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen, ist rechtlich wirklich
völlig unbegründet. Es ist verfassungsrechtlich bedenklich und völlig unnötig.
Die vielen offenen Fragen, die Sie ansprechen, sind
längst nicht so zahlreich.
({1})
Ich kenne auch die Position des Bauernverbandes dazu
- darüber ist vorhin auch schon gesprochen worden -, wonach theoretisch 20 bis 30 Prozent der Ansprüche verjährt
sein könnten. Die Verjährung beginnt mit der Fälligkeit
des Anspruches. Die meisten Ansprüche, so die Position
des Bauernverbandes, wurden mit der Feststellung der
Umwandlungsbilanz im Jahre 1992 fällig, sodass für die
meisten Fälle ohnehin noch Zeit bleibt.
({2})
- Ich sage ja, dass das die Position des Bauernverbandes
ist.
Wir haben vorhin in dem Frage-und-Antwort-Spiel
zwischen den Kollegen Ronsöhr und Carstensen herausgearbeitet, dass wir uns damit im Ausschuss noch beschäftigen werden.
({3})
Ich frage mich wirklich, Herr Kollege Heinrich, welches Land Sie beschrieben haben, als Sie vorhin am Rednerpult standen. Wenn ich mir den Entwurf anschaue,
dann frage ich mich, bei wem Sie sich Rat geholt haben.
Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass von Ihrer
Fraktion kaum noch jemand anwesend ist.
({4})
Auch die Kollegin Sehn ist nicht nur nicht anwesend, sondern sie hat auch darauf verzichtet, in dem Entwurf namentlich erwähnt zu werden. Ich denke, dafür hatte sie
gute Gründe. Sie ist in ihren Überlegungen wahrscheinlich schon etwas weiter als Sie.
Ich frage mich in der Tat, von wem Sie sich haben beraten lassen, von den FDP-Landesverbänden in den neuen
Bundesländern mit Sicherheit nicht - zumal Sie inzwischen aus fast allen Landesparlamenten, wie ich denke,
mit gutem Grund herausgeflogen sind. Mit solchen Anträgen, Herr Kollege Heinrich, wird sich das auch in Zukunft nicht ändern. Die FDP bleibt draußen. Ich sage: Das
ist auch gut so.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist
der Kollege Manfred Grund für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Entwurf eines Landwirtschaftsanpassungsänderungsgesetzes
geht es um die Verlängerung der Verjährungsfrist und um
die Vermögensauseinandersetzung im Rahmen der Umwandlung ehemaliger LPGs und damit um ein Wirtschaftsgut. Es geht zudem um ein abstraktes Gut von nicht
minder praktischer Bedeutung; es geht nämlich um die
Wahrung des Rechtsfriedens, hier des Rechtsfriedens im
ländlichen Raum.
Das Landwirtschaftsanpassungsgesetz hat im Ergebnis
zur völligen Umgestaltung der Landwirtschaftsstrukturen
der neuen Bundesländer geführt. Anlässlich des Forums
„10 Jahre Landwirtschaftsanpassungsgesetz“ im Mai des
Jahres 2000 kommt die Bundesregierung zu der Aussage,
dass aus politischer Sicht das Landwirtschaftsanpassungsgesetz im Wesentlichen zu den erwünschten Ergebnissen geführt hat. Diese Auffassung teilen auch die
Landesregierungen der neuen Bundesländer. Zwar habe
es bei der Umsetzung Defizite gegeben, diese lägen aber
mehr bei Problemen in der Anwendung und Durchführung. Doch nach gemeinsamer Auffassung sollten die
in der Landwirtschaft entstandenen Strukturen nicht
durch neue oder durch zu ändernde Gesetzgebung erneut
infrage gestellt werden.
Wesentlich für die Diskussion heute ist: Das Landwirtschaftsanpassungsgesetz war kein Entschädigungsgesetz. Es sollte und konnte nicht, wie von manchen erwartet, DDR-Unrecht im Bereich der Landwirtschaft
wieder gutmachen, sondern es sollte LPGs auf zivilrechtlichem Wege in Unternehmen der sozialen Marktwirtschaft umwandeln. Eine derartig umfassende Umwandlung, bei der gegenwärtige und künftige Vermögenswerte
in erheblichen Größenordnungen betroffen sind, läuft
nicht reibungslos und zur Zufriedenheit aller ab. So stehen viele Vorwürfe im Raum: ungenügende Prüfung der
Vermögensauseinandersetzung durch die Agrarverwaltungen, schleppende Verhandlungen der zur Vermögensauseinandersetzung anhängigen Rechtsstreitigkeiten, ungenügende Ermittlungen bei Strafverdachtsfällen und
ungenügende Unterstützung von Familienbetrieben und
Existenzgründern.
So berechtigt diese Vorwürfe auch sein mögen: Mit der
beantragten Verlängerung der Verjährungsfrist hat all dies
nichts zu tun. Diese Vorwürfe sind vor Gericht zu klären.
Hier haben - Kollege Heinrich hat es gesagt - die Bundesländer im Bereich der Gerichtsbarkeit durchaus noch
Handlungsbedarf. Verlängerungen von Verjährungsfristen helfen da nicht.
Ursprünglich war die Verjährung nach dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz auf fünf Jahre festgesetzt. 1996
haben wir uns gemeinsam auf eine Verlängerung für weitere fünf Jahre verständigt. Somit bestand eigentlich
genügend Zeit und auch Rechtsklarheit, um im Rahmen
der bestehenden Verjährungsfristen bei strittigen Ansprüchen Anträge bei den Landwirtschaftsgerichten fristgemäß zu stellen.
Im deutschen Rechtssystem sind Rechtssicherheit und
Rechtsfrieden ein hohes Gut und dem sollen auch die
Regelung zur Verjährung dienen. In dem Ende letzten Jahres hier im Hause verabschiedeten Schuldrechtsmodernisierungsgesetz wird ausgeführt, dass bei Verjährungsfristen auf deren Dauer besonderes Gewicht zu legen ist und
Verjährungsfristen möglichst einheitlich und dementsprechend klar zu regeln sind. Verjährung dient der Sicherheit
des Rechtsverkehrs.
Der Antrag der FDP beinhaltet - das wurde in Teilen
aber auch bestritten - eine rückwirkende Verlängerung
der Verjährungsfrist für vermögensrechtliche Ansprüche.
Es ist der Eingriff in erworbene Rechtspositionen und es
ist die Beeinträchtigung des Vertrauens der Beteiligten in
gesetzliche Regelungen, die diesen Antrag auch für uns so
problematisch machen.
Des Weiteren drängt sich der Eindruck auf, dass die
ostdeutsche Landwirtschaft nicht zur Ruhe kommen soll.
Denn neben dem fortwährenden Versuch, entstandene
und entstehende Strukturen zu hinterfragen, gibt es wiederholt Ansätze, die chancengleiche Entwicklung aller
Betriebsformen zu behindern.
({0})
- Dazu gibt es durchaus Anlass. Trotzdem sollte man die
chancengleiche Entwicklung aller Betriebsformen nicht
behindern.
Dazu gehört neben der Verjährungsfrage auch die
Frage der Einführung von Förderobergrenzen oder das
Problem, dass die ökologische Landwirtschaft gegen die
so genannte Agrarindustrialisierung in Stellung gebracht
wird. Begriffe wie „Agrarwende“ oder „Agrarfabriken“
verunglimpfen die Entwicklung der ostdeutschen Landwirtschaft und dienen nicht der Versachlichung der Diskussion.
({1})
Dies gilt auch, Kollege Heinrich, wenn aus der Emotion
des Augenblickes heraus Forderungen nach Verlängerung
von Verjährungsfristen gestellt werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Waltraud Wolff für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Spannend, wirklich sehr spannend ist die heutige Debatte zur
Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes - aber
nicht, weil die FDP einen aktuellen Gesetzentwurf einbringt, über den es sich wirklich zu diskutieren lohnt. Ich
finde diese Diskussion vielmehr deswegen spannend,
weil die FDP 1991 unter Regierungsbeteiligung dieses
Gesetz mit beschlossen hat, heute aber einen Änderungsentwurf einbringen will, wo doch eigentlich alle Messen
gesungen sind. Dazu kann ich nur sagen: Wahlkampfnachtigall, ick hör dir trapsen. Oder: Was will mir der
Dichter damit eigentlich sagen?
({0})
Ziel dieses Gesetzes nach der Wiedervereinigung
Deutschlands war die ordnungsgemäße Vermögenszuordnung innerhalb der LPGs und die Vermögensauseinandersetzung zwischen LPGs, ausgeschiedenen Mitgliedern oder deren Erben. Jedem Anspruchsberechtigen ist
dieses Recht zuteil geworden. Dazu wurde 1994 - das haben wir heute auch schon mehrfach gehört - eine Verjährungsfrist von fünf Jahren festgelegt. Diese ist 1996 sogar verdoppelt worden.
Zum Vergleich - das ist heute noch nicht gesagt worden - möchte ich den § 74 des Genossenschaftsgesetzes
anführen. Für ähnliche Fälle gilt dort eine Verjährungsfrist von zwei Jahren. Wir können auch noch das Strafrecht herbeizitieren: Für Betrug, Untreue oder Bilanzfälschung zum Beispiel gilt eine Verjährungsfrist von fünf
Jahren.
({1})
- Das lohnt sich bei diesem Thema nicht, Herr Hornung,
ich möchte keine Zwischenfrage zulassen.
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, fordert die FDP
eine Verlängerung um weitere zwei Jahre - eine Verlängerung von etwas, was es nicht mehr gibt. Haben Sie in
den letzten Monaten und Jahren eigentlich nur geschlafen? Im Laufe der Debatte werden Sie bemerkt haben,
dass Ihr Entwurf überholt ist. Denn er hätte weit früher,
jedenfalls nicht erst 14 Tage vor Ende des Jahres eingebracht werden müssen. Wir haben hier auch gehört, dass
im Ausschuss mehrfach darüber diskutiert wurde. Niemandem von der FDP jedoch ist es vor einem halben oder
dreiviertel Jahr eingefallen, hierzu einen Gesetzentwurf
vorzulegen.
Zehn Jahre wurden den ehemaligen LPG-Mitgliedern
eingeräumt, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Neue
richterliche Grundsatzentscheidungen gibt es dazu nicht.
Das hätten Juristen in Ihrer Fraktion - ich habe von Staatssekretär Thalheim gehört, wie viele Sie davon haben - eigentlich wissen müssen. Zudem haben wir heute noch einmal gehört, dass die Verjährungsfrist nicht genau am
Stichtag abläuft.
Seien Sie doch einmal ehrlich: Mehr als zehn Jahre
sind vergangen. Jeder, der seinen Anspruch geltend machen wollte, hatte Zeit dazu. Wer es bis jetzt nicht getan
hat, wird sich höchstwahrscheinlich auch in Zukunft nicht
anschicken, über den juristischen Weg klären zu lassen,
ob und - wenn ja - welche Ansprüche er an dem ehemaligen LPG-Vermögen hat. Dieses Kapitel ist abgeschlossen und es wird keine Neuauflage und auch keine Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes geben.
({2})
In der Begründung des FDP-Entwurfes heißt es, „in
manchen Regionen“ hätten die Betroffenen keine Möglichkeit gehabt, sich ausreichend über ihre Ansprüche zu
informieren. Eine mangelnde Aufklärung durch die
Medien sei der Grund - und das über zehn Jahre hinweg!
Ich habe nicht gewusst, dass es in Deutschland noch
irgendwelche Gegenden gibt, die von der aufgeklärten
Welt abgeschnitten sind. Wo in Deutschland ist denn dieser Ort? Dazu kann ich nur sagen: Auf, Kollegen, lasst uns
neue Lande erforschen!
Neben der einschlägigen Fachpresse haben auch viele
Verbände massiv Aufklärungsarbeit geleistet; und nicht
nur das: Sie haben sogar konkrete Hilfestellung gegeben,
wofür man ihnen heute dankbar sein kann.
Es hat sich auch eigentlich nicht gelohnt, hier über den
Inhalt des Gesetzentwurfs zu reden. Wir haben gehört: Es
ist im Grunde genommen passé.
Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Bemerkung machen: Geben Sie heute einfach zu, dass Sie einem
Irrtum aufgesessen sind. Geben Sie einfach zu, dass Sie
auf das falsche Pferd gesetzt haben, dass Sie falsch liegen.
Ziehen Sie Ihren Entwurf zurück, schmeißen Sie ihn in
den Papierkorb! Mehr ist damit nicht anzufangen.
Schönen Dank.
({3})
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Ge-
setzentwurfes auf Drucksache 14/7834 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Lambrecht, Lothar Mark, Dr. Michael Meister und
weiterer Abgeordneter
Völlige Freigabe des Viernheimer/Käfertaler/
Lampertheimer Waldes von der verbliebenen
militärischen Nutzung
- Drucksache 14/7764 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Ernst Bahr, Silvia Voß und weiterer
Abgeordneter
Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide
- Drucksache 14/5876 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Christine
Lambrecht für die SPD-Fraktion das Wort.
Christine Lambrecht ({2}) ({3}): Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einigen von Ihnen ist
der Viernheimer/Lampertheimer/Käfertaler Wald wahrscheinlich bis zum heutigen Tage kein Begriff gewesen.
Ich kann Ihnen aber versichern: Die Menschen in meiner
Heimatstadt Viernheim, in Lampertheim, in MannheimKäfertal, und darüber hinaus in der ganzen Rhein-NeckarRegion wissen, wovon wir sprechen, wenn dieses Thema
heute aufgerufen wird. Auch drei Bundesminister werden
diesen Begriff sehr wohl kennen: Hans Eichel, Heidemarie
Wieczorek-Zeul und Joschka Fischer. Sie alle haben sich
nämlich schon im Rahmen ihrer Arbeit in Hessen mit diesem Thema beschäftigt.
({4})
Auch der heutige Staatssekretär Kolbow hat sich vor einigen Jahren ein Bild von der Situation vor Ort machen können.
Es geht um ein circa 1 500 Hektar großes Waldareal,
das den Menschen in der Region seit Jahrzehnten nicht
zugänglich ist, weil es militärisch genutzt wird. Es könnte
ein wichtiges Naherholungsgebiet sein, eine grüne
Waltraud Wolff ({5})
Lunge für ein Ballungsgebiet, das durch Verkehr und Industrie belastet ist.
({6})
Seit Jahrzehnten setzen sich die Menschen jeder politischen Couleur vor Ort für die Freigabe dieses Waldes
ein. Dass dieser Antrag von Abgeordneten quer durch alle
Fraktionen unterzeichnet worden ist, zeigt, dass er auch
hier im Bundestag eine breite Unterstützung hat; und das
nicht erst seit heute. Bereits 1993 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, sich bei den
US-Behörden für die Freigabe dieses Waldes einzusetzen.
Die Freigabe eines Teils dieses Gebietes konnte auch erreicht werden.
Um es deutlich zu machen: Es geht hier nicht um die
Verfolgung einer Ideologie oder um Antiamerikanismus,
sondern es geht um eine vernünftige Abwägung zwischen
den Interessen der Menschen in dieser Region und den logistischen und militärischen Interessen der US-Armee.
Zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation mag es noch
Sinn gemacht haben - zumindest einige haben darin einen
Sinn gesehen -, einen Truppenübungsplatz der US-Armee
direkt in diesem Ballungsraum zu unterhalten. Die Zeiten
und auch die Anforderungen im militärischen Bereich haben sich aber geändert.
({7})
Die Zahl der dort fest stationierten Soldaten ist seit
1994 drastisch reduziert worden. Lediglich Infanterieeinheiten sind dort heute noch stationiert. Daher kommen
Einheiten aus Mannheim, Heidelberg, Darmstadt,
Schwetzingen, Kaiserslautern usw. dorthin, um diesen
Truppenübungsplatz zu nutzen. Dieser Truppenübungsplatz wird an 214 von möglichen 234 Tagen genutzt. Vielleicht macht das deutlich - zusätzlich gibt es eine große
Verkehrsbelastung und ein hohes Industrieaufkommen -,
welche Belastung dies in diesem Ballungsgebiet darstellt.
Ich denke, dass es aufgrund der Reduzierung der Truppen vor Ort heute nicht mehr notwendig ist, den Truppenübungsplatz in diesem Ballungsgebiet zu unterhalten;
({8})
denn es werden hauptsächlich Einheiten von auswärts zusammengezogen. Nach der eigentlichen Definition ist es
gar kein Standortübungsplatz mehr. Hinzu kommt, dass
die Region durch den sich in unmittelbarer Nähe - in
Lampertheim - befindlichen Coleman-Militärflughafen
zusätzlich durch Verunreinigung und Lärm belastet wird.
Last but not least liegt dieser Truppenübungsplatz in einem Trinkwasserschutzgebiet. Es ist also wirklich eine
ganz besondere Situation. Man mag sich gar nicht ausmalen, was los ist, wenn dort einmal etwas passiert; denn das
Trinkwasser einer ganzen Region, diese wichtige Lebensgrundlage, ist davon abhängig.
Meine Damen und Herren, langer Rede kurzer Sinn:
Ich bitte Sie, diesen Antrag, der in den Ausschuss überwiesen werden wird, wohlwollend zu unterstützen. Die
Menschen vor Ort werden es Ihnen danken. Für die Menschen in der Region geht es nicht nur um ein Stück Wald,
sondern es geht um eine gesunde Umwelt und mehr Lebensqualität.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
zunächst einmal all den Kollegen, die den Antrag mit unterzeichnet haben, Danke sagen;
({0})
denn schließlich sprechen wir hier über ein im Grunde regionales Problem. Frau Kollegin Lambrecht hat es eben
vorgetragen: Weit über die Region hinaus ist der Antrag
von Kollegen mit unterstützt worden. Dafür noch einmal
herzlichen Dank! Ich denke, es ist ein gutes Omen, dass
er eine so breite Resonanz gefunden hat.
Mit dem vorliegenden Antrag sollen zunächst einmal
Verhandlungen der Bundesregierung mit den zuständigen US-Stellen initiiert werden, um die Freigabe des
Viernheimer/Käfertaler/Lampertheimer Waldes zu erreichen und das Gelände, wie es eben geschildert wurde,
tatsächlich wieder als Erholungsraum für die in dieser Region lebenden Menschen zurückzugewinnen. Ich glaube,
es ist eben sehr deutlich geworden, dass wir über einen
dicht besiedelten Raum reden. Dieser Waldbereich wurde
in den Raumordnungsplänen nicht ohne Grund als regionaler Grünzug ausgewiesen und beschrieben.
Auch das Stichwort Trinkwassernutzung ist eben genannt worden. Das unterstreicht die ökologische Bedeutung dieses Gebietes. Deshalb gibt es hier einen Nutzungskonflikt. Wir müssen uns bemühen, diesen
Nutzungskonflikt aufzulösen, und zwar nicht, indem wir
die Soldaten der USA nach Hause schicken, sondern indem wir versuchen, eine geeignete Stelle für die Übungsplätze der Soldaten zu finden. Dann kann es gelingen, für
die Menschen, die in dieser dicht besiedelten Region leben, diesen Grünzug, dieses ökologische Gebiet zu öffnen.
({1})
Dieser Wald war bereits 1993 Thema in diesem Haus.
Die entsprechende Bundestagsdrucksache wurde im Antrag zitiert. Über alle Parteigrenzen hinweg gab es damals
eine sehr breite Unterstützung für dieses Anliegen. Seitdem konnten beachtliche Fortschritte erreicht werden:
Große Flächen des Waldes wurden mittlerweile aus der
militärischen Nutzung herausgenommen;
({2})
Christine Lambrecht
ich erwähne die gesamten Bereiche südlich der Bundesautobahn 6. Auch auf den Einsatz von Kettenfahrzeugen
hat man inzwischen verzichtet. Die vorhandenen Munitionsdepots sind geräumt worden. Deshalb kann man nicht
mehr wie Anfang der 90er-Jahre von einem Panzerwald
reden, sondern wir haben heute ein militärisch genutztes
Waldgebiet. Ich glaube, dass man auch in der praktischen
Erfahrung zwischen den US-Stellen und der örtlichen
Forstverwaltung davon ausgehen kann, dass sie zu kooperieren versuchen. Das ist ein gewaltiger Schritt nach
vorn.
Dennoch muss man sagen, dass die gänzliche Freigabe
des Waldes von der militärischen Nutzung bis heute leider
nicht erreicht worden ist. Dieses Verlangen - das will ich
ausdrücklich festhalten - ist nicht gegen die USA gerichtet, sondern ist der Wunsch, dass wir den Bürgern vor Ort
ein Stück weit mehr Lebensqualität und Erholungsraum an dieser Stelle verschaffen können.
({3})
Deshalb haben wir auch bereits im Zusammenhang mit
der Bundestagswahl 1998 an dieser Stelle intensive Diskussionen gehabt. Von verschiedener Seite sind Erwartungen artikuliert worden, dass mit dem Wechsel der Bundesregierung dieses Problem gelöst werden würde und die
komplette Restfläche von 1 500 Hektar aus dem militärischen Übungsbetrieb entlassen werden könnte.
Diese Erwartungen - eben wurden Namen genannt wurden insbesondere von damals führenden hessischen
Landespolitikern von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
- Herrn Eichel, Herrn Fischer und anderen - unterstützt,
indem sie immer wieder deutlich gemacht haben, dass sie
das Anliegen der Kommunen und der Politik vor Ort mittragen wollen.
({4})
Nachfragen bei der Bundesregierung im Jahr 1999 haben allerdings ergeben, dass diese Hoffnungen nicht erfüllt würden. Das federführende Bundesministerium der
Finanzen unter Leitung des Bundesfinanzministers Hans
Eichel hat in einem Schreiben aus dem September 1999
erklärt, dass die Bundesregierung völkerrechtlich verpflichtet sei, die betreffende Liegenschaft der US-Armee
für militärische Zwecke zur Verfügung zu stellen. Vor diesem Hintergrund lehnte es die Bundesregierung bis zum
heutigen Tag ab, mit der Regierung der USA in konkrete
Verhandlungen einzutreten.
