Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der bayerische Staatsminister Otto
Wiesheu hat im Mai des Jahres 2000 darauf hingewiesen,
dass das Vergaberecht nicht mit vergabefremden Aspekten überfrachtet werden darf. Er hat zugleich das bayerische Gesetz über eine Tariftreueerklärung bei öffentlichen Bauaufträgen in Bayern ausführlich gelobt.
({0})
Daran möchte ich anknüpfen und festhalten: Selbstverständlich darf man dem Vergaberecht nicht zu viele
politische Kriterien aufbürden. Bereits die notwendige
Transparenz, Objektivität und Justiziabilität machen die
Vergabe öffentlicher Aufträge teilweise recht mühsam.
Mit der Zulassung verschiedenster vergabefremder Aspekte würde das primäre Ziel des Vergaberechts, öffentliche Aufträge objektiv und diskriminierungsfrei zu vergeben, kaum mehr erreichbar.
Die Bundesregierung hat es sich deshalb bei ihrer Entscheidung, die vom Bundesrat gewollte Tariftreuepflicht
gesetzlich zu verankern und das bayerische Tariftreuegesetz gemäß Bundesratswillen zu einem Bundesgesetz
zu machen, nicht leicht gemacht. Dabei geht es nicht allein
darum, eine für die Wirtschaft verheerende Zersplitterung
des Vergaberechts zu verhindern. Viele Bundesländer haben ja bereits Tariftreueregelungen in der einen oder anderen Form. Bayern habe ich schon erwähnt; auch das Saarland, Sachsen-Anhalt und Berlin verfügen über derartige
Vorschriften und andere Bundesländer bereiten sie vor.
Hinzu kommt die prekäre Situation in der Bauwirtschaft.
Ein Unternehmen, das sich an die Tarifvereinbarungen hält,
hat in Ost- und Westdeutschland nur noch wenig Chancen
am Markt. So sehr die Tarifpartner für wirtschaftlich tragbare und vernünftige Tarifvereinbarungen sorgen müssen,
der Staat kann die Augen nicht verschließen, wenn in einer
Branche Tarifvereinbarungen obsolet zu werden drohen.
Das ist nicht im Sinne unserer Verfassung.
({1})
Heute liegt Ihnen deshalb der Entwurf eines Bundesgesetzes vor, den die Regierungsfraktionen gleich lautend
zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung eingebracht
haben. Mit dem Gesetzentwurf wird auch auf die Situation der Bauwirtschaft reagiert. Durch Lohndumping
werden immer mehr Arbeitsplätze insbesondere in mittelständischen Unternehmen zerstört, Arbeitsplätze, die ohne dieses Lohndumping einen ausreichenden sozialen
Schutz gewährleisten könnten.
Weder Unternehmen noch Arbeitnehmer können aber
auf Dauer zu immer niedrigeren Löhnen und immer instabileren Arbeitsbedingungen existieren. Es ist in einer
wohlverstandenen sozialen Marktwirtschaft eigentlich
Aufgabe der Wirtschaft, eine derartige Fehlentwicklung
zu unterbinden.
({2})
Aber diese Chance zur Selbststeuerung wurde nicht ergriffen.
Ein weiteres Mal zeigt sich: Der mangelnde Wille, die
mangelnde Kraft zur Selbstregulierung erfordert zwingend eine staatliche Regulierung; denn man kann dieses
Lohndumping nicht weiter treiben lassen. Die öffentliche
Hand muss also handeln. Ansonsten würde aufgrund der
Dynamik des Wettbewerbs ein Stundenlohn von 3 Euro
zur Regel, um wettbewerbsfähig zu sein.
Die öffentliche Hand mit ihrem immensen Auftragsvolumen von rund 250 Milliarden Euro darf dieser Abwärtsspirale nicht Vorschub leisten, sondern muss ihren
damit verbundenen Einfluss dazu nutzen, diese Abwärtsspirale abzuschaffen, da sich hier die Wirtschaft nicht selber regulieren will oder kann. Es ist ferner völlig verständlich, wenn die Arbeitnehmer dagegen protestieren,
dass mit ihren Steuergeldern Dumpinglöhne gezahlt werden. Das gilt für den öffentlichen Personennahverkehr
ebenso wie für den Baubereich.
Mit der EU wollen wir auch in diesem Bereich dem
Wettbewerb mehr Geltung verschaffen. Das darf aber
nicht heißen, dass wir einen Wettlauf um niedrige soziale
Standards und schlechte Bezahlung staatlicherseits fördern oder tolerieren. Es geht uns vielmehr um mehr Effizienz und attraktivere Angebote.
Noch einmal erlaube ich mir ein Zitat des bayerischen
Wirtschaftsministers Wiesheu. Er sagt:
Präsident Wolfgang Thierse
Bayern tritt für einen fairen Wettbewerb mit Augenmaß im ÖPNV ein. Deshalb haben wir mit allen
Betroffenen ... eine Vereinbarung über die Anforderungen bei Linienausschreibungen getroffen. Sie
betreffen die Qualität, die Busausstattung, die Tarifverträge.
Genau das wird nun mit dem Gesetz Bundesstandard.
Der Staat soll Bauaufträge und ÖPNV-Leistungen nur
noch an tariftreue Unternehmen vergeben. Um die damit
verbundenen bürokratischen Belastungen gering zu halten, will die Bundesregierung eine Bagatellgrenze in Höhe von 50 000 Euro pro Auftrag einführen. Die einzelnen
Regelungen des Gesetzes bergen für die öffentlichen Auftraggeber und die Wirtschaft letztlich wenig Überraschungen; denn sie kennen die Praxis, die sich leider etabliert hat. Ferner hat der Bundesrat die Grundzüge einer
derartigen Regelung im Juni letzten Jahres skizziert.
Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf stützt sich auf
diesen Bundesratsbeschluss. Er stützt sich zudem auf die
Arbeit einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der betroffenen
Wirtschaft, der Ressorts und auch der Gewerkschaften.
Bauaufträge und Aufträge über Verkehrsleistungen im
ÖPNV sollen danach in Zukunft nur noch an Unternehmen vergeben werden, die die am Ort der Leistungserbringung einschlägigen Tariflöhne zahlen.
Ich will nicht verschweigen, dass uns die Frage, ob auf
den Lohn der Baustelle oder auf den Lohn des Unternehmenssitzes abgestellt werden soll, einige Kopfschmerzen
bereitet hat. Denn für viele ostdeutsche Unternehmen des
Baugewerbes bedeutet der Lohn der Baustelle, dass sie
bei öffentlichen Aufträgen im Westen nicht mehr mit Ostlöhnen kalkulieren können. Dies gilt allerdings nur für das
Baunebengewerbe. Im Bauhauptgewerbe ist tarifvertraglich vereinbart, dass bei Aufträgen im Westen die
Westlöhne zu zahlen sind. Das Gesetz schreibt hier also
nur das vor, was die Tarifvertragsparteien ohnehin bereits
vereinbart haben. Damit ist die Dimension dieser Ostproblematik weit geringer, als vielfach angenommen, da sie
- wie gesagt - nur das Baunebengewerbe betrifft.
Jetzt will ich noch eine praxisorientierte Frage hinzufügen: Ist ein ostdeutscher Tarifstundenlohn plus Auslösung für den Einsatz in Westdeutschland tatsächlich
billiger als ein westdeutscher Tarifstundenlohn? - Bei Tariftreue wohl nicht. Theoretisch kann man also sagen, dass
der sich aus dem niedrigen Ostlohn ergebende Vorteil bei
Aufträgen im Westen entfällt.
({3})
Praktisch wird das aber keine Rolle spielen. Deshalb gibt
es zum Lohn der Baustelle hier keine Alternative.
Festzulegen, dass der Lohntarif am Unternehmenssitz
gezahlt werden soll, scheidet ferner auch deswegen aus,
weil das gerade bei ausländischen Unternehmen nicht zu
kontrollieren wäre. Auch würden im Zuge der Osterweiterung der EU zuerst die ostdeutschen Unternehmen von
den neuen Wettbewerbern bedrängt.
({4})
Im Übrigen kann man sich durchaus fragen, ob es wirklich zukunftsweisend und auf lange Sicht vernünftig ist,
wenn sich Unternehmen im Wesentlichen auf einen Personalkostenvorsprung verlassen, der allein auf die Lohnhöhe zurückzuführen ist.
({5})
Unter diesem Aspekt ist die Streichung des Lohnkostenvorteils aus dem Wettbewerb um öffentliche Bauaufträge
durchaus auch eine Chance.
Ein weiteres wichtiges Thema des Gesetzentwurfs sind
die Kontrollregelungen. Darin, dass das Gesetz ohne effektive Kontrollen und Sanktionen wertlos wäre, sind
sich alle einig. Der öffentliche Auftraggeber kann sich
deshalb der Hilfe der Bundesanstalt für Arbeit und des
Zolls bedienen, die ohnehin schon die Mindestlöhne auf
den Baustellen kontrollieren.
({6})
Verstößt ein Unternehmen gegen die Tariftreuepflicht,
stehen dem öffentlichen Auftraggeber mehrere Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung - von der Vertragsstrafe
bis zum Ausschluss von der Vergabe künftiger öffentlicher Aufträge. Übrigens: Wer die Probleme auf dem Bau
kennt, weiß auch, dass meist nicht die Vertragspartner
Dumpinglöhne zahlen. Die Preise werden vielmehr bei
den Nach- und Nach-Nachunternehmen gedrückt. Damit
das Gesetz kein zahnloser Tiger wird, werden auch alle
Nachunternehmen in die Tariftreueregelung einbezogen.
Meine Damen und Herren, das Gesetz soll dazu beitragen, dass es auf dem Bau und im öffentlichen Personennahverkehr auch in Zukunft stabile Arbeitsverhältnisse
gibt. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Diskussion um dieses Gesetz auch die Verantwortung deutlicher werden
lässt, die die Tarifpartner für die Beschäftigung haben.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es gibt einen beispiellosen Niedergang in
der deutschen Bauwirtschaft.
({0})
Es ist nur allzu normal, dass wir uns hier im Parlament
über diese dramatische Entwicklung unterhalten. Seit
1995 gibt es im Bauhauptgewerbe 500 000 Beschäftigte
weniger. Im November letzten Jahres waren es gerade
noch 948 000. In Deutschland sind 264 500 Bauarbeiter
arbeitslos; das sind fast 28 Prozent.
Wenn man wie ich seit 36 Jahren in der Branche arbeitet - ich hätte mir niemals vorstellen können, dass einmal
eine Situation eintritt, in der man trotz aller Bemühungen
keine Arbeit mehr für seine Leute hat, selbst wenn man
bereit ist, zu Selbstkosten anzubieten -, drängt einen dieses Problem mehr als manch anderes.
Kommt dann ein Vorschlag wie der, ein Betriebstreuegesetz einzuführen, hat man zunächst einmal Hoffnung,
dass das vielleicht wirklich etwas verbessern könnte, vor
allen Dingen wenn man selbst ausschließlich Tariflöhne
zahlt und bei diesen Löhnen seit Monaten keine Arbeit
mehr bekommt. Wenn man aber genauer hinschaut, ob das
Gesetz an der dramatischen Situation wirklich etwas ändern wird, muss man letztlich feststellen, dass es eine genauso weiße Salbe bleiben wird wie viele andere Regulierungen, die in diesem Bereich gemacht wurden, auch.
Das Gesetz gilt ja nur für öffentliche Aufträge. Die öffentlichen Aufträge machen aber leider gerade nur noch
14 Prozent der Bausumme in Deutschland aus.
({1})
Von diesen 14 Prozent werden zwei Drittel von den Gemeinden investiert. Es ist ja nicht so, als wenn nicht genügend Arbeit da wäre. Man schätzt den Investitionsbedarf
der Gemeinden für Infrastruktureinrichtungen, die gebaut, aber auch unterhalten werden müssen, damit sie
nicht vor die Hunde gehen, zurzeit auf 1 Billion DM.
({2})
Wenn ich mir die Wirklichkeit in den öffentlichen
Haushalten ansehe, ist zunächst einmal festzustellen, dass
die Nachfrage der öffentlichen Hand in den letzten Jahren
leider massiv zurückgegangen ist, nämlich um 1,9 Prozent in 2000 und 2,5 Prozent in 2001. Wenn ich jetzt das
Jahr 2002 betrachte, stelle ich fest: Der Bund hat eine
Investitionsquote von nur noch 10,1 Prozent im Haushalt
vorgesehen. Das ist die niedrigste Investitionsquote, die
es je gegeben hat.
({3})
Der Bund investiert im Jahr 2002 9,5 Milliarden DM nominal weniger als 1998, und zwar trotz eines Steueraufwuchses von rund 48,5 Milliarden DM in diesem Zeitraum.
Auch in den Ländern sind die Haushalte, um die nötigen Investitionen durchzuführen, sehr eng. Es gibt einen
guten Grund, warum Herr Eichel den Ländern und Gemeinden eine höhere Nettoneuverschuldung erlaubt hat.
Wenn ich mir aber die Gemeinden anschaue, die einen
traumatischen Einnahmeausfall haben, weil durch die
Steuerreform die kommunale Einnahmebasis ruiniert
worden ist, dann weiß ich, was in Zukunft auf das Baugewerbe noch zukommt: Dieser verminderte Investitionswille und diese verminderte Investitionsfähigkeit der einzelnen Ebenen werden dazu führen, dass wir einen sich
selbst beschleunigenden Abschwung im Baugewerbe bekommen werden. Ich kann nur dringend dazu raten, die
kommunale Einnahmebasis möglichst schnell wieder zu
verändern. Damit ist mehr getan als durch jede unsinnige
Regulierung.
({4})
Ich komme zum zweiten Schwerpunkt, woran der Bau
heute krankt. Wir hatten im Wohnungsbau in 2000 ein
Minus von 9 Prozent und in 2001 eines von 17 Prozent.
Es ist nicht so, als wenn die Menschen in Deutschland
nicht mehr den Willen zum Bau von Eigenheimen hätten.
Aber Sie haben die Ausgangsvoraussetzungen, damit die
Leute bauen können, in Ihrer Regierungszeit massiv verschlechtert. Sie haben die Einkommensgrenze für die
Wohneigentumsförderung von 120 000 bzw. 240 000 DM
auf 80 000 bzw. 160 000 DM reduziert.
Wir haben Ihnen damals bei den Beratungen gesagt,
dass dies zum Rückgang des Wohneigentumsbaus in
Deutschland führen werde. Auch die Verbände haben Ihnen dies gesagt. Aber Sie haben - aus welchen Gründen
auch immer - die Schwelle für die Förderung des Wohneigenheimbaus, die wir eingeführt hatten, sinnlos reduziert.
Ich sage das hier, weil mancher von Ihnen ein Haus gebaut hat. Ich habe viel Baufinanzierung gemacht.
({5})
Ich weiß: Wer mit dem Groschen rechnen muss, für den
sind bei einer monatlichen Refinanzierung die letzten
200 oder 300 DM am schwierigsten aufzubringen. Das
weiß jeder, der einmal einen Hausbau finanziert hat.
Sie haben auch die Möglichkeit vieler Menschen reduziert, den Wohnungsneubau zu finanzieren. Was Sie mit
den 630-DM-Jobs gemacht haben, hat die Fleißigsten in
unserem Lande bestraft.
({6})
Sie wollen die Partei der kleinen Leute sein. Sie wissen
aber nicht, was sich da abspielt. Ich kenne Dutzende von
Beispielen, bei denen ein Ehepaar, um ein Haus zu bauen,
eine Wohnung oder Möbel zu kaufen, entschieden hat,
dass einer von beiden einen Nebenjob annimmt. Damit
konnte dann das Geld aufgebracht werden, um sich dies
leisten zu können. Diejenigen, die so gehandelt haben und
jetzt die 630 DM zu ihrem ersten Gehalt dazurechnen
müssen, womit sie in die Progressionszone kommen und
damit aus 630 DM netto nur noch 350 DM netto geworden sind, sind aber nicht mehr in der Lage, sich diese
Dinge zu leisten. Das führt zu einem dramatischen Rückgang bei den Wohnungsneubauten.
({7})
- Lassen Sie diese dümmlichen Zwischenrufe! Ich weiß
sehr genau, wovon ich spreche.
({8})
Auch Sie wissen, dass ich genau weiß, wovon ich spreche.
Wenn man in einer Branche arbeitet, dann stellt man
sich nicht erst heute die Frage: Was ist eigentlich in unserer Branche los? Ich kann mich gut daran erinnern, dass
ich Anfang der 90er-Jahre auch bei uns davor gewarnt
habe, zu glauben, dass eine Mindestlohnverordnung
oder ein Entsendegesetz etwas bringen würden. Vor
kurzem haben Sie den Unfug mit der Bauabzugssteuer gePeter Rauen
macht. Jetzt wollen Sie die Tariftreueregelung einführen.
Das ist doch alles nur weiße Salbe.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen den wahren
Grund nennen.
({9})
- Das war als Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung geplant. Das hat sich zunächst auch gut angehört. Aber angesichts des bürokratischen Molochs, der
auf unsere Handwerksbetriebe zurollt, die seit zehn oder
15 Jahren ihre Steuernummer haben und plötzlich mit diesen Abzügen kujoniert werden,
({10})
macht sich Ärger in den Betrieben über diese Regelungen
breit.
({11})
Das Gesetz lässt die Betriebe zum Inkassobetrieb für
die Finanzämter werden. Das war bei dem Gesetz zur
Bekämpfung der illegalen Beschäftigung, dem wir
seinerzeit zugestimmt haben, zunächst nicht bedacht worden.
({12})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch feststellen: Was
Sie hier machen, ist aus der Sicht der neuen Bundesländer
nicht akzeptabel.
({13})
Ich bin nicht bereit, meine eigene Lebenserfahrung
hinter vordergründigen Überlegungen zurückzustellen.
Ich erinnere mich noch gut daran, als ich vor 35 Jahren angefangen habe, ohne irgendetwas an den Füßen zu haben.
Ich war froh, meinen Betrieb in der Eifel zu haben, wo es
damals etwas geringere Tariflöhne gab und wir froh waren, Aufträge im Saarland oder in Nordrhein-Westfalen zu
bekommen. Wenn ich damals gezwungen worden wäre,
die Löhne vor Ort zu bezahlen, wäre ich sicherlich nicht
hochgekommen und hätte den Betrieb nicht in Gang setzen können.
Ich bin nicht bereit, den Betrieben in den neuen Bundesländern, die um ihre Existenz kämpfen, eine Regelung
überzustülpen, die im Prinzip ein Unternehmensvernichtungsgesetz in den neuen Bundesländern darstellt. Das
kann nicht sein.
({14})
Meine Damen und Herren, wenn Sie die Probleme auf
dem Bau wirklich lösen wollen, dann muss alles getan
werden, um die viel zu große Schere zwischen den
Nettolöhnen der deutschen Bauarbeiter, die zu gering
sind,
({15})
und ihren Bruttoarbeitskosten, die viel zu hoch sind,
durch entsprechende Reformen wieder zu schließen. Das
ist die einzige Möglichkeit, um international wettbewerbsfähig zu bleiben.
({16})
Das gilt auf Dauer nicht nur für das Baugewerbe. Der Bau
ist nur der Fokus einer Entwicklung, die wir gewollt haben und die jetzt eintritt.
({17})
Wir sind davon ausgegangen, dass Europa den freien
Verkehr von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital bedeutet. Genau das geschieht jetzt bei der Lohnmigration in Europa. Dabei können wir langfristig nicht
mit Verboten argumentieren.
({18})
Ich nehme zum Beispiel den Bauboom in Portugal.
Man sieht bei einem Besuch der Baustellen, dass dort
viele Marokkaner arbeiten, wobei man sich dann nicht darüber wundern muss, warum so viele Portugiesen anderswo in Europa arbeiten.
({19})
In Tschechien oder Polen arbeiten heute Letten, Ukrainer
und Weißrussen, weil die einheimischen Arbeitnehmer ihr
Geld bei uns verdienen.
({20})
Wenn wir es nicht schaffen, die viel zu hohe Belastung
der Arbeit durch die notwendigen Reformen zu senken
mit dem Ziel, dass den Menschen mehr bleibt, dann werden wir die Probleme auf dem Bau niemals lösen können.
({21})
Genau dabei haben Sie versagt. Sie haben das Gegenteil
von dem gemacht, was Sie eigentlich tun müssten.
Schönen Dank.
({22})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Rauen, Sie wissen zwar genau, worüber Sie reden;
aber Sie reden nicht genau über die Probleme.
({0})
Es sind natürlich nicht nur die klammen Gemeindefinanzen und die hohen Lohnnebenkosten, die das Baugewerbe bedrücken, sondern auch die politischen Fehler, die
im Zuge der deutschen Einheit gerade von Ihnen gemacht
wurden.
({1})
Die prekäre Situation des ostdeutschen Baugewerbes
hängt sehr stark mit den Überkapazitäten zusammen, die
dort geschaffen worden sind, und zwar durch Steuerabschreibungsmodelle der FDP
({2})
und durch Fehlallokation von Kapital in einer beachtlichen Größenordnung. Es gibt dort Investitionsruinen; dort
sind Bauten errichtet worden, die niemand braucht und
die leer stehen. Der Leerstand ist unglaublich hoch. Das
ist gerade für eine neues Bundesland bedrückend. Das ist
sicherlich durch die Wunschvorstellungen getragen, eine
Art zweites Wirtschaftswunder mit einer Baukonjunkturlokomotive in Gang setzen zu können. Doch heute haben
wir dadurch massive Probleme. Die Experten sagen, dass
das Wirtschaftswachstum bei etwa 1,5 Prozent liegen
würde, wenn die Probleme der ostdeutschen Bauwirtschaft mit dem Abbau der Überkapazitäten nicht berücksichtigt würden.
({3})
- Günter Nooke, zu diesem Ergebnis ist das Institut für
Wirtschaftsforschung Halle gekommen. Ich vertraue darauf.
({4})
- Da Sie sich an dieser Debatte so engagiert beteiligen,
vermute ich, dass Sie heute Morgen sehr starken Kaffee
getrunken haben
({5})
oder dass Ihnen, Kollege Merz, der gestrige Abend noch
lebhaft in Erinnerung ist.
In der Wirtschaftsentwicklung der Europäischen
Union spielen Liberalität und Wettbewerb eine sehr
große Rolle. Das ist mit der Einführung des Euro noch
einmal verstärkt worden. Der Wettbewerb hält auch Einzug in alle Bereiche der alten Daseinsvorsorge. Das ist aus
unserer Sicht förderlich; denn wir setzen auf die Kreativität des Wettbewerbs. Es geht dabei um den besten Service sowie um die besten technologischen und ökologischen Lösungen. Aber wir müssen darauf achten, dass der
Wettbewerb - dass Ihnen Wettbewerb nicht gefällt, kann
ich mir vorstellen - fair ist, dass faire Rahmenbedingungen
geschaffen werden, dass die sozialen Rechte eingehalten
werden - das ist im Baugewerbe ein großes Problem - und
dass die soziale Realität in einem zusammenwachsenden
Deutschland berücksichtigt wird.
Fakt ist: Vergabegesetze gibt es in Bayern - das dortige
Gesetz geht auf die Initiative der CSU zurück -, in Berlin
- dort hat die große Koalition, an der die CDU beteiligt war,
ein entsprechendes Gesetz in Kraft gesetzt -, im Saarland
- auch dort hat die CDU ein Vergabegesetz verabschiedet und in Sachsen-Anhalt. Man weiß aufgrund praktischer Erfahrungen, dass sich mit Vergabegesetzen gewisse soziale
Standards erhalten lassen. Allerdings stellt sich die Frage,
ob man mit solchen Gesetzen der sozialen Realität in einem
Transformationsland, wie es das vereinte Deutschland ist,
in ausreichendem Maße Rechnung trägt.
Wir sollten aber auch die Einwände beachten, die beispielsweise der Deutsche Städte- und Gemeindebund vorgebracht hat. Er sieht in dem angekündigten Tariftreuegesetz die Gefahr der einseitigen Benachteiligung von
Bauunternehmen - sei es auch nur des Baunebengewerbes - aus den neuen Bundesländern. Viele dieser Betriebe
können sich offensichtlich nur durch Aufträge der öffentlichen Hand aus den alten Bundesländern über eine bestehende Durststrecke hinweghelfen. Wir müssen auf jeden Fall eine Lösung finden, die es vermeidet, dass solche
Unternehmen von zwei Dritteln des gesamtdeutschen
Marktes ausgeschlossen werden. Darauf sollten wir in der
Anhörung den Fokus legen.
({6})
Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ja.
Vielen Dank. - Herr Schulz, ist Ihnen der Artikel des Kollegen Metzger aus der „FAZ“ vom
18. Januar dieses Jahres bekannt, in dem er vehement vor
der Einführung eines Tariftreuegesetzes warnt, da dieses
zum Absterben der Bauindustrie und des Baugewerbes in
Deutschland führen werde?
({0})
Ich kenne diesen Artikel zwar nicht. Aber ich
kenne die Position und die Auffassung meines Kollegen
Metzger. Wir haben darüber sehr kritisch diskutiert. Solche Einwände, wie Sie sie gerade angeführt haben, werden ja nicht nur von ihm, sondern auch von der mittelständischen Bauwirtschaft erhoben. Wir nehmen - das
haben Sie vielleicht auch mitbekommen - diese Einwände und die damit verbundenen Sorgen sehr ernst. Wir
sind um eine Lösung bemüht. Der vorliegende Entwurf eines Tariftreuegesetzes - das ist bei vielen Gesetzesberatungen so - wird den Bundestag mit Sicherheit nicht so
Werner Schulz ({0})
verlassen, wie er eingebracht worden ist. Wir setzen auf
die Beratung und die Anhörung. Wir sind der Meinung,
dass wir eine gemeinsame Lösung für die Probleme finden werden, auch wenn das nicht einfach sein wird.
({1})
Das Gleiche gilt für den Schwellenwert. Auch hier gehen die Auffassungen sehr stark auseinander. Die einen
hätten am liebsten einen Schwellenwert von 10 000 Euro;
die anderen möchten beim Auftragsvolumen einen
Schwellenwert von 300 000 Euro haben. Auch darüber
müssen wir in der Anhörung Klarheit schaffen.
Wir werden auch Klarheit darüber schaffen müssen,
wie hoch der Verwaltungsaufwand sein wird und wie und
wo beispielsweise ausländische Unternehmen kontrolliert
werden können. Wir müssen uns auch über die Laufzeit
und über den Berichtszeitraum für dieses Gesetz verständigen.
Ich glaube, wir haben in diesem Falle einen echten und
großen Beratungsbedarf.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sachverständigenrat schreibt in seinem aktuellen Gutachten zu dem Tariftreuegesetz - ich zitiere -: „Wir raten von diesem Gesetz ab, hoffentlich nicht
wieder umsonst.“ Eigentlich ist dem nichts hinzuzufügen.
({0})
Wir haben in der Bauwirtschaft unbestritten eine katastrophale Lage. Sie ist noch katastrophaler in Deutschland-Ost. Herr Schulz, ich verstehe Sie überhaupt nicht.
({1})
36 Prozent der ostdeutschen Bauarbeiter sind arbeitslos.
({2})
In den neuen Bundesländern sind etwa 80 Prozent aller
Arbeitsverhältnisse außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts.
({3})
Das ist eindeutig rechtswidrig. Keine Gewerkschaft
- auch nicht die IG BAU -, keine Regierung und kein Politiker gehen an den rechtswidrigen Tatbestand heran,
dass 80 Prozent außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts beschäftigt sind. Jeder weiß nämlich: Wenn man da
herangeht, verdoppelt oder verdreifacht sich die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern.
({4})
Es ist eine Notreaktion, dass sich in den betroffenen
Unternehmen die Mitarbeiter und die Unternehmer zusammensetzen, damit Arbeit in einem gewissen Umfang
überhaupt noch vorhanden ist. Der einzige Vorteil dieser
Betriebe ist - die Fachleute sprechen von einem komparativen Vorteil -, dass sie zu anderen Konditionen anbieten können. - Herr Schwanitz schweigt dazu. Der Aufbau
Ost soll doch Chefsache sein. Chefsache in diesem Land
ist aber nur Holzmann. Sie nehmen genau diesen Betrieben die Chance, Beschäftigung zu bekommen.
({5})
Wenn ein ostdeutscher Betrieb in Köln, in Frankfurt
oder in Stuttgart zu den örtlichen Tarifen anbietet, hat er
keine Chance. Sie nehmen ihm die Chance! Sie bauen
wieder Schutzzäune um die Märkte. Das ist genau der
falsche Weg.
({6})
Das ist der gegenteilige Ansatz zu dem Ordnungsprinzip
der sozialen Marktwirtschaft.
Dass ausgerechnet ein Land wie Sachsen-Anhalt, das
die höchste Arbeitslosigkeit und die miserabelsten Wirtschaftsdaten in Deutschland hat,
({7})
einen solchen Gulasch, eine solche Fehlentwicklung unterstützt, indem es einen entsprechenden Gesetzentwurf
in den Bundesrat mit einbringt, zeigt, dass diese Regierung die Probleme ihres Landes nicht verstanden hat. Deswegen muss sie weg.
({8})
Die IG BAU „honoriert“ der Regierung die Tatsache,
dass diese ihren sehnsüchtigen Wunsch erfüllt, nach dem
Entsendegesetz einen weiteren Schutzzaun zu bauen, mit
einer Lohnforderung von 4,5 Prozent, was angesichts
der hohen Arbeitslosigkeit in die Rezession hineinführt.
In dieser Situation muss man erst einmal auf die Idee
kommen, mit einer solchen Forderung in die Tarifverhandlungen hineinzugehen. Die Theaterinszenierung
Bündnis für Arbeit wird erneut nichts bringen. Dort werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen.
({9})
Kernproblem in diesem Bereich ist die Schwarzarbeit.
Auch dort geht man den falschen Weg. Hauptursache der
Schwarzarbeit ist, dass die Differenz zwischen Brutto und
Netto zu hoch ist. Wir nehmen den Leuten zu viel ab.
({10})
Aber anstatt an den Ursachen anzusetzen und anstatt Freiraum zu geben, geht man die andere Richtung, indem man
noch mehr reguliert und ein Zwangskorsett schafft. So
geht man gegen die Arbeitslosen vor; man gibt ihnen
keine Chance. Das ist doch alles nur Kosmetikköfferchen.
Das hilft doch überhaupt nicht; das ist keine Lösung.
({11})
Die Konsequenz ist: Das Bauen wird teurer. Es wird
weniger Bauaufträge der öffentlichen Gebietskörperschaften geben, denen es eh schon schlecht geht und die
Werner Schulz ({12})
aus dem letzten Loch pfeifen. „Weniger Bauaufträge“
heißt: weniger Beschäftigung, also wieder mehr Arbeitslosigkeit. Das kostet mehr. Man gibt, wie gesagt, den
draußen Stehenden keine Chance. Das ist erneut ein Beitrag zu mehr Kompliziertheit.
Wir haben bei uns in Deutschland Vergabedschungel
und Regulierungswut. Wir legen denen, die etwas machen wollen, Handschellen an. Statt 1 000 Handschellen
abzulegen, damit sie etwas machen können
({13})
- Sie sollten sich schämen, statt dazwischenzurufen -,
({14})
gehen wir weiter in Richtung Regulierung. Das Gegenteil
von „gut“ ist eben „gut gemeint“. Ich will dem einen oder
anderen gar nicht unterstellen, dass er keine gute Absicht
dabei hat, aber Sie machen es fundamental falsch.
({15})
Ich verstehe auch nicht, dass sich ein Wirtschaftsminister, der in einer Regierung eigentlich das ordnungspolitische
Gewissen sein sollte, hier hinstellt und diesen elementaren
Verstoß gegen die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft
- wieder mehr Zement, mehr Schutzzäune, keine Flexibilität, keine Öffnung - auch noch rechtfertigt. Das ist eigentlich noch der i-Punkt dabei.
({16})
Bei allen Wirtschaftsforschungsinstituten, bei der Bundesbank, bei der OECD besteht die klare Auffassung:
Dass wir von der unerträglich hohen Arbeitslosigkeit
nicht herunterkommen, liegt an der Inflexibilität des Arbeitsmarktes. Das ist das Kernproblem.
({17})
Sie müssen endlich Freiräume schaffen und das Tarifvertragsrecht novellieren, sodass auch das Günstigkeitsprinzip zugunsten der Erhaltung des Arbeitsplatzes angewendet werden kann.
({18})
Gebt den Mitarbeitern in den Betrieben Mitbestimmung
und kommt weg von der Funktionärsfremdbestimmung!
({19})
Lassen Sie sie, wenn sie es wollen, mit 75 Prozent Mehrheit anders entscheiden. Sie sind betroffen. Um deren Arbeitsplatz und nicht um den der Gewerkschaftsfunktionäre geht es!
({20})
- Sie als IG-Metall-Funktionär müssen aus Solidarität anders schreien. So ein Unsinn!
({21})
Wenn Sie weiter den falschen Weg gehen, dann werden
Sie die Arbeitslosigkeit von Monat zu Monat steigern. Allein im Dezember 180 000 neue Arbeitslose! Das wird
weiter so gehen. Sie werden im nächsten Monat eine weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit hinnehmen müssen.
Sie gehen genau in die falsche Richtung. Dieses Gesetz
hat fast Symbolcharakter. Es steht für eine falsche Denke.
({22})
Flexibilität, Freiraum, Marktwirtschaft - das ist der
Weg. Zementieren, lokales Denken, Schutzzäune um
Köln, um Bonn, damit kein anderer Bauarbeiter eine
Chance hat - das ist Rückschritt ins Mittelalter. Sie bauen
ja wieder eiserne Schienen in die Flüsse, damit sich dort
nichts bewegt. Das ist intellektuelles Raubrittertum. Sie
machen es fundamental falsch.
({23})
Ich erteile der Kollegin Ulla Lötzer, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen
und Kollegen! Herr Brüderle, kümmern wir uns mal um
die realen Probleme der Menschen, die in diesen Branchen arbeiten!
({0})
Sie werden zum Beispiel bei dem Streit deutlich, den die
Busfahrer der Firma Rheinbus in Düsseldorf seit Dezember führen. Sie wollen nichts anderes, als ihren Anspruch
durchzusetzen, das Einstiegsniveau nach dem Tarifvertrag zu erhalten, der mit dem kommunalen Arbeitgeberverband ausgehandelt wurde. Die Arbeitgeber haben
einen Gefälligkeitstarifvertrag mit einer anderen Gewerkschaft zu niedrigeren Tarifen, nämlich 1 400 Euro im
Monat für Busfahrer im Schichtdienst, abgeschlossen.
({1})
Das gehört zu den realen Problemen der Menschen. Dafür
streiken sie. Da geht es nicht um irgendwelche Funktionäre.
({2})
Zielsetzung des Entwurfs ist es, so sagen Sie, Arbeitsplätze zu erhalten, die einen ausreichenden sozialen
Schutz und ein angemessenes Einkommensniveau gewährleisten. Nur ist der Entwurf insofern inkonsequent.
Der Gefälligkeitstarifvertrag, den ich eben erwähnte,
könnte nämlich zur Grundlage des Wettbewerbs werden,
wenn dieser Entwurf Gesetz wird. Sie sagen darin ja: Der
öffentliche Auftraggeber kann entscheiden, welchen der
gültigen Tarifverträge er wählt, wenn es denn mehrere
gibt. Das ist für uns ebenso unannehmbar wie für die Gewerkschaften. Wir wollen, dass der Entwurf in der Beratung dahin geändert wird, dass der repräsentative ortsübliche Tarifvertrag eingehalten werden muss.
({3})
Der vom Europäischen Parlament beschlossene Handlungsrahmen erlaubt ausdrücklich auch den Schutz der
tariflichen Arbeitsbedingungen. Warum bleiben Sie mit
Ihrer Beschränkung auf Einkommen eigentlich dahinter
zurück?
Auch sollten die Behörden dazu verpflichtet werden,
bei Verstößen tätig zu werden. Sie alle kennen doch beim
Bau die Erfahrungen zur Genüge, wenn solche Kontrollrechte und Aufsichtspflichten nicht eingeführt sind.
Warum sind eigentlich Branchen wie das Bewachungs- und Reinigungsgewerbe und die Abfallwirtschaft nicht einbezogen? Weil sie nicht gekämpft haben,
Ihnen das nicht abgerungen haben? Das kann sich allerdings ändern. Heute tagen die Betriebsräte dieser Branchen in Kassel
({4})
und werden über das Vergabegesetz sprechen, weil auch
in diesen Branchen Niedrigsteinkommen und Tarifflucht
an der Tagesordnung sind.
Nun zu all den Freunden des Ostens: Sie, die Kollegen
Schulz, Rauen und Brüderle, treiben ein zynisches Spiel
mit den Ängsten und Sorgen der Menschen in Ostdeutschland um ihre Arbeitsplätze,
({5})
wenn Sie deren Arbeitsplätze nur dadurch sichern wollen,
dass der Osten gegenüber dem Westen zum Lohndumpinggebiet erklärt wird.
({6})
Wir unterstützen deshalb die Bindung an den ortsüblichen
Tarif. Er bringt uns ein Stück näher an die Angleichung
der Ostlöhne an die Westlöhne. Mit Ihren Vorstellungen
aber würden Sie forcieren, dass in den ostdeutschen Ländern die Auseinandersetzung um den niedrigsten Tarif
weitergeführt würde. Auch würde die Abwärtsspirale fortgesetzt werden und der rechtsfreie Zustand hielte an.
Auch Sie wissen, dass junge, qualifizierte Leute gerade in
der Baubranche längst die ostdeutschen Länder verlassen
und in die Niederlande sowie die westdeutschen Länder
gehen, weil sie dort nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Diese Entwicklung müssen wir stoppen.
Des Weiteren betrügen Sie die Menschen: Auch Ihnen
ist bekannt, dass das Vergabegesetz den europaweiten
Wettbewerb regelt. Längst verlagern ost- und westdeutsche Baubetriebe ihren Sitz nach Polen. Dort beträgt die
tarifübliche Bezahlung 1 000 DM pro Monat. Wollen Sie
diesen Zustand fortschreiben? Damit wird kein Erfolg
verbunden sein.
Die Deutsche Bank Research hat mit Blick auf den öffentlichen Personennahverkehr festgestellt, dass es überhaupt nicht um die kleinen und mittleren Betriebe geht,
weil auf der Grundlage der europäischen Richtlinie längst
Konzerne wie Vivendi in den Startlöchern sitzen. Sie betreiben das Geschäft dieser Konzerne und machen ihnen
die Übernahme der öffentlichen Aufträge billig, nicht aber
das Geschäft der kleinen und mittleren Unternehmen in
Ostdeutschland oder Westdeutschland.
Zukunftsfähige Arbeitsplätze brauchen wir auch in
Ostdeutschland. Das bedeutet existenzsichernde Arbeit
und Einhaltung von sozialer Demokratie. Mit Lohndumping jedoch ist die Zukunft auf Sand gebaut; denn dann
werden weder die ostdeutschen Betriebe noch die ostdeutschen Beschäftigten eine Chance haben. Deshalb
muss dieses Gesetz eher noch verbessert werden. Wir
werden entsprechende Änderungsanträge einbringen.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Minister für Wirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Ernst Schwanhold.
Ernst Schwanhold, Minister ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wenn man Herrn Brüderle gehört hat, dann muss man sich
schon über das wundern, was sein Kollege Bauckhage zu
diesem Thema im Bundesrat sagt.
({1})
Man wundert sich auch, mit welcher Gesetzesinitiative
der sehr geschätzte Kollege Otto Wiesheu aus Bayern versucht, den Arbeitnehmern die Sicherheit zu geben, dass
die Aufträge, die sie mit ihren Steuern finanzieren, auch
zu einem auskömmlichen Einkommen führen. Nur um
diese Frage geht es in Ost wie in West und genau über diesen Punkt sollten wir hier streiten.
Herr Brüderle, es gibt noch genügend Wahlkämpfe.
Unterlassen Sie es, an dieser Stelle Wahlkampfreden zu
halten. Wir reden über 10 Prozent des Auftragsvolumens.
Dies bedeutet keine generelle Sperre, sondern betrifft die
beispielgebende Funktion von öffentlich ausgeschriebenen Aufträgen. Dafür haben wir eine höhere Verantwortung, als Sie es hier deutlich gemacht haben. Wir haben
nämlich als öffentliche Hand die Verantwortung, auf allen
Ebenen dafür zu sorgen, dass das, was gesetzlich vereinbart ist, eingehalten wird. Sie können nicht nach dem
Motto vorgehen, die Tarifverträge hätten keine Gültigkeit,
obwohl Sie in Sonntagsreden gerade die Tarifvertragsparteien gefeiert haben. Ich könnte Ihnen alle Reden vorlesen, die Sie dazu gehalten haben. Sie können nicht sagen:
Wenn die Tarifverträge gebrochen werden, ist das auch in
Ordnung. Schwarzarbeit ist gesetzwidrig, aber die
Schwarzarbeit wird zum Maßstab gemacht, um anschließend die Tarifvertragsregelungen anzupassen. So kann
der Gesetzgeber nicht damit umgehen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich will darauf hinweisen,
dass der Bundesrat am 22. Juni letzten Jahres auf Initiative der Länder Nordrhein-Westfalen und Berlin einen
Gesetzentwurf zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen
Aufträgen beschlossen hat. Danach sollten öffentliche
Auftraggeber Bauaufträge nur an solche Unternehmen
vergeben dürfen, deren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach den am Ort der Auftragserfüllung einschlägigen Tarifverträgen entlohnt werden.
({3})
Das ist das Mindestmaß an Sicherheit, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land verdient haben.
Worum sollten wir uns sonst eigentlich kümmern?
({4})
Das gleiche Begehren haben wir an die Verkehrsleistungen des öffentlichen Personennahverkehrs gestellt.
Heute stehen neben diesem Gesetzentwurf weitere Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung. Das macht deutlich,
mit welchem Problemdruck wir es zu tun haben. Ich will
die Probleme der Bauwirtschaft weder in Ost noch in
West geringreden. Wir werden sie aber nicht damit lösen,
dass wir alle Schleusentore öffnen. Das ist ein Irrglaube,
den es schon viel zu lange gibt.
Das Motiv unserer Gesetzesinitiative hat Bundeswirtschaftsminister Müller soeben dargestellt. Naturgemäß
stößt die Tarifbindung der Auftragnehmer bei den einschlägig betroffenen Verbänden auf ein unterschiedliches
Echo; auch das ist mir klar. Ich möchte aber betonen, dass
der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes eine tarifbindende gesetzliche Regelung ausdrücklich befürwortet.
Die mittelständischen Unternehmen, die Wettbewerbsnachteile haben - in jeder Sonntagsrede von Herrn Brüderle gibt
es übrigens lange Passagen zu den mittelständischen Betrieben -, verlangen, dass diese Regelungen erlassen werden, weil sie ihre einzige Überlebenschance darstellen;
ansonsten würden sie in diesem gnadenlosen und brutalen
Wettbewerb ohne tarifliche und gesetzliche Bindung untergehen.
({5})
Der Verband der Verkehrsunternehmen, Herr Brüderle,
ist der Ansicht, dass die infrage stehenden Ziele am ehesten durch ein Bundesvergabegesetz bzw. Tariftreuegesetz
zu erreichen sind. Nach Ansicht dieses Verbandes muss es
das Ziel sein, dass sich die im Wettbewerb konkurrierenden Unternehmen auch an arbeits- und sozialrechtliche
Mindeststandards im Hinblick auf die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer halten.
Der Gesetzentwurf zur Tarifbindung greift in die Vertragsfreiheit ein, darüber sind wir uns alle im Klaren;
auch der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen
sieht das so.
({6})
- Das machen wir an anderen Stellen auch, das wissen
Sie. Das ist ein Abwägungsprozess.
Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Eingriff
auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu rechtfertigen ist. Der Verhältnismäßigkeit entspricht auch die
Beschränkung auf die Bauwirtschaft und den öffentlichen
Personennahverkehr, da dies die Sektoren sind, in denen
sich die am wenigsten sozialverträglichen Effekte zeigen.
Mit dem Vollzug des Gesetzes entstehen den öffentlichen Auftraggebern betriebswirtschaftlich gesehen
höhere Kosten. Das ist natürlich gerade in Zeiten knapper
Kassen problematisch, aber es ist gesamtwirtschaftlich
zum Schutz der sozialen Sicherungssysteme gerechtfertigt. Betriebswirtschaftliche Aspekte müssen immer gegenüber volkswirtschaftlichen Aspekten abgewogen werden. Der volkswirtschaftliche Schaden in diesem Bereich
wäre sehr viel größer als der vermeintlich betriebswirtschaftliche Nutzen, der nur dazu führen würde, dass Tarifsysteme ausgehöhlt würden.
Herr Brüderle, ich freue mich auf die Diskussion, insbesondere mit Ihrem Kollegen Bauckhage und dem Kollegen Wiesheu. Wir wollen einmal sehen, zu welchen Einsichten Sie fernab des Getümmels, welches hier
stattgefunden hat, kommen werden.
Herzlichen Dank für die Geduld.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen, meine Herren! In Kunst und Politik bewirkt gut
gemeint regelmäßig das Gegenteil von gut. Die heute in
erster Lesung zu beratenden Anträge zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen mögen gut gemeint
oder auch naiv sein, sie werden genau das Gegenteil bewirken:
({0})
Statt Wettbewerbsverzerrungen entgegenzuwirken - so
im Gesetzentwurf von SPD und Grünen formuliert - soll
Wettbewerb unterbunden und verhindert werden, statt in
arbeitsmarktpolitisch sensiblen Bereichen Arbeitsplätze
zu halten - so steht es im Gesetzentwurf -, wird bei Umsetzung dieses Gesetzes daraus ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm. Statt öffentliches Bauen preiswerter zu
machen, kommt es zu einer Verteuerung öffentlicher Bauaufträge um mindestens 5 Prozent. Die einzigen Arbeitsplätze, die geschaffen werden, sind Arbeitsplätze in der
öffentlichen Verwaltung: im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, bei der Bundesanstalt für Arbeit
und bei der Zollverwaltung. Haben wir im öffentlichen
Dienst nicht bereits genug Arbeitsplätze und ist das öffentliche Bauen nicht schon teuer genug?
({1})
Haben wir in der Bauwirtschaft, insbesondere in der ostdeutschen Bauwirtschaft, keine anderen Sorgen? Nicht
zuletzt: Wer kann ein Interesse daran haben, dass ostdeutsche Bauarbeiter den Unterhalt ihrer Familien nicht
mehr durch eigene Arbeit bestreiten können?
({2})
Minister Ernst Schwanhold, ({3})
Herr Kollege Staffelt, mit diesen Fragen und mit der
Ablehnung dieser Gesetzesanträge steht die Unionsfraktion nicht allein.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Staffelt?
({0})
Ja.
Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege,
die Erfahrung lehrt: Wenn schwere Wahlkämpfe vor einem
liegen, ist es immer ratsam, zunächtst einmal in der eigenen Partei die Dinge zu klären. Meine Frage an Sie lautet:
Wie erklären Sie sich, dass der bayerische Ministerpräsident, Ihr Spitzenkandidat, der bayerische Wirtschaftsminister, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin - auch er gehört bekanntlich der CDU an - und der
damalige Wirtschaftssenator Branoner - auch er gehört der
CDU an - ein solches Vergabegesetz vehement gefordert,
begründet und entworfen haben? Berlin ist sogar bis vor
Bundesgerichte gezogen. Glauben Sie nicht, dass es besser wäre, diese Frage zunächst einmal intern zu reflektieren, bevor Sie sich hier so weit vorwagen, dass Sie sich
am Ende nicht mehr vor den Menschen sehen lassen können?
({0})
Herr Kollege Staffelt,
bevor ich zu den Interna Ihrer Partei komme, möchte ich
Folgendes sagen: Ein schlechtes Gesetz wird nicht dadurch
besser, dass eine bayerische Unterschrift darunter steht.
({0})
Die „Leipziger Volkszeitung“ schreibt am 14. Dezember:
Ost-SPD-Abgeordnete machen Front gegen Tarifvergabegesetz.
23 ostdeutsche SPD-Bundestagsabgeordnete der neuen
Länder beklagen, dass damit die Baubranche der neuen
Länder zurückgeworfen wird und eine „Diskriminierung
ostdeutscher Arbeitnehmer“ einhergeht.
({1})
- Meine lieben Kollegen von der SPD, nun hören Sie sich
doch einmal Ihre Schande an: Dies steht in einem Schreiben von 23 SPD-Bundestagsabgeordneten an ihren Fraktionsvorsitzenden. Darin wird beklagt - sie kündigen einen „entschiedenen Widerstand“ gegen dieses Gesetz
an -:
Wir sind gewählt worden,
({2})
- hören Sie einmal zu! um Arbeitsplätze im Osten zu erhalten bzw. zu schaffen, und nicht, um eine Schutzfront West aufzubauen.
({3})
„Schutzfront West“, Kollege Staffelt, Ost gegen West - es
geht in der Bundestagsfraktion der SPD ja munter zu.
({4})
So viel Mut vor dem Königsthron konnte man bei Ihnen
bisher selten feststellen. Es gab keinen Widerstand der
Ost-SPD-Bundestagsabgeordneten, als die ICE-Strecke
- ein Infrastrukturprojekt - von München über Erfurt und
Halle nach Berlin gestrichen wurde. Stattdessen wird der
ICE von Frankfurt nach Köln bei Verdopplung der Baukosten munter weitergebaut. Es gab keinen Widerstand, als
der Transrapid gestrichen wurde. Stattdessen wird mit einer Unterstützung des Bundes in Milliardenhöhe eine wild
gewordene Straßenbahn im Ruhrgebiet finanziert.
({5})
Es gab keinen Protest, als nicht Rostock, sondern Hamburg als Produktionsstandort des Airbusses benannt
wurde.
({6})
Nun, da der Wahltag näher rückt und Edmund Stoiber
vor den Toren des Bundeskanzleramts steht, wird die Unruhe in der SPD-Fraktion größer und die SPD-Bundestagsabgeordneten besinnen sich ihres Auftrags. Meine
Kollegen von der SPD, bleiben Sie bei Ihrer Ablehnung
des Gesetzes und verhindern Sie, dass Tariftreue am Ort
der Leistungserbringung gesetzlich vorgeschrieben wird!
Lassen Sie den ostdeutschen Bauunternehmen auch weiterhin die Möglichkeit, sich zu ihren preiswerteren Konditionen um lukrative Aufträge zu bewerben.
({7})
Schließen Sie Thüringer Bauunternehmen nicht von Aufträgen am Frankfurter Flughafen oder von Aufträgen in
München, Stuttgart oder Hannover aus.
Lassen Sie es nicht zu, dass ostdeutsche Konkurrenz
über diesen Umweg erledigt wird;
({8})
denn wer eine „Schutzfront West“ aufbaut, wer um Hochpreisregionen einen Schutzwall zieht, der nimmt billigend
wachsende Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern in Kauf. Entweder haben die Bauunternehmer in den
neuen Bundesländern Anteil an Aufträgen der öffentlichen Hand auch in den alten Bundesländern und sichern
damit Arbeitsplätze oder der Umfang der Sozialtransfers
von West nach Ost wird wesentlich größer werden als
bisher. Der Ausschluss preiswerter ostdeutscher Konkurrenz von öffentlichen Bauaufträgen muss bezahlt werden,
und zwar durch höhere Sozialtransfers. Damit wird der
Ausbau West zum Abbau Ost. Das können Sie nicht ernsthaft wollen.
Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Wer es wirklich
gut mit der ostdeutschen Bauwirtschaft meint, der zwingt
sie nicht in ein Tarifkorsett. Wer es gut meint, tut etwas für
die öffentliche Infrastruktur, für die Bauwirtschaft, für
Aufträge und handelt nicht gegen die Bauwirtschaft. Entlasten Sie Arbeitnehmer und Betriebe durch Reformen.
