Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/25/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der bayerische Staatsminister Otto Wiesheu hat im Mai des Jahres 2000 darauf hingewiesen, dass das Vergaberecht nicht mit vergabefremden Aspekten überfrachtet werden darf. Er hat zugleich das bayerische Gesetz über eine Tariftreueerklärung bei öffentlichen Bauaufträgen in Bayern ausführlich gelobt. ({0}) Daran möchte ich anknüpfen und festhalten: Selbstverständlich darf man dem Vergaberecht nicht zu viele politische Kriterien aufbürden. Bereits die notwendige Transparenz, Objektivität und Justiziabilität machen die Vergabe öffentlicher Aufträge teilweise recht mühsam. Mit der Zulassung verschiedenster vergabefremder Aspekte würde das primäre Ziel des Vergaberechts, öffentliche Aufträge objektiv und diskriminierungsfrei zu vergeben, kaum mehr erreichbar. Die Bundesregierung hat es sich deshalb bei ihrer Entscheidung, die vom Bundesrat gewollte Tariftreuepflicht gesetzlich zu verankern und das bayerische Tariftreuegesetz gemäß Bundesratswillen zu einem Bundesgesetz zu machen, nicht leicht gemacht. Dabei geht es nicht allein darum, eine für die Wirtschaft verheerende Zersplitterung des Vergaberechts zu verhindern. Viele Bundesländer haben ja bereits Tariftreueregelungen in der einen oder anderen Form. Bayern habe ich schon erwähnt; auch das Saarland, Sachsen-Anhalt und Berlin verfügen über derartige Vorschriften und andere Bundesländer bereiten sie vor. Hinzu kommt die prekäre Situation in der Bauwirtschaft. Ein Unternehmen, das sich an die Tarifvereinbarungen hält, hat in Ost- und Westdeutschland nur noch wenig Chancen am Markt. So sehr die Tarifpartner für wirtschaftlich tragbare und vernünftige Tarifvereinbarungen sorgen müssen, der Staat kann die Augen nicht verschließen, wenn in einer Branche Tarifvereinbarungen obsolet zu werden drohen. Das ist nicht im Sinne unserer Verfassung. ({1}) Heute liegt Ihnen deshalb der Entwurf eines Bundesgesetzes vor, den die Regierungsfraktionen gleich lautend zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung eingebracht haben. Mit dem Gesetzentwurf wird auch auf die Situation der Bauwirtschaft reagiert. Durch Lohndumping werden immer mehr Arbeitsplätze insbesondere in mittelständischen Unternehmen zerstört, Arbeitsplätze, die ohne dieses Lohndumping einen ausreichenden sozialen Schutz gewährleisten könnten. Weder Unternehmen noch Arbeitnehmer können aber auf Dauer zu immer niedrigeren Löhnen und immer instabileren Arbeitsbedingungen existieren. Es ist in einer wohlverstandenen sozialen Marktwirtschaft eigentlich Aufgabe der Wirtschaft, eine derartige Fehlentwicklung zu unterbinden. ({2}) Aber diese Chance zur Selbststeuerung wurde nicht ergriffen. Ein weiteres Mal zeigt sich: Der mangelnde Wille, die mangelnde Kraft zur Selbstregulierung erfordert zwingend eine staatliche Regulierung; denn man kann dieses Lohndumping nicht weiter treiben lassen. Die öffentliche Hand muss also handeln. Ansonsten würde aufgrund der Dynamik des Wettbewerbs ein Stundenlohn von 3 Euro zur Regel, um wettbewerbsfähig zu sein. Die öffentliche Hand mit ihrem immensen Auftragsvolumen von rund 250 Milliarden Euro darf dieser Abwärtsspirale nicht Vorschub leisten, sondern muss ihren damit verbundenen Einfluss dazu nutzen, diese Abwärtsspirale abzuschaffen, da sich hier die Wirtschaft nicht selber regulieren will oder kann. Es ist ferner völlig verständlich, wenn die Arbeitnehmer dagegen protestieren, dass mit ihren Steuergeldern Dumpinglöhne gezahlt werden. Das gilt für den öffentlichen Personennahverkehr ebenso wie für den Baubereich. Mit der EU wollen wir auch in diesem Bereich dem Wettbewerb mehr Geltung verschaffen. Das darf aber nicht heißen, dass wir einen Wettlauf um niedrige soziale Standards und schlechte Bezahlung staatlicherseits fördern oder tolerieren. Es geht uns vielmehr um mehr Effizienz und attraktivere Angebote. Noch einmal erlaube ich mir ein Zitat des bayerischen Wirtschaftsministers Wiesheu. Er sagt: Präsident Wolfgang Thierse Bayern tritt für einen fairen Wettbewerb mit Augenmaß im ÖPNV ein. Deshalb haben wir mit allen Betroffenen ... eine Vereinbarung über die Anforderungen bei Linienausschreibungen getroffen. Sie betreffen die Qualität, die Busausstattung, die Tarifverträge. Genau das wird nun mit dem Gesetz Bundesstandard. Der Staat soll Bauaufträge und ÖPNV-Leistungen nur noch an tariftreue Unternehmen vergeben. Um die damit verbundenen bürokratischen Belastungen gering zu halten, will die Bundesregierung eine Bagatellgrenze in Höhe von 50 000 Euro pro Auftrag einführen. Die einzelnen Regelungen des Gesetzes bergen für die öffentlichen Auftraggeber und die Wirtschaft letztlich wenig Überraschungen; denn sie kennen die Praxis, die sich leider etabliert hat. Ferner hat der Bundesrat die Grundzüge einer derartigen Regelung im Juni letzten Jahres skizziert. Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf stützt sich auf diesen Bundesratsbeschluss. Er stützt sich zudem auf die Arbeit einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der betroffenen Wirtschaft, der Ressorts und auch der Gewerkschaften. Bauaufträge und Aufträge über Verkehrsleistungen im ÖPNV sollen danach in Zukunft nur noch an Unternehmen vergeben werden, die die am Ort der Leistungserbringung einschlägigen Tariflöhne zahlen. Ich will nicht verschweigen, dass uns die Frage, ob auf den Lohn der Baustelle oder auf den Lohn des Unternehmenssitzes abgestellt werden soll, einige Kopfschmerzen bereitet hat. Denn für viele ostdeutsche Unternehmen des Baugewerbes bedeutet der Lohn der Baustelle, dass sie bei öffentlichen Aufträgen im Westen nicht mehr mit Ostlöhnen kalkulieren können. Dies gilt allerdings nur für das Baunebengewerbe. Im Bauhauptgewerbe ist tarifvertraglich vereinbart, dass bei Aufträgen im Westen die Westlöhne zu zahlen sind. Das Gesetz schreibt hier also nur das vor, was die Tarifvertragsparteien ohnehin bereits vereinbart haben. Damit ist die Dimension dieser Ostproblematik weit geringer, als vielfach angenommen, da sie - wie gesagt - nur das Baunebengewerbe betrifft. Jetzt will ich noch eine praxisorientierte Frage hinzufügen: Ist ein ostdeutscher Tarifstundenlohn plus Auslösung für den Einsatz in Westdeutschland tatsächlich billiger als ein westdeutscher Tarifstundenlohn? - Bei Tariftreue wohl nicht. Theoretisch kann man also sagen, dass der sich aus dem niedrigen Ostlohn ergebende Vorteil bei Aufträgen im Westen entfällt. ({3}) Praktisch wird das aber keine Rolle spielen. Deshalb gibt es zum Lohn der Baustelle hier keine Alternative. Festzulegen, dass der Lohntarif am Unternehmenssitz gezahlt werden soll, scheidet ferner auch deswegen aus, weil das gerade bei ausländischen Unternehmen nicht zu kontrollieren wäre. Auch würden im Zuge der Osterweiterung der EU zuerst die ostdeutschen Unternehmen von den neuen Wettbewerbern bedrängt. ({4}) Im Übrigen kann man sich durchaus fragen, ob es wirklich zukunftsweisend und auf lange Sicht vernünftig ist, wenn sich Unternehmen im Wesentlichen auf einen Personalkostenvorsprung verlassen, der allein auf die Lohnhöhe zurückzuführen ist. ({5}) Unter diesem Aspekt ist die Streichung des Lohnkostenvorteils aus dem Wettbewerb um öffentliche Bauaufträge durchaus auch eine Chance. Ein weiteres wichtiges Thema des Gesetzentwurfs sind die Kontrollregelungen. Darin, dass das Gesetz ohne effektive Kontrollen und Sanktionen wertlos wäre, sind sich alle einig. Der öffentliche Auftraggeber kann sich deshalb der Hilfe der Bundesanstalt für Arbeit und des Zolls bedienen, die ohnehin schon die Mindestlöhne auf den Baustellen kontrollieren. ({6}) Verstößt ein Unternehmen gegen die Tariftreuepflicht, stehen dem öffentlichen Auftraggeber mehrere Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung - von der Vertragsstrafe bis zum Ausschluss von der Vergabe künftiger öffentlicher Aufträge. Übrigens: Wer die Probleme auf dem Bau kennt, weiß auch, dass meist nicht die Vertragspartner Dumpinglöhne zahlen. Die Preise werden vielmehr bei den Nach- und Nach-Nachunternehmen gedrückt. Damit das Gesetz kein zahnloser Tiger wird, werden auch alle Nachunternehmen in die Tariftreueregelung einbezogen. Meine Damen und Herren, das Gesetz soll dazu beitragen, dass es auf dem Bau und im öffentlichen Personennahverkehr auch in Zukunft stabile Arbeitsverhältnisse gibt. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Diskussion um dieses Gesetz auch die Verantwortung deutlicher werden lässt, die die Tarifpartner für die Beschäftigung haben. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt einen beispiellosen Niedergang in der deutschen Bauwirtschaft. ({0}) Es ist nur allzu normal, dass wir uns hier im Parlament über diese dramatische Entwicklung unterhalten. Seit 1995 gibt es im Bauhauptgewerbe 500 000 Beschäftigte weniger. Im November letzten Jahres waren es gerade noch 948 000. In Deutschland sind 264 500 Bauarbeiter arbeitslos; das sind fast 28 Prozent. Wenn man wie ich seit 36 Jahren in der Branche arbeitet - ich hätte mir niemals vorstellen können, dass einmal eine Situation eintritt, in der man trotz aller Bemühungen keine Arbeit mehr für seine Leute hat, selbst wenn man bereit ist, zu Selbstkosten anzubieten -, drängt einen dieses Problem mehr als manch anderes. Kommt dann ein Vorschlag wie der, ein Betriebstreuegesetz einzuführen, hat man zunächst einmal Hoffnung, dass das vielleicht wirklich etwas verbessern könnte, vor allen Dingen wenn man selbst ausschließlich Tariflöhne zahlt und bei diesen Löhnen seit Monaten keine Arbeit mehr bekommt. Wenn man aber genauer hinschaut, ob das Gesetz an der dramatischen Situation wirklich etwas ändern wird, muss man letztlich feststellen, dass es eine genauso weiße Salbe bleiben wird wie viele andere Regulierungen, die in diesem Bereich gemacht wurden, auch. Das Gesetz gilt ja nur für öffentliche Aufträge. Die öffentlichen Aufträge machen aber leider gerade nur noch 14 Prozent der Bausumme in Deutschland aus. ({1}) Von diesen 14 Prozent werden zwei Drittel von den Gemeinden investiert. Es ist ja nicht so, als wenn nicht genügend Arbeit da wäre. Man schätzt den Investitionsbedarf der Gemeinden für Infrastruktureinrichtungen, die gebaut, aber auch unterhalten werden müssen, damit sie nicht vor die Hunde gehen, zurzeit auf 1 Billion DM. ({2}) Wenn ich mir die Wirklichkeit in den öffentlichen Haushalten ansehe, ist zunächst einmal festzustellen, dass die Nachfrage der öffentlichen Hand in den letzten Jahren leider massiv zurückgegangen ist, nämlich um 1,9 Prozent in 2000 und 2,5 Prozent in 2001. Wenn ich jetzt das Jahr 2002 betrachte, stelle ich fest: Der Bund hat eine Investitionsquote von nur noch 10,1 Prozent im Haushalt vorgesehen. Das ist die niedrigste Investitionsquote, die es je gegeben hat. ({3}) Der Bund investiert im Jahr 2002 9,5 Milliarden DM nominal weniger als 1998, und zwar trotz eines Steueraufwuchses von rund 48,5 Milliarden DM in diesem Zeitraum. Auch in den Ländern sind die Haushalte, um die nötigen Investitionen durchzuführen, sehr eng. Es gibt einen guten Grund, warum Herr Eichel den Ländern und Gemeinden eine höhere Nettoneuverschuldung erlaubt hat. Wenn ich mir aber die Gemeinden anschaue, die einen traumatischen Einnahmeausfall haben, weil durch die Steuerreform die kommunale Einnahmebasis ruiniert worden ist, dann weiß ich, was in Zukunft auf das Baugewerbe noch zukommt: Dieser verminderte Investitionswille und diese verminderte Investitionsfähigkeit der einzelnen Ebenen werden dazu führen, dass wir einen sich selbst beschleunigenden Abschwung im Baugewerbe bekommen werden. Ich kann nur dringend dazu raten, die kommunale Einnahmebasis möglichst schnell wieder zu verändern. Damit ist mehr getan als durch jede unsinnige Regulierung. ({4}) Ich komme zum zweiten Schwerpunkt, woran der Bau heute krankt. Wir hatten im Wohnungsbau in 2000 ein Minus von 9 Prozent und in 2001 eines von 17 Prozent. Es ist nicht so, als wenn die Menschen in Deutschland nicht mehr den Willen zum Bau von Eigenheimen hätten. Aber Sie haben die Ausgangsvoraussetzungen, damit die Leute bauen können, in Ihrer Regierungszeit massiv verschlechtert. Sie haben die Einkommensgrenze für die Wohneigentumsförderung von 120 000 bzw. 240 000 DM auf 80 000 bzw. 160 000 DM reduziert. Wir haben Ihnen damals bei den Beratungen gesagt, dass dies zum Rückgang des Wohneigentumsbaus in Deutschland führen werde. Auch die Verbände haben Ihnen dies gesagt. Aber Sie haben - aus welchen Gründen auch immer - die Schwelle für die Förderung des Wohneigenheimbaus, die wir eingeführt hatten, sinnlos reduziert. Ich sage das hier, weil mancher von Ihnen ein Haus gebaut hat. Ich habe viel Baufinanzierung gemacht. ({5}) Ich weiß: Wer mit dem Groschen rechnen muss, für den sind bei einer monatlichen Refinanzierung die letzten 200 oder 300 DM am schwierigsten aufzubringen. Das weiß jeder, der einmal einen Hausbau finanziert hat. Sie haben auch die Möglichkeit vieler Menschen reduziert, den Wohnungsneubau zu finanzieren. Was Sie mit den 630-DM-Jobs gemacht haben, hat die Fleißigsten in unserem Lande bestraft. ({6}) Sie wollen die Partei der kleinen Leute sein. Sie wissen aber nicht, was sich da abspielt. Ich kenne Dutzende von Beispielen, bei denen ein Ehepaar, um ein Haus zu bauen, eine Wohnung oder Möbel zu kaufen, entschieden hat, dass einer von beiden einen Nebenjob annimmt. Damit konnte dann das Geld aufgebracht werden, um sich dies leisten zu können. Diejenigen, die so gehandelt haben und jetzt die 630 DM zu ihrem ersten Gehalt dazurechnen müssen, womit sie in die Progressionszone kommen und damit aus 630 DM netto nur noch 350 DM netto geworden sind, sind aber nicht mehr in der Lage, sich diese Dinge zu leisten. Das führt zu einem dramatischen Rückgang bei den Wohnungsneubauten. ({7}) - Lassen Sie diese dümmlichen Zwischenrufe! Ich weiß sehr genau, wovon ich spreche. ({8}) Auch Sie wissen, dass ich genau weiß, wovon ich spreche. Wenn man in einer Branche arbeitet, dann stellt man sich nicht erst heute die Frage: Was ist eigentlich in unserer Branche los? Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich Anfang der 90er-Jahre auch bei uns davor gewarnt habe, zu glauben, dass eine Mindestlohnverordnung oder ein Entsendegesetz etwas bringen würden. Vor kurzem haben Sie den Unfug mit der Bauabzugssteuer gePeter Rauen macht. Jetzt wollen Sie die Tariftreueregelung einführen. Das ist doch alles nur weiße Salbe. Meine Damen und Herren, ich will Ihnen den wahren Grund nennen. ({9}) - Das war als Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung geplant. Das hat sich zunächst auch gut angehört. Aber angesichts des bürokratischen Molochs, der auf unsere Handwerksbetriebe zurollt, die seit zehn oder 15 Jahren ihre Steuernummer haben und plötzlich mit diesen Abzügen kujoniert werden, ({10}) macht sich Ärger in den Betrieben über diese Regelungen breit. ({11}) Das Gesetz lässt die Betriebe zum Inkassobetrieb für die Finanzämter werden. Das war bei dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung, dem wir seinerzeit zugestimmt haben, zunächst nicht bedacht worden. ({12}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch feststellen: Was Sie hier machen, ist aus der Sicht der neuen Bundesländer nicht akzeptabel. ({13}) Ich bin nicht bereit, meine eigene Lebenserfahrung hinter vordergründigen Überlegungen zurückzustellen. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich vor 35 Jahren angefangen habe, ohne irgendetwas an den Füßen zu haben. Ich war froh, meinen Betrieb in der Eifel zu haben, wo es damals etwas geringere Tariflöhne gab und wir froh waren, Aufträge im Saarland oder in Nordrhein-Westfalen zu bekommen. Wenn ich damals gezwungen worden wäre, die Löhne vor Ort zu bezahlen, wäre ich sicherlich nicht hochgekommen und hätte den Betrieb nicht in Gang setzen können. Ich bin nicht bereit, den Betrieben in den neuen Bundesländern, die um ihre Existenz kämpfen, eine Regelung überzustülpen, die im Prinzip ein Unternehmensvernichtungsgesetz in den neuen Bundesländern darstellt. Das kann nicht sein. ({14}) Meine Damen und Herren, wenn Sie die Probleme auf dem Bau wirklich lösen wollen, dann muss alles getan werden, um die viel zu große Schere zwischen den Nettolöhnen der deutschen Bauarbeiter, die zu gering sind, ({15}) und ihren Bruttoarbeitskosten, die viel zu hoch sind, durch entsprechende Reformen wieder zu schließen. Das ist die einzige Möglichkeit, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. ({16}) Das gilt auf Dauer nicht nur für das Baugewerbe. Der Bau ist nur der Fokus einer Entwicklung, die wir gewollt haben und die jetzt eintritt. ({17}) Wir sind davon ausgegangen, dass Europa den freien Verkehr von Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital bedeutet. Genau das geschieht jetzt bei der Lohnmigration in Europa. Dabei können wir langfristig nicht mit Verboten argumentieren. ({18}) Ich nehme zum Beispiel den Bauboom in Portugal. Man sieht bei einem Besuch der Baustellen, dass dort viele Marokkaner arbeiten, wobei man sich dann nicht darüber wundern muss, warum so viele Portugiesen anderswo in Europa arbeiten. ({19}) In Tschechien oder Polen arbeiten heute Letten, Ukrainer und Weißrussen, weil die einheimischen Arbeitnehmer ihr Geld bei uns verdienen. ({20}) Wenn wir es nicht schaffen, die viel zu hohe Belastung der Arbeit durch die notwendigen Reformen zu senken mit dem Ziel, dass den Menschen mehr bleibt, dann werden wir die Probleme auf dem Bau niemals lösen können. ({21}) Genau dabei haben Sie versagt. Sie haben das Gegenteil von dem gemacht, was Sie eigentlich tun müssten. Schönen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Rauen, Sie wissen zwar genau, worüber Sie reden; aber Sie reden nicht genau über die Probleme. ({0}) Es sind natürlich nicht nur die klammen Gemeindefinanzen und die hohen Lohnnebenkosten, die das Baugewerbe bedrücken, sondern auch die politischen Fehler, die im Zuge der deutschen Einheit gerade von Ihnen gemacht wurden. ({1}) Die prekäre Situation des ostdeutschen Baugewerbes hängt sehr stark mit den Überkapazitäten zusammen, die dort geschaffen worden sind, und zwar durch Steuerabschreibungsmodelle der FDP ({2}) und durch Fehlallokation von Kapital in einer beachtlichen Größenordnung. Es gibt dort Investitionsruinen; dort sind Bauten errichtet worden, die niemand braucht und die leer stehen. Der Leerstand ist unglaublich hoch. Das ist gerade für eine neues Bundesland bedrückend. Das ist sicherlich durch die Wunschvorstellungen getragen, eine Art zweites Wirtschaftswunder mit einer Baukonjunkturlokomotive in Gang setzen zu können. Doch heute haben wir dadurch massive Probleme. Die Experten sagen, dass das Wirtschaftswachstum bei etwa 1,5 Prozent liegen würde, wenn die Probleme der ostdeutschen Bauwirtschaft mit dem Abbau der Überkapazitäten nicht berücksichtigt würden. ({3}) - Günter Nooke, zu diesem Ergebnis ist das Institut für Wirtschaftsforschung Halle gekommen. Ich vertraue darauf. ({4}) - Da Sie sich an dieser Debatte so engagiert beteiligen, vermute ich, dass Sie heute Morgen sehr starken Kaffee getrunken haben ({5}) oder dass Ihnen, Kollege Merz, der gestrige Abend noch lebhaft in Erinnerung ist. In der Wirtschaftsentwicklung der Europäischen Union spielen Liberalität und Wettbewerb eine sehr große Rolle. Das ist mit der Einführung des Euro noch einmal verstärkt worden. Der Wettbewerb hält auch Einzug in alle Bereiche der alten Daseinsvorsorge. Das ist aus unserer Sicht förderlich; denn wir setzen auf die Kreativität des Wettbewerbs. Es geht dabei um den besten Service sowie um die besten technologischen und ökologischen Lösungen. Aber wir müssen darauf achten, dass der Wettbewerb - dass Ihnen Wettbewerb nicht gefällt, kann ich mir vorstellen - fair ist, dass faire Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass die sozialen Rechte eingehalten werden - das ist im Baugewerbe ein großes Problem - und dass die soziale Realität in einem zusammenwachsenden Deutschland berücksichtigt wird. Fakt ist: Vergabegesetze gibt es in Bayern - das dortige Gesetz geht auf die Initiative der CSU zurück -, in Berlin - dort hat die große Koalition, an der die CDU beteiligt war, ein entsprechendes Gesetz in Kraft gesetzt -, im Saarland - auch dort hat die CDU ein Vergabegesetz verabschiedet und in Sachsen-Anhalt. Man weiß aufgrund praktischer Erfahrungen, dass sich mit Vergabegesetzen gewisse soziale Standards erhalten lassen. Allerdings stellt sich die Frage, ob man mit solchen Gesetzen der sozialen Realität in einem Transformationsland, wie es das vereinte Deutschland ist, in ausreichendem Maße Rechnung trägt. Wir sollten aber auch die Einwände beachten, die beispielsweise der Deutsche Städte- und Gemeindebund vorgebracht hat. Er sieht in dem angekündigten Tariftreuegesetz die Gefahr der einseitigen Benachteiligung von Bauunternehmen - sei es auch nur des Baunebengewerbes - aus den neuen Bundesländern. Viele dieser Betriebe können sich offensichtlich nur durch Aufträge der öffentlichen Hand aus den alten Bundesländern über eine bestehende Durststrecke hinweghelfen. Wir müssen auf jeden Fall eine Lösung finden, die es vermeidet, dass solche Unternehmen von zwei Dritteln des gesamtdeutschen Marktes ausgeschlossen werden. Darauf sollten wir in der Anhörung den Fokus legen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Herr Schulz, ist Ihnen der Artikel des Kollegen Metzger aus der „FAZ“ vom 18. Januar dieses Jahres bekannt, in dem er vehement vor der Einführung eines Tariftreuegesetzes warnt, da dieses zum Absterben der Bauindustrie und des Baugewerbes in Deutschland führen werde? ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kenne diesen Artikel zwar nicht. Aber ich kenne die Position und die Auffassung meines Kollegen Metzger. Wir haben darüber sehr kritisch diskutiert. Solche Einwände, wie Sie sie gerade angeführt haben, werden ja nicht nur von ihm, sondern auch von der mittelständischen Bauwirtschaft erhoben. Wir nehmen - das haben Sie vielleicht auch mitbekommen - diese Einwände und die damit verbundenen Sorgen sehr ernst. Wir sind um eine Lösung bemüht. Der vorliegende Entwurf eines Tariftreuegesetzes - das ist bei vielen Gesetzesberatungen so - wird den Bundestag mit Sicherheit nicht so Werner Schulz ({0}) verlassen, wie er eingebracht worden ist. Wir setzen auf die Beratung und die Anhörung. Wir sind der Meinung, dass wir eine gemeinsame Lösung für die Probleme finden werden, auch wenn das nicht einfach sein wird. ({1}) Das Gleiche gilt für den Schwellenwert. Auch hier gehen die Auffassungen sehr stark auseinander. Die einen hätten am liebsten einen Schwellenwert von 10 000 Euro; die anderen möchten beim Auftragsvolumen einen Schwellenwert von 300 000 Euro haben. Auch darüber müssen wir in der Anhörung Klarheit schaffen. Wir werden auch Klarheit darüber schaffen müssen, wie hoch der Verwaltungsaufwand sein wird und wie und wo beispielsweise ausländische Unternehmen kontrolliert werden können. Wir müssen uns auch über die Laufzeit und über den Berichtszeitraum für dieses Gesetz verständigen. Ich glaube, wir haben in diesem Falle einen echten und großen Beratungsbedarf. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Sachverständigenrat schreibt in seinem aktuellen Gutachten zu dem Tariftreuegesetz - ich zitiere -: „Wir raten von diesem Gesetz ab, hoffentlich nicht wieder umsonst.“ Eigentlich ist dem nichts hinzuzufügen. ({0}) Wir haben in der Bauwirtschaft unbestritten eine katastrophale Lage. Sie ist noch katastrophaler in Deutschland-Ost. Herr Schulz, ich verstehe Sie überhaupt nicht. ({1}) 36 Prozent der ostdeutschen Bauarbeiter sind arbeitslos. ({2}) In den neuen Bundesländern sind etwa 80 Prozent aller Arbeitsverhältnisse außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts. ({3}) Das ist eindeutig rechtswidrig. Keine Gewerkschaft - auch nicht die IG BAU -, keine Regierung und kein Politiker gehen an den rechtswidrigen Tatbestand heran, dass 80 Prozent außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts beschäftigt sind. Jeder weiß nämlich: Wenn man da herangeht, verdoppelt oder verdreifacht sich die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. ({4}) Es ist eine Notreaktion, dass sich in den betroffenen Unternehmen die Mitarbeiter und die Unternehmer zusammensetzen, damit Arbeit in einem gewissen Umfang überhaupt noch vorhanden ist. Der einzige Vorteil dieser Betriebe ist - die Fachleute sprechen von einem komparativen Vorteil -, dass sie zu anderen Konditionen anbieten können. - Herr Schwanitz schweigt dazu. Der Aufbau Ost soll doch Chefsache sein. Chefsache in diesem Land ist aber nur Holzmann. Sie nehmen genau diesen Betrieben die Chance, Beschäftigung zu bekommen. ({5}) Wenn ein ostdeutscher Betrieb in Köln, in Frankfurt oder in Stuttgart zu den örtlichen Tarifen anbietet, hat er keine Chance. Sie nehmen ihm die Chance! Sie bauen wieder Schutzzäune um die Märkte. Das ist genau der falsche Weg. ({6}) Das ist der gegenteilige Ansatz zu dem Ordnungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft. Dass ausgerechnet ein Land wie Sachsen-Anhalt, das die höchste Arbeitslosigkeit und die miserabelsten Wirtschaftsdaten in Deutschland hat, ({7}) einen solchen Gulasch, eine solche Fehlentwicklung unterstützt, indem es einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat mit einbringt, zeigt, dass diese Regierung die Probleme ihres Landes nicht verstanden hat. Deswegen muss sie weg. ({8}) Die IG BAU „honoriert“ der Regierung die Tatsache, dass diese ihren sehnsüchtigen Wunsch erfüllt, nach dem Entsendegesetz einen weiteren Schutzzaun zu bauen, mit einer Lohnforderung von 4,5 Prozent, was angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in die Rezession hineinführt. In dieser Situation muss man erst einmal auf die Idee kommen, mit einer solchen Forderung in die Tarifverhandlungen hineinzugehen. Die Theaterinszenierung Bündnis für Arbeit wird erneut nichts bringen. Dort werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. ({9}) Kernproblem in diesem Bereich ist die Schwarzarbeit. Auch dort geht man den falschen Weg. Hauptursache der Schwarzarbeit ist, dass die Differenz zwischen Brutto und Netto zu hoch ist. Wir nehmen den Leuten zu viel ab. ({10}) Aber anstatt an den Ursachen anzusetzen und anstatt Freiraum zu geben, geht man die andere Richtung, indem man noch mehr reguliert und ein Zwangskorsett schafft. So geht man gegen die Arbeitslosen vor; man gibt ihnen keine Chance. Das ist doch alles nur Kosmetikköfferchen. Das hilft doch überhaupt nicht; das ist keine Lösung. ({11}) Die Konsequenz ist: Das Bauen wird teurer. Es wird weniger Bauaufträge der öffentlichen Gebietskörperschaften geben, denen es eh schon schlecht geht und die Werner Schulz ({12}) aus dem letzten Loch pfeifen. „Weniger Bauaufträge“ heißt: weniger Beschäftigung, also wieder mehr Arbeitslosigkeit. Das kostet mehr. Man gibt, wie gesagt, den draußen Stehenden keine Chance. Das ist erneut ein Beitrag zu mehr Kompliziertheit. Wir haben bei uns in Deutschland Vergabedschungel und Regulierungswut. Wir legen denen, die etwas machen wollen, Handschellen an. Statt 1 000 Handschellen abzulegen, damit sie etwas machen können ({13}) - Sie sollten sich schämen, statt dazwischenzurufen -, ({14}) gehen wir weiter in Richtung Regulierung. Das Gegenteil von „gut“ ist eben „gut gemeint“. Ich will dem einen oder anderen gar nicht unterstellen, dass er keine gute Absicht dabei hat, aber Sie machen es fundamental falsch. ({15}) Ich verstehe auch nicht, dass sich ein Wirtschaftsminister, der in einer Regierung eigentlich das ordnungspolitische Gewissen sein sollte, hier hinstellt und diesen elementaren Verstoß gegen die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft - wieder mehr Zement, mehr Schutzzäune, keine Flexibilität, keine Öffnung - auch noch rechtfertigt. Das ist eigentlich noch der i-Punkt dabei. ({16}) Bei allen Wirtschaftsforschungsinstituten, bei der Bundesbank, bei der OECD besteht die klare Auffassung: Dass wir von der unerträglich hohen Arbeitslosigkeit nicht herunterkommen, liegt an der Inflexibilität des Arbeitsmarktes. Das ist das Kernproblem. ({17}) Sie müssen endlich Freiräume schaffen und das Tarifvertragsrecht novellieren, sodass auch das Günstigkeitsprinzip zugunsten der Erhaltung des Arbeitsplatzes angewendet werden kann. ({18}) Gebt den Mitarbeitern in den Betrieben Mitbestimmung und kommt weg von der Funktionärsfremdbestimmung! ({19}) Lassen Sie sie, wenn sie es wollen, mit 75 Prozent Mehrheit anders entscheiden. Sie sind betroffen. Um deren Arbeitsplatz und nicht um den der Gewerkschaftsfunktionäre geht es! ({20}) - Sie als IG-Metall-Funktionär müssen aus Solidarität anders schreien. So ein Unsinn! ({21}) Wenn Sie weiter den falschen Weg gehen, dann werden Sie die Arbeitslosigkeit von Monat zu Monat steigern. Allein im Dezember 180 000 neue Arbeitslose! Das wird weiter so gehen. Sie werden im nächsten Monat eine weitere Steigerung der Arbeitslosigkeit hinnehmen müssen. Sie gehen genau in die falsche Richtung. Dieses Gesetz hat fast Symbolcharakter. Es steht für eine falsche Denke. ({22}) Flexibilität, Freiraum, Marktwirtschaft - das ist der Weg. Zementieren, lokales Denken, Schutzzäune um Köln, um Bonn, damit kein anderer Bauarbeiter eine Chance hat - das ist Rückschritt ins Mittelalter. Sie bauen ja wieder eiserne Schienen in die Flüsse, damit sich dort nichts bewegt. Das ist intellektuelles Raubrittertum. Sie machen es fundamental falsch. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ulla Lötzer, PDS-Fraktion, das Wort.

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle, kümmern wir uns mal um die realen Probleme der Menschen, die in diesen Branchen arbeiten! ({0}) Sie werden zum Beispiel bei dem Streit deutlich, den die Busfahrer der Firma Rheinbus in Düsseldorf seit Dezember führen. Sie wollen nichts anderes, als ihren Anspruch durchzusetzen, das Einstiegsniveau nach dem Tarifvertrag zu erhalten, der mit dem kommunalen Arbeitgeberverband ausgehandelt wurde. Die Arbeitgeber haben einen Gefälligkeitstarifvertrag mit einer anderen Gewerkschaft zu niedrigeren Tarifen, nämlich 1 400 Euro im Monat für Busfahrer im Schichtdienst, abgeschlossen. ({1}) Das gehört zu den realen Problemen der Menschen. Dafür streiken sie. Da geht es nicht um irgendwelche Funktionäre. ({2}) Zielsetzung des Entwurfs ist es, so sagen Sie, Arbeitsplätze zu erhalten, die einen ausreichenden sozialen Schutz und ein angemessenes Einkommensniveau gewährleisten. Nur ist der Entwurf insofern inkonsequent. Der Gefälligkeitstarifvertrag, den ich eben erwähnte, könnte nämlich zur Grundlage des Wettbewerbs werden, wenn dieser Entwurf Gesetz wird. Sie sagen darin ja: Der öffentliche Auftraggeber kann entscheiden, welchen der gültigen Tarifverträge er wählt, wenn es denn mehrere gibt. Das ist für uns ebenso unannehmbar wie für die Gewerkschaften. Wir wollen, dass der Entwurf in der Beratung dahin geändert wird, dass der repräsentative ortsübliche Tarifvertrag eingehalten werden muss. ({3}) Der vom Europäischen Parlament beschlossene Handlungsrahmen erlaubt ausdrücklich auch den Schutz der tariflichen Arbeitsbedingungen. Warum bleiben Sie mit Ihrer Beschränkung auf Einkommen eigentlich dahinter zurück? Auch sollten die Behörden dazu verpflichtet werden, bei Verstößen tätig zu werden. Sie alle kennen doch beim Bau die Erfahrungen zur Genüge, wenn solche Kontrollrechte und Aufsichtspflichten nicht eingeführt sind. Warum sind eigentlich Branchen wie das Bewachungs- und Reinigungsgewerbe und die Abfallwirtschaft nicht einbezogen? Weil sie nicht gekämpft haben, Ihnen das nicht abgerungen haben? Das kann sich allerdings ändern. Heute tagen die Betriebsräte dieser Branchen in Kassel ({4}) und werden über das Vergabegesetz sprechen, weil auch in diesen Branchen Niedrigsteinkommen und Tarifflucht an der Tagesordnung sind. Nun zu all den Freunden des Ostens: Sie, die Kollegen Schulz, Rauen und Brüderle, treiben ein zynisches Spiel mit den Ängsten und Sorgen der Menschen in Ostdeutschland um ihre Arbeitsplätze, ({5}) wenn Sie deren Arbeitsplätze nur dadurch sichern wollen, dass der Osten gegenüber dem Westen zum Lohndumpinggebiet erklärt wird. ({6}) Wir unterstützen deshalb die Bindung an den ortsüblichen Tarif. Er bringt uns ein Stück näher an die Angleichung der Ostlöhne an die Westlöhne. Mit Ihren Vorstellungen aber würden Sie forcieren, dass in den ostdeutschen Ländern die Auseinandersetzung um den niedrigsten Tarif weitergeführt würde. Auch würde die Abwärtsspirale fortgesetzt werden und der rechtsfreie Zustand hielte an. Auch Sie wissen, dass junge, qualifizierte Leute gerade in der Baubranche längst die ostdeutschen Länder verlassen und in die Niederlande sowie die westdeutschen Länder gehen, weil sie dort nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Diese Entwicklung müssen wir stoppen. Des Weiteren betrügen Sie die Menschen: Auch Ihnen ist bekannt, dass das Vergabegesetz den europaweiten Wettbewerb regelt. Längst verlagern ost- und westdeutsche Baubetriebe ihren Sitz nach Polen. Dort beträgt die tarifübliche Bezahlung 1 000 DM pro Monat. Wollen Sie diesen Zustand fortschreiben? Damit wird kein Erfolg verbunden sein. Die Deutsche Bank Research hat mit Blick auf den öffentlichen Personennahverkehr festgestellt, dass es überhaupt nicht um die kleinen und mittleren Betriebe geht, weil auf der Grundlage der europäischen Richtlinie längst Konzerne wie Vivendi in den Startlöchern sitzen. Sie betreiben das Geschäft dieser Konzerne und machen ihnen die Übernahme der öffentlichen Aufträge billig, nicht aber das Geschäft der kleinen und mittleren Unternehmen in Ostdeutschland oder Westdeutschland. Zukunftsfähige Arbeitsplätze brauchen wir auch in Ostdeutschland. Das bedeutet existenzsichernde Arbeit und Einhaltung von sozialer Demokratie. Mit Lohndumping jedoch ist die Zukunft auf Sand gebaut; denn dann werden weder die ostdeutschen Betriebe noch die ostdeutschen Beschäftigten eine Chance haben. Deshalb muss dieses Gesetz eher noch verbessert werden. Wir werden entsprechende Änderungsanträge einbringen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Minister für Wirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Ernst Schwanhold. Ernst Schwanhold, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man Herrn Brüderle gehört hat, dann muss man sich schon über das wundern, was sein Kollege Bauckhage zu diesem Thema im Bundesrat sagt. ({1}) Man wundert sich auch, mit welcher Gesetzesinitiative der sehr geschätzte Kollege Otto Wiesheu aus Bayern versucht, den Arbeitnehmern die Sicherheit zu geben, dass die Aufträge, die sie mit ihren Steuern finanzieren, auch zu einem auskömmlichen Einkommen führen. Nur um diese Frage geht es in Ost wie in West und genau über diesen Punkt sollten wir hier streiten. Herr Brüderle, es gibt noch genügend Wahlkämpfe. Unterlassen Sie es, an dieser Stelle Wahlkampfreden zu halten. Wir reden über 10 Prozent des Auftragsvolumens. Dies bedeutet keine generelle Sperre, sondern betrifft die beispielgebende Funktion von öffentlich ausgeschriebenen Aufträgen. Dafür haben wir eine höhere Verantwortung, als Sie es hier deutlich gemacht haben. Wir haben nämlich als öffentliche Hand die Verantwortung, auf allen Ebenen dafür zu sorgen, dass das, was gesetzlich vereinbart ist, eingehalten wird. Sie können nicht nach dem Motto vorgehen, die Tarifverträge hätten keine Gültigkeit, obwohl Sie in Sonntagsreden gerade die Tarifvertragsparteien gefeiert haben. Ich könnte Ihnen alle Reden vorlesen, die Sie dazu gehalten haben. Sie können nicht sagen: Wenn die Tarifverträge gebrochen werden, ist das auch in Ordnung. Schwarzarbeit ist gesetzwidrig, aber die Schwarzarbeit wird zum Maßstab gemacht, um anschließend die Tarifvertragsregelungen anzupassen. So kann der Gesetzgeber nicht damit umgehen. ({2}) Meine Damen und Herren, ich will darauf hinweisen, dass der Bundesrat am 22. Juni letzten Jahres auf Initiative der Länder Nordrhein-Westfalen und Berlin einen Gesetzentwurf zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen beschlossen hat. Danach sollten öffentliche Auftraggeber Bauaufträge nur an solche Unternehmen vergeben dürfen, deren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach den am Ort der Auftragserfüllung einschlägigen Tarifverträgen entlohnt werden. ({3}) Das ist das Mindestmaß an Sicherheit, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land verdient haben. Worum sollten wir uns sonst eigentlich kümmern? ({4}) Das gleiche Begehren haben wir an die Verkehrsleistungen des öffentlichen Personennahverkehrs gestellt. Heute stehen neben diesem Gesetzentwurf weitere Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung. Das macht deutlich, mit welchem Problemdruck wir es zu tun haben. Ich will die Probleme der Bauwirtschaft weder in Ost noch in West geringreden. Wir werden sie aber nicht damit lösen, dass wir alle Schleusentore öffnen. Das ist ein Irrglaube, den es schon viel zu lange gibt. Das Motiv unserer Gesetzesinitiative hat Bundeswirtschaftsminister Müller soeben dargestellt. Naturgemäß stößt die Tarifbindung der Auftragnehmer bei den einschlägig betroffenen Verbänden auf ein unterschiedliches Echo; auch das ist mir klar. Ich möchte aber betonen, dass der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes eine tarifbindende gesetzliche Regelung ausdrücklich befürwortet. Die mittelständischen Unternehmen, die Wettbewerbsnachteile haben - in jeder Sonntagsrede von Herrn Brüderle gibt es übrigens lange Passagen zu den mittelständischen Betrieben -, verlangen, dass diese Regelungen erlassen werden, weil sie ihre einzige Überlebenschance darstellen; ansonsten würden sie in diesem gnadenlosen und brutalen Wettbewerb ohne tarifliche und gesetzliche Bindung untergehen. ({5}) Der Verband der Verkehrsunternehmen, Herr Brüderle, ist der Ansicht, dass die infrage stehenden Ziele am ehesten durch ein Bundesvergabegesetz bzw. Tariftreuegesetz zu erreichen sind. Nach Ansicht dieses Verbandes muss es das Ziel sein, dass sich die im Wettbewerb konkurrierenden Unternehmen auch an arbeits- und sozialrechtliche Mindeststandards im Hinblick auf die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer halten. Der Gesetzentwurf zur Tarifbindung greift in die Vertragsfreiheit ein, darüber sind wir uns alle im Klaren; auch der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen sieht das so. ({6}) - Das machen wir an anderen Stellen auch, das wissen Sie. Das ist ein Abwägungsprozess. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Eingriff auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu rechtfertigen ist. Der Verhältnismäßigkeit entspricht auch die Beschränkung auf die Bauwirtschaft und den öffentlichen Personennahverkehr, da dies die Sektoren sind, in denen sich die am wenigsten sozialverträglichen Effekte zeigen. Mit dem Vollzug des Gesetzes entstehen den öffentlichen Auftraggebern betriebswirtschaftlich gesehen höhere Kosten. Das ist natürlich gerade in Zeiten knapper Kassen problematisch, aber es ist gesamtwirtschaftlich zum Schutz der sozialen Sicherungssysteme gerechtfertigt. Betriebswirtschaftliche Aspekte müssen immer gegenüber volkswirtschaftlichen Aspekten abgewogen werden. Der volkswirtschaftliche Schaden in diesem Bereich wäre sehr viel größer als der vermeintlich betriebswirtschaftliche Nutzen, der nur dazu führen würde, dass Tarifsysteme ausgehöhlt würden. Herr Brüderle, ich freue mich auf die Diskussion, insbesondere mit Ihrem Kollegen Bauckhage und dem Kollegen Wiesheu. Wir wollen einmal sehen, zu welchen Einsichten Sie fernab des Getümmels, welches hier stattgefunden hat, kommen werden. Herzlichen Dank für die Geduld. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! In Kunst und Politik bewirkt gut gemeint regelmäßig das Gegenteil von gut. Die heute in erster Lesung zu beratenden Anträge zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen mögen gut gemeint oder auch naiv sein, sie werden genau das Gegenteil bewirken: ({0}) Statt Wettbewerbsverzerrungen entgegenzuwirken - so im Gesetzentwurf von SPD und Grünen formuliert - soll Wettbewerb unterbunden und verhindert werden, statt in arbeitsmarktpolitisch sensiblen Bereichen Arbeitsplätze zu halten - so steht es im Gesetzentwurf -, wird bei Umsetzung dieses Gesetzes daraus ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm. Statt öffentliches Bauen preiswerter zu machen, kommt es zu einer Verteuerung öffentlicher Bauaufträge um mindestens 5 Prozent. Die einzigen Arbeitsplätze, die geschaffen werden, sind Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung: im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, bei der Bundesanstalt für Arbeit und bei der Zollverwaltung. Haben wir im öffentlichen Dienst nicht bereits genug Arbeitsplätze und ist das öffentliche Bauen nicht schon teuer genug? ({1}) Haben wir in der Bauwirtschaft, insbesondere in der ostdeutschen Bauwirtschaft, keine anderen Sorgen? Nicht zuletzt: Wer kann ein Interesse daran haben, dass ostdeutsche Bauarbeiter den Unterhalt ihrer Familien nicht mehr durch eigene Arbeit bestreiten können? ({2}) Minister Ernst Schwanhold, ({3}) Herr Kollege Staffelt, mit diesen Fragen und mit der Ablehnung dieser Gesetzesanträge steht die Unionsfraktion nicht allein.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Staffelt? ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte.