Das war der entscheidende Punkt, an dem wir gesagt
haben: Wir als Abgeordnete müssen versuchen, den Beschluss aus dem Jahre 1993 nochmals aufzugreifen und
zu erneuern, um den Willen des Parlaments aus der
12. Wahlperiode gegenüber der Bundesregierung und den
Forderungskatalog nach einer vollkommenen Freigabe
des Viernheimer/Lampertheimer Waldes zu verdeutlichen. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass man, wenn
dies in diesem Haus auf Zustimmung stößt und wenn die
USAin Gesprächen, wenn sie denn einmal begonnen würden, grundsätzlich ihre Bereitschaft zu einer Lösung signalisierten, darüber diskutieren könnte, den USA einen
anderen Übungsplatz anzubieten, der von der Ökologie
und der Erholungsfunktion her möglicherweise verträglicher wäre.
In diesem Sinne ist unser Antrag gedacht und gemeint.
Man sollte versuchen, die Verhandlungen zu beginnen,
um einen sinnvollen Kompromiss zu formulieren. Ich
hoffe, dass das nicht, da wir kurz vor Ende dieser Wahlperiode stehen, der Diskontinuität anheim fällt. Deswegen möchte ich alle Kollegen, die in den Ausschüssen Verantwortung tragen, an dieser Stelle bitten, dass in den
Ausschüssen eine zügige Beratung dieses Antrags stattfindet und wir hier zu einem Votum im Bundestag kommen, mit dem wir die Bundesregierung tatsächlich auffordern können, entsprechend tätig zu werden.
Alle Parteien vor Ort - sowohl lokal als auch regional - vertreten im Gleichklang das Ziel, dass das Waldgebiet bei Viernheim von der vollständigen militärischen
Nutzung freigegeben werden muss. Ich möchte deshalb
an dieser Stelle in diesem Haus für einen breiten Konsens
mit der Bitte um Unterstützung im Hinblick auf die Forderung an die Bundesregierung werben, die Freigabe des
Waldes in den nötigen Verhandlungen mit allen politischen und juristischen Möglichkeiten voranzubringen.
Wir hoffen, dass wir hier einen Anstoß geben können
und in Gesprächen zu einer gemeinsamen sinnvollen Lösung kommen. In diesem Sinne wünsche ich mir gute Beratungen, bei denen am Ende eine breite Zustimmung
steht. Ich gehe davon aus, dass wir am Ende ein Ergebnis
erreichen können, das den Menschen in Viernheim, Lampertheim und der gesamten Region nützt.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute debattieren wir zwei Gruppenanträge, die sich gegen die militärische und für die zivile Nutzung wertvoller Landschaften einsetzen und die von bemerkenswert
vielen Abgeordneten dieses Hauses unterstützt werden.
({0})
Ich brauche es gar nicht besonders zu betonen, tue es
aber sicherheitshalber trotzdem: Die Antragsteller wenden sich nicht gegen die Bundeswehr und die US-Streitkräfte. Sie bestreiten auch nicht deren Übungsbedarf. Allerdings bekräftigen wir die eigentlich selbstverständliche
demokratische und rechtsstaatliche Position, dass militärische Nutzungs- und Übungsansprüche rechtmäßig
sein müssen, dass sie für die Einsatzbereitschaft der
Streitkräfte unbedingt notwendig und für die betroffenen
Gemeinden und Anwohner zumutbar sein müssen. Die
Anträge bestreiten dies im Fall dieser beiden Übungsplätze.
Wegen der Kürze meiner Redezeit muss ich mich auf
den Antrag zur Kyritz-Ruppiner Heide konzentrieren. Der
Streit um die militärische Nutzung der Heide befindet sich
nun im zehnten Jahr. Wie das Bundesverwaltungsgericht
Ende 2000 entschied, hat die Bundeswehr bisher kein militiärisches Nutzungsrecht an der Heide. Sie muss es in
korrektem Verfahren zu erwerben versuchen.
An dieser Stelle will ich nur etwas zur politischen Dimension sagen. Die erste Frage ist folgende: Ist die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide als LuftBoden-Schießplatz für die Einsatzfähigkeit der
Bundeswehr zwingend notwendig? Bisher ist die Bundeswehr - das muss man ganz lakonisch feststellen - ohne
diesen Luft-Boden-Schießplatz ausgekommen. Im Jahr
2000 wurden dort etwas mehr als 10 Prozent der innerdeutschen Luft-Boden-Einsätze der Bundeswehr geflogen. Im 2001 gab es keine Einsätze. Ich kann mich nicht
erinnern, von irgendeinem Hinweis oder irgendeiner Warnung gehört zu haben, die Einsatzfähigkeit der Bundesluftwaffe habe sich im letzten Jahr verringert.
Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Zahl der
Übungseinsätze in den letzten Jahren immer mehr
zurückgegangen ist. Bei der letzten Überarbeitung des
Truppenübungsplatz-Nutzungskonzepts im Jahre 1999
sind auf deutschen Übungsplätzen noch insgesamt 7 200
Einsätze von alliierten und deutschen Flugzeugen eingeplant worden. Real wurden im Jahre 2000 nur 2 200 Einsätze geflogen. Bei der Bundeswehr war gegenüber dem
Vorjahr ein Rückgang um 21 Prozent zu verzeichnen.
Wenn wir nach vorne schauen, so ist festzustellen, dass
der Übungsbedarf angesichts der Umrüstung der Bundesluftwaffe auf Distanzbewaffnung usw. noch weiter
zurückgehen wird.
Ich komme aus Westdeutschland und kenne sehr wohl
die Lärmlast, die von dem Luft-Boden-Schießplatz im
Raum Nordhorn ausgeht und von den dortigen Anliegern zu tragen ist. Ich weiß sehr wohl, dass wir alles unternehmen müssen, um die dortige Belastung zu reduzieren.
({1})
In diesem Zusammenhang wird allerdings immer wieder das Argument angeführt, die Lärmlasten sollten doch
gerecht verteilt werden. Das klingt zunächst einmal plausibel. Wenn man aber etwas genauer hinsieht, stellt man
fest, dass sich die Situation völlig anders darstellt; denn
die Region um die Kyritz-Ruppiner Heide wurde - das
wissen wir alle - von den sowjetischen Luftstreitkräften
mit mehr als 20 000 Einsätzen pro Jahr über Jahrzehnte in
extremer Weise militärisch genutzt. Wer das Gebiet besucht, wird feststellen, dass es wohl in der gesamten Bundesrepublik kein Gebiet gibt, das durch Übungsbetrieb so
verschandelt worden ist wie die dortige Gegend. Bereits
aufgrund dieser jahrzehntelangen extremen Lärmbelastung ergibt sich für die Antragsteller zwangsläufig ein Anspruch auf eine ruhigere Entwicklung in der dortigen Region.
({2})
Was die wirtschaftlichen Entwicklungschancen angeht, so gibt es wohl einige Hoffnungen in Richtung Garnison. Allerdings muss man im Hinblick auf die Kassen
des Verteidigungshaushalts und auch auf die Geschichte
des Standortes Eggesin vor diese Hoffnungen erhebliche
Fragezeichen setzen. Wir Antragsteller befürchten allerdings, dass der Luft-Boden-Schießplatz Wittstock die
Chancen für eine eigenständige Entwicklung der Region
in Richtung eines sanften Tourismus blockieren wird.
Im Sommer 1996 besuchte ich als Abgeordneter aus
Westdeutschland erstmalig die Kyritz-Ruppiner Heide.
Ich lernte damals die wirklich faszinierende Landschaft
und die dortige Bürgerbewegung mit ihrer Herzlichkeit,
Überzeugungskraft und demokratischen Hartnäckigkeit
kennen.
({3})
Dort erfuhr ich, dass es bei dem Streit um die militärische oder zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide auch
sehr stark um die Glaubwürdigkeit von uns Politikern
geht. Was gelten unsere Worte? Ich meine, es würde die
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen, wäre aber ein Zeichen von Realismus, Klugheit und Souveränität, wenn das Bundesministerium der
Verteidigung den Weg für eine zivile Nutzung der KyritzRuppiner Heide frei machen würde.
Danke schön.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hartmut Koschyk das
Wort.
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag mit dem Titel „Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide“, zu dem
der Kollege Nachtwei gerade gesprochen hat, nimmt auch
auf die Auswirkungen der dort geplanten Stationierung
auf andere Bundeswehrstandorte in Deutschland Bezug.
Wörtlich heißt es in dem Antrag:
Angesichts der aus dem Stationierungskonzept resultierenden Standortreduzierungen und -schließungen und des Interesses der Bundeswehr an Rationalisierungsgewinnen erscheint die Errichtung einer
neuen Garnison nicht rational und höchst unwahrscheinlich. Zugleich wäre es anderen Bundeswehrstandorten nur schwer vermittelbar, wenn sie im
Zuge der Umstrukturierung schließen müssten,
während im Raum Wittstock eine neue Garnison entstehen würde.
Ich kann diese Aussage nur voll und ganz unterstützen,
weil die dort geplante Investition - nach Aussagen von
Frau Staatssekretärin Schulte sind dafür mindestens
214 Millionen DM vorgesehen - dazu führen wird - der
Zusammenhang ist im Bundestag bereits mehrfach deutlich geworden -, dass ein völlig intakter Bundeswehrstandort mit einem solchen Ausbildungsbataillon der
Luftwaffe in meinem Wahlkreis Bayreuth geschlossen
werden soll. Dort gibt es eine Bürgerinitiative, die eine
Sammelpetition mit gegenwärtig 25 000 Unterschriften
für den Erhalt des dortigen Bundeswehrstandortes für den
Bundestag vorbereitet. - Ich konnte mich in der vergangenen Woche bei einem parlamentarischen Abend, den
die Kollegen Bahr und Nachtwei mit Vertretern aus der
Region in Berlin durchgeführt haben, davon überzeugen. - Das halte ich für ein großes Problem.
Angesichts des wackeligen rechtlichen Fundaments,
auf dem die Nutzungsabsichten für diesen Truppenübungsplatz stehen,
({0})
und der Niederlage erster Sahne - um es so salopp zu formulieren -, die das BMVg in dieser Frage vor dem Bundesverwaltungsgericht eingesteckt hat, frage ich mich, ob
es - auch angesichts des Widerstands, den es dort in der
Bevölkerung gibt - wirklich richtig und sinnvoll ist, an einem solchen Vorhaben, das auch mit sehr großen verwaltungsgerichtlichen Unwägbarkeiten verbunden ist, festzuhalten.
Herr Kollege
Koschyk, das war hart an der Grenze, weil es eigentlich
eine Kurzintervention zur Rede des Kollegen Nachtwei
hätte sein müssen. Ich hatte aber das Gefühl, dass Sie eher
einen Debattenbeitrag gebracht haben.
({0})
Herr Kollege Nachtwei, Sie haben trotzdem, da Sie
noch einmal angesprochen wurden - ({1})
- Sie machen keinen Gebrauch davon. - Dann hat als
nächster Redner der Kollege Niebel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Aufgabe, in dreieinhalb Minuten zu beiden Anträgen zu sprechen. Deswegen werde ich versuchen, mich auf das Wesentliche zu
konzentrieren.
Es handelt sich tatsächlich um zwei Gruppenanträge
aus der Mitte dieses Hauses, mit denen darauf hingewirkt
werden soll, dass bestimmte Gebiete nicht mehr militärisch genutzt werden. Jedoch sind die beiden Anträge
sehr unterschiedlich zu bewerten.
Der Antrag zur völligen Freistellung des Viernheimer,
Käfertaler und Lampertheimer Waldes von der verbliebenen militärischen Nutzung wird von einer breiten öffentlichen Unterstützung und auch von allen Parteien getragen. Wir haben die Worte von Frau Lambrecht und Herrn
Meister gehört, denen in diesem Punkt im Wesentlichen
nichts hinzuzufügen ist. Es geht tatsächlich darum, die
guten Ergebnisse, die wir hier am 23. Juni 1993 auf den
Weg gebracht haben, abzuschließen und die letzten
1 500 Hektar militärisch genutzten Waldes der Öffentlichkeit als Naherholungsgebiet und als ökologische
Lunge eines der größten Ballungsgebiete der Bundesrepublik Deutschland - nämlich des siebtgrößten Ballungsraumes - wieder zur Verfügung zu stellen. Dabei wollen
wir im fairen Gespräch mit unseren amerikanischen Partnern zu einem Ausgleich kommen, der im Endeffekt der
Bevölkerung eine gesunde und erholsame Zukunft in dieser Region bieten soll.
({0})
Wir befassen uns aber auch mit dem zweiten Gruppenantrag zu der Kyritz-Ruppiner Heide und dem geplanten
Bombenabwurfzentrum in Wittstock, den der Kollege
Nachtwei im Wesentlichen zum Thema seiner Rede gemacht hat. Zwar muss festgestellt werden, dass es tatsächlich eine große Bürgerbewegung gegen diese militärische
Einrichtung gibt, aber es gibt auch eine große Bürgerbewegung für diese Einrichtung.
({1})
Sie liegt in einem derartig strukturschwachen Gebiet, dass
der überwiegende Teil der Bevölkerung in und um Wittstock mittlerweile für diese militärische Einrichtung ist,
damit die Arbeitsplätze gesichert und neue Arbeitsplätze
geschaffen werden.
({2})
Es ist nicht in Ordnung, dass hier versucht wird, einen
Standort in Deutschland gegen den anderen auszuspielen.
Es kann doch wohl nicht sein, dass Sie, Kollege
Nachtwei, sich einerseits in Nordhorn für eine Entlastung
der Bevölkerung einsetzen, wobei diese Entlastung aber
nur möglich wäre, wenn in Wittstock geflogen werden
kann,
({3})
und andererseits hier einen Antrag unterstützen, der dazu
dienen soll, dass Wittstock niemals in Betrieb gesetzt werden kann. Wenn Sie sich mit diesem Gruppenantrag
durchsetzen könnten, hätte das die Konsequenz, dass in
Nordhorn-Range, übrigens nur eine Flugminute vom
Atomkraftwerk Lingen entfernt, weiter in gleichem Umfang Bomben abgeworfen würden, wie das in der Vergangenheit der Fall war.
({4})
Diese Region ist deutlich mehr belastet gewesen, als es
für Wittstock geplant ist. Wittstock hat unter der Sowjetarmee gelitten, die dort mit 18 000 bis 20 000 Einsätzen
pro Jahr geübt hat. Die Planungen der Bundeswehr sehen
nach meinem Kenntnisstand ungefähr 3 000 Einsätze pro
Jahr vor. Das ist eine deutliche Entlastung gegenüber
dem, was dort über Jahrzehnte stattgefunden hat.
({5})
Im Verhältnis zu der Chance, durch Tourismus Arbeitsplätze zu entwickeln - in der unmittelbaren Nachbarschaft, in Goldberg, haben wir gesehen, dass es nicht
funktioniert hat -, ist die Chance, Arbeitsplätze zu haben,
die es den Betreffenden ermöglichen, an unserem gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, für die Menschen in der
Kyritz-Ruppiner Heide die wichtigere. Deswegen bitte
ich Sie, den Gruppenantrag zu Wittstock nach den Ausschussberatungen abzulehnen. Ich werbe sehr um Ihre
Unterstützung für den auch in der Bevölkerung breit getragenen Antrag auf zivile Nutzung des Viernheimer/
Käfertaler/Lampertheimer Waldes.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Sylvia Voß das Wort.
Herr
Niebel, Sie haben es schon angesprochen: Es ist eine
strukturschwache Region. Es ist aber auch - das sage ich
auch als tourismuspolitische Sprecherin meiner Fraktion - eine der schönsten Reise- und Ferienregionen, die
Deutschland überhaupt zu bieten hat, nämlich die mecklenburgisch-brandenburgische Seenplatte.
({0})
Genau dort, wo es einen Nationalpark gibt, wo es Naturparke gibt, wo der Tourismus neben der Landwirtschaft
das stärkste Standbein ist - das hat sich in den letzten Jahren entwickelt -, würde es dann eine Einflugschneise geben. Auch wenn Sie hier vielleicht ein Beispiel oder zwei
Beispiele anführen können, in denen das nicht funktioniert hat, kann ich Ihnen sagen: In der Region ist durch
Eigeninitiative, durch Förderung der Kommunen und
Kreise sowie auch der Länder Mecklenburg-Vorpommern
und Brandenburg sehr viel im Tourismus entstanden. Angesichts dessen kann ich nicht verstehen, wie Sie das
Arbeitsplatzargument ins Feld führen können.
Die Planungshoheit der Gemeinden - das ist ein ganz
wichtiges Argument; ich weiß nicht, wie man sich dem
überhaupt verschließen kann - ist durch die Bundeswehr
brutal ausgehebelt worden. Deswegen gibt es auch die
Prozesse. Es ist nicht abzusehen, dass die irgendwann ein
Ende finden; im Gegenteil: Die mecklenburgischen Kommunen und Kreise werden sich da möglicherweise auch
noch einklinken.
Aus meiner Sicht besonders schlimm ist die Irreführung, die in diesem Haus zum Teil stattfindet. Im Truppenübungsplatzkonzept spricht man nämlich davon, dass
hier eine Garnison weitergeführt wird. Die Garnison Wittstock existiert überhaupt nicht. Dort stehen Ruinen. Ein
Kollege hat schon gesagt, wie viel man dort investieren
müsste.
({1})
Als Letztes zum Lärm, den ein solcher Flugplatz
macht. Sie können sich das hoffentlich vorstellen. Ich bin,
ehrlich gesagt, entsetzt darüber, wie die Bundeswehr das
einschätzt und was in dem Gutachten steht. In dem Gutachten heißt es lapidar, dass Tiefflug für den Tourismus
keinerlei Beeinträchtigung bedeutet. Ich weiß nicht, ob
Sie in einem Bett liegen möchten, über das ständig die
Tiefflieger donnern, ob Sie in einer Gegend - ich sagte es
schon: es ist eine der schönsten Regionen für Urlaub in
Deutschland überhaupt - Urlaub machen, dort Ruhe und
Erholung suchen möchten, wenn darüber die Tiefflieger
fliegen.
({2})
Das Hotel- und Gaststättengewerbe wird dadurch existenziell bedroht. Das haut der gesamten Region das Standbein weg, auf dem sie jetzt noch steht.
({3})
Herr Kollege Niebel
zur Erwiderung, bitte.
Liebe Kollegin, Sie haben die Befindlichkeiten der Region angesprochen, aber nicht zur
Kenntnis genommen, dass sie offenkundig unterschiedlich sind. Es gibt Befürworter und Gegner dieser Einrichtung. Daher machen Sie es sich zu leicht, wenn Sie von
dieser Stelle aus lediglich erklären: Wir wollen diese Einrichtung nicht, weil wir Tourismus entwickeln wollen. Ich
erinnere daran, dass in der unmittelbar benachbarten Region, in Goldberg, dieses Konzept grottenmäßig gescheitert ist. Dort sind Arbeitsplätze verloren gegangen und die
Arbeitslosigkeit hat sich deutlich erhöht. Daher sind die
Menschen, die um ihren Arbeitsplatz und ihre Existenz
bangen, selbstverständlich sehr froh darüber, dass die
Bundeswehr hier Arbeitsplätze schafft.
({0})
Wenn Sie jetzt überall so tun, als könnte es trotz der immer wichtiger werdenden Rolle der deutschen Bundeswehr möglich sein, nur noch im Ausland zu üben, und den
Menschen in Nordhorn-Range und in Wittstock Entlastung versprechen, hinterher aber unseren Verbündeten in
Kanada und den USA den Fluglärm zumuten, dann ist
dies eine Art von Politik, die vielleicht im grünen Hinterzimmer funktioniert,
({1})
nicht aber, wenn Sie weiterhin Regierungsverantwortung
tragen wollen. Deswegen werden wir Sie davon auch entlasten.
Vielen Dank.
({2})
Wir fahren in der Debatte fort. Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang
Gehrcke für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich werde die mir zur Verfügung stehenden drei Minuten nicht dazu benutzen, dem
Parlament erneut meine Meinung zur Sicherheitspolitik
der Bundesregierung vorzutragen.
({0})
Sie kennen sie gut; manche meinen sogar, zu gut. Vielmehr möchte ich Ihnen näher bringen, was viele - Herr
Niebel, selbstverständlich nicht alle - Menschen aus der
betroffenen Region hoffen, denken und wünschen. Ich
will also Mittler zwischen der Region und dieser Parlamentsdebatte sein. Ich lebe und arbeite in dieser Region
und habe dort meinen Wahlkreis. Es ist eine Kulturregion,
von deren Schönheit Sie sich entweder durch Augenschein
oder dadurch überzeugen können, dass Sie Fontanes Schilderungen lesen.
({1})
In dieser Region ist der Übungsplatz eine offene
Wunde; das muss man ehrlicherweise so benennen.
({2})
Über Jahrzehnte waren die Menschen von den Bombenabwurfübungen der russischen Armee belastet - das ist
hier schon gesagt worden -, wurde die Natur geschunden
und wurden die Menschen durch Lärm und Gefährdung
gequält. Selbstverständlich waren sie nach der deutschen
Einheit fest davon überzeugt, dass mit diesen Bombenübungen Schluss sein werde und die Heide zivil werde.
Etwas anderes konnten sich die Menschen gar nicht vorstellen. Auch das sollten Sie in Ihre Abwägung aufnehmen.