Erklären Sie mir hierzu folgenden Punkt: Während der
Bund fortwährend Aufgabenbereiche privatisiert und
diese an neu gegründete Unternehmen auslagert, um sich
aus der Tariftreue herauszumogeln und die Aufgaben billiger erledigt zu bekommen, verlangen und erwarten Sie,
dass die gebeutelte ostdeutsche Bauwirtschaft in das Korsett der Tariftreue hineingezwängt wird. Hören Sie auf, alles zuerst an den Ostdeutschen auszuprobieren. Herr Kollege Schulz, da hilft auch keine Anhörung: Entweder will
man das Gesetz, oder man will es nicht. Dazwischen gibt
es nichts. Dieses Gesetz darf nicht in Kraft treten.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Klaus Wiesehügel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! In der Einschätzung
von Herrn Rauen stimmte die Jahreszahl, auf die auch ich
eingehen möchte: Seit 1995 befindet sich die Bauwirtschaft nicht nur in einer Konjunktur-, sondern auch in einer Strukturkrise; das ist nicht erst seit 1998 der Fall. Man
darf nicht dieser Regierung die Verantwortung dafür geben; die Ursachen für diese Strukturkrise - das wurde hier
schon dargestellt - liegen in der Tat weiter zurück.
Die Bauwirtschaft leidet unter einer starken Wettbewerbsverzerrung. Seit Jahren tobt ein ruinöser Preiswettbewerb. Besonders bei den eingesetzten Nachunternehmen erfolgt die Bezahlung der Arbeitnehmer jenseits aller
Tarifverträge und oftmals im illegalen Bereich.
({0})
Im Ergebnis sind die Baupreise seit 1995 um 1,5 Prozent gesunken, während die Preise im übrigen produzierenden Gewerbe um 5 Prozent gestiegen sind. An diesen
Zahlen sieht man, dass es nicht stimmt, dass sinkende
Baupreise und niedrige Löhne - Herr Brüderle, wenn man
Ihnen zuhört, dann könnte man zu diesem Ergebnis kommen - zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. In den
anderen Gewerben sind, das sage ich noch einmal, die
Preise gestiegen, während die Baupreise um 1,5 Prozent
gesunken sind. In der Automobilindustrie haben wir einen
erheblich höheren Anstieg der Einkommen und der Preise
zu verzeichnen. 90 000 neue Arbeitsplätze wurden dort geschaffen, während wir gleichzeitig im Baugewerbe einen
Verlust von 400 000 Arbeitsplätzen zu verzeichnen hatten,
bei sinkenden Preisen und sinkenden Einkommen.
({1})
Solide kalkulierende Bauunternehmer haben heute in
diesem Wettbewerb regelmäßig keine Chance gegen die
Billigkonkurrenz. Sie werden vom Markt verdrängt. Mit
ihnen verschwinden Arbeitsverhältnisse, für die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern abgeführt werden. An
ihre Stelle treten illegale Beschäftigungsverhältnisse.
So sind im Bauhauptgewerbe seit 1995 mehr als ein Drittel aller legalen, inländischen Arbeitsplätze - das sind etwas mehr als eine halbe Million - abgebaut worden.
Gleichzeitig haben wir eine Zunahme der illegalen Beschäftigung auf mindestens 300 000 Beschäftigte zu verzeichnen. Zwar ist die Zahl der Baubetriebe im gleichen
Zeitraum nahezu konstant geblieben, nämlich circa
75 000, nur werden diese Betriebe immer kleiner und vor
allen Dingen immer weniger leistungsfähig.
Die Konsequenzen sind bekannt: Eine enorm hohe
Arbeitslosigkeit am Bau; die Zahl ist genannt worden, sie
liegt bei 265 000 Arbeitslosen. Die Arbeitslosenquote liegt
bei über 23,5 Prozent, im Osten ist sogar fast jeder dritte
Bauarbeiter arbeitslos.
Herr Brüderle, noch ein Einwand. Sie sagen, keine Gewerkschaft, kein Gesetz, niemand kann etwas dagegen
tun - oder wird etwas dagegen tun -, dass die Arbeitnehmer im Osten für erheblich weniger arbeiten, als der Tarifvertrag vorsieht. Wenn das so ist, hat das nichts mit
höherer Einsicht, sondern mit Erpressung und Angst zu
tun.
({2})
Wenn jeder Dritte arbeitslos ist, hat man weniger Mut, den
Tarifvertrag durchzusetzen.
({3})
Aber das ist nicht Ihre Welt. Davon haben Sie noch nie etwas mitgekriegt. Das ist nicht Ihre Lebenserfahrung. Deswegen reden Sie solch einen Unsinn.
({4})
Herr Brüderle, wenn Sie noch einmal „Gewerkschaftsboss“ zu mir sagen, dann sage ich: Ihre Aufgabe ist nichts
anderes, als Löhne in diesem Land zu senken.
({5})
Das ist auch keine ehrenwerte Angelegenheit.
({6})
Meine Damen und Herren, die Rendite der Bauunternehmen nach Steuern sank 1999 auf 0,6 Prozent des Umsatzes. Die vergleichbare Rendite der Industrie lag dagegen bei 2,7 Prozent des Umsatzes. Der ehemals gesunde
Mittelstand bricht weg. An seine Stelle treten immer kleinere, kapital- und leistungsschwächere Unternehmen. Die
Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer verschlechtern
sich ständig,
({7})
da eine zunehmende Zahl von Betrieben meint, nur so
dem Wettbewerb standhalten zu können.
Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe und die Bereitschaft junger Menschen, am Bau zu arbeiten, sinken
rapide. Die Zahl der Auszubildenden ist von 92 000 auf
50 000 gesunken. Zwangsläufig ist schon jetzt ein die
Volkswirtschaft mittel- und langfristig schädigender, gravierender Qualitätsverlust zu verzeichnen. Die Bauqualität spielt in der Vergabepraxis der öffentlichen Hand und
der institutionellen Investoren keine Rolle mehr. Den Zuschlag erhält praktisch immer der billigste Anbieter.
Meine Damen und Herren, weil mir die Zeit ein bisschen wegläuft, will ich Ihnen nur noch eines mit auf den
Weg geben. Alle, die über niedrige Löhne reden, sollten
sich einmal in den USA umgucken. Dieses Land gilt ja
immer als vorbildlich. Sowohl auf der Bundesebene als
auch in rund 60 Prozent der Bundesstaaten gelten dort
nämlich Gesetze, die mit dem hier diskutierten Vergabegesetz vergleichbar sind.
({8})
In den Staaten, in denen Vergabegesetze zwischenzeitlich
wegen liberaler Wünsche aufgehoben waren, konnte man
in dieser Phase feststellen, dass die Baukosten nicht sanken,
obwohl die Löhne und Sozialkosten deutlich zurückgingen.
Aber ohne Vergabegesetz verringerte sich die Ausbildungsquote drastisch, nämlich um mehr als die Hälfte, und
es trat ein Besorgnis erregender Facharbeitermangel ein.
Zugleich gingen in dieser Zeit die Innovationsfähigkeit
und, ihr folgend, die Qualität und Produktivität in der amerikanischen Bauwirtschaft zurück. Niemand investiert
nämlich in langfristig wirksame Innovationen, wenn seine
Konkurrenten kurz- und mittelfristig die Aufträge erhalten,
weil sie auf die Innovationen und Investitionen verzichten.
Die erwähnten Bundesstaaten der USA setzten nach diesen
ernüchternden Erfahrungen ihre Vergabegesetze wieder in
Kraft. Sie sollten daraus lernen.
Ich bitte Sie daher: Unterstützen Sie diesen Gesetzentwurf! Er ist ein wichtiger Schritt, um den ehemaligen Motor der deutschen Konjunktur, die Bauwirtschaft, aus der
Krise herauszuführen und den öffentlichen Personennahverkehr vor einer solchen Krise zu bewahren. Was wir
nämlich zurzeit in der Bauwirtschaft erleben, wird, wenn
wir dieses Gesetz nicht verabschieden, die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs sein. Da sollten wir uns
nicht versündigen, sondern die ewigen Deregulierer, die
nichts anderes wollen, als zugunsten ihrer Unternehmerfreunde die Löhne zu senken, zurückweisen.
({9})
Wir sollten Gesetze verabschieden, die dazu führen, dass
in diesem Land bestimmte Dinge geregelt sind. Wir kommen nämlich sonst in ein Fahrwasser, in dem Arbeitslosigkeit nicht abgebaut, sondern erneut aufgebaut würde.
Meine Damen und Herren, natürlich muss über dieses
Gesetz geredet werden. Auch ich weiß, dass es sicherlich
noch einiges an Diskussionsbedarf gibt. Dieser Diskussion stellen wir uns. Wir sind heute in der ersten Lesung.
Es ist nicht so, dass wir nicht diskussionsbereit wären.
Aber die grundsätzliche Ablehnung, die hier von Ihnen
präsentiert wird, hat überhaupt nichts damit zu tun, was
zurzeit im Bundesrat von den Ländern, darunter viele mit
CDU-Regierungen, gefordert wird. Sie sollten zu Diskussionen auch im eigenen Lager bereit sein. Sonst ist wenig
glaubhaft, was Sie hier darstellen.
({10})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7796, 14/5263, 14/6752, 14/6982,
14/7506 und 14/7458 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 14/5739 zu dem Antrag der Fraktion
der PDS mit dem Titel „Sicherung tariflicher, arbeits- und
sozialrechtlicher Standards und Förderung arbeitsmarkt-
politischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4036
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS vom
Hause angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 17 a bis
17 e sowie Zusatzpunkt 8 auf:
17.a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Dietrich Austermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Einsetzung einer Kommission zur Reform der
Gemeindefinanzen durch die Bundesregierung
- Drucksache 14/7442 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzausgleichgesetz
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Peter Götz, Heinz Seiffert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Gewerbesteuerumlage auf die vor dem Steuersenkungsgesetz maßgeblichen Werte senken
- Drucksache 14/7787 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Schüßler, Dr. Hermann Otto Solms, Ina Albowitz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gemeindefinanzen reformieren - Gewerbesteuer abschaffen - Finanzkraft der Gemeinden stärken
- Drucksache 14/7326 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. UweJens Rössel, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie
Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Erhöhung der Gewerbesteuerumlage zurücknehmen
- Drucksache 14/7993 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jochen-Konrad
Fromme, Peter Götz, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Umsetzung des Versprechens der Bundesregierung zur Stärkung der Kommunalfinanzen
- Drucksachen 14/6163, 14/7424 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Scheelen
Jochen-Konrad Fromme
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen
Reform der Gemeindefinanzen
- Drucksache 14/8025 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Peter Götz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen zur Gestaltung
unseres Lebensraumes starke Städte und Gemeinden.
({0})
Es ist Aufgabe einer Regierung, dafür die Rahmenbedingungen zu setzen. Diese Bundesregierung aber hat in den
vergangenen drei Jahren die bis 1998 vorhandenen guten
Rahmenbedingungen durch ihre kommunalfeindliche Politik systematisch zerstört.
({1})
Das bekommen die Menschen immer mehr zu spüren.
„Daumenschrauben für Bürger“ nennt dies der „Spiegel“
in einer Überschrift vorletzte Woche. Weiter heißt es:
Städte und Gemeinden rutschen in die Pleite, sie
müssen Gebühren erhöhen und Leistungen streichen.
Denn Konjunktureinbruch, Arbeitslosigkeit und die
letzten Steuerreformen gehen zu ihren Lasten.
Ich kann auch das „Handelsblatt“ vom Dienstag letzter
Woche zitieren, das zum Thema Finanznot in den Kommunen in seiner Überschrift schreibt: „In Gerhard Schröders Heimat ist die SPD nicht gut auf die Bundesregierung
zu sprechen.“
({2})
Wenn der SPD-Oberbürgermeister von Hannover,
Herbert Schmalstieg, der Bundesregierung öffentlich vorwirft, die kommunale Selbstverwaltung zu gefährden,
und sein SPD-Kämmerer gegenüber dem „Handelsblatt“
sagt: „So habe ich mir sozialdemokratische Steuerpolitik
nicht vorgestellt“, macht dies eine große Enttäuschung
mehr als deutlich.
({3})
Die Aufzählung der Städte, die zunehmend die Auswirkungen Ihrer verfehlten Investitions- und sonstigen Entscheidungen auf kommunaler Ebene nach nur drei Jahren
öffentlich kritisieren, ließe sich problemlos fortsetzen:
({4})
Von Leverkusen über Holzminden bis Hannover - von
den Kommunen in den neuen Ländern ganz zu schweigen stehen alle mit dem Rücken an der Wand - ob Ihnen das
gefällt oder nicht.
Auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages
im Mai vorigen Jahres in Leipzig war auch der Bundeskanzler zu Gast.
({5})
Dies war ein als freundliche Geste gedachter Auftritt, der
jedoch sehr peinlich wurde. Als Erstes führte sich Gerhard
Schröder mit dem Satz ein, er sei bei reichen Verwandten.
({6})
Präsident Wolfgang Thierse
Alle anwesenden Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker verstanden dies zu Recht als Provokation.
Denn schon damals war klar: Die Finanzsituation der Gemeinden ist schwierig. Jeder wusste, sie würde sich wegen der rot-grünen Gesetze weiter verschlechtern. Der
Kanzler schien davon nichts zu wissen oder es war ihm
einfach egal.
Zweitens wollte er die dort geforderte Gemeindefinanzreform auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Dabei hatten SPD und Grüne genau diese in ihrer Koalitionsvereinbarung vom Herbst 1998 versprochen. So
einfach macht sich Rot-Grün das Regieren in Deutschland. Wir nennen das: Versprechen gebrochen.
({7})
CDU und CSU wollen eine umfassende Gemeindefinanzreform, die auch den Namen verdient. Inzwischen
kommt die Regierung nicht mehr um das Thema herum;
denn die dramatische Krise der kommunalen Haushalte
ist für jeden unübersehbar. Doch wie reagiert der Bundeskanzler darauf? Mit ruhiger Hand wird kurz vor der Bundestagswahl eine Kommission eingesetzt, und zwar so,
dass vor der Bundestagswahl möglichst nichts mehr passiert. Die jahrelange Verweigerungshaltung ist mehr als
peinlich. „Viele Kommunen sind kaum noch in der Lage,
die Alltagsprobleme ihrer Bürger zu bewältigen“,
schimpft der niedersächsische SPD-Ministerpräsident
Gabriel im „Spiegel“.
Die Erklärung der Vizepräsidentin des Deutschen Städtetages, der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth,
({8})
unsere Städte stünden vor dem Bankrott, ist keine Drohgebärde, sondern ein Hilferuf. Ihren ständigen Verschiebebahnhof zulasten kommunaler Haushalte spürt inzwischen jeder Kämmerer in Ost und West am eigenen Leib.
Die Zeche zahlen die Bürgerinnen und Bürger in Form
von steigenden Gebühren für immer schlechter werdende
kommunale Leistungen.
Meine Damen und Herren, die Ursachen sind vielschichtig: Die Gewerbesteuereinnahmen sind als wichtige Geldquelle der Kommunen total eingebrochen, in
vielen Städten bis auf null. Ihre Steuerpolitik, die es Banken und Versicherungen, aber auch Großkonzernen wie
Eon oder BMW erlaubt, trotz Milliardengewinnen um
Gewerbesteuerzahlungen herumzukommen, ist eindeutig
falsch.
({9})
Oder kann es richtig sein, dass der BMW-Konzern im vergangenen Jahr mit 1 300 Millionen Euro den höchsten Gewinn seiner Geschichte einfährt und München, die Stadt
des Firmenhauptquartiers, davon keinen einzigen Cent
Gewerbesteuer sieht?
({10})
Als Rot-Grün die so genannte Jahrhundertsteuerreform
zugunsten des Großkapitals und zulasten des Mittelstandes durchsetzte,
({11})
rechneten Sie uns einen Anstieg der Gewerbesteuer vor.
Deshalb sollten die Gemeinden eine höhere Umlage, die
von bisher 20 Prozent auf 30 Prozent im Jahre 2004 steigen soll, an Bund und Länder abtreten. Was passiert jetzt?
- Die Gewerbesteuereinnahmen sinken auf ein bedrohlich
niedriges Niveau.
({12})
Der „Spiegel“ bezeichnet dies in seiner jüngsten Ausgabe
als Milliardendesaster. Es gibt keine Rechtfertigung mehr
für die von Ihnen gegen den Widerstand der Städte und
Gemeinden durchgesetzte Erhöhung der Gewerbesteuerumlage.
({13})
Ich fordere Sie deshalb auf: Lassen Sie den Gemeinden
ihr Geld und nehmen Sie es ihnen nicht ständig weg!
({14})
Ich komme zu einem weiteren Beispiel. Bei Betrachtung der Auswirkungen des Verkaufs der UMTS-Lizenzen auf die Kommunen - ich weiß, dass Sie das nicht
gerne hören - wird Ihre kommunalfeindliche Politik ganz
besonders deutlich: Der Bund kassiert 50 Milliarden
Euro, ungefähr ein Fünftel seines gesamten Etats. Die Telekommunikationsunternehmen setzen diese exorbitanten
Kosten steuerlich ab und schreiben dadurch auf Jahre hinaus Verluste. Die Folge ist: Den Gemeinden fehlen
7 Milliarden Euro
({15})
in ihren Kassen. Sie finanzieren damit indirekt die Einnahmen des Bundes.
Hinter solch abstrakten Zahlen verbergen sich dramatische Verhältnisse. Ich nenne ein Beispiel, das ich hier
schon einmal angeführt habe: Das Amt Stahnsdorf, eine
Gemeinde in Brandenburg mit 12 000 Einwohnern, hatte
bisher 1,2 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen. Das
war für diese Gemeinde viel Geld, das im Wesentlichen
von Telekommunikationsunternehmen kam. 2001 fällt
diese Einnahme weg; es gibt keinen Ausgleich dafür. Was
dies für eine solche Gemeinde bedeutet, kann sich jeder
selbst ausmalen.
Hinzu kommt, dass in Deutschland viele Gemeinden in
diesen Monaten aus ihren leeren Kassen Gewerbesteuerrückzahlungen an Telekommunikationsunternehmen
leisten müssen. So gestaltet sich ganz konkret in der Praxis das Versprechen in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung, die kommunalen Finanzen zu stärken. Ich nenne das
kommunalfeindliche Politik.
({16})
Ein Weiteres kommt hinzu: Noch nie war der Anteil der
sozialen Leistungen an den kommunalen Ausgaben so
hoch wie heute. Im Jahr 2001 lag er zum ersten Mal über
50 Prozent der Steuereinnahmen, das heißt bei mehr als
der Hälfte; im Jahr zuvor waren es noch 47 Prozent.
37 Prozent der Arbeitslosen beziehen zur Arbeitslosenhilfe zusätzlich Sozialhilfe. Die Mitfinanzierung der
Langzeitarbeitslosigkeit ist keine kommunale Aufgabe.
Auch hier entlastet sich der Bund auf Kosten der Kommunen mit steigender Tendenz. Hier sind Änderungen
dringend geboten.
({17})
Ich kann die Liste der Auswirkungen Ihrer kommunalfeindlichen Politik - ob Sie das jetzt hören wollen oder
nicht - beliebig verlängern: von den Entscheidungen
während der BSE-Krise über die Mitfinanzierung beim
Kindergeld bis zur Grundsicherung bei der Rente - all das
sind keine kommunalen Aufgaben. Jetzt wollen Sie den
Kommunen noch die Integrationskosten aus Ihrem verkorksten Zuwanderungsgesetz aufs Auge drücken.
({18})
Die Menschen in unserem Land müssen für Ihre Politik
teuer bezahlen.
({19})
Der Kollaps der Gemeindefinanzen hat Konsequenzen,
die inzwischen für alle sichtbar sind. In besseren Zeiten
- die gab es bis 1998 ({20})
haben die Gemeinden bis zu 70 Prozent der öffentlichen
Bauinvestitionen in Deutschland erbracht.
({21})
Damit waren sie ein Schwungrad der Wirtschaft. Viele
mittelständische Arbeitsplätze wurden dadurch dauerhaft
gesichert. Das ist überhaupt nicht zum Lachen.
Heuten liegen die Investitionen der Kommunen ein
Drittel unter dem Niveau von vor zehn Jahren. Und jetzt
wundern Sie sich, wenn die Konjunktur einbricht und die
Infrastruktur verfällt.
({22})
Durch Ihr kommunalfeindliches Verhalten verstärken Sie
den wirtschaftlichen Abschwung in Deutschland dramatisch. Das ist unverantwortlich gegenüber den Menschen
in unserem Land.
({23})
Lassen Sie mich zusammenfassen:
Erstens. Bei allen politischen Entscheidungen muss
das Konnexitätsprinzip Maßstab sein. Das heißt: Wer bestellt, bezahlt - ohne Wenn und Aber.
({24})
Zweitens. Wir brauchen dringend eine umfassende Gemeindefinanzreform. Kommunale Einnahmen, Aufgaben
und Ausgaben müssen dabei ungeschminkt auf den Prüfstand. Dazu gehört auch die Gewerbesteuer. Die beschlossene Erhöhung der Gewerbesteuerumlage ist sofort
rückgängig zu machen.
Drittens. Die Städte und Gemeinden sind in die Lage
zu versetzen, dringend notwendige Investitionen zu tätigen. Dafür muss der Finanzminister einen Teil der Erlöse
aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen den Kommunen zurückgeben.
({25})
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Ist es richtig,
bestimmte Großkonzerne mit Steuergeschenken zuzuschütten, wenn dadurch den Städten und Gemeinden das
Geld für die Sanierung von Schulen fehlt,
({26})
städtische Angebote für Kinder und Familien aufgegeben
werden müssen und kommunale Investitionen weitgehend unterbleiben?
({27})
Wir sagen: nein. Deshalb, Herr Poß, ist es höchste Zeit für
ein Umsteuern, für einen Politikwechsel in diesem Land.
({28})
- Ich kann Ihre Unruhe und Ihre Nervosität verstehen.
Der Erfolg Deutschlands steht und fällt auch mit der
Leistungsfähigkeit der Kommunen. CDU und CSU wollen keinen Zentralismus, sondern wir wollen auch in Zukunft in unserem Land eine starke kommunale Selbstverwaltung mit leistungsstarken Städten und Gemeinden.
Herzlichen Dank.
({29})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Bernd Scheelen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man dem Kollegen Götz zuhört,
fragt man sich: Warum haben Sie das, was Sie hier vorschlagen, in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit nicht gemacht? Sie hätten doch die Gelegenheit dazu gehabt.
({0})
Ihr Nichtstun auf dem Sektor der Gemeindefinanzreform
führte genau zu den Problemen, die Sie heute beklagen.
({1})
Ganz anders die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen. Wir haben mit dem Steuersenkungsgesetz die
größte Steuerentlastung in der Nachkriegszeit auf den
Weg gebracht. Darauf sind wir stolz.
({2})
Das Entlastungsvolumen der Steuerreform betrug allein
im Jahr 2001 45 Milliarden DM. Davon profitieren im
Wesentlichen die Arbeitnehmer, die Familien und die
Wirtschaft, bei der Wirtschaft ganz besonders auch der
Mittelstand. Das Kernstück der Reform ist die Senkung
der Sätze: bei der Lohn- und Einkommensteuer von fast
26 Prozent Eingangssteuersatz auf demnächst 15 Prozent,
({3})
von 53 Prozent Spitzensteuersatz auf demnächst 42 Prozent; bei der Körperschaftsteuer eine Senkung von 40 auf
25 Prozent.
({4})
Insbesondere was den Mittelstand angeht, will ich Ihnen
das gerne ins Stammbuch schreiben, weil Sie das immer
geflissentlich übersehen.
({5})
- Herr Fromme, warten Sie ab. Ich habe zwölfeinhalb Minuten Redezeit. Ich komme noch dazu, keine Sorge.
Die Mittelstandsfreundlichkeit dieser Steuerreform
zeigt sich insbesondere in der Tatsache, dass nach der
Neuregelung die Personenunternehmen ihre Gewerbesteuerschuld bei der Einkommensteuerschuld abziehen
können. Das heißt ganz konkret: Der Mittelstand wird
nicht mehr mit der Gewerbesteuer belastet, aber für die
Städte ist diese Quelle erhalten geblieben. Das ist etwas,
was Sie in 16 Jahren überhaupt nicht zustande gebracht
haben.
({6})
Bei den Sätzen und Rahmenbedingungen der Gewerbesteuer hat es keine Veränderungen gegeben. Weder haben wir - wie Sie das vorgeschlagen haben - die Messzahlen gesenkt noch haben wir die Freibeträge angehoben.
Deshalb ist Ihre Behauptung, dass der aktuelle Rückgang
der Gewerbesteuereinnahmen bei den Kommunen etwas
mit der Steuerreform zu tun hat, barer Unsinn.
Unser Ziel war es, die Gewerbesteuer als Einnahmequelle für die Städte und Gemeinden zu erhalten, aber die
mit ihr verbundene Belastung für die Wirtschaft zu eliminieren. Dazu haben wir die eben schon erwähnte Abzugsmöglichkeit bei der Einkommensteuer eingeführt. Das ist
übrigens eine Maßnahme, die den Mittelstand, die Personengesellschaften, im vergangenen Jahr um 10 Milliarden
DM entlastet hat.
({7})
Deswegen stelle ich fest: Bei dieser Steuerreform gibt es
von Mittelstandsfeindlichkeit keine Spur. Auch wenn Sie
diese Behauptung überall wiederholen, wird sie nicht
wahrer.
Der Vorwurf, den man dem Besteuerungssystem in der
Bundesrepublik, insbesondere dem Unternehmensteuerrecht, Ende der 90er-Jahre gemacht hat, war, dass die
Steuersätze zu hoch seien - nicht etwa, dass die Steuer zu
hoch sei. Internationale Untersuchungen zeigen, dass unsere Unternehmen hinsichtlich der steuerlichen Belastung
durchaus im Mittelfeld lagen, weil es viele Abschreibungsmöglichkeiten gab. Die Steuersätze waren aber sehr
hoch. Die Lösung war, die Steuersätze zu senken und die
Bemessungsgrundlage zu verbreitern. Genau das haben
wir mit unserer Steuerreform gemacht.
Wir haben insbesondere die Körperschaftsteuer von
40 auf 25 Prozent gesenkt.
({8})
- Ja, aber die Körperschaftsteuer steht nicht den Gemeinden zu. Wir reden hier aber über Gemeindefinanzen. Die
Körperschaftsteuer - Herr Kollege Rössel, das wissen Sie
ganz genau - steht dem Bund und den Ländern zu.
({9})
Insofern kann ein Ausfall bei der Körperschaftsteuer nicht
auf die Gemeinden durchschlagen. Das müssten Sie eigentlich wissen.
({10})
Kollege Scheelen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rauen?
Nein, weil Freitag ist,
möchte ich keine Zwischenfragen zulassen. Ich bitte um
Verständnis.
({0})
Also abgelehnt.
({0})
Herr Fromme, keine Sorge,
das mache ich auch bei Ihnen nicht.
Jetzt kommt die Gewerbesteuerumlage ins Spiel. Die
schrittweise Erhöhung der Gewerbesteuerumlage führt zu
Windfall Profits bei den Gemeinden. Diese sollten zur
Mitfinanzierung der Unternehmensteuerreform herangezogen werden. Das ist eine Systematik, der die kommunalen Spitzenverbände ausdrücklich zugestimmt haben,
denn für die Kommunen ergab sich so eine Beteiligung an
den Steuerausfällen durch die Reform von nur 8,9 Prozent. Das - das wissen Sie auch - ist eine sehr unterdurchschnittliche Beteiligung an den Steuerausfällen,
denn die Gemeinden sind an den Steuereinnahmen mit
12 Prozent beteiligt. Dies ist also ein überaus kommunalfreundlicher Zug der Steuerreform.
Trotzdem sind auch 8,9 Prozent von 45 Milliarden DM
viel Geld. Die Kommunen hatten sich allerdings bereit erklärt, ihren Anteil an den Ausfällen und den Entlastungen
von Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft zu tragen.
({0})
Worüber wir zurzeit debattieren, nämlich über die teilweise dramatischen Einbrüche bei der Gewerbesteuer, hat
- das habe ich gerade ausgeführt - mit der Steuerreform
nichts zu tun. Vielmehr haben die Ölpreisexplosionen des
letzten Jahres, die deutliche Abkühlung der amerikanischen Wirtschaft, Krisen in Japan, in der Türkei, in Argentinien und anderen Teilen der Welt ihre Bremsspuren
in der Weltwirtschaft hinterlassen
({1})
und wegen der durch die Exportorientierung starken Verflechtung der Bundesrepublik Deutschland mit der Weltwirtschaft auch bei uns. Insofern teilen wir die Analyse
der kommunalen Spitzenverbände vom Herbst letzten
Jahres - auch Ihnen müsste noch im Gedächtnis sein, was
damals gesagt wurde -, dass die Gewerbesteuerausfälle
nichts mit der Steuerreform zu tun haben, sondern auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen sind, als da zunächst die konjunkturelle Entwicklung wäre.
({2})
Wir erinnern uns, dass vor einem Jahr alle Prognosen
der wissenschaftlichen Institute von Wachstumsraten für
das vergangene Jahr von etwa 3 Prozent ausgingen.
Tatsächlich sind wir bei 0,6 Prozent gelandet. Dass das
nicht ohne Folgen für die Finanzierung der staatlichen
Haushalte ist, muss eigentlich jedem klar sein.
Ein zweiter Grund sind Unternehmensumstrukturierungen, die im letzten Jahr verstärkt unter Ausnutzung
bereits bestehender Regelungen des Steuerrechts stattgefunden haben. Dies betrifft also keine neuen Regelungen
des Steuersenkungsgesetzes dieser Koalition. Es geht um
die Möglichkeit, Gewinne und Verluste zwischen Mutterund Töchterunternehmen in Form einer so genannten Organschaft zu verrechnen.
({3})
Da wir die Sorgen der Kommunen über diese teilweise
dramatischen Entwicklungen bei der Gewerbesteuer teilen, hat die Koalition reagiert, und zwar kurzfristig und
gegen Ihren entschiedenen Widerstand.
({4})
Sowohl im Finanzausschuss als auch im Bundesrat haben
wir Verbesserungen für die kommunale Finanzsituation
durchgesetzt. Das sollte man einmal ganz deutlich sagen.
Sie verweigern sich hier jeder Regelung, die den Gemeinden mehr Geld bringt.
({5})
Ich sage Ihnen auch, welche das waren: Im Zuge des
Unternehmensteuerfortführungsgesetzes haben wir die
Voraussetzungen für die so genannte gewerbesteuerliche
Organschaft verschärft und sie an die Voraussetzungen
für die körperschaftliche Organschaft angepasst.
({6})
Das bedeutet: Für Unternehmen ist das Steuersparen bei
der Gewerbesteuer nicht mehr so leicht wie vorher.
Außerdem haben wir das Steuersparmodell der so genannten Mehrmütterorganschaft nicht zugelassen. Sie
wissen, dass es ein Urteil gab, das jetzt schon fast zehn
Jahre alt ist. Wenn daraus geltendes Recht geworden
wäre, hätte es die Gemeinden eine Menge Geld gekostet.
Die Gemeinden hätten die vereinnahmte Gewerbesteuer
aus ihren Kassen zurückzahlen müssen. Das haben wir
verhindert und diese Einnahmen den Gemeinden gesichert.
({7})
Wir haben nicht zugelassen, dass die Versicherungswirtschaft Gewinne und Verluste aus verschiedenen Sparten miteinander verrechnet. Auch das drohte. Dieses Steuerschlupfloch ist von vornherein geschlossen worden.
({8})
Auch dagegen haben Sie sich ausgesprochen. Es sollte in
den Standorten der Versicherungen einmal bekannt werden, wie Sie sich hier verhalten.
({9})
Zusätzlich haben wir die Gewerbesteuerpflicht für Gewinne aus der Veräußerung von Betrieben oder Teilbetrieben festgeschrieben.
Meine Damen und Herren, das alles zusammen ist ein
Paket, das den Gemeinden in diesem Jahr Mehreinnahmen von 700 Millionen Euro sichert. Für Herrn Stoiber
füge ich hinzu, dass das ungefähr 1,4 Milliarden DM entspricht.
({10})
Herr Kollege Fromme, darüber hinaus sind die vorbereitenden Arbeiten zur Bildung einer Kommission für
eine Gemeindefinanzreform angelaufen. Die Kommission wird ihre Arbeit zügig aufnehmen. Damit erfüllen wir
den Koalitionsvertrag.
({11})
- Ich denke, dass Legislaturperioden vier Jahre dauern.
Drei Jahre sind um und wir nehmen dieses Thema in Angriff.
({12})
Sie wissen auch ganz genau, warum wir das nicht früher
machen konnten. Sie waren ja auch nicht in der Lage
dazu. Die Arbeitskapazitäten sowohl in den Ministerien
als auch im Parlament waren nämlich durch ein anderes
Thema belegt, das uns das Bundesverfassungsgericht
nach den Wahlen auf den Tisch gelegt hat, nämlich den
Länderfinanzausgleich.
({13})
Das haben wir jetzt abgearbeitet und jetzt kommt das
nächste Thema, nämlich die Gemeindefinanzreform. Wir
werden sie durchführen.
({14})
Damit komme ich zum Kapitel Heuchler und Pharisäer.
In der Hauptrolle sind CDU/CSU und FDP. 16 Jahre lang
haben Sie nicht eine Hand für die Reform der Gemeindefinanzen gerührt.
({15})
Das rächt sich jetzt. Im Gegenteil: Sie haben sogar durch
ständiges Manipulieren an der Gewerbesteuer deren Basis ausgehöhlt und sie zu einer Großbetriebssteuer verkommen lassen. Gerade das bereitet uns im Moment auch
die großen Probleme. Die größten Verlierer des letzten
Jahres - schauen Sie sich doch einmal die Statistiken des
Deutschen Städtetages an - sind gerade die Städte, in denen die großen Betriebe ihren Sitz haben. Beispiel
Ludwigshafen: minus 70 Prozent; Beispiel Leverkusen:
minus 65 Prozent.
({16})
Das zeigt, dass Sie die Gewerbesteuer zu einer Reststeuer haben verkommen lassen, die nur noch wenige bezahlen.
({17})
Wenn diejenigen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten
sind, trifft es die Gemeinden voll.
({18})
Man soll aber nicht verschweigen, dass es auch Städte
gibt, die keine Probleme bei der Gewerbesteuer haben.
Ich glaube, es ist ganz wichtig, das einmal zu sagen. Im
Durchschnitt gibt es weniger Einnahmen bei der Gewerbesteuer. Das konzentriert sich im Wesentlichen auf die
großen Städte. Je kleiner aber die Städte, desto kleiner
sind auch die Probleme mit der Gewerbesteuer.
({19})
Der Antrag von CDU/CSU, in dieser Situation die Gewerbesteuerumlage zu senken, ist ein wohlfeiler Wahlkampfgag mit Blick auf die Kommunalwahlen in Bayern.
Wer die bayerischen Verhältnisse kennt, weiß, dass die
Mehreinnahmen, die Bayern hat, nicht an die Kommunen
weitergegeben werden. Stattdessen wird mit dem Geld
weitergearbeitet und es wird versucht, sich zulasten der
bayerischen Gemeinden weiter zu entschulden. Das ist
unseriös.
({20})
Meine Damen und Herren, Bayern hat im Bundesrat
den Antrag auf Senkung der Umlage auch nur deshalb gestellt, weil es von vornherein wusste, dass er - auch durch
unionsgeführte Länderregierungen und deren Stimmen
im Bundesrat - abgelehnt würde. Man kann leicht mutig
sein, wenn man weiß, dass die Forderung sowieso nicht
erfüllt wird. Genau aus diesem Grunde fordern Sie heute
die Absenkung der Gewerbesteuerumlage. Sie wissen genau, dass das keine Chance auf Beschluss hat.
Sie wissen doch, dass die Systematik, die ich Ihnen
vorhin erläutert habe, auch natürlich dann gilt, wenn die
Gewerbesteuereinnahmen unterschiedlich hoch sind. Die
Systematik der Windfall Profits, der Einnahmen, die die
Gemeinden zusätzlich durch Änderungen im Steuersystem haben, aber von den Ausfällen unberührt bleiben, gilt
auch, wenn die Gewerbesteuereinnahmen niedriger sind.
Dass es Ihnen mit der Absenkung der Umlage überhaupt nicht ernst ist, haben Sie beim Solidarpaktfortführungsgesetz ganz deutlich gezeigt. Dabei hätten die
Länder die Chance gehabt, die länderbezogene Gewerbesteuerumlage von 29 Prozentpunkten abzusenken. Das
haben Sie einstimmig abgelehnt. So etwas nenne ich Heuchelei.
({21})
Jetzt komme ich zu den Vorschlägen der FDP. Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen und gleichzeitig die
Kommunalfinanzen stärken. Das ist ein Kunststück, bei
dem ich mich frage, wie Sie das bewerkstelligen wollen.
({22})
Sie wollen - das steht in dem Antrag, Herr Schüßler - zum
Beispiel ein Hebesatzrecht bei der Körperschaftsteuer
einführen. Die Kommunen werden sich dafür herzlich bedanken; denn die Körperschaftsteuer ist noch konjunkturanfälliger als die Gewerbesteuer. Das heißt, Sie
treiben den Teufel mit Beelzebub aus. Das kann doch kein
Zukunftskonzept sein.
({23})
Das Hebesatzrecht bei der Einkommensteuer wird nur
dazu führen, dass sich die Ballungsräume von den gut
Situierten leeren. Diese werden in die Fläche ausweichen.
Das wird die ungerechte Verteilung zwischen den Ballungsräumen und dem ländlichen Raum noch weiter verstärken. Das ist nicht unser Programm.
Was die Kommunen brauchen, sind verlässliche und
stetige Einnahmen - zumindest darin können wir übereinstimmen -, die von konjunkturellen Schwankungen
nicht in großem Maße abhängen. Auch brauchen sie eine
Entlastung auf der Ausgabenseite. Das sind die beiden
Kernthemen, mit denen sich die Kommission beschäftigen muss und beschäftigen wird.
Wir haben gestern das steuerpolitische Chaos der
Union debattiert. Frau Merkel fordert ein Vorziehen der
Steuerreform auf 2003, Herr Stoiber will nur den Teil für
den Mittelstand vorziehen, Herr Glos hält das alles technisch nicht für möglich. Dazu sage ich: Gegen dieses
Chaos in der Union ist ein Hühnerhaufen eine relativ geordnete Veranstaltung.
({24})
Wenn es technisch machbar wäre, so Herr Glos, dann
würden Sie es tun und die Steuerreform vorziehen. Dies
würden Sie mit mehr Schulden finanzieren. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Schulden machen ist das Einzige, was
Sie wirklich können.
({25})
16 Jahre lang haben Sie nichts anderes als Schulden gemacht. Sie haben in den 16 Jahren die Bundesschuld auf
1,6 Billionen DM vervierfacht. Das belastet uns jährlich
mit 82 Milliarden DM, sprich: rund 41 Milliarden Euro.
({26})
Das ist nicht unsere Politik; denn die Schulden von
heute - das wissen Sie - sind die Steuern von morgen.
({27})
Sie wollen mit dem Personal von gestern und den Modellen von vorgestern die Politik von heute und morgen gestalten. Das ist zum Scheitern verurteilt. Die Opposition
ist nicht regierungsfähig. Das Urteil lautet: vier weitere
Jahre Opposition.
Danke schön.
({28})
Nun gebe ich dem
Kollegen Rauen zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Kollege Scheelen,
ich möchte mich mit Ihnen nicht über die Wirkungen der
Steuerreform auf Arbeitnehmer, Mittelstand und große
Konzerne streiten.
Aber ich frage Sie: Wie erklären Sie sich, dass im Ergebnis der Steuerschätzung vom November letzten Jahres
im Auftrag der Regierung die Körperschaftsteuer im Jahr
2001 gegenüber dem Jahr 2000 von 45 Milliarden DM auf
6 Milliarden DM abgestürzt ist? Wie erklären Sie sich,
dass der Finanzminister von Hessen festgestellt hat, dass
in Hessen mit vielen großen Banken die Körperschaftsteuer im Jahr 2001 bei den Ist-Einnahmen geringer als
die Zunahme bei der Lohnsteuer und der Einkommensteuer ist?
({0})
Kollege Scheelen.
Herr Kollege Rauen, so wie
Sie argumentieren, ist typisch: Sie betrachten einen Teil
der Wahrheit und lassen den anderen Teil aus.
({0})
Sie wissen doch ganz genau, dass den Mindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer Mehreinnahmen bei der
nicht veranlagten Einkommensteuer gegenüberstehen.
Das wissen Sie ganz genau. Das können Sie auch aus den
Zahlen der Steuerschätzung vom November letzten Jahres ersehen, weil das natürlich mit dem Ausschüttungsverhalten der Unternehmen zusammenhängt.
({1})
Wie es funktionieren würde, konnten wir alle vorher nur
schätzen. Sie haben offensichtlich im vergangenen Jahr
mehr ausgeschüttet als prognostiziert. Das heißt aber, dass
in den nächsten Jahren weniger ausgeschüttet wird und
dass die Steuer dann wieder steigt. Insofern hat sich an
den Prognosen der Steuerreform nichts geändert.
({2})
Nun hat der Kollege
Gerhard Schüßler von der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir bringen heute
einen Antrag mit der Überschrift „Gemeindefinanzen reformieren - Gewerbesteuer abschaffen - Finanzkraft der
Gemeinden stärken“ ein.
({0})
Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung
angekündigt, die Finanzkraft der Gemeinden stärken zu
wollen. Was ist daraus geworden? Gar nichts. Es hat noch
keine Bundesregierung gegeben, die die Interessen der Gemeinden in so sträflicher Weise vernachlässigt hat wie diese.
({1})
Herr Kollege Scheelen, was die Ihnen angemessene
Polemik, mit der Sie immer wieder vortragen, angeht: Sie
können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer dramatisch zurückgegangen
sind
({2})
und jeden Handlungsspielraum in den Kommunen verhindern. Das ist eine Tatsache. Mir liegt eine lange Liste
vor. Sie können nicht einfach sagen, dass nur die großen
Städte betroffen sind. Das ist nicht der Fall, die Städte sind
durchgehend betroffen.
({3})
Ich kann Ihnen zwar eine lange Liste vorlegen, will dies
aber nicht tun. Wenn die Kommunen seit Wochen und
Monaten über zurückgehende Einnahmen klagen, dann
hat das etwas mit den ihnen zugewiesenen Aufgaben
- durch den Gesetzgeber verursacht - zu tun. Allein in
Nordrhein-Westfalen stehen 90 Prozent aller kreisfreien
Städte unter Haushaltsbewirtschaftung. Das ist das Ergebnis der Politik der rot-grünen Landesregierung in
Nordrhein-Westfalen.
({4})
Gerade die SPD, die immer großen Wert darauf gelegt hat,
eine Kommunalpartei zu sein, hat diesen Anspruch längst
verloren.
({5})
- In dieser Stunde, Herr Scheelen, wird der nordrheinwestfälische Finanzminister, Herr Steinbrück, im Landtag
von Nordrhein-Westfalen vortragen, dass 1,7 Milliarden
Körperschaftsteuer zurückzuzahlen sind.
Ich würde Ihnen empfehlen, das Memorandum der
Oberbürgermeister des Ruhrgebiets aus der vergangenen
Woche zu lesen.
({6})
Fast alles von dem, was Sie heute Morgen vorgetragen
haben, wird durch dieses Memorandum ad absurdum geführt.
({7})
Alles aus Ihrer hehren Regierungserklärung, nach der
Sie die Finanzkraft der Gemeinden stärken wollen, ist wie
Seifenblasen zerplatzt. Wenn selbst eine Zeitung wie die
„Frankfurter Rundschau“, die bekanntlich manche Vorlagen zu ihren Artikeln direkt aus dem Büro des Kollegen
Struck bekommt, Alarm schlägt und titelt „Kommunen
klagen über finanzielle Zwangsjacke“, dann muss die
Lage verdammt ernst sein.
Doch das Wegbrechen des Gewerbesteueraufkommens
scheint jetzt langsam alle munter gemacht zu haben. Noch
im vergangen Jahr wurde auf dem Deutschen Städtetag
- ganz im Sinne der PDS - beschlossen, die Gewerbesteuer zu revitalisieren. Nun wird die Einsetzung einer
Kommission geplant. Das ist in Ordnung, aber hoffentlich kommt sie bald und hoffentlich auch schnell zu Ergebnissen. Denn die Gemeinden brauchen jetzt ihre Hilfe.
Die kommunalen Aufgaben müssen auf ein notwendiges Maß zurückgeführt und damit auch die Ausgaben
begrenzt werden. Davon sprechen Sie nie. Die Gemeinden benötigen solide Steuereinnahmen zur Finanzierung
ihrer Aufgaben. Was wir brauchen, ist eine präzise und
punktgenaue Struktur der Steuergesetzgebung. Nur mit
einem solchen, längst überfälligen Schritt kann das Ende
der für niemanden mehr nachvollziehbaren Umverteilungsorgien eingeläutet werden.
({8})
Wer will noch bestreiten, dass sich die Gewerbesteuer
überlebt hat? Sie hat zunehmend prozyklischen Charakter
und bietet keine Planungssicherheit mehr. Den Gemeinden bleibt kein Gestaltungsspielraum mehr.
({9})
Auf einmal geben auch die kommunalen Spitzenverbände
ihre starrsinnige Haltung auf - das freut mich -: Die Gewerbesteuer ist zu konjunkturabhängig und schwankt viel
zu stark; sie muss dringend ersetzt werden.
Die Vorschläge der FDP-Bundestagsfraktion liegen
vor: ein höherer Anteil an der Umsatzsteuer und ein Hebesatzrecht bei der Einkommensteuer. Gegen Ihren Widerstand, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, haben wir durchgesetzt, dass der Anteil der Gemeinden am Aufkommen aus der Umsatzsteuer bei
2,3 Prozent liegt. Wenn Sie heute die Kämmerer fragen,
was sie vom Wegfall der Kapitalertragsteuer halten, dann
werden Sie feststellen, dass diese inzwischen begriffen
haben, dass die Umsatzsteuerbeteiligung eine der progressivsten und stabilsten Einnahmequellen für die Kommunen ist.
({10})
- Wir werden dafür sorgen, dass dieser Anteil erhöht wird.
({11})
- Frau Kollegin Scheel, wenn die Länder die Gemeinden
an dem Aufkommen aus den Sonderumsatzsteuerpunkten
entsprechend beteiligt hätten, dann sähe die Situation
heute anders aus. Aber sie haben das nicht getan.
({12})
Alle unsere Vorschläge werden seit langem von der
Wissenschaft unterstützt. Das Beharrungsvermögen und
das Besitzstandsdenken vieler Politiker der großen Parteien und der Funktionäre der kommunalen Verbände,
Herr Kollege Scheelen, haben bisher jeden Ansatz einer
Reform verhindert. Diese Bundesregierung hat noch nicht
einmal Lösungsansätze aufgezeigt. Sie hat vielmehr nur
Gesetze beschlossen, die den Kommunen in erheblichem
Umfang neue Pflichten auferlegt und neue Kosten aufgebürdet haben. Dadurch hat sich die Situation der Gemeinden so dramatisch verschlechtert.
Wir dürfen die Finanzen der Gemeinden nicht isoliert
betrachten. Es liegt auf der Hand, dass unsere gesamte
bundesstaatliche Finanzverfassung zur Diskussion
steht. Das nicht mehr durchschaubare Geflecht aus Landeskompetenzen in der Gesetzgebung sowie davon abweichenden Kompetenzen im Vollzug und bei den Steuereinnahmen muss von Grund auf entwirrt werden.
Neuregelungen sind also notwendig. Auch das ist inzwischen eine Binsenweisheit.
({13})
Wie hat die Bundesregierung darauf reagiert? Es gab
ein unwürdiges Geschacher um den Solidarpakt II zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten,
die sich wie die Kesselflicker gestritten haben. Nach einer
Nachtsitzung beim Kanzler bekam jeder ein paar Millionen. Nun wird behauptet, dass die Finanzbeziehungen
zwischen Bund und Ländern bis zum Jahre 2018 befriedigend geregelt seien. Darüber kann man nur lachen. Wir haben den Solidarpakt II abgelehnt, weil er ein fauler Kompromiss ist, der nicht ein einziges Grundsatzproblem löst.
Es liegt auf der Hand, was zu tun ist. Die Aufgaben von
Bund, Ländern und Gemeinden müssen entzerrt werden.
Gleiches gilt für die Einnahmen. Wer kostenträchtige Gesetze und Verordnungen beschließt, muss auch für die finanzielle Seite zuständig sein. Sie reden andauernd vom
Konnexitätsprinzip. Ja, dann sorgen Sie doch dafür, dass
die Mittel tatsächlich dorthin fließen, wo die Aufgabenerfüllung zu erfolgen hat!
({14})
Sie betreiben Gleichmacherei. Das kann man daran erkennen, dass eine Gemeinde, die vernünftig wirtschaftet, am
Ende nicht besser dasteht als eine Gemeinde, die über ihre
Verhältnisse lebt. Die Ursache dafür ist Ihre Gesetzgebung.
({15})
Ich erteile Kollegin
Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Schüßler, ich finde es immer wieder erstaunlich, wie die
FDP hier auftritt. Sie fordern andauernd, dass die Steuern
gesenkt werden, dass bestimmte Steuerarten abgeschafft
werden, dass die Sozialversicherungsbeiträge gesenkt
werden und dass im investiven Bereich des Haushalts
Mehrausgaben getätigt werden. Aber Sie sagen niemals,
woher das Geld dafür kommen soll.
({0})
Das ist genau das, was die Menschen nicht mehr hören
können: Versprechen, Versprechen, Versprechen und nichts
dahinter.
Ich möchte anhand von Zahlen deutlich machen, wie
sich die Situation wirklich darstellt. In der Ausgabe des
„Handelsblattes“ vom 22. Januar 2002 kann man lesen:
„Gemeinden melden Haushaltsüberschuss.“ Im Gegensatz zu Bund und Ländern, die im vergangenen Jahr
erhebliche Defizite verbuchen mussten, haben die Kommunen das vergangene Jahr mit einem Haushaltsüberschuss in Höhe von 1,1 Milliarden Euro abgeschlossen.
({1})
Das ist ein Faktum, das man zur Kenntnis nehmen muss.
Es ist zwar richtig, dass die Haushaltsüberschüsse der
Kommunen stark zurückgegangen sind. Lagen sie 1998
noch bei 4,3 Milliarden Euro und im Jahr 2000 bei
4,5 Milliarden Euro, betragen sie im Jahr 2001, wie gesagt, lediglich 1,1 Milliarden Euro. Aus diesem Grunde ist
es völlig richtig, die Situation der Kommunen sehr ernst
zu nehmen. Das tun wir auch. Aber es ist politisch nicht
seriös, den finanzpolitischen Zusammenbruch der Kommunen pauschal an die Wand zu malen.
({2})
Auch das muss erwähnt werden, wenn Sie sagen, dass es
bei allen Kommunen drastische Einnahmeeinbußen gibt.
Das ist einfach nicht richtig, Herr Schüßler.
({3})
Es gibt viele Kommunen und Gemeinden, die Mehreinnahmen aufweisen.
({4})
Es gibt in den größeren Städten spezielle Effekte, auf die
ich noch zurückkomme und die mit verschiedenen Ursachen zusammenhängen.
Angesichts der Prognose des Sachverständigenrates
haben wir damals die Befürchtung gehabt, dass die Kommunen im Jahr 2001 ein Hauhaltsminus von 2,7 Milliarden Euro haben würden. Dies hat sich Gott sei Dank nicht
bewahrheitet. Aber richtig ist natürlich, dass wir aufgrund
der rückläufigen Konjunktur eine schwierige Situation
haben. Diese darf man nicht beschönigen; denn die Gemeinden haben aufgrund der Einnahmerückgänge die
Ausgaben gekürzt. - Das ist wie bei einem privaten Haushalt: Bei einer vernünftigen Haushaltsführung gibt man
weniger aus, wenn man weniger einnimmt. - Dieses wirkt
sich negativ auf die Investitionen aus; denn fast 80 Prozent der öffentlichen Sachinvestitionen werden von den
Kommunen getätigt. Das ist gesamtwirtschaftlich gesehen also ein Problem.