Dr. Ditmar Staffelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003239, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, die Erfahrung lehrt: Wenn schwere Wahlkämpfe vor einem liegen, ist es immer ratsam, zunächtst einmal in der eigenen Partei die Dinge zu klären. Meine Frage an Sie lautet: Wie erklären Sie sich, dass der bayerische Ministerpräsident, Ihr Spitzenkandidat, der bayerische Wirtschaftsminister, der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin - auch er gehört bekanntlich der CDU an - und der damalige Wirtschaftssenator Branoner - auch er gehört der CDU an - ein solches Vergabegesetz vehement gefordert, begründet und entworfen haben? Berlin ist sogar bis vor Bundesgerichte gezogen. Glauben Sie nicht, dass es besser wäre, diese Frage zunächst einmal intern zu reflektieren, bevor Sie sich hier so weit vorwagen, dass Sie sich am Ende nicht mehr vor den Menschen sehen lassen können? ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Staffelt, bevor ich zu den Interna Ihrer Partei komme, möchte ich Folgendes sagen: Ein schlechtes Gesetz wird nicht dadurch besser, dass eine bayerische Unterschrift darunter steht. ({0}) Die „Leipziger Volkszeitung“ schreibt am 14. Dezember: Ost-SPD-Abgeordnete machen Front gegen Tarifvergabegesetz. 23 ostdeutsche SPD-Bundestagsabgeordnete der neuen Länder beklagen, dass damit die Baubranche der neuen Länder zurückgeworfen wird und eine „Diskriminierung ostdeutscher Arbeitnehmer“ einhergeht. ({1}) - Meine lieben Kollegen von der SPD, nun hören Sie sich doch einmal Ihre Schande an: Dies steht in einem Schreiben von 23 SPD-Bundestagsabgeordneten an ihren Fraktionsvorsitzenden. Darin wird beklagt - sie kündigen einen „entschiedenen Widerstand“ gegen dieses Gesetz an -: Wir sind gewählt worden, ({2}) - hören Sie einmal zu! um Arbeitsplätze im Osten zu erhalten bzw. zu schaffen, und nicht, um eine Schutzfront West aufzubauen. ({3}) „Schutzfront West“, Kollege Staffelt, Ost gegen West - es geht in der Bundestagsfraktion der SPD ja munter zu. ({4}) So viel Mut vor dem Königsthron konnte man bei Ihnen bisher selten feststellen. Es gab keinen Widerstand der Ost-SPD-Bundestagsabgeordneten, als die ICE-Strecke - ein Infrastrukturprojekt - von München über Erfurt und Halle nach Berlin gestrichen wurde. Stattdessen wird der ICE von Frankfurt nach Köln bei Verdopplung der Baukosten munter weitergebaut. Es gab keinen Widerstand, als der Transrapid gestrichen wurde. Stattdessen wird mit einer Unterstützung des Bundes in Milliardenhöhe eine wild gewordene Straßenbahn im Ruhrgebiet finanziert. ({5}) Es gab keinen Protest, als nicht Rostock, sondern Hamburg als Produktionsstandort des Airbusses benannt wurde. ({6}) Nun, da der Wahltag näher rückt und Edmund Stoiber vor den Toren des Bundeskanzleramts steht, wird die Unruhe in der SPD-Fraktion größer und die SPD-Bundestagsabgeordneten besinnen sich ihres Auftrags. Meine Kollegen von der SPD, bleiben Sie bei Ihrer Ablehnung des Gesetzes und verhindern Sie, dass Tariftreue am Ort der Leistungserbringung gesetzlich vorgeschrieben wird! Lassen Sie den ostdeutschen Bauunternehmen auch weiterhin die Möglichkeit, sich zu ihren preiswerteren Konditionen um lukrative Aufträge zu bewerben. ({7}) Schließen Sie Thüringer Bauunternehmen nicht von Aufträgen am Frankfurter Flughafen oder von Aufträgen in München, Stuttgart oder Hannover aus. Lassen Sie es nicht zu, dass ostdeutsche Konkurrenz über diesen Umweg erledigt wird; ({8}) denn wer eine „Schutzfront West“ aufbaut, wer um Hochpreisregionen einen Schutzwall zieht, der nimmt billigend wachsende Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern in Kauf. Entweder haben die Bauunternehmer in den neuen Bundesländern Anteil an Aufträgen der öffentlichen Hand auch in den alten Bundesländern und sichern damit Arbeitsplätze oder der Umfang der Sozialtransfers von West nach Ost wird wesentlich größer werden als bisher. Der Ausschluss preiswerter ostdeutscher Konkurrenz von öffentlichen Bauaufträgen muss bezahlt werden, und zwar durch höhere Sozialtransfers. Damit wird der Ausbau West zum Abbau Ost. Das können Sie nicht ernsthaft wollen. Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Wer es wirklich gut mit der ostdeutschen Bauwirtschaft meint, der zwingt sie nicht in ein Tarifkorsett. Wer es gut meint, tut etwas für die öffentliche Infrastruktur, für die Bauwirtschaft, für Aufträge und handelt nicht gegen die Bauwirtschaft. Entlasten Sie Arbeitnehmer und Betriebe durch Reformen. Erklären Sie mir hierzu folgenden Punkt: Während der Bund fortwährend Aufgabenbereiche privatisiert und diese an neu gegründete Unternehmen auslagert, um sich aus der Tariftreue herauszumogeln und die Aufgaben billiger erledigt zu bekommen, verlangen und erwarten Sie, dass die gebeutelte ostdeutsche Bauwirtschaft in das Korsett der Tariftreue hineingezwängt wird. Hören Sie auf, alles zuerst an den Ostdeutschen auszuprobieren. Herr Kollege Schulz, da hilft auch keine Anhörung: Entweder will man das Gesetz, oder man will es nicht. Dazwischen gibt es nichts. Dieses Gesetz darf nicht in Kraft treten. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Klaus Wiesehügel, SPD-Fraktion.

Klaus Wiesehügel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003263, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Einschätzung von Herrn Rauen stimmte die Jahreszahl, auf die auch ich eingehen möchte: Seit 1995 befindet sich die Bauwirtschaft nicht nur in einer Konjunktur-, sondern auch in einer Strukturkrise; das ist nicht erst seit 1998 der Fall. Man darf nicht dieser Regierung die Verantwortung dafür geben; die Ursachen für diese Strukturkrise - das wurde hier schon dargestellt - liegen in der Tat weiter zurück. Die Bauwirtschaft leidet unter einer starken Wettbewerbsverzerrung. Seit Jahren tobt ein ruinöser Preiswettbewerb. Besonders bei den eingesetzten Nachunternehmen erfolgt die Bezahlung der Arbeitnehmer jenseits aller Tarifverträge und oftmals im illegalen Bereich. ({0}) Im Ergebnis sind die Baupreise seit 1995 um 1,5 Prozent gesunken, während die Preise im übrigen produzierenden Gewerbe um 5 Prozent gestiegen sind. An diesen Zahlen sieht man, dass es nicht stimmt, dass sinkende Baupreise und niedrige Löhne - Herr Brüderle, wenn man Ihnen zuhört, dann könnte man zu diesem Ergebnis kommen - zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen. In den anderen Gewerben sind, das sage ich noch einmal, die Preise gestiegen, während die Baupreise um 1,5 Prozent gesunken sind. In der Automobilindustrie haben wir einen erheblich höheren Anstieg der Einkommen und der Preise zu verzeichnen. 90 000 neue Arbeitsplätze wurden dort geschaffen, während wir gleichzeitig im Baugewerbe einen Verlust von 400 000 Arbeitsplätzen zu verzeichnen hatten, bei sinkenden Preisen und sinkenden Einkommen. ({1}) Solide kalkulierende Bauunternehmer haben heute in diesem Wettbewerb regelmäßig keine Chance gegen die Billigkonkurrenz. Sie werden vom Markt verdrängt. Mit ihnen verschwinden Arbeitsverhältnisse, für die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern abgeführt werden. An ihre Stelle treten illegale Beschäftigungsverhältnisse. So sind im Bauhauptgewerbe seit 1995 mehr als ein Drittel aller legalen, inländischen Arbeitsplätze - das sind etwas mehr als eine halbe Million - abgebaut worden. Gleichzeitig haben wir eine Zunahme der illegalen Beschäftigung auf mindestens 300 000 Beschäftigte zu verzeichnen. Zwar ist die Zahl der Baubetriebe im gleichen Zeitraum nahezu konstant geblieben, nämlich circa 75 000, nur werden diese Betriebe immer kleiner und vor allen Dingen immer weniger leistungsfähig. Die Konsequenzen sind bekannt: Eine enorm hohe Arbeitslosigkeit am Bau; die Zahl ist genannt worden, sie liegt bei 265 000 Arbeitslosen. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 23,5 Prozent, im Osten ist sogar fast jeder dritte Bauarbeiter arbeitslos. Herr Brüderle, noch ein Einwand. Sie sagen, keine Gewerkschaft, kein Gesetz, niemand kann etwas dagegen tun - oder wird etwas dagegen tun -, dass die Arbeitnehmer im Osten für erheblich weniger arbeiten, als der Tarifvertrag vorsieht. Wenn das so ist, hat das nichts mit höherer Einsicht, sondern mit Erpressung und Angst zu tun. ({2}) Wenn jeder Dritte arbeitslos ist, hat man weniger Mut, den Tarifvertrag durchzusetzen. ({3}) Aber das ist nicht Ihre Welt. Davon haben Sie noch nie etwas mitgekriegt. Das ist nicht Ihre Lebenserfahrung. Deswegen reden Sie solch einen Unsinn. ({4}) Herr Brüderle, wenn Sie noch einmal „Gewerkschaftsboss“ zu mir sagen, dann sage ich: Ihre Aufgabe ist nichts anderes, als Löhne in diesem Land zu senken. ({5}) Das ist auch keine ehrenwerte Angelegenheit. ({6}) Meine Damen und Herren, die Rendite der Bauunternehmen nach Steuern sank 1999 auf 0,6 Prozent des Umsatzes. Die vergleichbare Rendite der Industrie lag dagegen bei 2,7 Prozent des Umsatzes. Der ehemals gesunde Mittelstand bricht weg. An seine Stelle treten immer kleinere, kapital- und leistungsschwächere Unternehmen. Die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer verschlechtern sich ständig, ({7}) da eine zunehmende Zahl von Betrieben meint, nur so dem Wettbewerb standhalten zu können. Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe und die Bereitschaft junger Menschen, am Bau zu arbeiten, sinken rapide. Die Zahl der Auszubildenden ist von 92 000 auf 50 000 gesunken. Zwangsläufig ist schon jetzt ein die Volkswirtschaft mittel- und langfristig schädigender, gravierender Qualitätsverlust zu verzeichnen. Die Bauqualität spielt in der Vergabepraxis der öffentlichen Hand und der institutionellen Investoren keine Rolle mehr. Den Zuschlag erhält praktisch immer der billigste Anbieter. Meine Damen und Herren, weil mir die Zeit ein bisschen wegläuft, will ich Ihnen nur noch eines mit auf den Weg geben. Alle, die über niedrige Löhne reden, sollten sich einmal in den USA umgucken. Dieses Land gilt ja immer als vorbildlich. Sowohl auf der Bundesebene als auch in rund 60 Prozent der Bundesstaaten gelten dort nämlich Gesetze, die mit dem hier diskutierten Vergabegesetz vergleichbar sind. ({8}) In den Staaten, in denen Vergabegesetze zwischenzeitlich wegen liberaler Wünsche aufgehoben waren, konnte man in dieser Phase feststellen, dass die Baukosten nicht sanken, obwohl die Löhne und Sozialkosten deutlich zurückgingen. Aber ohne Vergabegesetz verringerte sich die Ausbildungsquote drastisch, nämlich um mehr als die Hälfte, und es trat ein Besorgnis erregender Facharbeitermangel ein. Zugleich gingen in dieser Zeit die Innovationsfähigkeit und, ihr folgend, die Qualität und Produktivität in der amerikanischen Bauwirtschaft zurück. Niemand investiert nämlich in langfristig wirksame Innovationen, wenn seine Konkurrenten kurz- und mittelfristig die Aufträge erhalten, weil sie auf die Innovationen und Investitionen verzichten. Die erwähnten Bundesstaaten der USA setzten nach diesen ernüchternden Erfahrungen ihre Vergabegesetze wieder in Kraft. Sie sollten daraus lernen. Ich bitte Sie daher: Unterstützen Sie diesen Gesetzentwurf! Er ist ein wichtiger Schritt, um den ehemaligen Motor der deutschen Konjunktur, die Bauwirtschaft, aus der Krise herauszuführen und den öffentlichen Personennahverkehr vor einer solchen Krise zu bewahren. Was wir nämlich zurzeit in der Bauwirtschaft erleben, wird, wenn wir dieses Gesetz nicht verabschieden, die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs sein. Da sollten wir uns nicht versündigen, sondern die ewigen Deregulierer, die nichts anderes wollen, als zugunsten ihrer Unternehmerfreunde die Löhne zu senken, zurückweisen. ({9}) Wir sollten Gesetze verabschieden, die dazu führen, dass in diesem Land bestimmte Dinge geregelt sind. Wir kommen nämlich sonst in ein Fahrwasser, in dem Arbeitslosigkeit nicht abgebaut, sondern erneut aufgebaut würde. Meine Damen und Herren, natürlich muss über dieses Gesetz geredet werden. Auch ich weiß, dass es sicherlich noch einiges an Diskussionsbedarf gibt. Dieser Diskussion stellen wir uns. Wir sind heute in der ersten Lesung. Es ist nicht so, dass wir nicht diskussionsbereit wären. Aber die grundsätzliche Ablehnung, die hier von Ihnen präsentiert wird, hat überhaupt nichts damit zu tun, was zurzeit im Bundesrat von den Ländern, darunter viele mit CDU-Regierungen, gefordert wird. Sie sollten zu Diskussionen auch im eigenen Lager bereit sein. Sonst ist wenig glaubhaft, was Sie hier darstellen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/7796, 14/5263, 14/6752, 14/6982, 14/7506 und 14/7458 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- logie auf Drucksache 14/5739 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtlicher Standards und Förderung arbeitsmarkt- politischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4036 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS vom Hause angenommen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 e sowie Zusatzpunkt 8 auf: 17.a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Einsetzung einer Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen durch die Bundesregierung - Drucksache 14/7442 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Sonderausschuss Maßstäbe-/Finanzausgleichgesetz Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Peter Götz, Heinz Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gewerbesteuerumlage auf die vor dem Steuersenkungsgesetz maßgeblichen Werte senken - Drucksache 14/7787 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto Solms, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gemeindefinanzen reformieren - Gewerbesteuer abschaffen - Finanzkraft der Gemeinden stärken - Drucksache 14/7326 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. UweJens Rössel, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Erhöhung der Gewerbesteuerumlage zurücknehmen - Drucksache 14/7993 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jochen-Konrad Fromme, Peter Götz, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Umsetzung des Versprechens der Bundesregierung zur Stärkung der Kommunalfinanzen - Drucksachen 14/6163, 14/7424 Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Scheelen Jochen-Konrad Fromme ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Reform der Gemeindefinanzen - Drucksache 14/8025 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Peter Götz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen zur Gestaltung unseres Lebensraumes starke Städte und Gemeinden. ({0}) Es ist Aufgabe einer Regierung, dafür die Rahmenbedingungen zu setzen. Diese Bundesregierung aber hat in den vergangenen drei Jahren die bis 1998 vorhandenen guten Rahmenbedingungen durch ihre kommunalfeindliche Politik systematisch zerstört. ({1}) Das bekommen die Menschen immer mehr zu spüren. „Daumenschrauben für Bürger“ nennt dies der „Spiegel“ in einer Überschrift vorletzte Woche. Weiter heißt es: Städte und Gemeinden rutschen in die Pleite, sie müssen Gebühren erhöhen und Leistungen streichen. Denn Konjunktureinbruch, Arbeitslosigkeit und die letzten Steuerreformen gehen zu ihren Lasten. Ich kann auch das „Handelsblatt“ vom Dienstag letzter Woche zitieren, das zum Thema Finanznot in den Kommunen in seiner Überschrift schreibt: „In Gerhard Schröders Heimat ist die SPD nicht gut auf die Bundesregierung zu sprechen.“ ({2}) Wenn der SPD-Oberbürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, der Bundesregierung öffentlich vorwirft, die kommunale Selbstverwaltung zu gefährden, und sein SPD-Kämmerer gegenüber dem „Handelsblatt“ sagt: „So habe ich mir sozialdemokratische Steuerpolitik nicht vorgestellt“, macht dies eine große Enttäuschung mehr als deutlich. ({3}) Die Aufzählung der Städte, die zunehmend die Auswirkungen Ihrer verfehlten Investitions- und sonstigen Entscheidungen auf kommunaler Ebene nach nur drei Jahren öffentlich kritisieren, ließe sich problemlos fortsetzen: ({4}) Von Leverkusen über Holzminden bis Hannover - von den Kommunen in den neuen Ländern ganz zu schweigen stehen alle mit dem Rücken an der Wand - ob Ihnen das gefällt oder nicht. Auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages im Mai vorigen Jahres in Leipzig war auch der Bundeskanzler zu Gast. ({5}) Dies war ein als freundliche Geste gedachter Auftritt, der jedoch sehr peinlich wurde. Als Erstes führte sich Gerhard Schröder mit dem Satz ein, er sei bei reichen Verwandten. ({6}) Präsident Wolfgang Thierse Alle anwesenden Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker verstanden dies zu Recht als Provokation. Denn schon damals war klar: Die Finanzsituation der Gemeinden ist schwierig. Jeder wusste, sie würde sich wegen der rot-grünen Gesetze weiter verschlechtern. Der Kanzler schien davon nichts zu wissen oder es war ihm einfach egal. Zweitens wollte er die dort geforderte Gemeindefinanzreform auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Dabei hatten SPD und Grüne genau diese in ihrer Koalitionsvereinbarung vom Herbst 1998 versprochen. So einfach macht sich Rot-Grün das Regieren in Deutschland. Wir nennen das: Versprechen gebrochen. ({7}) CDU und CSU wollen eine umfassende Gemeindefinanzreform, die auch den Namen verdient. Inzwischen kommt die Regierung nicht mehr um das Thema herum; denn die dramatische Krise der kommunalen Haushalte ist für jeden unübersehbar. Doch wie reagiert der Bundeskanzler darauf? Mit ruhiger Hand wird kurz vor der Bundestagswahl eine Kommission eingesetzt, und zwar so, dass vor der Bundestagswahl möglichst nichts mehr passiert. Die jahrelange Verweigerungshaltung ist mehr als peinlich. „Viele Kommunen sind kaum noch in der Lage, die Alltagsprobleme ihrer Bürger zu bewältigen“, schimpft der niedersächsische SPD-Ministerpräsident Gabriel im „Spiegel“. Die Erklärung der Vizepräsidentin des Deutschen Städtetages, der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, ({8}) unsere Städte stünden vor dem Bankrott, ist keine Drohgebärde, sondern ein Hilferuf. Ihren ständigen Verschiebebahnhof zulasten kommunaler Haushalte spürt inzwischen jeder Kämmerer in Ost und West am eigenen Leib. Die Zeche zahlen die Bürgerinnen und Bürger in Form von steigenden Gebühren für immer schlechter werdende kommunale Leistungen. Meine Damen und Herren, die Ursachen sind vielschichtig: Die Gewerbesteuereinnahmen sind als wichtige Geldquelle der Kommunen total eingebrochen, in vielen Städten bis auf null. Ihre Steuerpolitik, die es Banken und Versicherungen, aber auch Großkonzernen wie Eon oder BMW erlaubt, trotz Milliardengewinnen um Gewerbesteuerzahlungen herumzukommen, ist eindeutig falsch. ({9}) Oder kann es richtig sein, dass der BMW-Konzern im vergangenen Jahr mit 1 300 Millionen Euro den höchsten Gewinn seiner Geschichte einfährt und München, die Stadt des Firmenhauptquartiers, davon keinen einzigen Cent Gewerbesteuer sieht? ({10}) Als Rot-Grün die so genannte Jahrhundertsteuerreform zugunsten des Großkapitals und zulasten des Mittelstandes durchsetzte, ({11}) rechneten Sie uns einen Anstieg der Gewerbesteuer vor. Deshalb sollten die Gemeinden eine höhere Umlage, die von bisher 20 Prozent auf 30 Prozent im Jahre 2004 steigen soll, an Bund und Länder abtreten. Was passiert jetzt? - Die Gewerbesteuereinnahmen sinken auf ein bedrohlich niedriges Niveau. ({12}) Der „Spiegel“ bezeichnet dies in seiner jüngsten Ausgabe als Milliardendesaster. Es gibt keine Rechtfertigung mehr für die von Ihnen gegen den Widerstand der Städte und Gemeinden durchgesetzte Erhöhung der Gewerbesteuerumlage. ({13}) Ich fordere Sie deshalb auf: Lassen Sie den Gemeinden ihr Geld und nehmen Sie es ihnen nicht ständig weg! ({14}) Ich komme zu einem weiteren Beispiel. Bei Betrachtung der Auswirkungen des Verkaufs der UMTS-Lizenzen auf die Kommunen - ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören - wird Ihre kommunalfeindliche Politik ganz besonders deutlich: Der Bund kassiert 50 Milliarden Euro, ungefähr ein Fünftel seines gesamten Etats. Die Telekommunikationsunternehmen setzen diese exorbitanten Kosten steuerlich ab und schreiben dadurch auf Jahre hinaus Verluste. Die Folge ist: Den Gemeinden fehlen 7 Milliarden Euro ({15}) in ihren Kassen. Sie finanzieren damit indirekt die Einnahmen des Bundes. Hinter solch abstrakten Zahlen verbergen sich dramatische Verhältnisse. Ich nenne ein Beispiel, das ich hier schon einmal angeführt habe: Das Amt Stahnsdorf, eine Gemeinde in Brandenburg mit 12 000 Einwohnern, hatte bisher 1,2 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen. Das war für diese Gemeinde viel Geld, das im Wesentlichen von Telekommunikationsunternehmen kam. 2001 fällt diese Einnahme weg; es gibt keinen Ausgleich dafür. Was dies für eine solche Gemeinde bedeutet, kann sich jeder selbst ausmalen. Hinzu kommt, dass in Deutschland viele Gemeinden in diesen Monaten aus ihren leeren Kassen Gewerbesteuerrückzahlungen an Telekommunikationsunternehmen leisten müssen. So gestaltet sich ganz konkret in der Praxis das Versprechen in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung, die kommunalen Finanzen zu stärken. Ich nenne das kommunalfeindliche Politik. ({16}) Ein Weiteres kommt hinzu: Noch nie war der Anteil der sozialen Leistungen an den kommunalen Ausgaben so hoch wie heute. Im Jahr 2001 lag er zum ersten Mal über 50 Prozent der Steuereinnahmen, das heißt bei mehr als der Hälfte; im Jahr zuvor waren es noch 47 Prozent. 