Doch die Bundeswehr wollte auf den Platz nicht verzichten. Nun aber trat etwas Neues und Wichtiges ein: der
große Zugewinn an Demokratie. Die Menschen konnten
sich gegen das wehren, was die Bundeswehr dort machen
wollte. Sie tun dies seit zehn Jahren - zivil, demokratisch,
ideenreich, vor Ort, vor Gerichten, mit alternativen Konzepten, in ihren Gemeinden und kommunalen Parlamenten. Ein heutiger Verteidigungsminister und damaliger
Kanzlerkandidat hat ihnen versprochen, wenn seine Partei an die Regierung komme, werde die Heide zivil. Nun
ist sie an der Regierung und muss dieses Versprechen einlösen.
({3})
Es geht auch darum, dass die Demokratie nicht das Vertrauen der Menschen verliert.
({4})
Ein zweites Argument: Selbstverständlich steht auch
diese Region vor großen Problemen; die größten sind die
Arbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen.
Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass von öffentlichen Haushalten und privaten Einrichtungen 5 Milliarden DM in die Region investiert wurden. Mit diesen Investitionen kann und soll sie ein guter Standort für
Tourismus, Erholung, Bildung, Wissenschaft, qualifizierte Landwirtschaft und Mittelstand werden. Die Region befindet sich auf diesem Wege. Wenn aber wieder
Bombenabwurf geübt wird, dann bricht all dies zusammen und dann zeigt sich, dass das Geld falsch investiert
worden ist. Auch stehen die Menschen, die dort Immobilien besitzen, vor einer großen Entwertung ihres Eigentums.
({5})
Auch das sollten Sie mit bedenken.
Hinzufügen möchte ich, dass sich der Verteidigungsminister überlegen muss, ob er wirklich an diesem Platz
festhält. Die Einwohner wollen ihn nicht, die Gerichte haben die militärische Nutzung untersagt, politische und
Rechtsauseinandersetzungen stehen über Jahre ins Haus.
Außerdem sollen dort 500 Millionen eingesetzt werden,
während woanders Garnisonen geschlossen werden sollen; darüber sprach bereits Kollege Koschyk. Das alles
passt nicht zusammen, das stellt doch kein Konzept dar.
Abschließend ein Vorschlag zur Güte: Die Kolleginnen
und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bitte
ich - es liegt an ihnen -, dem Antrag, der aus ihren Reihen kommt, die Zustimmung zu geben. Der Antrag könnte
aber auch für die Kolleginnen und Kollegen aus
CDU/CSU und FDP interessant sein. Ich bitte sie daher,
sich mindestens der Stimme zu enthalten. Die PDS wird
selbstverständlich zustimmen. In diesem Falle hätte, weil
es sich um einen Antrag aus der Regierungskoalition handelt, niemand sein Gesicht verloren; jeder hätte aber viel
Geld gespart und die Region hätte gewonnen.
({6})
Auf dieser Ebene kann man doch eine Politik der Vernunft
machen, die allen nutzt, keinen etwas kostet und alle das
Gesicht wahren lässt. Das ist dann auch ein sinnvolles Ergebnis, wenn die Menschen sehen, dass Demokratie etwas bewirkt. Lassen Sie uns in diese Richtung gehen!
Herzlichen Dank.
({7})
Jetzt spricht der Kollege Ernst Bahr für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich zu Herrn
Niebels Äußerungen kurz Stellung nehmen. Herr Niebel,
ich verstehe, dass Sie Ihre Betroffenheit zum Viernheimer
Wald bei Heidelberg hier zum Ausdruck bringen. Das ist
legitim und in Ordnung. Ich glaube aber, Ihre Äußerungen
haben deutlich gemacht, dass Sie nicht wissen, worum es
bei der Region, von der ich jetzt sprechen werde, geht;
denn sonst würden Sie nicht solche Äußerungen dazu machen.
({0})
- Das ist die einzige Legitimation, mit der Sie hier sprechen: dass Ihr FDP-Kollege Herr Scheidemann, der Bürgermeister von Wittstock, ein Interesse daran hat, dass
seine Stadt die wirtschaftliche Förderung erhalten kann.
({1})
Das ist auch legitim. Ich werde Ihnen aber gleich meine
Meinung dazu sagen; vielleicht verstehen Sie dann unsere
Position etwas besser.
Die Bundeswehr ist eine demokratisch legitimierte
Armee der Bundesrepublik Deutschland. Sie hat ihren
Platz im Rahmen der Europäischen Union und der NATO.
Von ihrem ursprünglichen Auftrag der Verteidigungsarmee wendet sie sich mehr und mehr friedenssichernden
und friedenserhaltenden Aufgaben zu. Bekanntermaßen
erfüllt sie diese Aufgaben im Rahmen des Bündnisses
über die Landesgrenzen hinaus. Nach wie vor benötigt die
Bundeswehr Übungsplätze, um den an sie gestellten Anforderungen gerecht werden zu können. Die eingangs erwähnte veränderte Auftragslage der Bundeswehr stellt
aber die Notwendigkeit einer erweiterten Zahl an zu übenden Bombenabwürfen infrage.
({2})
- Das ist in der Tat so. Herr Nachtwei hat dazu ja schon
etwas gesagt.
Aber gerade so lautet die Begründung für die militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes in der KyritzRuppiner Heide. Vom Übungsinhalt und vom Übungsauftrag her ist dieser Platz folglich nicht notwendig.
({3})
Aus Sicht der Lastenverteilung der militärischen
Übungen zwischen Ost und West ist Brandenburg überproportional betroffen. Was allerdings die Belastung der
Bevölkerung in der Umgebung des Truppenübungsplatzes betrifft, so hat diese in 40-jähriger Nutzung durch die
Sowjetarmee und den Warschauer Vertrag Risiken und
Gefahren aushalten müssen, wie sie an keinem Standort
der Alliierten in der ehemaligen Bundesrepublik vorgekommen sind.
({4})
Die Menschen in dieser Region kämpfen seit zehn Jahren für die zivile Nutzung dieser Fläche.
({5})
Die vielen Veranstaltungen, die die Bürgerinitiative
„Freie Heide“ durchführt und die eindrucksvoll dokumentieren, wie die Menschen zu diesem Platz stehen, zeigen, wie die Interessen dort liegen. Ich möchte der Bürgerinitiative „Freie Heide“ an dieser Stelle recht herzlich
für ihr Engagement und für ihren Kampf danken.
({6})
Herr Kollege Bahr, es
gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel. Lassen Sie
die zu?
Ja, gern.
({0})
Herr Kollege Bahr, Sie sprechen
die ganze Zeit davon, dass „die Bevölkerung“ etwas
möchte. Sie haben eben selbst den Bürgermeister von
Wittstock angesprochen, der gerade wieder gewählt worden ist. Er ist mit der Position des Erhalts und des Ausbaus
der militärischen Einrichtungen des Übungsplatzes in den
Wahlkampf gegangen und mit dieser Position von den
Bürgerinnen und Bürgern gewählt worden. Stimmen Sie
mir zu, dass „die Bevölkerung“ als einheitliche Gruppe,
wie Sie sie hier schildern, unter diesen Voraussetzungen
offenkundig nicht existiert?
Dem muss ich widersprechen,
Herr Niebel. Sie sprechen von der Stadt Wittstock. Dort
gibt es in der Tat eine Zustimmung zur militärischen Nutzung des Truppenübungsplatzes. Das ist aber nur ein Teil
der Bevölkerung, die betroffen ist. Wittstock hat bei einer
militärischen Nutzung keine Belastung, sondern ausschließlich einen Nutzen zu erwarten. Das ist eine sehr
egoistische Sicht, die ich als Vertreter der Gesamtregion
nicht unterstützen kann.
({0})
Es ist nämlich so, dass über die zehn Jahre seit 1992 ein
Rechtsstreit zwischen den Anrainergemeinden und den
privaten Anliegern einerseits und dem Bundesverteidigungsministerium andererseits besteht. Nach Einschätzung von Fachleuten kann diese Auseinandersetzung
noch etwa 10 bis 15 Jahre dauern. Das kostet nicht nur
Geld, sondern auch viel wertvolle Zeit. Dies ist zum einen
Zeit, während der die Bundeswehr den Platz nicht nutzen
kann, und zum anderen Zeit, die der wirtschaftlichen Entwicklung dieser strukturschwachen Region nicht zugute
kommt. Dabei ist davon auszugehen, dass die Bundeswehr, wenn sie ihre Zugeständnisse an die Befürworter
des Truppenübungsplatzes umsetzen würde, nahezu ausschließlich der Stadt Wittstock eine Unterstützung geben
würde, während die Anrainergemeinden die Belastungen
zu tragen hätten.
({1})
Hinzu kommt, dass zum Beispiel die Qualität der Kultur- und Tourismusstadt Rheinsberg mit seiner Bundesmusikakademie und mit der Kammeroper durch die
Übungen der Bundeswehr wesentlich beeinträchtigt
würde. Selbst die ebenfalls auf Tourismus angewiesenen
Randregionen Mecklenburg-Vorpommerns nördlich des
Truppenübungsplatzes wären von der militärischen Nutzung negativ betroffen.
Stattdessen würde eine zivile Nutzung des Truppenübungsplatzes im Falle des Verzichts der Bundeswehr allen Anrainergemeinden und auch der Stadt Wittstock zugute kommen. Der Gruppenantrag fordert daher, auf die
militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes KyritzRuppiner Heide zu verzichten und die Belastungen der
Menschen an den Standorten der derzeitigen Übungsplätze in Siegenburg und in Nordhorn zu verringern. Der
Antrag enthält ferner die Forderung, dass sich der Bund
an der Sanierung des Platzes auch bei einer nicht militärischen Nutzung beteiligt und dass das zu investierende
Geld zum Teil für diese Sanierung eingesetzt wird.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Hermann Kues von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Nachtwei, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der SPD, ich
muss schon sagen:
({0})
Ich finde es nicht nur einigermaßen mutig, dass Sie hier
einen solchen Antrag vorlegen, sondern auch unverschämt.
({1})
Ich werde Ihnen das auch begründen: Ich finde es deswegen unverschämt und heuchlerisch, weil Sie, Herr
Nachtwei, zu den Menschen in Nordhorn hingegangen
sind - ich sage gleich noch etwas zur SPD - und ihnen gesagt haben: Wir bauen hier die Belastungen ab. - Dasselbe
haben Sie den Menschen in Wittstock gesagt. In Wirklichkeit bringen Sie beides nicht zustande. Damit machen
Sie den Menschen etwas vor und das ist unverantwortlich.
({2})
- Ich habe alles gelesen, was Sie in Nordhorn zum Besten
gegeben haben. Wie Sie wissen, bin ich Abgeordneter des
dortigen Wahlkreises.
({3})
Ich werde hier so reden, dass ich es in der gleichen
Form auch in Wittstock vertreten kann. Wir sind uns einig
und wissen, dass wir als Abgeordnete für Gesamtdeutschland zuständig sind und die Verantwortung nicht teilen
können.
({4})
Ich sage Ihnen jetzt einmal etwas zur Vergangenheit:
Die mit Nordhorn-Range verbundenen Belastungen bestehen - das sollten Sie wissen, wenn Sie sich damit beschäftigt haben - wesentlich länger als die mit Wittstock
verbundenen Belastungen, nämlich seit den 30er-Jahren.
Ich sage Ihnen von der SPD einmal etwas zu den Abläufen: 1994 gab es einen Ministerpräsidenten der SPD,
der Bundeskanzler werden wollte. Er hieß Scharping.
Dieser Ministerpräsident hat im Vorfeld der Wahlen in
Nordhorn gesagt: Sobald ich Bundeskanzler bin, wird
Nordhorn-Range geschlossen.
({5})
Er ist nicht Bundeskanzler geworden. Angesichts der jetzigen Situation sind darüber vielleicht auch Sie ganz froh.
1998 kam ein weiterer Ministerpräsident der SPD, der
Schröder hieß. Er ist allerdings Bundeskanzler geworden.
({6})
Er hat den Menschen gesagt: Sobald ich Bundeskanzler
bin, wird Nordhorn-Range geschlossen.
({7})
Es ist nicht gesagt worden: Die Belastungen werden reduziert. Es war damals schon verlogen und unehrlich. Ich
finde es unanständig, mit Bürgerinitiativen in solchen Gegenden so umzugehen.
({8})
Auch als Scharping 1998 in Wittstock war, hat er gesagt:
Sobald die SPD regiert, wird Wittstock geschlossen.
({9})
Das alles ist nicht wahr geworden. Ich finde, Sie müssen sich überlegen - das gilt für die SPD, das gilt aber
auch für die Grünen, die immer so tun, als hätten sie enge
Kontakte zu den Bürgerinitiativen; Herr Nachtwei, Sie
wissen genau, was ich meine -, wie Sie mit den Gefühlen
dieser Menschen umgehen. Sie spielen mit ihnen und das
ist unanständig.
({10})
- Sie wissen genau, dass es stimmt.
Herr Niebel hat schon darauf hingewiesen, dass es dort
Initiativen gibt, die darauf Wert legen, dass Wittstock beibehalten wird. Die Stadt Wittstock hat sich dazu geäußert.
Ich sage Ihnen noch Folgendes, Herr Schmidt - Sie kennen ja die Mehrheitsverhältnisse im Land Brandenburg -:
Der Landtag Brandenburg hat sich im vorigen Jahr gegen
einen Antrag ausgesprochen, der die Beendigung der militärischen Nutzung in der Kyritz-Ruppiner Heide zum
Gegenstand hatte, und zwar mit den Stimmen der SPD
und auch der CDU. Es ist also offenkundig, dass Sie hier
ein doppeltes Spiel treiben. Das ärgert mich.
({11})
Sie sollten den Mut haben, den Menschen reinen Wein
einzuschenken.
Da sich der Parlamentarische Staatssekretär, den ich
persönlich sehr schätze, weil er immer sehr korrekt antwortet,
({12})
im Moment nicht äußert, will ich Ihnen mitteilen, was er
über die militärische Notwendigkeit des Standortes Wittstock sagt. In einem Schreiben an den Verteidigungsausschuss vom 25. April 2001 - ich fasse das etwas zusammen - stellt der Parlamentarische Staatssekretär Kolbow
fest - ich glaube, er ist für die Analyse der Position der
Bundesregierung zuständig -, der Bedarf der Luftwaffe
an dem Luft-Boden-Schießplatz Wittstock bestehe unverändert. Die vollständige Verlagerung ins Ausland sei nicht
möglich. Übungsmöglichkeiten müssten auch in Deutschland erhalten bleiben. Aufgrund seiner Größe und Lage in
vergleichsweise dünn besiedeltem Gebiet biete Wittstock
hervorragende Möglichkeiten. Man wolle sich aber
bemühen, die Zahl der Waffeneinsatzübungen auf den
Plätzen Nordhorn und Siegenburg zu reduzieren.
({13})
Vor diesem Hintergrund ist das, was Sie hier betreiben,
reine Schaumschlägerei.
({14})
Ich warte nur darauf - wenn das geschehen sollte,
werde ich auch etwas sagen -, dass meine Bundestagskollegin Monika Heubaum, die, glaube ich, heute nicht
anwesend ist, zusammen mit anderen SPD-Abgeordneten
aus Niedersachsen und mit den Grünen - die unterschreiben ja alles, was sich gegen das Militär und die Bundeswehr richtet, stimmen aber gleichzeitig für Militäreinsätze, weil sie meinen, dass das dem Regierungserhalt
diene ({15})
einen Antrag einbringt, in dem das genaue Gegenteil gefordert wird.
({16})
- Herr Nachtwei, Sie sind scheinheilig. Das wissen Sie
genau. Wir werden in Nordhorn noch einmal darüber diskutieren. Ich finde das, was Sie machen, unehrlich und
nicht überzeugend, weil Sie die Menschen belügen. Leider ist das wahr.
({17})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Kurt Palis von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als Abgeordneter eines Wahlkreises mit
drei Truppenübungsplätzen ist mir natürlich eines geläufig: Militärische Übungen sind allzumal mit Belastungen
und Belästigungen für die in der Nähe wohnende Bevölkerung verbunden.
({0})
Insofern habe ich Verständnis für Menschen, die sich für
die Beseitigung bzw. Verhinderung derartiger Beeinträchtigungen einsetzen. In den beiden vorliegenden Anträgen
wird der Widerstand von Betroffenen aufgegriffen.
Nun ist unter uns nahezu unbestritten, dass militärische
Übungen sein müssen. Dies wird im Grundsatz auch von
den Antragstellern anerkannt.
({1})
Wenn aber tatsächlich auf die militärische Nutzung der
strittigen Orte bei Wittstock und Viernheim - darauf zielen beide Anträgen ab - völlig verzichtet werden soll,
müssen meines Erachtens zwei Bedingungen unbedingt
erfüllt sein. Erste Bedingung: Die Nutzung bzw. die geplante Nutzung übersteigt deutlich das Maß an Belastungen, die anderenorts zugemutet werden. Zweite Bedingung: Alternativen mit weniger Belastungen für die
Menschen erscheinen realisierbar.
Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, will ich am
heutigen Tag der Einbringung der beiden Anträge nicht
erörtern. Ich bedauere es, dass es schon im Parlament zu
heftigen Kontroversen gekommen ist; denn schließlich
hat jeder hier nur drei bis fünf Minuten Redezeit. Lasst
uns doch in Ruhe die Dinge erörtern! Ich komme darauf
noch zurück.
({2})
Wir werden uns im Verteidigungsausschuss sorgfältig beraten müssen. Da es sich bei beiden Vorlagen um interfraktionelle Gruppenanträge handelt, werde ich mich
dafür einsetzen, dass Initiatoren aus allen Parteien zu den
Beratungen hinzugezogen werden, auch wenn sie keine
Mitglieder des Verteidigungsausschusses sind.
({3})
Dass dem Anliegen der Antragsteller nicht mit leichter
Hand entsprochen werden kann, dürfte aber allen Interessierten bereits heute bewusst sein. Um dies in wenigen
Punkten zu dokumentieren, lassen Sie mich Folgendes zu
bedenken geben:
Erstens - zum Antrag „Völlige Freigabe des Viernheimer/Käfertaler/Lampertheimer Waldes von der verbliebenen militärischen Nutzung“: Nicht die Bundeswehr, sondern die US-Streitkräfte sind die Nutzer. Sie nutzen die
Übungsflächen mit 37 Truppenteilen und die Auslastung
beträgt 90 Prozent.
Zweitens. Das NATO-Truppenstatut verschließt dem
Bund die Möglichkeit einer leichten und schnellen Freigabe.
Drittens. Können wir insbesondere nach den Erfahrungen des 11. September vorigen Jahres einerseits circa
900 Bundeswehrsoldaten zur Bewachung von US-Einrichtungen abstellen, andererseits den US-Bündnispartnern die Übungsmöglichkeiten beschneiden?
({4})
Ich wiederhole: Das ist keine inhaltliche Diskussion,
sondern das sind Gedankenspiele, die wir in den Erörterungen, die vor uns liegen, zu beachten haben.
({5})
Beim Antrag zur zivilen Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide gilt es zu bedenken:
Erstens. Der Bedarf, Luftstreitkräfte auf hohem Stand
einsatzbereit zu halten, ist angesichts des sicherheitspolitischen Engagements unseres Landes nicht zu bestreiten.
Zweitens. 70 Prozent der fliegerischen Waffenausbildung finden ohnehin im Ausland statt. Einer weiteren Verlagerung des Übungsbetriebes ins Ausland sind Grenzen
gesetzt.
Drittens. Ohne die Aufteilung auf drei Luft-BodenSchießplätze in Deutschland ist eine Entlastung der seit
vielen Jahren von Fluglärm betroffenen Bevölkerung im
Umland von Siegenburg und Nordhorn kaum vorstellbar.
({6})
Viertens. Die Nutzungspläne der Bundeswehr unterscheiden sich von der früheren Nutzung durch die ehemalige UdSSR sowohl quantitativ als auch qualitativ wie
Tag und Nacht.
({7})
Fünftens. Die Bevölkerung vor Ort ist gespalten; darauf hat Herr Niebel hingewiesen. Nach meiner Beobachtung bei den Besuchen dort streiten ebenso viele für die
Nutzung und Stationierung von Soldaten in der Garnison
Alt-Daber wie dagegen.
({8})
Zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir, da
das Anhörungsverfahren der Anliegergemeinden mit
dem Land Brandenburg kurz vor dem Abschluss zu stehen
scheint, das Ergebnis in unsere Beratungen miteinbeziehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und betone
zum Schluss: Es geht darum, die angesprochenen und
noch viele andere Punkte sorgfältig zu wägen.
Vielen Dank.
({9})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7764 und 14/5876 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 2000
- Drucksachen 14/3874, 14/6033 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort als erster Rednerin der Kollegin Gabriele Iwersen von der SPDFraktion.
Meine Herren, darf ich Sie
bitten, sich einmal dem Raumordnungsthema zuzuwenden.
({0})
Ich bin noch nicht angefangen.
Ich gebe
Ihnen hinterher zusätzliche Zeit.
Herr Kollege Kues, darf ich Sie um Aufmerksamkeit
bitten? - Vielen Dank.
So, Frau Kollegin Iwersen.
Schönen Dank, Herr Präsident. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor fast
einem Jahr haben wir hier im Plenum den Raumordnungsbericht 2000 zur Kenntnis genommen und allgemein als gute Arbeitsgrundlage gelobt. Jetzt haben wir die
Chance, daraus gezogene Konsequenzen zu skizzieren
und zu diskutieren. Das geht weit über den vorliegenden
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen hinaus,
denn dieser datiert vom 15. Mai. Inzwischen haben wir
natürlich weiter an den Problemen „herumgedacht.“
Festzuhalten ist, dass die Rolle der Städte für unsere
städtisch geprägte Gesellschaft in den letzten Jahren unter Wert gehandelt worden ist und dass die Forderung
nach mehr Wohneigentum und teilweise ein Überangebot
an Baugrundstücken manche Investition falsch gelenkt
hat, ganz zu schweigen von Investitionszulagen und dergleichen.