Gleichzeitig ist das Gewerbesteueraufkommen laut
Steuerschätzung im Jahr 2001 im Durchschnitt um rund
10 Prozent zurückgegangen. Einzelne Städte mit bestimmten Großbetrieben melden starke Gewerbesteuereinbrüche. Auch das ist Realität. Diese Mindereinnahmen
sind aber nicht auf die Unternehmensteuerreform zurückzuführen, wie Sie fälschlicherweise hier immer wieder
behaupten. Aufgrund der Systemveränderungen im Rahmen der Körperschaftsteuerreform gibt es keinen Effekt
auf das Gewerbesteueraufkommen der Kommunen. Die
steuerlichen Entlastungen der Unternehmen im Rahmen
der Steuerreform treffen, was die Körperschaftsteuer anbelangt, nicht die Kommunen.
Folgende Gründe spielen eine wesentliche Rolle: Die
konjunkturelle Entwicklung bringt - das wird von allen
Seiten bestätigt - niedrigere Gewinne. Dadurch ergibt
sich eine andere Besteuerungsgrundlage. Die Energieversorgungsunternehmen stehen in einem verstärkten Wettbewerb mit rückläufigen Preisen. Auch daraus ergeben
sich geringere Steuereinnahmen. Die Unternehmen nahmen verstärkt das Instrument der gewerbesteuerlichen Organschaft in Anspruch. Das heißt, Unternehmensverbünde
konnten problemlos Gewinne und Verluste steuermindernd miteinander verrechnen. Es gab bei einzelnen Gewerbesteuerzahlern Sondersituationen infolge von Fusionen, die in den betroffenen Städten Mindereinnahmen
bewirkt haben. Es gab Wertberichtigungen bei Banken
und Versicherungsunternehmen wegen des Kursverfalls
auf den Aktienmärkten, wodurch Gewinneinbrüche und
Verluste verursacht wurden.
Das sind die Gründe, weswegen gerade in den größeren Städten wie Frankfurt, München, Köln und Duisburg
- also in den meisten großen Städten - die heutige Situation entstanden ist.
Eine Maßnahme, die im Rahmen der Steuerreform beschlossen worden ist und die zu einem kleinen Teil dazu
beigetragen hat, dass sich die Einnahmen der Kommunen
im Jahre 2001 um insgesamt 1,4 Prozent rückläufig entwickelt haben, ist die Gewerbesteuerumlage, die im
Jahre 2001 angehoben worden ist. Sie wurde im Rahmen
der Steuerreform erhöht, um eine angemessene Beteiligung der Kommunen an der Steuerentlastung sicherzustellen. Wir haben damals festgelegt, dass die Beteiligung
der Kommunen unterproportional erfolgen soll. Das
heißt, während sie einen Anteil am gesamtstaatlichen Aufkommen von rund 12 Prozent haben, müssen sie die Steuerausfälle infolge der Steuerreform nur in einer Größenordnung von rund 9 Prozent tragen.
Ich halte es für notwendig - das sage ich mit großem
Ernst -, dass die Wirkungen der erhöhten Gewerbesteuerumlage im Lichte der konkreten Konjunkturentwicklung
und der damit verbundenen Steuermindereinnahmen, die
zum Teil auch aufgrund verschiedener anderer rechtlicher
Regelungen bewirkt werden, zeitnah überprüft werden.
({5})
- Ich komme auf den Antrag noch zu sprechen. - Dabei
sind jedoch die Maßnahmen, die wir im Rahmen des
Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetzes zugunsten der Kommunen ab 2002 getroffen haben, zu berücksichtigen.
({6})
Dabei geht es um ein geschätztes Volumen von etwa
700 Millionen Euro, die als Entlastungen zugunsten der
Gewerbesteuereinnahmen für die Kommunen ab dem
1. Januar 2002 gelten. Das sind zum Beispiel die Regelungen für die gewerbesteuerliche Organschaft. Diese Regelungen wurden an diejenigen für die körperschaftsteuerliche Organschaft angeglichen. Damit ist das Ganze
nicht mehr so attraktiv. Die Rechtslage bezüglich der so
genannten Mehrmütterorganschaften wurde korrigiert.
Auch daraus wird es Mehreinnahmen geben. Die Möglichkeit der spartenübergreifenden Verlustverrechnung
bei Versicherungsunternehmen wurde beschränkt. Das
hängt damit zusammen, dass das Versicherungsaufsichtsgesetz im letzten Jahr geändert wurde. Damit wurden
spartenübergreifende Berechnungen ermöglicht. Das haben wir über das Gesetzgebungsverfahren im Dezember
wieder rückgängig gemacht, sodass es in diesem Bereich
die spartenübergreifende Verrechnungsmöglichkeit nicht
mehr gibt.
({7})
Die Gewerbesteuerpflicht für Gewinne von Kapital- und
Personengesellschaften aus der Veräußerung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmerschaften wurde
festgeschrieben. Die Beibehaltung des Verbots des Abzugs von Betriebsausgaben bei steuerfreien Dividenden
sowie die Gewerbesteuerpflicht für Dividenden auf Aktien im Streubesitz wurden beschlossen.
Alle diese Maßnahmen, die ich gerade aufgezählt habe,
werden dazu führen, dass die kommunalen Haushalte ab
diesem Jahr wieder Mehreinnahmen verzeichnen werden.
({8})
Alle diese fiskalpolitischen Verbesserungen für die
Kommunen müssen bei der Überprüfung der Gewerbesteuerumlage mit einkalkuliert werden. Deswegen sollte
die Überprüfung vor dem Jahr 2004, wie sie gesetzlich
festgeschrieben worden ist, erfolgen.
({9})
Bayern hat im Bundesrat einen Antrag eingebracht,
der zum Ziel hat, die Gewerbesteuerumlage wieder auf
die alte Höhe zurückzuführen. Dieser Antrag ist identisch
mit dem, was hier vonseiten der CDU/CSU vorliegt. Der
Antrag Bayerns ist im letzten Winter eingebracht worden.
Im Finanzausschuss des Bundesrats haben nicht einmal
die unionsregierten Länder für die Annahme gestimmt.
({10})
Schon im Vorfeld also haben die unionsregierten Länder keine gemeinsame Linie gehabt, was die Frage der
Gewerbesteuerumlage betrifft. Auch hieran sieht man,
dass es in der Union keinen Zusammenhalt in finanzpolitischen Fragen gibt. An diesem Beispiel können wir wieder belegen, dass es bei Ihnen hü und hott geht, dass Sie
völlig konfus agieren und reagieren.
({11})
Auch wir wissen, dass das Gewerbesteueraufkommen sehr konjunkturabhänig ist. Die Steuer selbst ist
durch die Aushöhlung ihrer Bemessungsgrundlage immer
mehr zu einer Großbetriebssteuer geworden. Das ist übrigens in den 16 Jahren der Kohl-Regierung und nicht in unserer Regierungszeit - das darf ich hier einmal anmerken erfolgt.
({12})
Diese Aushöhlung der Bemessungsgrundlage geht zurück
auf die Entscheidungen der CDU/CSU- und vor allem der
FDP-Fraktion, die mit Steuereinnahmen ja ohnehin nichts
am Hut hat.
Wir werden eine Kommission zur Erarbeitung eines
Entwurfs zur Reform des Gemeindefinanzsystems einsetzen. Die Einsetzung dieser Kommission steht kurz bevor.
Es gibt drei Ziele, die zu verwirklichen sind:
Erstens. Den Kommunen muss eine möglichst konjunkturunabhängige Finanzierungsbasis geschaffen werden.
Zweitens. Die Verbindung zwischen den Wirtschaftsunternehmen und den jeweiligen Kommunen muss gestärkt werden.
Drittens. Den Kommunen muss im Rahmen der Reform ein verfassungsrechtlich einwandfreies Hebesatzrecht zur Sicherung und Gestaltung ihrer Einnahmebasis
gewährleistet werden.
Wir müssen natürlich auch insgesamt die Möglichkeit
von Entlastungen auf der Ausgabenseite prüfen.
Eine solche Reform wird in der nächsten Legislaturperiode Realität werden. Ich kann Sie nur auffordern: Arbeiten Sie daran mit! Wir wollen diese Reform gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden und
gemeinsam mit den Ländern verwirklichen. Das geht nur
mit den kommunalen Spitzenverbänden, die in der Kommission ein ganz starkes Gewicht haben werden.
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile dem Kollegen Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Scheel, die Koalition, der Sie angehören, hat im November 1998 bekannt
gemacht, das Gemeindefinanzsystem auf den Prüfstand
zu stellen
({0})
und eine Gemeindefinanzreform vorzubereiten. Bis heute,
immerhin 1100 Tage später, ist nichts, aber auch gar
nichts passiert. Vor drei Tagen erst haben Sie in Ihrer Fraktion nur beschlossen, eine solche Kommission auf den
Weg zu bringen. Das ist wahrlich sehr wenig.
({1})
Kollege Scheelen, Sie behaupteten, dass die Absenkung der Körperschaftsteuer um 80 Prozent im Jahresvergleich keine Auswirkungen auf die Kommunen habe.
Die Körperschaftsteuer fließt zu großen Teilen in die Länderkassen und die Länder wiederum sind für den kommunalen Finanzausgleich verantwortlich. Der Abschwung
trifft daher die Länder und ebenfalls die Kommunen dramatisch.
({2})
Dadurch, dass nichts passiert ist, befinden sich die
Kommunalfinanzen in einem desolaten Zustand. In vielen Städten und Gemeinden ist kein Geld mehr vorhanden, um Schwimmbäder zu unterhalten. Es ist kein Geld
mehr vorhanden, um den kommunalen Eigenanteil für
Förderprogramme aufzubringen. Die kommunalen Investitionen gehen dramatisch zurück. All das geschieht in
einer Zeit, in der die Bundesrepublik 4,3 Millionen
Arbeitslose hat. Das ist unverantwortlich.
Die Regierungskoalition hat nichts, aber auch gar
nichts auf diesem Gebiet zuwege gebracht. Mit der Steuerreform haben Sie sogar dafür gesorgt, dass die Einnahmebasis der Kommunen auf Jahre hinaus ausgehöhlt
wird. Die Gewerbesteuerumlageerhöhung bewirkt allein in diesem Jahr bei den Städten und Gemeinden Einnahmeausfälle in Höhe von 1 Milliarde Euro.
Ein Wort an die CDU/CSU: Kollege Götz, Sie fordern
zu Recht - wir unterstützen das -, die Gewerbesteuerumlageerhöhung rückgängig zu machen. Dann frage ich Sie
aber, warum Sie in der Debatte am 21. Juni 2001 unseren
Antrag, der genau dies vorsah, abgelehnt haben. Auch die
FDP, die heute Entsprechendes lauthals verkündet, lehnte
damals unseren Antrag ab. Das ist doch Rosstäuscherei!
({3})
Die Einnahmen der Kommunen reichen nicht aus, um
die dringendsten Aufgaben zu erfüllen. Auf der anderen
Seite werden Steuergelder in unübersehbarem Umfang für
wahnwitzige Rüstungsprojekte verausgabt: gestern das
neue Transportflugzeug A400M, morgen der Eurofighter
2000. Die neuesten Zahlen aus dem Bundesverteidigungsministerium besagen, dass die Kosten des Eurofighters
jetzt bei 22 Milliarden Euro liegen, während 1997 noch
von 12 Milliarden Euro ausgegangen worden ist. Hier
stimmt im staatlichen Finanzgefüge eine Menge nicht.
({4})
Auch die finanziellen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen die
Kommunen tragen. Neueste Berechnungen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes besagen, dass von
den 26 Milliarden Euro, die die Kommunen für Sozialhilfe ausgeben, allein 15 Milliarden Euro auf die Langzeitarbeitslosigkeit zurückzuführen sind. Hier stimmt das
ganze Konstrukt der Sozialhilfe nicht mehr. Dazu haben
Sie nicht ein einziges Wort gesagt. Das ist unverantwortlich.
Die PDS ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die bereits 1999 einen konzeptionellen Vorschlag
für den Einstieg in die Reform der Kommunalfinanzierung eingebracht hat. Alle anderen Fraktionen haben darüber nur geredet, bis zum heutigen Tage auch die
CDU/CSU. Ihre Anträge, die wir jetzt beraten, stellen die
ersten Versuche in dieser Richtung dar.
Wir verlangen eine auf die Wirtschaftskraft bezogene
Steuer, die dauerhaft Bestand hat. Die Einnahmen aus dieser Steuer sollen möglichst vollständig in die kommunalen Kassen fließen. Wir sagen: Weg mit dem Konstrukt
Gewerbesteuerumlage, das dazu geführt hat, dass das Finanzsystem von den Füßen auf den Kopf gestellt wird.
({5})
Wir verlangen für die besonders gebeutelten ostdeutschen
Kommunen, aber auch für so manche Kommune im Altbundesgebiet, dass eine kommunale Investitionspauschale des Bundes aufgelegt wird. Die Kommunen müssen selbst entscheiden können, wofür sie es vordringlich
verwenden. Diese kommunale Investitionspauschale soll
direkt vom Finanzministerium in Berlin in die Städte und
Gemeinden fließen. Das wäre kommunale Selbstverwaltung pur, Herr Kollege Scheelen.
({6})
- Die Verfassung lässt das zu; das wissen Sie ganz genau.
Bereits vor Jahren hat es diese Möglichkeit gegeben.
({7})
Außerdem brauchen wir eine dauerhafte Entlastung
der Kommunen von Problemen, für die sie nicht verantwortlich sind. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass
die finanziellen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit nicht
mehr den Kommunen aufgedrückt werden, denn die
Kommunen haben dieses Problem nicht verursacht.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Die Fakten, die in der heutigen Debatte eine
Rolle spielen und die sich noch mannigfach ergänzen
ließen, zeigen, dass die Kommunalfinanzen in der Bundesrepublik auf dem Kopf stehen. Sie müssen endlich auf
die Füße gestellt werden. Eine umfassende kommunale
Finanzreform ist notwendig. Packen wir es gemeinsam
an. Eine Lösung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland ist dringend geboten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Schild von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wir müssen den Gemeinden helfen, aber
nicht durch politische Schnellschüsse.
({0})
Alle Ihre Anträge beinhalten nur Schnellschüsse. Einzige
Ausnahme ist der Antrag der Union zur Einsetzung einer
Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen und dieser hat sich durch die Ankündigung des Bundesfinanzministers vom Herbst letzten Jahres und durch unseren heutigen Antrag, selbige zu unterstützen, eigentlich erledigt.
Im Übrigen hat der Bundesfinanzminister schon im
Herbst des letzten Jahres angekündigt, eine solche Kommission einzusetzen.
({1})
- Herr Kollege Fromme, ich habe den Eindruck, dass Sie
heute nicht auf der Rednerliste stehen und deshalb alles
von den hinteren Bänken einbringen. Lassen Sie sich auf
die Rednerliste setzen!
({2})
Herr Fromme, machen Sie Ihrem Namen ein bisschen
Ehre!
({3})
Herr Kollege Götz, Sie haben in Ihrem Vortrag den Koalitionsvertrag angesprochen
({4})
und darauf hingewiesen, dass wir eine Gemeindefinanzreform angekündigt haben; das ist richtig.
({5})
Aber wir brauchen, Herr Kollege Michelbach - damit bin
ich gleich bei Bayern -, für eine Gemeindefinanzreform
als Bezugspunkt das Gerüst eines bundesstaatlichen
Finanzausgleichs. Wer ist denn nach Karlsruhe gegangen
und hat uns zwei, drei Jahre Verzögerung eingebrockt?
({6})
Sie wissen, dass wir den Finanzausgleich brauchen,
({7})
um auf dieser Basis einen Blick in die Zukunft werfen zu
können und eine Gemeindefinanzreform zu installieren.
Besonders heuchlerisch ist es allerdings, wenn sich jetzt
diejenigen öffentlich als Retter und Fürsprecher der kommunalen Finanzen aufschwingen, deren steuerpolitische
Vorschläge immer zum gegenteiligen Ergebnis führen.
({8})
Mit Ihren - das haben wir gestern früh diskutiert - immer
widersprüchlicher werdenden Steuervorschlägen würden
Sie Bund und Ländern, aber auch den Kommunen erhebliche Steuerausfälle bescheren.
Allein das Vorziehen der Steuerreformstufe von
2005 auf 2003 würde für die Kommunen in den Jahren
2003 und 2004 Mindereinnahme in Höhe von 5,5 Milliarden Euro zur Folge haben.
({9})
- Nein, Sie müssen endlich einmal erkennen, dass nicht
beides geht. Sie können nicht ständig Steuersenkungen
fordern und gleichzeitig so tun, als würden die Gemeinden durch die Steuersenkungen mehr Geld in die Kassen
bekommen.
({10})
Sie bleiben, wenn es um die Gemeindefinanzen geht,
immer im Vagen und Widersprüchlichen. Da gibt es nichts
Konkretes. Ihr Steuerkonzept „Die bessere Alternative“ von Anfang 2000 sah vor, die Gewerbesteuer um
20 Prozent zu senken. Wäre der Deutsche Bundestag diesem Antrag gefolgt, hätten wir nicht nur 5 Milliarden DM
weniger, sondern 10 Milliarden DM.
({11})
- Das ist doch Unsinn. Wir hatten in den letzten Jahren ein
hohes Wachstum. Dass allein die Absenkung der Gewerbesteuer um 20 Prozent das Wachstum beschleunigt, können Sie doch niemandem hier erzählen.
({12})
Nein, man kann nicht den Rückgang des Gewerbesteueraufkommens beklagen und gleichzeitig die Absenkung
derselben Steuer im Deutschen Bundestag beantragen.
({13})
Ihr Konzept wurde damals von den kommunalen Spitzenverbänden verständlicherweise entschieden abgelehnt.
Auch die kommunalen Spitzenverbände haben sich von
diesem Vorschlag wahrhaftig keine Hilfe versprochen. Im
Übrigen war darin die Abschaffung der Gewerbesteuer,
wie sie jetzt von Unionspolitikern in den Kommunen teilweise gefordert wird - auch hier gibt es kein einheitliches
Bild bei Ihnen -, ausdrücklich nicht vorgesehen.
({14})
- Herr Kollege Seiffert, ich komme jetzt auch auf die neue
Beschlusslage Ihrer Partei zu sprechen.
Damals hieß es:
Wir wollen keine Abschaffung der Gewerbesteuer,
da sie ein zentrales Element eigenverantwortlicher
kommunaler Steuerpolitik ist.
Das gestehe ich zu. In Ihrem Parteitagsbeschluss von Dezember letzten Jahres fordern Sie:
Parallel zur Reform der Einkommen- und Unternehmensteuern muss auch die Gemeindefinanzierung
grundlegend reformiert werden, um mehr Wettbewerb unter den Kommunen zuzulassen.
({15})
In diesem Rahmen muss eine sinnvolle Fortentwicklung der kommunalen Wirtschaftsbesteuerung entwickelt werden.
In der Tat sind auch wir für eine sinnvolle Fortentwicklung der kommunalen Wirtschaftsbesteuerung.
({16})
Das bedeutet aber, dass man allen Kommunen faire Wettbewerbschancen bietet. Ich hoffe, wir können in Zukunft
auf der Basis der Vorschläge der Expertenkommission
- auch wir gehen davon aus, dass sich diese Arbeit nicht
über mehrere Jahre erstrecken wird - konstruktiv zusamHorst Schild
menarbeiten. Ich sage das deutlich. In einigen Fragen sind
wir vielleicht gar nicht so weit auseinander. Wir sollten
uns aber davor hüten, durch widersprüchliche Vorschläge
in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, Gemeinden helfen zu wollen und am Ende das Gegenteil zu befördern.
Eines möchte ich noch sagen, Kollege Schüßler: Über
das, was die FDP hier vorgelegt hat, habe ich mich allerdings gewundert. Andererseits hielt sich die Verwunderung in Grenzen; denn es ist zu bedenken, dass Sie Ihrem
Ruf als Klientelpartei Rechnung tragen wollten.
({17})
Sie erheben Forderungen, die widersprüchlich begründet
sind und die kommunalen Finanzen ganz eindeutig zum
Nachteil gereichen. Kollege Schüßler, wer die Abschaffung der Gewerbesteuer fordert, der muss klarstellen, wie
den Gemeinden eine Kompensation in einem Volumen
von 50 Milliarden DM oder 25 Milliarden Euro zukommen soll.
({18})
Die Steuersätze sollen also wieder gesenkt werden. Sie
wollen ein Hebesatzrecht in Bezug auf die Körperschaftsteuer und die Einkommensteuer.
({19})
- Ich komme gleich darauf zu sprechen.
Es fällt relativ leicht, das anhand des vorliegenden
FDP-Antrags zu dokumentieren.
({20})
Sie stellen zu Recht fest, dass die Gewerbesteuer an die
Erträge der Unternehmen anknüpft und daher stark konjunkturabhängig ist. Finanzielle Planungssicherheit ist für
die Kommunen damit nicht gegeben. Wer hat denn - diese
Frage ist hier schon vorhin gestellt worden - die Gewerbesteuer zur bloßen Ertragsteuer - das ist sie heute - gemacht? Das waren doch nicht wir!
({21})
Durch die grundsätzliche Anknüpfung der Gewerbesteuer
an die Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer bzw.
Einkommensteuer der Gewerbetreibenden - das entnehme ich Ihrem Antrag - schlagen Änderungen der körperschaftsteuerlichen bzw. einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage automatisch auf die Gewerbesteuer
durch.
Wie sieht Ihre Schlussfolgerung, Ihre Alternative aus? Ein kommunaler Zuschlag auf Körperschaftsteuer und
Einkommensteuer! Sie tun so, als gälte für einen solchen
Zuschlag nicht genau das, was Sie an der Gewerbesteuer
kritisieren - bloß in noch viel stärkerem Ausmaß.
({22})
- Herr Schüßler, Sie können das einmal in einem Gespräch am Rande des Plenums erläutern.
({23})
Die jetzige Gewerbesteuer weist wenigstens noch einige objektsteuerliche Korrekturen in ihrer Bemessungsgrundlage auf.
Gleichzeitig wollen Sie den Einkommensteuerspitzensatz auf 35 Prozent senken. Über die daraus resultierenden Steuerausfälle werden Länder und Kommunen sicherlich begeistert sein. Fragen Sie einmal Kämmerer
oder Finanzminister der Länder, ob das zur Stabilisierung
ihrer Planungssicherheit beiträgt!
Man mag das alles wollen, was Sie fordern, Herr Kollege Schüßler. Nur sollte man dann wenigstens im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Kommunalfinanzen
ehrlich sein und nicht das Gegenteil von dem behaupten,
was tatsächlich zutrifft.
({24})
Unbestritten ist: Die Gewerbesteuer weist in ihrer derzeitigen Form vielfältige Schwächen auf. Darüber brauchen wir hier nicht zu diskutieren. Wir müssen darüber
diskutieren, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen. Die derzeitige kommunale Finanzsituation ist nicht
nur auf konjunkturelle Gründe, sondern im Wesentlichen
auf strukturelle Probleme bei den Einnahmen und den
Ausgaben zurückzuführen.
({25})
Deswegen wird der Bundesfinanzminister mit voller Unterstützung der Koalitionsfraktionen in den nächsten Wochen
eine Kommission zur Gemeindefinanzreform einsetzen.
({26})
An der Arbeit dieser Kommission wird, Kollege Michelbach,
auch das Land Bayern beteiligt sein. Die Länder können
durch ihre Vertreter ihre Vorstellungen einbringen. Ich
hoffe, sie haben bis dahin welche, und zwar abgestimmte.
Wir streben an, frühzeitig in der nächsten Legislaturperiode eine Reform auf der Grundlage der Vorarbeiten
der Kommission gesetzgeberisch umzusetzen.
Zu einer Gemeindefinanzreform gehört vor allen Dingen die Zukunft der Gewerbesteuer. Alle Alternativvorschläge zur Gewerbesteuer müssen sich in erster Linie an
der Verfassung messen lassen. Ich frage Sie, auch die Kollegen von der FDP: Wollen Sie Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes ändern oder wollen Sie ihn unverändert lassen?
({27})
Man muss sich darüber im Klaren sein, ob man das Band
zwischen den Betrieben vor Ort in der Kommune und der
Kommune selbst zerschneiden oder es erhalten will.
({28})
Wir sind der Meinung, dass sich alle Alternativvorschläge
an der Forderung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 3 des Grundgesetzes orientieren müssen, der eine Kommunalsteuer in
Form einer wirtschaftsbezogenen Steuer mit Hebesatzrecht vorschreibt. Das ist unsere Position. Andernfalls
zerschneiden wir das Band zwischen den Kommunen und
den örtlichen Betrieben.
Wir müssen berücksichtigen - das sage ich ganz deutlich -, welche Aufgaben die Gemeinden haben. Hierzu
zählt der für die Kommunen besonders bedrückende Bereich der Sozialhilfe. Auch das muss im Mittelpunkt der
Erörterung dieser Kommission stehen. Die Gemeindefinanzreform wird sich also nicht nur mit dem Thema der
Gewerbesteuer, sondern auch mit den Ausgaben der Kommunen befassen müssen.
Aufgabenerfüllung und Finanzierung müssen wieder in Einklang miteinander gebracht werden; da stimmen
wir vielem, was heute gesagt wurde, zu. Kommunale Entscheidungsspielräume müssen erweitert werden. Wir werden in der nächsten Wahlperiode eine seriöse Gemeindefinanzreform verabschieden.
({29})
- Herr Götz, das habe ich doch bereits gesagt. Ich habe
den Eindruck, dass Sie das nicht ganz verstanden haben.
Ich wiederhole es: Durch die Klage insbesondere der süddeutschen Länder vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den bundesstaatlichen Finanzausgleich ist es zu einer
Verzögerung gekommen. Sie konnte nicht aufgehoben
werden, bevor wir als Grundgerüst für die zukünftige Gemeindefinanzreform einen bundesstaatlichen Finanzausgleich schaffen konnten, den wir nun haben. Darauf werden wir aufbauen.
({30})
Wir werden den Gemeinden hinsichtlich ihrer Finanzen
dauerhaft eine verlässliche Basis geben und die kommunale Selbstverantwortung stärken.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, dass wir gemeinsam zu tragfähigen Ergebnissen kommen werden. Wir alle
wissen: Für eine Gemeindefinanzreform brauchen wir die
Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen.
Deshalb biete ich Ihnen heute die Zusammenarbeit an.
Danke schön.
({31})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Gerhard Schüßler von
der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Kollege Schild, es ist
immer interessant, zu erleben, dass Sie - das wird bei
Ihren Ausführungen deutlich - nie den gesamtstaatlichen
Finanzausgleich in Ihre Gedanken einbeziehen.
({0})
Sie wissen sehr genau, dass wir eine nachhaltige Reform
des bundesstaatlichen Finanzausgleichs brauchen, und
zwar auf gar keinen Fall ohne Gemeindefinanzreform.
Diese hat der Herr Finanzminister noch im vorigen Jahr
abgelehnt; das wollen wir nicht vergessen.
Ihnen ist darüber hinaus noch immer nicht klar, dass
die Gewerbesteuer eine wettbewerbsfeindliche Steuer ist,
die es in keinem anderen europäischen Land gibt.
({1})
- Herr Poß, dass Sie eine andere Meinung haben, wundert
niemanden. Ich will Ihnen aber sagen: Ihre eigenen Leute,
wo auch immer Sie sie heute suchen, in Nordrhein-Westfalen, beim Deutschen Städtetag oder bei den Oberbürgermeistern, werden Ihnen erklären, dass die Gewerbesteuer weg muss.
({2})
Nur Sie haben das noch nicht begriffen. Sie stellen noch
Anträge, um diese Gewerbesteuer zu revitalisieren. Das
ist das Letzte, was wir gebrauchen können.
Wir brauchen einen gesamtstaatlichen Finanzausgleich; denn die Entwicklung der Finanzbeziehungen
zwischen Bund und Ländern versteht im Moment kein
Mensch mehr. Oder können Sie die nachvollziehen?
Dafür braucht man schon ein finanzwissenschaftliches
Studium. Und Sie wollen mir weismachen, dass das so
bleiben kann? Darüber sollten Sie einmal nachdenken, anstatt hier so zu polemisieren.
Herr Kollege
Schild, wollen Sie erwidern? - Bitte schön.
Herr Kollege Schüßler, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben nahezu einstimmig - nur im Deutschen Bundestag gegen Ihre Stimmen im letzten Jahr einen bundesstaatlichen Finanzausgleich
beschlossen.
({0})
- Herr Kollege Michelbach, ich habe vorhin gesagt, dass
das eine wesentliche Voraussetzung für eine Gemeindefinanzreform darstellt.
Herr Kollege Schüßler, dafür, dass Sie vieles nicht verstanden haben,
({1})
bin ich nicht verantwortlich. Aber die Bundesländer, in
denen die FDP an der Regierung beteiligt war, haben diesem bundesstaatlichen Finanzausgleich zugestimmt.
Was die Gewerbesteuer anbelangt, habe ich nicht gesagt, dass das so bleiben muss. Ich habe Ihnen, Herr Kollege Schüßler, aber den Vorwurf gemacht, dass Sie eine
Forderung erheben, ohne eine Alternative auf den Tisch
zu legen.
({2})
Sie fordern die Abschaffung der Gewerbesteuer, ohne zu
sagen, wie ein Volumen von 50 Milliarden DM respektive
25 Milliarden Euro kompensiert werden soll. Alternativen
zu finden wird Gegenstand der Arbeit dieser Kommission
sein. Aber ein politischer Schnellschuss - die Abschaffung der Gewerbesteuer - wird den Gemeinden nicht helfen, vor allem nicht, wenn dies gegen den Willen der kommunalen Spitzenverbände beschlossen wird.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von der CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Wirtschaft ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Wirtschaft.“ Dieses Grundprinzip von Ludwig Erhard wurde
von Rot-Grün außer Kraft gesetzt. Die verfehlte Finanzund Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung hat in den
letzten drei Jahren dazu geführt, dass sich unsere Kommunen in einer kritischen Finanzsituation befinden und
unsere Wirtschaft in eine Rezession geraten ist. Wachstumseinbruch, hohe Arbeitslosigkeit, Steuergeschenke
und Steuerwillkür sind die Ursachen für den Niedergang
der Kommunalfinanzen.
Wirtschaftliche Dynamik ist die Grundlage für Arbeitsplätze, Steueraufkommen und Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Diese können nur gedeihen,
wenn es bessere Rahmenbedingungen für Wirtschaft und
Kommunen in unserem Land gibt. Unter Rot-Grün ist genau das Gegenteil passiert. Die Bilanz in der Wirtschafts-,
Finanz- und Sozialpolitik von Rot-Grün ist miserabel. Die
Folge ist: Die Zahl der Unternehmensgründungen ist
rückläufig. Die Firmenpleiten haben um 19 Prozent auf
die Rekordzahl von 34 000 zugenommen. Rot-Grün hat
Deutschland zum Absteiger in der Europaliga gemacht.
Rot-Grün hat die Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und
Kommunen wesentlich beschwert.
({0})
Rot-Grün ist damit ein Belastungsprogramm für Deutschland.
({1})
Deutschland ist mit 0,6 Prozent Wachstum Schlusslicht
der Europäischen Union. 1 Prozent Wachstumsverlust
hat die öffentliche Hand rund 8 Milliarden Euro gekostet.
Die Arbeitslosenzahlen steigen unaufhaltsam. Jeweils
100 000 Arbeitslose kosten mehr als 1,5 Milliarden Euro.
Ausgehend von 3,5 Millionen Arbeitslosen - das ist die Prognose Ihres Bundeskanzlers - wird es zu 12 Milliarden Euro
Mehrbelastung für die öffentliche Hand kommen.
({2})
Das ist der Niedergang in der Wirtschaft und in den Kommunen. Letzten Endes können wir so nicht weitermachen.
Der Leistungsverlust schadet dem Gemeinwohl und
der Zukunft. Im vierten Quartal 2001 hatten wir beim
Bruttoinlandsprodukt wiederum ein Minus zu verzeichnen. Damit sind wir das einzige Land in der Europäischen
Union, das akut in der Rezession steht. Ein Abstieg auf allen Ebenen - das ist die Situation, die wir heute haben.
({3})
Meine Damen und Herren, die nächste Blamage steht
leider bevor. Deutschland hat die höchste jährliche Neuverschuldung des öffentlichen Gesamthaushaltes, gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Deutschland
steht kurz davor, wegen seines hohen Haushaltsdefizits
die rote Karte aus Brüssel zu erhalten. Der Verstoß gegen
den von Theo Waigel durchgesetzten Stabilitätspakt ist
der Offenbarungseid dieser Bundesregierung und des
Bundesfinanzministers im Besonderen.
({4})
Die Kommission ist zu Recht besorgt, weil der Bundesfinanzminister seine vollmundig angekündigten Sparziele deutlich verfehlt. Das gesamtstaatliche deutsche Defizit liegt bei 2,6 Prozent des BIP, das sind 1,1 Prozent
mehr, als ursprünglich in Brüssel gemeldet.
({5})
Herr Eichel lässt sich von Ihnen als selbst ernannter Sparkommissar feiern. In Wahrheit wird auf Kosten der Kommunen, Länder und Sozialversicherungen gespart. Die
Neuverschuldung des öffentlichen Gesamthaushaltes explodiert. Das sind die Tatsachen.
({6})
Gleichzeitig - das ist besonders hervorzuheben - machen Sie große Steuergeschenke an Aktiengesellschaften.
({7})
Das ist Ihre Politik, die das Großkapital unterstützt.
({8})
Der normale Steuerzahler steht dieser Ungerechtigkeit
fassungslos gegenüber. Große Aktiengesellschaften genießen bei Ihnen die Freiheit zur Selbstbedienung. Das ist
die Situation, die wir haben.
({9})
Ein Staatssekretär wird bei der Post AG in den Aufsichtsrat geholt. Das kostet den Staat 1,4 Milliarden Umsatzsteuer.
({10})
Ein Chemieriese schickt den Leiter der Steuerabteilung als
Staatssekretär in das Bundesfinanzministerium. Ergebnis:
mittelstandsfeindliche Steuerpolitik, große Entlastung der
Kapitalgesellschaften durch die Senkung der Körperschaftsteuer, was eine Reduzierung des Körperschaftsteueraufkommens von 45 Milliarden DM auf 6 Milliarden DM zur Folge hat. Das ist eine Politik für die Bosse,
das ist eine ungerechte Politik, eine mittelstandsfeindliche
und letzten Endes auch eine kommunalfeindliche Politik.
({11})
Weitere Hiobsbotschaften werden folgen, wenn die
ordnungspolitische Irrfahrt kein Ende hat. Die Fakten
sind: Arbeitnehmer und Mittelstand zahlen nicht zu wenig, sondern zu viel Steuern. Die Einkommensbelastungsquote ist mit 54,5 Prozent für die Bürger nach wie
vor sehr hoch. Gleichzeitig ist der Lebensnerv der Kommunen für eine ausreichende Finanzkraft abgeschnitten.
Die kommunalen Investitionen liegen heute um ein Drittel unter dem Niveau von 1992.
({12})
Das muss man sich einmal vor Augen halten! Diese Zahlen sprechen Bände über die rot-grüne Kommunalfeindlichkeit. Viele Städte befinden sich durch dramatische Finanzverschiebungen und Steuerverluste zurzeit in einer
sehr ernsten Finanzkrise, aus der sie sich selbst nicht mehr
befreien können. Ihre politischen Entscheidungen sind die
Ursache dafür, dass in den Kommunen die Abwärtsspirale
von sinkenden Einnahmen, wachsenden Aufgaben und
steigenden Defiziten angetrieben wird.
Mit Schönredereien, Durchhalteparolen und hektischem Aktionismus wie zum Beispiel der schnellen Gründung eines Arbeitskreises wollen Sie sich durchmogeln.
Durch das Einsetzen einer Kommission zur Reform der
Gemeindefinanzen wollen Sie jetzt noch Aktionismus
darstellen - viel zu spät! Sie haben es versäumt, parallel
zu Steuerreform und Länderfinanzausgleich eine Gemeindefinanzreform durchzuführen. Sie haben Reformen
verweigert und deshalb müssen jetzt die Kommunen und
letzten Endes auch die Bürger die Zeche zahlen.
({13})
Der Gipfel der Kommunalfeindlichkeit aber ist die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage. Das ist ein Anschlag
auf die kommunale Selbstverwaltung und nichts anderes.
({14})
Ich zeige Ihnen am Beispiel meiner Heimat einmal, wie
die Kommunen dadurch unter Druck geraten: Die Stadt
Coburg muss 980 000 Euro mehr abgeben, die Stadt Neustadt 700 000 Euro, die Stadt Rödental 350 000 Euro, die
Stadt Kronach 260 000 Euro. Die Landeshauptstadt München muss durch Ihre Erhöhung der Gewerbesteuerumlage 32 Millionen Euro mehr abgeben. Diese Beträge fehlen vor Ort für Aufträge, für Investitionen und zur
Sicherung der Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit, die
letzten Endes Sie zu verantworten haben, ist hausgemacht!
({15})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU wird im
Herbst den Abstieg Deutschlands unter Rot-Grün beenden und Deutschland wieder nach vorne bringen. Der
Abstieg, der unter Rot-Grün stattgefunden hat, muss gestoppt werden. Deutschland braucht wieder mehr Wachstum und Beschäftigung, eine neue Steuerreform, eine Gemeindefinanzreform, die zielführend und gerecht ist,
sowie Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachungen für
die gesamte Bürgerschaft, den gesamten Mittelstand und
nicht nur für einige wenige Großkonzerne, deren Bosse
letzten Endes in Gesprächen beim Bundeskanzler, beim
Genossen der Bosse, Gehör finden.
Ich möchte Ihnen deutlich machen, dass Sie für eine
gerechte Entwicklung sorgen müssen. Ihre Maßnahmen
im Bereich der Kommunalfinanzen, der Wirtschafts- und
Finanzpolitik stellen eine ordnungspolitische Irrfahrt dar,
die zu Einseitigkeiten und Ungerechtigkeiten führt.
({16})
Beenden Sie diese Politik! Der Wähler wird Ihnen am
22. September dafür die Quittung geben.
({17})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/7442, 14/7787, 14/7326 und
14/7993 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache
14/8025 soll zur federführenden Beratung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss
überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/7424
zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Umsetzung des Versprechens der Bundesregierung zur
Stärkung der Kommunalfinanzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6163 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und
FDP und bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der vertraglichen Stellung von
Urhebern und ausübenden Künstlern
- Drucksache 14/7564 ({0})
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier,
Doris Barnett, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Grietje Bettin, Rita Grießhaber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern
- Drucksache 14/6433 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({3})
- Drucksache 14/8058 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Antje Vollmer
Dr. Evelyn Kenzler
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Eckhardt Barthel von der SPD-Fraktion das Wort.
Meine Damen und
Herren! Seit 1965, seit Verabschiedung des Urhebergesetzes, steht ein Thema immer wieder auf der Agenda, nämlich, einen fairen Ausgleich zwischen Urhebern und Verwertern zu finden. Ich möchte sie als Partner bezeichnen,
denn es sind in der Tat Partner, weil sie beide voneinander
abhängig sind. Die Verhandlungen dauerten sehr lange
und es waren viele Anhörungen und Expertengespräche
sowie Berichterstattergespräche nötig, um zu dem Ergebnis zu kommen, das wir Ihnen heute vorlegen.
Es hat in diesem langen Prozess natürlich viele heftige
Auseinandersetzungen gegeben, auch zwischen der Regierungskoalition und der Opposition. Wenn ich mir das
aber im Nachhinein anschaue, habe ich den Eindruck,
dass die Einbeziehung der Opposition in diesen Prozess
fast lehrbuchhaft genannt werden kann.
({0})
- Ich meine das sehr ernst, denn ich habe selten so viele
Informationen, auch von der Regierungsseite, übermittelt
bekommen, wie das bei diesem Gesetz der Fall war. Dass
Sie die Gelegenheit nicht immer wahrgenommen haben,
meine Damen und Herren von der Opposition, ist Ihr Problem. In der vorigen Woche haben wir beispielsweise zu
Berichterstattergesprächen eingeladen; dazu sind Sie
nicht einmal erschienen.
({1})
Ich meine schon, dass diese Beratung wirklich hervorragend gelaufen ist, gerade wenn ich an die Einbeziehung
vieler Fachleute und Experten in diesen Prozess denke.
Manchmal hatte ich allerdings das Gefühl, dass sich einige
in der Opposition zum parlamentarischen Büchsenspanner
gewisser Lobbyistengruppen haben degradieren lassen.
({2})
Meine Damen und Herren, Ziel unseres Gesetzes ist
es, zu einem fairen Interessenausgleich zwischen
Urhebern und Verwertern zu kommen und strukturelle
Ungleichheiten, die zweifelsohne vorhanden sind, zu beseitigen. Wenn man es politisch auf den Punkt bringt,
heißt das schlicht und einfach: Wir wollen die Stellung der
Urheber verbessern.
({3})
Wie nötig es ist, die Stellung der Urheber zu verbessern,
muss ich an dieser Stelle und vor denen, die hier sitzen,
nicht wiederholen. Wir haben das in den Anhörungen
gehört. Übrigens fand ich eine Formulierung eines Übersetzers in der Anhörung ziemlich überzeugend, der das
Verhältnis zwischen Urhebern und Verwertern bildlich
dargestellt hat. Er hat es das „System des freien Fuchses
im freien Hühnerstall“ genannt. Ich glaube, das gibt die
Situation ziemlich gut wieder.
({4})
Auf diesen Gesetzgebungsprozess ist massiv Einfluss
genommen worden. Ich sage: Das ist in Ordnung. An der
Form der Einflussnahme kann man allerdings schon erkennen, wie groß das Ungleichgewicht zwischen Verwertern und Urhebern ist. Von den Urhebern, Übersetzern etc.
haben wir Faxe oder E-Mails bekommen mit dem Inhalt:
„Macht weiter, das ist der richtige Weg.“ Von der Verwerterseite dagegen kamen ganzseitige Polemiken in den Zeitungen, die ein Normalsterblicher gar nicht bezahlen kann.
({5})
Meine Damen und Herren, in diesem Prozess ist es
auch zu Veränderungen des ursprünglichen Professorenentwurfs, wie es damals hieß, gekommen. Ich denke hier
zum Beispiel an den Filmbereich, Herr Neumann.
({6})
- Nein, nein. Ich denke an die Frage der Rückwirkung des
Auskunftsanspruchs etc.
Viele Änderungen sind mit dem Ziel eines Interessenausgleichs vorgenommen worden. Trotzdem - und darauf
lege ich den allergrößten Wert - haben wir die Essentials,
die wir uns für die Reform des Gesetzes vorgenommen
haben, erhalten.
({7})
Gestatten Sie mir, dass ich die drei Punkte noch einmal
nenne. Die Essentials sind erstens der gesetzliche Anspruch
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
auf angemessene Vergütung, zweitens die Erstellung gemeinsamer Vergütungsregeln mit Schlichtungsverfahren
und drittens der Fairnessausgleich bei Bestsellererfolgen.
Diese Hauptansätze haben wir in die Form, die heute zur
Abstimmung steht, gießen können.
Ich weiß, zum Schluss ist noch etwas Wasser in den
Wein gegossen worden,
({8})
indem - daraus mache ich keinen Hehl - Bindendes zumindest partiell durch das Prinzip der Freiwilligkeit ersetzt worden ist. Das war ein Angebot der Verwerter. Ich
gestehe, meine Kolleginnen und Kollegen und ich haben
dem nur mit der Faust in der Tasche zugestimmt. Nun gilt
es zu prüfen, ob dieses Angebot der Freiwilligkeit in der
Praxis standhält.
({9})
Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir dieses Gesetz in
der Tat noch einmal auf die Tagesordnung setzen.
({10})
Unter dem Strich: Dieses Gesetz war überfällig. Übrigens wird gerade in der fortschreitenden Wissensgesellschaft die Bedeutung von Urhebern und Kreativen immer
wichtiger. Deshalb muss auch deren Stellung verbessert
werden. Das erreichen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich glaube, er ist ein Erfolg für unsere Kulturpolitik.
Ich bedanke mich.
({11})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast zwei Jahre
lang hat die Bundesjustizministerin die Reform des Urhebervertragsrechts als ideologischen Kampf geführt.
({0})
Sie, Frau Ministerin, haben diesen Kampf heute auf der
ganzen Linie und ganz persönlich verloren.
({1})
Von dem, was Sie wollten, ist nichts mehr übrig geblieben.
({2})
„Die Revision des Urheberrechts ist bei Null angekommen“, titelte gestern die „Süddeutsche Zeitung“. Der
Titel der Presseerklärung der Gewerkschaft Verdi lautete:
„Bundesregierung als Bettvorleger gelandet.“ Beide haben Recht.
({3})
Frau Ministerin, Sie sind in Ihrer gut dreijährigen
Amtszeit inzwischen mit dem zweiten großen und auch
mit einem persönlichen Anspruch verfolgten Reformvorhaben gescheitert: zuerst mit der Justizreform und jetzt
mit der Reform des Urhebervertragsrechts. Sie sind gescheitert.
({4})
Worin liegt eigentlich das Scheitern der Justizministerin? Was macht es aus? Es liegt nicht darin, dass das Gesetz am Ende anders aussieht, als es eingebracht wurde.
Das kommt häufiger vor.
({5})
Das Scheitern der Justizministerin liegt darin, dass sie
zwar das Gesetz geändert hat, aber nicht ihre Meinung,
nicht ihren Standpunkt.
({6})
Das ist gar nicht mehr Ihre Politik, die Sie dort betreiben, nicht mehr Ihre Handschrift. Sie machen Politik und
Gesetzentwürfe auf Anweisung aus dem Kanzleramt.
Das, was Sie betreiben, ist doch nicht mehr Ihre Rechtspolitik.
({7})
Sie sind in der Rechtspolitik entmachtet worden
({8})
und müssen noch die abendlichen Anweisungen des
Kanzlers entgegennehmen. Dieses Gesetz wird Ihnen aufgezwungen.
({9})
Sie stellen heute etwas vor, zu dem Sie gar nicht mehr
stehen. Und - weil der Protest der Regierungsfraktionsmitglieder kommt - nebenbei bemerkt: Ihr Versagen in
der Rechtspolitik liegt nicht darin, dass Sie Ihre Meinungen wechseln. Ihr Versagen liegt darin, dass Sie schon gar
keine Meinung mehr haben.
({10})
Sie sind doch jeden Tag zu einer neuen Meinung bereit.
Sie haben doch alles vertreten.
({11})
Bei dem Professorenentwurf waren Sie erst für 100 Prozent, dann für 5 Prozent. Alles war gut. Sie haben jeden
Tag eine neue Meinung. Sie sind flexibel und haben damit
kein Problem. Sie sind der willenlose verlängerte Arm der
Regierung im Parlament. Sie nehmen hier eine Selbstentmachtung vor, für die ich als Parlamentarier kein Verständnis habe.
Das Problem von Frau Däubler-Gmelin ist nicht, dass
sie keine Meinung hat. Frau Däubler-Gmelin hat eine
Meinung, aber als Ministerin hat sie damit immer ein Problem.
({12})
Sie ist einerseits nicht bereit, ihre Meinung in einen
konstruktiven Dialog einzuführen, andererseits aber nicht
in der Lage, ihre Meinung auch durchzusetzen. Aus dieser Eigenart erwächst das Strickmuster der Rechtspolitik
von Frau Däubler-Gmelin:
Am Anfang wird stets mit hohem Anspruch und vollem
Elan ein großes Projekt verkündet.
({13})
Und weil diese Projekte ebenso ideologiegetränkt wie
praxisfern sind, treiben Sie regelmäßig die Beglückten Ihrer Projekte auf die Barrikaden. Sie treiben sie zur Notwehr. Es finden ständig Kämpfe statt.
({14})
Sie treffen stets auf geschlossene Gegenwehr der Betroffenen, die Ihre Vorschläge ablehnen. In einer solchen Atmosphäre finden sachliche Gespräche nicht mehr statt;
mit der Opposition schon gar nicht.
({15})
Die Justizministerin will mit dem Kopf durch die Wand,
verliert aber gleichzeitig immer mehr an Boden. Sie nervt
damit den Kanzler, der sie auch regelmäßig im entscheidenden Augenblick im Regen stehen lässt. Am Ende geht
es nur noch um die Gesichtswahrung der Ministerin. Das
ist das Strickmuster rot-grüner Rechtspolitik, das wir immer wieder verfolgen können.
({16})
Nun könnte man sagen: Die Opposition mag sich darüber freuen, wenn die Justizministerin im Grunde gar
nicht mehr für die Rechtspolitik zuständig ist und keine
Politik mehr machen kann.
({17})
Aber die Art, wie Sie Rechtspolitik machen, ist schon
mehrfach von großem Schaden für unser Land gewesen.
Ich will es anhand des Urhebervertragsrechts belegen:
Mit der in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen Beschränkung der Vertragsfreiheit in einem Bereich, der von
kultureller Vielfalt, schöpferischen Beiträgen und Individualität geradezu geprägt ist, wollten Sie ein Nullachtfünzehn-Muster einführen.
({18})
Sie haben vorgeschlagen, den an solchen vertraglichen
Beziehungen Beteiligten zwangsweise Schiedssprüche
aufzuoktroyieren. Sie wollten durch staatlichen Spruch
vertragliche Beziehungen festlegen lassen. Die kleinen
und mittleren Verlage, kleinere Unternehmen - vor allem
auch linke, liberale Verlage - haben gesagt: Das ist für uns
existenzbedrohend. - Die Größeren dagegen haben gesagt: Wenn das kommt, sind wir international nicht mehr
wettbewerbsfähig. Das war die Reaktion der gesamten betroffenen Wirtschaft, der Kulturwirtschaft, der Werbewirtschaft und der Medienwirtschaft. Sie alle haben gesagt: Dann können wir nicht mehr, dann gehen wir unter.
Am wenigsten hätten Sie mit einer solchen Politik den
Autoren, den Urhebern, den Künstlern gedient.
({19})
Der Glaube, dass es den Autoren erst dann richtig gut
geht, wenn es den Verlagen und den Unternehmen richtig
schlecht geht, war der Grundirrtum in Ihrem Ansatz.
({20})
Genauso wie es keinem Arbeitnehmer gut gehen kann,
wenn es dem Unternehmen schlecht geht, kann es auch
keinem Autor gut gehen, wenn er keinen Verlag findet,
weil die Verlage wirtschaftlich nicht erfolgreich sein können.
({21})
Das war der Grundirrtum Ihres Vorhabens.
Der Kampf hiergegen war erfolgreich. Es war ein
Kampf, zu dem Sie immer gezwungen haben. Alle, aber
auch sämtlich alle diese Giftzähne sind dem Gesetzentwurf gezogen worden.
({22})
All das, was Sie proklamiert haben, befindet sich heute
nicht mehr im Gesetzentwurf.
({23})
Das ist Ihr inhaltliches Scheitern.
Der entstehende Schaden geht aber noch über die Sache hinaus. Er betrifft auch das Gesetzgebungsverfahren.
Bei diesem Thema, aber auch bei anderen Themen, haben
wir gerade in den letzten Tagen, Wochen und Monaten ein
Gesetzgebungsverfahren erlebt, dass man nur mit dem
Begriff „Gesetzgebungschaos“ bezeichnen kann. Es war
das reinste Chaos.
({24})
Nach den zahlreichen Änderungen im letzten halben
Jahr kamen in dieser Woche substanzielle Änderungen
des Gesetzentwurfs mit täglicher Post. In der letzten Woche, am 15. Januar, kamen solche Änderungen. Diese
wurden schon am nächsten Montag, dem 21. Januar, wieder verworfen. Am Dienstag, dem 22., gab es neue Post.