37 Prozent der Arbeitslosen beziehen zur Arbeitslosenhilfe zusätzlich Sozialhilfe. Die Mitfinanzierung der Langzeitarbeitslosigkeit ist keine kommunale Aufgabe. Auch hier entlastet sich der Bund auf Kosten der Kommunen mit steigender Tendenz. Hier sind Änderungen dringend geboten. ({17}) Ich kann die Liste der Auswirkungen Ihrer kommunalfeindlichen Politik - ob Sie das jetzt hören wollen oder nicht - beliebig verlängern: von den Entscheidungen während der BSE-Krise über die Mitfinanzierung beim Kindergeld bis zur Grundsicherung bei der Rente - all das sind keine kommunalen Aufgaben. Jetzt wollen Sie den Kommunen noch die Integrationskosten aus Ihrem verkorksten Zuwanderungsgesetz aufs Auge drücken. ({18}) Die Menschen in unserem Land müssen für Ihre Politik teuer bezahlen. ({19}) Der Kollaps der Gemeindefinanzen hat Konsequenzen, die inzwischen für alle sichtbar sind. In besseren Zeiten - die gab es bis 1998 ({20}) haben die Gemeinden bis zu 70 Prozent der öffentlichen Bauinvestitionen in Deutschland erbracht. ({21}) Damit waren sie ein Schwungrad der Wirtschaft. Viele mittelständische Arbeitsplätze wurden dadurch dauerhaft gesichert. Das ist überhaupt nicht zum Lachen. Heuten liegen die Investitionen der Kommunen ein Drittel unter dem Niveau von vor zehn Jahren. Und jetzt wundern Sie sich, wenn die Konjunktur einbricht und die Infrastruktur verfällt. ({22}) Durch Ihr kommunalfeindliches Verhalten verstärken Sie den wirtschaftlichen Abschwung in Deutschland dramatisch. Das ist unverantwortlich gegenüber den Menschen in unserem Land. ({23}) Lassen Sie mich zusammenfassen: Erstens. Bei allen politischen Entscheidungen muss das Konnexitätsprinzip Maßstab sein. Das heißt: Wer bestellt, bezahlt - ohne Wenn und Aber. ({24}) Zweitens. Wir brauchen dringend eine umfassende Gemeindefinanzreform. Kommunale Einnahmen, Aufgaben und Ausgaben müssen dabei ungeschminkt auf den Prüfstand. Dazu gehört auch die Gewerbesteuer. Die beschlossene Erhöhung der Gewerbesteuerumlage ist sofort rückgängig zu machen. Drittens. Die Städte und Gemeinden sind in die Lage zu versetzen, dringend notwendige Investitionen zu tätigen. Dafür muss der Finanzminister einen Teil der Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen den Kommunen zurückgeben. ({25}) Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Ist es richtig, bestimmte Großkonzerne mit Steuergeschenken zuzuschütten, wenn dadurch den Städten und Gemeinden das Geld für die Sanierung von Schulen fehlt, ({26}) städtische Angebote für Kinder und Familien aufgegeben werden müssen und kommunale Investitionen weitgehend unterbleiben? ({27}) Wir sagen: nein. Deshalb, Herr Poß, ist es höchste Zeit für ein Umsteuern, für einen Politikwechsel in diesem Land. ({28}) - Ich kann Ihre Unruhe und Ihre Nervosität verstehen. Der Erfolg Deutschlands steht und fällt auch mit der Leistungsfähigkeit der Kommunen. CDU und CSU wollen keinen Zentralismus, sondern wir wollen auch in Zukunft in unserem Land eine starke kommunale Selbstverwaltung mit leistungsstarken Städten und Gemeinden. Herzlichen Dank. ({29})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Bernd Scheelen, SPD-Fraktion.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man dem Kollegen Götz zuhört, fragt man sich: Warum haben Sie das, was Sie hier vorschlagen, in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit nicht gemacht? Sie hätten doch die Gelegenheit dazu gehabt. ({0}) Ihr Nichtstun auf dem Sektor der Gemeindefinanzreform führte genau zu den Problemen, die Sie heute beklagen. ({1}) Ganz anders die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Wir haben mit dem Steuersenkungsgesetz die größte Steuerentlastung in der Nachkriegszeit auf den Weg gebracht. Darauf sind wir stolz. ({2}) Das Entlastungsvolumen der Steuerreform betrug allein im Jahr 2001 45 Milliarden DM. Davon profitieren im Wesentlichen die Arbeitnehmer, die Familien und die Wirtschaft, bei der Wirtschaft ganz besonders auch der Mittelstand. Das Kernstück der Reform ist die Senkung der Sätze: bei der Lohn- und Einkommensteuer von fast 26 Prozent Eingangssteuersatz auf demnächst 15 Prozent, ({3}) von 53 Prozent Spitzensteuersatz auf demnächst 42 Prozent; bei der Körperschaftsteuer eine Senkung von 40 auf 25 Prozent. ({4}) Insbesondere was den Mittelstand angeht, will ich Ihnen das gerne ins Stammbuch schreiben, weil Sie das immer geflissentlich übersehen. ({5}) - Herr Fromme, warten Sie ab. Ich habe zwölfeinhalb Minuten Redezeit. Ich komme noch dazu, keine Sorge. Die Mittelstandsfreundlichkeit dieser Steuerreform zeigt sich insbesondere in der Tatsache, dass nach der Neuregelung die Personenunternehmen ihre Gewerbesteuerschuld bei der Einkommensteuerschuld abziehen können. Das heißt ganz konkret: Der Mittelstand wird nicht mehr mit der Gewerbesteuer belastet, aber für die Städte ist diese Quelle erhalten geblieben. Das ist etwas, was Sie in 16 Jahren überhaupt nicht zustande gebracht haben. ({6}) Bei den Sätzen und Rahmenbedingungen der Gewerbesteuer hat es keine Veränderungen gegeben. Weder haben wir - wie Sie das vorgeschlagen haben - die Messzahlen gesenkt noch haben wir die Freibeträge angehoben. Deshalb ist Ihre Behauptung, dass der aktuelle Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen bei den Kommunen etwas mit der Steuerreform zu tun hat, barer Unsinn. Unser Ziel war es, die Gewerbesteuer als Einnahmequelle für die Städte und Gemeinden zu erhalten, aber die mit ihr verbundene Belastung für die Wirtschaft zu eliminieren. Dazu haben wir die eben schon erwähnte Abzugsmöglichkeit bei der Einkommensteuer eingeführt. Das ist übrigens eine Maßnahme, die den Mittelstand, die Personengesellschaften, im vergangenen Jahr um 10 Milliarden DM entlastet hat. ({7}) Deswegen stelle ich fest: Bei dieser Steuerreform gibt es von Mittelstandsfeindlichkeit keine Spur. Auch wenn Sie diese Behauptung überall wiederholen, wird sie nicht wahrer. Der Vorwurf, den man dem Besteuerungssystem in der Bundesrepublik, insbesondere dem Unternehmensteuerrecht, Ende der 90er-Jahre gemacht hat, war, dass die Steuersätze zu hoch seien - nicht etwa, dass die Steuer zu hoch sei. Internationale Untersuchungen zeigen, dass unsere Unternehmen hinsichtlich der steuerlichen Belastung durchaus im Mittelfeld lagen, weil es viele Abschreibungsmöglichkeiten gab. Die Steuersätze waren aber sehr hoch. Die Lösung war, die Steuersätze zu senken und die Bemessungsgrundlage zu verbreitern. Genau das haben wir mit unserer Steuerreform gemacht. Wir haben insbesondere die Körperschaftsteuer von 40 auf 25 Prozent gesenkt. ({8}) - Ja, aber die Körperschaftsteuer steht nicht den Gemeinden zu. Wir reden hier aber über Gemeindefinanzen. Die Körperschaftsteuer - Herr Kollege Rössel, das wissen Sie ganz genau - steht dem Bund und den Ländern zu. ({9}) Insofern kann ein Ausfall bei der Körperschaftsteuer nicht auf die Gemeinden durchschlagen. Das müssten Sie eigentlich wissen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Scheelen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rauen?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, weil Freitag ist, möchte ich keine Zwischenfragen zulassen. Ich bitte um Verständnis. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Also abgelehnt. ({0})

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fromme, keine Sorge, das mache ich auch bei Ihnen nicht. Jetzt kommt die Gewerbesteuerumlage ins Spiel. Die schrittweise Erhöhung der Gewerbesteuerumlage führt zu Windfall Profits bei den Gemeinden. Diese sollten zur Mitfinanzierung der Unternehmensteuerreform herangezogen werden. Das ist eine Systematik, der die kommunalen Spitzenverbände ausdrücklich zugestimmt haben, denn für die Kommunen ergab sich so eine Beteiligung an den Steuerausfällen durch die Reform von nur 8,9 Prozent. Das - das wissen Sie auch - ist eine sehr unterdurchschnittliche Beteiligung an den Steuerausfällen, denn die Gemeinden sind an den Steuereinnahmen mit 12 Prozent beteiligt. Dies ist also ein überaus kommunalfreundlicher Zug der Steuerreform. Trotzdem sind auch 8,9 Prozent von 45 Milliarden DM viel Geld. Die Kommunen hatten sich allerdings bereit erklärt, ihren Anteil an den Ausfällen und den Entlastungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft zu tragen. ({0}) Worüber wir zurzeit debattieren, nämlich über die teilweise dramatischen Einbrüche bei der Gewerbesteuer, hat - das habe ich gerade ausgeführt - mit der Steuerreform nichts zu tun. Vielmehr haben die Ölpreisexplosionen des letzten Jahres, die deutliche Abkühlung der amerikanischen Wirtschaft, Krisen in Japan, in der Türkei, in Argentinien und anderen Teilen der Welt ihre Bremsspuren in der Weltwirtschaft hinterlassen ({1}) und wegen der durch die Exportorientierung starken Verflechtung der Bundesrepublik Deutschland mit der Weltwirtschaft auch bei uns. Insofern teilen wir die Analyse der kommunalen Spitzenverbände vom Herbst letzten Jahres - auch Ihnen müsste noch im Gedächtnis sein, was damals gesagt wurde -, dass die Gewerbesteuerausfälle nichts mit der Steuerreform zu tun haben, sondern auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen sind, als da zunächst die konjunkturelle Entwicklung wäre. ({2}) Wir erinnern uns, dass vor einem Jahr alle Prognosen der wissenschaftlichen Institute von Wachstumsraten für das vergangene Jahr von etwa 3 Prozent ausgingen. Tatsächlich sind wir bei 0,6 Prozent gelandet. Dass das nicht ohne Folgen für die Finanzierung der staatlichen Haushalte ist, muss eigentlich jedem klar sein. Ein zweiter Grund sind Unternehmensumstrukturierungen, die im letzten Jahr verstärkt unter Ausnutzung bereits bestehender Regelungen des Steuerrechts stattgefunden haben. Dies betrifft also keine neuen Regelungen des Steuersenkungsgesetzes dieser Koalition. Es geht um die Möglichkeit, Gewinne und Verluste zwischen Mutterund Töchterunternehmen in Form einer so genannten Organschaft zu verrechnen. ({3}) Da wir die Sorgen der Kommunen über diese teilweise dramatischen Entwicklungen bei der Gewerbesteuer teilen, hat die Koalition reagiert, und zwar kurzfristig und gegen Ihren entschiedenen Widerstand. ({4}) Sowohl im Finanzausschuss als auch im Bundesrat haben wir Verbesserungen für die kommunale Finanzsituation durchgesetzt. Das sollte man einmal ganz deutlich sagen. Sie verweigern sich hier jeder Regelung, die den Gemeinden mehr Geld bringt. ({5}) Ich sage Ihnen auch, welche das waren: Im Zuge des Unternehmensteuerfortführungsgesetzes haben wir die Voraussetzungen für die so genannte gewerbesteuerliche Organschaft verschärft und sie an die Voraussetzungen für die körperschaftliche Organschaft angepasst. ({6}) Das bedeutet: Für Unternehmen ist das Steuersparen bei der Gewerbesteuer nicht mehr so leicht wie vorher. Außerdem haben wir das Steuersparmodell der so genannten Mehrmütterorganschaft nicht zugelassen. Sie wissen, dass es ein Urteil gab, das jetzt schon fast zehn Jahre alt ist. Wenn daraus geltendes Recht geworden wäre, hätte es die Gemeinden eine Menge Geld gekostet. Die Gemeinden hätten die vereinnahmte Gewerbesteuer aus ihren Kassen zurückzahlen müssen. Das haben wir verhindert und diese Einnahmen den Gemeinden gesichert. ({7}) Wir haben nicht zugelassen, dass die Versicherungswirtschaft Gewinne und Verluste aus verschiedenen Sparten miteinander verrechnet. Auch das drohte. Dieses Steuerschlupfloch ist von vornherein geschlossen worden. ({8}) Auch dagegen haben Sie sich ausgesprochen. Es sollte in den Standorten der Versicherungen einmal bekannt werden, wie Sie sich hier verhalten. ({9}) Zusätzlich haben wir die Gewerbesteuerpflicht für Gewinne aus der Veräußerung von Betrieben oder Teilbetrieben festgeschrieben. Meine Damen und Herren, das alles zusammen ist ein Paket, das den Gemeinden in diesem Jahr Mehreinnahmen von 700 Millionen Euro sichert. Für Herrn Stoiber füge ich hinzu, dass das ungefähr 1,4 Milliarden DM entspricht. ({10}) Herr Kollege Fromme, darüber hinaus sind die vorbereitenden Arbeiten zur Bildung einer Kommission für eine Gemeindefinanzreform angelaufen. Die Kommission wird ihre Arbeit zügig aufnehmen. Damit erfüllen wir den Koalitionsvertrag. ({11}) - Ich denke, dass Legislaturperioden vier Jahre dauern. Drei Jahre sind um und wir nehmen dieses Thema in Angriff. ({12}) Sie wissen auch ganz genau, warum wir das nicht früher machen konnten. Sie waren ja auch nicht in der Lage dazu. Die Arbeitskapazitäten sowohl in den Ministerien als auch im Parlament waren nämlich durch ein anderes Thema belegt, das uns das Bundesverfassungsgericht nach den Wahlen auf den Tisch gelegt hat, nämlich den Länderfinanzausgleich. ({13}) Das haben wir jetzt abgearbeitet und jetzt kommt das nächste Thema, nämlich die Gemeindefinanzreform. Wir werden sie durchführen. ({14}) Damit komme ich zum Kapitel Heuchler und Pharisäer. In der Hauptrolle sind CDU/CSU und FDP. 16 Jahre lang haben Sie nicht eine Hand für die Reform der Gemeindefinanzen gerührt. ({15}) Das rächt sich jetzt. Im Gegenteil: Sie haben sogar durch ständiges Manipulieren an der Gewerbesteuer deren Basis ausgehöhlt und sie zu einer Großbetriebssteuer verkommen lassen. Gerade das bereitet uns im Moment auch die großen Probleme. Die größten Verlierer des letzten Jahres - schauen Sie sich doch einmal die Statistiken des Deutschen Städtetages an - sind gerade die Städte, in denen die großen Betriebe ihren Sitz haben. Beispiel Ludwigshafen: minus 70 Prozent; Beispiel Leverkusen: minus 65 Prozent. ({16}) Das zeigt, dass Sie die Gewerbesteuer zu einer Reststeuer haben verkommen lassen, die nur noch wenige bezahlen. ({17}) Wenn diejenigen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind, trifft es die Gemeinden voll. ({18}) Man soll aber nicht verschweigen, dass es auch Städte gibt, die keine Probleme bei der Gewerbesteuer haben. Ich glaube, es ist ganz wichtig, das einmal zu sagen. Im Durchschnitt gibt es weniger Einnahmen bei der Gewerbesteuer. Das konzentriert sich im Wesentlichen auf die großen Städte. Je kleiner aber die Städte, desto kleiner sind auch die Probleme mit der Gewerbesteuer. ({19}) Der Antrag von CDU/CSU, in dieser Situation die Gewerbesteuerumlage zu senken, ist ein wohlfeiler Wahlkampfgag mit Blick auf die Kommunalwahlen in Bayern. Wer die bayerischen Verhältnisse kennt, weiß, dass die Mehreinnahmen, die Bayern hat, nicht an die Kommunen weitergegeben werden. Stattdessen wird mit dem Geld weitergearbeitet und es wird versucht, sich zulasten der bayerischen Gemeinden weiter zu entschulden. Das ist unseriös. ({20}) Meine Damen und Herren, Bayern hat im Bundesrat den Antrag auf Senkung der Umlage auch nur deshalb gestellt, weil es von vornherein wusste, dass er - auch durch unionsgeführte Länderregierungen und deren Stimmen im Bundesrat - abgelehnt würde. Man kann leicht mutig sein, wenn man weiß, dass die Forderung sowieso nicht erfüllt wird. Genau aus diesem Grunde fordern Sie heute die Absenkung der Gewerbesteuerumlage. Sie wissen genau, dass das keine Chance auf Beschluss hat. Sie wissen doch, dass die Systematik, die ich Ihnen vorhin erläutert habe, auch natürlich dann gilt, wenn die Gewerbesteuereinnahmen unterschiedlich hoch sind. Die Systematik der Windfall Profits, der Einnahmen, die die Gemeinden zusätzlich durch Änderungen im Steuersystem haben, aber von den Ausfällen unberührt bleiben, gilt auch, wenn die Gewerbesteuereinnahmen niedriger sind. Dass es Ihnen mit der Absenkung der Umlage überhaupt nicht ernst ist, haben Sie beim Solidarpaktfortführungsgesetz ganz deutlich gezeigt. Dabei hätten die Länder die Chance gehabt, die länderbezogene Gewerbesteuerumlage von 29 Prozentpunkten abzusenken. Das haben Sie einstimmig abgelehnt. So etwas nenne ich Heuchelei. ({21}) Jetzt komme ich zu den Vorschlägen der FDP. Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen und gleichzeitig die Kommunalfinanzen stärken. Das ist ein Kunststück, bei dem ich mich frage, wie Sie das bewerkstelligen wollen. ({22}) Sie wollen - das steht in dem Antrag, Herr Schüßler - zum Beispiel ein Hebesatzrecht bei der Körperschaftsteuer einführen. Die Kommunen werden sich dafür herzlich bedanken; denn die Körperschaftsteuer ist noch konjunkturanfälliger als die Gewerbesteuer. Das heißt, Sie treiben den Teufel mit Beelzebub aus. Das kann doch kein Zukunftskonzept sein. ({23}) Das Hebesatzrecht bei der Einkommensteuer wird nur dazu führen, dass sich die Ballungsräume von den gut Situierten leeren. Diese werden in die Fläche ausweichen. Das wird die ungerechte Verteilung zwischen den Ballungsräumen und dem ländlichen Raum noch weiter verstärken. Das ist nicht unser Programm. Was die Kommunen brauchen, sind verlässliche und stetige Einnahmen - zumindest darin können wir übereinstimmen -, die von konjunkturellen Schwankungen nicht in großem Maße abhängen. Auch brauchen sie eine Entlastung auf der Ausgabenseite. Das sind die beiden Kernthemen, mit denen sich die Kommission beschäftigen muss und beschäftigen wird. Wir haben gestern das steuerpolitische Chaos der Union debattiert. Frau Merkel fordert ein Vorziehen der Steuerreform auf 2003, Herr Stoiber will nur den Teil für den Mittelstand vorziehen, Herr Glos hält das alles technisch nicht für möglich. Dazu sage ich: Gegen dieses Chaos in der Union ist ein Hühnerhaufen eine relativ geordnete Veranstaltung. ({24}) Wenn es technisch machbar wäre, so Herr Glos, dann würden Sie es tun und die Steuerreform vorziehen. Dies würden Sie mit mehr Schulden finanzieren. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Schulden machen ist das Einzige, was Sie wirklich können. ({25}) 16 Jahre lang haben Sie nichts anderes als Schulden gemacht. Sie haben in den 16 Jahren die Bundesschuld auf 1,6 Billionen DM vervierfacht. Das belastet uns jährlich mit 82 Milliarden DM, sprich: rund 41 Milliarden Euro. ({26}) Das ist nicht unsere Politik; denn die Schulden von heute - das wissen Sie - sind die Steuern von morgen. ({27}) Sie wollen mit dem Personal von gestern und den Modellen von vorgestern die Politik von heute und morgen gestalten. Das ist zum Scheitern verurteilt. Die Opposition ist nicht regierungsfähig. Das Urteil lautet: vier weitere Jahre Opposition. Danke schön. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun gebe ich dem Kollegen Rauen zu einer Kurzintervention das Wort.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Scheelen, ich möchte mich mit Ihnen nicht über die Wirkungen der Steuerreform auf Arbeitnehmer, Mittelstand und große Konzerne streiten. Aber ich frage Sie: Wie erklären Sie sich, dass im Ergebnis der Steuerschätzung vom November letzten Jahres im Auftrag der Regierung die Körperschaftsteuer im Jahr 2001 gegenüber dem Jahr 2000 von 45 Milliarden DM auf 6 Milliarden DM abgestürzt ist? Wie erklären Sie sich, dass der Finanzminister von Hessen festgestellt hat, dass in Hessen mit vielen großen Banken die Körperschaftsteuer im Jahr 2001 bei den Ist-Einnahmen geringer als die Zunahme bei der Lohnsteuer und der Einkommensteuer ist? ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Scheelen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rauen, so wie Sie argumentieren, ist typisch: Sie betrachten einen Teil der Wahrheit und lassen den anderen Teil aus. ({0}) Sie wissen doch ganz genau, dass den Mindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer Mehreinnahmen bei der nicht veranlagten Einkommensteuer gegenüberstehen. Das wissen Sie ganz genau. Das können Sie auch aus den Zahlen der Steuerschätzung vom November letzten Jahres ersehen, weil das natürlich mit dem Ausschüttungsverhalten der Unternehmen zusammenhängt. ({1}) Wie es funktionieren würde, konnten wir alle vorher nur schätzen. Sie haben offensichtlich im vergangenen Jahr mehr ausgeschüttet als prognostiziert. Das heißt aber, dass in den nächsten Jahren weniger ausgeschüttet wird und dass die Steuer dann wieder steigt. Insofern hat sich an den Prognosen der Steuerreform nichts geändert. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Gerhard Schüßler von der FDP-Fraktion das Wort.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bringen heute einen Antrag mit der Überschrift „Gemeindefinanzen reformieren - Gewerbesteuer abschaffen - Finanzkraft der Gemeinden stärken“ ein. ({0}) Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung angekündigt, die Finanzkraft der Gemeinden stärken zu wollen. Was ist daraus geworden? Gar nichts. Es hat noch keine Bundesregierung gegeben, die die Interessen der Gemeinden in so sträflicher Weise vernachlässigt hat wie diese. ({1}) Herr Kollege Scheelen, was die Ihnen angemessene Polemik, mit der Sie immer wieder vortragen, angeht: Sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer dramatisch zurückgegangen sind ({2}) und jeden Handlungsspielraum in den Kommunen verhindern. Das ist eine Tatsache. Mir liegt eine lange Liste vor. Sie können nicht einfach sagen, dass nur die großen Städte betroffen sind. Das ist nicht der Fall, die Städte sind durchgehend betroffen. ({3}) Ich kann Ihnen zwar eine lange Liste vorlegen, will dies aber nicht tun. Wenn die Kommunen seit Wochen und Monaten über zurückgehende Einnahmen klagen, dann hat das etwas mit den ihnen zugewiesenen Aufgaben - durch den Gesetzgeber verursacht - zu tun. Allein in Nordrhein-Westfalen stehen 90 Prozent aller kreisfreien Städte unter Haushaltsbewirtschaftung. Das ist das Ergebnis der Politik der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. ({4}) Gerade die SPD, die immer großen Wert darauf gelegt hat, eine Kommunalpartei zu sein, hat diesen Anspruch längst verloren. ({5}) - In dieser Stunde, Herr Scheelen, wird der nordrheinwestfälische Finanzminister, Herr Steinbrück, im Landtag von Nordrhein-Westfalen vortragen, dass 1,7 Milliarden Körperschaftsteuer zurückzuzahlen sind. Ich würde Ihnen empfehlen, das Memorandum der Oberbürgermeister des Ruhrgebiets aus der vergangenen Woche zu lesen. ({6}) Fast alles von dem, was Sie heute Morgen vorgetragen haben, wird durch dieses Memorandum ad absurdum geführt. ({7}) Alles aus Ihrer hehren Regierungserklärung, nach der Sie die Finanzkraft der Gemeinden stärken wollen, ist wie Seifenblasen zerplatzt. Wenn selbst eine Zeitung wie die „Frankfurter Rundschau“, die bekanntlich manche Vorlagen zu ihren Artikeln direkt aus dem Büro des Kollegen Struck bekommt, Alarm schlägt und titelt „Kommunen klagen über finanzielle Zwangsjacke“, dann muss die Lage verdammt ernst sein. Doch das Wegbrechen des Gewerbesteueraufkommens scheint jetzt langsam alle munter gemacht zu haben. Noch im vergangen Jahr wurde auf dem Deutschen Städtetag - ganz im Sinne der PDS - beschlossen, die Gewerbesteuer zu revitalisieren. Nun wird die Einsetzung einer Kommission geplant. Das ist in Ordnung, aber hoffentlich kommt sie bald und hoffentlich auch schnell zu Ergebnissen. Denn die Gemeinden brauchen jetzt ihre Hilfe. Die kommunalen Aufgaben müssen auf ein notwendiges Maß zurückgeführt und damit auch die Ausgaben begrenzt werden. Davon sprechen Sie nie. Die Gemeinden benötigen solide Steuereinnahmen zur Finanzierung ihrer Aufgaben. Was wir brauchen, ist eine präzise und punktgenaue Struktur der Steuergesetzgebung. Nur mit einem solchen, längst überfälligen Schritt kann das Ende der für niemanden mehr nachvollziehbaren Umverteilungsorgien eingeläutet werden. ({8}) Wer will noch bestreiten, dass sich die Gewerbesteuer überlebt hat? Sie hat zunehmend prozyklischen Charakter und bietet keine Planungssicherheit mehr. Den Gemeinden bleibt kein Gestaltungsspielraum mehr. ({9}) Auf einmal geben auch die kommunalen Spitzenverbände ihre starrsinnige Haltung auf - das freut mich -: Die Gewerbesteuer ist zu konjunkturabhängig und schwankt viel zu stark; sie muss dringend ersetzt werden. Die Vorschläge der FDP-Bundestagsfraktion liegen vor: ein höherer Anteil an der Umsatzsteuer und ein Hebesatzrecht bei der Einkommensteuer. Gegen Ihren Widerstand, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben wir durchgesetzt, dass der Anteil der Gemeinden am Aufkommen aus der Umsatzsteuer bei 2,3 Prozent liegt. Wenn Sie heute die Kämmerer fragen, was sie vom Wegfall der Kapitalertragsteuer halten, dann werden Sie feststellen, dass diese inzwischen begriffen haben, dass die Umsatzsteuerbeteiligung eine der progressivsten und stabilsten Einnahmequellen für die Kommunen ist. ({10}) - Wir werden dafür sorgen, dass dieser Anteil erhöht wird. ({11}) - Frau Kollegin Scheel, wenn die Länder die Gemeinden an dem Aufkommen aus den Sonderumsatzsteuerpunkten entsprechend beteiligt hätten, dann sähe die Situation heute anders aus. Aber sie haben das nicht getan. ({12}) Alle unsere Vorschläge werden seit langem von der Wissenschaft unterstützt. Das Beharrungsvermögen und das Besitzstandsdenken vieler Politiker der großen Parteien und der Funktionäre der kommunalen Verbände, Herr Kollege Scheelen, haben bisher jeden Ansatz einer Reform verhindert. Diese Bundesregierung hat noch nicht einmal Lösungsansätze aufgezeigt. Sie hat vielmehr nur Gesetze beschlossen, die den Kommunen in erheblichem Umfang neue Pflichten auferlegt und neue Kosten aufgebürdet haben. Dadurch hat sich die Situation der Gemeinden so dramatisch verschlechtert. Wir dürfen die Finanzen der Gemeinden nicht isoliert betrachten. Es liegt auf der Hand, dass unsere gesamte bundesstaatliche Finanzverfassung zur Diskussion steht. Das nicht mehr durchschaubare Geflecht aus Landeskompetenzen in der Gesetzgebung sowie davon abweichenden Kompetenzen im Vollzug und bei den Steuereinnahmen muss von Grund auf entwirrt werden. Neuregelungen sind also notwendig. Auch das ist inzwischen eine Binsenweisheit. ({13}) Wie hat die Bundesregierung darauf reagiert? Es gab ein unwürdiges Geschacher um den Solidarpakt II zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten, die sich wie die Kesselflicker gestritten haben. Nach einer Nachtsitzung beim Kanzler bekam jeder ein paar Millionen. Nun wird behauptet, dass die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern bis zum Jahre 2018 befriedigend geregelt seien. Darüber kann man nur lachen. Wir haben den Solidarpakt II abgelehnt, weil er ein fauler Kompromiss ist, der nicht ein einziges Grundsatzproblem löst. Es liegt auf der Hand, was zu tun ist. Die Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden müssen entzerrt werden. Gleiches gilt für die Einnahmen. Wer kostenträchtige Gesetze und Verordnungen beschließt, muss auch für die finanzielle Seite zuständig sein. Sie reden andauernd vom Konnexitätsprinzip. Ja, dann sorgen Sie doch dafür, dass die Mittel tatsächlich dorthin fließen, wo die Aufgabenerfüllung zu erfolgen hat! ({14}) Sie betreiben Gleichmacherei. Das kann man daran erkennen, dass eine Gemeinde, die vernünftig wirtschaftet, am Ende nicht besser dasteht als eine Gemeinde, die über ihre Verhältnisse lebt. Die Ursache dafür ist Ihre Gesetzgebung. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Schüßler, ich finde es immer wieder erstaunlich, wie die FDP hier auftritt. Sie fordern andauernd, dass die Steuern gesenkt werden, dass bestimmte Steuerarten abgeschafft werden, dass die Sozialversicherungsbeiträge gesenkt werden und dass im investiven Bereich des Haushalts Mehrausgaben getätigt werden. Aber Sie sagen niemals, woher das Geld dafür kommen soll. ({0}) Das ist genau das, was die Menschen nicht mehr hören können: Versprechen, Versprechen, Versprechen und nichts dahinter. Ich möchte anhand von Zahlen deutlich machen, wie sich die Situation wirklich darstellt. In der Ausgabe des „Handelsblattes“ vom 22. Januar 2002 kann man lesen: „Gemeinden melden Haushaltsüberschuss.“ Im Gegensatz zu Bund und Ländern, die im vergangenen Jahr erhebliche Defizite verbuchen mussten, haben die Kommunen das vergangene Jahr mit einem Haushaltsüberschuss in Höhe von 1,1 Milliarden Euro abgeschlossen. ({1}) Das ist ein Faktum, das man zur Kenntnis nehmen muss. Es ist zwar richtig, dass die Haushaltsüberschüsse der Kommunen stark zurückgegangen sind. Lagen sie 1998 noch bei 4,3 Milliarden Euro und im Jahr 2000 bei 4,5 Milliarden Euro, betragen sie im Jahr 2001, wie gesagt, lediglich 1,1 Milliarden Euro. Aus diesem Grunde ist es völlig richtig, die Situation der Kommunen sehr ernst zu nehmen. Das tun wir auch. Aber es ist politisch nicht seriös, den finanzpolitischen Zusammenbruch der Kommunen pauschal an die Wand zu malen. ({2}) Auch das muss erwähnt werden, wenn Sie sagen, dass es bei allen Kommunen drastische Einnahmeeinbußen gibt. Das ist einfach nicht richtig, Herr Schüßler. ({3}) Es gibt viele Kommunen und Gemeinden, die Mehreinnahmen aufweisen. ({4}) Es gibt in den größeren Städten spezielle Effekte, auf die ich noch zurückkomme und die mit verschiedenen Ursachen zusammenhängen. Angesichts der Prognose des Sachverständigenrates haben wir damals die Befürchtung gehabt, dass die Kommunen im Jahr 2001 ein Hauhaltsminus von 2,7 Milliarden Euro haben würden. Dies hat sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet. Aber richtig ist natürlich, dass wir aufgrund der rückläufigen Konjunktur eine schwierige Situation haben. Diese darf man nicht beschönigen; denn die Gemeinden haben aufgrund der Einnahmerückgänge die Ausgaben gekürzt. - Das ist wie bei einem privaten Haushalt: Bei einer vernünftigen Haushaltsführung gibt man weniger aus, wenn man weniger einnimmt. - Dieses wirkt sich negativ auf die Investitionen aus; denn fast 80 Prozent der öffentlichen Sachinvestitionen werden von den Kommunen getätigt. Das ist gesamtwirtschaftlich gesehen also ein Problem. Gleichzeitig ist das Gewerbesteueraufkommen laut Steuerschätzung im Jahr 2001 im Durchschnitt um rund 10 Prozent zurückgegangen. Einzelne Städte mit bestimmten Großbetrieben melden starke Gewerbesteuereinbrüche. Auch das ist Realität. Diese Mindereinnahmen sind aber nicht auf die Unternehmensteuerreform zurückzuführen, wie Sie fälschlicherweise hier immer wieder behaupten. Aufgrund der Systemveränderungen im Rahmen der Körperschaftsteuerreform gibt es keinen Effekt auf das Gewerbesteueraufkommen der Kommunen. Die steuerlichen Entlastungen der Unternehmen im Rahmen der Steuerreform treffen, was die Körperschaftsteuer anbelangt, nicht die Kommunen. Folgende Gründe spielen eine wesentliche Rolle: Die konjunkturelle Entwicklung bringt - das wird von allen Seiten bestätigt - niedrigere Gewinne. Dadurch ergibt sich eine andere Besteuerungsgrundlage. Die Energieversorgungsunternehmen stehen in einem verstärkten Wettbewerb mit rückläufigen Preisen. Auch daraus ergeben sich geringere Steuereinnahmen. Die Unternehmen nahmen verstärkt das Instrument der gewerbesteuerlichen Organschaft in Anspruch. Das heißt, Unternehmensverbünde konnten problemlos Gewinne und Verluste steuermindernd miteinander verrechnen. Es gab bei einzelnen Gewerbesteuerzahlern Sondersituationen infolge von Fusionen, die in den betroffenen Städten Mindereinnahmen bewirkt haben. Es gab Wertberichtigungen bei Banken und Versicherungsunternehmen wegen des Kursverfalls auf den Aktienmärkten, wodurch Gewinneinbrüche und Verluste verursacht wurden. Das sind die Gründe, weswegen gerade in den größeren Städten wie Frankfurt, München, Köln und Duisburg - also in den meisten großen Städten - die heutige Situation entstanden ist. Eine Maßnahme, die im Rahmen der Steuerreform beschlossen worden ist und die zu einem kleinen Teil dazu beigetragen hat, dass sich die Einnahmen der Kommunen im Jahre 2001 um insgesamt 1,4 Prozent rückläufig entwickelt haben, ist die Gewerbesteuerumlage, die im Jahre 2001 angehoben worden ist. Sie wurde im Rahmen der Steuerreform erhöht, um eine angemessene Beteiligung der Kommunen an der Steuerentlastung sicherzustellen. Wir haben damals festgelegt, dass die Beteiligung der Kommunen unterproportional erfolgen soll. Das heißt, während sie einen Anteil am gesamtstaatlichen Aufkommen von rund 12 Prozent haben, müssen sie die Steuerausfälle infolge der Steuerreform nur in einer Größenordnung von rund 9 Prozent tragen. Ich halte es für notwendig - das sage ich mit großem Ernst -, dass die Wirkungen der erhöhten Gewerbesteuerumlage im Lichte der konkreten Konjunkturentwicklung und der damit verbundenen Steuermindereinnahmen, die zum Teil auch aufgrund verschiedener anderer rechtlicher Regelungen bewirkt werden, zeitnah überprüft werden. ({5}) - Ich komme auf den Antrag noch zu sprechen. - Dabei sind jedoch die Maßnahmen, die wir im Rahmen des Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetzes zugunsten der Kommunen ab 2002 getroffen haben, zu berücksichtigen. ({6}) Dabei geht es um ein geschätztes Volumen von etwa 700 Millionen Euro, die als Entlastungen zugunsten der Gewerbesteuereinnahmen für die Kommunen ab dem 1. Januar 2002 gelten. Das sind zum Beispiel die Regelungen für die gewerbesteuerliche Organschaft. Diese Regelungen wurden an diejenigen für die körperschaftsteuerliche Organschaft angeglichen. Damit ist das Ganze nicht mehr so attraktiv. Die Rechtslage bezüglich der so genannten Mehrmütterorganschaften wurde korrigiert. Auch daraus wird es Mehreinnahmen geben. Die Möglichkeit der spartenübergreifenden Verlustverrechnung bei Versicherungsunternehmen wurde beschränkt. Das hängt damit zusammen, dass das Versicherungsaufsichtsgesetz im letzten Jahr geändert wurde. Damit wurden spartenübergreifende Berechnungen ermöglicht. Das haben wir über das Gesetzgebungsverfahren im Dezember wieder rückgängig gemacht, sodass es in diesem Bereich die spartenübergreifende Verrechnungsmöglichkeit nicht mehr gibt. ({7}) Die Gewerbesteuerpflicht für Gewinne von Kapital- und Personengesellschaften aus der Veräußerung von Betrieben, Teilbetrieben und Mitunternehmerschaften wurde festgeschrieben. Die Beibehaltung des Verbots des Abzugs von Betriebsausgaben bei steuerfreien Dividenden sowie die Gewerbesteuerpflicht für Dividenden auf Aktien im Streubesitz wurden beschlossen. Alle diese Maßnahmen, die ich gerade aufgezählt habe, werden dazu führen, dass die kommunalen Haushalte ab diesem Jahr wieder Mehreinnahmen verzeichnen werden. ({8}) Alle diese fiskalpolitischen Verbesserungen für die Kommunen müssen bei der Überprüfung der Gewerbesteuerumlage mit einkalkuliert werden. Deswegen sollte die Überprüfung vor dem Jahr 2004, wie sie gesetzlich festgeschrieben worden ist, erfolgen. ({9}) Bayern hat im Bundesrat einen Antrag eingebracht, der zum Ziel hat, die Gewerbesteuerumlage wieder auf die alte Höhe zurückzuführen. Dieser Antrag ist identisch mit dem, was hier vonseiten der CDU/CSU vorliegt. Der Antrag Bayerns ist im letzten Winter eingebracht worden. Im Finanzausschuss des Bundesrats haben nicht einmal die unionsregierten Länder für die Annahme gestimmt. ({10}) Schon im Vorfeld also haben die unionsregierten Länder keine gemeinsame Linie gehabt, was die Frage der Gewerbesteuerumlage betrifft. Auch hieran sieht man, dass es in der Union keinen Zusammenhalt in finanzpolitischen Fragen gibt. An diesem Beispiel können wir wieder belegen, dass es bei Ihnen hü und hott geht, dass Sie völlig konfus agieren und reagieren. ({11}) Auch wir wissen, dass das Gewerbesteueraufkommen sehr konjunkturabhänig ist. Die Steuer selbst ist durch die Aushöhlung ihrer Bemessungsgrundlage immer mehr zu einer Großbetriebssteuer geworden. Das ist übrigens in den 16 Jahren der Kohl-Regierung und nicht in unserer Regierungszeit - das darf ich hier einmal anmerken erfolgt. ({12}) Diese Aushöhlung der Bemessungsgrundlage geht zurück auf die Entscheidungen der CDU/CSU- und vor allem der FDP-Fraktion, die mit Steuereinnahmen ja ohnehin nichts am Hut hat. Wir werden eine Kommission zur Erarbeitung eines Entwurfs zur Reform des Gemeindefinanzsystems einsetzen. Die Einsetzung dieser Kommission steht kurz bevor. Es gibt drei Ziele, die zu verwirklichen sind: Erstens. Den Kommunen muss eine möglichst konjunkturunabhängige Finanzierungsbasis geschaffen werden. Zweitens. Die Verbindung zwischen den Wirtschaftsunternehmen und den jeweiligen Kommunen muss gestärkt werden. Drittens. Den Kommunen muss im Rahmen der Reform ein verfassungsrechtlich einwandfreies Hebesatzrecht zur Sicherung und Gestaltung ihrer Einnahmebasis gewährleistet werden. Wir müssen natürlich auch insgesamt die Möglichkeit von Entlastungen auf der Ausgabenseite prüfen. Eine solche Reform wird in der nächsten Legislaturperiode Realität werden. Ich kann Sie nur auffordern: Arbeiten Sie daran mit! Wir wollen diese Reform gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden und gemeinsam mit den Ländern verwirklichen. Das geht nur mit den kommunalen Spitzenverbänden, die in der Kommission ein ganz starkes Gewicht haben werden. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion, das Wort.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Scheel, die Koalition, der Sie angehören, hat im November 1998 bekannt gemacht, das Gemeindefinanzsystem auf den Prüfstand zu stellen ({0}) und eine Gemeindefinanzreform vorzubereiten. Bis heute, immerhin 1100 Tage später, ist nichts, aber auch gar nichts passiert. Vor drei Tagen erst haben Sie in Ihrer Fraktion nur beschlossen, eine solche Kommission auf den Weg zu bringen. Das ist wahrlich sehr wenig. ({1}) Kollege Scheelen, Sie behaupteten, dass die Absenkung der Körperschaftsteuer um 80 Prozent im Jahresvergleich keine Auswirkungen auf die Kommunen habe. Die Körperschaftsteuer fließt zu großen Teilen in die Länderkassen und die Länder wiederum sind für den kommunalen Finanzausgleich verantwortlich. Der Abschwung trifft daher die Länder und ebenfalls die Kommunen dramatisch. ({2}) Dadurch, dass nichts passiert ist, befinden sich die Kommunalfinanzen in einem desolaten Zustand. In vielen Städten und Gemeinden ist kein Geld mehr vorhanden, um Schwimmbäder zu unterhalten. Es ist kein Geld mehr vorhanden, um den kommunalen Eigenanteil für Förderprogramme aufzubringen. Die kommunalen Investitionen gehen dramatisch zurück. All das geschieht in einer Zeit, in der die Bundesrepublik 4,3 Millionen Arbeitslose hat. Das ist unverantwortlich. Die Regierungskoalition hat nichts, aber auch gar nichts auf diesem Gebiet zuwege gebracht. Mit der Steuerreform haben Sie sogar dafür gesorgt, dass die Einnahmebasis der Kommunen auf Jahre hinaus ausgehöhlt wird. Die Gewerbesteuerumlageerhöhung bewirkt allein in diesem Jahr bei den Städten und Gemeinden Einnahmeausfälle in Höhe von 1 Milliarde Euro. Ein Wort an die CDU/CSU: Kollege Götz, Sie fordern zu Recht - wir unterstützen das -, die Gewerbesteuerumlageerhöhung rückgängig zu machen. Dann frage ich Sie aber, warum Sie in der Debatte am 21. Juni 2001 unseren Antrag, der genau dies vorsah, abgelehnt haben. Auch die FDP, die heute Entsprechendes lauthals verkündet, lehnte damals unseren Antrag ab. Das ist doch Rosstäuscherei! ({3}) Die Einnahmen der Kommunen reichen nicht aus, um die dringendsten Aufgaben zu erfüllen. Auf der anderen Seite werden Steuergelder in unübersehbarem Umfang für wahnwitzige Rüstungsprojekte verausgabt: gestern das neue Transportflugzeug A400M, morgen der Eurofighter 2000. Die neuesten Zahlen aus dem Bundesverteidigungsministerium besagen, dass die Kosten des Eurofighters jetzt bei 22 Milliarden Euro liegen, während 1997 noch von 12 Milliarden Euro ausgegangen worden ist. Hier stimmt im staatlichen Finanzgefüge eine Menge nicht. ({4}) Auch die finanziellen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen die Kommunen tragen. Neueste Berechnungen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes besagen, dass von den 26 Milliarden Euro, die die Kommunen für Sozialhilfe ausgeben, allein 15 Milliarden Euro auf die Langzeitarbeitslosigkeit zurückzuführen sind. Hier stimmt das ganze Konstrukt der Sozialhilfe nicht mehr. Dazu haben Sie nicht ein einziges Wort gesagt. Das ist unverantwortlich. Die PDS ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die bereits 1999 einen konzeptionellen Vorschlag für den Einstieg in die Reform der Kommunalfinanzierung eingebracht hat. Alle anderen Fraktionen haben darüber nur geredet, bis zum heutigen Tage auch die CDU/CSU. Ihre Anträge, die wir jetzt beraten, stellen die ersten Versuche in dieser Richtung dar. Wir verlangen eine auf die Wirtschaftskraft bezogene Steuer, die dauerhaft Bestand hat. Die Einnahmen aus dieser Steuer sollen möglichst vollständig in die kommunalen Kassen fließen. Wir sagen: Weg mit dem Konstrukt Gewerbesteuerumlage, das dazu geführt hat, dass das Finanzsystem von den Füßen auf den Kopf gestellt wird. ({5}) Wir verlangen für die besonders gebeutelten ostdeutschen Kommunen, aber auch für so manche Kommune im Altbundesgebiet, dass eine kommunale Investitionspauschale des Bundes aufgelegt wird. Die Kommunen müssen selbst entscheiden können, wofür sie es vordringlich verwenden. Diese kommunale Investitionspauschale soll direkt vom Finanzministerium in Berlin in die Städte und Gemeinden fließen. Das wäre kommunale Selbstverwaltung pur, Herr Kollege Scheelen. ({6}) - Die Verfassung lässt das zu; das wissen Sie ganz genau. Bereits vor Jahren hat es diese Möglichkeit gegeben. ({7}) Außerdem brauchen wir eine dauerhafte Entlastung der Kommunen von Problemen, für die sie nicht verantwortlich sind. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass die finanziellen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit nicht mehr den Kommunen aufgedrückt werden, denn die Kommunen haben dieses Problem nicht verursacht. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Die Fakten, die in der heutigen Debatte eine Rolle spielen und die sich noch mannigfach ergänzen ließen, zeigen, dass die Kommunalfinanzen in der Bundesrepublik auf dem Kopf stehen. Sie müssen endlich auf die Füße gestellt werden. Eine umfassende kommunale Finanzreform ist notwendig. Packen wir es gemeinsam an. Eine Lösung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland ist dringend geboten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Horst Schild von der SPD-Fraktion das Wort.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müssen den Gemeinden helfen, aber nicht durch politische Schnellschüsse. ({0}) Alle Ihre Anträge beinhalten nur Schnellschüsse. Einzige Ausnahme ist der Antrag der Union zur Einsetzung einer Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen und dieser hat sich durch die Ankündigung des Bundesfinanzministers vom Herbst letzten Jahres und durch unseren heutigen Antrag, selbige zu unterstützen, eigentlich erledigt. Im Übrigen hat der Bundesfinanzminister schon im Herbst des letzten Jahres angekündigt, eine solche Kommission einzusetzen. ({1}) - Herr Kollege Fromme, ich habe den Eindruck, dass Sie heute nicht auf der Rednerliste stehen und deshalb alles von den hinteren Bänken einbringen. Lassen Sie sich auf die Rednerliste setzen! ({2}) Herr Fromme, machen Sie Ihrem Namen ein bisschen Ehre! ({3}) Herr Kollege Götz, Sie haben in Ihrem Vortrag den Koalitionsvertrag angesprochen ({4}) und darauf hingewiesen, dass wir eine Gemeindefinanzreform angekündigt haben; das ist richtig. ({5}) Aber wir brauchen, Herr Kollege Michelbach - damit bin ich gleich bei Bayern -, für eine Gemeindefinanzreform als Bezugspunkt das Gerüst eines bundesstaatlichen Finanzausgleichs. Wer ist denn nach Karlsruhe gegangen und hat uns zwei, drei Jahre Verzögerung eingebrockt? ({6}) Sie wissen, dass wir den Finanzausgleich brauchen, ({7}) um auf dieser Basis einen Blick in die Zukunft werfen zu können und eine Gemeindefinanzreform zu installieren. Besonders heuchlerisch ist es allerdings, wenn sich jetzt diejenigen öffentlich als Retter und Fürsprecher der kommunalen Finanzen aufschwingen, deren steuerpolitische Vorschläge immer zum gegenteiligen Ergebnis führen. ({8}) Mit Ihren - das haben wir gestern früh diskutiert - immer widersprüchlicher werdenden Steuervorschlägen würden Sie Bund und Ländern, aber auch den Kommunen erhebliche Steuerausfälle bescheren. Allein das Vorziehen der Steuerreformstufe von 2005 auf 2003 würde für die Kommunen in den Jahren 2003 und 2004 Mindereinnahme in Höhe von 5,5 Milliarden Euro zur Folge haben. ({9}) - Nein, Sie müssen endlich einmal erkennen, dass nicht beides geht. Sie können nicht ständig Steuersenkungen fordern und gleichzeitig so tun, als würden die Gemeinden durch die Steuersenkungen mehr Geld in die Kassen bekommen. ({10}) Sie bleiben, wenn es um die Gemeindefinanzen geht, immer im Vagen und Widersprüchlichen. Da gibt es nichts Konkretes. Ihr Steuerkonzept „Die bessere Alternative“ von Anfang 2000 sah vor, die Gewerbesteuer um 20 Prozent zu senken. Wäre der Deutsche Bundestag diesem Antrag gefolgt, hätten wir nicht nur 5 Milliarden DM weniger, sondern 10 Milliarden DM. ({11}) - Das ist doch Unsinn. Wir hatten in den letzten Jahren ein hohes Wachstum. Dass allein die Absenkung der Gewerbesteuer um 20 Prozent das Wachstum beschleunigt, können Sie doch niemandem hier erzählen. ({12}) Nein, man kann nicht den Rückgang des Gewerbesteueraufkommens beklagen und gleichzeitig die Absenkung derselben Steuer im Deutschen Bundestag beantragen. ({13}) Ihr Konzept wurde damals von den kommunalen Spitzenverbänden verständlicherweise entschieden abgelehnt. Auch die kommunalen Spitzenverbände haben sich von diesem Vorschlag wahrhaftig keine Hilfe versprochen. Im Übrigen war darin die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie sie jetzt von Unionspolitikern in den Kommunen teilweise gefordert wird - auch hier gibt es kein einheitliches Bild bei Ihnen -, ausdrücklich nicht vorgesehen. ({14}) - Herr Kollege Seiffert, ich komme jetzt auch auf die neue Beschlusslage Ihrer Partei zu sprechen. Damals hieß es: Wir wollen keine Abschaffung der Gewerbesteuer, da sie ein zentrales Element eigenverantwortlicher kommunaler Steuerpolitik ist. Das gestehe ich zu. In Ihrem Parteitagsbeschluss von Dezember letzten Jahres fordern Sie: Parallel zur Reform der Einkommen- und Unternehmensteuern muss auch die Gemeindefinanzierung grundlegend reformiert werden, um mehr Wettbewerb unter den Kommunen zuzulassen. ({15}) In diesem Rahmen muss eine sinnvolle Fortentwicklung der kommunalen Wirtschaftsbesteuerung entwickelt werden. In der Tat sind auch wir für eine sinnvolle Fortentwicklung der kommunalen Wirtschaftsbesteuerung. ({16}) Das bedeutet aber, dass man allen Kommunen faire Wettbewerbschancen bietet. Ich hoffe, wir können in Zukunft auf der Basis der Vorschläge der Expertenkommission - auch wir gehen davon aus, dass sich diese Arbeit nicht über mehrere Jahre erstrecken wird - konstruktiv zusamHorst Schild menarbeiten. Ich sage das deutlich. In einigen Fragen sind wir vielleicht gar nicht so weit auseinander. Wir sollten uns aber davor hüten, durch widersprüchliche Vorschläge in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, Gemeinden helfen zu wollen und am Ende das Gegenteil zu befördern. Eines möchte ich noch sagen, Kollege Schüßler: Über das, was die FDP hier vorgelegt hat, habe ich mich allerdings gewundert. Andererseits hielt sich die Verwunderung in Grenzen; denn es ist zu bedenken, dass Sie Ihrem Ruf als Klientelpartei Rechnung tragen wollten. ({17}) Sie erheben Forderungen, die widersprüchlich begründet sind und die kommunalen Finanzen ganz eindeutig zum Nachteil gereichen. Kollege Schüßler, wer die Abschaffung der Gewerbesteuer fordert, der muss klarstellen, wie den Gemeinden eine Kompensation in einem Volumen von 50 Milliarden DM oder 25 Milliarden Euro zukommen soll. ({18}) Die Steuersätze sollen also wieder gesenkt werden. Sie wollen ein Hebesatzrecht in Bezug auf die Körperschaftsteuer und die Einkommensteuer. ({19}) - Ich komme gleich darauf zu sprechen. Es fällt relativ leicht, das anhand des vorliegenden FDP-Antrags zu dokumentieren. ({20}) Sie stellen zu Recht fest, dass die Gewerbesteuer an die Erträge der Unternehmen anknüpft und daher stark konjunkturabhängig ist. Finanzielle Planungssicherheit ist für die Kommunen damit nicht gegeben. Wer hat denn - diese Frage ist hier schon vorhin gestellt worden - die Gewerbesteuer zur bloßen Ertragsteuer - das ist sie heute - gemacht? Das waren doch nicht wir! ({21}) Durch die grundsätzliche Anknüpfung der Gewerbesteuer an die Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer bzw. Einkommensteuer der Gewerbetreibenden - das entnehme ich Ihrem Antrag - schlagen Änderungen der körperschaftsteuerlichen bzw. einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage automatisch auf die Gewerbesteuer durch. Wie sieht Ihre Schlussfolgerung, Ihre Alternative aus? Ein kommunaler Zuschlag auf Körperschaftsteuer und Einkommensteuer! Sie tun so, als gälte für einen solchen Zuschlag nicht genau das, was Sie an der Gewerbesteuer kritisieren - bloß in noch viel stärkerem Ausmaß. ({22}) - Herr Schüßler, Sie können das einmal in einem Gespräch am Rande des Plenums erläutern. ({23}) Die jetzige Gewerbesteuer weist wenigstens noch einige objektsteuerliche Korrekturen in ihrer Bemessungsgrundlage auf. Gleichzeitig wollen Sie den Einkommensteuerspitzensatz auf 35 Prozent senken. Über die daraus resultierenden Steuerausfälle werden Länder und Kommunen sicherlich begeistert sein. Fragen Sie einmal Kämmerer oder Finanzminister der Länder, ob das zur Stabilisierung ihrer Planungssicherheit beiträgt! Man mag das alles wollen, was Sie fordern, Herr Kollege Schüßler. Nur sollte man dann wenigstens im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Kommunalfinanzen ehrlich sein und nicht das Gegenteil von dem behaupten, was tatsächlich zutrifft. ({24}) Unbestritten ist: Die Gewerbesteuer weist in ihrer derzeitigen Form vielfältige Schwächen auf. Darüber brauchen wir hier nicht zu diskutieren. Wir müssen darüber diskutieren, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen. Die derzeitige kommunale Finanzsituation ist nicht nur auf konjunkturelle Gründe, sondern im Wesentlichen auf strukturelle Probleme bei den Einnahmen und den Ausgaben zurückzuführen. ({25}) Deswegen wird der Bundesfinanzminister mit voller Unterstützung der Koalitionsfraktionen in den nächsten Wochen eine Kommission zur Gemeindefinanzreform einsetzen. ({26}) An der Arbeit dieser Kommission wird, Kollege Michelbach, auch das Land Bayern beteiligt sein. Die Länder können durch ihre Vertreter ihre Vorstellungen einbringen. Ich hoffe, sie haben bis dahin welche, und zwar abgestimmte. Wir streben an, frühzeitig in der nächsten Legislaturperiode eine Reform auf der Grundlage der Vorarbeiten der Kommission gesetzgeberisch umzusetzen. Zu einer Gemeindefinanzreform gehört vor allen Dingen die Zukunft der Gewerbesteuer. Alle Alternativvorschläge zur Gewerbesteuer müssen sich in erster Linie an der Verfassung messen lassen. Ich frage Sie, auch die Kollegen von der FDP: Wollen Sie Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes ändern oder wollen Sie ihn unverändert lassen? ({27}) Man muss sich darüber im Klaren sein, ob man das Band zwischen den Betrieben vor Ort in der Kommune und der Kommune selbst zerschneiden oder es erhalten will. ({28}) Wir sind der Meinung, dass sich alle Alternativvorschläge an der Forderung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 3 des Grundgesetzes orientieren müssen, der eine Kommunalsteuer in Form einer wirtschaftsbezogenen Steuer mit Hebesatzrecht vorschreibt. Das ist unsere Position. Andernfalls zerschneiden wir das Band zwischen den Kommunen und den örtlichen Betrieben. Wir müssen berücksichtigen - das sage ich ganz deutlich -, welche Aufgaben die Gemeinden haben. Hierzu zählt der für die Kommunen besonders bedrückende Bereich der Sozialhilfe. Auch das muss im Mittelpunkt der Erörterung dieser Kommission stehen. Die Gemeindefinanzreform wird sich also nicht nur mit dem Thema der Gewerbesteuer, sondern auch mit den Ausgaben der Kommunen befassen müssen. Aufgabenerfüllung und Finanzierung müssen wieder in Einklang miteinander gebracht werden; da stimmen wir vielem, was heute gesagt wurde, zu. Kommunale Entscheidungsspielräume müssen erweitert werden. Wir werden in der nächsten Wahlperiode eine seriöse Gemeindefinanzreform verabschieden. ({29}) - Herr Götz, das habe ich doch bereits gesagt. Ich habe den Eindruck, dass Sie das nicht ganz verstanden haben. Ich wiederhole es: Durch die Klage insbesondere der süddeutschen Länder vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den bundesstaatlichen Finanzausgleich ist es zu einer Verzögerung gekommen. Sie konnte nicht aufgehoben werden, bevor wir als Grundgerüst für die zukünftige Gemeindefinanzreform einen bundesstaatlichen Finanzausgleich schaffen konnten, den wir nun haben. Darauf werden wir aufbauen. ({30}) Wir werden den Gemeinden hinsichtlich ihrer Finanzen dauerhaft eine verlässliche Basis geben und die kommunale Selbstverantwortung stärken. Ich hoffe, meine Damen und Herren, dass wir gemeinsam zu tragfähigen Ergebnissen kommen werden. Wir alle wissen: Für eine Gemeindefinanzreform brauchen wir die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen. Deshalb biete ich Ihnen heute die Zusammenarbeit an. Danke schön. ({31})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Gerhard Schüßler von der FDP-Fraktion das Wort.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schild, es ist immer interessant, zu erleben, dass Sie - das wird bei Ihren Ausführungen deutlich - nie den gesamtstaatlichen Finanzausgleich in Ihre Gedanken einbeziehen. ({0}) Sie wissen sehr genau, dass wir eine nachhaltige Reform des bundesstaatlichen Finanzausgleichs brauchen, und zwar auf gar keinen Fall ohne Gemeindefinanzreform. Diese hat der Herr Finanzminister noch im vorigen Jahr abgelehnt; das wollen wir nicht vergessen. Ihnen ist darüber hinaus noch immer nicht klar, dass die Gewerbesteuer eine wettbewerbsfeindliche Steuer ist, die es in keinem anderen europäischen Land gibt. ({1}) - Herr Poß, dass Sie eine andere Meinung haben, wundert niemanden. Ich will Ihnen aber sagen: Ihre eigenen Leute, wo auch immer Sie sie heute suchen, in Nordrhein-Westfalen, beim Deutschen Städtetag oder bei den Oberbürgermeistern, werden Ihnen erklären, dass die Gewerbesteuer weg muss. ({2}) Nur Sie haben das noch nicht begriffen. Sie stellen noch Anträge, um diese Gewerbesteuer zu revitalisieren. Das ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Wir brauchen einen gesamtstaatlichen Finanzausgleich; denn die Entwicklung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern versteht im Moment kein Mensch mehr. Oder können Sie die nachvollziehen? Dafür braucht man schon ein finanzwissenschaftliches Studium. Und Sie wollen mir weismachen, dass das so bleiben kann? Darüber sollten Sie einmal nachdenken, anstatt hier so zu polemisieren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schild, wollen Sie erwidern? - Bitte schön.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schüßler, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben nahezu einstimmig - nur im Deutschen Bundestag gegen Ihre Stimmen im letzten Jahr einen bundesstaatlichen Finanzausgleich beschlossen. ({0}) - Herr Kollege Michelbach, ich habe vorhin gesagt, dass das eine wesentliche Voraussetzung für eine Gemeindefinanzreform darstellt. Herr Kollege Schüßler, dafür, dass Sie vieles nicht verstanden haben, ({1}) bin ich nicht verantwortlich. Aber die Bundesländer, in denen die FDP an der Regierung beteiligt war, haben diesem bundesstaatlichen Finanzausgleich zugestimmt. Was die Gewerbesteuer anbelangt, habe ich nicht gesagt, dass das so bleiben muss. Ich habe Ihnen, Herr Kollege Schüßler, aber den Vorwurf gemacht, dass Sie eine Forderung erheben, ohne eine Alternative auf den Tisch zu legen. ({2}) Sie fordern die Abschaffung der Gewerbesteuer, ohne zu sagen, wie ein Volumen von 50 Milliarden DM respektive 25 Milliarden Euro kompensiert werden soll. Alternativen zu finden wird Gegenstand der Arbeit dieser Kommission sein. Aber ein politischer Schnellschuss - die Abschaffung der Gewerbesteuer - wird den Gemeinden nicht helfen, vor allem nicht, wenn dies gegen den Willen der kommunalen Spitzenverbände beschlossen wird. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Michelbach von der CDU/ CSU-Fraktion.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Wirtschaft ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Wirtschaft.“ Dieses Grundprinzip von Ludwig Erhard wurde von Rot-Grün außer Kraft gesetzt. Die verfehlte Finanzund Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung hat in den letzten drei Jahren dazu geführt, dass sich unsere Kommunen in einer kritischen Finanzsituation befinden und unsere Wirtschaft in eine Rezession geraten ist. Wachstumseinbruch, hohe Arbeitslosigkeit, Steuergeschenke und Steuerwillkür sind die Ursachen für den Niedergang der Kommunalfinanzen. Wirtschaftliche Dynamik ist die Grundlage für Arbeitsplätze, Steueraufkommen und Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Diese können nur gedeihen, wenn es bessere Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Kommunen in unserem Land gibt. Unter Rot-Grün ist genau das Gegenteil passiert. Die Bilanz in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik von Rot-Grün ist miserabel. Die Folge ist: Die Zahl der Unternehmensgründungen ist rückläufig. Die Firmenpleiten haben um 19 Prozent auf die Rekordzahl von 34 000 zugenommen. Rot-Grün hat Deutschland zum Absteiger in der Europaliga gemacht. Rot-Grün hat die Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und Kommunen wesentlich beschwert. ({0}) Rot-Grün ist damit ein Belastungsprogramm für Deutschland. ({1}) Deutschland ist mit 0,6 Prozent Wachstum Schlusslicht der Europäischen Union. 