({0})
- Herr Kues, möchten Sie nicht doch vor die Tür gehen?
Sie können auch in die hinterste Reihe gehen; das wäre
ebenfalls in Ordnung.
({1})
Der Entschließungsantrag enthält leider einen Schreibfehler. Natürlich ist dort nicht von einer „zentralen Zersiedlung“, sondern von einer „zunehmenden Zersiedlung“ die Rede. Aber das gibt mir das Stichwort, hier auf
ein inzwischen geschaffenes Instrument hinzuweisen, das
die Stadtentwicklung und -belebung in den neuen Ländern unterstützen soll. Das Programm „Stadtumbau
Ost“ greift eine Fülle von kritischen Punkten und Fehlentwicklungen auf, die der Raumordnungsbericht eindeutig beschrieben hat. Positiv hervorzuheben ist die Verpflichtung der teilnehmenden Städte, zuerst ein Stadtentwicklungskonzept zu erarbeiten, das auf Expansion
verzichtet und die vorhandene Stadt- und Infrastruktur
aufwertet
({2})
sowie die Wünsche nach Wohneigentum im städtischen
Umfeld zu verwirklichen hilft, aber, wenn nötig, auch den
Rückbau nicht mehr genutzter Bausubstanz einschließt.
Was die Landesentwicklungspläne nicht durchsetzen
können, muss jetzt leider einmal wieder durch öffentliche
Gelder angekurbelt werden. Aber ich denke, das ist wirklich gut angelegtes Geld, auch wenn die Opposition in der
Regel erst einmal mehr fordert.
Das neue Instrument hat noch keine Wirkung entfaltet.
Ich glaube, Herr Goldmann hat das einmal im Ausschuss
kritisiert. Das kann auch noch nicht der Fall sein, denn das
Programm ist eingebettet in die über 30 Seiten lange „Verwaltungsvereinbarung über die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes an die Länder nach Art. 104 a Abs. 4
des Grundgesetzes zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen“. Da dieses gerade erst, nachdem es mit 16 Ländern verhandelt werden musste, unterschriftsreif geworden ist, konnte es selbstverständlich noch keine Wirkung
entfalten.
({3})
Besonders hervorzuheben ist der Punkt Wohneigentumsbildung in innerstädtischen Altbauquartieren. Förderungsfähig sind Instandsetzungs- und Modernisierungsinvestitionen der Eigentümer, die ihre Wohnung aus
dem Altbaubestand nach dem 31. Dezember 2001 erworben haben. Das ist gerade erst einen Monat her. Das heißt,
auch diese Maßnahme läuft erst an. Dabei kann die Förderung bis zu 5 000 Euro höher ausfallen als die geltende
Eigenheimzulage. Darin soll der Anreiz liegen, in den
Städten zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.
Wichtig ist mir vor allem die Forderung und Förderung
eines mit den Wohneigentümern abgestimmten integrierten Stadtentwicklungskonzeptes, welches eine Wohnungsbedarfsentwicklung und deren Umsetzung verpflichtend beinhaltet. Es gibt eine Verabredung mit den
Eigentümern, denn das Konzept schließt natürlich den
Rückbau ein. Wir wissen, dass es da Probleme gegeben
hat. Nachdem angekündigt worden war, der Rückbau
könne finanziell unterstützt werden, war die Bereitschaft
dazu plötzlich nicht mehr vorhanden.
Nichts ist abschreckender als Straßenzüge, die dem
Verfall anheim gegeben sind. Wir kennen das: „In den
öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen.“
Hoffen wir also, dass sich der Stadtumbau Ost positiv
entwickelt, und vergessen wir trotzdem nicht, dass auch
im Westen Städte langsam aussterben.
Natürlich gibt es in den alten Ländern Wachstumsregionen mit ganz eigenen Problemen und mit einem sehr
angespannten Wohnungsmarkt, aber es gibt auch strukturschwache Räume, die durch den Verlust von nicht
mehr konkurrenzfähigen Wirtschaftssektoren wie Textilindustrie, Bergbau, Stahl- und Werftindustrie ähnliche
Strukturmerkmale aufweisen, wie wir sie aus den strukturschwachen Gebieten der neuen Länder kennen.
Kennzeichnend sind auch dort eine hohe Arbeitslosenquote von 15 bis 20 Prozent, bezogen auf die direkte
Stadtregion, eine geringe Investitionstätigkeit, hohe Bevölkerungsverluste - etwa 20 Prozent seit Mitte der 60erJahre -, ein hoher Grad an optischer und materieller Umweltzerstörung, also Gewerbe- und Industriebrachen mit
vielen Altlasten, Wohnungsleerstände in den Nachkriegssiedlungen und in den Großsiedlungen der 60erund 70er-Jahre, die durchaus im negativen Sinn mit der
Platte konkurrieren können.
Betrachtet man im Raumordnungsbericht das Kapitel
Bevölkerungsentwicklung, wird man schnell erkennen,
dass es sich hier nicht lohnt, auf neue Mieter zu warten.
Auf den entspannten Wohnungsmärkten dieser alten Industrieregionen findet ein qualitativer Ausleseprozess
statt, der nicht ohne punktuellen Rückbau, besonders bei
den familienfeindlichen Hochhäusern, beendet werden
kann. Aber nicht alles kann öffentlich gefördert werden.
Damit muss man sich leider abfinden. Ich bin trotzdem
Minister Bodewig dankbar, dass er den Begriff „Stadtumbau West“ zumindest in die Diskussion gebracht hat.
({4})
Bedenkt man nun, dass jede Stadt ständig eine gewisse
Substanzerneuerung - sowohl im Wohnungsbau wie auch
im gewerblichen Bau und bei der Infrastruktur - braucht,
kann man nur hoffen, dass die Weichen in den Städten
richtig gestellt werden, damit diese Investitionen nicht
fehlgeleitet werden.
({5})
Woran sollen sich die Städte und Gemeinden nun orientieren? Da hilft wieder ein Blick in den Raumordnungsbericht, diesmal in das Kapitel „Tendenzen der
künftigen Raumentwicklung“. Neben allgemeinen Rahmenbedingungen, von denen die zukünftige Raumentwicklung abhängt, werden Abschätzungen sektoraler regionaler Trends vorgestellt. Hier finden wir langfristige
Tendenzen der Bevölkerungsentwicklung, des Erwerbspersonenpotenzials, der Arbeitsplätze, der Haushalte, der
Wohnungen und der Siedlungsflächen in den Teilgebieten
des Bundesgebiets als so genannte Regionalprognosen.
Daraus lassen sich Trendabschätzungen der Raumentwicklung ableiten, die als Grundlagen für die fachliche
und politische Diskussion überaus wertvoll sind. Aber eines ist völlig klar: Erfahrungsgemäß wird jede Gemeinde
gegen diese Prognosen ankämpfen.
Es lässt sich nicht leugnen: Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich, kommt zum Teil sogar zum Stillstand oder schlägt in Bevölkerungsverluste um. Die Sterbeüberschüsse werden größer, die Wanderungsgewinne
kleiner. Bis zum Jahr 2015 wächst die Bevölkerung wahrscheinlich auf 83,5 Millionen Einwohner. Das sind noch
einmal 1,5 Millionen mehr als heute, obwohl den prognostizierten - also erhofften - 13,4 Millionen Geburten
etwa 17,7 Millionen Sterbefälle gegenüberstehen. Weil
die Zuwanderer sich nicht gleichmäßig über das Land verteilen und noch immer eine innerdeutsche Wanderung von
Ost nach West stattfindet, wirkt sich das bescheidene
Wachstum der Gesamtbevölkerung regional sehr unterschiedlich aus. Das wirkt sich natürlich auch auf den Bedarf an zusätzlichem Wohn- und Gewerberaum und an öffentlicher Infrastruktur aus.
Die BBR spricht außerdem von einem aktiven Disurbanisationsprozess, hervorgerufen durch Wanderungen
von den höher verdichteten in die weniger verdichteten
Regionen.
Eine weitere Veränderung trifft die Agglomerationen
überproportional: Die Großstadtbevölkerung ist nämlich
in der Regel älter und deshalb stärker von den Sterbeüberschüssen betroffen. Die Entwicklung wird sich aber
in Ost und West unterschiedlich vollziehen und hängt
stark von der Sogwirkung der erst im Entstehen begriffenen Agglomerationen, also der Großräume Berlin, Leipzig und Dresden, ab. Ihr Bevölkerungszuwachs wird zulasten der ländlichen ostdeutschen Kreise gehen.
In kleinräumlicher Sicht verlieren die Kernstädte
durchweg Anteile zugunsten ihres Umlands. Das ist in Ost
und West gleich. Da diese ringförmigen Verdichtungen
meist in kurzer Zeit von einer einzelnen Generation, nämlich den jungen Familien mit Kindern, besiedelt werden,
wird als Spätfolge der Suburbanisierung die Alterungsdynamik dort viel dramatischer in Erscheinung treten als in
den Kernstädten mit ihrer altersgemischten Bevölkerung.
Das kann zu Problemen hinsichtlich der Aufrechterhaltung funktionsfähiger regionaler Arbeitsmärkte und Versorgungsmärkte führen, im Osten früher als im Westen,
weil die Zielgebiete der Zuwanderung, also der Außenwanderung, wohl weiterhin im Westen liegen werden.
Wegen dieser ständigen Verschiebungen der Bevölkerungsdichte bei tendenziell abnehmender Gesamtbevölkerung brauchen wir uns keine Sorge zu machen, dass unsere
Nachfolger hier im Bundestag, in den Landtagen oder auch
in den Gemeinden keine Aufgaben mehr haben werden,
wenn wir schon jetzt den Stein der Weisen für den Stadtumbau Ost oder West finden. Jede Generation schafft sich
ihre eigenen Probleme und Bedürfnisse. Städte sind wie lebendige Organismen. Sie verändern und erneuern sich
ständig. Sonst sind sie nicht gesund. Eine gute Stadt ist
deshalb eine Baustelle und das soll auch so bleiben.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
({6})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Raumordnungsbericht 2000, den wir ja
schon vor einem Jahr diskutiert haben und der vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung erarbeitet
wurde - einen entsprechenden Dank haben wir schon letztes Jahr ausgesprochen -, legt die Bundesregierung erstmals seit 1993 einen Bericht zur räumlichen Situation im
gesamtdeutschen Raum einschließlich der europäischen
Perspektive vor.
Man kann es nicht oft genug sagen - der Bericht bestätigt dies -, dass die Regierung Kohl zwischen 1982 und
1998 durch ihre weitsichtige Raumordnungspolitik eine
hervorragende Ausgangsposition geschaffen hat,
({0})
die das Zusammenwachsen der alten und neuen Bundesländer und den Wohlstand für Generationen in Deutschland gewährleistet. Auch der ehemalige Wohnungsbauminister hat dazu beigetragen.
({1})
Ich erinnere nur an den großen Einsatz raumwirksamer
Mittel, die sich im Zeitraum 1991 bis 1998 auf rund
1,8 Billionen DM beliefen und von denen die neuen Bundesländer einen Anteil von 53 Prozent erhielten. Damit
haben sich die Lebensverhältnisse in den einzelnen Teilräumen des Bundesgebietes deutlich angeglichen. Maßgeblich dazu beigetragen haben auch die Bereiche Städtebauförderung und Wohnen sowie Verkehrsinfrastruktur,
für die 91 Milliarden DM bzw. 173 Milliarden DM aufgewendet wurden. In die Telekommunikation wurden allein in den neuen Bundesländern 50 Milliarden DM investiert.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind
dabei, diese sehr guten Vorgaben durch Ihre Untätigkeit
bzw. durch Fehlentscheidungen zu verspielen.
({2})
Zum Beispiel signalisiert die Entwicklung der Baugenehmigungen zu Beginn des neuen Jahrzehnts starke
Einbrüche bei allen drei Säulen des Wohnungsbaus, nämlich bei dem frei finanzierten Mietwohnungsbau, dem Eigenheimbau sowie dem sozialen Wohnungsbau. Für das
frühere Bundesgebiet, vor allen Dingen für die Gebiete
mit stärkerer wirtschaftlicher Wachstumsdynamik, wird
deshalb in der Fachwissenschaft und in der Wohnungswirtschaft das zunehmende Risiko eines Wohnungsbauzyklusumbruchs mit steigenden Versorgungsdefiziten
und Mietpreisen mit der Forderung nach einem rechtzeitigen Gegensteuern aufgezeigt.
Ihre im Gesetzgebungsbereich vorgenommenenVeränderungen bei den investiven Rahmenbedingungen - so
durch ein neues Mietrecht, durch die Umlenkung von
Sparanreizen zulasten der Immobilie, die Reform des
Wohnungsbaurechts in Verbindung mit einem finanziellen Ausstieg des Bundes - tragen im Zusammenwirken
mit den sich verschlechternden gesamtwirtschaftlichen
Wachstumsperspektiven zu einer weiteren Verschärfung
des Negativtrends in der Wohnungsversorgung bei.
Meine Damen und Herren von der Koalition, diese
Ausführungen sind nur ein Teil Ihrer Fehlentscheidungen.
Ich nenne Ihnen jetzt nur ein gebrochenes Wahlversprechen der Schröder-Regierung - tatsächlich sind es viel
mehr -: Vor der Bundestagswahl haben SPD und Grüne
nicht nur Bundesfinanzhilfen für ein neues Großsiedlungsprogramm, sondern auch eine massive und dauerhafte Aufstockung der traditionellen Städtebauförderung
in Aussicht gestellt.
({3})
Noch für den Bundeshaushalt 1998 beantragten die SPDWohnungspolitiker eine Verdoppelung der Städtebaufördermittel von derzeit 600 Millionen DM auf 1,2 Milliarden DM und bezeichneten eine Aufstockung sogar auf
2 Milliarden DM als wünschenswert.
({4})
Als verbaler Löwe gestartet und als Bettvorleger gelandet!
({5})
Das gilt auch für die magere finanzielle Ausstattung
des Programms „Soziale Stadt“, das die erklärten Ziele
und „alle stadtentwicklungspolitisch relevanten Ressourcen, insbesondere Wohnungsbaufinanzierung, Straßenverkehr, Arbeits- und Ausbildungsförderung, Jugendhilfe,
Wirtschaft und Industrie“, bündeln und einbinden will.
Wie wollen Sie denn mit so wenig Geld Ihre Träume verwirklichen? Dazu müssten Sie für das Programm „Soziale
Stadt“ mehr Geld ausgeben.
({6})
Ich komme nun zu Ihrem Entschließungsantrag zum
Raumordnungsbericht. Der ländliche Raum kommt darin überhaupt nicht vor, obwohl gerade die Stärkung des
ländlichen Raumes und der Regionen heute eine der
großen Zukunftsaufgaben ist. Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und Märkte verlangt Regionalisierung; das heißt Stärkung der regionalen Märkte und darüber hinaus der regionalen politischen Institutionen und
des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wir sprechen dem
ländlichen Raum einen Eigenwert zu, bekennen uns zu
seiner Qualität und sind für ein flächendeckendes Netz
zentraler Orte, während die Koalition nur von einem Ausgleichsraum spricht und auch danach handelt.
Mit unserem heutigen Nein zu lhrem Entschließungsantrag dokumentieren wir auch Ihre eindeutige Absage an die noch wahltaktisch in der Entschließung
verbrämte Forderung nach Anpassung der Eigenheimförderung an die Bedürfnisse einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Nach der Ausschussberatung vor rund einem Jahr sind die rot-grünen Absichten unüberhörbar
geworden, in der nächsten Wahlperiode das Eigenheimzulagengesetz, das von uns geschaffene wichtigste Standbein der Wohneigentumsförderung, zumindest für den
Neubaubereich weiter abzubauen.
({7})
Ich gehe allerdings wie der Kollege Oswald davon aus,
dass Sie nach dem 22. September nicht mehr an der Regierung sein werden
({8})
und keine weiteren Fehlentscheidungen gegen das
Wohneigentum unter raumordnungspolitischen, sozialen
oder fiskalischen Deckmäntelchen mehr treffen können.
Im Übrigen spricht Ihr Antrag nur von Wollen oder Sollen - Handeln wäre angesagt.
({9})
- Frau Kollegin Iwersen, das habe auch ich schon einmal
gemacht.
Der Raumordnungsbericht befasst sich auch intensiv
mit dem Bereich der Verkehrsinfrastruktur und zeigt
ganz deutlich, dass eine gut ausgebaute Infrastruktur
äußerst wichtig für die Standortpolitik ist. Es ist doch unbestritten, dass Standortpolitik etwas mit Verkehrserschließung, nämlich mit Straße, Schiene, Wasser- und
Flugverkehr, zu tun hat. Standortentscheidungen sind deshalb auch weiterhin durch Raumordnung beeinflussbar.
Und was macht die rot-grüne Bundesregierung?
({10})
Sie war bisher nicht in der Lage - vielleicht aber auch
nicht dazu fähig -, Lösungsansätze für alle Fragen, die sich
aus diesem wirklich guten Bericht für die Zukunft
ergeben, aufzuzeigen. Man eiert herum, fabriziert Programme. Es gibt ein Investitionsprogramm, das ein Kürzungsprogramm ist. Das Zukunftsinvestitionsprogramm,
mit großem Pomp verkauft, gleicht die Kürzungen nur zur
Hälfte aus. Das Anti-Stau-Programm und das Maßnahmenpaket „Bauen jetzt - Investitionen beschleunigen“ sind Mogelpackungen oder Luftnummern; denn sie können, wenn
überhaupt, frühestens ab dem Jahr 2003 in Angriff genommen werden, da sie aus der LKW-Maut finanziert werden
sollen, deren Einführung zum 1. Januar 2003 keinesfalls gesichert ist, da die Systementscheidung noch nicht getroffen
wurde. Also beeilen Sie sich, wenn Sie dieses Programm zu
Beginn des Jahres 2003 einführen wollen!
({11})
In Ankündigungen und Versprechungen sind Sie wirklich groß. Aber die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft sind schon hinter Ihre Sprüche gekommen. Sie haben gemerkt, dass mit all Ihren Programmen kein
Kilometer mehr gebaut wird. Es läuft alles nach dem
Motto „Propaganda rauf, Baumaßnahmen runter“. Außerdem werden alle mit der so genannten Ökosteuer, die den
Namen nicht verdient, abgezockt, ohne dass davon Geld in
den Straßenbau, zum Beispiel für Ortsumgehungen, fließt.
({12})
Wirtschaftswachstum und Verkehrsleistungen haben
viel mit Arbeitsplätzen zu tun; Frau Kollegin Iwersen, das
haben Sie ja auch ausgeführt. Gerade in einer vorausschauenden und vorausplanenden Raumordnung ist der
Erhalt von Arbeitsplätzen in wirtschaftlich schwachen
Regionen wichtig. Deshalb kann es manchmal durchaus
Sinn machen, wenn sich der Bundeskanzler - er hat ja immerhin vollmundig getönt, dass er und die Koalition es
nicht verdienen, wieder gewählt zu werden, wenn es ihm
nicht gelingt, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen
zu senken - bemüht, in strukturschwachen Gebieten
Arbeitsplätze zu erhalten. Der Kanzler lässt sich in
Ammendorf rechtzeitig zur Wahl in Sachsen-Anhalt
feiern, wobei die Arbeitsplätze wahrscheinlich nur bis
nach der Bundestagswahl sicher sind. Ein Schelm, der
Wahlkampf dahinter vermutet!
({13})
Eine interessante Pressemeldung von gestern lässt allerdings aufhorchen. Es heißt, Bahnchef Mehdorn fordere
für Aufträge zur Rettung des Werkes in Ammendorf das
„Ministeropfer“, also die Entlassung Bodewigs. Dass
Minister Bodewig mittlerweile zwischen den Stühlen von
Schröder und Mehdorn aufgerieben wird, pfeifen schon
die Spatzen von den Dächern. Doch dass sich der Bahnchef jetzt aktiv um Bundesminister kümmert und Entlassungen oder Einstellungen fordert, lässt deutliche Rückschlüsse auf den desolaten Zustand der Bundesregierung
zu.
({14})
Sollte der Bundeskanzler tatsächlich die Deutsche
Bahn genötigt haben, bei künftigen Auftragsvergaben im
Rahmen des 10-Milliarden-Euro-Pakets zur Erneuerung
des Fahrzeugparks stärker an Ammendorf zu denken, als
dies der Marktvergleich mit den Wettbewerbern eigentlich zulässt, wird ihn das unabhängig vom Wettbewerbsverstoß woanders Wählerstimmen kosten.
({15})
- Frau Kollegin, vielleicht sollte der Bundeskanzler in der
nächsten Zeit viel reisen;
({16})
denn es gibt aufgrund der von der Bundesregierung zu
verantwortenden schlechten Rahmenbedingungen viele
Arbeitsplätze in der Verkehrsbranche zu retten. Mir fallen
hier insbesondere die Arbeitsplätze in den Ausbesserungswerken - ob in Nürnberg oder in den neuen Bundesländern -, in der Verkehrstechnik, im Transportgewerbe und in der mittelständischen Bauwirtschaft ein.
({17})
Die CDU/CSU-Fraktion und Edmund Stoiber werden
alles tun, damit Deutschland wieder ein attraktiver und
international wettbewerbsfähiger Standort wird.
({18})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Kollegin Renate Blank, für den Wahlkampf müssen Sie
noch ein bisschen üben, aber bis dahin ist ja noch Zeit.
({0})
Ich möchte zunächst zwei Punkte richtig stellen: Erstens haben Sie behauptet, eine der Koalitionsfraktionen
hätte vor der letzten Wahl ein groß angelegtes Großsiedlungsprogramm gefordert. Ich kenne das nicht. Ihr müsst
einmal sagen, wo das gewachsen ist; denn von uns ist es
nicht.
Zweitens haben Sie behauptet, diese Koalition hätte
die Städtebauförderung praktisch nicht vorangebracht.