({25})
Eine Stunde vor der Rechtsausschusssitzung wurde auch
der Rest des verbliebenen Gesetzentwurfes verworfen.
Meine Damen und Herren, das ist das reinste Gesetzgebungschaos.
Ihre Abgeordneten nicken unterdessen alles ab. Mein
lieber Herr Barthel, noch am Dienstag haben Sie im Kulturausschuss für etwas ganz anderes als das, für das Sie
heute stimmen werden, gestimmt. Das macht doch die
Absurdität Ihres Verhaltens deutlich.
({26})
In Ihrem Engagement ist nicht einmal ein Funke von
Glaubwürdigkeit mehr vorhanden. Sie in Person und andere Mitglieder des Kulturausschusses haben am Dienstag für eine Vorlage gestimmt, die eine völlig andere ist
als jene, für die Sie heute stimmen. Die Mitglieder des
Rechtsausschusses haben auch für etwas anderes gestimmt. Sie stimmen immer für das, was von der Regierung gerade vorgelegt wird.
({27})
Glauben Sie eigentlich, dass Sie hier nur zum Abnicken
da sind? Bilden Sie sich doch mal eine Meinung und vertreten Sie diese auch gegenüber der Regierung. Sie sind
doch Parlamentarier und keine Abnicker.
({28})
- Ja, ich rede besonders über das Verfahren, weil uns das
beschwert; denn ein solches Chaos im Verfahren hat
natürlich Auswirkungen auf die Qualität. Wer kann das,
was Sie machen, denn noch übersehen? Sie können es
auch nicht.
({29})
Sie übernehmen die volle Haftung für die Unübersehbarkeiten in diesem Gesetzentwurf. Diese Haftung tragen
Sie, meine Damen und Herren.
({30})
Herr Kollege Röttgen, kommen Sie bitte zum Schluss.
({0})
Ich will in einem
letzten Satz noch etwas zum Schaden sagen. Weil Sie den
ideologischen Kampf geführt haben, sind Sie bis zu den
Problemen nicht vorgestoßen. Wir wissen doch, dass es
Problemgruppen gibt: Übersetzer, freiberufliche und andere. Für diese kommt nichts dabei heraus. Sie stehen
weiterhin im Regen. Die Probleme sind nicht gelöst worden, weil Sie ideologisch gekämpft haben.
({0})
Meine letzte Bemerkung: Es ist den Oppositionsfraktionen gelungen, Schlimmstes für die Betroffenen zu verhindern. Wir haben mehr erreicht, als eine Opposition eigentlich erreichen kann. Mit dem Ergebnis kann man
leben; es wurde ein Interessenausgleich gefunden.
({1})
Herr Kollege, keine Debattenbeiträge mehr. Sie müssen zum
Schluss kommen.
Ich komme zum
Schluss. - Sie müssen sich fragen, ob Sie zustimmen können. Wir machen deutlich, dass wir mit dieser Zustimmung das Gesetzgebungschaos nicht sanktionieren wollen
({0})
und dass wir in der Rechtspolitik einen anderen Stil pflegen, nämlich eine klare Position und keine Konfrontation.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer von Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
war wirklich eine merkwürdige Rede.
({0})
Wenn Sie zustimmen wollen, Herr Röttgen, warum spreizen Sie sich dann während Ihrer ganzen Redezeit? Warum
reden Sie nicht zu der guten Sache selber?
({1})
Wenn der Entwurf ein „Nichts“ ist, warum ärgern Sie sich
dann? Worüber zürnen Sie denn eigentlich?
({2})
Zürnen Sie über einen parlamentarischen Prozess, bei
dem es Veränderungen gegeben hat? Das ist doch genau
das, worauf ein Parlament stolz sein kann. Ich verstehe
den Sinn Ihrer Rede nicht.
({3})
Was machen wir mit diesem Gesetz? Seit über 35 Jahren gibt es das Urhebergesetz. Seit über 35 Jahren ist klar,
dass die vertragliche Beziehung zwischen Urhebern und
Verwertern neu geregelt werden muss. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen wiederholt
darauf hingewiesen, dass zur Vertragsfreiheit ein Mindestmaß an Gleichgewicht, also ein Verhandeln auf gleicher
Augenhöhe zwischen den verschiedenen Vertragspartnern gehört.
({4})
Genau dieses Gleichgewicht stellen wir heute her.
Nach Hunderten Stunden von Debatten müssen wir diesen Prozess in einer einzigen parlamentarischen Stunde
zusammenbinden. Es war wegen struktureller Unterschiede ein komplizierter Prozess. Wir schaffen ein Gesetz, das Schriftstellern, Journalisten, Übersetzern, Fotografen, Malern und Bildhauern einen gesetzlichen
Anspruch auf angemessene Vergütung verschaffen soll.
Wir haben das in einer Atmosphäre von sehr konträren Interessen getan: der Urheber auf der einen Seite und der
Verwerter auf der anderen Seite. Dabei wissen wir sehr
wohl, dass wir beide brauchen, damit es zu einer lebendigen Kulturlandschaft kommen kann.
Es gab verwickelte Debatten. Auch gab es ein Verfahren, das viel Energie und Mut gekostet hat. Es spricht
tatsächlich Bände - genau wie bei Ihrer heutigen Rede,
Herr Röttgen -, dass Sie sich in der entscheidenden Phase
der Teilnahme an den Debatten einfach entzogen haben.
Das verstehe ich nicht unter konstruktiver Oppositionspolitik.
({5})
Schwierig war aber auch, dass wir diese ganzen Debatten in einer Zeit führen mussten, die von Kampagnen
bestimmt war. Eckhardt Barthel hat schon darauf hingewiesen: Eigentlich haben diese Kampagnen selbst bewiesen, was jedem einzelnen Urheber immer wieder passiert,
nämlich dass er es in einem ganz ungleichen Verhältnis
mit einem viel stärkeren Vertragspartner zu tun hat.
({6})
Die Verleger hatten die Möglichkeit, über ganzseitige
Anzeigen in Zeitungen und über Briefe an den Bundeskanzler dem ganzen Land ihre Sicht der Dinge mitzuteilen. Die Verwerter haben uns Faxe und E-Mails geschickt.
Ich freue mich, dass Vertreter der Urheber auf der Tribüne
sind und dieser Debatte zuhören. Wir wissen, dass dieser
Prozess auch ihnen viel zugemutet hat.
Es war - das hat Eckhardt Barthel richtig gesagt - wie
ein Kampf der Füchse gegen die Hühnchen oder wie
David gegen Goliath. Mit dem Urhebervertragsgesetz
wird den Urhebern nun zum ersten Mal ein gesetzlicher
Anspruch eingeräumt, eine angemessene Vergütung von
ihren Vertragspartnern zu fordern. Das ist der ganz große
Fortschritt. Gleichzeitig haben wir ein Schlichtungsverfahren eingeführt, sodass sowohl Sachverstand als auch
Marktkenntnisse in die Ergebnisse einfließen werden.
Dies geschieht deswegen, weil es eine gemeinsame Kulturlandschaft und einen gemeinsamen freien Raum von
Kreativität zu sichern gilt.
Nun ist in der letzten Phase gerade in Bezug auf das
Schlichtungsverfahren zur Besorgnis der Urheber eine
Änderung eingetreten. Ich finde, dass die Änderung, die
wir hier vorgenommen haben, mit den Grundüberzeugungen von Bündnis 90/Die Grünen durchaus übereinstimmt,
nämlich dass gerade im Bereich von freier Kreativität
Zwang kein geeignetes Mittel ist, um Veränderungen herbeizuführen. Aber auch ich möchte unterstreichen: Die
Freiwilligkeit muss auch eine Wirkung erzeugen. Wir
werden wie die Kollegen der SPD und wie hoffentlich alle
in diesem Hause darauf achten, dass beide Vertragspartner in diesem Schlichtungsverfahren freiwillig zu positiven Ergebnissen kommen; sonst werden wir - darauf verpflichten wir uns als Gesetzgeber schon heute - erneut
tätig werden.
({7})
Der dritte wichtige Punkt - neben dem Anspruch auf
angemessene Vergütung und dem Schiedsverfahren - ist
der neue Bestsellerparagraph. In der vorliegenden Formulierung war der alte Bestsellerparagraph - das haben
auch alle Verwerter immer wieder gesagt - im Grunde genommen ein zahnloser Tiger. Er führte nicht selten dazu,
dass die Urheber besonders erfolgreicher Werke im Streit
um eine dem Erfolg entsprechende Anhebung ihrer Vergütung das gesamte erstrittene Geld durch die Prozesskosten wieder einbüßen mussten. Nur mit unserer Regelung
haben die Urheber von Bestsellern nun die reelle Chance,
an dem Erfolg ihrer Werke beteiligt zu werden. Dazu hat
es im Kern auch nie Widerspruch gegeben.
Von Anfang an haben wir besonders um eine Sicht der
Dinge gekämpft, nämlich dass dieser Prozess nicht auf
Kosten der kleinen unabhängigen Verwerter vollzogen
wird. Die Interessen der kleinen Verlage haben uns immer
besonders am Herzen gelegen. Eine Schwächung gerade
dieser unabhängigen kleinen Verwerter hätte auch die
Chancen von jungen Autoren und ausübenden Künstlern
eingeschränkt. Denn diese finden in der Regel keine Partner
in den großen Verlagen. Sie brauchen die kleinen Verlage,
die das Risiko mit ihnen eingehen, und sie brauchen auch
die Betreuung in Gesprächen mit diesen kleinen Verlagen.
Ich meine, indem wir deren Interessen berücksichtigt haben, haben wir beiden geholfen - den jungen Autoren und
diesen Verlagen.
({8})
Dabei wissen wir aber auch, dass deren Hauptbedrohung
in der Konzentration des Verlagswesens liegt und nicht in
dem, was wir heute vorhaben. Deswegen war es so wichtig, alle Argumente auszutauschen. Ich meine, was uns
nun vorliegt, ist ein gelungener Kompromiss.
An dieser Stelle möchte ich einer Frau besonders danken, von der ich weiß, dass ohne sie dieser Prozess nicht
zustande gekommen wäre. Ich tue das nicht häufig. Aber
in diesem Fall, liebe Herta Däubler-Gmelin, muss man
wohl sagen, dass es bei all den vielen Veränderungen, die
Sie hinter sich bringen mussten, Ihre Entschlossenheit,
aber auch die Heiterkeit einer erfahrenen Politikerin
({9})
und Ihr unbeugsamer Wille waren, die dieses Vorhaben
durch alle Prozesse getragen haben.
({10})
Es ist sicherlich allen Beteiligten bekannt, dass dies ein
gelungenes Beispiel dafür war, dass man selbst bei größtem Gegenwind in einer schwierigen Phase eines Wahljahres ein gutes Gesetz über alle Hürden bringen kann.
Deswegen sind wir wohl alle nach all diesen Stunden
ziemlich froh.
({11})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das Urheberrecht und darin insbesondere das
Urhebervertragsrecht ist in der medial immer weiter vernetzten Gesellschaft immer wichtiger geworden und soll
unter anderem einen angemessenen Interessenausgleich
zwischen Urhebern und Verwertern herbeiführen.
Für die FDP-Fraktion hat stets festgestanden, dass Urheberrechte Eigentumsrechte sind und demgemäß schon
allein von der Verfassung her besonders zu schützen sind.
Insoweit waren wir mit der Neufassung und Entwicklung
eines Urhebervertragsrechts durchaus einverstanden. Wir
haben uns deshalb frühzeitig und konstruktiv an der Auseinandersetzung um dieses für Kultur, Wissenschaft und
Wirtschaft in Deutschland gleichermaßen wichtige Gesetzgebungsverfahren beteiligt.
Dass wir zunächst dem von der Bundesjustizministerin
besonders begrüßten so genannten Professorenentwurf
und auch ihrem eigenen späteren Entwurf nicht zustimmen konnten, lag an der einseitigen Verschiebung der Interessenlage zugunsten der Urheber und zulasten der Verleger und der Medienwirtschaft. Jetzt jedoch werden wir
dem Gesetzentwurf in der erheblich veränderten Form zustimmen. Denn nach intensiven Beratungen und auch Anträgen meiner Fraktion konnte die einseitige Ausrichtung
und Gewichtung zugunsten eines angemessenen Interessenausgleichs verändert werden.
Das Prinzip der Vertragsfreiheit und der Vorrang des
Vertrages zwischen Urhebern und Verwertern konnte wieder eingefügt werden.
({0})
Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass das Modell
der Zwangsschlichtung, wie es in § 36 des Entwurfs vorgesehen war, beseitigt werden konnte. Das Schlichtungsverfahren ist jetzt so gestaltet, dass die berechtigten Interessen aller Beteiligten berücksichtigt werden und der
Vorrang der Privatautonomie anerkannt wird. In Übereinstimmung mit dem Änderungsantrag, den die FDP im
Rechtsausschuss gestellt hat, werden die Parteien frei darüber entscheiden können, ob sie sich dem Spruch der
Schlichtungsstelle unterwerfen wollen und die gemeinsamen Vergütungsregeln akzeptieren oder aber ob sie dem
Schlichterspruch widersprechen.
Die Konkretisierung hinsichtlich der Angemessenheit
der Vergütung durch die Verbände der Urheber und die
Verbände der Werknutzer erscheint uns gerade unter dem
Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips richtig und
wichtig, weil dadurch die Fachkunde der jeweils Betroffenen genutzt werden kann. Gegen das Konzept der gemeinsamen Vergütungsregeln an sich ist vor diesem Hintergrund deshalb auch nichts einzuwenden.
({1})
Die ursprünglich vorgesehene Rückwirkung um 20 Jahre und damit die rückwirkende Einwirkung auf bestehende Verträge ist sinnvollerweise gestrichen worden. Für
die Frage der Angemessenheit der Vergütung kommt es
allein auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses an. Eine
nachträgliche Infragestellung des einmal Vereinbarten ist
damit ausgeschlossen. Die FDP begrüßt ausdrücklich,
dass die Bundesregierung hier von ihren neuen Änderungsplänen aus der vergangenen Woche im Interesse der
Rechts- und der Kalkulationssicherheit schnell wieder
Abstand genommen hat.
Überhaupt kann gesagt werden, dass die Grundkonzeption des Gesetzes während der Beratungen im Ausschuss sowie nach Rücksprache mit den Sachverständigen und den Vertretern der beteiligten Verbände grundlegend überarbeitet worden ist. Wir glauben, dass das vorliegende Gesetz nunmehr eine gute Grundlage für eine
vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Urhebern
auf der einen Seite und den Nutzern und den Verwertern
auf der anderen Seite ist. Es wird auch bei den Werknutzern liegen, durch faire Vereinbarungen beispielsweise
mit Übersetzern, Bildjournalisten und vergleichbaren Berufsgruppen einen angemessenen Interessenausgleich zu
erreichen.
Wir wissen, dass das Urhebervertragsrecht nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen festlegen kann, damit
zwischen den Urhebern auf der einen Seite und den WerkDr. Antje Vollmer
nutzern auf der anderen Seite vernünftige Regelungen gefunden werden. Ein Gesetz kann nicht alle einzelnen Vertragsbedingungen, die die verschiedenen Künstler- und
Urhebergruppen betreffen - Frau Dr. Vollmer hat zu Recht
darauf hingewiesen -, umfassen. Das Gesetz muss nur
eine vernünftige Rechtsgrundlage für die Vertragsbedingungen herstellen. Nur dort, wo es diese fairen Vereinbarungen nicht gibt - das werden wir beobachten -, muss
der Gesetzgeber durch Gesetze eingreifen. Ich glaube,
dass dies in Zukunft nicht notwendig sein wird, weil der
vorliegende Gesetzentwurf zum Urhebervertragsrecht
eine gute Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ist.
Wir Freien Demokraten haben uns stets bemüht, beim
Urheberrecht einen möglichst breiten Konsens im Bundestag herzustellen. Die Beratungen über die vorangegangenen Novellen haben das bewiesen. Ich bin froh, dass es uns
auch diesmal gelungen ist, einen Kompromiss zu erzielen,
auch wenn das Gesetz letztendlich maßgeblich - wie ich
meine: zum Vorteil von Urhebern und Verwertern - geändert worden ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Fink von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden
heute über das wichtigste kulturpolitische Reformvorhaben in dieser Legislaturperiode. Es war ein hoch interessanter Prozess. Herr Röttgen, Sie können es nicht leugnen: Es hat doch auch Ihnen Spaß gemacht.
({0})
Wir haben miteinander gerungen, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Dieser Prozess ist aber noch nicht zu
Ende. Er muss weitergehen.
Die Fraktion der PDS wird dem Gesetzentwurf zustimmen
({1})
trotz der beträchtlichen Abstriche, die die Bundesregierung im Prozess der Novellierung an ihrem Reformprojekt vorgenommen hat. Wir stimmen zu, weil der Entwurf, so wie er jetzt ist, eine Verbesserung für die Urheber
im Vergleich zu der derzeitigen Rechtslage bringt.
Wir kritisieren zugleich, dass die Bundesregierung
dem Druck der Medienwirtschaft nachgab und Änderungen vornahm, die ihr eigenes Reformwerk konterkariert
haben. Wir fordern die Bundesregierung auf, weitere
Schritte zur Stärkung der Kreativen und zur Verbesserung
ihrer Existenzbedingungen zu gehen. Das war jetzt ein
kleiner Schritt; nötig ist aber ein großer Schritt.
({2})
Unsere Positionen und unsere Forderungen haben wir
in einem Entschließungsantrag niedergelegt. Ich möchte
Ihnen unsere Beweggründe dafür kurz erläutern. Meine
Fraktion hat die Gesetzesinitiative der Justizministerin
von Beginn an nachdrücklich unterstützt. Die erste Gesetzesfassung war für uns die beste.
Das wirtschaftliche Ungleichgewicht und die strukturelle Überlegenheit der Verwerter sind offensichtlich.
Die Folge ist, dass viele der Kreativen - das Musterbeispiel sind die literarischen Übersetzer - ihre Ansprüche
auf eine angemessene Vergütung in den Vertragsverhandlungen gegenwärtig nicht durchsetzen können. In welcher
prekären sozialen Situation sich die Mehrzahl der freiberuflichen Künstlerinnen und Künstler, Publizistinnen
und Publizisten befindet, ist bekannt. Wir hatten dazu in
der Fraktion eine Anhörung und sind intensiv darüber aufgeklärt worden.
Einen Ausgleich gestörter Vertragsparität zu erreichen
ist unserer Auffassung nach sowohl aus sozialen und kulturellen wie auch aus wirtschaftlichen Gründen zwingend. Denn die Kulturwirtschaft lebt von den Kreativen. Eine erfolgreiche Medien- und Kulturindustrie ist
auf dieses Potenzial angewiesen. Angemessene Existenzbedingungen für schöpferische Arbeit zu gewährleisten
ist unverzichtbar und liegt auch im Interesse der Verwerter.
Wenn die Vertreter der Medienwirtschaft nun angesichts des Reformprojektes den Untergang der Kultur des
Abendlandes beschwören, erscheint dies nicht plausibel.
Dass sie dazu ihre marktbeherrschende Stellung mit
Anzeigenkampagnen in den Tageszeitungen und mit Einblendungen in Fernsehsendungen missbrauchen, ist
natürlich symptomatisch. Es hat leider Wirkung auf die
Regierung gezeigt. Demokratische Sozialisten allerdings
lassen sich davon nicht beeinflussen.
({3})
Wir fragen vielmehr: Warum wehrt sich die Branche eigentlich so vehement gegen den Grundsatz eines Anspruchs auf angemessene Vergütung, wenn dieser Grundsatz doch schon - so die Behauptung - in weiten Teilen
durchgesetzt ist?
Vom ursprünglich vorgeschlagenen Konzept sind der
Rechtsanspruch auf angemessene Vergütung und die
gemeinsamen Vergütungsregeln geblieben. Das trägt zur
Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und
ausübenden Künstlern bei. Wie weit aber - das wird noch
zu beobachten sein - sind doch diese Kernregelungen zugunsten der Verwerter aufgeweicht?
Eine Schlussbemerkung. In den Zeitungsannoncen der
Kulturwirtschaft wird eine Bitte an die Abgeordneten des
Bundestages geäußert: Sie sollten für Kreativität und
Vielfalt in Deutschland stimmen. Genau das werde ich tun
und mit mir meine Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion.
({4})
Das Wort
hat jetzt die Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz ({0}): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege
Röttgen, darf ich ein ganz kurzes persönliches Wort an Sie
richten? Ich danke Ihnen für diese bemerkenswerte Rede.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, übrigens nicht nur
deswegen, weil ich sie jetzt schon zum fünften Mal höre,
({1})
sondern auch deswegen, weil es inzwischen schon so eine
Art von Röttgen-Gesetz in diesem Haus gibt - seit Sie in
der Opposition sind, stellen wir das immer häufiger fest -:
Je mehr Sie schimpfen, desto besser ist das Gesetz.
({2})
Die Tatsache, dass Sie Ihre Rede diesmal dazu genutzt
haben, um Ihre Zustimmung zu begründen, ist zumindest
originell
({3})
und es erinnert mich ein bisschen an die Geschichte von
dem Trittbrettfahrer, der, um sein Tun zu verbergen, heftig auf den Lokführer schimpft. Ihr Verhalten zeigt aber
auch, dass Sie offensichtlich dem Motto anhängen - liebe
Antje Vollmer, da müssen wir dem Herrn Röttgen vielleicht auch noch etwas Nachilfeunterricht geben -:
({4})
„Jeder Erfolg hat viele Väter, aber keine Mütter.“
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war für mich wieder ein Erlebnis.
Lassen Sie mich jetzt sehr deutlich sagen: Heute ist in
der Tat ein guter Tag für die Urheber. Viele Verbände der
Urheber sind heute hier vertreten und hören mit großer
Aufmerksamkeit zu, wer was zu welchem Punkt zu sagen
hat. Heute ist auch ein guter Tag für die Kulturwirtschaft.
Denn: Was wäre die eigentlich ohne die Urheber und auch
ohne die freiberuflichen Urheber? Ich sage das ganz bewusst deswegen, weil es in den letzten Monaten Töne gegeben hat, die für eine gedeihliche Entwicklung der Kulturlandschaft in Deutschland und auch für die Bedeutung
unserer Kulturnation außerordentlich schädlich sein können.
({6})
Wäre ich Urheberin oder Urheber, würde mich viel von
dem, was da einige Verwerter, ganz offensichtlich unter
großem Beifall der CDU/CSU, verkündet haben, außerordentlich verletzt haben.
({7})
Seit 1965 - darauf ist hingewiesen worden - wurde den
Urheberinnen und Urhebern, gerade auch den freiberuflich
tätigen, versprochen, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Aber auch in den 16 Jahren vor unserer
Übernahme der Regierungsverantwortung ist nichts passiert. Es ist auch zu Recht darauf hingewiesen worden,
dass sich in einigen Bereichen der Kulturwirtschaft vernünftige Vorbilder der Kooperation entwickelt haben, die
wir verwenden konnten - dafür sind wir dankbar -, in anderen aber Verhältnisse, die so einfach nicht hinnehmbar
sind. Wer diese Verhältnisse nicht im Einzelnen kennt, den
haben jetzt wohl gerade die großen Anzeigen der Verwerter in den letzten Monaten überzeugt. Man kann sich jetzt
gut vorstellen, wie sich ein Urheber gegenüber einer solchen Medienmacht fühlen muss! Die Berechtigung seiner
Forderungen ist, glaube ich, völlig klar und offensichtlich.
({8})
Ich will aber trotzdem ein Beispiel nennen, das - vielleicht - auch die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU dazu bewegt hat, noch einmal zu überlegen, ob
sie unser Gesetz hier nicht doch ein bisschen mittragen
können. Darüber, dass einige das tun, freue ich mich.
({9})
Die brillante deutsche Übersetzerin von Donna Leons
beliebten Kriminalromanen, Monika Elwenspoek, ist leider viel zu früh verstorben, Ende des letzten Jahres. Ich
kannte sie. Sie wohnte in Tübingen. Sie hat vor ihrem Tod
in einem wirklich bitteren Interview mit dem „Schwäbischen Tagblatt“ nochmals auf das hingewiesen, was die
Kulturwirtschaft heute hoch qualifizierten Übersetzerinnen und Übersetzern zumutet.
Das heißt: Die Vertragsparität, von der wir doch ausgehen, gerade wenn wir den Grundsatz der Vertragsfreiheit unterstützen, war nicht nur in diesem Einzelfall - sogar bei dieser berühmten Übersetzerin - gestört, sondern
auch in vielen anderen Einzelfällen, auch bei den Fotojournalisten und bei anderen der über 250 000 freiberuflichen Kreativen.
Ich darf eine ganz kleine Kritik an Ihrer Rede üben, die
mir im Übrigen sehr gut gefallen hat, lieber Herr Röttgen:
Sie haben in diesem Zusammenhang das Wort „Ideologie“ verwendet.
({10})
Es gehört zu den verfassungsmäßigen Aufgaben unseres
Parlaments, Vertragsparität als Grundlage für die Vertragsfreiheit ernst zu nehmen und da, wo es sie nicht
gibt, wieder herzustellen. Dieser Meinung war früher eigentlich auch die CDU/CSU. Sie sollten darüber nachdenken, warum Sie das heute nicht mehr tun. Wir tun das
jetzt.
Gegen Ihren Widerstand - auch wenn einige von Ihnen
jetzt mitmachen - haben wir in unserem Gesetz drei wichtige Punkte durchgesetzt: Der erste ist der gesetzliche Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Das ist wirklich vernünftig und gut. Zweitens sagen wir: Anders als
bei Anwälten oder Architekten bestimmt nicht der Gesetzgeber, was angemessen ist; das soll vielmehr durch
gemeinsame Vergütungsregeln der Branche selbst geschehen. Das ist vernünftig. Der dritte Punkt ist auch etwas, was Sie schon längst hätten tun können, als Sie in der
Regierungsverantwortung waren, nämlich die Schaffung
eines Fairnessausgleichs zum Beispiel für künstlerische
Werke, die sich im Laufe der Jahre zu Bestsellern entwickeln, was bei Vertragsabschluss nicht vorherzusehen
gewesen ist. Hierzu gehört es, dass die Urheber einen angemessenen Anteil abbekommen.
({11})
Der jetzige Bestseller-Paragraph - das wissen Sie ganz
genau; wenigstens könnten Sie es wissen, wenn Sie sich
dafür interessierten - ist das Papier nicht wert, auf dem er
steht, da er nicht gegriffen hat. Daher fassen wir ihn jetzt
neu.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, den Sie einerseits
kritisieren und andererseits begrüßen; ich nehme an, dass
sogar Sie sich irgendwann entscheiden werden. Wir haben festgelegt, dass die gemeinsamen Vergütungsregeln,
die von der Branche entwickelt werden, um einen
obligatorischen Schlichtungsmechanismus für alle ergänzt werden, falls das, was wir alle wollen und wozu wir
auch die Verwerter aufrufen, nicht eintreten sollte, nämlich einverständliche gemeinsame Vergütungsregeln. Ich
hätte gern zusätzlich die Kraft unseres sozialen Rechtsstaates zur Durchsetzung solcher Schlichtungsergebnisse
nutzbar gemacht; aber auch das halten Sie offenbar für
Ideologie.
({12})
Diese Frage hat jedoch mit Ideologie nichts zu tun. Wenn
die Branche selber einen vernünftigen, angemessenen und
auch begründeten Einigungsvorschlag vorlegt, der ohne
Zweifel ein Indiz für die Angemessenheit der Vergütung sein wird, dann ist es auch vernünftig, diesen Vorschlag mit der Stärke unseres Rechtsstaates durchsetzen.
({13})
- Nein, das war jetzt wegen des Widerstandes der
CDU/CSU nicht möglich. Im Übrigen haben auch Sie das
persönlich nicht gefordert, Herr Geis.
({14})
Wären wir, wie Sie das jetzt andeuten, gemeinsam darangegangen, hätten wir es vielleicht schon jetzt geschafft.
({15})
- Ja, Sie sind auch jetzt noch dagegen und zugleich dafür.
Das ist immer die bequemste Haltung für eine Opposition.
Machen Sie ruhig so weiter!
({16})
Meine Damen und Herren, ein Gutes hat die Lage, in
der wir jetzt sind: Wir haben gehört, dass viele Verleger,
übrigens auch solche, die über die Verwerter-Kampagne
auch ziemlich entsetzt waren, Folgendes gesagt haben:
Wir sind doch heute schon ein Vorbild für solche Regelungen. Warum traut uns der Gesetzgeber nicht zu, dass
wir das freiwillig, also ohne staatliche Durchsetzungsmechanismen, machen? Diese, aber auch jene, die das in
ihren Anzeigen zugesagt und im Übrigen erklärt haben,
was sie nicht wollen, nehmen wir beim Wort. Auch wir
sind ja für Konsens und Freiwilligkeit, vorausgesetzt,
dass sich auch die Verwerter an ihre Ankündigungen und
Zusagen halten. Dies liegt ja nicht nur im Interesse der Urheber, sondern auch im Interesse der gemischten Kulturwirtschaft, die diese Bundesregierung wie keine vor ihr
unterstützt, wie unser Einsatz für die Buchpreisbindung
und Schutzregelungen für mittelständische Verlage
deutlich zeigen. Wir werden genau beobachten, was sich
bei den gemeinsamen Vergütungsregelungen tut. Ich
danke dem Kollegen Funke dafür, dass auch er das ausdrücklich unterstrichen hat. Wenn es auf freiwilliger Basis und im Konsens der Beteiligten nicht funktioniert,
werden wir weitergehende Regelungen ins Auge fassen.
({17})
Lassen Sie mich am Schluss ganz herzlich danken: Ich
danke ausdrücklich den Urheberrechts-Professoren und
Experten, die den Anstoß gegeben und die Richtung gewiesen haben. Es war ja kein Zufall, dass CDU/CSU und
FDP in ihrer Regierungszeit nichts hinbekommen haben:
Abhängigkeit von Interessenverbänden ist in solchen Fällen immer ein Hindernis. Ich bedanke mich bei den Urhebern und Urheberverbänden, die mitgewirkt haben. Ich
bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen und
Kollegen im gesamten Haus, denen es um die Sache ging
und die sich eingeschaltet und mitgearbeitet haben.
({18})
Last but not least bedanke ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesministeriums der
Justiz ganz herzlich.
({19})
Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
Sie sitzen hier hinten und haben großen Anteil daran, dass
heute ein erfolgreicher Tag für die Urheber, für die Kultur
und die Kulturwirtschaft in Deutschland ist.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Lammert von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Novellierung des Urhebervertragsrechts handelt es sich ohne
jeden Zweifel um das wichtigste kulturpolitische Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode. Deswegen
hat allein die Ankündigung dieser Absicht hohe Erwartungen und - spiegelbildlich - hohe Befürchtungen auf
der Seite der Urheber wie auf der Seite der Verwerter ausgelöst. Beide haben im Übrigen einen Anspruch darauf,
dass ihre jeweiligen Erwartungen und Besorgnisse ernst
genommen werden. Wir haben uns genau in diesem Sinne
um die Berücksichtigung der einen wie der anderen Interessen sehr intensiv bemüht.
({0})
Deswegen hätte dieses Gesetzgebungsverfahren
noch mehr als die von der Kollegin Vollmer bei der federführenden Justizministerin beobachtete Heiterkeit das
Maß an Sorgfalt verdient, das wir mehrfach vermisst haben.
({1})
Die Beratung dieses Gegenstands ist durch ständig
wechselnde Textvorlagen,
({2})
die übrigens nicht nur Formulierungsänderungen, sondern auch abrupte Kehrtwendungen in Bezug auf die Regelungsabsicht enthielten, durch Hektik und zum Schluss
durch Zeitdruck gekennzeichnet gewesen,
({3})
die dem Rang dieses Themas völlig unangemessen gewesen sind.
({4})
Ich erwarte, dass sich der Bundesrat, der sich mit diesem
Thema noch zu befassen hat, den Zeitdruck nicht bieten
lassen wird, der die Endphase des Gesetzgebungsverfahrens im Deutschen Bundestag gekennzeichnet hat.
Gerade weil es sich um ein herausragendes Thema handelt, muss ich noch einmal sagen: Ein Glanzstück souveräner Regierungskunst war das nicht und leider auch kein
Paradebeispiel für solide Gesetzgebung.
({5})
- Sie werden sich ganz gewiss auch ohne meine Ermutigung Ihr strammes Selbstbewusstsein erhalten. Das können wir aber getrost auch bei anderer Gelegenheit weiter
vertiefen.
Ich lege am Schluss dieses Verfahrens großen Wert darauf, noch einmal festzuhalten, dass Inhalt des Gesetzes
und Gesetzgebungsverfahren mit den mehrfach veränderten Texten nicht nur in Bezug auf die Formulierung, sondern auch auf die Regelungsabsicht sowohl bei den Urhebern - den Autoren, den Übersetzern, den Fotografen und
Produzenten - wie bei den Verwertern - den Verlagen, den
Zeitungen und Zeitschriften - in den verschiedenen Phasen unseres Beratungsprozesses mal hohe Erwartungen,
mal tiefe Enttäuschung und kurz vor Ende auch offene
Empörung ausgelöst haben.
Dieses unzumutbare und wegen der wechselnden Textpassagen schludrige Verfahren hätte bei einer wirklich soliden Behandlung so nicht ablaufen müssen. Wir haben alles uns Mögliche getan.
({6})
- Sie haben den großen Vorteil, an dem Teil des Beratungsverfahrens gar nicht beteiligt gewesen zu sein, den
die Kulturpolitiker diesem Gesetzentwurf gewidmet haben. Es wird niemand von Ihren Kollegen ob von der linken oder rechten Seite bestreiten, dass die Behandlung
von Anfang bis zum Ende durch das Bemühen gekennzeichnet war, einen solchen durch hohe Sensibilität gekennzeichneten Gegenstand möglichst im Konsens zu regeln. Das ist die reine Wahrheit.
({7})
- Nein, das widerspricht dem Vorwurf ganz und gar nicht.
Es ist enttäuschend, dass trotz dieser Absicht das Verfahren leider nicht so solide gewesen ist, wie wir es uns gewünscht hätten.
Wir haben mehrfach im Verlauf des Verfahrens deutlich
gemacht, dass wir einer solchen Gesetzgebungsabsicht zustimmen, aber wir haben auch die Kriterien deutlich gemacht, die dabei unserer Überzeugung nach eingehalten
werden müssen. Es sind mehr als ein halbes Dutzend konkreter Vorschläge, Hinweise und Orientierungen gewesen, die ich nicht mehr im Einzelnen aufführen kann und
muss.
Für uns stand das Prinzip der Koalitionsfreiheit nicht
ernsthaft zur Diskussion, schon gar nicht durch die ursprünglich vorgesehenen Schlichtungsverfahren mit
zwangsweiser kollektiver Festsetzung von VergütungsreBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
gelungen. Wir haben großen Wert darauf gelegt, dass hier
zwischen freischaffenden Urhebern und in Verlagen angestellten Arbeitnehmern unterschieden wird, die natürlich in ihren Rechtsansprüchen unterschiedlich behandelt
werden müssen.
Wir haben - sicher alle gemeinsam, wenn auch nicht mit
präzise den gleichen Erwartungen - auf eine angemessene
Modifizierung des Bestseller-Paragraphen großen Wert gelegt.
Wir haben immer sicherstellen wollen, dass Urheber
und Verwerter, die unter deutschem Recht kontrahieren,
keine Nachteile gegenüber solchen erfahren, die ihre Verträge nach ausländischem Recht abschließen oder es in
Zukunft vielleicht tun wollen. Wir haben ebenfalls
sicherstellen wollen, dass es keine Schlechterstellung bestimmter Branchen gibt, und zwar nicht, weil man sie dezidiert schlechter stellen will, sondern weil sich für sie
aufgrund der Besonderheit der jeweiligen Branchen
allgemeine Regelungen in einer diskriminierenden, jedenfalls wirtschaftlich belastenden Weise niederschlagen.
Wir - vor allem der Kollege Neumann - haben mehrfach
auf die besonderen Probleme in der Filmwirtschaft hingewiesen, die durch diesen Gesetzentwurf an vielen Stellen
nur unzureichend berücksichtigt worden sind.
Es liegt in der Natur der Rollenverteilung, dass wir unsere Vorstellungen von einem solchen Gesetzentwurf gar
nicht in vollem Umfang - das ist wahr - realisieren können. Darauf waren wir geistig vorbereitet. Deswegen ist
es nicht weiter überraschend, dass sich eine Reihe von
Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion aufgrund ihrer Bewertung des Ergebnisses nicht in der Lage sieht,
diesem Gesetzentwurf zuzustimmen; denn Ihr Gesetzentwurf bleibt an der einen oder anderen Stelle hinter dem
zurück, was wir für richtig halten und getan hätten.
Der Gesetzentwurf in der vom Rechtsausschuss vorgelegten Fassung - er unterscheidet sich substanziell von
der Fassung des Vortages -, der heute zur Beschlussfassung ansteht, ist allemal besser als der ursprüngliche Gesetzentwurf
({8})
und näher an der von uns angestrebten, gemeinsam beschworenen, notwendigen Balance zwischen den jeweils
legitimen Interessen der Urheber und Verwerter.
({9})
Deshalb und nur deshalb stimmen wir diesem Gesetzentwurf in der jetzt vorliegenden Fassung zu.
({10})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der
Kollege Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon bei der Schaffung des Urheberrechtsgesetzes im Jahre 1965 - dies ist schon öfters hier
angesprochen worden - wurde auf die dringende Notwendigkeit eines ergänzenden Urhebervertragsgesetzes
hingewiesen. Seit dieser Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben die jeweiligen Bundesregierungen wiederholt ein solches Gesetzgebungsvorhaben nachdrücklich
befürwortet. Leider ist es aber bislang weder zur Neugestaltung noch zu einer Ergänzung des Urheberrechts gekommen. Umso erfreuter bin ich natürlich, dass es wieder
einmal die jetzige Bundesregierung gewesen ist, die den
Anstoß zum vorliegenden Gesetzesvorhaben gegeben und
damit einen weiteren Schritt zur Beseitigung des Reformstaus im Bereich der Rechtspolitik getan hat.
({0})
- Kollege Dr. Lammert, das können Sie nun nicht wegdiskutieren, soviel Sie auch wollen: Es ist endlich nicht
nur geredet, sondern zum Wohl insbesondere der Urheber
auch gehandelt worden.
({1})
Die Kollegen Röttgen und Funke haben in ihren Reden
den Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens kritisiert und
ich mag das so nicht stehen lassen.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, mir ist in dieser Legislaturperiode im Bereich der Rechtspolitik kein Gesetzgebungsverfahren bekannt, bei dem so häufig und so intensiv insbesondere mit den betroffenen Verbänden diskutiert
worden ist.
({3})
Und wer etwas anderes behauptet, sagt hier nicht die
Wahrheit.
({4})
Und Herr Kollege Röttgen, wenn Sie bemängeln - auch
das haben Sie ja insbesondere im Rechtsausschuss getan -,
dass der heute zur Entscheidung stehende Wortlaut der
Vorlage kaum noch mit dem so genannten Professorenentwurf übereinstimmt, dann gebe ich Ihnen sogar Recht.
({5})
Nur, meine Damen und Herren, das war auch nie beabsichtigt. Genau deshalb wurde er ja auch als „Professorenentwurf“ bezeichnet und eben nicht als Gesetzentwurf.
({6})
- Herr Kollege Röttgen, was Sie der Justizministerin im
Grunde genommen vorwerfen,
({7})
ist nichts anderes, als dass sie im Vorfeld eines Gesetzgebungsverfahrens fünf anerkannte Rechtsexperten damit
beauftragt hat, ihre Vorstellungen von einem möglichen
Urhebervertragsgesetz zu Papier zu bringen.
({8})
Damit hat sie bereits im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens eine vernünftige Diskussionsgrundlage geschaffen. Wenn Sie das tatsächlich kritisieren wollen, kann ich
persönlich damit prima leben.
({9})
Ich würde mir wünschen, dass alle Gesetzgebungsverfahren so vorbildlich vorbereitet werden könnten.
({10})
- Dazu komme ich gleich auch noch.
Unter anderem im Rechtsausschuss ist von Ihnen
bemängelt worden, man habe die Sachverständigenanhörung durchgeführt, obwohl intern bereits Gesetzesänderungsvorschläge diskutiert worden seien. Das ist doch
wirklich nichts Neues.
({11})
Es dient doch nur dem Verfahren, wenn ein Ministerium,
eine oder zwei Fraktionen sich ständig darüber Gedanken
machen, wie man ein Gesetz weiter verbessern kann und
in welchen Bereichen man etwaigen Kritikern entgegenkommen kann. Deswegen kann doch nicht jedesmal ein
Gesetzesverfahren unterbrochen werden. Abwarten hätte
Stillstand bedeutet. Den hat es im Urhebervertragsrecht
nun wirklich lange genug gegeben.
({12})
Kollege Röttgen, Sie haben außerdem kritisiert, dass es
im Verfahren so viele Änderungen gegeben habe, dass
man - ich gebe das sinngemäß wieder - zuletzt den
Überblick verloren habe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Überblick zu keinem Zeitpunkt verloren. Wie das bei Ihnen gewesen ist, mag ich weder beurteilen noch bewerten.
({13})
Richtig ist - da gebe ich Ihnen natürlich Recht -, dass
es im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zahlreiche Änderungen gegeben hat. Diese Änderungen waren im Wesentlichen aber nur marginal und hatten sprachliche oder
geringfügige materielle Verbesserungen zum Inhalt
({14})
und kamen übrigens zum Teil durch die Anregungen von
Ihnen oder von betroffenen Verbänden zustande.
Wirklich entscheidende Neuerungen zum ursprünglichen Gesetzentwurf hat es für mich nur an zwei Stellen
gegeben: Zum einen haben wir den bereits bestehenden
Bestseller-Paragraphen modifiziert ins Gesetz aufgenommen. Zum anderen - das ist schon angesprochen worden stellen wir es den Parteien nun frei, den Einigungsvorschlag der Schlichtungsstelle für eine gemeinsame Vergütungsregel anzunehmen oder nicht.
({15})
Wenn Sie sich das Gesetzgebungsverfahren von Anfang
an genau vergegenwärtigen, dann werden Sie zugeben
müssen, dass wir damit genau die entscheidenden Kritikpunkte aufgegriffen haben. Insbesondere die Kritik der
Verwerter muss eigentlich - auch das ist schon angesprochen worden - völlig in sich zusammenbrechen. Eigentlich kritisieren Sie, Kollege Röttgen, damit, dass wir nicht
so borniert sind, uns Vorschlägen, die einigermaßen vernünftig sind, zu verschließen. Wir werden im Grunde genommen also dafür kritisiert, Kritik ernst genommen zu
haben. Und auch damit kann ich persönlich leben.
({16})
Persönlich hätte ich es viel schlimmer gefunden, wenn
man irgendwelche Gesetze durchpeitscht, ohne auf die
Anregungen der betroffenen Kreise in irgendeiner Weise
Rücksicht zu nehmen. Bei solch einem Verhalten wäre
Ihre Kritik tatsächlich berechtigt gewesen, hier, an dieser
Stelle, jedenfalls nicht.
({17})
Ich stimme mit Ihnen auch darin nicht überein, dass wir
uns letztendlich nur dem Druck von außen gebeugt haben,
Es ist ja schon angesprochen worden: Das von uns gewünschte Ergebnis haben wir weitestgehend, wenn auch
mit Abstrichen, erreicht.
Die Kulturwirtschaft hat in den letzten Jahren nicht
nur aufgrund des digitalen Zeitalters immer mehr Bedeutung erlangt. Insbesondere die Medienunternehmen haben sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Wir als SPD haben es von jeher als gerecht und
billig empfunden, wenn die Urheber entsprechend ihrer
Leistung an deren finanzieller Verwertung gerecht partizipieren. Ziel des Gesetzentwurfes war es deshalb, Urheber und ausübende Künstler angemessen an der wirtschaftlichen Nutzung ihrer Arbeit zu beteiligen. Genau
das haben wir in § 32 des Entwurfs festgeschrieben. Lesen Sie das bitte nach.
({18})
Zudem sollen, um den Urhebern bei der Durchsetzung
ihrer Ansprüche den Weg durch die Instanzen zu erleichtern oder ihn sogar zu vermeiden, so genannte Vergütungsregeln aufgestellt werden, um so als Vergleichsmaßstab einer angemessenen Vergütung zu dienen. Hier
hat sich im Grunde genommen nicht viel geändert. Ich
gebe Ihnen Recht, dass die Entscheidung der Schlichtungsstelle für die Parteien nicht mehr verbindlich ist; das
heißt, die Verwerter brauchen sie nicht annehmen. Aber
das Interessante ist: Sie können sich deshalb dem Verfahren nicht mehr entziehen. Am Ende eines jeden Schlichtungsverfahrens steht also zumindest die Entscheidung
über eine angemessene Vergütung der Tätigkeit im Raum.
Diese Entscheidung wird natürlich nicht folgenlos bleiben. Die Parteien werden hierdurch den Maßstab der angemessenen Vergütung einschätzen können. Ein Gericht
wird dies im Streitfall sicherlich berücksichtigen.
({19})
Ich möchte langsam zum Schluss kommen. Ich habe
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sowohl von der
CDU/CSU als auch von der FDP immer wieder gehört,
dass man die Anliegen der Urheber teile. Von der Union
hörte man schon frühzeitig, dass man insoweit allerdings
nur punktuellen Handlungsbedarf sehe. Herr Kollege
Röttgen, mich hätte es sehr interssiert, nur ein einziges
Mal zu hören, wie Ihre Vorschläge zur Lösung der zugestandenen Probleme aussehen. Leider habe ich dazu nie
etwas gehört, selbst heute nicht.
({20})
Sie haben immer nur kritisiert. In der Rechtspolitik ist es
also so wie in allen anderen Bereichen auch: Es wird nur
rumgemäkelt, aber nicht konstruktiv dargelegt, wie man
es besser machen könnte. Auf Sie bezogen, Herr Kollege
Röttgen:
({21})
Offensichtlich hat sich der Kanzlerkandidatenvirus auf
Sie übertragen.
({22})
Anders kann ich Ihre Rede heute überhaupt nicht nachvollziehen.
({23})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alleine reicht nicht aus. Der Gesetzentwurf ist
schlüssig und wird sein angestrebtes Ziel erreichen. Aus
diesem Grunde wird er von uns unterstützt.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Ich nehme eine persönliche Erklärung des Kollegen
Hans-Joachim Otto nach § 31 der Geschäftsordnung zu
Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung
der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden
Künstlern, Drucksache 14/7564. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/8058, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der PDS-Fraktion, eines Teils der CDU/CSU-Fraktion
und der Mehrheit der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen
aus der CDU/CSU-Fraktion und einer Gegenstimme aus
der FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa-
che 14/8079. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der PDS-Frak-
tion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bünd-
nisses 90/Die Grünen zur Stärkung der vertraglichen
Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern auf
Drucksache 14/6433. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 14/8058, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
1) Anlage 4
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({2}),
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Jüdisches Museum, Topographie des Terrors,
Mahnmal für die ermordeten Juden Europas
- Drucksachen 14/4249, 14/7451 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({3})
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere außerordentlich, dass unser Antrag im
federführenden Ausschuss für Kultur und Medien mehrheitlich abgelehnt wurde. Ich tue das umso mehr, als nach
der Beschlussempfehlung des Ausschusses „über die
Gleichwertigkeit der drei Institutionen“, wie sie genannt
wurden, „grundsätzliche Einigkeit zwischen den Fraktionen“ besteht. Die dann folgende Begründung ist allerdings sehr dürftig. Als Argument wird angeführt, man
würde Gefahr laufen, „den Systembruch der Finanzierungsübernahme von Gedenkstätten durch den Bund ...
auszuweiten“. Abgesehen davon, dass ein solcher postulierter Systembruch schon mit der vollständigen Übernahme der Kosten für das Jüdische Museum seitens des
Bundes erfolgt wäre, wurde mit dieser Entscheidung eine
Chance vertan.
Denn was die herausragenden Merkmale der drei Orte
sind, ist gar nicht deutlich geworden. Sie liegen nämlich
nur wenige hundert Meter voneinander entfernt und sind
sowohl authentische Orte - wie die Topographie des
Terrors - als auch Orte der Dokumentation und des Gedenkens. Mein Kollege Norbert Lammert hatte bei der
Einbringung des Antrags, auf den Tag genau heute vor einem Jahr, gesagt, die drei Orte seien „wie auf einer Perlenschnur aufgereiht“. Warum brauchen die drei Orte, die
in einem nicht zu leugnenden inhaltlichen Zusammenhang stehen, jeweils ähnliche Vortragsräume, Ausstellungen, Dokumentationen und Lesesäle? Das ist jedenfalls
unter diesem Aspekt nicht nachvollziehbar.
Wenn auf der einen Seite das Jüdische Museum und
das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als Stätten nationalen Gedenkens gesehen werden - was ja nicht
zu bezweifeln ist - und damit die Vollfinanzierung seitens
des Bundes begründet wird, dann leuchtet eine entsprechende Ablehnung bei der Topographie des Terrors nicht
ein.
({0})
Was auf dem Gelände der Gestapo und des Reichssicherheitshauptamtes passiert ist, ist keine lokale Berliner Geschichte, sondern Kapitel unserer Nationalgeschichte.
Die Betonung unseres Antrages liegt aber nicht darauf,
für eine Institution - in diesem Falle also die Topographie des Terrors - eine vollständige Finanzierung durch
den Bund zu erreichen. Nein, es geht um eine Gesamtkonzeption für diese offensichtlich in einem inhaltlichen
Zusammenhang stehenden Orte des Gedenkens. Dieser
Vorschlag ist nicht nur gut begründet, sondern auch - das
will ich gar nicht verschweigen - im Sinne der Finanzierbarkeit höchst vernünftig. Dass eine Finanzierung vernünftig und für die Bevölkerung nachvollziehbar sein
muss, das dürfte außer Zweifel stehen.
Die immer wieder aufflackernden Diskussionen über
die Kosten, beispielsweise beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wie wir sie gerade vor einigen Tagen erlebt haben, sind ein Beleg dafür. Übrigens bin
ich in diesem Zusammenhang - dies betone ich, weil ich
mich manchmal auch zu anderen Äußerungen veranlasst
sehe - dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse
dankbar, dass er auf die Vorschläge, die zu einer weiteren
Kostenerhöhung geführt hätten, deutlich reagiert hat.
({1})
Ich glaube, das ist eine gute Grundlage für unsere weitere
Arbeit im Kuratorium.
Aber unsere Forderung nach einer Gesamtkonzeption
ist auch eine Forderung nach Kosteneffizienz und Einsparungen an der Stelle, an der es dem Gedenken in der
Sache keinen Abbruch täte. In keinem Falle sollten diejenigen, die auch im Zusammenhang mit Gedenkstätten
für die Opfer des Nationalsozialismus dafür plädieren, die
Finanzierbarkeiten im Auge zu behalten, stigmatisiert
werden. Es wäre aus meiner Sicht außerordentlich zu begrüßen, wenn in diesem Hause darüber ebenfalls Einigkeit herrschte. Über das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus und die Opfer der NS-Diktatur darf zum
Beispiel nicht außerhalb der Budgetverantwortung dieses
Hauses diskutiert werden.
Die vollständige Finanzierung des Jüdischen Museums
durch den Bund hatte die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen im Ausschuss damit begründet, es handele sich
nicht um eine historische Stätte und der finanzielle Aufwand sei groß. Letzteres ist zweifellos richtig, gleichwohl
als Begründung für die Ablehnung unseres Antrages in
keiner Weise stringent. Das würde, salopp formuliert, bedeuten: Alles, was teuer ist, bezahlt der Bund und das andere bezahlen die Länder.
({2})
Teuer wird auch die Topographie des Terrors. Da brauchen Sie nur einmal Herrn Rürup zu fragen. Er hat übrigens gerade an die Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
geschrieben, vor Überschneidungen gewarnt und darauf
hingewiesen, dass quasi ein neues Museum ausgestaltet
werde, das eigentlich nur als Ort der Information gedacht
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gewesen und sogar von vielen in diesem Hause als nicht
notwendig angesehen worden sei.
({3})
- Darüber wird zu reden sein. - Das würde für mich in diesem Zusammenhang zu einer Gesamtkonzeption gehören.
Genauso gehört vielleicht zu einer Gesamtkonzeption,
dass wir uns noch einmal bewusst machen, was die jetzige
Widmung beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die hier ebenfalls umstritten war, bedeutet, wenn wir
jetzt anderen Opfergruppen nach und nach ohne Gesamtkonzeption, ohne Wissen, was da eigentlich gebaut werden soll, noch andere Denkmale und Mahnmale versprechen oder versprechen müssen. Eine Diskussion muss
auch darüber geführt werden, ob vielleicht sogar die Widmung für dieses Denkmal noch einmal zu überdenken ist.
Wenn wir über Orte nationalen Gedenkens wie das
Jüdische Museum in Berlin sprechen, geht es mir aber
auch um zwei, drei andere Dinge. Wenn wir hier schon die
Kosten übernehmen, dann sollten wir uns auch dafür
interessieren.
({4})
- Ich war beim Jüdischen Museum.
({5})
Ich bin jetzt beim inhaltlichen Aspekt. Ich bin der Meinung, dass wir, wenn wir schon alles bezahlen, in diesem
Hause auch über die Inhalte sprechen dürfen, Herr Otto.
Die öffentliche Debatte über Konzeptionen ist gar
nicht so unwichtig. Als ich mir das Jüdische Museum
nach der Eröffnung angesehen habe, ist mir aufgefallen,
dass sich die Darstellung jüdischen Lebens in Berlin und
Deutschland - das ist ja der Anspruch der Ausstellung und
des gesamten Museums - in hohem Maße auf die Präsentation der bekannten und bedeutenden deutschen Juden
konzentriert, abgesehen davon, dass Rosa Luxemburg
und Karl Marx nicht vorkommen.
Auffallend wenig, eigentlich fast gar nichts sieht man
von der großen Masse der so genannten ärmeren Juden,
die beispielsweise im Scheunenviertel hier in Berlin lebten. Das finde ich bedauerlich, zumal so einer der interessantesten Aspekte jüdischen Lebens ausgespart bleibt,
übrigens auch einer der interessantesten Aspekte jüdischen Lebens in dieser Stadt, nämlich die Begegnung von
Ost und West innerhalb der jüdischen Gemeinde, die einerseits in der Oranienburger Straße wieder stark wächst
und althergebracht in der Fasanenstraße ihren Sitz hat.
Auch das wäre eine spannende Debatte.
({6})
Eine Beschäftigung hiermit wird meines Erachtens vielleicht aus Angst - ich weiß es nicht - davor, dass uns das
schaden könnte, vermieden. Ich fände es gut, wenn wir in
angemessener Form darüber debattieren könnten. Ohne
diesen Aspekt ist übrigens die Dimension des Kulturbruchs, die der Holocaust ja zweifellos für das gesamte jüdische Leben in Deutschland darstellt, nicht abzuschätzen. Bei einem Projekt von nationalgeschichtlicher
Dimension, wie eben dem Jüdischen Museum, würde ich
mir eine öffentlichere und vielleicht auch kritischere Diskussion wünschen.
Ich würde mir auch wünschen, dass dasselbe Bewusstsein, das hier bei unseren Gesprächen über Gedenkstätten
von nationalgeschichtlichem Rang zum Ausdruck
kommt, auch bezüglich der Gedenkstätten zur Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur vorherrschte. Unsere Fraktion hat ja noch einen weiteren Antrag, nämlich
über Berliner Gedenkstätten an die SED-Diktatur mit nationalem Rang zu diskutieren, in den parlamentarischen
Prozess eingebracht. Ich hielte es jedenfalls für angemessen, wenn wir bei Diskussionen über die Finanzierung
dieser Gedenkstätten zu ähnlich prinzipieller Übereinstimmung kämen wie in Bezug auf die Bedeutung dieser
Orte. Natürlich wäre es auch angemessen, wenn diese Gedenkstätten so ausgestattet würden, dass sie ihre Arbeit
perspektivisch und verlässlich planen könnten. Dabei
denke ich nicht an die jährlichen Betriebskostenzuschüsse
- es sind wohl 24 Millionen DM -, die für das Jüdische
Museum gezahlt werden. Es geht um ganz andere Dimensionen, nämlich darum, dass auch die Arbeit dieser
Gedenkstätten finanziert werden kann.
Ich halte es jedenfalls für alarmierend, wenn, wie vor
einigen Tagen in einer Studie zu lesen war, immer seltener DDR-Geschichte an deutschen Universitäten gelehrt
wird. Es gibt bereits Bundesländer, in denen dieses Kapitel nationaler Geschichte überhaupt nicht mehr vorkommt. Umso mehr müssen wir uns in Bezug auf die
zweite deutsche Diktatur, die kommunistische Gewaltherrschaft, um unsere Nationalgeschichte kümmern. Darüber ist im Zusammenhang mit dem anderen Antrag noch
ausführlicher zu reden.
Klar muss sein, dass Erinnerungskultur in Deutschland nicht so aussehen darf, dass für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft der Bund zuständig ist und Geld
dabei eine untergeordnete Rolle spielt, dass sich um die
sozialistische und kommunistische Gewaltherrschaft aber
die Länder kümmern sollen, wenn sie dann überhaupt
wollen, und nicht einmal die nötigsten Geldmittel bereitgestellt werden.
({7})
Diese Gesamtkonzeption, Frau Vollmer, verfolgen wir jedenfalls mit unserem Antrag nicht, auch wenn ich mich
manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, als ob die
Koalition und die Bundesregierung gerade diesen Anschein erwecken wollen.
Danke schön.
({8})
Das Wort
hat jetzt der Staatsminister Julian Nida-Rümelin.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Wir haben uns in der Einbringungsdebatte ja
schon relativ ausführlich über diese Thematik ausgetauscht. Deswegen möchte ich mich heute hier recht kurz
fassen und meine Rede auf wenige Bemerkungen beschränken.
Die erste Bemerkung ist die, dass wir, wie ich denke,
nicht das große Ausmaß von grundsätzlicher kulturpolitischer Gemeinsamkeit, das nach meinem Eindruck in diesem Hause hinsichtlich des sensiblen Themas der Gedenkstättenarbeit und der Erinnerungskultur besteht,
verdecken sollten. Ich will versuchen, zwei Aspekte dieser Gemeinsamkeit zu skizzieren.
Der erste Aspekt - ich habe das bei der Eröffnung der
Holocaust-Ausstellung ausführlicher dargestellt - ist,
dass die Auseinandersetzungen mit dem düstersten Kapitel der deutschen Geschichte ganz entgegen dem, was
noch Mitte der 90er-Jahre weithin erwartet wurde, insbesondere in den Feuilletons der großen Tageszeitungen,
50 Jahre nach Kriegsende noch nicht zu einem Abschluss
gekommen sind. Im Gegenteil: Gerade in den vergangenen Jahren hat die Intensität dieser Auseinandersetzung
ganz wesentlich zugenommen und nach meinem Eindruck auch die Offenheit der jüngeren Generation, sich
damit auseinander zu setzen. Das ist erfreulich. Da können wir uns ein gutes Zeugnis für die kulturelle Entwicklung in Deutschland ausstellen.
Jetzt geht es um die spezifische Frage der Verantwortungsteilung. Ich bin der Auffassung, dass das Gedenkstättenkonzept, das ja ausführlich diskutiert wurde und
sehr wohl begründet ist, eine gemeinsame Verantwortung
von Kommunen, Ländern und Bund vorsieht, wobei der
Bund diejenigen Einrichtungen, die zweifellos von nationalem Rang und nationaler Bedeutung sind, bis zur Hälfte
mit fördern kann. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass es ein Irrweg in der Debatte um die Systematisierung der Kulturaufgaben von Bund und Ländern wäre,
wenn dieser Bereich ganz dem Bund zugeschrieben würde,
({0})
weil damit die nahe an der Bevölkerung orientierte Arbeit
ins Hintertreffen geriete. Wir brauchen die Kommunen
und wir brauchen die Länder in der Verantwortung.
({1})
- Genau. Jetzt geht es um eine in meinen Augen pragmatisch zu lösende Frage, spezifisch in Berlin, weil es dort
zwei Einrichtungen gibt, die der Bund in seine alleinige
Verantwortung übernommen hat: ein großes internationales Museum, das Jüdische Museum für 2 000 Jahre
deutsch-jüdischer Geschichte, und das Mahnmal.
({2})
- Es gibt noch weitere. Es gibt zum Beispiel das Haus der
Wannsee-Konferenz, das man auch mit einbeziehen
kann.
Nun gebe ich zu, dass für beides Argumente sprechen.
Es sprechen Argumente dafür, diese Einrichtungen in einer Hand zu belassen, und es gibt Argumente dafür, die
Topographie des Terrors als eine Gedenkstätte in das
allgemeine Gedenkstättenkonzept zu übernehmen. Für
beides gibt es pragmatische Argumente. Falsch ist allerdings die Begründung, dass nur dann eine Kooperation
möglich ist, wenn der Bund diese Einrichtungen allein
trägt. Wenn das so wäre, könnten wir das ganze Gedenkstättenkonzept vergessen.
({3})
Das Konzept setzt ja auf die Kooperation von Kommunen, Ländern und dem Bund.
Mein Plädoyer ist, dass wir die Verantwortung übernehmen, die der Bund durch Kulturpolitikerinnen und
Kulturpolitiker der Fraktionen, auch durch mich, sehr
deutlich formuliert hat, nämlich dass wir uns bei der Topographie des Terrors hälftig beteiligen, wenn die Kosten
nicht über ein bestimmtes Niveau hinausgehen. 76 Millionen DM hatte ich abgestimmt, auch mit der Berliner
Seite, und als Obergrenze genannt. Dafür wurde ich viel
kritisiert. Es wurde gefragt: Warum muss man nun gerade
da einen finanzpolitischen Rigorismus exekutieren? Ich
bin der Meinung, es war gut und für die Debatte offenbar
auch hilfreich, dass klar war: Wir müssen uns irgendwann
über eine Obergrenze verständigen. Eine Prüfung durch
die Bundesbauverwaltung hat ergeben, dass das in diesem
Kostenrahmen geht.
Wenn im Jahr 2002 vonseiten des Bundes Mittel zur
Verfügung gestellt werden sollen, geht das nur außerplanmäßig. Dafür müssen wir natürlich auch noch bei den
Haushaltspolitikern werben. Ich denke, dass das Land
Berlin ebenfalls in seiner Verantwortung für diese Einrichtung bleibt. Das war die Basis der bisherigen Beratungen. Deswegen plädiere ich dafür, bei dem zu bleiben
und insofern der Beschlussempfehlung des Kulturausschusses zu folgen.
Danke schön.
({4})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer von Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn
ich an die Diskussion um das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und insbesondere an die Rolle denke,
die der damalige CDU-Bürgermeister Diepgen dabei gespielt hat, wundere ich mich darüber, dass sich die CDU
jetzt so vehement für die Beteiligung des Bundes am NSDokumentationszentrum einsetzt.
({0})
Dazu hatten Sie ganz offensichtlich schon einmal eine andere Haltung. Damals mussten wir dem Berliner Senat
seine Zustimmung mit aller Kraft abringen
({1})
und insbesondere immer wieder gegen Widerstand des
damaligen CDU-Bürgermeisters kämpfen.
Wir sind ganz Ihrer Meinung, dass der Bundestag an
der Fertigstellung aller drei Projekte, also des Jüdischen
Museums, das nun fertig ist, der Topographie des Terrors
und des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas,
worüber es immer noch heftige Diskussionen im Stiftungsrat gibt, ein ganz besonders großes Interesse hat. Wir
sind auch daran interessiert, dass diese Projekte zügig und
kostengünstig vorangetrieben werden. Das ist alles in unserem Sinne.
Jetzt aber fordert die CDU, dass wir die beiden Projekte, die der Bund bereits fördert, um ein drittes erweitern sollen, nämlich um die Topographie des Terrors.
Das heißt, dass wir allein die Kosten übernehmen sollen.
Sie verschweigen dabei, dass es gerade unser Verdienst
war und auch nicht geringe Mühe gekostet und nicht weniger Diskussionen mit dem Finanzminister insbesondere
mit Blick auf Sparhaushalte bedurft hat, um alle Gedenkstätten endlich mit der hälftigen Bundesfinanzierung auf
eine verlässliche finanzielle Basis bundesweit zu stellen.
Der Staatsminister hat schon gesagt, dass es für die hälftige Finanzierung gute Gründe gibt. Da alle Verantwortung tragen, wollen wir, dass sich die Länder und Kommunen in gleicher Weise wie der Bund beteiligen und für
ihre Erinnerungsstätten verantwortlich fühlen. Ohne diese
Beteiligung würden die Erinnerungsstätten faktisch und
psychologisch abgeschoben. Sie wären dann einzig Bundessache.
({2})
Die NS-Verbrechen waren aber nicht nur Staatsverbrechen,
sondern waren auch Verbrechen der ganzen Bevölkerung
und der Kommunen. Deshalb ist die hälftige Finanzierung
genau richtig.
({3})
Sie verlangen nun von uns, dass wir innerhalb dieses
Konzepts, das wir durchgesetzt haben und das zu unseren
parlamentarischen Verdiensten gehört, einen Systembruch vornehmen und die Topographie des Terrors, die
wie die anderen Erinnerungsstätten eine historische Erinnerungsstätte ist, herausnehmen.
({4})
Welche Folge würde das haben? In den nächsten Sitzungen würden wir von Ihnen den Antrag bekommen,
auch alle anderen historischen Erinnerungsstätten, wie
etwa Buchenwald oder Bergen-Belsen, zu übernehmen,
({5})
weil wir bereits an einer Stelle den Systembruch, auch historische Erinnerungsstätten hälftig zu finanzieren, begangen hätten. Das war der Grund dafür, dass wir gesagt haben: Mit dem Holocaust-Mahnmal und dem Jüdischen
Museum ist es etwas anderes, weil es sich hierbei nicht
wie bei der Topographie des Terrors um historische Erinnerungsstätten handelt.
Natürlich besteht die Notwendigkeit zur konzeptionellen Zusammenarbeit, vor allem weil die Einrichtungen
alle räumlich benachbart sind. Dies bezieht sich aber auf
die Aufforderung, miteinander zu reden. Genau so ist es
gewesen. Herr Nachama war im Stiftungsrat.
Wenn ich mich recht erinnere, gab es damals genau
darüber Diskussionen, ob wir diese Vertreter der anderen
Institutionen mit hineinnehmen sollen. Auch damals haben wir gesagt: Sie gehören wegen der konzeptionellen
Nähe zusammen; aber auf der finanziellen Seite und wegen der Notwendigkeit, die Länder und Kommunen an der
Finanzierung zu beteiligen, muss man das trennen.
Bei diesem guten Grundsatz sollten wir bleiben. Wir
sollten auch weiterhin sagen: Es war eines der Gütezeichen dieser Legislaturperiode - denken Sie auch an die
Zwangsarbeiterregelung -, dass diese Regierung mit einem unglaublichen Schwergewicht gerade diese Erinnerungsarbeit geleistet hat und sie auch in der Zukunft retten und absichern will.
Ihr Antrag, in dem Sie das leere Versprechen abgeben,
dass Sie noch viel mehr tun würden, tut nichts zur Sache.
Wir werden so weitermachen und dies auch für die Zukunft absichern. Das ist außerordentlich wichtig. Es ist ein
Stück der Identität dieses Landes. Dies gilt ebenso für das
Versprechen, dass es immer Teil unserer Identität bleiben
wird.
Danke.
({6})
Für die Fraktion der
FDP spricht jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch wir Liberalen befürworten natürlich die zügige Fertigstellung
des Projektes Topographie des Terrors auf dem PrinzAlbrecht-Gelände. Auch wir hätten uns eine mit dem
Land Berlin abgestimmte Gesamtkonzeption der drei an
einer Perlenschnur aufgereihten Gedenkstätten gewünscht.
Sehr geehrter Kollege Nooke, dennoch können wir
Ihrem Antrag nicht zustimmen, weil wir ihn spätestens
seit der Unterzeichnung des Hauptstadtkulturvertrages
für überholt und seit dem 20. Dezember vergangenen Jahres sogar für kontraproduktiv halten.
({0})
- Dazu komme ich jetzt.
Erstens. Ihr Antrag ist deshalb überholt, weil er, auch
wenn Sie, Herr Nooke, das eben bestritten haben,
({1})
erklärtermaßen - ich erinnere mich noch an die Worte von
Herrn Dr. Lammert bei der Einbringung des Antrages; ich
habe sie nachgelesen - darauf abzielte, im damals noch
nicht unterzeichneten Hauptstadtkulturvertrag die Berliner Festspiele durch die Topographie des Terrors zu ersetzen bzw. dort jedenfalls eine neue Regelung vorzusehen.
Dafür hätte es übrigens gute Gründe gegeben; darin sind
wir uns einig.
Zwischenzeitlich sind die Dinge aber darüber hinweggegangen. Der Hauptstadtkulturvertrag wurde inzwischen
unterzeichnet. Man darf darauf hinweisen, dass dies auf
Berliner Seite auch durch die CDU erfolgt ist.
In diesem Hauptstadtkulturvertrag ist die Topographie
des Terrors ausdrücklich nicht in die alleinige Trägerschaft des Bundes übernommen worden. Ich erwarte vom
Berliner Senat, dass er jetzt endlich einmal wenigstens
eine Vereinbarung zur Kulturfinanzierung einhält und
nicht schon wieder nach dem Bund ruft,
({2})
der sich ohnehin, wie wir wissen, schon mit 50 Prozent an
den Kosten der Topographie des Terrors beteiligt.
({3})
- Lieber Herr Barthel, der Berliner kommt anschließend.
Zweitens. Seit dem 20. Dezember 2001 ist Ihr Antrag,
Herr Nooke, aber nicht nur überholt, sondern nach unserer
Auffassung sogar kontraproduktiv. An diesem Tage haben
nämlich die Ministerpräsidenten der Länder den Ausstieg
aus der Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angekündigt. Wir dürfen es jetzt nicht auch noch honorieren, dass sich die Ministerpräsidenten ihrer Mitverantwortung für das Erbe Preußens entziehen wollen;
({4})
denn das, meine Damen und Herren, geht nicht zusammen.
Es geht nicht, für sich die Kulturhoheit zu beanspruchen
und gleichzeitig vom Bund das Geld zu verlangen.
Herr Minister Nida-Rümelin, wir brauchen die gerade
vor zwei Tagen beschworene Systematisierung der Kultur- und Gedenkstättenförderung. Zur Vorbereitung der
jetzt anstehenden Gespräche mit den Ländern schlage ich
die Bildung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundestages und der Bundesregierung vor, die umgehend eine
möglichst fraktionsübergreifende Beratungsgrundlage für
diese Gespräche erarbeiten soll.
Bis dahin darf die Verhandlungsposition des Bundes
nicht durch weitere einseitige Finanzierungszusagen geschwächt werden, zumal der Bund schon jetzt, wie
Michael Naumann sagte, schlappe 500 Millionen DM,
also praktisch die Hälfte seiner gesamten Kulturfördermittel, allein in die Bundeshauptstadt fließen lässt. Ganz
im Sinne des Föderalismus erwarten wir von allen Bundesländern, also auch, lieber Herr Barthel, von Berlin,
dass sie ihre Verantwortung für die Kulturförderung stärker wahrnehmen.
({5})
Hierzu gehört eben auch die Verantwortung für die Fertigstellung der Topographie des Terrors.
Vielen Dank.
({6})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Fink.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen
gedenken wir erneut der Opfer des Nationalsozialismus.
Damit wird dieses Thema wahrscheinlich unmittelbar in
Verbindung gebracht und deshalb ist es auf die Tagesordnung gesetzt worden.
Nicht selten hatten wir in der Vergangenheit diesbezüglich einen beschämenden Widerspruch zu beklagen:
Wir hörten hier - dem Anlass gemäß - würdige Gedenkreden; gleichzeitig leisteten die Regierenden dieser Stadt
ein makabres Verzögerungs- und Verweigerungsritual gegenüber den heute in Rede stehenden Gedenkstätten. Hier
muss ich Frau Vollmer wirklich Recht geben.
Aber seit der ersten Lesung dieses Antrages genau
heute vor einem Jahr hat sich manches zum Positiven entwickelt. Das Jüdische Museum ist inzwischen eröffnet,
der Bau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas
vollzogen. Endlich scheint auch die Dokumentationsstätte Topographie des Terrors auf gutem Wege zu sein.
Die Topographie des Terrors ist für mich eine Gedenkstätte sui generis. Sie ist auch durch den einmaligen politischen Hintergrund und vor allen Dingen durch die Architektur, man kann auch sagen, durch das Kunstwerk von
Zumthor gegenüber allen anderen Gedenkstätten herausgehoben. Von daher ist es sehr gut, dass der Baustopp in
dieser Woche aufgehoben wurde. Zwar steht die formale
Zustimmung des Berliner Abgeordnetenhauses noch aus,
doch sind politische Ungereimtheiten in Sachen antifaschistischer Gedenkstätten von Berlin eigentlich nicht
mehr zu erwarten.
Zu vielen der diesbezüglichen Streitereien um Finanzen
und Konzeptionen hätte es nicht kommen dürfen und wäre
Hans-Joachim Otto ({0})
es auch gar nicht gekommen, wenn die drei Gedenkstätten
- hier begrüße ich namens meiner Fraktion die Intention
der Antragsteller - von Anfang an als Trias, als Dreiereinheit betrachtet worden wären: sowohl räumlich als auch
gedanklich. Folglich wären sie dann einheitlich vom Bund
konzipiert, errichtet und auch finanziert worden.
Die Antragsteller sagen sinngemäß: Es gibt keinen
überzeugenden Grund, dass der Bund einerseits Errichtung und künftigen Unterhalt von Mahnmal und Jüdischem Museum sichert, dies aber andererseits für die Topographie des Terrors offen lässt. Dieser Logik folge ich
und vermute, dass sich ihr auch die Vertreter der Regierungskoalition kaum verschließen können. Selbst wenn
jetzt und hier eine Mehrheit der ablehnenden Beschlussempfehlung folgt, weil die Regierungsseite, obwohl es
nach der Gedenkstättenkonzeption nicht logisch ist,
meint, einen Oppositionsantrag aus Prinzip ablehnen zu
müssen, so habe ich weder SPD noch Grüne als erklärte
oder unerklärte Gegner dieser Berliner Gedenkstätten
wahrzunehmen. Ganz im Gegenteil: Ich hoffe und erwarte, dass Wege gefunden werden, die Zukunft dieser
drei Gedenkstätten zu sichern.
Es geht bei dem Mahnmal um die ermordeten Juden in
Europa, beim Jüdischen Museum und der Topographie
des Terrors um Erinnerung, Mahnung und Gedenken.
Diese drei Topoi mitten in Berlin, auch in geographischer
Richtung zusammengefasst, Topoi einer Weitergabe der
Geschichte an die nachfolgende Generation sollten wir
von diesem Parlament aus auch ökonomisch sichern.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eckhardt Barthel für die SPDFraktion.
({0})
Meine Damen und
Herren! Herr Nooke, ich habe mir immer vorgenommen,
nur zum Thema der Tagesordnung zu reden. Ich werde in
diesem Zusammenhang nicht wie Sie über die Konzeption des Jüdischen Museums und darüber, was mir daran
gefällt oder nicht gefällt, reden.
({0})
Was ist der Kern unseres Themas? Das lässt sich auf
eine wichtige Frage reduzieren: Soll die Topographie des
Terrors vom Bund - ({1})
- Ich bedanke mich. Genau das ist der Punkt. Insofern
passt vieles, was hier bereits besprochen wurde, nicht zum
Thema.
({2})
Aber jeder redet so, wie er kann.
Weil das nun wirklich ein ernstes Thema ist, mit dem
wir uns schon intensiv befasst haben, ist es durchaus
wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es in diesem Haus über die Bewertung der Bedeutung aller drei
Stätten absolut keine Differenzen gibt. Es scheint mir
wichtig zu sein, dass wir hier keine Hierarchie der einzelnen Stätten aufbauen, sondern dass wir die Bedeutung
aller Institutionen, Museen und auch der Gedenkstätten
sehen. Man darf nicht sagen: Das eine ist wichtiger als das
andere.
({3})
Jetzt sage ich noch einmal: Gerade die Topographie des
Terrors hat in der Tat insofern eine Eigenart, als es hier um
den Ort der Täter geht. Ich glaube, das unterstreicht schon
die Bedeutung und unsere Verpflichtung, sie zu gestalten.
Bei der Forderung der Einbeziehung der Topographie
des Terrors in die Bundesfinanzierung erfolgt häufig der
Hinweis, dass sie in der räumlichen Nähe der beiden anderen Stätten liegt. Diese räumliche Nähe ist nicht zu bestreiten. Ich würde das übrigens sogar noch ergänzen. Es
ist nicht nur die räumliche Nähe der drei Institutionen,
({4})
sondern zum Beispiel auch die Nähe des Mahnmals zum
Bereich der Politik, dieses Parlaments, oder die Nähe der
Topographie des Terrors zum Potsdamer Platz als dem Ort
des Kommerzes. Ich halte auch dieses Beziehungsgeflecht zu anderen Orten durchaus für wichtig.
Die Gleichwertigkeit ist bereits dargestellt worden.
Zwingt diese aber auch zur gleichartigen Finanzierung?
Ich möchte auch daran erinnern, dass es nur deshalb zur
Übernahme des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas durch den Bund gekommen ist, weil eine andere Finanzierung der Errichtung nicht möglich war. Wenn wir
ehrlich sind, haben wir es dadurch bekommen. Insofern
hat es auch hier ursprünglich einen anderen Vorlauf gegeben.
Es ist vielleicht müßig, noch einmal an das zu erinnern,
was bereits gesagt wurde, nämlich dass es in der Tat hierbei Systemunterschiede gibt. Wir haben eine Gedenkstättenkonzeption, die akzeptiert wird und viel Unterstützung
gefunden hat. Das ist auch ein Ergebnis unserer Arbeit in
dieser Legislaturperiode. Das möchte ich nicht vergessen
wissen. Dies haben wir geschafft.
Warum - das frage ich ganz simpel - sollen wir zwar
die Topographie des Terrors aus dieser Konzeption herausnehmen, aber beispielsweise - um nur in Berlin zu
bleiben - die Wannsee-Villa darin belassen? Dies müsste
mir einmal jemand erklären. Das kann nicht allein mit
dem Argument der Perlenschnur oder der räumlichen
Nähe erklärt werden, sondern es muss inhaltlich begründet werden. Dann würde das Ergebnis erzielt, das Herr
Otto - für meine Begriffe nicht sehr fein - immer wieder
darstellt: Alles geht wieder nach Berlin.
Wenn man eine Unterstützung des Landes Berlin durch
die Übernahme durch den Bund erreichen möchte,
möchte ich mich an dieser Diskussion nicht beteiligen.
Dass ich sie möchte, ist klar, aber ich möchte gern, dass
sie systematisch und nachvollziehbar ist, weil sie sonst
keine Unterstützung findet. Dies wäre der falsche Ansatz,
weil wir dann aus der Systematik herausfallen würden,
unabhängig von der bereits erwähnten Frage, was ein authentischer Ort ist. Bei den beiden anderen handelt es sich
nicht um authentische Orte, aber die Topographie des Terrors ist ebenso wie die Wannsee-Villa ein authentischer
Ort.
Es gibt noch mehrere Bereiche. In der Frage, was mit
der zweiten Diktatur ist, gebe ich Ihnen Recht, Herr
Nooke. Dies ist richtig. Deshalb werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen, wie wir es schon in der ersten
Begründung dazu angekündigt haben.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
zur Finanzierung der Topographie des Terrors machen.
Ich möchte mich lobend dazu äußern, dass der Staatsminister für Kultur in den Verhandlungen mit Berlin eine
Regelung gefunden hat, nach der sich der Bund zwar mit
der Hälfte der Kosten beteiligt, aber nur, wenn die getroffenen Vereinbarungen auch eingehalten werden.
({5})
Ich halte diese Regelung für gut. Die in dem Antrag formulierten Befürchtungen, die Kosten würden sich nach
oben entwickeln,
({6})
diese auch von Ihnen, Herr Lammert, formulierte Besorgnis, hat Ihnen Herr Nida-Rümelin sicherlich genommen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 14/7451 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Jüdisches Museum, Topographie des Terrors, Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4249 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
ZP 9 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung ({0})
- Drucksachen 14/7024, 14/7086 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- Drucksache 14/8059 Berichterstattung:
Abgeordneter Volker Jung ({3})
ZP 10 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz,
Ursula Lötzer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung und zum Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung ({4})
- Drucksache 14/2693 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6})
- Drucksache 14/8048 Berichterstattung:
Abgeordneter Walter Hirche
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der erste Redner ist der Kollege Volker Jung für die
Fraktion der SDP.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf lösen wir eine der wichtigsten energiepolitischen Zusagen der rot-grünen Regierungskoalition ein,
im Rahmen unseres Klimaschutzprogramms durch Erhaltung, Modernisierung und Ausbau der Kraft-WärmeKopplung einen wesentlichen Beitrag zur CO2-Reduzierung zu leisten.
({0})
- Das muss an der Technik liegen. Vielleicht lässt sich das
etwas nachsteuern.
Einen kleinen Moment, liege Kolleginnen und Kollegen! Dieses Problem
ist schon gestern aufgetaucht. An seiner Lösung wird gearbeitet. Aber im Moment kann man nichts machen, denn
die Anlage ist schon auf Maximum eingestellt. Es tut mir
Leid. Die Kolleginnen und Kollegen sollten sich deshalb
so gut wie möglich disziplinieren und die Rednerinnen
und Redner sollten so laut wie möglich reden.
Schönen Dank,
Frau Präsidentin.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf flankieren wir
die Selbstverpflichtung der deutschen Industrie, insbesondere der Elektrizitätswirtschaft, in der sie sich auf den
Zubau von den KWK-Anlagen festgelegt hat, die sich
auch unter den derzeitigen Marktbedingungen rechnen.
Eckhardt Barthel ({0})
Das sind die Anlagen, die rund um die Uhr Strom und
Wärme erzeugen. Im Konsens und mit Unterstützung des
Gesetzgebers sollen allerdings die KWK-Anlagen, die
unter den gegebenen Marktbedingungen nicht wirtschaftlich arbeiten können, in ihrem Bestand geschützt und modernisiert werden. Das sind vor allen Dingen die Anlagen,
die in der Fernwärmeversorgung eingesetzt werden.
Über Sinn und Bedeutung des Klimaschutzes gibt es
zwischen der Wirtschaft und der Politik keinen Zweifel.
Einen solchen kann es nach den jüngsten Dokumenten der
Energie-Enquete des Bundestages und des Nachhaltigkeitsrates der Bundesregierung auch nicht mehr geben.
Wir wollen unter den veränderten Bedingungen der Liberalisierung des Energieversorgungsmarktes die Fortschritte im Klimaschutz mit Investitionsimpulsen für
Wachstum und Beschäftigung in unserem Land verbinden. Nicht Substanzverzehr durch Preiskämpfe und Konzentrationswellen, sondern technische Innovation und
Modernisierung sind unsere Devise.
({1})
Deshalb setzen wir klare Investitionssignale für einen modernen Kraftwerkspark, für eine dezentrale Energieerzeugung sowie für heimische Wertschöpfung und Beschäftigung. Dieser Markteingriff hat sich als notwendig
erwiesen, weil der Wettbewerb auf dem Strommarkt, insbesondere der starke Preisverfall, kontraproduktive Ergebnisse für den Klimaschutz zeitigt: Billiger Strom
zwingt dazu, KWK-Anlagen stillzulegen und den Wärmebedarf von Haushalten und Industrie durch zusätzliche
Verbrennungsprozesse zu decken.
Strom kann uns nach der Liberalisierung allerdings
auch teuer zu stehen kommen. Dass die Preise nämlich
auch kräftig steigen können, zeigten die jüngsten Ausschläge an der Leipziger Strombörse, wo die Presse im
Dezember des vergangenen Jahres in der Spitze fast
1 000 Euro pro Megawattstunde betrugen. Das ist das
Zwanzigfache des normalen Preises. Ähnlich wie bei dem
unseligen kalifornischen Beispiel werden die Ursachen
dafür im spekulativen Marktgebaren großer Stromanbieter gesehen. Wir werden uns diesen Vorgang noch sehr genau ansehen müssen.
Mittlerweile sind auch auf der Großhandelsstufe die
Strompreise wieder gestiegen. Das ist ein eindeutiges Signal für Knappheit. Die großen Energieversorger fahren
ihre Kapazitäten zurück. Mittel- und langfristig sollen
höhere Preise im Markt durchgesetzt werden. Investitionen Dritter werden dabei leicht als störend empfunden.
Wenn wir dieser Entwicklung tatenlos zusehen würden,
dann wären auch bei uns kalifornische Verhältnisse nicht
mehr ganz auszuschließen; denn dort gab es keine Anreize, sondern nur Hindernisse für Neuinvestitionen. Die
Substanz wurde verzehrt und nicht gemehrt. So weit dürfen wir es bei uns nicht kommen lassen.
({2})
Wir haben aber den Markteingriff auf das unverzichtbare Maß reduziert. In einem langen und mühevollen Prozess sind die wichtigsten Parameter dieses Eingriffs zwischen Energiewirtschaft und Politik vereinbart worden.
Dass am Ende einige Wünsche offen geblieben sind - das
gilt im Übrigen für beide Seiten -, kann bei solchen Prozessen nicht überraschen. Es liegt in der Natur von Kompromissen, dass zugunsten des gemeinsam Erreichbaren
Zugeständnisse gemacht werden müssen. Es liegt in der
Natur von Gesetzen, dass sie das gemeinsam Erreichbare
festhalten und im Interesse der Allgemeinheit regeln.
({3})
Zu dem Gesetzentwurf selbst haben wir nach der Stellungnahme des Bundesrates und vor allem nach der Sachverständigenanhörung des Wirtschaftsausschusses eine
Reihe von Änderungsvorschlägen gemacht, die das Gesetz praxistauglich und wirksamer machen sollen. Zu den
wesentlichen Punkten gehören: die Aufnahme der CO2Minderungsziele von 10 Millionen Tonnen bis zum Jahre
2005 und von mindestens 20 Millionen Tonnen bis zum
Jahre 2010 sowie das Vorziehen der Zwischenüberprüfung auf das Jahr 2004, um rechtzeitig zum Stichtag 2005
die Wirksamkeit des Gesetzes überprüfen und gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen für eine zusätzliche Förderung der KWK ergreifen zu können, damit das
Minderungsziel im Jahre 2010 erreicht werden kann.
({4})
Weitere Punkte sind: die Anhebung der Fördersätze
für modernisierte Anlagen - das ist der eigentliche Kernpunkt der Änderungsvorschläge - im Zeitkorridor bis 2010,
um bei den langen Vorlaufzeiten von drei bis vier Jahren
auch tatsächlich das notwendige Investitionsvolumen zu
mobilisieren, sowie eine Verbesserung der Förderung kleiner KWK-Anlagen, die bereits heute die Energieeffizienz
von Brennstoffzellenanlagen übertreffen. Daneben muss
es eine Präzisierung der Kostenwälzung geben, mit der
wir sicherstellen, dass sowohl die Privathaushalte als auch
die stromintensiven Industriekunden, die in einem internationalen Standortwettbewerb stehen, nicht über Gebühr
belastet werden. In diesem Zusammenhang haben wir auch
die besondere Situation des schienengebundenen Verkehrs
berücksichtigt, da wir diesen umweltfreundlichen Verkehrsträger unterstützen und nicht belasten wollen.
Insgesamt möchte ich feststellen: Der Gesetzgeber hat
seine Hausaufgaben gemacht. Jetzt erwarten wir, dass die
Wirtschaft ihren Teil der Vereinbarung einlöst. Sie ist aufgefordert, die Vereinbarung nun endgültig zu unterzeichnen und umzusetzen, was sie der Bundesregierung fest zugesagt hat.
({5})
Spätestens zur gesetzlich fixierten Zwischenüberprüfung im Jahr 2004 wird Kassensturz gemacht. Dann wird
sich zeigen, was diese neuartige Kombination aus Selbstverpflichtung und gesetzlicher Förderung wert ist.
Ich möchte diese Gelegenheit auch dazu nutzen, darauf
hinzuweisen, dass dieses KWK-Gesetz in einer guten und
langen Tradition der deutschen Energiepolitik steht. Es
waren die von uns geführten Bundesregierungen, die aus
Volker Jung ({6})
den beiden Ölpreiskrisen in den 70er-Jahren die richtige
Schlussfolgerung gezogen haben, dass Versorgungssicherheit und Verbraucherschutz weder den internationalen Erdölkartellen noch den multinationalen Konzernen
überlassen werden dürfen.
Wir haben damals große Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz unternommen, zu denen
insbesondere auch der Fernwärmeausbau und die KraftWärme-Kopplung zählten. Bundes- und Landesprogramme wurden aufgelegt und Fernwärmevorranggebiete ausgewiesen. Das sind die Grundlagen und Traditionen der
Kraft-Wärme-Kopplung in der öffentlichen Versorgung.
Hier haben Politik und kommunale Wirtschaft gemeinsam
einen ganz erheblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit
und zum Umweltschutz geleistet.
Auch angesichts der stürmischen Übernahmen und Fusionen auf dem deutschen Energiemarkt gilt es, die ordnungs- und industriepolitische Balance zu halten. Es ist
sicher nicht falsch - wie gesagt worden ist -, dass auf den
internationalen Energiemärkten auch deutsche Unternehmen als Global Player auftreten sollen. Die Alternative
hierzu wäre das Modell von Energie Baden-Württemberg,
nämlich der Ausverkauf an ausländische Staatsmonopole in diesem Fall an die Electricité de France.
Dabei sollte aber auch nicht aus den Augen verloren
werden, dass unsere mittelständischen und pluralistischen
Versorgungsstrukturen einen eigenen Wert besitzen, der
sich nicht in Börsenkursen ausdrücken lässt.
({7})
Dieser Wert liegt in ihrem Beitrag zu einem funktionierenden Wettbewerb. Denn Wettbewerb setzt Wettbewerber auch auf der Erzeugungsstufe voraus, die mehr anzubieten haben als den Weiterverkauf des bezogenen
Stroms. Die jüngsten Preisbewegungen sind ein schlagender Beweis dafür.
Schließlich setzt ein funktionierender Markt bei Strom
und Gas stabile Leitungsnetze voraus, die bei uns noch
nicht in Mitleidenschaft gezogen sind. Netze müssen bis
in den letzten Winkel der Republik die gleichen Qualitätsstandards und technischen Ansprüche erfüllen. Anbieter und Kunden müssen gleichermaßen zu transparenten Bedingungen und fairen Preisen bedient werden,
({8})
jedenfalls dann, wenn unter Wettbewerb mehr verstanden
werden soll als nur der Preiskampf um lukrative Sondervertragskunden in Ballungsgebieten, vor allem dann,
wenn die nach wie vor geltende Versorgungsgarantie für
Tarifkunden nicht unter die Räder kommen soll.
({9})
Ich halte die Frage, ob der viel bemühte Shareholdervalue das alleinige oder zentrale Kriterium in unserer
Energieversorgung werden soll, deshalb für in höchstem
Maße erörterungsbedürftig.
({10})
Es ist nicht mehr zu übersehen, dass die Investitionen in
die Netze seit der Liberalisierung bedenklich abnehmen
und die Erzeugungskapazitäten erheblich zurückgefahren
werden. Der Shareholdervalue wird mit empfindlichen
Einbußen nicht nur bei der Beschäftigung, sondern auch
bei der Substanz der Anlagen und der Versorgungssicherheit erkauft.
({11})
Ich frage mich, ob in der Energiewirtschaft Konzerne
das Leitbild sein sollen, denen bei Konjunkturschwierigkeiten selten mehr einfällt als Massenentlassungen und
deren internationale Steuerplanung dazu führt, dass zwar
munter Dividenden, jedoch nur spärlich Steuern fließen.
({12})
Ich bin deshalb davon überzeugt: Dieses Gesetz ist ein
Stück aktiver Standort- und Energiestrukturpolitik für
eine effiziente, verbrauchernahe und umweltverträgliche
Energieversorgung. Das sind die wichtigsten Elemente
unserer Energiepolitik und dafür werden wir uns weiter
einsetzen.
Schönen Dank.
({13})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Herr Kollege Hartmut
Schauerte.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind am
Endpunkt einer unglaublich hektischen, unglaublich
schlecht koordinierten und verzettelten Beratung angekommen.
({0})
Vielleicht ist es gerade deswegen wichtig, auch vonseiten
der CDU/CSU noch einmal einige Grundsätze deutlich zu
machen, bevor wir in die Bewertung einsteigen.
Wir sind uneingeschränkt für eine effiziente, intelligente und wirkungsvolle CO2-Reduzierung; schließlich haben wir an den Entscheidungen auch auf internationaler Ebene von Anfang an maßgeblichen Anteil
gehabt.
({1})
Wir sind der Meinung, dass Kraft-Wärme-Kopplung ein
vernünftiger Beitrag dazu sein kann. Wissenschaftlich
kann man sich lediglich noch darüber unterhalten, wie
viel drin ist; sie ist aber ein wichtiger Beitrag. Das muss
wärmegeführt sein und dann ist das sinnvoll. Wir haben
nur den Eindruck, dass dieses Gesetz die Chancen, die
darin liegen, nicht nutzt und das, was betrieben wird, erheblich verteuert, was die Effizienz verringert.
Volker Jung ({2})
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu dem damit
ja dann hoffentlich beerdigten unglücklichen Vorschaltgesetz machen. Ein so unglückliches Gesetz
({3})
haben wir im Deutschen Bundestag wohl lange nicht
mehr gehabt. Es wird höchste Zeit, dass es beseitigt wird.
Es war von Anfang an verfassungswidrig. Es war nicht
zielführend. Es war eine Vergeudung von Steuermitteln.
({4})
- Aber eine gelungene Abzockerei. - Wir stellen jetzt fest,
dass 55 Prozent der Milliarden, die ausgegeben worden
sind, an drei große kommunale Unternehmen gegangen
sind. Allein die BEWAG hat 255 Millionen bekommen.
Eine Lizenz zum Gelddrucken!
({5})
Das Geld ist ausgegeben worden, ohne dass etwas Vernünftiges damit gemacht worden ist.
({6})
Das war ein erbarmungsloser Griff in die Taschen der
Steuerzahler zugunsten einiger weniger, die unter dem besonderen Schutz der sozialdemokratischen Stadtwerkefraktion gestanden haben.
({7})
Genau da ist das gelandet.
({8})
Eigentlich ist das, was Sie mit dem Gesetz gemacht haben, schadenersatzpflichtig.
Bei dieser Art von Gesetzgebung müssen wir Sie fragen, wie weit Sie die Klientelpolitik noch treiben wollen.
({9})
Der Gesetzgeber erklärt, es gebe ein Problem, um das sich
andere kümmern sollten, er selber habe keine Meinung.
Ist das Gesetz dann verabschiedet, wird der Minister sagen, dass er von dem ganzen Thema nie etwas gehalten
habe; er sei schon mit dem Vorschaltgesetz nicht einverstanden gewesen und sei auch mit diesem Gesetz nicht zufrieden. Da aber das Parlament die Rechtsvorschriften mit
Dritten auskungele, solle es auch zusehen, was daraus
wird. Am Ende wird jeder die Vaterschaft für dieses Gesetz ablehnen, wenn es in der Wirklichkeit gescheitert sein
wird.
({10})
- Auch die Mutterschaft wird dann abgelehnt werden,
Frau Hustedt.
Diese eigenartige Form der Gesetzgebung ist aber normal, wenn man alle Ziele gleichzeitig verfolgen will: Man
will CO2 einsparen, man will die Technologie fördern,
man will die Arbeitsplätze schützen. Aber da geht es
schon los: welche Arbeitsplätze? Die in den neuen Technologien, die in den alten Strukturen oder diejenigen, die
entstehen könnten, wenn unsere Energiepolitik für günstige Energiekosten in Deutschland sorgte? Bei dieser Interessenverflechtung streitet der eine Arbeitsplatz gegen
den anderen. Dasselbe gilt für die Besitzstandswahrung:
Welche Besitzstände wollen Sie wahren, die der Anbieter
der alten Technologien oder die der Anbieter neuer Technologien?
({11})
- Nein, nein.
({12})
- Das ist ein schöner Begriff. Der Wirtschaftsminister hat
das Vorschaltgesetz „Pennerprämie“ genannt.
({13})
- Das ist die Beschreibung des Ergebnisses Ihrer Politik.
Das tut weh, Frau Hustedt.
({14})
Es kam uns teuer zu stehen und ist vor allem nicht zielführend gewesen.
Wir haben festzustellen, dass wir in der Energiepolitik
mittlerweile an Grenzen stoßen, wenn es um die Frage
geht, wie sehr sich die Energiepreise steuerlich noch erhöhen lassen. Der Staat ist beim Benzin mit 70 Prozent dabei,
({15})
beim Strom mit 40 Prozent. Ich erkläre hier, dass die permanente Verteuerung von Energie in Deutschland zu
schwerem Schaden bei Beschäftigung und Wachstum
führt.
({16})
Wir können Sie nur auffordern, diesen Weg nicht weiter
zu beschreiten; denn damit belasten Sie die deutsche Produktion und den deutschen Export und begünstigen den
internationalen Wettbewerb gegen uns. Die immer höher
werdenden Energiepreise stellen eine gefährliche Entwicklung dar.
Nach wie vor gibt es eine Privilegierung öffentlicher
Betreiber, die nicht in Ordnung ist. Auch ist eine Bemessungskategorie eingeführt worden, die nicht passt. Bei
Ausnahmen stellen Sie im Hinblick auf Großunternehmen auf den Umsatz ab. Alle Fachleute haben Ihnen gesagt, dass das keinen Sinn mache. Man kann einen riesigen Umsatz haben, wenn man sehr viel einkauft. Daher
legt man in solchen Fällen die Bruttowertschöpfung zugrunde.
Des Weiteren ist festzustellen, dass all das, was Sie so
hektisch verändern wollen, am Ende nicht passt. Der
Bundesrat hat Ihnen deswegen ja gerade eine Ohrfeige
verpasst und eine Verkürzung der Fristen nicht bewilligt.
Das Gesetz wird also nicht zum geplanten Zeitpunkt in
Kraft treten können. Damit dürften auch Termine für Investitionen durcheinander geraten. Sie können es einfach
nicht.
Welche neuen Technologien wollen Sie fördern? Vor
der Brennstoffzelle zucken Sie immer ein bisschen
zurück. Eine wirkliche Priorisierung von modernen Technologien vermeiden Sie, indem Sie ihnen sofort alte
Technologien an die Seite stellen. Bei diesen Fragen sind
Sie nur noch lobbygesteuert.
({17})
Wer Recht bekommt, hängt davon ab, welcher Produzent
und welcher Verband als Letzter mit Ihnen geredet hat.
Versuchen Sie doch bitte, wieder ordnungspolitisch einwandfrei an solche Fragen heranzugehen.
Marktorientierte Regelungen werden durch staatliche
Regulierungen ersetzt. Wie oft wollen Sie denn den
Minister mittels Verordnungen in den Prozess eingreifen
lassen? Wie wollen Sie denn die von Ihnen immer wieder
beschworene Investitionssicherheit herstellen? Sie drohen stündlich mit Veränderungen auf dem Verordnungswege und sprechen die Ermächtigung aus, je nach Konjunkturverlauf permanent in langfristig angelegte
Investitions- und Energiestrukturentscheidungen einzugreifen. Das ist eine unerträgliche Situation.
Wir können einem solchen Gesetz nicht zustimmen.
Zu unseren Grundsätzen habe ich bereits etwas gesagt.
Kehren wir zurück zu ehrlichen Finanzierungen! Wenn
wir technologische Veränderungen wollen, sind Haushaltslösungen das richtige Wort und nicht der Weg über
Preisgestaltungen. Diese verschönern zwar Ihre Statistik,
weil der Staatsanteil nicht steigt - die Lösung erfolgt nämlich über den Preis -, es hätte aber eine Finanzierung über
den Haushalt stattfinden müssen. Das ist einer unserer
gravierenden Vorwürfe gegen diesen falsch gestrickten
Ansatz, den Sie wieder einmal vorbringen.
Wir befürchten, dass mit diesem Gesetz die ökologischen Ziele nicht erreicht werden, dass es ökonomisch
sehr teuer ist und mit ihm Fehlsteuerungen organisiert
werden, über die wir uns eines Tages verwundert die Augen reiben werden.
({18})
Herzlichen Dank.
({19})
Jetzt spricht die Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schauerte, wenn etwas nicht hektisch war, dann war das
dieser Gesetzgebungsprozess. Wir haben Monate, fast
Jahre diskutiert, und zwar in einem öffentlichen Prozess in
aller Breite und Tiefe mit den gesellschaftlichen Gruppen.
Auch Sie hätten sich jederzeit einklinken können. Deshalb
kann ich nur sagen: Hektisch war es nun wirklich nicht.
({0})
Frau Kollegin
Hustedt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schauerte?
Ich weiß, jetzt kommt die Frage nach der Endphase und
der Tischvorlage. Stellen Sie Ihre Frage, sonst geht das
von meiner Redezeit ab!
Können Sie mir
zustimmen, dass man unter Hektik nicht unbedingt die
Kürze oder Länge der Zeit verstehen muss? Kann man
nicht unter Hektik auch ein ewiges, unerträgliches Hin
und Her verstehen?
Es war ein schwieriger Diskussionsprozess; das habe ich
ja auch gesagt. Das hatte damit zu tun, dass es starke gesellschaftliche Kräfte gab, die dagegen waren. Es gab aber
auch genauso starke Kräfte, die dafür waren. Dann ist es
ein normaler gesellschaftlicher Prozess - er hat sehr viel
mit Demokratie zu tun -,
({0})
dass man sich auf die Suche nach Kompromissen begibt.
({1})
Das, was uns hier vorliegt, ist ein echter, ein fairer Kompromiss. Es ist eine ausgewogene Mischung. Wir betreiben hier Klimaschutz, berücksichtigen aber auch andere
Denkweisen.
({2})
Weil die Debatte so lang und intensiv war, möchte ich
am Anfang der SPD-Fraktion ganz ausdrücklich für die gemeinsame Arbeit danken, die wir geleistet haben. Daneben
möchte ich der Gewerkschaft Verdi, die sich besonders für
zukunftsfähige Arbeitsplätze engagiert hat, danken.
({3})
Ich bin froh, Herr Schauerte, dass Sie zumindest sagen,
dass die Förderung von KWK etwas Sinnvolles ist. Die
FDP ist gegen alles, gegen erneuerbare Energien, gegen
den Klimaschutz usw.
({4})
In den alten Enquete-Kommissionen wurde berechtigterweise gesagt: KWK ist notwendig. Auch im Klimaschutzprogramm von Frau Merkel war die Förderung der
Kraft-Wärme-Kopplung enthalten. Die EU-Kommission
sagt: Die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist neben der Förderung der erneuerbaren Energien etwas absolut Sinnvolles, das für den Klimaschutz substanziell
wichtig ist.
({5})
Wenn Strom erzeugt wird, entsteht Wärme. Es geht darum, diese Wärme sinnvoll, zum Beispiel zum Heizen von
Wohnungen, einzusetzen. Das ist effiziente Ausnutzung.
Wenn man schon fossile Energieträger einsetzt, dürfen sie
nicht verschwendet werden.