Dazu kann ich nur sagen: Wir haben es geschafft. Wir haben die Mittel für die Städtebauförderung aufgestockt.
Wir haben das Programm „Soziale Stadt“, das Programm
„Stadtumbau Ost“ mit 5,5 Milliarden DM aufgelegt. Wir
haben auch das Altbausanierungsprogramm auf den Weg
gebracht. - Ich weiß nicht, was Sie noch wollen und
warum Sie das, was wir getan haben, überhaupt nicht
wahrnehmen.
({1})
Aber nun zum Raumordnungsbericht. Ich möchte zu
zwei Punkten, die mir sehr wichtig sind, etwas sagen:
Erstens. Der Raumordnungsbericht legt in dramatischer Form das Ost-West-Gefälle, das wir nach wie vor
haben, dar.
({2})
Dies wird anhand einer aktuellen Arbeitslosengrafik sehr
deutlich. Darin stehen sich der „goldene Osten“ mit einer
offiziellen Arbeitslosenquote zwischen 12 und 22 Prozent
und der „blaue Südwesten“ mit einer Arbeitslosenquote
von maximal 6,9 Prozent gegenüber.
({3})
Ich zeige diese Grafik, weil im Raumordnungsgesetz
- bitte machen Sie sich die Mühe, einen Moment zuzuhören, Sie können auch heute noch etwas lernen - drei
sehr wichtige Aufgaben stehen, von denen ich mir gewünscht hätte, sie wären heute früh im Rahmen der Diskussion um den Stand der deutschen Einheit in den Raum
gestellt worden:
Erstens. In allen Teilräumen sollen gleichwertige Lebensverhältnisse geschaffen werden. Das ist bis heute
nicht geleistet.
Zweitens. Die räumlichen und strukturellen Ungleichgewichte zwischen den bis zur Herstellung der Einheit
Deutschlands getrennten Gebieten sollen ausgeglichen
werden. Das ist ein ganz wichtiges Ziel.
Drittens. Die räumlichen Voraussetzungen für den Zusammenhalt in der Europäischen Gemeinschaft und im
größeren europäischen Raum sollen geschaffen werden.
Ich sage dies hier nicht mit einem Vorwurf in die eine
oder andere Richtung, sondern ich möchte uns alle gemeinsam werben: Wenn wir das Raumordnungsgesetz
ernst nehmen, ist es unsere zentrale Aufgabe, parteiübergreifend und gemeinsam die Wirtschaftskraft des
Ostens langfristig zu stärken und dies als Daueraufgabe
zu begreifen, solange wir solche Grafiken in den Raum
stellen müssen.
({4})
Ich wünschte mir, Herr Stoiber hielte nicht nur Sonntagsreden und Bayern würde sich hier aktiv unterstützend zur
Verfügung stellen.
({5})
- Genau. Er sollte das, was er samstags sagt, auch einmal
an Donnerstagen vortragen.
({6})
Lassen Sie mich ein zweites Thema aufgreifen, nämlich die Zersiedelung und das soziale Auseinanderdriften
der Gesellschaft. Ich war sehr erstaunt darüber, dass Frau
Kollegin Blank gesagt hat, die wichtigste Aufgabe einer
möglichen schwarzen Regierung sei das weitere Vorantreiben der Zersiedelung. Ich kann nur sagen: Herzlichen
Glückwunsch, Sie haben den Raumordnungsbericht nicht
verstanden.
Die zunehmende Zersiedelung ist nicht nur ökologisch
ein Problem; denn mit ihr geht das soziale Auseinanderdriften unserer Gesellschaft einher: In den Städten gibt
es inzwischen eine Überalterung, die Zahl der Singlehaushalte nimmt zu, die Kinder dort leben überwiegend in
sozial problematischen Familien, während all die Familien, die es sich finanziell leisten können, in das Umland
abwandern. Diese Entwicklung ist aber auch aus volkswirtschaftlichen Gründen problematisch; denn dass unsere Kommunen immer mehr Infrastruktur für immer weniger Menschen bereitstellen müssen, führt ebenso zu
einer zunehmenden Belastung.
Wer sich über die fehlende Finanzkraft der Kommunen
erregt, muss auch dieses Thema endlich einmal ernst nehmen; denn die dramatische Unterauslastung der Städte
hinsichtlich Kitas, Schulen und anderen Einrichtungen
korrespondiert mit dem ständigen Neubedarf entsprechender Infrastruktureinrichtungen im Umland. Wir müssen da gegensteuern.
({7})
Ich werbe bei allen dafür, dass wir diese schwierige
und zentrale Aufgabe, nämlich die Stärkung der Städte
bezüglich der Finanzen, der Infrastrukturausstattung und
der Infrastrukturerneuerung sowie das Halten und Binden
der Bevölkerung, damit die Stadtgesellschaft sozial gemischt ist, in der nächsten Legislaturperiode angehen. Ich
wünsche mir, dass sich möglichst viele daran beteiligen,
diese Aufgabe zu lösen, weil es sehr schwierig wird, dies
gesellschaftlich zu vermitteln und zu realisieren. Ansonsten gehen unsere Kommunen und Städte über kurz oder
lang vor die Hunde. Von daher sollten wir uns dieser
Verantwortung gemeinsam stellen und uns nicht gegeneinander ausspielen.
({8})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hans-Michael Goldmann von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Raumordnungsbericht 2000 ist bei uns im
Ausschuss breit behandelt worden. Es wurde die Feststellung getroffen, dass der deutsche Raum bei allen Problemen, die wir haben - und wir haben Probleme -, bestens geordnet ist. Ich glaube, das muss man auch einmal
feststellen.
({0})
Ich denke, gerade unter dem Gesichtspunkt, dass wir
im Bereich des Tourismus Menschen in unser Land ziehen wollen - außerdem wollen wir die Menschen wieder
in unsere Städte ziehen, weil wir im Grunde genommen
eine Entwicklung in allen Räumen wollen -, sollte man
auch einmal sagen, dass bei uns viele Dinge außerordentlich gut geregelt sind.
({1})
Ich bin sogar der Meinung, dass es in sehr vielen Bereichen Überregelungen gibt.
({2})
Geschätzte Kollegin Eichstädt-Bohlig, deshalb geben wir
auf die Herausforderungen, die Sie zu Recht beschreiben,
keine Antworten. Das tun Sie in Ihrer Beschlussempfehlung, die Sie aus dem Bericht abgeleitet haben, auch nicht.
Wir waren uns schon im Ausschuss einig, dass wir etwas
tun müssen, damit die Bevölkerungsentwicklung so verläuft, dass sie unsere Gesellschaft trägt. Unsere Gesamtgesellschaft braucht bezüglich der sozialen Angebote und der
Bildungsangebote eine bestimmte Altersstruktur, sodass
die jungen Menschen den Alten und die alten Menschen
den Jüngeren helfen. Das ist eine völlig normale Situation.
({3})
- Ja, das ist bedauerlich. - Ich bin, wie Sie hoffentlich
auch, der Meinung, dass die Ergebnisse der EnqueteKommission insgesamt viel zu wenig Beachtung in der
Politik finden. Wir sind gerne bereit - dazu haben wir auch
Vorschläge gemacht -, die Empfehlungen aufzugreifen.
({4})
Ich spreche sehr häufig mit meiner Ex-Kollegin Lisa
Peters darüber. Sie macht mich immer wieder darauf aufmerksam, dass das eine der größten Herausforderungen
ist, vor denen wir stehen.
({5})
Frau Eichstädt-Bohlig, in dem Bericht steht, dass in
Deutschland unheimlich viel investiert wird. Ich muss leider feststellen, dass uns die Arbeitslosenzahlen - gerade
die der letzten Tage - noch einmal erschüttert haben.
In den Bereichen Bevölkerungsentwicklung, Beschäftigungsentwicklung, Strukturwandel und Chancen für den
ländlichen Raum haben Sie keine Politik betrieben, die
dem, was in dem Bericht kritisch angemerkt wird, zu einer positiveren Entwicklung verhilft. Wir werden einen
Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einbringen,
§ 35 des Baugesetzbuches so zu ändern, dass im ländlichen Raum die Möglichkeit der Nachnutzung, zum Beispiel von frei werdenden landwirtschaftlichen Betrieben,
positiver begleitet wird.
({6})
Herr Kollege Goldmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Iwersen?
Ja, bitte.
Bitte
schön, Frau Iwersen.
Herr Goldmann, unterstützen
Sie denn den Verbleib der Regelung der Freizügigkeit in unserer Verfassung oder soll sie gestrichen werden? Wenn Sie
den ländlichen Raum sozusagen mit Gewalt bevölkern wollen, und zwar auch dort, wo die Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen den Raum verlassen hat oder verlässt,
hilft doch wohl nur ein Verzicht auf die Freizügigkeit.
Liebe Frau Kollegin Iwersen, ich bin auch im raumordnerischen Bereich
ein Pazifist. Deswegen werde ich selbstverständlich keine
Gewalt anwenden. Es geht um etwas ganz anderes. Es
geht darum, ob Weichen gestellt werden, damit der ländliche Raum die ihm eigentlich zuzuordnende Aufgabe erfüllen kann.
({0})
Waren Sie bei der letzten Konferenz der Arbeitsgemeinschaft für ländliche und periphere Räume anwesend?
Ich glaube, Sie waren nicht da. Sie waren angemeldet,
sind aber nicht erschienen. Ich erinnere mich jetzt, dass
Ihr Schild „herrenlos“ herumstand.
({1})
Dort haben wir auch über die Neuordnung der Gemeinschaftsaufgabe gesprochen.
Frau Eichstädt-Bohlig hat ebenfalls einen Schlenker
gemacht und von der - ich habe mir das aufgeschrieben Stärkung der Städte gesprochen. Die finanziellen Rahmenbedingungen, die Sie geschaffen haben, haben aber
nicht zur Stärkung der Städte beigetragen.
({2})
Ich kann Ihnen gern einmal die Gewerbesteuersituation
meiner Heimatstadt Papenburg erläutern. Dadurch, dass
Sie jetzt 10 Prozent mehr Gewerbesteuer als früher abschöpfen - das verdanken wir Ihrer Gesetzgebung auf
Bundesebene -, ruinieren Sie im Grunde genommen unseren Haushalt.
({3})
- Nein, die Gewerbesteuer ist nicht unlauter, aber sie ist
genau zu dem geworden, was Sie aus ihr gemacht haben.
({4})
- Wenn Sie der Meinung sind, dass die Meyer-Werft in
Papenburg erst seit drei Jahren besteht, also seitdem Sie
an der Regierung sind, muss ich Sie vom Gegenteil überzeugen.
({5})
- Herr Schmidt, wir können uns gerne darüber unterhalten, obwohl das eigentlich nicht hierher passt: Die Stadt
Papenburg schiebt durch ihren aktuellen Haushalt eine
Zinslast in Höhe von 85 000 Euro, weil der Bund und das
Land die uns zugesagten GA-Mittel nicht zur Verfügung
stellen. Das ist die Realität. Aber wir können das gerne
vertiefen.
({6})
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken, der mir wichtig ist, anführen. Ich bin für Entbürokratisierung, Liberalisierung und Eigentumsbildung. Wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie die vorhandenen Programme vor
Ort möglichst schnell Wirkung entfalten können.
Ich bin letzte Woche Donnerstag in Cottbus gewesen;
({7})
ich war vorher noch nie dort. Ich war betroffen: 27 Prozent Arbeitslosigkeit, 10 000 Wohnungen sollen abgerissen werden. Es gibt vier Programme, aber die kann keiner
handhaben. Die Programme sind nicht aufeinander abgestimmt und entfalten vor Ort eben nicht die Wirkung, die
sie haben sollten, weil es einen Kompetenzstreit zwischen
den Kommunen, den Ländern und dem Bund gibt. Zudem, liebe Frau Eichstädt-Bohlig, führen sie nicht zu dem,
was Sie vorhin eingefordert haben, nämlich zu einer
Wohnumfeldverbesserung, und sind im Grunde genommen sanierungsorientiert. Für Sanierungen müssen Sie
aber Sanierungsgebiete festlegen, was dazu geführt hat,
dass Sie im Grunde genommen keinen Schritt weitergekommen sind.
Herr Kollege Goldmann, bitte kommen Sie zum Schluss.
Weil die Probleme
in den neuen Ländern Probleme sind, die uns alle zutiefst
berühren, biete ich Ihnen ausdrücklich unsere Zusammenarbeit an. Aber gehen Sie bitte davon aus, dass die
Herausforderungen, vor denen gerade die Städte in den
neuen Ländern stehen, mit der derzeitigen Ausgestaltung
der Programme nicht zu bewältigen sind. Frau Iwersen hat
selbst gesagt: 30 Seiten Durchführungsverordnung machen jede Investition vor Ort kaputt.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Ostrowski von der PDSFraktion.
Herr Präsident! An Berichten mangelt es uns
wahrlich nicht. Dieser Bericht, der den trockenen Namen
„Raumordnungsbericht 2000“ trägt, unter dem sich viele
nichts vorstellen können, ist meines Erachtens mit Abstand der beste, der in dieser Wahlperiode gemacht worden ist. Der Bericht enthält eine derart komplexe Analyse
der Situation in der Bundesrepublik und ihren Regionen,
dass ich mir wünschte, er würde für alle Politiker - von
den Wirtschaftspolitikern über die Umweltpolitiker und
Sozialpolitiker bis hin zu uns, den Bau- und Wohnungspolitikern - zur Pflichtlektüre gemacht.
({0})
Mein Problem ist folgendes - ich will mich nicht in Details verlieren; denn ich habe nur drei Minuten Redezeit -:
Ich beobachte sehr häufig, dass Politiker - da will ich
viele von denen, die in diesem Saal sitzen, einbeziehen nicht auf analytischer Grundlage handeln, sondern von Interessen geleitet werden und aus dem Bauch heraus reagieren. Ich möchte Ihnen drei Beispiele nennen.
Eines stammt von heute Morgen aus der Ostdebatte. Da
sagte doch Werner Schulz, er fände überhaupt nicht, dass
ostdeutsche Regionen ausbluteten. Er sagte wörtlich, die
sollten sich einmal ein bisschen Mühe geben. Sie sollten
ihre Projekte durchführen, dann würden sie schon wieder
aufblühen. Das sagt er hier ungestraft. Ich kann nur sagen:
Wenn er den Bericht gelesen hätte und mit offenen Augen
durch die Welt ginge, dann könnte er so etwas nicht sagen,
ohne verantwortungslos zu sein;
({1})
denn ostdeutsche Regionen sind am Ausbluten; manche
sind bereits ausgeblutet. Das hat etwas mit der natürlichen
Bevölkerungsentwicklung zu tun, aber auch mit der Abwanderung, die noch hinzukommt.
Wenn man sich vor Augen führt, dass der Sterbeüberschuss so hoch ist, dass fünf Leute sterben und nur einer
geboren wird, und dass das in Zukunft noch viel schlimmer wird, weil wir nach 1989 nur eine kleine Frauengeneration bekommen haben und zudem nicht alle Frauen
dieser Generation, wenn sie einmal im gebärfähigen Alter
sind, zwei Kinder bekommen, dann weiß man, wohin der
Hase läuft. Es ist verantwortungslos, in einer solchen Debatte, die eine große Öffentlichkeit hat, eine solche Einschätzung zu treffen, wie es Werner Schulz getan hat.
Ich nenne ein zweites Beispiel. Im Raumordnungsbericht findet sich - sehr umfangreich mit Grafiken, Daten
usw. unterlegt - unter anderem die Einschätzung, dass
Deutschland das dichteste Netz an Verkehrsinfrastruktur hat. Wenn man sich die Bilder anschaut, dann stellt
man fest, dass die Bundesrepublik wie von einem Spinnennetz mit Straßen überzogen ist. Es gibt kaum einen Ort
in der Bundesrepublik, von dem aus man nicht innerhalb
von 30 Minuten eine Autobahn erreicht. Demgegenüber
ist die Erreichbarkeit der Schiene deutlich schlechter.
({2})
Wenn das so ist und wir uns dieser Analyse annehmen,
dann muss man doch einmal fragen, warum Milliarden für
den Straßenbau ausgegeben werden, während die Bahn in
der Fläche ausgedünnt wird.
({3})
Offensichtlich handeln Sie nicht auf der Grundlage der
Analyse, sondern sind von anderen Interessen geleitet.
Letztes Beispiel: Suburbanisierung. Auch das ist
hoch spannend. Frau Blank, das ist ein Prozess, der in Ihrer Regierungszeit eingesetzt hat und wahrlich nicht lobend erwähnt werden kann. Das Spannende an diesem
Prozess ist, dass er sich - aus unterschiedlichen Gründen in Ost wie West vollzogen hat. Nach dem Bericht lief das
in den alten Bundesländern wie folgt: erst die Wohnung
draußen, dann der Einzelhandel draußen und dann zog das
Gewerbe nach. In Ostdeutschland, in den neuen Bundesländern, lief es umgekehrt: erst der Einzelhandel, dann
das Gewerbe und dann sind die Leute nachgezogen. Das
hat ja wohl etwas mit Politik zu tun.
Meine Damen und Herren, wenn man weiß, dass zahlreiche Städte - in Ost wie in West - an Einwohnern verlieren, dass sie finanziell ausbluten und soziale Belastungen zu tragen haben, dann muss man sich doch einmal
ernsthaft fragen: Hinterfragen Sie denn nicht die Macht
der faktischen Politik, was Ihre Ordnungspolitik, Ihre
Raumordnungsgesetze und Ihre Förderprogramme angeht?
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich komme sofort zum
Schluss. - Offensichtlich hat doch das gesamte Instrumentarium nicht zu der Wirkung geführt, die Sie Ihren
Lippenbekenntnissen nach gerne erzielen wollen.
({0})
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine letzte Bemerkung machen.
({1})
Nein,
Frau Kollegin, es gibt keine letzte Bemerkung mehr.
Das ist sehr schade. Ich
wollte nämlich noch etwas zur Arbeitslosigkeit und zum
Versprechen des Kanzlers anmerken.
Ich war
schon sehr großzügig mit der Zeit.
Sie sind wirklich sehr
großzügig, Herr Präsident.
Frau Blank, Sie haben das Kanzlerversprechen zur Arbeitslosigkeit angeführt.
({0})
Es stimmt schon: Man muss mit Versprechungen vorsichtig sein, von denen man weiß, dass sie sehr schwer einzuhalten sind.
({1})
Helmut Kohl ist bei einem Stand von 3,8 Millionen Arbeitslosen abgetreten.
Frau
Ostrowski!
Er hatte versprochen,
die Arbeitslosigkeit zu halbieren, meine Damen und Herren.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zum Raumordnungsbericht 2000 der Bundesregierung, Drucksache 14/3874 und 14/6033. Der
Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Mante, Doris Barnett, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der
Abgeordneten Reinhard Freiherr von Schorlemer,
Eckart von Klaeden, Volker Rühe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Christian Sterzing, Helmut Lippelt,
Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann,
Ulrich Irmer, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Die Zusammenarbeit Deutschlands und Ungarns in der erweiterten Europäischen Union
- Drucksache 14/8104 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Winfried Mante für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde Ungarns, gestatten Sie mir zunächst einmal, dass ich die Vertreter der
ungarischen Botschaft - an der Spitze seine Exzellenz,
den Botschafter Herrn Pröhle - begrüße.
({0})
Ich kann Ihnen versichern, dass es im Deutschen Bundestag viel mehr Freunde Ungarns gibt, als in den ersten
Reihen Platz genommen haben. Davon können Sie ausgehen.
({1})
Es gibt aber viele gute Gründe dafür, dass sich die Abgeordneten zu diesem Zeitpunkt woanders aufhalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der 10. Jahrestag der Unterzeichnung des Deutsch-Ungarischen Vertrages über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen Ungarn und dem wiedervereinigten
Deutschland am 6. Februar war für uns Anlass, nicht nur
dieses Jubiläum zu würdigen, sondern auch den Vertragsinhalt auf seine Aktualität und die Notwendigkeit seiner
Wiederbelebung und Auffrischung zu prüfen.
Dieser Vertrag bildet seit zehn Jahren die Basis der offiziellen bilateralen Zusammenarbeit unserer Länder und
den Rahmen für die gemeinsame Arbeit auf den vielfältigsten Fachgebieten - einer erfolgreichen Zusammenarbeit, wie ich betonen möchte.
({2})
Inzwischen gehört Deutschland zu den wichtigsten Handelspartnern Ungarns und der Anteil Deutschlands an
ausländischen Investitionen in Ungarn beträgt rund
40 Prozent. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die sich der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit
besonders verpflichtet fühlen, bemühen sich innerhalb der
deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe nach Kräften,
in einem breiten parteiübergreifenden Konsens ihren Anteil für diese Entwicklung zu leisten.
Innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion bemüht sich
zusätzlich die so genannte Balaton-Gruppe darum,
({3})
der Bundesregierung einen Hinweis zu geben, dass neben
den notwendigerweise guten Beziehungen zu unseren unmittelbaren Nachbarländern Polen und Tschechien gerade
die deutsch-ungarischen Beziehungen einen besonderen
Stellenwert haben sollten.
({4})
Ich meine, dass es nicht unzulässig oder gar schädlich
ist, im gemeinsamen Bemühen aller 15 Mitgliedsländer
um Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union
auch nationale Vorlieben und Interessen deutlich zu machen. Nicht zuletzt deswegen danke ich insbesondere
meinen Kollegen Freiherr von Schorlemer - auch wegen
der Putten -, Herrn Sterzing und Herrn Dr. Haussmann
dafür, dass dieser interfraktionelle Antrag zustande gekommen ist.