Nun kann man in der Tat über das Modell streiten. Aber
ich frage: Wer hat das Zertifikatsmodell verhindert? Das
wäre ein noch wesentlich marktgängigeres Modell gewesen, bei dem sich derjenige, der den KWK-Strom am billigsten anbietet, mit hohen Marktanteilen durchgesetzt
hätte. Ich habe damals, als die Industrie - Eon und andere
Stromkonzerne - gegen das Zertifikatsmodell massiv mobil gemacht hat, durchaus vermisst, Herr Schauerte und
Herr Hirche, dass Sie sich auf unsere Seite gestellt und für
den Zertifikatshandel stark gemacht hätten. Das haben Sie
nicht getan. Sie haben auch jetzt wieder kein Instrument
genannt, mit dem Sie die KWK fördern wollen.
Ich glaube, das Bonusmodell ist nicht das schlechteste.
Sie haben beim Stromeinspeisungsgesetz ein ähnliches
Modell für die Förderung der erneuerbaren Energien gewählt, also kann das Instrument nicht so des Teufels sein,
wie Sie es hier darstellen.
({6})
Ihren Vorwurf der Klientelpolitik weise ich massiv
zurück. Es geht bei diesem Gesetz um ökologische Modernisierung und um sonst gar nichts.
({7})
Wenn wir uns einer Lobby verpflichtet fühlen sollten,
dann sollten das unsere Kinder und Kindeskinder sein, deren Lebensgrundlage wir bewahren wollen.
({8})
Wir müssen das Wärmepotenzial veralteter Fernwärmeanlagen - es besteht die Gefahr, dass an ihrer Stelle
Heizwerke entstehen -, die sowieso früher oder später
vom Netz gehen müssen, nutzen, um damit Strom zu erzeugen. Wir wollen diese Anlagen durch modernste Anlagen ersetzen. Ein sinnvoller Vergleichsmaßstab ist dabei
natürlich ein neues Erdgas-GED-Kraftwerk. Das Mindestinvestitionsvolumen für ein solches Kraftwerk liegt bei
25 Millionen Euro bzw. 50 Millionen DM. Das heißt, wir
erreichen in den nächsten Jahren ein Investitionsvolumen
von 4 bis 5 Milliarden DM.
({9})
Angesichts einer derzeit eher langsamen Wirtschaftsentwicklung lässt sich das durchaus sehen.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist die Förderung
der Kraft-Wärme-Kopplung bis 50 kW - diese Erhöhung
ist etwas Besonderes - und bis 2 MW. Aber auch die
Brennstoffzelle spielt eine Rolle. Herr Schauerte, ich verstehe Sie nicht: Wir haben dafür gesorgt, dass in der Forschung ein Schwerpunkt auf die Förderung der Brennstoffzelle gelegt wird. Die Brennstoffzelle soll mit 5 Cent
pro Kilowattstunde explizit gefördert werden. Ich erhoffe
mir, dass Deutschland als erstes Land in diese neue, moderne Technologie investiert, damit - ähnlich wie bei den
erneuerbaren Energien - Deutschland zum Schaufenster
für die Welt wird und in Deutschland eine Branche mit zukunftsfähigen Arbeitsplätzen aufgebaut wird.
({10})
Die Eigenstromerzeugung der Industrie ist kein Teil
des Gesetzes. Die Industrie selbst hat gesagt: Wir werden
die notwendigen Investitionen tätigen; wir brauchen dafür
keinen Zuschuss. Herr Schauerte, Herr Hirche, die Industrie sagt: Die Investitionen rechnen sich, auch ohne dass
man uns einen Zuschuss gibt. Möchten Sie vor diesem
Hintergrund der Industrie trotzdem Zuschüsse gewähren?
Es ist vielmehr besser, die Industrie erst einmal allein machen zu lassen.
({11})
Es kann gut sein, dass sich in den nächsten Jahren moderne Anlagen in der Industrie aufgrund des Atomausstiegs und normaler Alterungsprozesse - Neuinvestition
steht gegen Neuinvestition - rechnen. Wir werden in einem Monitoring überprüfen, ob das stattfindet oder nicht.
Wenn das nicht der Fall ist, dann werden wir in der Tat
nachbessern müssen und der Industrie einen zusätzlichen
Anreiz schaffen, in diese Anlagen zu investieren.
({12})
Ich möchte eine letzte Bemerkung zu den Kosten und
zu den Belastungen machen. Die Kosten sind deutlich geringer, als im Vorschaltgesetz kalkuliert. Durch unseren
Vorschlag werden die Kosten also verringert. Durch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz und das Kraft-WärmeKopplungsgesetz kommt auf den Bürger eine Belastung
in Höhe von insgesamt ungefähr 0,2 Cent pro Kilowattstunde zu.
({13})
Ich frage Sie wirklich: Sind uns diese 0,2 Cent die Zukunft unserer Kinder nicht wert? Man bedenke, dass wir
eine Zukunftsbranche aufbauen können, die tatsächlich
zukunftsfähige Arbeitsplätze schafft.
({14})
Wenn Sie in diesem Zusammenhang noch die Ökosteuer dazurechnen - sie hat einen viel größeren Anteil -,
dann kann ich Sie nur an Herrn Stoiber verweisen. Herr
Stoiber ist ziemlich schnell zurückgerudert, nachdem er
angekündigt hatte, die Ökosteuer zurückzunehmen.
({15})
Warum? - Weil er genau weiß, dass er dann die Rentenversicherungsbeiträge anheben müsste. Das will er nicht.
Schauen Sie also auf Herrn Stoiber! Herr Stoiber hat deutlich gesagt, dass auch er die Ökosteuer beibehalten will.
Nur, weitere Schritte will er nicht.
({16})
Dieses Gesetz ist glasklar ein ökologisches Gesetz. Es
dient der Förderung der erneuerbaren Energien und - zusammen mit der Energieeinsparverordnung - der Energieeinsparung durch Altbausanierung. Die rot-grüne Koalition hat damit insgesamt eine Energiewende eingeleitet,
die uns auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Energiewirtschaft wirklich ein Stückchen vorangebracht hat. Darauf können wir zusammen stolz sein.
({17})
Nächster Redner ist
der Kollege Walter Hirche für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir hatten in dieser Woche schon mehrfach die Möglichkeit, über das Demokratieverständnis in
diesem Hause zu reden. Ich darf festhalten: Die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses haben am Mittwoch dieser Woche zu Beginn der Sitzung eine Tischvorlage bekommen. Kollege Jung hat, in durchaus freundlichen
Worten - das will ich unterstreichen -, gesagt, dass das die
Vorstellungen der Koalition seien, über die sie schon ausgiebig diskutiert hätten; sie sähen sich außerstande, in dieser Sitzung noch etwas zu ändern, obwohl die Vorstellungen, die von der FDP und der PDS vorgelegt worden
seien, durchaus bedenkenswert seien. Weiter hat er erklärt, dass es nun einmal die Natur eines Kompromisses
sei, dass man nicht alles aufnehmen könne; dem stimme
ich noch zu. Aber einen so genannten gesellschaftlichen
Prozess, wie ihn Frau Hustedt beschrieben hat, außerhalb
des Parlaments und an einem Teil des Parlaments vorbei
ablaufen zu lassen ruiniert die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen, ganz gleich, wer in
der Regierung und wer in der Opposition ist.
({0})
Ich habe deshalb die dringende Bitte: Sie haben doch
sowieso die Mehrheit und können Ihre Vorstellungen
durchsetzen. Aber beachten Sie doch wenigstens im Verfahren, dass die anderen Fraktionen das gleiche Recht haben wie die Interessenverbände, in diesen Dialog einbezogen zu werden. Das ist die Grundlage von Demokratie.
({1})
Eine zweite Bemerkung. Frau Hustedt, ich denke, dass
ganze Haus ist sich darin einig, dass Ziele, wie sie zum
Beispiel der Ministerrat der Europäischen Union beschlossen hat - ich nenne hier zum Beispiel die Verdopplung des Anteils der erneuerbaren Energien oder die Ausweitung des Anteils der Kraft-Wärme-Kopplung -, in
bestimmten Zeiträumen verwirklicht und unterstützt werden müssen. Es besteht aber keine Einigkeit darüber, dass
die Ziele mit dem ökonomischsten der zur Verfügung stehenden Mittel erreicht werden müssen. Es muss für unsere
Volkswirtschaft so preiswert wie möglich sein. Der Weg,
wie Sie das regeln - ob über Steuern oder Abgaben - belastet die Volkswirtschaft und steht in direktem Zusammenhang mit der Zahl der Arbeitslosen, die wir im Augenblick in Deutschland haben.
({2})
Deswegen sind wir der Meinung, dass es richtig ist - ich
spreche für die KWK -, darüber nachzudenken, mit welcher Maßnahme man eine Tonne CO2 zu den geringstmöglichen Kosten vermeiden kann. Wenn das Klimaziel
an oberster Stelle steht, dann darf ich nicht danach fragen,
wie ich das Geld an die Kommunen geben kann, sondern
muss danach fragen, wer in unserer Volkswirtschaft dies
mit KWK zu den geringsten Belastungskosten am
schnellsten verwirklichen kann.
Genau diese Gruppe der KWK-Verwender, die Industrie, schließen Sie aus. Sie akzeptieren zwar, dass dort billiger produziert wird, sagen aber einfach, dass diese Produzenten, weil sie das billiger machen, kein Geld vom
Staat brauchen. Sie geben bewusst Geld an eine Stelle, wo
es unrentabler verwendet wird und wo es die Volkswirtschaft insgesamt mehr kostet.
Hierzu möchte ich noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Ich greife ihn auf, weil Kollege Nooke hier angegriffen worden ist, er sei auf Ostdeutschland fixiert. Frau Kollegin
Pieper aus Sachsen-Anhalt sitzt hier im Raum; deswegen
kann ich konkret darauf eingehen. Es geht um Leuna. Wir haben einen Antrag eingebracht, dass die Industrieparks in
Ostdeutschland, die man mit den allgemeinen öffentlichen
Netzen in Westdeutschland vergleichen kann, die Strom erzeugen und KWK-Anlagen betreiben, die aus der unterschiedlichen Wirtschaftssituation in Ostdeutschland heraus
entstanden sind, in die Förderung einbezogen werden. Das
hat man verweigert. Das ist ein Schlag gegen den wirtschaftlichen Aufbau von Ostdeutschland.
({3})
Ich kann es - das muss ich zugeben - nicht mehr hören,
wenn am Mittwoch dieser Woche Bundestagspräsident
Thierse sagt, wirtschaftlich müssten die Weichen im
Osten neu gestellt werden.
({4})
Wir aber kriegen hier ein Gesetz nach dem anderen vorgelegt, in dem die SPD und die Grünen die Möglichkeiten, Ostdeutschland zu fördern, ausschlagen, ja Ostdeutschland sogar im Stich lassen. Das finde ich, auch
abseits der klimapolitischen Diskussion, nicht in Ordnung. Wer Leuna hängen lässt, der handelt falsch.
({5})
Ich darf Ihnen ausdrücklich sagen: Wenn bei Ihnen das
Interesse für das Klima an oberster Stelle stünde, dann
würden Sie - ich wiederhole das - nicht die Frage nach
Industrie oder Kommunen stellen, sondern würden diejenigen fördern, die mit dem geringstmöglichen Einsatz
das beste Ergebnis erreichen. Deswegen ist das, was Sie
hier konstruieren, falsch. Es ist ein reines Subventionsgesetz in eine Richtung. Das ist nicht in Ordnung. Das ist ein
Gesetz mit einer erheblichen Schwäche.
Ich glaube nicht, dass es richtig war - Herr Jung hat begründet, warum das so gemacht worden ist -, im Laufe der
Beratungen außerhalb des Ausschusses die Vergütungen
pro Kilowattstunde einfach zu erhöhen, nur - das haben
Sie eingeräumt - weil der Topf, den man dafür bereitgestellt hat, in der Zeit, die zur Verfügung steht, sonst nicht
geleert werden könnte.
({6})
Sie hätten nur industrielle Anlagen mit hineinnehmen
müssen. Dann wären die Klimaziele übererfüllt worden.
Ich füge noch etwas hinzu. Ich bin im Gegensatz zu
dem, was Frau Hustedt gesagt hat - sie weiß das ganz genau -, der Meinung, dass wir mit diesem Gesetz auch die
Möglichkeit der Förderung des Neubaus von KWK-Anlagen in bescheidenem Umfang hätten eröffnen können,
ohne dass der Deckel vom Topf geflogen wäre. Wir haben
auch diesen Antrag in den Wirtschaftsausschuss eingebracht. Auch dieser Antrag auf Förderung neuer Anlagen
zur KWK ist vom Tisch gewischt worden. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass es in diesem Zusammenhang kein
Interesse an Klimapolitik und Ökologie gegeben hat.
Vielmehr hat man sich an kommunalen Interessen ausgerichtet.
In gewisser Hinsicht kann ich das sogar verstehen. Wir
haben heute Morgen eine Debatte über die katastrophale
Finanzlage der Kommunen gehabt. Diese ist unbestritten.
({7})
Aber dann muss man nach Möglichkeiten suchen, die Finanzausstattung der Kommunen vom System her zu verändern und nicht mit Gesetzen, die eigentlich dem Klima
und der besseren Nutzung der KWK in Deutschland dienen sollten. Es ist unbestritten, dass wir das wollen. Sie
machen es aber mit den falschen Instrumenten unter Vergeudung von Steuergeldern, statt das optimal auszurichten und an die Arbeitsplätze und die Volkswirtschaft zu
denken.
({8})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Rolf Kutzmutz.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann eine Sache
sehr unterschiedlich sehen. Als Frau Hustedt und Herr
Jung sagten, sie hätten mit diesem Gesetz die Energiewende eingeleitet, war mir eher so, als hätten wir sie zu
Grabe getragen.
Für mich ist schon bemerkenswert, dass bei der Beratung über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung kein
Redner der Bundesregierung hier etwas dazu sagt. In anderen Fällen liegen wortgleiche Gesetzentwürfe vor. Heute ist
das nicht so; heute sprechen nur die Parlamentarier.
({0})
Noch etwas ist für mich bemerkenswert. Nur weil Herr
Kollege Hirche darauf verwiesen hat, dass FDP und PDS
Vorschläge unterbreitet haben, wurde sofort durch den
Raum gerufen: neue Koalition! Ich denke, der größte Fehler, den wir machen, ist, dass wir den Absender betrachten, der etwas vorschlägt,
({1})
und nicht die Wirkung, die man erreichen könnte, wenn
man sich mit dem Inhalt auseinander setzen würde.
({2})
Ich will ganz kurz etwas zu den Entstehungszeiträumen sagen. Nach dem Regierungswechsel passierte faktisch nichts, bis Zehntausende Stadtwerker auf die Straßen
gingen, weil sie Angst um ihre Arbeitsplätze hatten. Dann
wurde ganz schnell ein Schutzgesetz für einen wichtigen,
aber kleinen Teil des KWK-Sektors verabschiedet. Das
war strukturpolitisch durchaus ehrenwert, aber umweltpolitisch fatal. Weil Sie aber damals schon die Korrektur
dieses Mangels im Gesetzentwurf verankerten, stimmten
wir zu. Tatsächlich fand sich für ein Jahr - bis hin zu verbindlichen Kabinettsbeschlüssen - das richtungsweisende
Konzept eines Zertifikatshandelsmodells auf der Grundlage einer langsam steigenden Quote auf der politischen
Agenda.
Dieses Konzept werden Sie allerdings heute mit der
Ablehnung des PDS-Gesetzentwurfes beerdigen. Insofern stimmt es auch nicht, wenn auf dem Deckblatt des
Gesetztentwurfs steht: „Alternativen: Keine“. Es hat
schon welche gegeben; aber wir haben uns nicht darüber
verständigen können. Dieses Konzept wäre nicht nur ungleich wettbewerbskonformer und auch für die Stromverbraucher preiswerter als die jetzt fixierte starre Bonusregelung; vor allem würde Deutschland mit ihr Vorreiter in
der EU werden und könnte dort die Ausgestaltung des so
genannten „emission trading“ zur Umsetzung des KiotoVertrages offensiv betreiben.
Dieser Emissionshandel auf Zertifikatsbasis kommt.
Aber in welcher Form er kommt, kann von Berlin aus nur
ungleich schwerer beeinflusst werden, weil wir keine Referenzen vorzuweisen haben. Dass dies so ist - damit
komme ich wieder auf den Lauf der Dinge zurück -, haben wir einem gegenüber Regierungs- und Parlamentsbeschlüssen aufmüpfigen Wirtschaftsminister und einem
einknickenden Umweltminister zu verdanken.
Im letzten Jahr haben Sie nun an einem nicht nur aus
meiner Sicht schwerfälligen, bürokratischen Modell gebastelt, bei dem nicht Umweltentlastung und der Zuwachs
an zukunftsfähigen Arbeitsplätzen im Mittelpunkt stehen,
sondern allein die Wünsche und Profitvorstellungen von
vier Strommonopolisten und einem Stadtwerkekartell. Ich
gestehe Kollegin Hustedt und Kollegen Jung zu - das will
ich hier ausdrücklich sagen; man konnte in der Öffentlichkeit verfolgen, dass es in der Auseinandersetzung
Schwierigkeiten gegeben hat, die wir auch nicht kleinreden wollen -, dass sie mit ihren Änderungen die ärgsten
Auswüchse des KWK-Verhinderungsgesetzentwurfes aus
dem Hause Müller abgeschnitten haben. Deshalb ist unser
heutiger Änderungsantrag auch nicht mehr der gleiche
wie der vom Mittwoch. Wir reagieren sehr wohl auf Ihre
Vorschläge.
Es geht im Grundsatz - das erkennen wir an - auch um
Emissionenreduktion. Spätestens ab 2006 wird der Weg
wieder frei für andere gesetzliche Instrumente, wenn sie
dann erforderlich sein sollten. Das befürchten wir; denn
nach wie vor verzichten Sie mit Ihrem Gesetz weitgehend
auf die Erschließung neuer KWK-Potenziale, Sie gefährden sogar den Erhalt bestehender industrieller Anlagen.
Herr Kollege Hirche hat darauf Bezug genommen. In unserem Antrag steht, dass man sie unterstützen sollte.
Aber es gibt noch eine Neuheit, die ich ansprechen
möchte. Ich meine § 12 des Gesetzes, nach dem das Gesetz von Ministerien - ich zitiere - „unter Mitwirkung von
Verbänden der deutschen Wirtschaft und Energiewirtschaft“ überprüft wird. Ich glaube, es ist einmalig, dass
wir schon im Gesetzestext - nicht in der Begründung festlegen, dass Verbände und Wirtschaft an der Überprüfung des Gesetzes beteiligt sind. Kollege Nooke ist schon
weg. Er weiß Bescheid über die „führende Rolle“; ich
auch.
({3})
Aber dass das so unverblümt in ein Gesetz hineingeschrieben wird, halte ich für eine Novität.
({4})
Abschließend möchte ich sagen: Sie mögen mit dieser
Änderung vielleicht ehrlicherweise öffentlich machen,
wie dieses Gesetz entstanden ist, aber diese vorsätzliche
Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie kann man
so nicht durchgehen lassen. Wir bieten mit unserem ausführlichen Änderungsantrag eine Chance, das anders zu
machen, auch wenn dadurch vielleicht nur eine zweitbeste Lösung herbeigeführt wird. Das von Ihnen bisher Betriebene können wir aber auf keinen Fall unterstützen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Monika Ganseforth für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Ich bin eine überzeugte Anhängerin der Demokratie. Die heutige Debatte zeigt, wie
wichtig es ist, dass aus einer Regierung eine Opposition
und aus einer Opposition eine Regierung wird, damit man
einmal die andere Seite kennen lernt.
({0})
Was ich heute von der rechten Seite, also denen, die
vorher die Regierung gestellt haben, an Verfahrenskritik
gehört habe, fand ich richtig gut; denn wir haben lange genug unter der Arroganz gelitten, mit der Sie vorgegangen
sind. Es gibt natürlich Prozesse, die man durchlaufen
muss und die wir jetzt kennen lernen. Wir wissen nun,
dass manches nicht so idealtypisch läuft, wie es laufen
sollte. Die Demokratie gibt den Wählerinnen und
Wählern die Möglichkeit, diese beiden Rollen zu vergeben. Ich hoffe, dass Sie noch sehr lange in Ihrer jetzigen
Rolle sind, in der Sie sich über unsere Verfahrensschritte
beschweren können.
({1})
Wir haben gestern in diesem Hause über fünf Anträge
zur Klimapolitik debattiert. Dabei ging es um die Ratifizierung des Kioto-Protokolls. Eine Forderung des
ganzen Hauses war, dass die Einhaltung des nationalen
Klimaschutzzieles gelingt. Dabei bestand großes Einvernehmen, wie es schon Tradition hatte, als wir noch in der
Opposition waren. Bei der Klimapolitik waren wir uns
immer einig.
Deutschland steht in der Pflicht, die CO2-Emissionen
bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent, bezogen auf das
Jahr 1990, zu reduzieren. Das hat der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Jahr 1992 auf der Rio-Konferenz
vor der Weltöffentlichkeit versprochen und in Berlin wiederholt. Als wir an die Regierung kamen, haben wir festgestellt, dass wir, wenn wir so weitermachen, wie Sie es
vorbereitet haben, das Ziel grandios verfehlen. Es muss
also noch viel getan werden.
({2})
In diesem Zusammenhang verabschieden wir heute ein
weiteres Kernstück der Klimapolitik zur Erreichung dieRolf Kutzmutz
ses anspruchsvollen Reduktionszieles, nämlich das
KWK-Gesetz. Dabei geht es nicht um Klientelpolitik, sondern darum, das zugesagte Klimaschutzziel zu erreichen.
Klimaschutz kann ohne Kraft-Wärme-Kopplung nicht erfolgreich sein. Normalerweise werden bei der Stromerzeugung deutlich weniger als 50 Prozent der eingesetzten
Primärenergie genutzt. Wenn man die Wärme aber auskoppelt und nutzt, kann man den Wirkungsgrad ungefähr
verdoppeln. Man kann also eine wesentlich größere Effizienz und damit eine CO2-Reduktion erreichen.
Um einem Vorurteil abzuhelfen, will ich noch einmal
sagen: Kraft-Wärme-Kopplung muss nicht auf dem Energieträger Gas basieren, Wärme kann auch aus Kohlekraftwerken ausgekoppelt werden. So haben wir in meiner Heimatstadt Hannover ein Steinkohlekraftwerk mit
einer Kraft-Wärme-Kopplungsanlage, was damals gegen
den massiven Widerstand der zentralen Energieanbieter
durchgesetzt worden ist.
({3})
Kraft-Wärme-Kopplung muss also nicht unbedingt auf
dem Energieträger Gas basieren; eine mit Gas betriebene
Anlage ist natürlich effizienter, aber im Prinzip handelt es
sich um eine Verbesserung des Wirkungsgrades durch
eine bessere Ausnutzung der eingesetzten Energie.
Auf jeden Fall verlangen aber Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen eine räumliche Nähe zu den Wärmeabnehmern. Insofern handelt es sich um eine dezentrale Energieversorgung, die auf einer anspruchsvollen Technik
basiert und Arbeitsplätze vor Ort schafft. Damit steht
diese Energieform natürlich in Konkurrenz zu importiertem oder in Großkraftwerken erzeugtem Strom. Natürlich
gibt es Grenzen für diese Technik, weil der Wärmebedarf
begrenzt ist. Bei uns kommen etwa 12 Prozent des Stroms
aus Anlagen mit Wärmeauskopplung. Daran, dass es in
anderen Ländern, zum Beispiel in Finnland, Dänemark,
Österreich oder auch in Holland eine deutlich höhere Ausnutzung, nämlich das Zwei- oder Dreifache unserer Ausnutzung gibt, sieht man, dass wir noch lange nicht an der
Grenze sind
({4})
und dass Kraft-Wärme-Kopplung wesentlich stärker genutzt werden könnte, auch um Klimaschutzziele zu erfüllen.
({5})
Leider sieht die Realität unter den Bedingungen des
liberalisierten Strommarktes anders aus: Vorübergehend
sind die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen unökonomisch
geworden. Bei einem Neubau sind Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen durchaus genauso ökonomisch wie andere
Anlagen; zurzeit aber, da Strom nur noch zu kurzfristigen
Grenzkosten angeboten wird, besteht ein enormer Druck
auf Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Wir haben mit dem
Kraft-Wärme-Kopplungs-Vorschaltgesetz versucht, dem
vorzubeugen. Es ist allerdings richtig, dass der Zubau stagniert und Anlagen bereits stillgelegt wurden. Dabei sind
diese durchaus ökonomisch. Es geht darum, die Zeit zu
überbrücken, bis die Energiepreise wieder ein realistisches Niveau erreicht haben und nicht nur die Grenzkosten abdecken.
Aus Klimaschutzgründen, aber auch wegen der
Arbeitsplätze, die mit dieser Technologie verbunden sind,
müssen wir dafür sorgen, dass beim Abbau der Überkapazitäten die Kraft-Wärme-Kopplung nicht unter die Räder kommt. Darum geht es; das haben aber auf der rechten Seite des Hauses viele nicht begriffen. Es geht nicht
um Steuermittel, mit denen irgendwo subventioniert wird,
sondern darum, die Zeit zu überbrücken, bis der Verdrängungswettbewerb auf dem Strommarkt ausgestanden ist. Deswegen haben wir eine degressive und zeitlich
begrenzte Förderung für modernisierte und für bestehende effiziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen vorgesehen. Das ist ein neues Instrument; Sie haben nie mit degressiven Zuwendungen gearbeitet. Ich verstehe nicht,
wie Herr Hirche oder Herr Schauerte von Steuersubvention sprechen können. Hier werden keine Steuergelder
eingesetzt. Das würde Europa auch nicht akzeptieren; das
wäre nicht zulässig.
({6})
- Sie haben von Steuern gesprochen; darüber habe ich
mich auch gewundert.
({7})
Wir wollen aber nicht nur den Bestand schützen, sondern auch den Zubau kleiner, dezentraler Kraft-WärmeKopplungsanlagen mit weniger als 50 kW elektrischer
Leistung fördern. Kleine Blockheizkraftwerke, die bis
zum 31. Dezember 2005 in Dauerbetrieb genommen werden, werden in den ersten zehn Jahren pro eingespeister
Kilowattstunde einen Zuschlag von 5,11 Cent bekommen.
Das ermöglicht diesen Anlagen den Durchbruch auf dem
Markt. Dabei darf man nicht vergessen, dass die kleinen
BHKWs überwiegend den Strom selber nutzen: Aber der
überschüssige Strom, der eingespeist wird, wird über zehn
Jahre mit 5,11 Cent unterstützt. Ich hoffe, dass daraufhin
nun der Durchbruch gelingt und in vielen Kellern von
Mehrfamilienhäusern und anderen Objekten kleine
Blockheizkraftwerke installiert werden. Diese sichern
Arbeitsplätze und erzeugen effiziente Energie. Außerdem
ist die Weiterentwicklung dieser Technologie für den
Standort Deutschland ganz wichtig.
({8})
Sie werden wahrscheinlich mit unserem Gesetz so umgehen, wie wir es von Ihrer Seite gewöhnt sind: Sie behaupten, Sie wollten eine nachhaltige Versorgung und
Klimaschutz, aber immer, wenn es konkret wird, finden
Sie durchsichtige Argumente und sind mit den Maßnahmen nicht einverstanden.
Natürlich sind Wünsche offen geblieben. Natürlich
könnte man das eine oder andere auch anders machen.
Aber kein Gesetz ist vollkommen, auch dieses nicht. Und
das dient Ihnen als Vorwand, es abzulehnen.
({9})
Das war beim Erneuerbare-Energien-Gesetz so, das war
bei der Ökosteuer so, das war bei der Energieeinsparverordnung so, das war beim KWK-Vorschaltgesetz so und
das wird auch beim Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, das
wir heute verabschieden, so sein. Sagen Sie doch nicht,
wenn wir das eine oder andere noch annähmen oder änderten, würden Sie zustimmen. Sie wollen gar nicht zustimmen.
({10})
Die Menschen haben es satt, dass Sie nur kritisieren, dass
Sie aber niemals sagen, was Sie wollen,
({11})
wie Sie eine nachhaltige Energiepolitik gestalten wollen,
wie Ihre Klimaschutzstrategie aussieht. Das sagen Sie
nicht, Sie kritisieren nur.
Wir können uns jedenfalls mit unseren Maßnahmen
zum Klimaschutz sehen lassen. Heute gehen wir einen
weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung.
Schönen Dank.
({12})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Kurt-Dieter Grill für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will gleich
sagen: Der Kollege Walter Hirche hat zwar von Steuersubventionen gesprochen, aber er hat die Verbraucher gemeint. Wir haben begriffen, Frau Kollegin Ganseforth,
dass Sie wirklich keine Steuern einsetzen, sondern dass
Sie den Verbraucher mit zusätzlichen Abgaben belasten.
Damit ist das Ganze richtig gestellt.
Das Zweite ist eine Bemerkung zum Thema Demokratie. Sie haben uns das Ganze am Mittwoch um
8.43 Uhr vorgelegt und in den Ausschüssen erklärt, das sei
wegen des Zieles zu vertreten.
({0})
Am gleichen Tag hat der Bundesrat mit den Stimmen der
SPD-regierten Länder wegen der vollkommen überhasteten Beratung der Vorlagen die Fristverkürzung auf den
1. Februar verweigert. Nun wird das Gesetz doch später
fertig. Der Bundesrat hat uns in unserer Kritik am Verfahren, die wir am Mittwoch vorgebracht haben, eigentlich
bestätigt.
Die Kollegin Hustedt hat hier vorgetragen, wir wollten
keine Förderung. Ich glaube, wir müssen uns einmal darüber unterhalten, dass die Frage der Förderung das eine ist.
Was wir hier massiv kritisieren, ist - das ist das andere - der
Weg, den Sie eingeschlagen haben, ist die Art und Weise,
die Sie gewählt haben. Ich sage Ihnen, da Sie gestern hier
so großartig über den Zertifikatshandel gesprochen haben:
Der von Ihnen eingeschlagene Weg führt zur Blockade des
Zertifikatshandels, weil Sie das Gesetz so langfristig angelegt haben, dass der Zertifikatshandel nicht noch oben drauf
passt. Damit schaffen Sie mittel- und langfristig ein Problem.
({1})
Der Kollege Jung hat eine Reihe von Dingen vorgetragen, von denen ich nur zwei aufgreifen will. Sie haben gesagt: Die Erzeugungskapazitäten gehen zurück. - Das hat
mit dieser Frage überhaupt nichts zu tun.
({2})
Das alles hat auch überhaupt nichts mit Versorgungssicherheit zu tun. Sie waren doch diejenigen, die die Monopolstrukturen mit ihren Überkapazitäten kritisiert haben. Jetzt wird abgebaut und das ist auch wieder falsch.
Was ist denn richtig?
Sie haben weiter von Ballungsgebieten und ländlichen
Räumen gesprochen. Auch diese Begriffe passen auf dieses Gesetz überhaupt nicht. Ich komme auf einen Punkt in
diesem Zusammenhang zurück.
Der Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, stimmt
mit den Grundsätzen der Energiepolitik, die die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage
dargelegt hat, auch nicht im Ansatz überein. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sehen, so denke ich, die Marktwirtschaft als Grundprinzip
des Wettbewerbs bei Strom und Gas. Investitionslenkung
durch den Staat passt nicht für eine Energiewirtschaft, die
sich unter europäischen Wettbewerbsbedingungen bewähren muss.
Staatsferne und langfristig Subventionsfreiheit der
Energiewirtschaft in Deutschland sind die Ziele, die von
der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU postuliert worden sind. Sie entfernen
sich mit jedem Gesetz, das Sie zur Energiewirtschaft vorlegen, von genau diesen Zielen, weil Sie im Prinzip an die
Stelle der Monopole eine staatsinterventionistische Politik setzen.
({3})
Ich denke, dass das für das KWK-Gesetz an vielen Stellen beweisbar ist. Ich möchte dazu einige Bemerkungen
machen.
Ich muss aber noch eines vorweg sagen: Herr Kollege
Kutzmutz, haben Sie hier auf 10 000 von Stadtwerkern
oder Stadtwerken hingewiesen?
({4})
- Ah ja. - Diesbezüglich möchte ich erstens darauf hinweisen, dass es in Deutschland etwa 950 Stadtwerke gibt,
von denen aber nur etwa 50 eine erkleckliche Eigenerzeugungskapazität aufweisen. Insofern, Herr Kollege
Jung, reden wir hier über ein Subventionsgesetz für einen
Teil der Kommunen. Der übrige Teil - wie ich das aus
meinem Land kenne - schreibt Stromeinkäufe aus, um
möglichst niedrige Preise zu haben. Das sind Kommunen,
die nicht in einem Ballungsgebiet, sondern im ländlichen
Raum liegen. Diese müssen genau das bezahlen, was Sie
in das Gesetz hineinschreiben. Bei der Einbringung des
Gesetzes haben Sie selber gesagt: Wir schonen den einen
Teil der Wirtschaft und verteilen die Kosten auf die anderen. - Diese „anderen“ sind aber eben die Kommunen, die
keine Eigenerzeugung haben und daher von Ihrem Gesetz
nicht profitieren können.
({5})
Zweitens. Der KWK-Anteil liegt im Osten bei 30 Prozent und im Westen bei 6 Prozent. Sie lassen diese 30 Prozent im Osten aus, denn diese werden von Ihrem Gesetz
nicht erfasst, da sie allesamt nach 1990 neu gebaut worden sind. Der Osten finanziert also den Westen. Das beste
Beispiel dafür ist Infra-Leuna. Sie sollten sich schämen,
dass Sie ein solches Gesetz auf den Weg bringen!
({6})
Man kann nicht nur die Kraft-Wärme-Kopplung sehen,
sondern muss auch den Zusammenhang zwischen Ökosteuer, Stromsteuer, KWK und EEG sehen. In der wirtschaftspolitischen Debatte beklagen Sie sich über den
Schwund an Kaufkraft. Gleichzeitig stehen Sie in der
Nähe der Gewerkschaften mit hohen Lohnforderungen.
Aber an dieser Stelle sorgen Sie - wenn man alles zusammennimmt - in einer extremen Art und Weise für die Abschöpfung von Kaufkraft, was Sie auf der anderen Seite
als wesentliche Ursache für die zurzeit schlechte wirtschaftliche Situation beklagen. Sie selber schöpfen Kaufkraft ab und nutzen den Verbraucher aus.
Einige Bemerkungen zu dem, was Frau Hustedt vorhin
über die Industrie gesagt hat: Ich habe eine Reihe von
Gesprächen geführt. Es waren sicherlich andere Gespräche als die, die Sie geführt haben. Angesichts dessen,
was mir die Industrieunternehmen zum KWK-Gesetz gesagt haben, ist die Klage nichts anderes gewesen als das,
was Sie als Begründung für Ihr kommunalorientiertes Gesetz vorlegen. Anlagen sind stillgelegt worden. Das wissen Sie doch auch. Ignorieren Sie dies doch nicht.
({7})
In der Industrie sind KWK-Anlagen stillgelegt worden
und Sie haben dafür keinen Finger gerührt, weil Sie wussten, dass das Ganze dann wirklich nicht mehr bezahlbar
wäre und die strukturelle Schwäche Ihres Gesetzentwurfes mehr als deutlich werden würde.
({8})
Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, dass Sie über Forschung, Technik und Innovation reden. 50-kW-Anlagen
können Sie demnächst bei OBI kaufen. Das ist doch
nichts Neues. Im Grunde genommen machen Sie mit der
Förderung dieser 50-kW-Anlagen die Brennstoffzellenentwicklung kaputt.
({9})
Das ist ein Widerspruch in Ihrem Gesetzentwurf. Es gibt
aber noch mehr.
({10})
- Ja, so ist das, wenn man grüne Politik macht.
Ich sage noch einmal: Mit dem Vorschaltgesetz haben
Sie 1 bis 2 Millionen Tonnen CO2 mehr produziert. Sie
werden Ihre Ziele hinsichtlich der Verringerung der CO2Emissionen vielleicht durch die Stilllegung von Kernkraftwerken erreichen, welches bisher Ihre einzige Tat im
Hinblick auf eine emissionsarme Stromproduktion ist.
({11})
Wenn ich alles zusammennehme, die Ausnahmeregelung und die Verbürokratisierung von Energiepolitik, die
mit diesem Gesetz einhergehen, kann ich nur sagen: Ich
halte den nordrhein-westfälischen Bauminister Vesper
von den Grünen für ein besonderes Schmankerl. Dieser
hat es nämlich unter Hinweis auf die nicht verantwortbare
Strompreiserhöhung durch EEG und KWK abgelehnt,
diese Strompreiserhöhung zu bezahlen, weil es das Land
Nordrhein-Westfalen viel zu teuer kommt. Recht hat der
Junge. Er leidet unter Ihrer Politik.
({12})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Jung das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Von den Rednern der Opposition ist viel Falsches gesagt worden. Das kann ich jetzt
nicht mehr aufarbeiten. Mindestens einen Vorwurf darf
man aber nicht hier im Raum stehen lassen, nämlich den,
dass wir die Kraft-Wärme-Kopplung in den neuen Bundesländern diskriminieren und die Anlagen dort, wie es
Herr Grill eben zum Ausdruck gebracht hat, im Regen stehen lassen.
({0})
Wir differenzieren zwischen den Anlagentypen. Einerseits gibt es Anlagen, die vor 1990 gebaut worden sind
- diese befinden sich in erster Linie im Westen und erhalten eine Förderung bis zum Jahre 2004 -, und andererseits
solche, die sich in den neuen Bundesländern befinden. An
denen ist im Übrigen momentan nichts zu modernisieren,
weil sie auf dem neuesten Stand sind. Diese werden bis
zum Jahre 2009, und zwar mit vergleichbaren Sätzen, gefördert. Das heißt, wir haben genau diesen Punkt im Augenmerk. Wir finden dort eine saubere Lösung, die auch
alle Betreiber begrüßen. Insofern muss das hier Gesagte
aus der Welt geräumt werden.
Danke.
({1})
Zur Erwiderung, Herr
Kollege Grill, bitte.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Jung, ich bleibe
bei meiner Auffassung und meiner Analyse dieses Gesetzentwurfes.
({0})
- Dass Ihnen das nicht passt, kann ja sein. Sie werden mir
aber nicht verbieten können, eine eigene Analyse vorzunehmen.
Wenn Sie sich heute nicht für das schämen, was Sie bei
Infra-Leuna getan haben, tun Sie mir schlicht und einfach
Leid. Sie haben in dieser Frage gegen den Osten gehandelt. Ende der Durchsage!
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Kraft-WärmeKopplungsgesetzes in der Ausschussfassung, Drucksachen 14/7024, 14/7086 und 14/8059. Dazu liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir
zuerst abstimmen werden. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 14/8080? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen von CDU/CSU-Fraktion, FDP-Fraktion und
PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion,
FDP-Fraktion und PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Sicherung und zum
Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung,
Drucksache 14/2693. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/8048, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte
Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina
Reiche, Dr. Maria Böhmer, Horst Seehofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Anwendung von Gentests in Medizin und Versicherungen
- Drucksache 14/6640 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kollegin Katherina Reiche für die CDU/CSU-Fraktion. - Ich
bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die den Saal jetzt
verlassen müssen, dies relativ schnell zu tun, damit die
erste Rednerin die entsprechende Aufmerksamkeit erhalten kann.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Herausforderungen, vor die uns die moderne Biomedizin stellt, gehört
auch der Umgang mit genetischen Daten.
Die Erforschung des menschlichen Genoms hat in den
letzten Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Die
Entschlüsselung des menschlichen Erbguts und die daraus resultierende Entwicklung von Gentests können zu
beachtlichen Fortschritten im Bereich der Diagnose, der
Prävention und der Therapie genetisch bedingter Krankheiten führen. Schon heute lassen sich Krankheiten vor
dem Auftreten klinischer Symptome sowie entsprechende
Veranlagungen feststellen. Diese Besonderheit genetischer Untersuchungen eröffnet im Vergleich zu anderen
Analysen die Möglichkeit der präsymptomatischen Medizin.
Während nach einer Studie des Instituts „Hamburger
Forschungsschwerpunkt“ 1996 bundesweit 150 000 Analysen auf biochemischer Basis vorgenommen wurden,
waren es zwei Jahre später bereits 300 000. Immer mehr
Testangebote kommen auf den Markt. Bald wird der Genchip Realität sein.
Bei diesen verschiedenen Testmöglichkeiten unterscheiden wir diagnostische und prädiktive Gentests. Während die Untersuchung mittels eines diagnostischen Gentests der Bestätigung einer bestehenden Diagnose dient,
verstehen wir unter einem prädiktiven Test eine vorhersagende Untersuchung auf das Vorliegen einer Erbgutveränderung. Das heißt, bei einem prädiktiven Gentest
wird ein Gesunder darauf untersucht, ob er die VeranVolker Jung ({0})
lagung für eine bestimmte Erkrankung trägt und mit welcher Wahrscheinlichkeit er erkranken könnte.
Unser Antrag bezieht sich im Folgenden auf die Problematik der prädiktiven Tests. Wir zweifeln in keiner
Weise die neue Qualitätsstufe der modernen medizinischen Analysetechnik mittels diagnostischer Tests an.
Prädiktive Tests sind jedoch von zwei Seiten zu betrachten. Sie bringen auf der einen Seite eine Fülle neuer Diagnosemöglichkeiten. Diese führen zu einem genaueren
Verständnis und damit zu einer genaueren Kenntnis von
Krankheit und Fehlentwicklung. Sie ermöglichen eine
Verbesserung von Krankheitsprävention im Sinne einer
Verhütung oder Verzögerung des Krankheitsausbruchs.
Selbst bei Erberkrankungen oder Entwicklungsstörungen, deren Auftreten durch vorbeugende medizinische
Behandlung nicht verhindert werden kann, bzw. für solche, die nicht behebbar sind und für die es noch keine Therapien gibt, eröffnet eine verbesserte prädiktive genetische Diagnostik betroffenen Personen bzw. Familien die
Möglichkeit, bei Ausschluss oder bei Nachweis einer
schwerwiegenden Störung Entscheidungen über die zukünftige Lebens- und Familienplanung zu treffen. Zudem
wird es mithilfe von prädiktiven Gentests möglich sein,
die Medikamentenverträglichkeit zu verbessern. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass wir uns als CDU/CSUFraktion auch mit dem Thema Pharmakogenetik bereits
auseinander gesetzt haben.
Aber genetische Untersuchungen werfen auf der anderen Seite gewichtige soziale und ethische Fragen auf. Das
Wissen um seine gesundheitliche Zukunft kann einen
Menschen stark belasten. Es ist schwer, mit einer negativen Diagnose umzugehen, wenn man die medizinische
Tragweite nicht überblickt. Dies gilt insbesondere dann,
wenn man das Testergebnis nicht einschätzen kann und
qualifizierte ärztliche und psychologische Betreuung nicht
in Anspruch genommen wird. Es ist zwar schon heute
möglich, Gentests über das Internet zu beziehen. Jedoch
hilft der Test als solcher nicht im Umgang mit der Auswertung der Ergebnisse, die es dann zu analysieren gilt.
Genetische Untersuchungen bergen auch die Gefahr einer zunehmenden Abtreibung von Föten infolge der Feststellung von genetischen Anomalien mittels pränataler Diagnostik. In der Arbeitswelt betreffen die Vorbehalte
insbesondere die Gefahr der Aushöhlung des objektiven Arbeitschutzes und die Gefahren einer Arbeitnehmerselektion
bzw. -diskriminierung. So fragte beispielsweise ein Vertreter der ÖTV 1997 etwas provokant, ob es durch genetische
Untersuchungen bald dazu kommen werde, olympiareife
Belegschaften zusammenzustellen. Auch in der Versicherungswirtschaft stellt sich die Frage, ob Versicherungsinteressenten bei Vorlage eines Gentests noch in den Genuss einer normalen Versicherungsprämie kommen werden.
Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen, dass niemand wegen seiner genetischen Disposition Nachteile beim Abschluss von Versicherungen erfahren muss.
({1})
Wir möchten vielmehr sicherstellen, dass die Möglichkeiten der Gentechnik dem Einzelnen zugute kommen, jedoch nicht durch Dritte zu seinem Nachteil missbraucht
werden. Hierbei bedarf es der Orientierung am „informed
consent“, das heißt dem Recht eines jeden Einzelnen auf
informationelle Selbstbestimmung, der Respektierung des
Gleichheitsgrundsatzes, der Vertraulichkeit, der Schweigepflicht, der Freiwilligkeit und einer umfassenden Aufklärung der Probanden durch qualifizierte Fachärzte.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Achtung der Würde und des Gefühls derjenigen Menschen
Priorität, die von einer genetisch bedingten Erkrankung
oder Disposition betroffen sind. Das Parlament ist deshalb
aufgerufen, beim Umgang mit Gendaten Leitplanken zu
setzen und die Entwicklung in gewünschte Bahnen zu lenken. Der Deutsche Bundestag als Gesetzgebungsorgan
ist auch in dieser Frage aufgefordert, alle Entscheidungen
zur Bio- und Gentechnik selbst zu treffen.
({2})
Im Gegensatz zu Deutschland existieren bereits in vielen europäischen Ländern spezifische Regelungen zur
Anwendung von Gentests. Ich erinnere hier an unsere
österreichischen Nachbarn. Dennoch muss man konstatieren, dass es in Europa keinen einheitlichen Umgang
mit Gendaten gibt. Frankreich, Belgien, Österreich,
Luxemburg und Norwegen haben die Nutzung von Gendaten zu Versicherungszwecken verboten. Das Parlament
in Großbritannien hat jedoch erlaubt, den Test zur Feststellung der tödlichen Krankheit Chorea Huntington anzuerkennen und von Patienten einen entsprechenden Test
zu verlangen. Mittlerweile gibt es im Inselstaat Anträge
auf die Anerkennung weiterer Gentests, die zugelassen
werden sollen.
Seit Jahren wird auch hier darüber diskutiert, möglicherweise relevante genetische Informationen für die
Abschätzung und Minimierung von Risiken zu verwenden. Die CDU/CSU-Fraktion legt Ihnen deshalb heute als
erste Fraktion in diesem Hause einen Antrag zur Anwendung von Gentests in Medizin und Versicherungen vor,
der einen Leitfaden für weitere gesetzliche Regelungen
bilden soll. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass man den
gläsernen Menschen verhindern will, sondern es ist jetzt
notwendig, rechtliche Schritte einzuleiten.
({3})
Ohne Sie provozieren zu wollen, möchte ich Sie, meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, daran erinnern, dass Sie laut Ihrer Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 1998 die Bürgerinnen und
Bürger vor einer möglichen Diskriminierung schützen
wollen. Das ist völlig richtig und das unterstützen wir
auch. In der Koalitionsvereinbarung heißt es:
Wir werden den Schutz der Bürgerinnen und Bürger
vor genetischer Diskriminierung insbesondere im
Bereich der Kranken- und Lebensversicherung gewährleisten.
Dann mal los.
({4})
Schon die 62. Datenschutzkonferenz des Bundes und
der Länder im Oktober vergangenen Jahres forderte den
Deutschen Bundestag auf, genetische Untersuchungen am
Menschen gesetzlich zu regeln. Wir sind dieser Aufforderung nachgekommen und haben in unserem Antrag einen
umfangreichen Maßnahmenkatalog zum Schutz vor Missbrauch von Gendaten aufgestellt. Damit möchten wir sicherstellen, dass humangenetische Untersuchungen weder
unmittelbar noch mittelbar erzwungen werden dürfen.
Das Recht auf Nichtwissen von genetischen Daten
schließt ein, dass weder Krankenversicherungen noch Lebensversicherungen vor dem Abschluss sowie während
der Dauer eines Vertrages die Durchführung eines Gentests verlangen oder verwerten dürfen.
({5})
Jedem Menschen muss es freigestellt bleiben, ob und
welchen Tests er sich unterzieht. Ebenso muss die Gefahr
ausgeschlossen werden, dass Nutzer aus Angst vor einer
möglichen Diskriminierung auf die Durchführung eines
vom Arzt veranlassten medizinisch indizierten Gentests
verzichten bzw. einen solchen anonym und ohne ärztliche
Beratung vornehmen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal
unterstreichen, dass Gentests und die entsprechende Beratung in die Hand von Fachärzten gehören und nur
durch sie bzw. von entsprechend zugelassenen und qualifizierten Stellen durchgeführt werden dürfen.
({6})
Mittlerweile werden von den genetischen Laboren in
Deutschland circa 200 bis 300 Gentests angeboten. Dem
stehen allerdings nur 160 ausgebildete Fachärzte gegenüber. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik
geht von einem bundesweiten Bedarf von mittelfristig
400 Fachärzten aus.
Wir wollen auch, dass prädiktive Gentests im Rahmen
von medizinischen Eignungsuntersuchungen weder vor
dem Abschluss eines Arbeitsvertrages noch während der
Dauer eines bestehenden Arbeitsverhältnisses verlangt,
angenommen oder in irgendeiner Form verwertet werden
dürfen. Eine Ausnahme könnte für die Fälle gelten, in denen mithilfe von prädiktiven Tests der Ausbruch einer
Krankheit prognostiziert wird, durch die der Arbeitnehmer schlagartig funktionsunfähig wird und der plötzliche
Ausfall am vorgesehenen Arbeitsplatz eine Gefährdung
Dritter bedeuten würde. Grundsätzlich sind jedoch Regelungen notwendig, die die Freiwilligkeit und Vertraulichkeit von Gentests garantieren und dem Schutz der Arbeitnehmer dienen.
({7})
Unser Antrag berücksichtigt zudem die Forderung des
Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Joachim Jacob,
unerlaubte Gentests unter Strafe zu stellen. Die Bundesregierung ist nun aufgefordert, auf der Grundlage dieser
Eckpunkte einen entsprechenden Gesetzentwurf in den
Deutschen Bundestag einzubringen.
Vielen Dank.
({8})
Der nächste Redner ist
der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, dass
sich die CDU/CSU-Fraktion Gedanken gemacht hat und
ein Papier in den Deutschen Bundestag einbringt, in dem
sie uns ihre Vorstellungen darlegt.
({0})
Aber die CDU/CSU-Fraktion ist nicht die erste Fraktion, die sich Gedanken macht, Frau Reiche.
({1})
Das ganze Haus hat sich bereits zu diesem Thema Gedanken gemacht. Sie wissen, dass es eine Enquete-Kommission gibt, in der alle Fraktionen mitarbeiten, und dass
das Thema des Schutzes von genetischen Daten eines der
wichtigsten Themen ist, das in der Kommission behandelt
wird. Die Enquete-Kommission hat kürzlich ihren Teilbericht zu diesem Thema beschlossen. Er wird noch vor
der Sommerpause hier debattiert werden. Er liegt derzeit
als Material vor und ich habe mit Freude festgestellt, dass
Sie diesen Bericht als Steinbruch für Ihre Vorlage benutzt
haben. Darin gibt es wenig Widersprüche. Allerdings haben Sie die einzelnen Punkte und Ergebnisse bisher unvollständig eingearbeitet. Das kann man noch besser machen. Das wollen wir auch.
({2})
Ich finde es schön, dass wir vom ganzen Hause
Rückenwind bekommen; denn wir müssen ein Gentestgesetz auf den Weg bringen. Wir sollten uns bemühen,
zumindest die Dinge, die wir noch schaffen können, in
Angriff zu nehmen. Die Themen „Gendaten“ und „Schutz
von Gendaten“ sind sehr umfangreich. Heute diskutieren
wir nur über einen Teilbereich, nämlich den der medizinischen Daten. Schon hier gibt es unterschiedliche
Anwendungsbereiche. Im Bereich der Reproduktionsmedizin müssen die offenen Fragen der Präimplantationsdiagnostik - das haben wir neulich in der Anhörung schon
getan - mit den Fragen der Gentests verknüpft werden.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass es inzwischen Gentests gibt, mit deren Hilfe sich im Rahmen eines einzigen
Laboreinsatzes viele Tausend genetische Unterschiede
beim Menschen feststellen lassen. Wir haben auf Island
eine Halle voll mit Maschinen gesehen, mit denen versucht wird, das Genom der Isländer zu analysieren. Mit einem Mikrochip können 6 000 bis 8 000 unterschiedliche
Merkmale automatisiert ausgewertet werden. Solche
Tests kann man natürlich auch bei Embryonen durchführen, bevor sie eingepflanzt werden. Das zeigt die
Brisanz dieses Themas.