Die deutsch-ungarischen Beziehungen sind historisch
reich an Gemeinsamkeiten; denn sie haben eine mehr als
1 100-jährige Geschichte und Tradition. Diese wurden
nicht nur von Fürsten- und Königshäusern geprägt; es waren die Bürgerinnen und Bürger des so genannten einfachen Volkes, die in diesem Prozess immer - das gilt eigentlich bis heute - eine tragende Rolle gespielt haben.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war überschattet
vom Ersten und Zweiten Weltkrieg und von den uns allen
bekannten Folgen: Besetzung, Vertreibung, Volksaufstand und kommunistische Vorherrschaft. Nach der Gründung des Warschauer Pakts entwickelten sich zwischen
Ungarn und der ehemaligen DDR brüderliche Beziehungen. Das Ungarnland, insbesondere der Balaton, wurde zu
einem beliebten Treffpunkt getrennter Familien aus Ostund Westdeutschland. Ende der 80er-Jahre setzte in Ungarn eine rasante politische Wende ein. Mit dem Beschluss der ungarischen Regierung, den Eisernen Vorhang
am 11. September 1989 niederzureißen und die Grenze zu
Österreich und damit zu Westeuropa zu öffnen, wurde
letztlich auch der Weg zu einem geeinten, freiheitlichen
und demokratischen Deutschland frei.
({5})
Dazu hat unser Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der zehnjährigen Grenzöffnung in Budapest
1999 festgestellt: Die Wiederherstellung der deutschen
Einheit wäre ohne Ungarn nicht möglich gewesen.
({6})
Nunmehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen wir
zielsicher in eine gemeinsame europäische Zukunft. Ich
bin sicher: In dieser erweiterten Europäischen Union der
25 oder gar 30 Mitgliedsländer werden bilaterale Beziehungen auch weiterhin ihre Wichtigkeit und Bedeutung
behalten. Dabei werden die Besonderheiten zum Beispiel
der deutsch-französischen, der deutsch-polnischen oder
eben auch der deutsch-ungarischen Beziehungen die
künftige Entwicklung der Europäischen Union nicht behindern, sondern eher befördern und befruchten.
Alles deutet darauf hin, dass die Beitrittsverhandlungen Ende dieses Jahres erfolgreich abgeschlossen werden
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
können und die ungarischen Bürgerinnen und Bürger an
den Europawahlen im Jahr 2004 teilnehmen werden.
({7})
Natürlich kann ich ein Stück weit verstehen, dass unsere ungarischen Freunde im Beitrittsrennen nicht nur
Erster, sondern Allererster werden wollen, aber ich bitte
auch um Verständnis für die deutsche und die europäische
Position, nach der eine ausgewogene und klar an den Kriterien orientierte Beitrittsstrategie zu verfolgen ist. Ungarn und Deutschland, die Regierungen, die Bürgerinnen
und Bürger und natürlich auch wir Parlamentarier hier
und dort, werden gemeinsam und erfolgreich den Weg in
ein gemeinsames Europa gestalten. Der vorliegende
interfraktionelle Antrag mit den in zwölf Punkten
aufgelisteten Forderungen nach Fortsetzung und Vertiefung wichtiger gesellschaftlicher Entwicklungen kann
dazu hoffentlich ein gutes Stück beitragen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Reinhard Freiherr von Schorlemer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Natürlich gehen meine Gedanken heute auf den 6. Februar
1992 zurück, als ich als Vorsitzender der Deutsch-Ungarischen Parlamentariergruppe unseren Bundeskanzler
Helmut Kohl nach Budapest begleiten konnte, um bei der
Unterzeichnung des Vertrages über freundschaftliche
Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa - so ist
er überschrieben - zwischen Ungarn und Deutschland dabei zu sein. Für uns Deutsche war dies ein Tag der sichtbaren Dankbarkeit für Ungarns ganz entschiedenes und
mutiges Wirken für Deutschlands Wiedervereinigung.
({0})
Ich bitte um Verständnis dafür, dass bei diesem Antrag
bei mir auch ganz persönliche Erinnerungen an die Zeit
seit 1989 wieder aufleuchten.
Der erste noch in das kommunistisch bestimmte Parlament bei einer Nachwahl frei gewählte Abgeordnete,
Gabor Roszik, ein evangelischer Pfarrer aus Gödöllö, gab
mir ein Stück aus dem Stacheldraht zwischen Ost und
West, der beim paneuropäischen Picknick in Sopron
durchtrennt wurde. Er verband es 1989 mit der herzlichen
Bitte, Ungarns Weg in die Demokratie und in die Freiheit
und zurück nach Europa zu unterstützen.
Ich erinnere mich heute auch noch an den großartigen
ersten Ministerpräsidenten des freien Ungarn, József
Antall, der für Ungarn diesen Vertrag vor zehn Jahren neben Helmut Kohl unterzeichnete.
Der Weg, den Ungarn von damals bis heute zurückgelegt hat, war ein schwerer, aber erfolgreicher Weg. Für uns
Deutsche ist die neue ungarische Botschaft hier in Berlin in moderner Architektur in Sichtnähe des Brandenburger Tores geradezu ein Sinnbild.
Herr Mante hat zu Recht den ungarischen Botschafter
begrüßt. Wir wie viele andere erleben hier einen hoch gebildeten, klugen jungen Politiker, der für mich ein Beleg
dafür ist, wie engagiert sich gerade die junge Generation
Ungarns für ihren Staat einsetzt.
({1})
Bei der Unterzeichnung des Vertrages formulierte
Helmut Kohl den Satz:
Ein Europa ohne Ungarn wäre ein Torso; Ungarn
braucht Europa, aber Europa braucht auch Ungarn.
Seit 1999 ist Ungarn neben Polen und Tschechien Mitglied der NATO. Diesen Prozess hat gerade der damalige
deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe gemeinsam
mit seinen Kollegen erreicht und umgesetzt.
Meine Damen und Herren, diese Debatte soll sich aber
mehr mit der Zukunft beschäftigen. Der vorliegende Antrag fordert, „den zügigen Beitritt Ungarns zur EU aktiv
zu unterstützen, damit die Ungarn als Mitglied an den
nächsten Europawahlen 2004 teilnehmen können“. Ungarn hat in den Beitrittsverhandlungen von den 31 zu verhandelnden Kapiteln 23 bereits abgeschlossen. Es steht
damit an der Spitze der Beitrittskandidaten. Dies muss
auch bei der nächsten Beitrittsrunde berücksichtigt werden.
({2})
Der jährlich von der EU-Kommission vorgelegte Bericht über den Stand der Beitrittsverhandlungen macht
deutlich, mit welch starken Anstrengungen Ungarn im
Vergleich zu anderen Beitrittskandidaten gleichsam seine
Schularbeiten macht. Die Angleichung des nationalen
ungarischen Rechts an die Rechtsvorschriften der EU
stellt für Ungarn in den meisten Bereichen schon lange
kein Problem mehr dar.
Im Bereich Binnenmarkt ist die Rechtsangleichung
weitgehend vollzogen. Im Bereich Umweltschutz hat Ungarn erhebliche Fortschritte vorzuweisen. Im Bereich
Regionalpolitik ist Ungarn bei der Vorbereitung auf die
Programmierung der Strukturfondsmittel gut vorangekommen. Schließlich hat Ungarn im Bereich Justiz und
Inneres die EU-weiten Standards weitgehend erreicht. Im
Zusammenhang mit den Außengrenzen wurde eine Strategie zur Kontrolle der Grenzübergänge entwickelt, die
sich an den Regeln des Schengener Abkommens orientiert.
Bei aller Freude über das bisher Erreichte sollten wir
aber nicht aus den Augen verlieren, dass man sich in Budapest nicht ausruhen darf und auch nicht ausruhen wird,
denn für einige schwierige Problemfelder gibt es noch
keine Lösungen. Ich nenne einige Beispiele dafür.
Im Bereich Landwirtschaft gab es zwar Fortschritte
im Hinblick auf die Lebensmittelsicherheit und die Tiergesundheit, aber hinsichtlich anderer Bereiche warten wir
noch darauf, damit Ungarn mit Beginn der Teilnahme an
der gemeinsamen Agrarpolitik über die erforderlichen
Strukturen und Verfahrensmechanismen verfügt. In diesem Zusammenhang sollte auch die Frage der Übergangsregelung nicht ganz aus dem Gedächtnis gestrichen
werden. Im Verkehrssektor muss die Rechtsangleichung
angegangen werden, etwa bei der Umstrukturierung der
Bahn. Die notwendige Liberalisierung des Energiemarktes muss weiter vorankommen.
Dies sind Darstellungen aus dem Fortschrittsbericht
der Europäischen Kommission; sie sind manchmal auch
sehr hart. Ich zitiere eine Formulierung, bei der ich an jetzige EU-Mitgliedstaaten, auch an Deutschland, gedacht
habe:
Die ungewisse Zukunft der Rentenreform und die in
Verzug geratene Gesundheitsreform haben Zweifel
an der Fortsetzung der Konsolidierung und der mittelfristigen Sanierung der öffentlichen Finanzen aufkommen lassen. Die Regierung muss weiter Finanzdisziplin üben, um zu gewährleisten, dass die neue
Währungspolitik und das außenwirtschaftliche
Gleichgewicht durch eine entsprechende Finanzpolitik gestützt werden. Dies wäre ein Beitrag zur Dämpfung der Inflation.
Ich bin fest davon überzeugt: Dieser Satz passt nicht
nur zu Ungarn, sondern auch zu einigen Altmitgliedern in
der Europäischen Union. Es sollen ja demnächst einige
Briefe verschickt werden.
({3})
Meine Damen und Herren, ich glaube, in keinem anderen östlichen Nachbarland erfährt die deutsche Minderheit eine solch breite, durch Verfassung abgesicherte
ideelle und materielle Unterstützung wie in Ungarn. Für
die 13 nationalen und ethnischen Minderheiten, die die
Verfassung als konstituierende Elemente des Staates bezeichnet und von denen die deutsche Minderheit mit
200 000 Einwohnern die zweitgrößte ist, ist das Recht auf
Kennenlernen, Pflege, Mehrung und Weitergabe ihrer
Muttersprache, Geschichte, Kultur und Tradition abgesichert. Für die Minderheiten gibt es einen Ombudsmann,
das Recht auf Selbstverwaltung sowie kulturelle Einheiten wie Klubräume und Theater. Natürlich ist der Neubau
des deutschen Gymnasiums in Budapest als positiv zu
werten. Dabei dürfen wir aber nicht die materielle Zukunft zum Beispiel des deutschen Theaters, genannt
„Deutsche Bühne Ungarns“, und die deutschsprachigen
Zeitungen vergessen. In den letzten Jahren wurde in Ungarn die deutschsprachige Andrássy-Universität gegründet. Wir werden wohl in Deutschland Vergleichbares nicht
regeln können. Dafür sollten wir in verstärktem Maße Jugendaustausch in schulischen, universitären und beruflich-praktischen Bereichen durchführen.
({4})
Im parlamentarischen Bereich können wir feststellen,
dass sich die gute Zusammenarbeit zwischen der Ungarisch-Deutschen Parlamentariergruppe unter der
Führung der Kollegen Csoti und Ughy und der DeutschUngarischen Parlamentariergruppe seit 1990 als ein
wichtiger Pfeiler der bilateralen Beziehungen erwiesen
hat.
Eines möchte ich hier einschieben, nämlich die großartigen Leistungen beim Demokratieaufbau und bei der politischen Begleitung unserer politischen Stiftungen,
nämlich der Adenauer-, Ebert-, Naumann- und SeidelStiftung - um sie kurz aufzuzählen.
Bei den Beziehungen zu Ungarn dürfen wir eines nicht
unerwähnt lassen, nämlich die über 200 bestehenden
kommunalen Partnerschaften. Diese müssen weiter
vertieft werden. Es sollen aber noch weitere Städte, Gemeinden und Landkreise ermutigt werden, sich hier mehr
und weiter zu engagieren.
({5})
Seit elf Jahren tagt abwechselnd in Deutschland und
Ungarn das Deutsch-Ungarische Forum. Für wie wichtig die Ungarn dieses Begegnungs- und Beratungsforum
halten, zeigt, dass bei den letzten beiden Treffen in Berlin
und in Budapest der ungarische Präsident Madl eine Ansprache hielt. Es wäre meines Erachtens aber gut, über einen Verjüngungsprozess bei den Teilnehmern und über
die Art und Form der Begegnungen dieses Forums nachzudenken.
({6})
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Bei
Gesprächen mit ungarischen Parlamentariern, gerade
auch mit dem auf mich sehr faszinierend wirkenden ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dem ich seit
1989 regelmäßig begegnete, ist mir immer wieder deutlich geworden: Die Zukunft Europas wird nicht in einem
herkömmlichen Bundesstaat, sondern in einem föderalen
System liegen, das eine Balance zwischen Union und Nationalstaaten, zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen
Einheit und Vielfalt und zwischen Solidarität und Wettbewerb beinhaltet; denn gerade die neuen Mitglieder der EU
werden einen unersetzlichen Beitrag zum kulturellen
Reichtum Europas und seiner Vielfalt leisten. Ohne sie
kann das westliche Europa seine Ziele von Frieden, Demokratie und Wohlstand nicht verwirklichen. Solidarität
der alten mit den neuen Mitgliedern der EU ist aber nicht
nur ein Gebot der historischen Verantwortung, sondern
auch der politischen Klugheit.
Ich komme jetzt auf die Überschrift dieses Vertrages
zurück, der auf der einen Seite die Freundschaft, auf der
anderen Seite auch das gemeinsame Europa in den Vordergrund stellt. Deshalb ist es gut, dass wir heute, quer
durch alle Fraktionen, diesen Antrag über die Zusammenarbeit Deutschlands und Ungarns in der erweiterten Europäischen Union im Deutschen Bundestag eingebracht haben und dass wir darüber in voller Einigkeit reden.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Helmut Lippelt vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen
über einen interfraktionellen Antrag. Deshalb kann ich
mich auf vieles von dem beziehen, was der Kollege Mante
und der Kollege von Schorlemer gesagt haben; es ist auch
in unserem Namen gesprochen. Ich möchte hier noch ein
paar Dinge betonen, die bis jetzt vielleicht noch nicht angesprochen worden sind.
Der Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit
und Partnerschaft - ein sehr schöner Name - ist der Rahmen, in dem sich das deutsch-ungarische Verhältnis in den
letzten zehn Jahren so erfreulich entwickelt hat. Wie sehr
es sich entwickelt hat, lässt sich vielleicht am besten mit
Zahlen der Wirtschaft belegen. Weil diese enorme Umorientierung, dieser Wandel, der inzwischen geschehen
ist, in unserer Bevölkerung noch gar nicht so deutlich
wahrgenommen worden ist, möchte ich das in ein paar
Bildern darstellen. Das Handelsvolumen zwischen
Deutschland und den mittel- und osteuropäischen Ländern, Russland eingeschlossen, liegt längst ein Drittel
höher als das zwischen Deutschland und Nordamerika,
also den USA plus Kanada.
Die Länder Polen, Tschechien und Ungarn bilden in
dieser Entwicklung ein dynamisches Dreieck. Jedes dieser Länder hat Russland hinsichtlich des Handelsvolumens überholt, und zwar gemessen an den großen Zahlen,
die Russland aufgrund der hohen Erdölpreise im vorigen
Jahr hatte.
Diese Dynamik wird sich durch den bevorstehenden
Beitritt zur EU steigern. Ich finde, dass man das der Bevölkerung sehr deutlich sagen muss; denn unser Bewusstsein ist viel zu sehr westlich orientiert und noch gar nicht
auf die neuen Realitäten des mittel- und mittelosteuropäischen Raumes eingestellt, in dem sich Europa auch schon
vor dem Beitritt dieser Länder - wir hoffen, dass er möglichst bald stattfindet - entwickelt hat.
({0})
Der Kollege von Schorlemer hat zu Recht gesagt: Was
die Beitrittsfähigkeit dieser Länder angeht, liegt Ungarn
an der Spitze. Wir alle wollen, dass Ungarn vor den nächsten Europawahlen beitritt, sodass es voll berechtigt ist,
an den Wahlen teilzunehmen. Wir wollen und hoffen, dass
Polen und Tschechien denselben Weg gehen. Ungarn liegt
aber zweifellos vorn. Wir hoffen, dass Ungarn die beiden
anderen Kandidaten ermutigen kann, in Sachen Beitrittsfähigkeit zuzulegen und mitzukommen.
Bisher habe ich über die wirtschaftliche Seite gesprochen. Die Grundlage für die politische Zusammenarbeit
- auch das ist schon gesagt worden - wurde 1989 gelegt.
Wir wissen, was die Öffnung der Grenzen für die Wiedervereinigung unseres Landes bedeutet. Als in den Jahren
nach der Wiedervereinigung - auch das sollte man einmal
sagen - Ungarns Nachbar Jugoslawien zerfiel, war es
Ungarn, das mit uns und für uns alle im europäischen
Sinne kooperativ handelte. Immerhin fanden die Deserteure aus Serbien nicht nur in Wien eine neue Heimstatt,
sondern auch in Budapest. Dies war gelegentlich allerdings mit Schwierigkeiten verbunden, wie auch wir sie
Leuten in solchen Situationen bereitet haben. Ungarn hat
ganz selbstverständlich - ob in der EU oder nicht - europäisch kooperiert.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen - ich denke, wir
sollten hier keine reine Feierstunde abhalten -, um meine
Besorgnis über bestimmte Töne in der ungarischen Debatte einmal zum Ausdruck zu bringen. Ich bin darüber
besorgt, dass deutsche Journalisten in ungarischen Medien dahin gehend angeprangert werden, dass sie über
Ungarn zu negativ berichten. Eine staatsunabhängige Berichterstattung gehört zu den Essentials europäischer Demokratie. Ich hoffe, dass auch das in Ungarn immer stärker bewusst wird.
Außerdem bin ich über die Auswirkungen des so genannten Statusgesetzes besorgt, das Fragen der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten behandelt.
Wir, Ungarn und Deutschland - beide haben sehr ähnliche
geschichtliche Erfahrungen gemacht; relativ große Minderheiten leben in den Nachbarstaaten -, kennen das damit verbundene Problem. Wir achten die Verpflichtung
eines Staates, für humanitäre Erleichterungen, beispielsweise hinsichtlich des Familiennachzugs und der Pflege
kultureller Gemeinsamkeiten, zu sorgen. Wir wissen, dass
die ungarische Regierung keine Gebietsansprüche stellt
und keine Großungarnpolitik verfolgt. Wir hören die nationalen Töne - seien sie gegen Roma und Juden in Ungarn selbst gerichtet, seien sie durch Hervorhebung des
Bekenntnisses zum Ungartum in den Nachbarstaaten zum
Ausdruck gebracht - allerdings mit Besorgnis.
Wir halten aufgrund aller historischen Erfahrungen das
Spiel mit der völkischen Karte für außerordentlich gefährlich; auch wenn es nur aus Wahlkampfgründen geschieht. Ich denke, auch das sollte man im Rahmen einer
solchen Diskussion einmal sagen.
Ich ende mit folgenden Worten: Die Entwicklung eines
kulturell vielfältigen und zugleich gleichberechtigten Europa ist für uns eine der großen Aufgaben, mit denen die
nationalen Parlamente die EU-Erweiterung begleiten und
fundieren können. In meiner kurzen Redezeit möchte ich
die Wünsche, den Schüleraustausch zu verstärken, gemeinsame Forschungsvorhaben zu realisieren, aber auch
ehrliche Diskussionen zwischen den Parlamenten zu
führen, äußern.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Irmer von der
FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Auch mir ist es eine besondere Freude, auf
der Tribüne den ungarischen Botschafter, Herrn Pröhle,
herzlich begrüßen zu dürfen.
({0})
Er hat es, anknüpfend an die Tradition seiner Vorgänger,
schon zu Bonner Zeiten in herausragender Weise verstanden, durch die Veranstaltungen seiner Botschaft ein Klima
in der deutsch-ungarischen Kooperation zu erzeugen, von
dem sich nicht nur Politiker, Wirtschaftler und andere
Fachleute, sondern auch die Bevölkerung - das hat er
ganz bewusst so gemacht - angesprochen fühlte. Ihm gebührt hierfür ein ganz besonderer Dank.
({1})
Es kommt ja selten vor, dass man sich mit fast allem
identifizieren kann, was die Vorredner der anderen Fraktionen gesagt haben. Dass ich das heute kann, dass ich keinem meiner Vorredner widersprechen muss, zeigt auch,
glaube ich, welche Qualität die deutsch-ungarischen Beziehungen schon jetzt erreicht haben. Wir alle sind uns einig in dem Bemühen, diese Beziehungen weiter zu vertiefen und zu verbessern, falls das noch möglich ist.
Ich möchte aber auch etwas Kritisches feststellen, damit diese Debatte nicht in eine Jubelfeier ausartet. Wir alle
freuen uns natürlich darüber, dass vor zehn Jahren der
deutsch-ungarische Vertrag unterzeichnet werden konnte.
Aber wir nehmen bei allen Fortschritten, die erzielt worden sind - Ungarn konnte beispielsweise der NATO beitreten -, mit leichten Bedenken zur Kenntnis, dass wir die
Ungarn in den letzten Jahren nicht immer so behandelt haben, wie sie es verdient hätten. Als damals die Ungarn die
heroische Tat vollbracht hatten, den Eisernen Vorhang
einzureißen, haben wir ihnen aus lauter Dankbarkeit, wie
mein Kollege Nolting zu sagen pflegt, so fest auf die
Schultern geklopft, dass sie fast nicht mehr aufrecht gehen konnten. Wir haben ihnen damals versprochen, dass
wir sie so bald wie möglich in die Europäische Union
aufnehmen werden. Als vor zehn Jahren der Vertrag geschlossen wurde, haben wir gedacht, dass das in zehn Jahren längst erledigt sei. Jetzt warten die Ungarn noch immer darauf, dass wir unser Versprechen erfüllen.
Ich möchte es einmal mit den Worten von Viktor
Orbán, dem ungarischen Ministerpräsidenten, sagen, der
schon zitiert wurde und der erfreulicherweise morgen
Berlin - ich möchte ihn schon jetzt herzlich willkommen
heißen - einen Besuch abstatten wird: „Seit 1990 hören
wir jedes Jahr, dass wir in fünf Jahren Mitglied der EU
sein werden.“ Es ist in der Tat so, dass wir zwar versprochen haben, Ungarn in die EU aufzunehmen, dass
dann aber irgendwelche Bedenkenträger mit immer neuen
Vorbehalten kamen, die die Verwirklichung dieses Projekts hinausgezögert haben. Dabei sollten wir eines nicht
vergessen: Ungarn hat wie viele andere Beitrittskandidaten seiner Bevölkerung harte Schnitte zumuten müssen,
({2})
um das Land für die Mitgliedschaft in der EU fit zu machen. Die Ungarn haben das getan, und zwar ungeachtet
aller innenpolitischen Schwierigkeiten, die zwangsläufig
daraus folgen mussten. Daher ist es schon eine kühne Sache, wenn man ausgerechnet den Ungarn eine siebenjährige Übergangszeit bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zumutet.
({3})
Das sieht so aus, als wollten wir den Ungarn sagen: Ihr
seid uns nicht willkommen; wir sind sehr misstrauisch.
Das war mit Sicherheit ein Fehler. Hier müssen wir in psychologischer Hinsicht noch einiges tun, um ihn wieder
auszubügeln.
Wir müssen jetzt darauf achten, dass sich der Beitritt
Ungarns zur EU nicht noch weiter verzögert. Es gibt zwei
Schwierigkeiten: Erstens. Es besteht die Gefahr, dass den
sehr weit entwickelten Ländern wie Ungarn gesagt wird:
Ihr müsst so lange warten, bis alle anderen Länder auch so
weit sind. Das dürfen wir nicht zulassen. Jedes Land sollte
gemäß seiner Verdienste und nach Erfüllung der Beitrittskriterien zu dem Zeitpunkt aufgenommen werden,
an dem es in der Lage dazu ist.
({4})
Zweitens. Wir alle wissen, dass auch die Europäische
Union nicht unbedingt reif für die Aufnahme neuer Mitglieder ist, dass wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht
haben. Aber jetzt komme mir bitte niemand, so notwendig
eine Reform der europäischen Agrarpolitik auch ist, und
sage: Solange wir das nicht geschafft haben, müssen die
Ungarn noch draußen bleiben. Auch dies dürfen wir unter
keinen Umständen zulassen.
({5})
Da meine Redezeit jetzt abgelaufen ist, möchte ich
zusammenfassend feststellen: Wir sollten uns immer bewusst sein, dass es bei der Osterweiterung der EU nicht
nur um wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen, nicht nur um Dividenden und Divisionen geht, so
wichtig dies alles auch sein mag. Es geht vielmehr auch
um die Vollendung des historisch-kulturellen Auftrags,
ganz Europa zu vereinigen. Ungarn, herzlich willkommen!
Danke.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die PDS-Fraktion freut sich, dass
wir heute gemeinsam über die deutsch-ungarische Zusammenarbeit diskutieren können. Wir glauben aber, dass
dieser Antrag, der der Aufhänger ist, zwei entscheidende
Fehler hat.
Zum Ersten: Dieses Haus schafft es nicht einmal bei
der Frage der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit einen
interfraktionellen Antrag zusammen mit der PDS zu
machen,
({0})
weil die CDU/CSU-Fraktion in der Ära des Kalten Krieges hängen bleibt.
({1})
Zum Zweiten: Beim Durchlesen dieses Antrages haben
wir den Eindruck gewonnen, dass leider alle Probleme,
auch die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland eine
aktive Rolle beim Beitritt Ungarns spielen kann, in diesem Antrag völlig ausgeblendet werden. Es fehlt die
Frage, was die Menschen beim Beitritt Ungarns zur Europäischen Union, sei es in Deutschland, sei es in Ungarn,
an Problemen empfinden oder auch an Ängsten haben.
Kein Wort zum Thema Arbeitslosigkeit; kein Wort dazu,
wie der Strukturwandel gestaltet werden kann und wie
Deutschland und die Europäische Union mithelfen können, diesen Strukturwandel voranzubringen; kein Wort
zum Thema soziale Ausgrenzung; kein Wort zum Thema
Minderheitenproblematik.
({2})
Ich denke, bei gemeinsamen freundschaftlichen Diskussionen sollten solche Dinge nicht vergessen werden.
({3})
Wenn man diesen Antrag liest, hat man ein wenig den
Eindruck, als ob der Film „Ich denke oft an Piroschka“ als
Grundlage genommen wurde: schöne Dinge darstellen,
sich aber nicht damit auseinander setzen, was ansteht.
({4})
Deshalb muss man sich, Kolleginnen und Kollegen, mit
Folgendem auseinander setzen: Es ist zu wenig, dass in
den interfraktionellen Antrag
({5})
die Aussage hineingeschrieben wurde, dass es schön ist,
dass viele Ungarn Deutsch lernen. Ich denke aber, genau
anders herum würde in einem Antrag des Deutschen Bundestages ein Schuh daraus. Wir müssten nämlich einmal
darüber reden, dass in Deutschland viel zu wenig Menschen osteuropäische Sprachen oder gar die ungarische
Sprache lernen.
({6})
Wir müssten in dem Antrag deutlich machen, dass es gelingen muss, in unseren Schulen die Menschen dazu zu
bringen, sich für die gemeinsame Kultur zu interessieren
und damit zu beschäftigen. Der Antrag könnte durchaus
auch selbstkritisch die Frage stellen, warum Osteuropa in
den Schulbüchern noch immer so wenig vorkommt.
({7})
Deutsch-ungarische Zusammenarbeit heißt für uns
auch, dass es nicht angehen kann, die Beitrittsstaaten
landwirtschaftspolitisch als Staaten zweiter Klasse zu behandeln. Wir als PDS werden dafür kämpfen, dass alle
Landwirte in der Europäischen Union, sei es in Ungarn,
in Polen oder in Deutschland, das Recht auf gleiche Hilfen und auf gleiche Erlöse haben und nicht ein Teil faktisch ausgegrenzt wird. Es kann nicht angehen, dass
Ungarn nicht von Anfang an Freizügigkeit genießen; es
muss vielmehr durchgesetzt werden, dass Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle Menschen sofort garantiert ist.
Wir fügen hinzu - damit möchte ich zum Schluss kommen -: Wir werden gemeinsam mit den Freunden aus den
mittel- und osteuropäischen Staaten dafür kämpfen, dass
Europa den Zusammenschluss von Mittel- und Osteuropa, also von Ungarn, Deutschland und Polen, nicht unter den Maßgaben der Haushaltskonsolidierung durchführt.
({8})
Wenn eichelsche Sparpolitik zum Bestandteil der Europäischen Union wird, wenn vergessen wird, dass nicht weniger Geld für die Lösung struktureller Probleme, sondern
mehr gebraucht wird, verbauen wir gemeinsam die
Chance, dass der Beitritt der mittel- und osteuropäischen
Staaten, dass der Beitritt Osteuropas mit möglichst wenig
Verwerfungen, mit möglichst wenigen Strukturproblemen
und vor allen Dingen zum Nutzen aller Menschen gestaltet wird.
In dem Sinne vielen Dank fürs Zuhören.
({9})
Für
die Bundesregierung spricht jetzt der Staatsminister
Dr. Christoph Zöpel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mein Zugang zu anderen Staaten geschieht
vor allem durch erlebte Geschichte. Ungarn und erlebte
Geschichte - das ist für mich die Erinnerung an den
Herbst 1956: der Mut zum Widerstand auch in einem
kommunistischen Land, das Niederwalzen des Widerstandes durch sowjetische bzw. kommunistische Panzer.
Erlebte Geschichte ist auch der 11. September 1989:
({0})
Eine kommunistische Regierung in Ungarn ist so fähig,
sich demokratisch zu reformieren und Freiheit zuzulasUwe Hiksch
sen, dass sie das Ende des Eisernen Vorhangs herbeiführt.
An beides muss man sich erinnern.
({1})
Der Freundschaftsvertrag, dessen zehnjähriges erfolgreiches Bestehen wir heute feiern, hatte Folgen. Ungarn
ist inzwischen Mitglied der NATO. Außerdem waren Ungarn wie Deutschland aufgrund dieser Mitgliedschaft bereits in politische Handlungen involviert, die es besser
nicht gegeben hätte: die Beseitigung des letzten Diktators
auf europäischem Boden, in Serbien.
Die Bundesregierung wird alles dafür tun, dass Ungarn
Ende dieses Jahres beim Europäischen Rat in Kopenhagen zu den Ländern gehört, mit denen die Beitrittsverhandlungen abgeschlossen werden.
({2})
Es werden - so wünschen wir uns das und so hoffen wir
es - rund zehn Länder sein, 70 Millionen Menschen, die
beitreten werden. Die Europäische Union wird dann
440 Millionen Einwohner haben.
Dann - hier sehe ich die entscheidende gemeinsame
Aufgabe Ungarns und Deutschlands für die Zukunft wird der letzte, aber wahrscheinlich historisch schwierigste Teil der Vollendung der Integration Europas kommen; denn 60 Millionen Europäer nordwestlich von Griechenland sind dann noch nicht in der Europäischen Union.
Der Grund dafür ist in der Geschichte dieser Staaten zu
suchen. Sie haben überwiegend wegen türkischer Besetzung nicht den Zugang zum bürgerlichen Nationalstaat
finden können, auf dessen Basis sich hier der demokratische Sozialstaat entwickeln konnte. Es gibt dort mehr
Minderheitenprobleme als in allen anderen Teilen Europas.
Die gemeinsame Verantwortung, von der ich eben gesprochen habe, ist vielleicht darin begründet, dass
Deutschland und Ungarn zwei europäische Länder sind,
in denen Sprachen gesprochen werden - Deutsch und Ungarisch -, die auch von außerordentlich vielen Menschen
in anderen Ländern gesprochen werden. Das führt zu einer besonderen Verantwortung für Minderheiten. Es ist
unstreitig, dass es im Interesse der deutschen und der ungarischen Regierung liegen muss, dass Deutsch und Ungarisch sprechende Menschen in anderen Ländern ihr kulturelles Recht - das andere ist eine Selbstverständlichkeit - haben. Aber das wird, so meine ich, nur gelingen,
wenn von Deutschland und Ungarn Signale ausgehen,
dass diese Menschen gute und hervorragende Bürger jener Staaten sind, in denen sie leben.
({3})
Das sind die zwei Seiten von Minderheitenpolitik: für
die kulturellen Rechte der Menschen gleicher Sprache
eintreten und sie auffordern, gute Bürger der Staaten zu
sein, in denen sie leben.
({4})
Slowakien, Kroatien und Rumänien werden bei den Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union nur
erfolgreich sein, wenn in diesen Ländern die Rechte der
ungarischen Minderheit gewahrt sind.
({5})
Aber sie werden nur gewahrt sein, wenn von Ungarn die
entsprechenden Signale ausgehen. Das ist eine wichtige
Aufgabe, die sich stellt und um deren Erfüllung ich bitte.
({6})
Dann kann ein anderes Ziel erreicht werden, das ich
ebenfalls für wichtig halte und für das Ungarn geopolitisch eine größere Rolle spielt als Deutschland: die Gesamtintegration Europas, die Integration auch der Menschen im ehemaligen Jugoslawien und der Menschen in
Albanien. Historische Erfahrungen befähigen Deutsche
und Ungarn dazu. Gerade Ungarn und Deutsche haben
- wenn auch unter anderen politischen Bedingungen, die
sinnvollerweise nicht zu übertragen sind - in Vielvölkerstaaten gelebt. Diese Erfahrung kann man in die verbleibende historische Aufgabe einbringen.
Wir sollten uns an diesem Tag darüber freuen, dass die
Freundschaft über zehn Jahre so hervorragend bestanden
hat. Aber gerade wenn man selber etwas geschafft hat, im
eigenen und im gegenseitigen Interesse Erfolg gehabt hat,
dann hat man noch mehr die Verpflichtung, anderen dasselbe Glück zu bringen.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der FDP mit dem Titel „Die Zusammenarbeit
Deutschlands und Ungarns in der erweiterten Europäischen Union“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/8104? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei
Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aufhebung der nationalsozialistischen Unrechtsurteile gegen Deserteure
- Drucksachen 14/5612, 14/8114 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({1})
Dr. Evelyn Kenzler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Alfred Hartenbach von der SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Ungeduld der PDS bei einem sehr sensiblen Thema, derentwegen wir uns zu dieser späten Stunde - leider nicht mit der
gebührenden Aufmerksamkeit des Hauses ({0})
mit einem Thema befassen, welches in der Tat eine
größere Aufmerksamkeit verdient hat, weil es ein Stück
ist, in dem wir Schuld abtragen können.
Der Rechtsausschuss hat in einem Beschluss vom
7. Dezember 2000 die Bundesregierung gebeten, das NSUnrechtsaufhebungsgesetz zu ergänzen. Ziel der Entschließung war und ist es, all denjenigen Genugtuung zu
verschaffen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur
Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen,
rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen
verurteilt worden sind. Der Rechtsausschuss bat die Bundesregierung, insbesondere den Fällen Rechnung zu tragen, bei denen eine Einzelfallprüfung durch die Gerichte
zu weiteren Diskriminierungen und Unzuträglichkeiten
im persönlichen Lebensbereich der Betroffenen führen
würde.
Wir haben nämlich in Gesprächen mit den wenigen
noch lebenden Personen, die es betrifft - hier insbesondere mit Ludwig Baumann, der die Sache dieser Menschen mit großem Engagement vertreten hat - festgestellt,
dass gerade der Gang zur Staatsanwaltschaft als eine weitere Tortur empfunden wird. Es steht einem Rechtsstaat
daher sehr wohl an, Menschen, die Schlimmes erlitten haben, die den Tod durch den Henker vor Augen hatten, entgegenzukommen und ihnen die Hand zu reichen.
({1})
Dies war auch der Sinn und Zweck des Entschließungsantrages des Rechtsausschusses. Wir waren sicher, dass
dieses Anliegen des Rechtsausschusses bei der Bundesregierung auf offene Ohren stoßen und dort auch bearbeitet
werden würde. Wir wussten, dass das Bundesministerium
der Justiz im Zusammenwirken mit anderen Ministerien
bereits mit der Arbeit begonnen hatte, kaum dass die
Druckerschwärze unseres Antrages trocken war.
Es bestand daher überhaupt keine Notwendigkeit für
die PDS, bereits am 19. März 2001, also nur ein Vierteljahr später, die Bundesregierung in besserwisserischer Art
anzumahnen, nun endlich ein Gesetz vorzulegen.
({2})
Es entspricht der Haltung der PDS, sich wichtige und vor
allen Dingen sensible Anliegen in populistischer Art und
Weise zu Eigen zu machen,
({3})
ohne dabei die Konsequenzen bis zum Ende durchzudenken. So ist auch dieser Antrag der PDS wieder einmal typisch: zu kurz gefasst, zu kurz gesprungen und vor dem
Zielstrich unsanft gelandet.
Es war daher richtig, dass dieser Antrag im Rechtsausschuss immer wieder auf die Warteliste geschoben und
nicht behandelt wurde. Allen anderen im Rechtsausschuss
war klar, dass ein vernünftiges, den Anliegen der Betroffenen Rechnung tragendes Gesetz in Arbeit war und
auch noch rechtzeitig verabschiedet werden würde. Dieses Vorhaben ist nun so weit gediehen, dass die Koalitionsfraktionen diesen Gesetzentwurf noch in dieser Woche
vorstellen werden. Ich habe den Entwurf hier in der Hand.
({4})
- Man braucht uns nicht zu treiben, verehrte Kollegin
Dr. Kenzler.
Wir werden diesen Gesetzentwurf im Februar in das
parlamentarische Verfahren einbringen und - ich bin mir
sehr sicher - zu einem guten Abschluss führen. Mit diesem Gesetz werden wir dann die - ich sagte es bereits überwiegend unzuträglichen Einzelfallprüfungen in einer
Vielzahl von Fällen abschaffen und für Gerechtigkeit und
Rehabilitierung für die Menschen sorgen, die unter dem
NS-Unrechtsregime wegen oft kleiner Vergehen, in aller
Regel aber wegen des Terrors des NS-Unrechtsregimes
gelitten haben.
Während des NS-Unrechtsregimes wurden insbesondere homosexuelle Männer systematisch und menschenverachtend verfolgt. Durch auch heute noch bestehende
Vorurteile sehen sich die Betroffenen oft nicht in der
Lage, einen Antrag auf Rehabilitierung und Aufhebung
dieser Unrechtsurteile zu stellen, weil dies nach wie vor
von vielen als unzumutbar und als Demütigung empfunden wird. Das gilt umso mehr, als es sich nach heutiger
Rechtsauffassung und gesellschaftspolitischer Diskussion als selbstverständlich darstellt, dass diese Verfolgung
in der Tat ein schlimmes Unrecht gewesen ist und Homosexualität nicht länger als strafbar angesehen werden
darf.
Ähnlich stellt sich die Situation bei einer Vielzahl von
Verurteilungen nach dem früheren Nazimilitärstrafgesetzbuch dar. Ich will nur beispielhaft die Verurteilungen wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe, wegen Abkommens von der Truppe, wegen Desertion, wegen
Dienstpflichtverletzungen aus Furcht und letztendlich
wegen angeblicher Feigheit erwähnen. Wir wissen, dass
alle wegen dieser Delikte verurteilten Personen es aus Gewissensgründen oder aus berechtigter Angst um ihr Leben
gewagt haben, sich sinnlosen Befehlen zu widersetzen,
sich dem Kriegsdienst durch Flucht zu entziehen oder ihre
Dienstpflichten zu verletzen. Wir sehen dies heute unter
dem Aspekt des von Nazideutschland verschuldeten Angriffs und Vernichtungskrieges weder als kriminell noch
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
als unehrenhaft an. Wir wollen, dass diesen Menschen, die
wegen dieser Taten verurteilt worden sind, endlich Gerechtigkeit widerfährt.
Das ist der Grund, warum wir nach sorgfältiger Prüfung und sorgfältiger Abstimmung auch mit anderen Ressorts nunmehr einen Gesetzestext mit einer Begründung
vorlegen, die die Ehre und das Ansehen der damals in terroristischer Weise verfolgten Menschen wieder herstellt
und damit auch unserem Rechtsstaat durchaus zur Ehre
gereichen wird.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! In der Sache kann ich
der PDS nicht Recht geben. Aber dafür, dass sie darauf
pocht, dass über diesen Antrag nach so langer Zeit endlich
einmal debattiert wird, dass über ihn im Rechtsausschuss
abschließend beraten wird, habe ich Verständnis. Dem
kann ich nur beipflichten. Hier hat sich die Koalition
tatsächlich lange Zeit gelassen, um jetzt ganz offensichtlich einen neuen Gesetzentwurf auf den Tisch zu legen,
der uns immer schon in Aussicht gestellt worden ist.
Da ich nicht weiß, wie dieser neue Gesetzentwurf aussehen wird, kann ich dazu auch nicht sprechen. Wir haben
eben ja einiges erfahren. Außerdem habe ich heute durch
Pressemeldungen einiges mitbekommen. Aber man wird
in der Sache wohl darüber streiten müssen.
Auf das sachliche Anliegen der PDS möchte ich einiges erwidern. Zunächst muss ich feststellen, dass wir uns
heute mit dieser Frage nicht zum ersten Mal beschäftigen. Wir haben dieses Thema in jeder Legislaturperiode,
so auch in der letzten und der vorletzten, einmal behandelt. 1997 haben wir zusammen mit den Grünen und der
SPD eine gemeinsame Entschließung verabschieden können.
({0})
- Entschuldigung, die FDP war natürlich auch dabei und
hat damals maßgeblich daran mitgewirkt; ich erinnere
mich noch gerne an Detlef Kleinert. Unter „wir“ habe ich
die damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP verstanden.
Ich glaube, dass es eine tragfähige Entschließung gewesen ist. Durch sie ist es möglich, über bestehende gesetzliche Regelungen hinaus Entschädigungen zu leisten.
Dafür, dass da und dort immer einmal wieder gesagt wird,
dass das zu wenig sei, habe ich Verständnis. Aber alles in
allem halte ich die Regelung von 1997 für gut und richtig.
1998 haben wir das Gesetz zur Aufhebung von NSUrteilen gemeinsam über die Parteigrenzen hinweg verabschiedet. Ich bin der Auffassung, dass dieses Gesetz,
bald 60 Jahre nach diesen Vorkommnissen, ein guter
Schlusspunkt ist und dass es gelungen ist. Sie haben ja
auch mit gestimmt. Sie von der SPD hatten damals als
Opposition einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht, der
weiterging, der eine pauschale Aufhebung wollte. Sie haben diesen Entwurf damals für erledigt erklärt. Deswegen
wundert es mich ein wenig, dass nun plötzlich die Erkenntnis kommt - sie muss ja schon damals vorhanden
gewesen sein; denn sonst hätten Sie den Gesetzentwurf ja
nicht erarbeitet -, dass das damals verabschiedete Gesetz,
dem alle zugestimmt haben - selbst die PDS hat zugestimmt und hat ihren eigenen Vorschlag für erledigt erklärt -, nicht ausreichend sei. Natürlich kann man zu dieser Feststellung kommen; ich weiß aber nicht, warum.