Was sind eigentlich genetische Daten? Genetische
Daten sind Aussagen über körperliche Unterschiede von
Menschen. Damit ist eine neue Nacktheit entdeckt worden; denn die genetischen Daten liefern viel tiefer gehende Aussagen über einen Menschen als zum Beispiel
ein Foto. Bedenken Sie, wie hoch schon - und zwar zu
Recht - die rechtlichen Hürden für die Veröffentlichung
von Fotos sind und wie sehr das Recht am eigenen Foto
geschützt ist! Die genetischen Daten sind noch viel schützenswerter, weil es sich um intime Daten handelt, die
nicht nur für die Person, die genetisch untersucht worden
ist, wichtig sind. Vielmehr lassen diese Daten auch eine
Beurteilung der Eltern und der Kinder dieser Person zu;
denn diese Daten sind vererbbar. Daher sind genetische
Daten besonders schützenswert. All das müssen wir bei
einer gesetzlichen Regelung berücksichtigen.
Es stellen sich in diesem Zusammenhang aber folgende Fragen: Muss eine gesetzliche Regelung den
medizinischen Bereich, die Humangenetik bzw. die Neonatologie, umfassen oder reicht eine entsprechende
Regelung für den Versicherungs- und Arbeitsbereich?
Sie sehen, wie vielfältig die Fragen sind. Das Ressort
Arbeit und Soziales, in dessen Zuständigkeitsbereich der
Arbeitsschutz fällt, muss die im Zusammenhang mit der
Gentechnik erworbenen Kenntnisse in die bestehenden
Regelungen einarbeiten. Das ist ein eigenes großes Arbeitsgebiet.
Im Bereich der medizinischen Diagnostik muss bei der
Marktzulassung von Tests darauf geachtet werden, dass
die Kriterien, die es bereits für bestehende medizinische
Tests gibt, entsprechend angepasst werden. Wir brauchen
Gremien, die entscheiden, ob es sich um einen rezeptpflichtigen Test, der nur vom Arzt durchgeführt werden
darf, oder ob es sich um einen Test handelt, der nur von
ganz speziellen und auf ihre Qualifikation hin geprüften
Instituten in Einzelfällen durchgeführt werden darf, unter
welchen Bedingungen Tests durchgeführt werden dürfen
und welche Beratungsmaßnahmen getroffen werden müssen. Es müssen also allein im medizinischen Bereich sehr
viele Abgrenzungen vorgenommen werden.
Wir haben schon oft über die Bedeutung von genetischen Daten im Zusammenhang mit der inneren Sicherheit diskutiert. Auch hier geht die Entwicklung weiter. Möglicherweise muss gesetzlich nachgebessert
werden, um den Schutz der genetischen Daten sicherzustellen.
Mein kleiner Aufriss ist nicht vollständig. Der Bericht
der Enquete-Kommission ist vollständig und bietet eine
gute Übersicht. Wenn der Bericht diesem Hause vorliegt,
werden wir über das Thema der genetischen Daten und
ihres Schutzes erneut debattieren. Ich denke, dass sich das
ganze Haus der Problematik und seiner Verantwortung
bewusst ist.
Wir werden noch in diesem Jahr versuchen - das kann
ich zumindest für meine Fraktion versprechen; es gibt
aber auch entsprechende Signale aus der Regierung -,
Vorarbeiten im Bereich des BMG - es hat bereits einen
Gesetzentwurf vorgelegt - und des Justizministeriums
- hier geht es vor allen Dingen um das Versicherungswesen - zu leisten, die in einen Gesetzentwurf münden werden. Ob ein solcher Gesetzentwurf noch in diesem Jahr
vorgelegt werden kann, hängt davon ab, wie schnell wir
das Ganze gemeinsam über die parlamentarischen Hürden
bringen.
Ich bedanke mich jedenfalls bei allen Fraktionen für
die Wachsamkeit und für den Kooperationswillen, der
deutlich zu erkennen ist.
Vielen Dank.
({3})
Für die FDP-Fraktion
spricht der Kollege Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich möchte zunächst einmal meiner Freude
Ausdruck geben, dass ich vor einem rein weiblichen Präsidium reden darf. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen für
die Art und Weise, wie wir hier im Parlament miteinander
umgehen.
Solange wir hier oben
keine Gentests über uns ergehen lassen müssen, ist das in
Ordnung.
({0})
Wir sind uns einig, Frau Präsidentin, dass wir an dieser Stelle enge Grenzen ziehen wollen.
Nach dem 11. September ist vieles in unserem Land
anders geworden. Auch der Datenschutz ist in eine
Schieflage geraten. In seinen Sicherheitspaketen hat
Innenminister Schily vom Schutz persönlicher Daten in
manchem Bereich mehr preisgegeben, als uns lieb war.
Datenschutz darf aber nicht zur Verfügungsmasse aktueller politischer Tagesereignisse werden, welche Dimensionen sie auch haben mögen.
({0})
Das gilt für die uns geläufigen Datenerhebungen, Herr
Tauss. Das gilt aber noch viel mehr für genetische Daten.
({1})
Sie müssen mit noch größerer Sensibilität behandelt werden. In diesem Punkt sind wir uns alle einig.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns heute auf der
Grundlage des CDU/CSU-Antrages mit diesem Zukunftsthema befassen. Das individuelle genetische Profil,
das zum Beispiel durch DNA-Chips entwickelt werden
kann, kann zu einem persönlichen Schicksal werden. Kollege Wodarg hat schon auf die Familienbezüge und auf die
Probleme hingewiesen, die daraus entstehen können.
Wir müssen also die Frage beantworten, wie wir Stigmatisierung, unter Umständen sogar Diskriminierung,
aufgrund bestimmter individueller genetischer Risiken
vermeiden können und wie wir auf der anderen Seite dafür
sorgen können, die Pharmakogenomik und individuelle
genetische Diagnostik zu einem Konzept neuartiger, auf
das persönliche Profil des Patienten zugeschnittener, verbesserter Arzneimitteltherapie zu verbinden. Ob dazu ein
Gentechnikgesetz, wie von der Union gefordert, der richtige Lösungsweg ist, möchte ich heute nicht abschließend
bewerten. Zudem stellt sich die Frage, wie tief greifend es
sein müsste. Die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnik“ hatte vor einigen Jahren davon
noch Abstand genommen. Zahlreiche von Bundesregierung und Landesregierungen eingesetzte Kommissionen
haben die Herstellung von Rahmenbedingungen zur Gewährleistung individueller, informierter und autonomer
Entscheidungen für oder gegen die Durchführung genetischer Diagnostik betont.
Für die FDP ist vor allem eines wichtig - das kommt
im vorliegenden Antrag nicht so deutlich zum Ausdruck,
wie wir das für wünschenswert halten, Frau Kollegin
Reiche -: Für die Durchführung jeder Art von Gentests
muss die Beratung unabdingbare Voraussetzung sein.
Ergebnisse solcher Gentests können, wie vorher schon
einmal betont, schicksalhaft sein. Deswegen muss jeder
Bürger vor der Einwilligung über die möglichen Implikationen und gegebenenfalls schwierigen Situtationen nach
einem Gentest gründlich aufgeklärt sein.
({2})
Das Recht auf Nichtwissen ist ein hohes Gut, das wir
nicht antasten dürfen. Deshalb begrüßen wir auch die
Selbstverpflichtung der Versicherungswirtschaft, zunächst bis zum Jahr 2006 die Finger von jeglicher Art von
Gentests zu lassen. Das ist ein gutes Beispiel; die Arbeitgeber sollten diesem Beispiel folgen. Dann haben wir genug Zeit, die rasante Entwicklung der Gentechnik in Ruhe
zu verfolgen und einzuschätzen. Ob ein Gentechnikgesetz
nach dem Muster Österreichs oder der Schweiz erarbeitet
werden soll, wird sich dann noch zeigen.
Dieser Gesetzentwurf muss sicher viele Elemente aus
Ihrem vorliegenden Antrag enthalten, Frau Kollegin
Reiche. Für die FDP sollen - noch einmal zusammengefasst - unter anderem folgende Prinzipien neben der
herausragenden Bedeutung der Beratung zur Geltung
kommen: Die Nutzung von Gendiagnostik sollte auf medizinische Zwecke beschränkt sein. Auf jeden Fall sollte
der Arztvorbehalt bzw. eine fachärztliche Qualifikation
gewährleistet sein. Aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt sich, dass die Weitergabe der Daten nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Einzelnen erfolgen darf.
Außerdem muss die Qualitätssicherung von Beratung und
Diagnose durch staatliche Zulassung der Einrichtungen
sichergestellt sein.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen,
was die Diskussion der ethischen Fragen betrifft, die wir
in der nächsten Woche in diesem Hause debattieren. Ich
halte es für nicht in Ordnung, dass in verschiedenen Gremien die gleichen Fragen diskutiert werden. Außerhalb
des Parlamentes geschieht dies im Nationalen Ethikrat,
der vom Bundeskanzler einberufen worden ist. Wir als
Deutscher Bundestag sollten darauf achten, dass die ethischen Fragen, die die Bevölkerung betreffen, hier im
Bundestag diskutiert, beraten und entschieden werden
und dass keine Nebengremien wie der Nationale Ethikrat
die Diskussion bestimmen, die wir im Parlament anders
führen würden.
Danke.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen!
Herr Kollege Parr, ich will nicht sagen, dass sich mein
Beitrag nun erübrigt hat - wahrlich nicht -, aber in der Tat
gehe ich mit Ihren Ausführungen im Wesentlichen konform.
Die Tatsache, dass es neue diagnostische Möglichkeiten gibt, die die genetische Beschaffenheit eines Menschen entschlüsseln, bedeutet nicht, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland gänzlich neue gesetzliche
Rahmensetzungen brauchen, um den Schutz vor Diskriminierung und um eine sachgerechte medizinische Anwendung zu gewährleisten. Dennoch bin ich der Auffassung, dass es richtig und wichtig ist, uns im Parlament
intensiv damit zu befassen, insbesondere deshalb, um der
Bevölkerung die Sicherheit zu geben, dass wir alles tun,
um Missbrauchspotenziale zu vermeiden.
Welche Kriterien sind dafür wichtig? Am meisten beschäftigt die Menschen die Sorge, dass das Wissen, das im
Rahmen der medizinischen Diagnostik erworben wird, an
Versicherungen oder Arbeitgeber weitergegeben werden
könnte und sie aufgrund dieses Wissens dann Diskriminierungen ausgesetzt sind. Wenn wir als Gesetzgeber uns
in der Frage des Regelungsbedarfs orientieren, dann kommen wir zu der Tatsache, dass das Diskriminierungsverbot
im Grundgesetz steht. Es ist also sehr wichtig, dass wir
auf Folgendes hinweisen: Selbst genetisch bedingte Behinderungen dürfen im Versicherungsrecht kein Kriterium
sein, das zu Benachteiligungen führt. Das ist grundlegend.
({0})
Das sind Orientierungen, die den Arbeitgebern bekannt
sind. Ich als Frau möchte betonen: Wir haben eine gute
Rechtssicherheit erreicht in der Hinsicht, dass von Arbeitgebern die Überprüfung der Frage, ob eine Schwangerschaft vorliegt, nicht verlangt werden darf. Nicht anders sollte es sich mit Gentests verhalten. Es gilt also, das
neue Problem in den hochrangigen Schutz einzureihen,
den wir in vergleichbaren Fragen schon haben. Man muss
nicht immer alles neu machen; unter Umständen muss
man es allerdings vervollkommnen.
Sehr wichtig ist - das wird oft vergessen -, dass die
gesetzliche Krankenversicherung für die Patienten den
maximalen Schutz bietet, den ein Versicherungssystem
überhaupt geben kann, weil es völlig irrelevant ist, welche
genetisch bedingte oder nach prädiktiven Tests zu erwartende Erkrankung eintritt. Durch das Sachleistungsprinzip und den Ausschluss von Versicherungspolicen als
Grundlage der Versicherung ist eine Diskriminierung innerhalb der GKV für die Versicherungsgeber nicht nur finanziell völlig unattraktiv; sie ist auch von der Sache her
nicht möglich. Daher ist dort, wo 90 Prozent der Bevölkerung versichert sind, der größte Schutz vorhanden.
({1})
An diesem Schutzniveau müssen sich auch die privaten
Krankenversicherungsträger orientieren, um keine Benachteiligung von privat Versicherten zu realisieren.
Bei der privaten Versicherungswirtschaft - sie hat
sich einer Selbstverpflichtung unterworfen; das würde ich
niemals als Freikauf von nötig werdenden Gesetzen betrachten ({2})
erstaunt mich - das ist eigentlich mehr ein logisches, ein
intellektuelles Problem -, dass man überhaupt auf die Idee
kommt, es könnte sinnvoll sein, durch ein Screening oder
durch die Offenbarung der genetischen Disposition eines
Menschen Kenntnisse zu erlangen. Die Tatsache, dass
Menschen um ihre genetische Disposition wissen, ändert
ja nichts daran, dass die Krankheit eintritt; sie träte auch
ein, wenn sie nicht um diese Disposition wüssten. An dem
Versicherungsumfang und dem Eintritt des Versicherungsfalls ändert sich also nichts. Was ist nun das ökonomische Interesse privater Versicherungsträger, wenn sie
doch Diskriminierung und Benachteiligung von genetischer Andersartigkeit ausschließen wollen? Wie wollen
sie die Versicherungspolice anders berechnen, ohne diskriminierend zu sein?
({3})
Die Tatsache, dass Menschen genetisch verschieden sind
und dass irgendwann eine Krankheit eintritt, ändert sich
doch nicht dadurch, dass man die genetische Disposition
kennt. Interessant ist das Wissen dann, wenn nach solchen
prädiktiven Tests für die betreffende Person Primär- oder
Sekundärprävention im Hinblick auf den Eintritt der
Krankheit hilfreich ist.
Gerade dies verweist darauf, dass wir Gentests ausschließlich im Rahmen des ärztlichen Behandlungsauftrages zulassen dürfen. Nur dort ist die Verschwiegenheit
gewahrt, nur dort kann der „informed consent“ überhaupt
hergestellt werden und nur dort ist ein Regelwerk vorhanden, um die iatrogenen Schäden zu begrenzen und zu vermeiden, die durch eine unsachgerechte Diagnostik bei der
Patientin bzw. beim Patienten ausgelöst werden.
Niemals dürfen Gentests frei verkäufliche Waren sein.
Niemals darf man Gentests zu einem weiteren Marktsegment im ärztlichen Sektor machen. Denn aussagekräftige Gentests offenbaren nicht nur die genetische Disposition der getesteten Person, sondern greifen zugleich tief
in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
der genetisch Verwandten ein. Wegen dieses Selbstbestimmungsrechtes kommt es gerade bei der Gendiagnostik unausweichlich zu einem Grundrechtekonflikt
unter genetisch verwandten Menschen. Ihr Recht auf Wissen müssen wir als Gesetzgeber genauso wahren wie ihr
Recht auf Nichtwissen.
Dies alles - damit möchte ich schließen - lässt sich
nach meinem Dafürhalten im bestehenden Regelwerk des
Gesundheitswesens am besten sachgerecht unterbringen.
Daher bin ich sehr daran interessiert, dass wir in dieser
Legislaturperiode mithilfe der Enquete-Kommission zu
einem Gesetzgebungsverfahren kommen. Verfolgt man
die von mir eben verfolgte Intention, dürften bei der
Schaffung neuer rechtlicher Vorschriften die Probleme im
Arbeits- und Versicherungsrecht eher als die Probleme im
medizinischen Bereich vernachlässigt werden können.
Ich danke Ihnen.
({4})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Angela Marquardt für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Kurz nach der Bekanntgabe der so
genannten Humangenomentschlüsselung im Sommer
2000 überschlugen sich die Presseerklärungen und es
hieß, Rot-Grün werde Gentests von Versicherungen verbieten. Auch Frau Ministerin Bulmahn ließ sich damals
mit dem Satz zitieren, die Politik könne nicht zulassen,
dass Menschen aufgrund von Erbanlagen benachteiligt
würden.
Ich habe jetzt zur Kenntnis genommen, dass es vor der
Sommerpause hierzu eine Vorlage bzw. Diskussionen geben soll. Bisher ist aber nichts passiert, obwohl es Diskussionsgrundlagen aus dem Büro für Technikfolgenabschätzung gibt und der Ethikbeirat ebenso wie die
Enquete-Kommission hierfür Diskussionsgrundlagen geliefert haben. Insofern halte ich den Vorstoß der
CDU/CSU und auch das Anliegen des vorliegenden Antrags für richtig.
Ich teile die Auffassung, dass Gentests grundsätzlich
an die Zustimmung des Betroffenen zu binden seien und
dass deren Einsatz sowie die Verwendung ihrer Ergebnisse in bestimmten Bereichen auszuschließen seien. Wer
die Diskriminierung von Menschen verhindern will, darf
keine Lücken lassen.
({0})
Daher bin ich der Überzeugung, dass in der Arbeitswelt
und bei Versicherungen Gentests umfassend verboten
werden müssen. Eine Selbstverpflichtung halte ich in diesem Bereich für nicht ausreichend. Hierauf hat Frau
Knoche zu Recht hingewiesen.
({1})
So richtig der Grundsatz ist, dass es eine freiwillige Zustimmung zu Gentests geben muss, wird dies allein die
flächendeckende Ausbreitung von Gentests nicht verhindern. Letztlich wird dadurch auch keine Diskriminierung
verhindert. Zu erinnern ist hier an die Durchsetzung der
pränatalen Diagnostik seit den 70er-Jahren. Auch sie war
freiwillig, stellte eine Sonderleistung dar und war anfangs
auf so genannte Risikofrauen beschränkt. Heute ist sie im
Grunde genommen eine Regelleistung geworden: ein nahezu flächendeckendes Screening mit einer strukturell eugenischen Folgewirkung. Dennoch erklärt die Humangenetik, sie habe damit nichts zu tun, und macht die
individuellen Wünsche von Frauen oder Paaren verantwortlich.
Der Humangenetik die Hoheit über Beratung und
Durchführung genetischer Tests zu überlassen ist falsch.
Nach meinem Dafürhalten müsste ein wirklich unabhängiges Beratungsnetz aufgebaut werden; denn es bleibt
das grundlegende Problem der medizinischen Genetik,
dass sie sich ihre eigene Nachfrage schafft.
Durch die so genannte Entdeckung immer neuer Genkorrelationen mit bestimmten Erkrankungen oder Behinderungen gelten immer mehr Menschen als Risikopersonen. Dies wird einen Andrang auf Gentests auslösen. Es
gibt unzählige Gene, die gerade mit Krebserkrankungen
in Verbindung gebracht werden. Hier, glaube ich, offenbaren sich auch die Gefahren der Chip-Technologie: Sie
wird nicht nur zu einer Datenflut führen, sondern auch das
Aufspüren kleinster Auffälligkeiten begünstigen. Damit
werden unzählige neue Risikogruppen geschaffen und das
sollte nicht unser Anliegen sein.
({2})
Um eine sinnvolle Diskussion zum Thema Gentests zu
führen, muss es erstens einen Stopp der massiven Förderung der Entwicklung von Gendiagnostik über den Haushalt des BMBF geben und sollten wir zweitens ein Moratorium für Gentests durchsetzen; denn nur so kann man in
meinen Augen die unkontrollierte Dynamik des Diagnostikmarktes anhalten.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/6640 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Burchardt, Petra Bierwirth, Hubertus Heil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Winfried Hermann, Franziska
Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nachhaltige Wasserwirtschaft in Deutschland
- Drucksache 14/7177 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Kolleginnen und Kollegen Ulla Burchardt,
Marlene Rupprecht, Max Straubinger, Winfried
Hermann, Walter Hirche sowie Eva Bulling-Schröter ha-
ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich höre Zustimmung im ganzen Saal.
Deshalb kommen wir gleich zur Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7177 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hierzu gibt es keinen
Widerspruch im Saal. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 23:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Birgit Homburger, Horst Friedrich
({2}), Hans-Michael Goldmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Übergangsregelung für das neue Führerschein-
recht
- Drucksachen 14/2370, 14/5558 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Streb-Hesse
Die Kolleginnen und Kollegen Rita Streb-Hesse,
Wolfgang Börnsen, Helmut Wilhelm, Horst Friedrich so-
wie Winfried Wolf haben ihre Reden ebenfalls zu Proto-
koll gegeben.2) - Auch hier stelle ich Freude im gesamten
Haus fest.
Wir kommen deshalb jetzt zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/5558 zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Übergangsregelung für das neue Führerscheinrecht“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2370 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Heidi Lippmann, Carsten Hübner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak
- Drucksachen 14/4709, 14/5716 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Moosbauer
Karl Lamers
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Aussprache ist eröffnet. Ich erteile dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich kann den Unmut darüber
verstehen, am Freitag noch Debatten führen zu müssen,
aber ich bitte zu akzeptieren, dass es immer die kleinen
Fraktionen trifft, wenn die Reden am Nachmittag zu Protokoll gegeben werden. Aber ich halte es nicht für den
Sinn parlamentarischer Debatten, wenn sich der Umgang
miteinander auf das Austauschen schriftlicher Noten beschränkt,
({0})
und deswegen rede ich zu diesem Punkt. Ich wusste, dass
die meisten Reden zu Protokoll gegeben werden, aber ich
meine, zu Fragen der Demokratie muss man mindestens
einen Satz sagen.
Wir sollten uns darüber klar werden, dass man die
Frage der Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak
natürlich unter Berücksichtigung der Umfeldbedingungen debattieren muss: die Explosion von Gewalt und Gegengewalt im Nahen Osten, die brüchige Grenze zwischen Bürgerkrieg und Krieg, die beständige Drohung der
USA, möglicherweise eine Militäraktion, einen Krieg gegen den Irak zu führen. Heute war erneut in der Presse zu
lesen, dass sich Präsident Bush einen Krieg gegen den
Irak als eine mögliche Option offen hält. Das muss man
vor dem Hintergrund der Massierung von Truppen in der
Region - dazu gehört auch die Stationierung deutscher
ABC-Spürpanzer in Kuwait - sehen. All das macht die
Region zu einem Pulverfass. Gerade deshalb muss man
jetzt über Deeskalation, Stabilität und Humanität reden.
Humanität bleibt unser Anliegen.
({1})
Ich möchte uns die eigentlichen Ziele der Sanktionen
in Erinnerung rufen - auch wenn ich sie nie geteilt und immer für falsch gehalten habe, glaube ich, dass es gut ist,
sich an diesen Zielen zu messen -: Durch die Sanktionen
sollte verhindert werden, dass der Irak erneut eine militärische Stärke erreicht; es sollte verhindert werden, dass
er andere bedrohen kann; es sollte verhindert werden, dass
er Zugang zu Massenvernichtungswaffen bekommt; es
sollte erreicht werden, dass die kuwaitischen Gefangenen
- die 600 Verschleppten - freigelassen werden und dass
der Irak akzeptiert, dass die Souveränität Kuwaits nicht
infrage gestellt werden darf.
Indirekt - das war aber nie Gegenstand der Resolution haben viele gehofft - auch ich habe diese Hoffnung -,
dass die blutige Unterdrückung des irakischen Volkes
durch Saddam Hussein beendet werden kann und dass
dort ein Machtwechsel möglich wird. Deswegen meine
Feststellung: Die Sanktionen haben genau diese Ziele
nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie waren kontraproduktiv.
({2})
Man kann heute feststellen - das behauptet jeder -,
dass der Irak militärisch nicht schwächer geworden ist.
Ich frage mich immer wieder - diese Fragen werden wir
beantworten müssen -: Warum greifen alle Sanktionen
gegen die zivile Bevölkerung? Warum ist es nicht möglich, den Zustrom von Waffen in solche Länder endgültig
zu unterbinden?
({3})
Wer hat ein Interesse daran, mit solchen Ländern Waffenhandel zu betreiben?
Der Einfluss des Hussein-Regimes ist durch die Sanktionen nicht kleiner geworden, durch die Nahostauseinandersetzung erst recht nicht. Man kann sagen, dass Saddam
Hussein - auch in den arabischen Ländern - noch nie so
viel Einfluss wie heute hatte.
Die Inspekteure der Vereinten Nationen sind noch
nicht einmal ins Land gekommen, um zu überprüfen, ob
Massenvernichtungswaffen vorhanden sind oder produziert wurden. Dazu möchte ich anmerken, dass es nicht
gerade hilfreich ist, dass die USA diese Situation zum Anlass nimmt, um einen möglichen Krieg zu führen, sich
aber gleichzeitig bei der Auseinandersetzung über das Zusatzprotokoll der Biowaffenkonvention weigert, internationale Inspekteure ins eigene Land zu lassen. Das ist
doch nicht glaubwürdig. Auch das haben wir den USA zu
sagen.
({4})
Da wir gerade beim Thema Glaubwürdigkeit sind,
möchte ich anmerken, dass mir einmal jemand erklären
sollte, warum die USA gerade in diesen Tagen die finanzielle Unterstützung für die irakische Opposition eingestellt haben. Wenn man einen nicht militärischen Machtwechsel anstrebt, passt das doch nicht zusammen.
Alles in allem hat unter den Sanktionen nur die zivile
Bevölkerung im Irak gelitten: 500 000 bis 600 000 Kinder sind an den Folgen des Embargos gestorben; die Arbeitslosigkeit beträgt mittlerweile 60 bis 75 Prozent; die
Einkommen sind um zwei Drittel zurückgegangen; das
Bildungswesen ist fast zusammengebrochen. Deswegen
lauten unsere Forderungen: Alle nicht militärischen
Sanktionen - die Sanktionen gegen das Militär möchte ich
sogar verstärkt wissen - müssen aufgehoben werden; die
tatsächlich demokratische Opposition im Irak muss unterstützt werden; politischer Druck muss entwickelt werden; die deutschen Panzer dürfen jetzt nicht in Kuwait
stationiert werden. Eine solche Stationierung kann international nur als ein Einverständnis mit einem möglichen
Krieg gegen den Irak verstanden werden, in den wir uns
nicht hineinziehen lassen dürfen. Wir müssen vielmehr
heraus. Es müssen sofort Korrekturen vorgenommen
werden.
({5})
Deshalb lautet meine Bitte und Forderung an die Bundesregierung, endlich verbindlich zu erklären, dass man
sich nicht an militärischen Aktionen, an einem Krieg der
USA gegen den Irak beteiligen wird. Ich möchte, dass das
hier verbindlich erklärt wird, damit die USA das zur
Kenntnis nehmen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Auch wenn jetzt Freitagnachmittag ist: Ihnen das vorzutragen war es mir wert. Das ist die Begründung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank, dass Sie es sich zumindest angehört
haben.
({6})
Da die Kollegen
Christoph Moosbauer, Joachim Hörster, Rita Grießhaber
und Ulrich Irmer ihre Reden zu Protokoll gegeben haben,
schließe ich die Aussprache.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/5716 zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4709 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf, der zugleich der letzte Tagesordnungspunkt der heutigen Debatte ist:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen
Veröffentlichungen über einen Einsatz eines
V-Mannes im NPD-Vorstand
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wir diskutieren heute über einen der größten
Skandale in der Geschichte der Republik.
({0})
Die PDS hat diese Aktuelle Stunde beantragt, Herr Schily,
damit Sie diesen Skandal restlos aufklären und alle Karten auf den Tisch legen.
Dem Verfassungsgericht in Karlsruhe ist im Verbotsverfahren gegen die NPD verschmutztes Material vorgelegt worden. Einer der 14 geladenen Zeugen, der in der
Anklageschrift an vielen Stellen mit agressiven antisemitischen Äußerungen zitiert wird, ist als Spitzel des Verfassungsschutzes enttarnt.
Der innen- und außenpolitische Schaden, der entstanden ist, ist enorm. Das Verbotsverfahren wird politisch
und juristisch zurückgeworfen. Die Neonazis frohlocken
und feiern. Alle Gegner des NPD-Verbots fühlen sich, wie
man schon jetzt den Medien entnehmen kann, ermutigt.
Sie glauben, dass ein NPD-Verbot nun gar nicht mehr gefordert wird. Die Opfer der Neonazis, Flüchtlinge, Migranten, Antifaschisten und Antirassisten, sind vor den
Kopf geschlagen.
Statt schnellstens für Aufklärung zu sorgen, sorgen die
Innenminister Schily, Beckstein und Behrens für Schlagzeilen, wer der eigentlich Schuldige ist. Es kann doch
überhaupt keine Frage sein: Natürlich trägt Innenminister
Schily als oberster „Schirmherr“ die Hauptverantwortung
für den entstandenen Schaden.
({1})
Das entlastet die Innenminister Beckstein und Behrens
allerdings nicht. Auch sie hängen mit drin.
Allein die Tatsache, dass der V-Mann Frenz 36 Jahre
lang nicht nur für den Verfassungsschutz in NRW gespitzelt hat, sondern die NPD von Anfang an faktisch mit aufgebaut hat, ist unglaublich.
({2})
Dass V-Leute des Verfassungsschutzes in der NPD mitmischen, ja sogar in deren Bundesvorstand sitzen,
während dieselbe Partei eine Unzahl von Gewalttaten gegen Flüchtlinge, Migranten und andere Menschen plant,
propagiert und durchführt, ohne dass die Sicherheitsbehörden das verhindert haben, ist ungeheuerlich.
Dass man jetzt dem Gericht in Karlsruhe einfach mitteilt, dieser Mann sei 1995 „abgeschaltet“ worden, wie
von einigen vorgeschlagen wird, löst das Problem unseres
Erachtens nicht. Es sind doch ganz andere, grundsätzliche
Fragen aufgeworfen worden, die geklärt werden müssen.
Wolfgang Frenz hat nicht nur den VS informiert, er hat als
Ziehkind des Verfassungsschutzes die NPD mit begründet, sie über Jahrzehnte hinweg maßgeblich mit aufgebaut. Nach Brandenburg und Thüringen steht damit erneut
der von uns schon immer kritisierte V-Leute-Einsatz im
Bereich des Rechtsextremismus zur Debatte.
Die Ausführungen zum agressiven Antisemitismus der
NPD in den Verbotsanträgen von Bundestag, Bundesrat
und Bundesregierung beziehen sich maßgeblich auf die
Aussagen von Wolfgang Frenz und Horst Mahler. Deren
Ausführungen sind für die Anklage derart wichtig, dass
man jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen
kann. Natürlich ist der Vorwurf des agressiven Antisemitismus der NPD auch ohne die Zitate von Herrn Frenz
vollauf berechtigt und begründet;
({3})
aber die Anklageschriften müssen jetzt grundlegend überprüft und überarbeitet werden, vor allen Dingen dahin gehend, ob sich weitere V-Leute hinter den Zeugen verbergen.
Die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern
sowie die Innenminister, die diesen unglaublichen Vorgang zu verantworten haben, über den wir hier diskutieren, haben den Rechtsextremismus seit Jahren bagatellisiert. Es ist kein Wunder, dass jetzt in der Öffentlichkeit
darüber spekuliert wird, wie hoch die Zahl der V-Leute innerhalb der NPD wohl sein mag. Diese Fragen sind, wie
gesagt, vollauf berechtigt. Die Zeitung „Die Welt“ hat das
gestern mit einer Karikatur auf den Punkt gebracht. Darin
werden Schröder und Schily vom Karlsruher Gericht per
Telefon gefragt, wer denn nun eigentlich verboten werden
solle: die NPD oder der Verfassungsschutz?
({4})
1) Anlage 7
Die Innenminister und der Verfassungsschutzleiter beteuern, es gebe keine weiteren Spitzel auf der Liste der
nach Karlsruhe geladenen Zeugen. Wir wissen aber, dass
seit Jahren viele Spitzel vom Verfassungsschutz in die
NPD eingeschleust wurden. Das muss genauestens auf
den Tisch. Das Gericht in Karlsruhe, wir selbst, aber vor
allem die Öffentlichkeit haben ein Recht darauf, dass dieser Skandal von Innenminister Schily, aber auch von den
Länderinnenministern restlos aufgeklärt wird.
Wir sind nicht bereit, jetzt irgendwelche Schnellschüsse mitzumachen. Schon gar nicht sind wir bereit,
vorschnell irgendwelche Entschuldigungen und Beschönigungen hinzunehmen. Es gibt mehrere Vorschläge, die
im Raum stehen, zum Beispiel den Einsatz eines Sonderermittlers bzw. die Einsetzung eines parlamentarischen
Untersuchungsausschusses. Wir in der PDS-Fraktion
werden alle Möglichkeiten unterstützen, die Aufklärung
bringen und vor allen Dingen dienlich sind, um das Verbot der NPD weiter zu betreiben. Denn die NPD ist eine
antisemitische, aggressive, hetzerische, gewalttätige, verfassungsfeindliche Partei, die verboten gehört.
Frau Kollegin Jelpke,
jetzt muss ich Sie an die Redezeit erinnern.
Ich komme zu meinem letzten
Satz. - Das sind wir den über 100 Opfern, die durch rechte
Gewalt ums Leben gekommen sind, den Opfern von
Mölln, Solingen, Rostock und Hoyerswerda, den vielen
Verletzten und insbesondere natürlich auch der Öffentlichkeit in Deutschland und international schuldig.
Ich danke Ihnen.
({0})
Es spricht der Kollege
Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es sind noch 239 Tage
bis zur Bundestagswahl. Da neigt die politische Rhetorik
zur Dramatisierung und zur Skandalisierung. Insofern
verstehe ich das, was die Kollegin eben vorgetragen hat.
Als Norddeutscher habe ich eine etwas ruhigere Gangart
und auch eine etwas sachlichere Herangehensweise gelernt. Vor allem möchte ich als Berichterstatter für das
NPD-Verbot zum Kern zurückführen, worüber heute debattiert wird und was unser gemeinsames wichtigstes Ziel
ist: nämlich dass es zu einem NPD-Verbotsverfahren
kommt und dass diese Partei so schnell wie möglich verboten wird.
({0})
Dies muss im Kern unserer Bemühungen stehen. Darüber
sollten wir, nachdem der Pulverdampf der letzten zwei
Tage etwas verflogen ist, in ruhigerer Art reden.
Als Berichterstatter will ich drei Bemerkungen machen, die mit dem Verfahrensstand zu tun haben.
Punkt eins. Es ist von Kommunikationsdefiziten und
-lücken zwischen Berlin und Karlsruhe die Rede gewesen. Die Schuld ist - aus meiner Sicht ziemlich einseitig an Berlin gegeben worden, an einen Beamten, der telefoniert hat. Ich habe das Ganze einmal zurückverfolgt und
die Vermerke dazu aus Karlsruhe, die inzwischen vorliegen, gelesen. Ich sage in aller Zurückhaltung und Bescheidenheit ohne jede Gerichtsschelte: Da gab es auf
zwei Seiten ein Kommunikationsdefizit oder eine ungewöhnliche Kommunikation; denn auch von der anderen
Seite ist zum Telefon gegriffen worden, wo der schriftliche Verkehr nahe gelegen hätte.
Das Verfassungsgericht hat nunmehr am 23. Januar
schriftlich dazu aufgefordert, zu dem ganzen Vorgang
Stellung zu nehmen. Das heißt, wir sind jetzt im ordentlichen Verfahren. Nunmehr geht das seinen geregelten
Gang.
({1})
Ich als Jurist kann nur in aller Zurückhaltung feststellen:
Das Gericht hat den zweiten Schritt vor dem ersten
gemacht. Es hat nämlich Termine zur mündlichen Verhandlung ausgesetzt und erst nachher beschlossen, den
Sachverhalt in der üblichen und ordentlichen Form aufzuklären. Das möge jeder beurteilen, wie er will. Es ist
aber vielleicht der Wahrheitsfindung dienlich, zu wissen,
wie der Hergang war.
Punkt zwei. Die Anträge aller drei Verfassungsorgane
- liebe Kolleginnen und Kollegen, aller drei! - stützen sich
durchgängig auf Material, das mit der Eigenschaft eines
Herrn Frenz als V-Mann nichts, absolut nichts zu tun hat.
Es wird lediglich auf Schriften dieses Herrn Frenz Bezug
genommen. Keiner der drei Antragsteller hat Herrn Frenz
als Zeugen oder als Auskunftsperson benannt. Das war
eine zulässige, aber alleinige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Alle Fragen, die mit V-Leuten und
mit diesem Verfahren zu tun haben, werden jetzt - das sage
ich Ihnen zu - in aller Ruhe und aller Vertrauenswürdigkeit zwischen den drei Antragstellern, den Prozessbevollmächtigten und dem Gericht erörtert. So wird es zu
Lösungen kommen, die dem Verfahren dienen.
Punkt drei. Für den Bundestag stelle ich fest: Unsere
Antragsschrift, die Sie, wie ich annehme, alle gelesen haben, stützt sich entscheidend darauf, dass es eine Wesensverwandschaft der NPD zur NSDAP gibt, und zwar in
Programmatik, Strategie, Rhetorik, Traditionspflege und
anderen Elementen. Der Beweis dafür ist im Prinzip gerade
in unserer Antragsschrift durch öffentlich zugängliche
Quellen und Belege geführt worden. An der Stichhaltigkeit
der Argumentation, dass diese Partei verfassungswidrig
ist, hat sich nichts geändert.
({2})
Das werden alle drei Antragsteller durch ihre Prozessbevollmächtigten in den nächsten drei Tagen durch eine
Stellungnahme, wie sie das Gericht jetzt angefordert hat,
auf dem dafür vorgesehenen schriftlichen Wege kommunizieren. Das geht jetzt seinen ordentlichen Gang.
In diesem Sinne hoffe ich auf Versachlichung und darauf, dass auch die Diskussion im Bundestag über das
NPD-Verbot jetzt in geordneten Bahnen verläuft. Wir alle
müssen Interesse daran haben, dass das Verfahren gegen
die NPD beginnt - und zwar bald -, und dass es zum Verbot dieser rechtsextremistischen, gewaltbereiten Partei
führt.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Erwin Marschewski für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat des Deutschen Richterbundes:
Mit Gerichten spielt man nicht. Es ist der fatale Eindruck entstanden, dass die Exekutive
- also das Bundesinnenministerium versucht hat, mit Tricks, mit unlauteren Mitteln, mit
Halbwahrheiten, mit Verschweigen entscheidender
Tatsachen das höchste deutsche Gericht ... zu manipulieren.
({0})
- Ich zitiere nur, Herr Kollege.
Es ist nicht Aufgabe des DRB, Konsequenzen zu fordern oder zu bewerten, wer für diese „Schlamperei“
politisch verantwortlich ist.
Der Richterbund hat Recht: Dies ist eine ungeheure
Schlamperei,
({1})
und das in einem Verbotsverfahren, das einmalig ist, weil
der Bundestag, die Bundesregierung und der Bundesrat,
drei Verfassungsorgane, es gemeinsam betreiben. Die
NPD muss verboten werden, weil sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen will, weil sie rassistisch ist, in jeder Hinsicht unappetitlich. Deswegen darf
der Verbotsantrag nicht scheitern,
({2})
weil dies sonst den Extremisten nützt und uns Demokraten schadet.
Uns schadet auch, was Sie zu verantworten haben, Herr
Bundesinnenminister: Warum ist das Bundesverfassungsgericht nicht informiert worden, obwohl die Karlsruher
Richter sich mit Ihrem Ministerium in Verbindung gesetzt
haben? Ihre Antwort im Innenausschuss war eine Gerichtsschelte; Ihnen sei kein rechtliches Gehört gewährt
worden. Das ist objektiv falsch.
Ein Weiteres war unrichtig, Herr Minister: Erst als es
eng wurde, gestanden Sie ein, dass der Kreis der Informanten aus mehreren Personen bestand, vor allem aus
Ihrem Intimus, Herrn Staatssekretär Claus Henning
Schapper. Sie haben erklärt, Sie hätten ihm eine Rüge erteilt. Eine bloße Rüge, Herr Minister, für die größte Blamage, wie der „Tagesspiegel“ schreibt, für diese schallende Ohrfeige?
Ich zitiere Michael Möller:
Wieder einmal verschlimmert ein Politiker einen an
sich schon gravierenden Fall durch sein eigenes Krisenmanagement, versucht, sich mit Tarnen und Täuschen aus der Affäre zu ziehen. Das offenbart ein erschreckend laxes Verhältnis des Juristen und
Innenministers Otto Schily gegenüber dem höchsten
deutschen Gericht ausgerechnet in einem Verfahren,
bei dem die Fundamente der Verfassung ohnehin auf
eine harte Probe gestellt werden.
Ich wiederhole meine Bewertung im Innenausschuss,
Herr Minister: Diese Rügen reichen nicht aus. Sie, Herr
Bundesinnenminister, tragen die volle Verantwortung für
das, was in Ihrem Hause passiert ist. Wer die volle Verantwortung trägt, der muss andere Konsequenzen ziehen.
({3})
Eines ist doch eigenartig:
Alle wussten es, Herr Bundesinnenminister, nur Sie nicht.
({4})
- Fünf Tage nicht!
Ich zitiere zum Schluss wieder Michael Möller:
Es ist fast schon tragisch, dass ein so geradliniger
Mann wie Otto Schily, der als Innenminister den
Rechtsstaat zu verkörpern schien, sich am Ende seiner politischen Laufbahn
({5})
- ich zitiere, meine Damen und Herren, Herrn Möller ({6})
auf eine derart unwürdige Weise verbiegen muss - in
wessen Interesse auch immer. Er rettet damit nichts.
Er macht die Sache nur noch schlimmer.
({7})
Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition,
sage ich als langjähriger Parlamentarier und alter Kämpfer - gerade weil Sie, anstatt ernsthaft zu sein, so hämisch
dazwischenrufen: Ich bin nun wirklich nicht froh über die
entstandene Situation. Wir alle sollten darüber nicht froh
sein. Meine Fraktion ist dies jedenfalls nicht.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Cem
Özdemir.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kein Zweifel, der
Anlass der heutigen Debatte ist außerordentlich unerfreulich und ärgerlich. Es kann aber auch kein Zweifel darüber
bestehen, dass dem Innenminister keinerlei Versäumnis
vorzuwerfen ist. Er hat im Ausschuss stundenlang Auskunft gegeben und anschließend vor der Bundespressekonferenz alle Fragen beantwortet, die im Zusammenhang mit diesem Ereignis gestellt worden sind. Ich bin mir
sicher, er wird auch weiterhin für Auskünfte im Innenausschuss zur Verfügung stehen, wenn dieses gewünscht
wird, und auch konstruktiv mit dem parlamentarischen
Kontrollgremium, dem Deutschen Bundestag, zusammenarbeiten. Deshalb kann ich für meine Fraktion sagen,
dass diesem Innenminister im Zusammenhang mit diesem
Ereignis keine Vorwürfe zu machen sind.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sollten jetzt den Blick
nach vorne richten und uns gemeinsam daran erinnern,
was eigentlich unsere Aufgabe ist. Die Aufgabe aller
Fraktionen - ich sage das bewusst - muss jetzt sein, denn
der Deutsche Bundestag ist Verfahrensbeteiligter, alles
dazu beizutragen, dass das Verfahren selbst nicht beschädigt wird.
({1})
Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Verfahren erfolgreich zu Ende geführt wird. Dafür tragen wir alle miteinander Verantwortung im Sinne dieser Gesellschaft und
dieser Demokratie.
({2})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch daran erinnern,
was der Anlass für dieses Verbotsverfahren war, das hier
mit großer Mehrheit angestrengt wurde. Ich weiß, dass die
FDP damals aus demokratietheoretischen Erwägungen
dagegen war.
({3})
Sie war seinerzeit ja nicht deshalb dagegen, weil sie der
Meinung gewesen wäre, dass die NPD nicht gefährlich
sei, sondern deswegen, weil sie der Meinung war, dass ein
Verbot nicht das adäquate Mittel sei. Trotzdem glaube ich,
dass auch die FDP mit uns gemeinsam in der Verantwortung steht und überlegen wird, wie wir dafür sorgen können, dass die NPD nachher nicht als feixender Sieger aus
dieser Sache hervorgeht.
({4})
Ich will hier auch noch einmal ganz klar sagen: Nationalsozialismus ist keine Gesinnung, sondern ein Verbrechen
und muss so behandelt werden. Darum war es richtig, dass
wir dieses Verbotsverfahren angestrengt haben.
({5})
Ich wundere mich schon ein wenig darüber, geschätzte
Kollegin Pau, dass Sie in einer Presseerklärung, die von
dpa zitiert wird, etwas zugespitzt formuliert gesagt haben,
dass die NPD erst durch den Einsatz von Verbindungsleuten, so genannten V-Leuten, hochgezüchtet worden ist.
Ich zitiere:
Man baut erst einen auf, der an der Gründung der
NPD beteiligt war und viele Jahre ihre Strukturen
und Inhalte mitgeprägt hat, und will ihn dann als
Kronzeugen aufrufen. Das heißt, man will das Feuer
mit Benzin löschen.
Ich kann mich über die Äußerung, über diesen Vorwurf
nur wundern. Das ist nicht nur unsinnig, Frau Kollegin,
sondern auch falsch:
Erstens. Dieser Zeuge, der hier herangezogen wurde,
({6})
hat - das belegt ein Blick auf den Kalender - das Buch,
das in dem Verbotsantrag zitiert wird, erst drei Jahre nach
Beendigung der Zusammenarbeit mit dem Landesamt für
Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen geschrieben.
({7})
Man kann also auch mit viel Fantasie dieses Buch, dieses
schlimme Machwerk, nun wirklich nicht dem Landesamt
für Verfassungsschutz in die Schuhe schieben.
({8})
Zweitens. Die Kritik ist in dieser Form auch deshalb ärgerlich, weil Sie, ohne es zu wollen, sich quasi auf der
Bank des Verteidigers Mahler wiederfinden - dort, wo
niemand aus diesem Haus hingehört. Wir sollten, glaube
ich, alle miteinander aufpassen, dass wir nicht das Geschäft von Herrn Mahler erledigen. Das ist nicht die Aufgabe von uns Parlamentariern.
({9})
Drittens möchte ich bei dieser Gelegenheit auch einmal
erklären, was überhaupt ein V-Mann ist. Ich habe das Gefühl, dass völlig aus dem Blickwinkel geraten ist, was ein
V-Mann ist. Ein V-Mann ist eben nicht ein Agent provocateur, ein V-Mann ist nicht ein Beamter des deutschen
Staates, weder eines Landes noch des Bundes. Das weiß
die PDS vielleicht nicht.
({10})
- Stimmt, Sie haben Recht, eigentlich müssten sie es wissen. Ich korrigiere mich. Das ist wichtig für das Protokoll.
Ein V-Mann ist jemand, der aus der Organisation
kommt und der dann angezapft wird. In diesem Fall
wurde, Gott sei Dank, abgeschaltet, weil man gesehen hat,
was das für einer ist. Dieser V-Mann bestätigt ja durch
seine eigenen Angaben, dass er das Geld für seine Organisation benutzt hat, was er für einer ist. Man kann also
wirklich nicht sagen, dass er in irgendeiner Weise ein Produkt des Staates gewesen ist.
Aber eines müssen wir nach diesem Zwischenfall mit
Sicherheit tun: Ich glaube, dass die Richtlinien zum Einsatz von V-Leuten auf den Prüfstand gehören. Einer der
wichtigsten Grundsätze im Einsatz von V-Leuten - das
weiß jeder, der sich fünf Minuten mit Verfassungsschutz
beschäftigt hat - ist: V-Leute dürfen nie in Führungspositionen oder gar in Vorständen von Organisationen sein.
Gegen diesen Grundsatz wurde hier verstoßen. Darum
muss der ganze Bereich auf den Prüfstand.
Für meine Fraktion will ich noch einmal deutlich machen, meine Damen und Herren: Der Verbotsantrag ist gut
begründet. Er ist nach wie vor gerechtfertigt. Diese Partei
ist wesensgleich mit der NSDAP. Sie ist antisemitisch, sie
ist rassistisch, sie ist menschenverachtend.
({11})
Sie hat im demokratischen Spektrum keinen Platz.
Lassen Sie mich zum Schluss, weil meine Redezeit abgelaufen ist, noch einmal darauf hinweisen: Wir müssen
uns, wenn sich die Situation beruhigt hat - bei anderer Gelegenheit, das betone ich -, zusammensetzen und gemeinsam überlegen: Was heißt das für die Geheimdienste? Wie können wir die begonnene Kontrolle der
Geheimdienste, die in dieser Legislaturperiode ja besser
geworden ist, noch weiter verbessern?
Herzlichen Dank.
({12})
Jetzt spricht Herr Kollege Dr. Edzard Schmidt-Jortzig für die Fraktion der FDP.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Komplex, über den wir heute unsere Aktuelle Stunde veranstalten, hat weiß Gott ganz unterschiedliche Facetten.
Ich will nur einige aufzählen, wobei gleich die erste Frage
„Was wusste wann der Minister?“ fast schon zur Nebensache geworden ist.
({0})
Das Übrige ist von Bedeutung. Was ist im
Bundesministerium des Innern in Bezug auf die einschlägigen Informationen alles schief gelaufen? Welche verfassungsprozessualen Fehleinschätzungen sind auf den
zuständigen Fachebenen vorgekommen? Ist das Vertrauensverhältnis zwischen den obersten Verfassungsorganen,
also Bundesverfassungsgericht einerseits und Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat als Antragsteller andererseits, beschädigt worden? Welchen Schaden, welche
Erfolgsbeeinträchtigung hat das konkrete Parteiverbotsverfahren genommen? Was bedeutet das Geschehen für
den Kampf gegen den organisierten Rechtsextremismus,
welche Windfall Profits also hat man der NPD beschert?
Wie weit darf die nachrichtendienstliche Infiltrierung verfassungsfeindlicher Organisationen gehen, das heißt, wo
verläuft die Grenze zwischen gebotener Nutzung von Abwehrmöglichkeiten und inakzeptabler sachlicher Einbindung oder Mitwirkung?
Wegen der Kürze der Zeit kann ich nur einen Querschnitt verschiedener Aspekte versuchen. Wir werden uns
ja in der Tat noch länger damit beschäftigen. Meine Witterung sagt mir ohnehin: Die Dramatisierung hat noch
nicht ihr Ende gefunden.
({1})
Ich will - mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin - mit
einem Zitat anfangen:
Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die Bundesregierung das bisherige Verfahren in einer der Bedeutung der Sache nicht angemessenen Art und
Weise betrieben hat. Statt wie ursprünglich angekündigt zunächst sorgfältig die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder zusammengetragenen Informationen auszuwerten und
anschließend eine rechtliche und politische Beurteilung abzugeben, hat sich die Bundesregierung ohne
Not frühzeitig öffentlich auf ein Verbotsverfahren
festgelegt.
Ebenso hält es der Deutsche Bundestag für einen unangemessenen Umgang zwischen Verfassungsorganen, den Eindruck zu erwecken, als ließe sich das
Bundesverfassungsgericht von der Zahl der Antragsteller statt ausschließlich von der Substanz des Verbotsantrages beeindrucken.
Wenn irgendetwas in diesem Verfahren schief geht,
wäre die entsprechende Medienwirkung, so heißt es weiter,
für die NPD eine erhebliche Propaganda, was sich
jetzt bereits ansatzweise zeigt.
({2})
Meine Damen und Herren, diese Passagen stammen
aus dem Antrag der FDP-Fraktion vom 6. Dezember
2000, mit dem wir begründet haben, warum wir diese
Form des Parteiverbotsantrages nicht unterstützen können. Leider hat sich unsere Skepsis vollauf bestätigt.
Zwei Zwischenfeststellungen kann man meines Erachtens schon jetzt treffen: Erstens. Die Bekämpfung des organisierten wie vor allem des gesellschaftlich-strukturell
bei uns vorhandenen Rechtsextremismus ist eine zu ernste
Sache, als dass sie zum Gegenstand eines routinemäßigen
oder symbolpolitischen Aktionismus gemacht werden darf.
({3})
Zweitens. Das hochsensible Instrument eines Parteiverbotsverfahrens mit all seinen verfassungsrechtlichen,
verfassungspolitischen und konkret innenpolitischen
- auch hier sind etliche Folgen zu bedenken - Untiefen
darf nur ganz vorsichtig, sehr ernsthaft und in vollem Bewusstsein aller Konsequenzen in Anspruch genommen
werden.
Die Bundesregierung hat es nach Auffassung der FDP
offensichtlich an dieser Sorgfalt mangeln lassen.
({4})
Das schwierige Verfahren wurde seitens des betreuenden
Ministeriums zu leichthändig betrieben. Die notwendige
Involvierung der Nachrichtendienste in das Geschehen
wurde nicht kritisch genug behandelt und gesteuert und
das empfindliche konstitutionelle Vertrauensverhältnis
zwischen den Verfassungsorganen hat nur unzureichende
Beachtung gefunden. Das ist noch sanft ausgedrückt,
denn was jetzt als Kritik aus der Bundesregierung an dem
Bundesverfassungsgericht geübt wird, ist in der Sache,
aber auch im Stil völlig unangemessen.
({5})
Ein Übergehen zur Tagesordnung kann jedenfalls noch
nicht erfolgen. Hier wird noch intensiv nachzuarbeiten
sein, insbesondere wenn sich die Dinge noch dramatisieren sollten. Wie wir der entsprechenden Presseerklärung
des Vorsitzenden gestern entnehmen können, hat das Parlamentarische Kontrollgremium nicht die erforderliche
Zweidrittelmehrheit zustande gebracht, um einen Sonderermittler - richtig hätte man sagen müssen: nachrichtendienstlichen Gutachter - einzusetzen. Daher ist zu überlegen, ob nicht das Parlament oder die Regierung einen
solchen Sonderbeauftragten einsetzt. Man könnte an eine
parlamentarische Debatte - Sondersitzung - denken, bei
der auch die betreffenden Landesinnenminister hier Rede
und Antwort stehen. Man kann natürlich auch über einen
Untersuchungsausschuss nachdenken. Ich hoffe, wir werden nicht zu diesem schlimmsten und härtesten Mittel
greifen müssen.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist
der Kollege Sebastian Edathy für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, der ansonsten von mir als sachlicher Kollege sehr geschätzte Parlamentarier Schmidt-Jortzig hat zu Recht davon gesprochen,
dass hier ein Vorgang dramatisiert wird. Ich plädiere deshalb
an dieser Stelle dafür, bei der Diskussion über den gegenwärtigen Stand des NPD-Verbotsverfahrens die Verhältnismäßigkeit im Auge zu haben und sich klarzumachen, dass
wir uns jetzt nicht über Gebühr mit einem Neben-, einem
Randaspekt eines Themas zu beschäftigen haben, das uns
alle als Demokraten umtreiben muss.
Ich möchte dafür plädieren, dass wir das gemeinsame
Ziel, ein NPD-Verbot zu erreichen, als Bestandteil einer
Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Rechtsextremismus nicht aus den Augen verlieren und auch - das richtet
sich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition - nicht der Versuchung unterliegen, möglicherweise aus parteitaktischen Gründen dieses für unsere Demokratie wichtige Vorhaben unnötig klein zu reden oder sogar in Misskredit zu bringen.
({0})
Das Verbot der NPD, wenn es denn erreicht wird, ist
kein leichtes Unterfangen. In Art. 21 Abs. 2 GG ist klar
geregelt: Über die Verfassungswidrigkeit und damit über
das Verbot einer Partei entscheidet in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik das Bundesverfassungsgericht.
Deswegen haben wir im letzten Jahr auch nicht eine
Debatte gehabt, in der wir leichtfertig entschieden haben:
Wir sind der Überzeugung, die NPD gehört verboten, weil
die Beweislast, die Fülle des Materials, das uns vorliegt,
überwältigend ist. Insofern empfinde ich es als sehr ärgerlich, dass sozusagen ein kleines Element in der Beweiskette, das die Beweisfolge und die Fülle des Materials, das wir haben, überhaupt nicht infrage stellt, jetzt
Gegenstand einer Debatte ist, in der sich die NPD von der
Sache her völlig zu Unrecht den Anschein gibt, sie sei ungerecht behandelt worden. Das ist das Ärgerlichste am gesamten Vorgang.
({1})
In der Tat ist Kritik zu äußern. Diese Kritik ist im Innenausschuss auch geäußert worden. Es wurde darauf
hingewiesen, dass es einen Fehler gegeben hat. Gleichzeitig ist klar, dass ein persönliches Versagen des Ministers nicht vorliegt. Was also spricht dagegen, das zu akzeptieren und hinzunehmen, anstatt hier Scheindebatten
zu führen?
({2})
Ich glaube, dass wir uns darauf verständigen sollten, in
der Debatte sachbezogen zu diskutieren. Bei einigen Rednern der Debatte habe ich den Eindruck bekommen, dass
es weniger um die Sache als vielmehr darum geht, einen
sehr erfolgreichen Minister in Misskredit zu bringen. Ich
kann Ihnen versichern, dass der Bundesinnenminister
nicht nur den Rückhalt und die Zustimmung der Koalitionsfraktionen, sondern auch, und zwar völlig zu Recht,
eine breite Anerkennung in der deutschen Bevölkerung
genießt.
({3})
Das werden Sie auch nicht dadurch in Abrede stellen können, indem Sie darauf hinweisen, dass hier ein Verfahrensfehler gemacht worden ist.
Einen Aspekt will ich noch besonders betonen, weil ich
glaube, dass in der Debatte einiges vermengt wird; das
richtet sich in einem besonders starken Maße an die PDS,
es richtet sich aber auch an andere, die in der öffentlichen
Diskussion das Wort ergriffen haben. Man muss in einer
Demokratie, die sich dazu bekennt, die Feinde der Demokratie bekämpfen zu dürfen, doch selbstverständlich dazu
in der Lage sein, sich Informationen über Bestrebungen,
die verfassungsfeindlich sind, zu verschaffen.
Dafür gibt es zum Beispiel das Bundesverfassungsschutzgesetz und analoge Regelungen in den Ländern, in
denen es heißt, dass auch V-Leute eingesetzt werden können, um an Informationen zu gelangen. Dies muss natürlich unter der Auflage geschehen, dass sie nicht selbst
- gewissermaßen im Auftrag des Staates - aktiv werden
dürfen. Es darf also nur das Wissen dieser Leute abgeschöpft werden.
In dem konkreten Fall muss man sich vor Augen halten, dass sich das Landesamt für Verfassungsschutz von
Nordrhein-Westfalen in diesem Sinne vorbildlich und
richtig verhielt, indem es, nachdem es gemerkt hat, dass
Herr Frenz eine problematische Entwicklung einnahm,
nach 1995 nicht weiter auf seine Informationsdienste
zurückgegriffen hat. Die Äußerungen von Herrn Frenz jedoch, die als Beweise in das Verfahren und in die Antragsschriften für ein NPD-Verbot eingeführt wurden,
stammen aus dem Jahre 1998.
({4})
Wenn man in die Details geht, stellt sich in der Sache
heraus, dass hier unverhältnismäßig diskutiert wird. Sie
können sicher sein, dass wir die Fragen, die noch
im Raum stehen oder sich noch ergeben sollten, im Innenausschuss klären. Wir sollten dann wieder darauf
zurückkommen, uns über das Thema Bekämpfung des
Rechtsextremismus Gedanken zu machen, anstatt Kleinkariertheit zur Schau zu stellen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Jetzt spricht der Kollege Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
aus den skandalösen Vorgängen der letzten Tage einiges
lernen müssen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Bundesminister des Innern.
Wenn das Bundesinnenministerium in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht über V-Mann-Aktivitäten informiert wird, dann heißt das noch lange nicht,
dass auch der Bundesinnenminister informiert ist. Wenn
das Bundesverfassungsgericht das Bundesinnenministerium in einem bedeutenden Verfahren um eine Stellungnahme bittet,
({0})
dann heißt das noch lange nicht, dass auch der Bundesinnenminister um eine solche Stellungnahme gebeten
worden ist, und gibt ihm das Recht gegenüber dem Bundesverfassungsgericht Verletzung des rechtlichen Gehörs
geltend zu machen.
({1})
Wenn der Bundesinnenminister definitiv ausschließt,
dass weitere V-Leute in diesem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Rolle spielen könnten, dann
heißt das noch lange nicht, dass nicht zeitgleich ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklären kann, man
könne dieses gerade nicht ausschließen; auch weitere
V-Leute könnten beteiligt sein.
So arbeitet ein ordentlich geführtes Ministerium nicht.
Das könnte ein organisiertes Chaos sein. Das ist es aber
im Bundesinnenministerium nicht, sondern hier agiert ein
Feldherr ohne Truppen.
({2})
Die Schuld, Herr Bundesinnenminister, liegt natürlich
immer bei den anderen. Erst ist es ein Abteilungsleiter,
dann sind es zwei Abteilungsleiter, danach ein Staatssekretär der SPD. Schuld sind natürlich auch die Landesinnenminister, besonders der aus Bayern. Schuld sind
die Verfassungsschützer, das Bundesverfassungsgericht,
die Opposition und die Presse. Das ist doch alles absurd.
Das ist ebenso absurd wie die Forderung - die insbesondere aus den Reihen der Grünen kommt - nach einer Reform des Verfassungsschutzes.
Damit das ganz klar ist: Nicht beim Verfassungsschutz
ist der Fehler passiert.
({3})
Das Bundesinnenministerium weiß seit dem Sommer des
vergangenen Jahres Bescheid. Also ist doch der Fehler
einzig und allein im Bundesinnenministerium passiert.
({4})
Insofern brauchen wir keine Reform beim Verfassungsschutz, sondern wir brauchen eine Reform im Bundesinnenministerium, und zwar eine Reform ganz an der
Spitze, sozusagen eine Spitzenreform im Bundesinnenministerium.
({5})
Es reicht, Herr Bundesinnenminister, was an Schaden
angerichtet worden ist. Dieser Schaden ist ein schwerwiegender. Sie haben es zu verantworten, dass ein bedeutendes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in
dem auch der Deutsche Bundestag Antragsteller ist, im
Prinzip auf ein Jahr - das ist das Mindeste, was man sagen muss - durch Schlamperei in Ihrem Ministerium unmöglich geworden ist. Der Kollege Schmidt-Jortzig hat
zu Recht den politischen Schaden angesprochen. Wenn
heute in verschiedenen Zeitungen zu lesen ist „Die NPD
ist in Siegeslaune“, dann darf das niemanden in diesem
Hause froh stimmen. Auch dafür tragen Sie, Herr Bundesinnenminister, die politische Verantwortung.
Ein schlimmer Schaden ist - das muss man leider sagen - zwischen Verfassungsorganen angerichtet worden.
Es handelt sich nicht um einen x-beliebigen Strafprozess,
wo Otto Schily als Rechtsanwalt auftritt, sondern es geht
um ein Verfahren, an dem Verfassungsorgane beteiligt
sind. Zwischen diesen Verfassungsorganen haben Sie einen Vertrauensschaden angerichtet, der schlimm ist. Das
ist nicht durch den Vorgang als solchen, sondern durch Ihr
Verhalten in den letzten Tagen eingetreten.
({6})
Im Übrigen waren es nicht wir, die CDU/CSU, die
noch vor der Innenausschusssitzung, bevor die Fakten
überhaupt auf dem Tisch lagen, von einem Skandal geredet haben. Herr Kollege Edathy, so viel möchte ich Ihnen
zum Thema Dramatik sagen. Nicht wir waren es, die gefordert haben, dass Köpfe rollen müssten. Das waren Kollegen aus den Reihen der Grünen. Auch haben nicht wir
das Wort vom „wilden Erstaunen“ in die Welt gesetzt. Das
war eine Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesinnenministeriums. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen.
({7})
- Kollege Marschewski, vielleicht können Sie mir gelegentlich erklären, was „wildes Erstaunen“ ist. Der Bundesinnenminister war dazu bisher nicht in der Lage.
Nein, es gibt keinen Grund, unnötig dramatisch zu werden. Aber ich glaube, jeder hier spürt: Es droht weiterer
Schaden. Im Augenblick läuft über die Agenturen und in
den Medien die Meldung, es seien weitere V-Leute im
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betroffen
und beteiligt. Man kann spüren, dass die ganze Geschichte eine noch ungünstigere Wendung nehmen wird.
Ich möchte Ihnen sagen, Herr Bundesinnenminister:
Reden Sie nicht nur von politischer Verantwortung, sondern nehmen Sie diese auch wahr. Ziehen Sie die notwendigen politischen Konsequenzen, um weiteren Schaden abzuwenden.
Besten Dank.
({8})
Es spricht jetzt die
Kollegin Annelie Buntenbach für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Erarbeitung der NPD-Verbotsanträge ist ein
gravierender Fehler gemacht worden. Das steht ganz
außer Frage. Mit diesem Fehler ist aber - das will ich nach
der Diskussion der letzten Tage noch einmal ganz eindeutig klarstellen - das eigentliche Anliegen, um das es geht,
keineswegs hinfällig geworden.
({0})
Der Verbotsantrag enthält einige Zitate aus den Schriften eines ehemaligen V-Manns des Verfassungsschutzes.
Aber selbst wenn wir diese Zitate nicht zugrunde legen,
enthält die Begründung mehr als genug stichhaltige Argumente, mit denen die neonazistische Weltanschauung
der NPD und ihre aggressiv-kämpferische Vorgehensweise belegt werden.
({1})
Diese Partei nutzt seit Jahren die Privilegien und den
Schutz des Parteiengesetzes für eine intensive Förderung
der und die Zusammenarbeit mit der militanten NeonaziSzene. Viele Aktivisten der in den 90er-Jahren verbotenen
Organisationen haben dort ein neues Betätigungsfeld gefunden. Dem können wir nicht tatenlos zusehen.
({2})
Mit dem NPD-Verbot allein sind die Probleme rechtsextremer Propaganda und Gewalt sicherlich nicht zu lösen.
({3})
Dazu muss weit mehr unternommen werden, vor allem im
zivilen Bereich. Die Maßnahmen, die Regierung und
Bundestag ergriffen haben - zum Beispiel das CivitasProgramm, die Akzentsetzung in der politischen Bildung
oder das Bündnis für Demokratie und Toleranz -, sind
erste und erfolgreiche Schritte in die richtige Richtung.
Die NPD-Verbotsanträge von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sind also nur eine Maßnahme unter anderen; aber sie sind eine notwendige Maßnahme.
Der Bundesinnenminister hat am Mittwoch die in seinem Hause begangenen Fehler in dankenswerter Offenheit eingestanden. Er hat sie bedauert und die von ihm gezogenen Konsequenzen dargestellt. Dazu gehört eine
erneute Überprüfung der Belege und der Beweise des Verbotsantrags. Das ist aktuell das Wichtigste; denn unser
aller Anliegen ist doch wohl, das Verfahren wieder in
Gang zu setzen und den möglichen Schaden in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus zu begrenzen. Darum geht es doch.
({4})
Dass die Aussagen eines ehemaligen V-Mannes eines
Verfassungsschutzamtes als Beleg angegeben sind, ist ein
gravierender Fehler. Aber er kann doch die Gesamtargumentation nicht diskreditieren.
({5})
Neben menschlichem Versagen tritt hierbei aber auch
ein strukturelles Problem zutage, das einer Lösung bedarf.
Das sehe ich anders, als Herr Strobl es eben dargestellt
hat. Auch weil ein strukturelles Problem besteht, würden
etwaige Rücktritte oder Entlassungen einzelner Beteiligter nicht weiterführen. Das Problem besteht doch darin:
Thomas Strobl ({6})
Wenn wir die Verteidigung der Demokratie gegen den
Rechtsextremismus einem Geheimdienst überlassen, so ist
zu sagen, dass er als „Geheim-Dienst“ eben nicht die Transparenz und Offenheit hat und haben kann, die einer solchen
demokratischen Auseinandersetzung angemessen wäre.
({7})
- Jetzt hören Sie mir doch erst einmal zu.
Wir brauchen eine demokratische Auseinandersetzung,
die offen und transparent erfolgt.
({8})
Der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und den Experten
liegen unglaublich viele Informationen und Argumente
gegen die NPD, in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit
der NPD und den Rechtsextremismus vor. Diese müssen
wir nutzen und uns in der demokratischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung nutzbar machen.
({9})
Der aktuelle Fall ist nicht der erste V-Mann-Skandal,
sondern ein Glied in einer langen Kette. Wie schon in vorherigen Fällen besteht der Verdacht, dass mit dieser Ermittlungsmethode eine neonazistische Organisation mitfinanziert worden ist. Ich erinnere an die Thüringer
V-Mann-Skandale, bei denen der begründete Verdacht bestand, dass Organisationen über V-Leute gesteuert wurden, und an Fälle, in denen V-Leute in Straftaten verwickelt worden sind.
Im NPD-Verbotsverfahren ist nun eine öffentlich zugängliche Quelle - nämlich eine Buchpublikation, die jedem zugänglich ist - diskreditiert worden, nur weil sie von
einem ehemaligen V-Mann stammt. Hier muss die Frage
erlaubt sein, inwieweit solche Vorgehensweisen der Demokratie nutzen oder ihr auch Schaden zufügen können.
Verschiedene Institutionen und Fachleute fordern deshalb seit langem, die Auseinandersetzung mit dem
Rechtsextremismus einer transparenten und öffentlichen
Stelle zu übertragen. Dort könnten unter Beteiligung von
Wissenschaft und Fachleuten Ergebnisse und Analysen
zusammengeführt, die Öffentlichkeit informiert und auch
Strategien erarbeitet werden. Ich meine, dass die Verteidigung einer starken und selbstbewussten Demokratie nicht
im Geheimen stattfinden darf, sondern sie muss offen und
öffentlich erfolgen. Probleme, wie wir Sie heute besprechen müssen, könnten so vermieden werden.
Das sind Fragen, mit denen wir uns in Konsequenz aus
den gemachten Fehlern befassen sollten. Die Skandale um
V-Leute und Verfassungsschutzämter betreffen nicht nur
die jetzige Bundesregierung, sondern etliche Landesämter
und auch die Vorgängerregierung. Zum parteipolitischen
Streit - das sage ich deutlich - eignet sich dieses Thema
nicht. Wir brauchen sachliche Antworten.
({10})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen.
({0})
Dem Aufstand der Anständigen folgte das Versagen der
Zuständigen. Dabei denke ich auch an alle, die sich täglich vor Ort gegen den Rechtsextremismus engagieren.
Egal ob es um Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und
Lehrer, Kirchenleute, die Fernsehfrau, Antifaschisten
oder Asyl Suchende geht - sie alle trifft der Hohn der NPD
besonders und dafür tragen Sie, Herr Minister, die Verantwortung.
({1})
Auslöser der aktuellen Kontroverse sind Ungereimtheiten im Zusammenhang mit einem V-Mann aus Nordrhein-Westfalen. Ob es wirklich nur um einen geht, wie
vom Bundesinnenminister zumindest noch Mitte der Woche behauptet wurde, oder ob noch andere im Spiel sind,
gehört zu den ungeklärten Fragen. Ich möchte Ihnen, Herr
Innenminister, weiterhelfen, indem ich Sie an Folgendes
erinnere: Im Frühjahr 2001 hat die PDS-Fraktion eine
Kleine Anfrage gestellt. Wir wollten damals wissen, ob
der Antrag auf Verbot der NPD dadurch gefährdet sein
könne, dass V-Leute als Zeugen herangezogen worden
sind. Sie haben empört geantwortet, es sei nicht Angelegenheit der Bundesregierung, die Arbeit der Landesämter
für Verfassungsschutz zu bewerten. Wir hatten für diese
Frage ganz triftige Gründe; denn damals war gerade ein
V-Mann in Thüringen aufgeflogen, der ebenfalls im Doppeldienst stand: Er war stellvertretender Landesvorsitzender der NPD und arbeitete für das Landesamt für Verfassungsschutz.
Davor - Sie erinnern sich sicherlich - gab es in Brandenburg den Fall „Piato“. Auch er war NPD-Mitglied und
V-Mann. „Erkenntnisse aus dieser Quelle“ - gemeint ist
Piato -„ sind in den NPD-Verbotsantrag der Bundesregierung eingeflossen.“ Dieser Satz stammt nicht von mir. Er
ist auch keine Vermutung. Ich habe den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg zitiert, der dies am 15. November 2000 zu Protokoll gab. Herr Minister, Sie hätten
also die Arbeit der Landesämter für Verfassungsschutz
überhaupt nicht bewerten müssen. Es hätte gereicht, wenn
Sie zur Kenntnis genommen hätten, was Ministerpräsident Stolpe gesagt hat.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie erneut und ganz
direkt: Können Sie ausschließen, dass Aussagen folgender Personen in den Verbotsantrag eingeflossen sind: Tino
Brandt aus Thüringen, Michael G. aus Mecklenburg-Vorpommern, Michael Meier aus Mecklenburg-Vorpommern
und Erwin Kemna aus Nordrhein-Westfalen?
({2})
Können Sie, Herr Minister, nachvollziehen, dass vor diesem Hintergrund meine Fraktion ein ernstes Problem hat,
und zwar nicht mit Ihnen - das könnten wir beide sicherlich verschmerzen -, sondern als Mitantragsteller beim
NPD-Verbot?
Eine nun offen liegende Schwachstelle ist übrigens für
alle Antragsteller, egal welcher Fraktion sie angehören:
Wir sind in der V-Mann-Frage auf Ihre Auskünfte angewiesen. Aber die Aussagen, die Sie machen, sind fragwürdig, arrogant - zu dem Ergebnis komme ich, wenn ich
mir das, was in dieser Woche abgelaufen ist, vor Augen
führe - und in der Summe wahrscheinlich noch immer
falsch, also noch nicht vertrauenswürdig.
({3})
Die Lösung kann nicht eine Auskunftssperre sein, die Sie
- das habe ich vorhin einer Tickermeldung entnommen über Ihr Ministerium verhängt haben. Ich fordere Sie im
Namen meiner Fraktion auf, das Parlament endlich ernst
zu nehmen und zur Sache Stellung zu nehmen.
In diesem Zusammenhang empfehle ich Ihnen, Herr
Minister, auch einmal Ihre Wortwahl zu überprüfen. Ich
habe in dieser Woche von Ihnen oft gehört: „Ich habe
mein Haus befragt“, „Ich habe mein Haus gerügt“ und
„Ich habe mein Haus überprüft“. Sie sind nicht als Hausmeister, sondern als Minister bestellt.
({4})
Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt eingehen,
der ebenfalls eine Rolle spielt. Kollege Özdemir, ich stelle
tatsächlich das Instrument V-Mann generell infrage. Denn
nach allen Erfahrungen - die gibt es reichlich - bleibt unter
dem Strich festzuhalten: V-Leute sind nicht nur gekaufte
Zeugen, sondern zugleich auch bezahlte Täter.
({5})
Vor diesem Hintergrund ist es schizophren, Kollege
Marschewski, dass Sie sich in den Beratungen des Innenausschusses und sonst wo über die jetzige Affäre empört
aufplustern, während Ihre Kollegen in dieser Woche im
Rechtsausschuss mehr Kompetenzen für V-Leute fordern.
Mich hat ein wenig verwundert - ein persönliches
Wort, Kollege Özdemir; vielleicht können Sie das auch
dem Kollegen Werner Schulz mitteilen, dessen Rede ich
gestern hörte -, dass ausgerechnet Vertreter der ehemaligen Bürgerrechtspartei Bündnis 90/Die Grünen jetzt auf
einmal beginnen, das Instrument V-Mann zum Allheilmittel für den Schutz der Bürgerrechte hochzureden.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Rüdiger Veit für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich ein wenig
mit den Beiträgen meiner Vorredner auseinander setzen.
({0})
Kollege Schmidt-Jortzig, Sie haben zu Beginn der Debatte zu Recht gesagt, man solle den jetzigen Vorgang
nicht zum Anlass nehmen, die Dinge zu dramatisieren. Ich
wäre noch glücklicher gewesen, wenn Sie zum Ende Ihres Beitrages nicht gesagt hätten, dass sich ein Untersuchungsausschuss oder ein Sonderbeauftragter dieses
Vorgangs womöglich annehmen müsse,
({1})
eines Vorgangs, den wir im Grunde schon jetzt vollständig überblicken und bewerten können.
({2})
Frau Jelpke spricht davon, es handele sich dabei um einen der größten Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik. Herr Marschewski trägt unter Bezugnahme auf
Zitate hier vor, der Bundesinnenminister sei im Begriff
gewesen, die Situation zu verschlimmern; er habe getarnt
und getäuscht. Mit Krokodilstränen in den Augen spricht
er von einer fast tragischen Situation für diesen guten Innenminister - Sie wollten wohl damit sagen, dass er das
auch in den Augen der CDU ist - und er spricht davon,
dass er nicht froh über diese Entwicklung sei. Herr Strobl
spricht davon, das sei Chaos, persönliche Schuld und ein
Fehler des Bundesinnenministers; man brauche eine Reform an der Spitze des Hauses. Frau Pau spricht schließlich davon, Herr Schily persönlich trage am Ende die Verantwortung für den Hohn der NPD. Angesichts dieser
Äußerungen muss ich sagen, dass das unangemessene
Übertreibungen sind,
({3})
sodass wir uns nicht wundern dürfen, dass die Bevölkerung draußen eigentlich gar nicht weiß, über was wir hier
reden.
({4})
Der Sachverhalt, um dem es geht, findet sich in dem
Aktenvermerk des Berichterstatters des Bundesverfassungsgerichtes, Herrn Richter Jentsch - übrigens war er
einmal CDU-Oberbürgermeister in Wiesbaden und Justizminister in Thüringen -, am Schluss:
Ich habe Herrn Sch.
- gemeint ist Herr Ministerialdirektor Dr. Schnapauff heute empfohlen, diese Information
- also die Information über das Vorlegen einer entsprechenden Aussagegenehmigung zu den Gerichtsakten anzuzeigen.
Einige von uns sind ja einmal als Juristen tätig gewesen und wissen, was das heißt. Wenn ein Richter eine
Empfehlung ausspricht, dann heißt das nicht unbedingt,
dass - ({5})
- Nein, natürlich nicht das rote Licht, Herr Strobl. Bei Ihnen passiert das schon gar nicht.
({6})
Wenn man eine Empfehlung bekommt, dann kann man
kaum damit rechnen - das ist möglicherweise keine unangemessene Reaktion gewesen -, dass das Bundesverfassungsgericht sofort und ohne noch einmal nachzufragen erst recht, ohne bei den drei anderen Prozessbevollmächtigten nachzufragen - die Termine aufhebt.
({7})
Das ist schon ein überraschender Umgang mit dem
Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
({8})
Ich komme zu dem Telefongespräch vom Mittwoch
letzter Woche. Beide kennen sich, wie gesagt wird, aus
Studienzeiten. Sie führen ein privat-dienstliches Gespräch. Mir hat noch keiner erklärt, was das bedeutet. Ich
habe nichts dagegen, wenn sich Studienfreunde privat unterhalten. Ich habe auch nichts dagegen, wenn sie dienstliche Dinge besprechen. Wie muss dieses privat-dienstliche Gespräch aus der Sicht des Gesprächspartners aus
dem Innenministerium zu verstehen sein, wenn das in einer derart verbindlichen Form geschieht?
({9})
Man würde wohl kaum vermuten, dass das Verfassungsgericht die Termine sofort aufhebt und erst einen Tag später
das macht, was richtigerweise hätte sofort geschehen müssen, nämlich die Prozessbevollmächtigten von allen drei
Antragstellern um eine schriftliche Darstellung zu bitten.
Meine Damen und Herren, noch einmal: Der Schaden
ist innenpolitisch wie außenpolitisch groß. Das beklagen
wir alle. Gelernte Juristen - ich spreche da Herrn Strobl
und Herrn Marschewski an - sollten sehr wohl wissen,
dass im Bereich des Zivilrechts und des Strafrechts in Bezug auf die Beurteilung der persönlichen Verantwortung
nicht der Schaden der Maßstab ist, sondern die Frage, wer
den Schaden verursacht und verschuldet hat.
({10})
Vor diesem Hintergrund sehe ich nicht, an welcher Stelle
der Innenminister selbst auch nur im Geringsten eine unmittelbare Mitverantwortung für diesen Schaden trägt.
({11})
Sie verhalten sich als Juristen so, als wären wir im Bereich des Straßenverkehrsrechts. Dort gibt es die Gefährdungshaftung und die Halterhaftung. Ein Minister - egal,
welcher Couleur - kann doch nicht für seine Staatssekretäre und für andere Beamte 24 Stunden am Tag persönliche Verantwortung dafür tragen, was sie tun oder unterlassen. Dann bräuchte er diese Spitzenbeamten nicht.
Ich weise daher noch einmal ausdrücklich zurück, dass
hier eine persönliche oder auch nur eine politische Verantwortung vorliegt, der die Spitze des BMI nicht gerecht
geworden ist.
({12})
Dementsprechend sollten wir uns alle einmal überlegen,
ob der angerichtete Schaden durch die Art und Weise, wie
wir damit auch hier im Parlament umgehen, nicht noch
einmal ganz erheblich vergrößert wird. Bevor Sie hier
weiter skandalisieren oder dramatisieren, überlegen Sie
sich bitte alle - da wäre ich Ihnen sehr verbunden -, wem
Sie in Wahrheit damit schaden und wem Sie in Wahrheit
damit nützen.
({13})
Jetzt spricht der Herr
Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Schaden
- da gibt es überhaupt keine Diskussion - ist wirklich
groß.
Herr Kollege Veit, Sie haben offensichtlich lange nicht
mehr im anwaltlichen Bereich gearbeitet; sonst hätten Sie
die Differenzierung, die Sie hier versucht haben, nicht
vorgenommen.
Frau Kollegin Jelpke, es ist keine Krise der Verfassungsschützer und der V-Leute - der Herr Kollege Strobl
hat es mit Recht gesagt -, sondern es ist eine politische
Krise und sonst gar nichts. Wir können den Verfassungsschutz abschaffen, wenn Sie die Arbeit der V-Leute quasi
auf Dauer so beschränken, wie das hier etwa von der Frau
Buntenbach formuliert worden ist. Es kann doch gar nicht
anders sein: Ein freier Staat braucht Informationen aus
dem Bereich des Extremismus;
({0})
wenn er sie braucht, dann muss er natürlich auch handeln.
Eines lasse ich Ihnen nicht durchgehen, Herr Kollege
Bürsch. Sie haben hier davon gesprochen, ein Beamter
habe Fehler gemacht.
({1})
Da kann man ja nur hüsteln. Das war auch der Eindruck,
den uns der Minister im Innenausschuss eingangs vermitteln wollte.
({2})
Ich bin da ganz vorsichtig; ich werde erst das Protokoll lesen.
Das musste er dann revidieren. Der Beamte, von dem
die Rede war und der scharf gerügt worden war,
({3})
hat das gemacht, was jeder normale Beamte macht. Er ist
zum Staatssekretär gegangen und hat das vorgetragen. Da
kann man dem Beamten überhaupt nichts mehr vorwerfen; denn die weiteren Verhandlungen liegen dann beim
Staatssekretär.
({4})
- Wir kommen gleich noch darauf zu sprechen.
Anschließend wird unter drei Verfassungsorganen oder
deren Vertretern - Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag - verhandelt. Pikanterweise, Herr Bürsch, haben
Sie als Berichterstatter und habe auch ich nichts von diesem Sonntagsgespräch der Prozessvertreter erfahren. Das
ist - ich merke das nur an - eine weitere Besonderheit dieser Geschichte.
({5})
Der Staatssekretär wusste: Anschließend, am 19./20.,
werden die Verfassungsorgane gemeinsam beraten - ich
will jetzt keinen Vergleich wagen -, wie sie weiter vorgehen. Diesen drei Verfassungsorganen wird die Information vorenthalten, dass es eine Anforderung des Gerichts, wenn auch nur telefonisch, und ein Gespräch gab.
({6})
Das ist ein Umgang miteinander, wie wir ihn zuletzt beim
Spiel auf dem Schulhof gehabt haben:
({7})
Wir foppen und führen die anderen hinters Licht.
Der Anwalt schreibt dann, es sei - gegen sein Votum entschieden worden, dies dem Bundesverfassungsgericht
nicht mitzuteilen und die Information erst in der Verhandlung zu geben.
({8})
Ich kann mich wirklich nur noch wundern. Da wird gehandelt, als habe man es mit irgendwelchen nachgeordneten Behörden zu tun, die so einen gottverdammten
Murks liefern.
({9})
- Entschuldigen Sie! Es ist doch absoluter Murks, wenn
gesagt wird: Die lassen wir jetzt ein bisschen doof. Das
war der 19./20.! Diskutieren Sie einmal Samstag/Sonntag! Ich weiß ja nicht, wie lange; das alles müssen wir
noch klären. Samstag/Sonntag wird also diskutiert und
beschlossen: Wir halten auch das Bundesverfassungsgericht ein bisschen tumb, zumindest was den Schriftverkehr angeht; das können wir dann immer noch mündlich vortragen.
Meine Damen und Herren, es kommt noch eines hinzu.
Ich sitze vier Stunden im Innenausschuss. Anschließend
gehe ich in mein Büro, schalte den Fernseher an und sehe
den bewundernswerten Innenminister, wie er aus sich herauspresst, dass er jetzt etwas Neues weiß. Er sagt, er
wisse neuerdings, dass das seinem Haus schon viel früher
bekannt gewesen sei; da habe einer etwas in den Panzerschrank eingesperrt. Ich weiß es nur aus dem Fernsehen,
nicht als Mitglied aus dem Innenausschuss. Eine weitere
Pikanterie, über die ich mich nur wundern kann!
Auch das Wissen um das An-der-Nase-Herumführen
der anderen Verfassungsorgane habe ich nicht als Mitglied dieses Parlaments in einem Ausschuss erlangt. Dass
wir die meisten Dinge der Presse entnehmen müssen, ist
auch pikant.
Herr Innenminister, jetzt reicht es wirklich. Lassen Sie
also, wie man im Volksmund so schön sagt, die Hose herunter
({10})
- bitte nicht im Plenum - und sagen Sie endlich, was geschehen ist, damit wir beurteilen können, wo Fehler gemacht wurden. Aber kommen Sie uns nicht damit, dass
Sie kleine Beamte kritisieren und über V-Leute diskutieren, während in Wirklichkeit vermutlich der Staatssekretär die Schräubchen gedreht hat.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der Sache NPD waren wir
hier im Hause vor gar nicht so langer Zeit weitgehend einer Meinung.
({0})
Wir waren gemeinsam der Auffassung, dass die NPD eine
Partei ist, die aggressiv verfassungsfeindlich agiert und
nach unserer Überzeugung vom Bundesverfassungsgericht verboten werden sollte.
({1})
Eine Partei, die FDP, war aus zu respektierenden Gründen der Auffassung, dass die Auseinandersetzung ausschließlich politisch zu führen ist. Wenn ich es richtig in
Erinnerung habe, waren Sie, Herr Schmidt-Jortzig, persönlich wiederum anderer Auffassung.
({2})
- Dann nehme ich das zurück; ich hatte das falsch in
Erinnerung. Jedenfalls respektiere ich die Auffassung
der FDP. Wir sind auch für die politische Auseinandersetzung, Herr Schmidt-Jortzig. Das ist ja kein Entweder-oder, sondern eher ein Sowohl-als-auch. Wir wollen aber, dass diese Partei, wenn es das Bundesverfassungsgericht für richtig hält, verboten wird.
Wir sind der Überzeugung, dass das Beweismaterial
erdrückend ist und dass es insofern auf diesen Herrn Frenz
nicht ankommt. Auf diese drei, vier Zitate kommt es wirklich nicht an.
({3})
- Ich halte das, was Sie gesagt haben, Herr Zeitlmann, für
eine Selbstverständlichkeit und unterstreiche das. Hier
stimme ich Herrn Özdemir und anderen ausdrücklich
nicht zu. Ich habe dem Bundesamt für Verfassungsschutz
und den Landesämtern für Verfassungsschutz keinen Vorwurf zu machen. Deren Mitarbeiter haben unsere Anerkennung und unseren Respekt verdient; denn sie machen
eine ordentliche Arbeit.
({4})
Ich habe bislang keinen Fehler erkennen können.
Ich sage ein Weiteres, Herr Zeitlmann: Sie haben
Recht: Wir brauchen Informanten in diesen Organisationen. In manchen Organisationen haben wir leider überhaupt keine oder zu wenige. Hätten wir im Umfeld von
Herrn Atta einen Informanten gehabt, hätten wir möglicherweise tausendfachen Mord verhindern können.
({5})
- Herr Zeitlmann und Herr Strobl, wir haben als Verfassungsorgan Bundestag gemeinsam diesen Antrag gestellt.
Wenn Schaden entstanden ist, ist das Ihr Schaden genauso
wie mein Schaden; es ist unser aller Schaden. Deswegen
haben wir heute hier auch eine gemeinsame Verantwortung. Fehler müssen markiert werden, Verantwortung
muss übernommen werden. Es sind scharfe Rügen ausgesprochen worden. Herr Strobl, Sie haben Konsequenzen
verlangt, aber nicht gesagt, welche.
({6})
Der Bundesinnenminister hat die Verantwortung übernommen. Wir werden am kommenden Mittwoch im Innenausschuss mit dem Bundesinnenminister die Diskussion fortsetzen. Selbstverständlich haben wir alle einen
Anspruch darauf, zu erfahren, was Sache ist. Aber ich
möchte bitte keinen Aktionismus, keine hektischen,
gleichsam irrationalen Debatten über einen Nebenpunkt.
Herr Frenz ist ein Nebenpunkt. Der Hauptpunkt ist die
verbotswürdige NPD.
({7})
Hier darf man sich doch von der Sache nicht ablenken
lassen.
({8})
Herr Schmidt-Jortzig, bei allem Respekt: Ich bin nicht
Mitglied des parlamentarischen Kontrollgremiums. Ich
rate nicht zu einem Sonderermittler, sondern dazu, dass
wir als Abgeordnete unsere Verantwortung wahrnehmen.
Ich lasse mir zuarbeiten; aber meine Entscheidungen
treffe ich selber.
Herr Ströbele, Herr Marschewski, machen Sie bitte
Ihre Arbeit im parlamenarischen Kontrollgremium, wie
wir es im Innenausschuss auch tun!
({9})
Ich habe großes Vertrauen in Ihr Engagement.
({10})
- Reden Sie doch nicht wild durch die Gegend, Herr
Zeitlmann! Stellen Sie den Antrag! Ihre Fraktion hat das
Recht, das zu tun. Spitzen Sie nicht nur den Mund, sondern pfeifen Sie! Das ist ein Punkt, der mich ausgesprochen ärgerlich macht.
({11})
Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Aber
jetzt, da ein Fehler entstanden ist, der zugegebenermaßen
zum Teil groteske Elemente hat - die privat-dienstlichen
Gespräche sind sehr seltsam -,
({12})
bricht der Konsens auseinander und es wird wieder Parteipolitik gemacht.
({13})
Das ist zu kleine Münze, Herr Zeitlmann. Das ist ein bisschen billig.
({14})
Aufklärung muss sein, das Verfahren muss auf die Spur
zurück.
({15})
Wir machen uns doch lächerlich, wenn wir über einen
Fehler nicht einen Tag, nicht zwei Tage, sondern 24 Tage
hintereinander reden.
({16})
Die Bevölkerung erwartet von uns nicht, dass wir eine Sache zerreden.
({17})
Wir stehen vor der Aufgabe, die Angelegenheit zurück
auf die Schiene zu bringen, und zwar so bald wie möglich.
Wir sollten uns nicht mit uns selber beschäftigen, sondern
mit der Sache. Das heißt, wir müssen uns alle zusammensetzen, auch mit denjenigen, die damals gegen das Verfahren waren - Sie, Herr Schmidt-Jortzig, waren immer
dabei -, und schauen, dass das Gericht anständig informiert
und verlorene Zeit wieder aufgeholt wird. Das ist der Weg
der Vernunft. Sie haben Gelegenheit, sich einzubringen.
Herzlichen Dank.
({18})
Letzter Redner in der
Aktuellen Stunde ist Bundesinnenminister Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist sehr zu
bedauern, dass im NPD-Verbotsverfahren durch die Aufhebung der Termine zur mündlichen Verhandlung eine
Verfahrenssituation entstanden ist, die möglicherweise zu
erheblichen Verzögerungen führen kann. Zu bedauern ist
ebenso, dass zu dieser Verfahrenssituation Fehler in meinem Haus beigetragen haben.
Die Verstimmung, die im Bundesverfassungsgericht
eingetreten ist, ist verständlich. Ich wiederhole daher an
dieser Stelle ausdrücklich, dass ich das Bundesverfassungsgericht um Entschuldigung bitte, weil der Bitte um
eine schriftliche Stellungnahme zu dem Sachverhalt, den
ein Abteilungsleiter meines Hauses telefonisch einem
Mitglied des Senats des Bundesverfassungsgerichts mitgeteilt hatte, nicht entsprochen wurde, auch wenn es nur
eine Empfehlung war.
In der Zwischenzeit hat sich die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts an die Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller gewandt und die Bitte erneuert, zu
den zwischen dem Herrn Bundesverfassungsrichter
Jentsch und einem Abteilungsleiter meines Hauses geführten Telefongesprächen Stellung zu nehmen. Diese
Stellungnahme wird dem Bundesverfassungsgericht in
den nächsten Tagen eingereicht werden.
Der Sachverhalt, der Gegenstand der Telefongespräche
eines Abteilungsleiters meines Hauses mit Herrn Bundesverfassungsrichter Jentsch war, ist der folgende: In den
Antragsbegründungen der Antragsteller, auch der Bundesregierung - ich verantworte die Antragsbegründung
der Bundesregierung -, wird unter anderem auf Auslassungen eines NPD-Mitglieds verwiesen, die in einem von
diesem verfassten und im Jahre 1998 veröffentlichten
Buch enthalten sind.
Diese Person war in früheren Jahren Informant - ich betone: nicht Mitarbeiter - des Landesamtes für Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen. Diese Informationsverbindung wurde jedoch bereits im Jahre 1995 abgebrochen. Die
Gründe dafür ergeben sich aus der Stellungnahme des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen.
Die Quelleneigenschaft der betreffenden Person ist den
Prozessbevollmächtigten der Antragsteller leider erst am
vergangenen Wochenende bekannt gegeben worden. Unverständlicherweise ist auch den Prozessbevollmächtigten
und den Vertretern der Antragsteller in der Wochenendsitzung nicht mitgeteilt worden, dass ein Abteilungsleiter
meines Hauses die Quelleneigenschaft der betreffenden
Person Herrn Bundesverfassungsrichter Jentsch in einem
Telefongespräch offen gelegt hat. Er hat das übrigens aus
eigenem Antrieb getan, ohne vorher meinen Staatssekretär zu befragen.
Ebenso wenig sind bedauerlicherweise die Prozessbevollmächtigten und die Vertreter der Antragsteller in der
Wochenendsitzung darüber informiert worden, dass das
Bundesverfassungsgericht eine schriftliche Stellungnahme zu dem Sachverhalt angefordert hat.
Leider bin auch ich über den gesamten Sachverhalt erst
am vergangenen Dienstag zusammen mit der Mitteilung
über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
über die Terminaufhebung unterrichtet worden.
({0})
Auch Herr Beckstein hat von diesem Sachverhalt erst am
Dienstag erfahren.
({1})
Ich habe daraufhin veranlasst, dass sämtliche Geschehensabläufe sorgfältig aufgearbeitet werden. Ich habe
diesen Auftrag einem hochrangigen Mitarbeiter meines
Hauses übertragen.
({2})
Die Beweistauglichkeit der Auslassungen des NPDMitglieds Frenz in dem in den Antragsschriften zitierten
Buch, das zum Beweis der Verfassungsfeindlichkeit der
NPD herangezogen worden ist, wird nicht dadurch infrage gestellt, dass Frenz früher als Informant des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes gedient hat.
({3})
Abgesehen davon, dass die Informationsverbindung zu
Frenz schon vor Jahren beendet worden ist, sind seine
Auslassungen ausschließlich von ihm selbst zu verantworten. Er war nicht Mitarbeiter des Verfassungsschutzes.
Er ist vom Verfassungsschutz auch nicht in irgendeiner
Weise dahin gehend beeinflusst worden, entsprechende
Äußerungen zu machen. Lediglich für die Beurteilung
seiner Glaubwürdigkeit mag es Bedeutung haben, ob er zu
einem früheren Zeitpunkt dem nordrhein-westfälischen
Verfassungsschutz Informationen geliefert hat.
Im Übrigen ist nach meiner Kenntnis allein der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen befugt, die frühere
Quelleneigenschaft des NPD-Mitglieds Frenz offen zu legen. In diesem Sinne hat sich Staatssekretär Schapper an
den nordrhein-westfälischen Staatssekretär Riotte gewandt, nachdem ihm das Telefongespräch zwischen dem
Abteilungsleiter und Herrn Jentsch bekannt geworden ist.
Außerdem haben eine Reihe von Verfahrensbeteiligten
die Auffassung vertreten, dass eine Offenlegung der Quelleneigenschaft nicht erforderlich sei, weil seine Informantentätigkeit im Jahre 1995 abgebrochen worden sei.
Diese Auffassung hat sich eine Reihe von Vertretern zu
Eigen gemacht. Wer da von Manipulation spricht, der
müsste diejenigen tadeln, die gesagt haben, eine Offenlegung dieser Quelle sei nicht erforderlich.
({4})
Lassen Sie mich einige grundsätzliche Bemerkungen
anschließen, die sich durchaus mit einigen Ausführungen
von Herrn Kollegen Wiefelspütz, aber auch mit solchen
aus der Opposition in Übereinstimmung befinden. Es bedarf der scharfen Unterscheidung zwischen Mitarbeitern
des Verfassungsschutzes, die unter bestimmten Umständen eine Erkundungsaufgabe übernehmen, auf der einen
Seite und Informanten, die nicht Mitarbeiter des Verfassungsschutzes sind, auf der anderen Seite.
Wenn sich Mitglieder einer verfassungsfeindlichen
Partei öffentlich in einer Weise äußern, die die verfassungsfeindliche Haltung der Gesamtpartei belegt, sind
diese Äußerungen nicht schon deshalb irrelevant, weil sie
aus unterschiedlichen Motivationen Informationen an den
Verfassungsschutz weitergeben. Nur dann, wenn die entsprechenden Äußerungen vom Verfassungsschutz gesteuert oder in sonstiger Weise beeinflusst worden sind, scheiden sie als Beweismittel aus.
({5})
Es sollte gemeinsame Überzeugung bleiben, dass die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder für ihre
Arbeit auf ergiebige Informationsquellen angewiesen
sind.
({6})
Wer das bezweifelt, erweist der Sicherheit in unserem
Staat einen Bärendienst.
Solche Informationsverbindungen herzustellen und
Quellen zu erschließen ist eine außergewöhnlich schwierige, zum Teil auch gefahrvolle Aufgabe. Dass sich die
Beamtinnen und Beamten des Verfassungsschutzes dieser
schwierigen und zum Teil gefahrvollen Aufgabe annehmen, verdient keine hämische Kritik, sondern unser aller
Achtung und Anerkennung.
({7})
Die Erschließung und Nutzung von Quellen seitens des
Verfassungsschutzes ist nur möglich, wenn das der absoluten Geheimhaltung unterliegt. Würde dieser Grundsatz
infrage gestellt, würde die gesamte Arbeit des Verfassungsschutzes infrage gestellt.
Aus diesem Grunde ist seitens der Innenminister des
Bundes und der Länder stets hervorgehoben worden, dass
beim Umgang mit den Quellen mit äußerster Sorgfalt vorgegangen und bei der Abfassung der Antragschriften
Konflikte vermieden werden müssen. Deshalb habe ich
die Liste der Personen, die vom Bundesverfassungsgericht zur mündlichen Verhandlung geladen wurden,
nochmals überprüfen lassen. Leider ist die Geheimhaltung der Quellen immer mit dem nahezu unvermeidbaren
Risiko verbunden, dass die Quellen durch den Informanten selbst oder durch Dritte offen gelegt werden können.
Fehler, die in meinem Hause gemacht wurden und für
die ich die Verantwortung trage, beschönige ich nicht.
Doch betone ich, dass der Abteilungsleiter, der für die Telefonate mit dem Bundesverfassungsgericht verantwortlich zeichnet, eine integre Persönlichkeit ist, die in redlicher Absicht gehandelt hat. Vorzuwerfen ist ihm jedoch,
dass er nicht alle Beteiligten informiert und auch das Bundesverfassungsgericht nicht über den vollständigen Sachverhalt aufgeklärt hat. Dafür hat er sich ausdrücklich entschuldigt. Ich habe die Entschuldigung angenommen.
Von weiteren personellen Konsequenzen habe ich abgesehen, weil es sich um einen langjährigen führenden Mitarbeiter meines Hauses handelt, der sich um das Wohl unseres Landes, gerade in der Innenpolitik, große Verdienste
erworben hat. Gleiches gilt für andere Mitarbeiter meines
Hauses, denen ebenfalls Fehler unterlaufen sind.
({8})
Der Abteilungsleiter hat zu verantworten, dass der
Sachverhalt auf einem ungewöhnlichen Kommunikationsweg offen gelegt wurde. Aber wo liegt Ihr Vorwurf? Liegt
der Vorwurf darin, dass Ihrer Meinung nach der Weg der
Offenlegung nicht richtig war, oder darin, dass nicht offen
gelegt worden ist? Wenn Sie vorwerfen, dass nicht offen
gelegt wurde, dann müssen Sie alle tadeln, die der Meinung waren, dass eine Offenlegung unterbleiben oder erst
in mündlicher Form während der Verhandlung stattfinden
sollte. Wie es ausgesehen hätte, wenn dieser Sachverhalt
in der mündlichen Verhandlung bekannt geworden worden
wäre, kann sich jeder in seiner Phantasie ausmalen.
Die Fehler, die zu beklagen sind, werden nach meiner
festen Überzeugung nicht dazu führen, dass das Verbotsverfahren scheitert. Die Aussagen des NPD-Mitglieds
Frenz in seinem Buch haben für die Beweisführung nur
eine untergeordnete Bedeutung; sie sind keine tragende
Wand in der Architektur der Antragsbegründung.
Ich habe in den letzten Tagen eine Reihe von Anklagen
vernommen, die gegen mein Haus und mich persönlich
gerichtet waren. Sie stammen sicherlich ausnahmslos von
Personen, die in ihrem Leben noch nie einen Fehler begangen haben oder in deren Verantwortungsbereich noch
nie ein Fehler vorgekommen ist.
({9})
Bei aller gebotenen Kritik an den Fehlern sollten die
Proportionen nicht aus den Augen verloren werden.
({10})
Bei der NPD handelt es sich um eine eindeutig antisemitische, antidemokratische und verfassungsfeindliche Partei. Dafür gibt es eine überreichliche Zahl von Belegen,
nicht zuletzt in Zusammenhang mit den Ereignissen am
11. September des vergangenen Jahres. Wer um eines vermeintlichen politischen Vorteils willen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von dem verfassungsfeindlichen
Treiben der NPD auf die Sachverhalte verlagert, die heute
im Wesentlichen Gegenstand der Aktuellen Stunde sind,
muss sich fragen, ob das der gesamtpolitischen Verantwortung entspricht.
({11})
Es ist die Aufgabe aller demokratischen Kräfte in diesem Land, auch Ihre, Herr Marschewski, dem verfassungsfeindlichen Treiben der NPD ein Ende zu machen
({12})
und das Verbotsverfahren zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Ich für meine Person bin entschlossen,
dazu meinen Beitrag zu leisten.
({13})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer Tagesordnung angekommen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 30. Januar 2002, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.