Ich bin der Auffassung, dass dies eine gute Regelung
ist. Wir heben mit dem damals verabschiedeten Gesetz
pauschal alle Urteile auf, die maßgeblichen Grundsätzen
wie Gerechtigkeit und Menschlichkeit widersprechen. Ich
betone: Diese Aufhebung gilt pauschal. Wir haben festgestellt, dass all diese Urteile, wenn sie während der NS-Zeit
gefällt worden sind, pauschal Unrechtsurteile waren und
heute noch sind. Dazu sind - die Gründe haben wir damals ausgeführt - natürlich auch Urteile wegen Desertion
und Wehrkraftzersetzung zu rechnen, wenn sie - das ist
die Voraussetzung des § 1 des NS-Aufhebungsgesetzes gegen maßgebliche Grundsätze der Menschlichkeit
und der Gerechtigkeit sprechen.
Nun will man offenbar weiter gehen - so verstehe ich
jedenfalls die PDS - und will unabhängig von der Frage,
ob diese Urteile maßgeblichen Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprechen, diese grundsätzlich aufheben. Zumindest wollen Sie eines: Sie wollen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, damit deutlich machen, dass all diese
Urteile diesen Grundsätzen widersprechen. Dem können
wir nicht folgen. Das ist die alte Argumentation, die ja
ausgiebig bekannt ist und die in jedem Protokoll einer
Parlamentsdebatte, die sich mit dieser Frage beschäftigt,
nachzulesen ist.
Wir stimmen völlig darin überein, dass es aus Gründen
des Widerstandes natürlich reihenweise Desertionen gegeben hat. Viele Soldaten wollten mit ihrer Desertion dem
Wahnsinn Hitlers widersprechen. Die Urteile, durch die
diese Soldaten wegen Desertion verurteilt worden sind,
sind entsprechend dem NS-Aufhebungsgesetz pauschal
aufgehoben. Sie müssen sich allerdings als solche Urteile
erweisen. Selbstverständlich!
Es gab immer auch Desertionen aus dem Grund - Herr
Hartenbach hat das eben gesagt -, dass jemand in den letzten Monaten des Krieges einfach seine Haut retten wollte.
Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Es war abzusehen,
dass dieser Krieg verloren war. Warum soll sich ein junger Mann, der sein ganzes Leben noch vor sich hat, in ein
solches Gefecht hineinbegeben, obwohl er damit rechnen
muss, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Leben
lassen muss? In der Regel sind 80 Prozent der Soldaten
bei diesen Gefechten ums Leben gekommen. Wenn ein
junger Mann unter diesen Umständen seine Truppe verlassen hat, um seine Haut zu retten, kann ich das nicht als
etwas werten, was gegen Grundsätze der Gerechtigkeit
widerspricht. Der hat nach meiner Auffassung nicht
verwerflich gehandelt. Nach den von mir genannten
Grundsätzen ist das ihn betreffende Urteil ebenfalls aufzuheben.
Aber es gab - das wissen wir aus Anhörungen, die wir
gemacht haben, und aus Unterlagen, die uns vorgelegt
worden sind - leider auch Desertionen, die aus verwerflichen Gründen vorgenommen worden sind. Diese kommen im Übrigen immer wieder vor. Es gab zum Beispiel
den Fall, dass einer seine Truppe verlassen hat, zum Feind
übergelaufen ist, die Stellungen seiner eigenen Kameraden verraten hat, der Feind dann diese Kameraden ins
Feuer genommen hat und diese Kameraden ihr Leben verloren haben. Das war ein Verhalten, das wir auch heute
noch missbilligen müssen. Wer das nicht tut, steht nach
meiner Auffassung außerhalb unserer Rechtsordnung.
({1})
Des Weiteren gab es Desertionen, wo einer davongelaufen ist, weil er eine Straftat begangen hat und mit einem Wehrstrafverfahren rechnen musste. Häufig waren
Straftaten gegenüber Zivilisten aus besetzten Ländern. So
gibt es nachweislich ein Urteil, das mir vorgelegt worden
ist - es gibt wahrscheinlich mehrere -, zu einem Vorfall in
Ungarn. Über Ungarn haben wir heute schon in einem
ganz anderen Zusammenhang diskutiert. In diesem Fall
war ein Offizier mit zwei Soldaten in Budapest in der
Wohnung einer Jüdin einquartiert. Diese haben dort wertvolle Gegenstände entwendet und an sich genommen. Die
Jüdin hat jeden Tag ihre Wohnung aufgesucht. Die Frau
hat dem Offizier gesagt: Du darfst das nicht, das ist Diebstahl. Daraufhin hat der Offizier die Frau einfach niedergeschossen. Der Offizier wurde vom deutschen Militärgericht zum Tode verurteilt. Dies ist nachweisbar. Ein
solches Urteil wegen einer Straftat gegen einen Zivilisten
ist gerecht. Wenn nun der Offizier vor seinem Urteil
türmt, davonläuft, desertiert, ist diese Desertion - da kann
niemand etwas anderes behaupten - auch nach heutigen
Grundsätzen zutiefst verwerflich.
Es gibt eine weitere verwerfliche Desertion. Auch dies
ist nachgewiesen. Davon gibt es auch weitere Fälle. So ist
zum Beispiel nachgewiesen, dass ein Offizier seine
Truppe, junge Leute, die ihm anvertraut waren, verlassen
hat. Er hat sich seitwärts in die Büsche geschlagen und die
jungen Leute ihrem Schicksal überlassen. Das ist auch
nach heutigen Maßstäben verwerflich. Das kann ich nicht
gutheißen.
Es gab auch den Fall, dass einem Offizier mit seiner
Truppe eine zusammengewürfelte, aus Frauen und Kindern bestehende Flüchtlingsgruppe anvertraut worden ist,
die vor den heranrückenden Truppen aus dem Osten geflohen waren. Die Truppe hatte den Auftrag, die Flüchtlinge zu schützen. Der Offizier ist geflüchtet. Er hat durch
seine Desertion seine Pflicht schwer verletzt, hat diese
Frauen und Kinder unter Umständen sogar dem Tod preisgegeben. Das ist eine verwerfliche Tat und bleibt es auch.
Deswegen können wir Urteile gegen Deserteure beim
besten Willen nicht pauschal aufheben. Das ist unsere Argumentation. Wir sind der Auffassung, dass wir eine Einzelfallprüfung vornehmen müssen, weil wir sonst Gefahr
laufen, neues Unrecht zu setzen, und zwar gegenüber den
Richtern, die damals geurteilt haben. Bei einer pauschalen Aufhebung der Urteile werfen wir denen vor, dass sie
unrecht geurteilt, schwerstes Unrecht begangen, unter
Umständen Menschen zu Unrecht zu einem Freiheitsentzug verurteilt, dass sie sogar Rechtsbeugung begangen
haben. Das werfen wir dann den Richtern vor. Wer verteidigt dann eigentlich diese Richter? Das können wir so
nicht hinnehmen. Deswegen können wir diese Urteile
nicht pauschal aufheben, sondern müssen den Einzelfall
prüfen.
Ansonsten würden wir alle, die desertiert sind, weil sie
den Wahnsinn Hitlers nicht mehr mitmachen wollten, mit
den Deserteuren, die ich vorhin genannt habe, in einen
Topf werfen. Diese können aber nicht gleichgesetzt werden. Das wäre ein Unrecht gegenüber den Deserteuren,
die ich für wirkliche Deserteure halte und gegen die eigentlich jedes Urteil ungerechtfertigt ist. Dafür gibt es
noch weitere Beispiele.
Ich möchte Sie bitten: Lassen Sie es bei unserer gemeinsamen Entscheidungsfindung aus dem Jahre 1998!
Sie war klug und richtig. Ich kann nicht sehen, dass wir zu
einer besseren Entscheidung kommen.
Ich bin jetzt aber nicht hier, um den Gesetzentwurf der
Bundesregierung, der noch gar nicht auf dem Tisch liegt,
zu kritisieren. Ich habe lediglich Stellung gegen die Vorstellung der PDS genommen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort
hat der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen.
Kollege Geis, ich bin ein wenig enttäuscht über Ihre heutige Rede, weil wir in diesem Haus gemeinsam schon einmal weiter waren. Ich entsinne mich an eine Debatte im
Dezember 2000. Der Deutsche Bundestag hat damals mit
den Stimmen aller Fraktionen, ohne Gegenstimmen, die
Bundesregierung aufgefordert, die Lücken beim NS-Aufhebungsgesetz für zwei Gruppen zu schließen, zum einen
für die Homosexuellen und zum anderen für die Opfer der
Militärjustiz.
Ich finde es gut, dass wir heute sagen können, dass die
Koalition und die Bundesregierung bei ihren Arbeiten für
diesen Gesetzentwurf so weit sind, dass dieser im Februar
in den Bundestag eingebracht werden kann. Endlich kann
dann allen Homosexuellen, die Opfer einer Unrechtsjustiz
geworden sind, und allen Opfern der NS-Militärjustiz ihre
Ehre zurückgegeben und dies durch ein Gesetz klar festgestellt werden.
({0})
Herr Kollege Geis, ich will noch einmal dafür werben,
dass wir vielleicht wieder zu der Gemeinsamkeit, die es in
dieser Debatte gab, zurückfinden.
Die Gruppe der Homosexuellen wurde aus rassebiologischen Gründen des Nationalsozialismus in einer Intensität verfolgt, die ihresgleichen sucht. 15 000 Homosexuelle wurden in die KZs verschleppt, 50 000 wurden
verurteilt. Dies geschah besonders intensiv nach den Jahren
1934,1935, als es infolge des so genannten Röhm-Putsches
zu einer Intensivierung der Homosexuellenverfolgung kam
und eine entsprechende rassebiologische Begründung für
die Ausmerzung der Homosexualität im deutschen Volk gefunden worden war.
Viele Menschen haben darunter gelitten. Es macht es
nicht besser, dass dieser Paragraph in der Bundesrepublik
bis 1969 fortgalt. Das ist eine der Tragödien und auch
Kontinuitäten in der deutschen Unrechtsgeschichte. Ich
fand es eine große Leistung, dass der Bundestag gesagt
hat: Wir erkennen auch Fehler unserer Vorgängergeneration an, wir wollen den Menschen helfen und das Opferschicksal anerkennen.
Herr Kollege Geis, bei den Deserteuren geht es nicht
darum, ob es unter ihnen Feiglinge und Helden gab oder
ob es Leute gab, die aus Widerstandsgeist gehandelt haben oder aber einfach aus Angst vor einer konkreten
Kampfhandlung davongegangen sind. Es geht auch nicht
darum, ob alle Militärrichter Schurken waren oder ob es
unter ihnen Schurken und anständige Leute gab. Beides
ist richtig und die Geschichte ist auch nicht schwarz oder
weiß.
Letztendlich geht es um die Frage, ob der nationalsozialistische Staat, das Dritte Reich, seinen Anspruch auf
Gehorsam in rechtlicher Hinsicht legitimerweise gegen
die Menschen durchsetzen durfte oder ob dieser Staat, der
einen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg
gegen die Völker im Osten geführt hat, der mit seiner
Kriegsführung das Morden in Auschwitz, Treblinka usw.
verteidigt hat und jeden Tag, den dieser Krieg länger dauerte, mehr Menschen in die Gaskammern geschickt und
zu Tode gequält hat, keinerlei legitimen Anspruch auf Gehorsam seiner Soldaten hatte und somit ein unerlaubtes
Entfernen von der Truppe keinerlei Unrechtsgehalt hatte,
sodass ein Urteil keinen Bestand haben kann.
({1})
- Sie können hinterher eine Kurzintervention machen.
Herr Geis, der von Ihnen angeführte Fall, in dem jemand ein Verbrechen begangen hat und danach desertiert
ist, ist hier überhaupt nicht betroffen. Für dieses Verbrechen wird er verurteilt und er bleibt es, auch wenn wir die
einschlägigen Paragraphen für Unrecht erklären und dem
Dritten Reich den legitimen Anspruch absprechen, eine
Verurteilung gemäß dieser Rechtsgrundlage herbeizuführen.
Deshalb führt dieses Beispiel von Ihnen in die Irre.
({2})
Sie sollten einfach einmal aus der Perspektive der
Opfer denken und nicht immer nur aus der Perspektive
der Militärrichter und der anderen Soldaten, die sich anders entschieden haben, worüber niemand den Stab bricht.
({3})
Wer sind wir, dass wir dies könnten, soweit diese Leute
keine Verbrechen begangen haben? Aber öffnen Sie doch
Ihr Herz und geben Sie den Opfern ihre Ehre zurück.
Wenn sie überlebt haben, haben sie in der Bundesrepublik
oft ein schweres Schicksal gehabt. Sie wurden ausgegrenzt und galten als Vaterlandsverräter.
({4})
Viele von Ihnen haben keine Karriere gemacht und haben
sich niemals integriert.
Für sie ist diese Zeit der Todesangst, die sie erlitten haben, wenn sie wie Ludwig Baumann in den Todeszellen
saßen, und der Verfolgung sehr spät zu Ende gegangen.
Für die wenigen, die noch leben, wird es eine große Genugtuung sein. Sie werden kein Geld, aber ihre Ehre bekommen, wenn wir diesen Gesetzentwurf verabschieden.
Geben Sie doch bitte Ihrem Herzen einen Stoß und lassen
Sie uns gemeinsam als Deutscher Bundestag diese Geste
machen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hartenbach, Sie haben die
PDS kritisiert, weil sie diesen Bericht erbeten hat. Ich
muss sagen: Es war gut, dass die PDS dies gemacht hat,
und zwar aus mehreren Gründen. Der gemeinsame Antrag, den der Kollege Beck angesprochen hat, ist zwei
Jahre alt und liegt damit sehr lange zurück.
Ich habe Mitte letzten Jahres die Bundesregierung gefragt, wann denn nun mit dem Gesetzentwurf zu rechnen
sei. Die Antwort, die die Bundesregierung gegeben hat,
war: Er liegt spätestens Ende 2001 vor. Deshalb halte ich
es für angemessen, dass man nach dieser Auskunft zu Beginn des Jahres 2002 nachfragt, was denn nun eigentlich
mit dieser Angelegenheit ist. Dass die Nachfrage offensichtlich dabei geholfen hat, dass wir in den nächsten Wochen einen Gesetzentwurf präsentiert bekommen, ist ein
Ergebnis, über das man nicht unzufrieden sein darf.
({0})
Deshalb denke ich, dass dies, Herr Hartenbach, nicht kritikwürdig ist, sondern ganz im Gegenteil genau die richtige Vorgehensweise war.
Volker Beck ({1})
Ich möchte noch einen zweiten Punkt ansprechen.
Auch ich fand es sehr wichtig, dass wir bei unserer Debatte vor zwei Jahren eine gemeinsame Richtung gewiesen haben. Ich glaube, dass die Zeit reif ist, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Ich habe die herzliche
Bitte, dass dies für alle Seiten des Hauses gelten möge.
Wer sich anschaut, für wie wenige Fälle dies wahrscheinlich noch relevant werden wird, der muss nach meiner
Auffassung die Möglichkeit finden, zu einer großherzigen
Lösung zu kommen.
Es ist die Frage des Seelenheils angesprochen worden.
Ich glaube, dass dies ein ganz wichtiger Faktor ist. Wer
sich angeschaut hat, welche Urteile im Nationalsozialismus gefällt worden sind - ich habe schon mehrfach
darauf hingewiesen, dass ich in meiner früheren Tätigkeit
die Möglichkeit hatte, solche Urteile einzusehen -, der ist
zu einer solchen Großzügigkeit bereit, auch wenn der eine
oder andere Fall möglicherweise bei einer Nachprüfung
differenziert beurteilt werden müsste.
Ich kann zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nichts sagen. Aber ich kann das wiederholen, was
ich bei den früheren Debatten gesagt habe: Wir als Liberale, als Fraktion der FDP werden uns in die Diskussion
positiv einbringen. Uns wird vor allen Dingen wichtig
sein, dass wir zu einer guten gemeinsamen Lösung kommen. Wenn die heutige Debatte über den Bericht nach
§ 62 der Geschäftsordnung dazu ein erster Einstieg ist,
dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Ich hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kommen, und
zwar sowohl für die Wehrmachtsdeserteure als auch für
die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus, und
dass das noch vor Ende der Legislaturperiode möglich ist.
Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.
({2})
Wir hätten uns gewünscht, dass dies viel früher passiert
wäre. Wir werden deshalb schnellstmöglich in die Diskussion eintreten müssen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort
hat nun die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Dinge liegen klar auf der
Hand: Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer
Unrechtsurteile von 1998 enthält keine ausdrückliche
Aufhebung der Unrechtsurteile wegen Desertion. Um
Klarheit zu bekommen, müssten die noch lebenden Opfer
bei der zuständigen Staatsanwaltschaft eine Einzelfallprüfung beantragen. Das lehnen sie mit Recht als entwürdigend und diskriminierend ab. Eine solche Prüfung ist
nach so langer Zeit auch fast nicht möglich.
Wie akut das Problem ist, zeigen zwei jüngste Episoden, die dem Vorsitzenden der Bundesvereinigung Opfer
der NS-Militärjustiz, Ludwig Baumann, widerfahren
sind. So hat er zu seinem 80. Geburtstag neben freundlichen Grüßen einen Brief erhalten, in dem ihm gesagt
wird, er habe
doch allen Grund, dafür dankbar zu sein, dass Sie
- Baumann als Folge Ihrer Fahnenflucht nicht die Rübe verloren
haben oder aber an die Wand gestellt wurden. Denn
Sie haben sich nach der Manier von Charakterlumpen von der Einheit entfernt.
Des Weiteren stellte das Amtsgericht Tiergarten gegen
eine Geldbuße von 500 Euro das Verfahren wegen Beleidigung gegen einen Unverbesserlichen ein, der Ludwig
Baumann öffentlich als Straftäter diffamiert hat, noch
dazu während einer Kranzniederlegung im Bendlerblock.
Wir befinden über 23 000 Todesurteile wegen Fahnenflucht, von denen die meisten vollstreckt wurden. Die faschistische Militärjustiz hat gegen die Deserteure der Wehrmacht im wahrsten Sinne des Wortes gewütet. Es ist
wirklich beschämend, dass erst heute, Herr Hartenbach,
fast zum Ende der 14. Wahlperiode, und offensichtlich unter dem Druck der jetzigen, von meiner Fraktion beantragten Debatte eine entsprechende Gesetzesänderung für Februar angekündigt wird. Es wird endlich Zeit, dass wir per
Gesetz und ohne Wenn und Aber feststellen, dass diese Urteile Unrecht, ja verbrecherisch sind, dass die Verurteilten
mutig und richtig gehandelt haben und dass ihre Tat aller
Ehren wert ist. Das ist der Bundestag 57 Jahre nach der Niederschlagung der faschistischen Barbarei den Opfern, den
lebenden wie den toten, mehr als schuldig.
({0})
Wir haben unseren Antrag im Mai 2001 zur Beratung
gestellt, weil die rot-grüne Regierung bis dahin nichts unternommen hat. Meine ansonsten hoch geschätzte Kollegin Frau von Renesse hat bei der ersten Lesung zu Protokoll gegeben, unser Antrag sei das Papier nicht wert, auf
dem er geschrieben steht, und er sei die Zeit nicht wert,
die man für die Ablehnung benötigt. Ich frage mich heute:
Was ist ihr damaliger Redebeitrag wert? Ich möchte es
nicht weiter bewerten.
In der Sitzung des Rechtsausschusses im Juni 2001 hat
der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, der verehrte Herr Kollege Professor Pick,
erklärt, sein Haus habe noch Prüfungsbedarf. Er hat angekündigt, dass nach der Sommerpause, spätestens bis
Jahresende ein Vorschlag vorgelegt wird. Leider ist bis
heute nichts geschehen.
Allerdings kommt die heutige Nachricht auch nicht aus
dem BMJ, sondern - wenn ich es richtig gelesen habe von den Regierungsparteien.
({1})
Ich gestehe dem BMJ zu, dass es Zeit zum Nachdenken
braucht. Aber die Wahlperiode neigt sich bereits dem
Ende zu. In dieser Zeit wurden erfolgreich grundlegende
und komplizierte Gesetzeswerke durch den Bundestag
geboxt. Das war sicher nicht immer einfach.
({2})
- Das habe ich auch nicht gesagt; aber einige.
Über das verhältnismäßig kleine Problem der Rehabilitierung der Deserteure, Homosexuellen und so genannten Wehrkraftzersetzer aber wurde so lange gebrütet. Das ist umso erstaunlicher, als es einen sinnvollen
und praktikablen Lösungsvorschlag der SPD-Fraktion aus
der 13. Wahlperiode gibt, den die Regierungskoalition
kraft neuer Mehrheitsverhältnisse ohne weiteres längst
hätte durchsetzen können. Unsere Unterstützung hätten
Sie dabei gehabt.
({3})
Meine Fraktion hat diesen Lösungsvorschlag in ihrem
Antrag aufgegriffen, weil wir glaubten, den Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen würde es leichter
fallen, ihre eigenen Ideen aus ihrer Oppositionszeit weiterzuverfolgen. Das war jedoch offensichtlich bis heute
nicht der Fall.
Zum Schluss möchte ich aber nicht meine große
Freude verhehlen, dass Sie sich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen,
offensichtlich unter dem Druck unseres Antrages, der
heutigen Debatte und vor allem der unermüdlichen Anstrengungen der Betroffenen, insbesondere der Anstrengungen von Ludwig Baumann,
({4})
nun endlich zum Handeln gezwungen fühlen und dass die
Aufhebung dieser Unrechtsurteile per Gesetz ins Haus
steht. Man kann nicht am Montag eine würdevolle Gedenkveranstaltung durchführen, aber die Ungleichbehandlung ganzer Gruppen von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aufrechterhalten. Das ist
politisch unverantwortlich und skandalös. Ich lasse mich
dafür gerne von Ihnen in so anmaßender Weise beschimpfen, Herr Hartenbach.
({5})
Das Ergebnis hat mir Recht gegeben.
({6})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
jetzt sofort als Zusatzpunkt 11 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung
eines Strafverfahrens
- Drucksache 14/8173 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 14/8173, die Genehmigung zu erteilen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Februar 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.