1 Prozent Wachstumsverlust hat die öffentliche Hand rund 8 Milliarden Euro gekostet. Die Arbeitslosenzahlen steigen unaufhaltsam. Jeweils 100 000 Arbeitslose kosten mehr als 1,5 Milliarden Euro. Ausgehend von 3,5 Millionen Arbeitslosen - das ist die Prognose Ihres Bundeskanzlers - wird es zu 12 Milliarden Euro Mehrbelastung für die öffentliche Hand kommen. ({2}) Das ist der Niedergang in der Wirtschaft und in den Kommunen. Letzten Endes können wir so nicht weitermachen. Der Leistungsverlust schadet dem Gemeinwohl und der Zukunft. Im vierten Quartal 2001 hatten wir beim Bruttoinlandsprodukt wiederum ein Minus zu verzeichnen. Damit sind wir das einzige Land in der Europäischen Union, das akut in der Rezession steht. Ein Abstieg auf allen Ebenen - das ist die Situation, die wir heute haben. ({3}) Meine Damen und Herren, die nächste Blamage steht leider bevor. Deutschland hat die höchste jährliche Neuverschuldung des öffentlichen Gesamthaushaltes, gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Deutschland steht kurz davor, wegen seines hohen Haushaltsdefizits die rote Karte aus Brüssel zu erhalten. Der Verstoß gegen den von Theo Waigel durchgesetzten Stabilitätspakt ist der Offenbarungseid dieser Bundesregierung und des Bundesfinanzministers im Besonderen. ({4}) Die Kommission ist zu Recht besorgt, weil der Bundesfinanzminister seine vollmundig angekündigten Sparziele deutlich verfehlt. Das gesamtstaatliche deutsche Defizit liegt bei 2,6 Prozent des BIP, das sind 1,1 Prozent mehr, als ursprünglich in Brüssel gemeldet. ({5}) Herr Eichel lässt sich von Ihnen als selbst ernannter Sparkommissar feiern. In Wahrheit wird auf Kosten der Kommunen, Länder und Sozialversicherungen gespart. Die Neuverschuldung des öffentlichen Gesamthaushaltes explodiert. Das sind die Tatsachen. ({6}) Gleichzeitig - das ist besonders hervorzuheben - machen Sie große Steuergeschenke an Aktiengesellschaften. ({7}) Das ist Ihre Politik, die das Großkapital unterstützt. ({8}) Der normale Steuerzahler steht dieser Ungerechtigkeit fassungslos gegenüber. Große Aktiengesellschaften genießen bei Ihnen die Freiheit zur Selbstbedienung. Das ist die Situation, die wir haben. ({9}) Ein Staatssekretär wird bei der Post AG in den Aufsichtsrat geholt. Das kostet den Staat 1,4 Milliarden Umsatzsteuer. ({10}) Ein Chemieriese schickt den Leiter der Steuerabteilung als Staatssekretär in das Bundesfinanzministerium. Ergebnis: mittelstandsfeindliche Steuerpolitik, große Entlastung der Kapitalgesellschaften durch die Senkung der Körperschaftsteuer, was eine Reduzierung des Körperschaftsteueraufkommens von 45 Milliarden DM auf 6 Milliarden DM zur Folge hat. Das ist eine Politik für die Bosse, das ist eine ungerechte Politik, eine mittelstandsfeindliche und letzten Endes auch eine kommunalfeindliche Politik. ({11}) Weitere Hiobsbotschaften werden folgen, wenn die ordnungspolitische Irrfahrt kein Ende hat. Die Fakten sind: Arbeitnehmer und Mittelstand zahlen nicht zu wenig, sondern zu viel Steuern. Die Einkommensbelastungsquote ist mit 54,5 Prozent für die Bürger nach wie vor sehr hoch. Gleichzeitig ist der Lebensnerv der Kommunen für eine ausreichende Finanzkraft abgeschnitten. Die kommunalen Investitionen liegen heute um ein Drittel unter dem Niveau von 1992. ({12}) Das muss man sich einmal vor Augen halten! Diese Zahlen sprechen Bände über die rot-grüne Kommunalfeindlichkeit. Viele Städte befinden sich durch dramatische Finanzverschiebungen und Steuerverluste zurzeit in einer sehr ernsten Finanzkrise, aus der sie sich selbst nicht mehr befreien können. Ihre politischen Entscheidungen sind die Ursache dafür, dass in den Kommunen die Abwärtsspirale von sinkenden Einnahmen, wachsenden Aufgaben und steigenden Defiziten angetrieben wird. Mit Schönredereien, Durchhalteparolen und hektischem Aktionismus wie zum Beispiel der schnellen Gründung eines Arbeitskreises wollen Sie sich durchmogeln. Durch das Einsetzen einer Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen wollen Sie jetzt noch Aktionismus darstellen - viel zu spät! Sie haben es versäumt, parallel zu Steuerreform und Länderfinanzausgleich eine Gemeindefinanzreform durchzuführen. Sie haben Reformen verweigert und deshalb müssen jetzt die Kommunen und letzten Endes auch die Bürger die Zeche zahlen. ({13}) Der Gipfel der Kommunalfeindlichkeit aber ist die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage. Das ist ein Anschlag auf die kommunale Selbstverwaltung und nichts anderes. ({14}) Ich zeige Ihnen am Beispiel meiner Heimat einmal, wie die Kommunen dadurch unter Druck geraten: Die Stadt Coburg muss 980 000 Euro mehr abgeben, die Stadt Neustadt 700 000 Euro, die Stadt Rödental 350 000 Euro, die Stadt Kronach 260 000 Euro. Die Landeshauptstadt München muss durch Ihre Erhöhung der Gewerbesteuerumlage 32 Millionen Euro mehr abgeben. Diese Beträge fehlen vor Ort für Aufträge, für Investitionen und zur Sicherung der Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit, die letzten Endes Sie zu verantworten haben, ist hausgemacht! ({15}) Meine Damen und Herren, die CDU/CSU wird im Herbst den Abstieg Deutschlands unter Rot-Grün beenden und Deutschland wieder nach vorne bringen. Der Abstieg, der unter Rot-Grün stattgefunden hat, muss gestoppt werden. Deutschland braucht wieder mehr Wachstum und Beschäftigung, eine neue Steuerreform, eine Gemeindefinanzreform, die zielführend und gerecht ist, sowie Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachungen für die gesamte Bürgerschaft, den gesamten Mittelstand und nicht nur für einige wenige Großkonzerne, deren Bosse letzten Endes in Gesprächen beim Bundeskanzler, beim Genossen der Bosse, Gehör finden. Ich möchte Ihnen deutlich machen, dass Sie für eine gerechte Entwicklung sorgen müssen. Ihre Maßnahmen im Bereich der Kommunalfinanzen, der Wirtschafts- und Finanzpolitik stellen eine ordnungspolitische Irrfahrt dar, die zu Einseitigkeiten und Ungerechtigkeiten führt. ({16}) Beenden Sie diese Politik! Der Wähler wird Ihnen am 22. September dafür die Quittung geben. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/7442, 14/7787, 14/7326 und 14/7993 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/8025 soll zur federführenden Beratung an den Finanzausschuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/7424 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Umsetzung des Versprechens der Bundesregierung zur Stärkung der Kommunalfinanzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6163 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP und bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern - Drucksache 14/7564 ({0}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann Bachmaier, Doris Barnett, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Grietje Bettin, Rita Grießhaber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern - Drucksache 14/6433 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 14/8058 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Dr. Antje Vollmer Dr. Evelyn Kenzler Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Eckhardt Barthel von der SPD-Fraktion das Wort.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Seit 1965, seit Verabschiedung des Urhebergesetzes, steht ein Thema immer wieder auf der Agenda, nämlich, einen fairen Ausgleich zwischen Urhebern und Verwertern zu finden. Ich möchte sie als Partner bezeichnen, denn es sind in der Tat Partner, weil sie beide voneinander abhängig sind. Die Verhandlungen dauerten sehr lange und es waren viele Anhörungen und Expertengespräche sowie Berichterstattergespräche nötig, um zu dem Ergebnis zu kommen, das wir Ihnen heute vorlegen. Es hat in diesem langen Prozess natürlich viele heftige Auseinandersetzungen gegeben, auch zwischen der Regierungskoalition und der Opposition. Wenn ich mir das aber im Nachhinein anschaue, habe ich den Eindruck, dass die Einbeziehung der Opposition in diesen Prozess fast lehrbuchhaft genannt werden kann. ({0}) - Ich meine das sehr ernst, denn ich habe selten so viele Informationen, auch von der Regierungsseite, übermittelt bekommen, wie das bei diesem Gesetz der Fall war. Dass Sie die Gelegenheit nicht immer wahrgenommen haben, meine Damen und Herren von der Opposition, ist Ihr Problem. In der vorigen Woche haben wir beispielsweise zu Berichterstattergesprächen eingeladen; dazu sind Sie nicht einmal erschienen. ({1}) Ich meine schon, dass diese Beratung wirklich hervorragend gelaufen ist, gerade wenn ich an die Einbeziehung vieler Fachleute und Experten in diesen Prozess denke. Manchmal hatte ich allerdings das Gefühl, dass sich einige in der Opposition zum parlamentarischen Büchsenspanner gewisser Lobbyistengruppen haben degradieren lassen. ({2}) Meine Damen und Herren, Ziel unseres Gesetzes ist es, zu einem fairen Interessenausgleich zwischen Urhebern und Verwertern zu kommen und strukturelle Ungleichheiten, die zweifelsohne vorhanden sind, zu beseitigen. Wenn man es politisch auf den Punkt bringt, heißt das schlicht und einfach: Wir wollen die Stellung der Urheber verbessern. ({3}) Wie nötig es ist, die Stellung der Urheber zu verbessern, muss ich an dieser Stelle und vor denen, die hier sitzen, nicht wiederholen. Wir haben das in den Anhörungen gehört. Übrigens fand ich eine Formulierung eines Übersetzers in der Anhörung ziemlich überzeugend, der das Verhältnis zwischen Urhebern und Verwertern bildlich dargestellt hat. Er hat es das „System des freien Fuchses im freien Hühnerstall“ genannt. Ich glaube, das gibt die Situation ziemlich gut wieder. ({4}) Auf diesen Gesetzgebungsprozess ist massiv Einfluss genommen worden. Ich sage: Das ist in Ordnung. An der Form der Einflussnahme kann man allerdings schon erkennen, wie groß das Ungleichgewicht zwischen Verwertern und Urhebern ist. Von den Urhebern, Übersetzern etc. haben wir Faxe oder E-Mails bekommen mit dem Inhalt: „Macht weiter, das ist der richtige Weg.“ Von der Verwerterseite dagegen kamen ganzseitige Polemiken in den Zeitungen, die ein Normalsterblicher gar nicht bezahlen kann. ({5}) Meine Damen und Herren, in diesem Prozess ist es auch zu Veränderungen des ursprünglichen Professorenentwurfs, wie es damals hieß, gekommen. Ich denke hier zum Beispiel an den Filmbereich, Herr Neumann. ({6}) - Nein, nein. Ich denke an die Frage der Rückwirkung des Auskunftsanspruchs etc. Viele Änderungen sind mit dem Ziel eines Interessenausgleichs vorgenommen worden. Trotzdem - und darauf lege ich den allergrößten Wert - haben wir die Essentials, die wir uns für die Reform des Gesetzes vorgenommen haben, erhalten. ({7}) Gestatten Sie mir, dass ich die drei Punkte noch einmal nenne. Die Essentials sind erstens der gesetzliche Anspruch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms auf angemessene Vergütung, zweitens die Erstellung gemeinsamer Vergütungsregeln mit Schlichtungsverfahren und drittens der Fairnessausgleich bei Bestsellererfolgen. Diese Hauptansätze haben wir in die Form, die heute zur Abstimmung steht, gießen können. Ich weiß, zum Schluss ist noch etwas Wasser in den Wein gegossen worden, ({8}) indem - daraus mache ich keinen Hehl - Bindendes zumindest partiell durch das Prinzip der Freiwilligkeit ersetzt worden ist. Das war ein Angebot der Verwerter. Ich gestehe, meine Kolleginnen und Kollegen und ich haben dem nur mit der Faust in der Tasche zugestimmt. Nun gilt es zu prüfen, ob dieses Angebot der Freiwilligkeit in der Praxis standhält. ({9}) Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir dieses Gesetz in der Tat noch einmal auf die Tagesordnung setzen. ({10}) Unter dem Strich: Dieses Gesetz war überfällig. Übrigens wird gerade in der fortschreitenden Wissensgesellschaft die Bedeutung von Urhebern und Kreativen immer wichtiger. Deshalb muss auch deren Stellung verbessert werden. Das erreichen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich glaube, er ist ein Erfolg für unsere Kulturpolitik. Ich bedanke mich. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fast zwei Jahre lang hat die Bundesjustizministerin die Reform des Urhebervertragsrechts als ideologischen Kampf geführt. ({0}) Sie, Frau Ministerin, haben diesen Kampf heute auf der ganzen Linie und ganz persönlich verloren. ({1}) Von dem, was Sie wollten, ist nichts mehr übrig geblieben. ({2}) „Die Revision des Urheberrechts ist bei Null angekommen“, titelte gestern die „Süddeutsche Zeitung“. Der Titel der Presseerklärung der Gewerkschaft Verdi lautete: „Bundesregierung als Bettvorleger gelandet.“ Beide haben Recht. ({3}) Frau Ministerin, Sie sind in Ihrer gut dreijährigen Amtszeit inzwischen mit dem zweiten großen und auch mit einem persönlichen Anspruch verfolgten Reformvorhaben gescheitert: zuerst mit der Justizreform und jetzt mit der Reform des Urhebervertragsrechts. Sie sind gescheitert. ({4}) Worin liegt eigentlich das Scheitern der Justizministerin? Was macht es aus? Es liegt nicht darin, dass das Gesetz am Ende anders aussieht, als es eingebracht wurde. Das kommt häufiger vor. ({5}) Das Scheitern der Justizministerin liegt darin, dass sie zwar das Gesetz geändert hat, aber nicht ihre Meinung, nicht ihren Standpunkt. ({6}) Das ist gar nicht mehr Ihre Politik, die Sie dort betreiben, nicht mehr Ihre Handschrift. Sie machen Politik und Gesetzentwürfe auf Anweisung aus dem Kanzleramt. Das, was Sie betreiben, ist doch nicht mehr Ihre Rechtspolitik. ({7}) Sie sind in der Rechtspolitik entmachtet worden ({8}) und müssen noch die abendlichen Anweisungen des Kanzlers entgegennehmen. Dieses Gesetz wird Ihnen aufgezwungen. ({9}) Sie stellen heute etwas vor, zu dem Sie gar nicht mehr stehen. Und - weil der Protest der Regierungsfraktionsmitglieder kommt - nebenbei bemerkt: Ihr Versagen in der Rechtspolitik liegt nicht darin, dass Sie Ihre Meinungen wechseln. Ihr Versagen liegt darin, dass Sie schon gar keine Meinung mehr haben. ({10}) Sie sind doch jeden Tag zu einer neuen Meinung bereit. Sie haben doch alles vertreten. ({11}) Bei dem Professorenentwurf waren Sie erst für 100 Prozent, dann für 5 Prozent. Alles war gut. Sie haben jeden Tag eine neue Meinung. Sie sind flexibel und haben damit kein Problem. Sie sind der willenlose verlängerte Arm der Regierung im Parlament. Sie nehmen hier eine Selbstentmachtung vor, für die ich als Parlamentarier kein Verständnis habe. Das Problem von Frau Däubler-Gmelin ist nicht, dass sie keine Meinung hat. Frau Däubler-Gmelin hat eine Meinung, aber als Ministerin hat sie damit immer ein Problem. ({12}) Sie ist einerseits nicht bereit, ihre Meinung in einen konstruktiven Dialog einzuführen, andererseits aber nicht in der Lage, ihre Meinung auch durchzusetzen. Aus dieser Eigenart erwächst das Strickmuster der Rechtspolitik von Frau Däubler-Gmelin: Am Anfang wird stets mit hohem Anspruch und vollem Elan ein großes Projekt verkündet. ({13}) Und weil diese Projekte ebenso ideologiegetränkt wie praxisfern sind, treiben Sie regelmäßig die Beglückten Ihrer Projekte auf die Barrikaden. Sie treiben sie zur Notwehr. Es finden ständig Kämpfe statt. ({14}) Sie treffen stets auf geschlossene Gegenwehr der Betroffenen, die Ihre Vorschläge ablehnen. In einer solchen Atmosphäre finden sachliche Gespräche nicht mehr statt; mit der Opposition schon gar nicht. ({15}) Die Justizministerin will mit dem Kopf durch die Wand, verliert aber gleichzeitig immer mehr an Boden. Sie nervt damit den Kanzler, der sie auch regelmäßig im entscheidenden Augenblick im Regen stehen lässt. Am Ende geht es nur noch um die Gesichtswahrung der Ministerin. Das ist das Strickmuster rot-grüner Rechtspolitik, das wir immer wieder verfolgen können. ({16}) Nun könnte man sagen: Die Opposition mag sich darüber freuen, wenn die Justizministerin im Grunde gar nicht mehr für die Rechtspolitik zuständig ist und keine Politik mehr machen kann. ({17}) Aber die Art, wie Sie Rechtspolitik machen, ist schon mehrfach von großem Schaden für unser Land gewesen. Ich will es anhand des Urhebervertragsrechts belegen: Mit der in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen Beschränkung der Vertragsfreiheit in einem Bereich, der von kultureller Vielfalt, schöpferischen Beiträgen und Individualität geradezu geprägt ist, wollten Sie ein Nullachtfünzehn-Muster einführen. ({18}) Sie haben vorgeschlagen, den an solchen vertraglichen Beziehungen Beteiligten zwangsweise Schiedssprüche aufzuoktroyieren. Sie wollten durch staatlichen Spruch vertragliche Beziehungen festlegen lassen. Die kleinen und mittleren Verlage, kleinere Unternehmen - vor allem auch linke, liberale Verlage - haben gesagt: Das ist für uns existenzbedrohend. - Die Größeren dagegen haben gesagt: Wenn das kommt, sind wir international nicht mehr wettbewerbsfähig. Das war die Reaktion der gesamten betroffenen Wirtschaft, der Kulturwirtschaft, der Werbewirtschaft und der Medienwirtschaft. Sie alle haben gesagt: Dann können wir nicht mehr, dann gehen wir unter. Am wenigsten hätten Sie mit einer solchen Politik den Autoren, den Urhebern, den Künstlern gedient. ({19}) Der Glaube, dass es den Autoren erst dann richtig gut geht, wenn es den Verlagen und den Unternehmen richtig schlecht geht, war der Grundirrtum in Ihrem Ansatz. ({20}) Genauso wie es keinem Arbeitnehmer gut gehen kann, wenn es dem Unternehmen schlecht geht, kann es auch keinem Autor gut gehen, wenn er keinen Verlag findet, weil die Verlage wirtschaftlich nicht erfolgreich sein können. ({21}) Das war der Grundirrtum Ihres Vorhabens. Der Kampf hiergegen war erfolgreich. Es war ein Kampf, zu dem Sie immer gezwungen haben. Alle, aber auch sämtlich alle diese Giftzähne sind dem Gesetzentwurf gezogen worden. ({22}) All das, was Sie proklamiert haben, befindet sich heute nicht mehr im Gesetzentwurf. ({23}) Das ist Ihr inhaltliches Scheitern. Der entstehende Schaden geht aber noch über die Sache hinaus. Er betrifft auch das Gesetzgebungsverfahren. Bei diesem Thema, aber auch bei anderen Themen, haben wir gerade in den letzten Tagen, Wochen und Monaten ein Gesetzgebungsverfahren erlebt, dass man nur mit dem Begriff „Gesetzgebungschaos“ bezeichnen kann. Es war das reinste Chaos. ({24}) Nach den zahlreichen Änderungen im letzten halben Jahr kamen in dieser Woche substanzielle Änderungen des Gesetzentwurfs mit täglicher Post. In der letzten Woche, am 15. Januar, kamen solche Änderungen. Diese wurden schon am nächsten Montag, dem 21. Januar, wieder verworfen. Am Dienstag, dem 22., gab es neue Post. ({25}) Eine Stunde vor der Rechtsausschusssitzung wurde auch der Rest des verbliebenen Gesetzentwurfes verworfen. Meine Damen und Herren, das ist das reinste Gesetzgebungschaos. Ihre Abgeordneten nicken unterdessen alles ab. Mein lieber Herr Barthel, noch am Dienstag haben Sie im Kulturausschuss für etwas ganz anderes als das, für das Sie heute stimmen werden, gestimmt. Das macht doch die Absurdität Ihres Verhaltens deutlich. ({26}) In Ihrem Engagement ist nicht einmal ein Funke von Glaubwürdigkeit mehr vorhanden. Sie in Person und andere Mitglieder des Kulturausschusses haben am Dienstag für eine Vorlage gestimmt, die eine völlig andere ist als jene, für die Sie heute stimmen. Die Mitglieder des Rechtsausschusses haben auch für etwas anderes gestimmt. Sie stimmen immer für das, was von der Regierung gerade vorgelegt wird. ({27}) Glauben Sie eigentlich, dass Sie hier nur zum Abnicken da sind? Bilden Sie sich doch mal eine Meinung und vertreten Sie diese auch gegenüber der Regierung. Sie sind doch Parlamentarier und keine Abnicker. ({28}) - Ja, ich rede besonders über das Verfahren, weil uns das beschwert; denn ein solches Chaos im Verfahren hat natürlich Auswirkungen auf die Qualität. Wer kann das, was Sie machen, denn noch übersehen? Sie können es auch nicht. ({29}) Sie übernehmen die volle Haftung für die Unübersehbarkeiten in diesem Gesetzentwurf. Diese Haftung tragen Sie, meine Damen und Herren. ({30})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Röttgen, kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will in einem letzten Satz noch etwas zum Schaden sagen. Weil Sie den ideologischen Kampf geführt haben, sind Sie bis zu den Problemen nicht vorgestoßen. Wir wissen doch, dass es Problemgruppen gibt: Übersetzer, freiberufliche und andere. Für diese kommt nichts dabei heraus. Sie stehen weiterhin im Regen. Die Probleme sind nicht gelöst worden, weil Sie ideologisch gekämpft haben. ({0}) Meine letzte Bemerkung: Es ist den Oppositionsfraktionen gelungen, Schlimmstes für die Betroffenen zu verhindern. Wir haben mehr erreicht, als eine Opposition eigentlich erreichen kann. Mit dem Ergebnis kann man leben; es wurde ein Interessenausgleich gefunden. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, keine Debattenbeiträge mehr. Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Sie müssen sich fragen, ob Sie zustimmen können. Wir machen deutlich, dass wir mit dieser Zustimmung das Gesetzgebungschaos nicht sanktionieren wollen ({0}) und dass wir in der Rechtspolitik einen anderen Stil pflegen, nämlich eine klare Position und keine Konfrontation. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer von Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war wirklich eine merkwürdige Rede. ({0}) Wenn Sie zustimmen wollen, Herr Röttgen, warum spreizen Sie sich dann während Ihrer ganzen Redezeit? Warum reden Sie nicht zu der guten Sache selber? ({1}) Wenn der Entwurf ein „Nichts“ ist, warum ärgern Sie sich dann? Worüber zürnen Sie denn eigentlich? ({2}) Zürnen Sie über einen parlamentarischen Prozess, bei dem es Veränderungen gegeben hat? Das ist doch genau das, worauf ein Parlament stolz sein kann. Ich verstehe den Sinn Ihrer Rede nicht. ({3}) Was machen wir mit diesem Gesetz? Seit über 35 Jahren gibt es das Urhebergesetz. Seit über 35 Jahren ist klar, dass die vertragliche Beziehung zwischen Urhebern und Verwertern neu geregelt werden muss. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen wiederholt darauf hingewiesen, dass zur Vertragsfreiheit ein Mindestmaß an Gleichgewicht, also ein Verhandeln auf gleicher Augenhöhe zwischen den verschiedenen Vertragspartnern gehört. ({4}) Genau dieses Gleichgewicht stellen wir heute her. Nach Hunderten Stunden von Debatten müssen wir diesen Prozess in einer einzigen parlamentarischen Stunde zusammenbinden. Es war wegen struktureller Unterschiede ein komplizierter Prozess. Wir schaffen ein Gesetz, das Schriftstellern, Journalisten, Übersetzern, Fotografen, Malern und Bildhauern einen gesetzlichen Anspruch auf angemessene Vergütung verschaffen soll. Wir haben das in einer Atmosphäre von sehr konträren Interessen getan: der Urheber auf der einen Seite und der Verwerter auf der anderen Seite. Dabei wissen wir sehr wohl, dass wir beide brauchen, damit es zu einer lebendigen Kulturlandschaft kommen kann. Es gab verwickelte Debatten. Auch gab es ein Verfahren, das viel Energie und Mut gekostet hat. Es spricht tatsächlich Bände - genau wie bei Ihrer heutigen Rede, Herr Röttgen -, dass Sie sich in der entscheidenden Phase der Teilnahme an den Debatten einfach entzogen haben. Das verstehe ich nicht unter konstruktiver Oppositionspolitik. ({5}) Schwierig war aber auch, dass wir diese ganzen Debatten in einer Zeit führen mussten, die von Kampagnen bestimmt war. Eckhardt Barthel hat schon darauf hingewiesen: Eigentlich haben diese Kampagnen selbst bewiesen, was jedem einzelnen Urheber immer wieder passiert, nämlich dass er es in einem ganz ungleichen Verhältnis mit einem viel stärkeren Vertragspartner zu tun hat. ({6}) Die Verleger hatten die Möglichkeit, über ganzseitige Anzeigen in Zeitungen und über Briefe an den Bundeskanzler dem ganzen Land ihre Sicht der Dinge mitzuteilen. Die Verwerter haben uns Faxe und E-Mails geschickt. Ich freue mich, dass Vertreter der Urheber auf der Tribüne sind und dieser Debatte zuhören. Wir wissen, dass dieser Prozess auch ihnen viel zugemutet hat. Es war - das hat Eckhardt Barthel richtig gesagt - wie ein Kampf der Füchse gegen die Hühnchen oder wie David gegen Goliath. Mit dem Urhebervertragsgesetz wird den Urhebern nun zum ersten Mal ein gesetzlicher Anspruch eingeräumt, eine angemessene Vergütung von ihren Vertragspartnern zu fordern. Das ist der ganz große Fortschritt. Gleichzeitig haben wir ein Schlichtungsverfahren eingeführt, sodass sowohl Sachverstand als auch Marktkenntnisse in die Ergebnisse einfließen werden. Dies geschieht deswegen, weil es eine gemeinsame Kulturlandschaft und einen gemeinsamen freien Raum von Kreativität zu sichern gilt. Nun ist in der letzten Phase gerade in Bezug auf das Schlichtungsverfahren zur Besorgnis der Urheber eine Änderung eingetreten. Ich finde, dass die Änderung, die wir hier vorgenommen haben, mit den Grundüberzeugungen von Bündnis 90/Die Grünen durchaus übereinstimmt, nämlich dass gerade im Bereich von freier Kreativität Zwang kein geeignetes Mittel ist, um Veränderungen herbeizuführen. Aber auch ich möchte unterstreichen: Die Freiwilligkeit muss auch eine Wirkung erzeugen. Wir werden wie die Kollegen der SPD und wie hoffentlich alle in diesem Hause darauf achten, dass beide Vertragspartner in diesem Schlichtungsverfahren freiwillig zu positiven Ergebnissen kommen; sonst werden wir - darauf verpflichten wir uns als Gesetzgeber schon heute - erneut tätig werden. ({7}) Der dritte wichtige Punkt - neben dem Anspruch auf angemessene Vergütung und dem Schiedsverfahren - ist der neue Bestsellerparagraph. In der vorliegenden Formulierung war der alte Bestsellerparagraph - das haben auch alle Verwerter immer wieder gesagt - im Grunde genommen ein zahnloser Tiger. Er führte nicht selten dazu, dass die Urheber besonders erfolgreicher Werke im Streit um eine dem Erfolg entsprechende Anhebung ihrer Vergütung das gesamte erstrittene Geld durch die Prozesskosten wieder einbüßen mussten. Nur mit unserer Regelung haben die Urheber von Bestsellern nun die reelle Chance, an dem Erfolg ihrer Werke beteiligt zu werden. Dazu hat es im Kern auch nie Widerspruch gegeben. Von Anfang an haben wir besonders um eine Sicht der Dinge gekämpft, nämlich dass dieser Prozess nicht auf Kosten der kleinen unabhängigen Verwerter vollzogen wird. Die Interessen der kleinen Verlage haben uns immer besonders am Herzen gelegen. Eine Schwächung gerade dieser unabhängigen kleinen Verwerter hätte auch die Chancen von jungen Autoren und ausübenden Künstlern eingeschränkt. Denn diese finden in der Regel keine Partner in den großen Verlagen. Sie brauchen die kleinen Verlage, die das Risiko mit ihnen eingehen, und sie brauchen auch die Betreuung in Gesprächen mit diesen kleinen Verlagen. Ich meine, indem wir deren Interessen berücksichtigt haben, haben wir beiden geholfen - den jungen Autoren und diesen Verlagen. ({8}) Dabei wissen wir aber auch, dass deren Hauptbedrohung in der Konzentration des Verlagswesens liegt und nicht in dem, was wir heute vorhaben. Deswegen war es so wichtig, alle Argumente auszutauschen. Ich meine, was uns nun vorliegt, ist ein gelungener Kompromiss. An dieser Stelle möchte ich einer Frau besonders danken, von der ich weiß, dass ohne sie dieser Prozess nicht zustande gekommen wäre. Ich tue das nicht häufig. Aber in diesem Fall, liebe Herta Däubler-Gmelin, muss man wohl sagen, dass es bei all den vielen Veränderungen, die Sie hinter sich bringen mussten, Ihre Entschlossenheit, aber auch die Heiterkeit einer erfahrenen Politikerin ({9}) und Ihr unbeugsamer Wille waren, die dieses Vorhaben durch alle Prozesse getragen haben. ({10}) Es ist sicherlich allen Beteiligten bekannt, dass dies ein gelungenes Beispiel dafür war, dass man selbst bei größtem Gegenwind in einer schwierigen Phase eines Wahljahres ein gutes Gesetz über alle Hürden bringen kann. Deswegen sind wir wohl alle nach all diesen Stunden ziemlich froh. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Urheberrecht und darin insbesondere das Urhebervertragsrecht ist in der medial immer weiter vernetzten Gesellschaft immer wichtiger geworden und soll unter anderem einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Urhebern und Verwertern herbeiführen. Für die FDP-Fraktion hat stets festgestanden, dass Urheberrechte Eigentumsrechte sind und demgemäß schon allein von der Verfassung her besonders zu schützen sind. Insoweit waren wir mit der Neufassung und Entwicklung eines Urhebervertragsrechts durchaus einverstanden. Wir haben uns deshalb frühzeitig und konstruktiv an der Auseinandersetzung um dieses für Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland gleichermaßen wichtige Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Dass wir zunächst dem von der Bundesjustizministerin besonders begrüßten so genannten Professorenentwurf und auch ihrem eigenen späteren Entwurf nicht zustimmen konnten, lag an der einseitigen Verschiebung der Interessenlage zugunsten der Urheber und zulasten der Verleger und der Medienwirtschaft. Jetzt jedoch werden wir dem Gesetzentwurf in der erheblich veränderten Form zustimmen. Denn nach intensiven Beratungen und auch Anträgen meiner Fraktion konnte die einseitige Ausrichtung und Gewichtung zugunsten eines angemessenen Interessenausgleichs verändert werden. Das Prinzip der Vertragsfreiheit und der Vorrang des Vertrages zwischen Urhebern und Verwertern konnte wieder eingefügt werden. ({0}) Dabei ist insbesondere hervorzuheben, dass das Modell der Zwangsschlichtung, wie es in § 36 des Entwurfs vorgesehen war, beseitigt werden konnte. Das Schlichtungsverfahren ist jetzt so gestaltet, dass die berechtigten Interessen aller Beteiligten berücksichtigt werden und der Vorrang der Privatautonomie anerkannt wird. In Übereinstimmung mit dem Änderungsantrag, den die FDP im Rechtsausschuss gestellt hat, werden die Parteien frei darüber entscheiden können, ob sie sich dem Spruch der Schlichtungsstelle unterwerfen wollen und die gemeinsamen Vergütungsregeln akzeptieren oder aber ob sie dem Schlichterspruch widersprechen. Die Konkretisierung hinsichtlich der Angemessenheit der Vergütung durch die Verbände der Urheber und die Verbände der Werknutzer erscheint uns gerade unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips richtig und wichtig, weil dadurch die Fachkunde der jeweils Betroffenen genutzt werden kann. Gegen das Konzept der gemeinsamen Vergütungsregeln an sich ist vor diesem Hintergrund deshalb auch nichts einzuwenden. ({1}) Die ursprünglich vorgesehene Rückwirkung um 20 Jahre und damit die rückwirkende Einwirkung auf bestehende Verträge ist sinnvollerweise gestrichen worden. Für die Frage der Angemessenheit der Vergütung kommt es allein auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses an. Eine nachträgliche Infragestellung des einmal Vereinbarten ist damit ausgeschlossen. Die FDP begrüßt ausdrücklich, dass die Bundesregierung hier von ihren neuen Änderungsplänen aus der vergangenen Woche im Interesse der Rechts- und der Kalkulationssicherheit schnell wieder Abstand genommen hat. Überhaupt kann gesagt werden, dass die Grundkonzeption des Gesetzes während der Beratungen im Ausschuss sowie nach Rücksprache mit den Sachverständigen und den Vertretern der beteiligten Verbände grundlegend überarbeitet worden ist. Wir glauben, dass das vorliegende Gesetz nunmehr eine gute Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Urhebern auf der einen Seite und den Nutzern und den Verwertern auf der anderen Seite ist. Es wird auch bei den Werknutzern liegen, durch faire Vereinbarungen beispielsweise mit Übersetzern, Bildjournalisten und vergleichbaren Berufsgruppen einen angemessenen Interessenausgleich zu erreichen. Wir wissen, dass das Urhebervertragsrecht nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen festlegen kann, damit zwischen den Urhebern auf der einen Seite und den WerkDr. Antje Vollmer nutzern auf der anderen Seite vernünftige Regelungen gefunden werden. Ein Gesetz kann nicht alle einzelnen Vertragsbedingungen, die die verschiedenen Künstler- und Urhebergruppen betreffen - Frau Dr. Vollmer hat zu Recht darauf hingewiesen -, umfassen. Das Gesetz muss nur eine vernünftige Rechtsgrundlage für die Vertragsbedingungen herstellen. Nur dort, wo es diese fairen Vereinbarungen nicht gibt - das werden wir beobachten -, muss der Gesetzgeber durch Gesetze eingreifen. Ich glaube, dass dies in Zukunft nicht notwendig sein wird, weil der vorliegende Gesetzentwurf zum Urhebervertragsrecht eine gute Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ist. Wir Freien Demokraten haben uns stets bemüht, beim Urheberrecht einen möglichst breiten Konsens im Bundestag herzustellen. Die Beratungen über die vorangegangenen Novellen haben das bewiesen. Ich bin froh, dass es uns auch diesmal gelungen ist, einen Kompromiss zu erzielen, auch wenn das Gesetz letztendlich maßgeblich - wie ich meine: zum Vorteil von Urhebern und Verwertern - geändert worden ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Fink von der PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute über das wichtigste kulturpolitische Reformvorhaben in dieser Legislaturperiode. Es war ein hoch interessanter Prozess. Herr Röttgen, Sie können es nicht leugnen: Es hat doch auch Ihnen Spaß gemacht. ({0}) Wir haben miteinander gerungen, um zu guten Ergebnissen zu kommen. Dieser Prozess ist aber noch nicht zu Ende. Er muss weitergehen. Die Fraktion der PDS wird dem Gesetzentwurf zustimmen ({1}) trotz der beträchtlichen Abstriche, die die Bundesregierung im Prozess der Novellierung an ihrem Reformprojekt vorgenommen hat. Wir stimmen zu, weil der Entwurf, so wie er jetzt ist, eine Verbesserung für die Urheber im Vergleich zu der derzeitigen Rechtslage bringt. Wir kritisieren zugleich, dass die Bundesregierung dem Druck der Medienwirtschaft nachgab und Änderungen vornahm, die ihr eigenes Reformwerk konterkariert haben. Wir fordern die Bundesregierung auf, weitere Schritte zur Stärkung der Kreativen und zur Verbesserung ihrer Existenzbedingungen zu gehen. Das war jetzt ein kleiner Schritt; nötig ist aber ein großer Schritt. ({2}) Unsere Positionen und unsere Forderungen haben wir in einem Entschließungsantrag niedergelegt. Ich möchte Ihnen unsere Beweggründe dafür kurz erläutern. Meine Fraktion hat die Gesetzesinitiative der Justizministerin von Beginn an nachdrücklich unterstützt. Die erste Gesetzesfassung war für uns die beste. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht und die strukturelle Überlegenheit der Verwerter sind offensichtlich. Die Folge ist, dass viele der Kreativen - das Musterbeispiel sind die literarischen Übersetzer - ihre Ansprüche auf eine angemessene Vergütung in den Vertragsverhandlungen gegenwärtig nicht durchsetzen können. In welcher prekären sozialen Situation sich die Mehrzahl der freiberuflichen Künstlerinnen und Künstler, Publizistinnen und Publizisten befindet, ist bekannt. Wir hatten dazu in der Fraktion eine Anhörung und sind intensiv darüber aufgeklärt worden. Einen Ausgleich gestörter Vertragsparität zu erreichen ist unserer Auffassung nach sowohl aus sozialen und kulturellen wie auch aus wirtschaftlichen Gründen zwingend. Denn die Kulturwirtschaft lebt von den Kreativen. Eine erfolgreiche Medien- und Kulturindustrie ist auf dieses Potenzial angewiesen. Angemessene Existenzbedingungen für schöpferische Arbeit zu gewährleisten ist unverzichtbar und liegt auch im Interesse der Verwerter. Wenn die Vertreter der Medienwirtschaft nun angesichts des Reformprojektes den Untergang der Kultur des Abendlandes beschwören, erscheint dies nicht plausibel. Dass sie dazu ihre marktbeherrschende Stellung mit Anzeigenkampagnen in den Tageszeitungen und mit Einblendungen in Fernsehsendungen missbrauchen, ist natürlich symptomatisch. Es hat leider Wirkung auf die Regierung gezeigt. Demokratische Sozialisten allerdings lassen sich davon nicht beeinflussen. ({3}) Wir fragen vielmehr: Warum wehrt sich die Branche eigentlich so vehement gegen den Grundsatz eines Anspruchs auf angemessene Vergütung, wenn dieser Grundsatz doch schon - so die Behauptung - in weiten Teilen durchgesetzt ist? Vom ursprünglich vorgeschlagenen Konzept sind der Rechtsanspruch auf angemessene Vergütung und die gemeinsamen Vergütungsregeln geblieben. Das trägt zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern bei. Wie weit aber - das wird noch zu beobachten sein - sind doch diese Kernregelungen zugunsten der Verwerter aufgeweicht? Eine Schlussbemerkung. In den Zeitungsannoncen der Kulturwirtschaft wird eine Bitte an die Abgeordneten des Bundestages geäußert: Sie sollten für Kreativität und Vielfalt in Deutschland stimmen. Genau das werde ich tun und mit mir meine Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin. Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der Justiz ({0}): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Röttgen, darf ich ein ganz kurzes persönliches Wort an Sie richten? Ich danke Ihnen für diese bemerkenswerte Rede. Ich habe mich sehr darüber gefreut, übrigens nicht nur deswegen, weil ich sie jetzt schon zum fünften Mal höre, ({1}) sondern auch deswegen, weil es inzwischen schon so eine Art von Röttgen-Gesetz in diesem Haus gibt - seit Sie in der Opposition sind, stellen wir das immer häufiger fest -: Je mehr Sie schimpfen, desto besser ist das Gesetz. ({2}) Die Tatsache, dass Sie Ihre Rede diesmal dazu genutzt haben, um Ihre Zustimmung zu begründen, ist zumindest originell ({3}) und es erinnert mich ein bisschen an die Geschichte von dem Trittbrettfahrer, der, um sein Tun zu verbergen, heftig auf den Lokführer schimpft. Ihr Verhalten zeigt aber auch, dass Sie offensichtlich dem Motto anhängen - liebe Antje Vollmer, da müssen wir dem Herrn Röttgen vielleicht auch noch etwas Nachilfeunterricht geben -: ({4}) „Jeder Erfolg hat viele Väter, aber keine Mütter.“ ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war für mich wieder ein Erlebnis. Lassen Sie mich jetzt sehr deutlich sagen: Heute ist in der Tat ein guter Tag für die Urheber. Viele Verbände der Urheber sind heute hier vertreten und hören mit großer Aufmerksamkeit zu, wer was zu welchem Punkt zu sagen hat. Heute ist auch ein guter Tag für die Kulturwirtschaft. Denn: Was wäre die eigentlich ohne die Urheber und auch ohne die freiberuflichen Urheber? Ich sage das ganz bewusst deswegen, weil es in den letzten Monaten Töne gegeben hat, die für eine gedeihliche Entwicklung der Kulturlandschaft in Deutschland und auch für die Bedeutung unserer Kulturnation außerordentlich schädlich sein können. ({6}) Wäre ich Urheberin oder Urheber, würde mich viel von dem, was da einige Verwerter, ganz offensichtlich unter großem Beifall der CDU/CSU, verkündet haben, außerordentlich verletzt haben. ({7}) Seit 1965 - darauf ist hingewiesen worden - wurde den Urheberinnen und Urhebern, gerade auch den freiberuflich tätigen, versprochen, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Aber auch in den 16 Jahren vor unserer Übernahme der Regierungsverantwortung ist nichts passiert. Es ist auch zu Recht darauf hingewiesen worden, dass sich in einigen Bereichen der Kulturwirtschaft vernünftige Vorbilder der Kooperation entwickelt haben, die wir verwenden konnten - dafür sind wir dankbar -, in anderen aber Verhältnisse, die so einfach nicht hinnehmbar sind. Wer diese Verhältnisse nicht im Einzelnen kennt, den haben jetzt wohl gerade die großen Anzeigen der Verwerter in den letzten Monaten überzeugt. Man kann sich jetzt gut vorstellen, wie sich ein Urheber gegenüber einer solchen Medienmacht fühlen muss! Die Berechtigung seiner Forderungen ist, glaube ich, völlig klar und offensichtlich. ({8}) Ich will aber trotzdem ein Beispiel nennen, das - vielleicht - auch die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU dazu bewegt hat, noch einmal zu überlegen, ob sie unser Gesetz hier nicht doch ein bisschen mittragen können. Darüber, dass einige das tun, freue ich mich. ({9}) Die brillante deutsche Übersetzerin von Donna Leons beliebten Kriminalromanen, Monika Elwenspoek, ist leider viel zu früh verstorben, Ende des letzten Jahres. Ich kannte sie. Sie wohnte in Tübingen. Sie hat vor ihrem Tod in einem wirklich bitteren Interview mit dem „Schwäbischen Tagblatt“ nochmals auf das hingewiesen, was die Kulturwirtschaft heute hoch qualifizierten Übersetzerinnen und Übersetzern zumutet. Das heißt: Die Vertragsparität, von der wir doch ausgehen, gerade wenn wir den Grundsatz der Vertragsfreiheit unterstützen, war nicht nur in diesem Einzelfall - sogar bei dieser berühmten Übersetzerin - gestört, sondern auch in vielen anderen Einzelfällen, auch bei den Fotojournalisten und bei anderen der über 250 000 freiberuflichen Kreativen. Ich darf eine ganz kleine Kritik an Ihrer Rede üben, die mir im Übrigen sehr gut gefallen hat, lieber Herr Röttgen: Sie haben in diesem Zusammenhang das Wort „Ideologie“ verwendet. ({10}) Es gehört zu den verfassungsmäßigen Aufgaben unseres Parlaments, Vertragsparität als Grundlage für die Vertragsfreiheit ernst zu nehmen und da, wo es sie nicht gibt, wieder herzustellen. Dieser Meinung war früher eigentlich auch die CDU/CSU. Sie sollten darüber nachdenken, warum Sie das heute nicht mehr tun. Wir tun das jetzt. Gegen Ihren Widerstand - auch wenn einige von Ihnen jetzt mitmachen - haben wir in unserem Gesetz drei wichtige Punkte durchgesetzt: Der erste ist der gesetzliche Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Das ist wirklich vernünftig und gut. Zweitens sagen wir: Anders als bei Anwälten oder Architekten bestimmt nicht der Gesetzgeber, was angemessen ist; das soll vielmehr durch gemeinsame Vergütungsregeln der Branche selbst geschehen. Das ist vernünftig. Der dritte Punkt ist auch etwas, was Sie schon längst hätten tun können, als Sie in der Regierungsverantwortung waren, nämlich die Schaffung eines Fairnessausgleichs zum Beispiel für künstlerische Werke, die sich im Laufe der Jahre zu Bestsellern entwickeln, was bei Vertragsabschluss nicht vorherzusehen gewesen ist. Hierzu gehört es, dass die Urheber einen angemessenen Anteil abbekommen. ({11}) Der jetzige Bestseller-Paragraph - das wissen Sie ganz genau; wenigstens könnten Sie es wissen, wenn Sie sich dafür interessierten - ist das Papier nicht wert, auf dem er steht, da er nicht gegriffen hat. Daher fassen wir ihn jetzt neu. Jetzt komme ich zu einem Punkt, den Sie einerseits kritisieren und andererseits begrüßen; ich nehme an, dass sogar Sie sich irgendwann entscheiden werden. Wir haben festgelegt, dass die gemeinsamen Vergütungsregeln, die von der Branche entwickelt werden, um einen obligatorischen Schlichtungsmechanismus für alle ergänzt werden, falls das, was wir alle wollen und wozu wir auch die Verwerter aufrufen, nicht eintreten sollte, nämlich einverständliche gemeinsame Vergütungsregeln. Ich hätte gern zusätzlich die Kraft unseres sozialen Rechtsstaates zur Durchsetzung solcher Schlichtungsergebnisse nutzbar gemacht; aber auch das halten Sie offenbar für Ideologie. ({12}) Diese Frage hat jedoch mit Ideologie nichts zu tun. Wenn die Branche selber einen vernünftigen, angemessenen und auch begründeten Einigungsvorschlag vorlegt, der ohne Zweifel ein Indiz für die Angemessenheit der Vergütung sein wird, dann ist es auch vernünftig, diesen Vorschlag mit der Stärke unseres Rechtsstaates durchsetzen. ({13}) - Nein, das war jetzt wegen des Widerstandes der CDU/CSU nicht möglich. Im Übrigen haben auch Sie das persönlich nicht gefordert, Herr Geis. ({14}) Wären wir, wie Sie das jetzt andeuten, gemeinsam darangegangen, hätten wir es vielleicht schon jetzt geschafft. ({15}) - Ja, Sie sind auch jetzt noch dagegen und zugleich dafür. Das ist immer die bequemste Haltung für eine Opposition. Machen Sie ruhig so weiter! ({16}) Meine Damen und Herren, ein Gutes hat die Lage, in der wir jetzt sind: Wir haben gehört, dass viele Verleger, übrigens auch solche, die über die Verwerter-Kampagne auch ziemlich entsetzt waren, Folgendes gesagt haben: Wir sind doch heute schon ein Vorbild für solche Regelungen. Warum traut uns der Gesetzgeber nicht zu, dass wir das freiwillig, also ohne staatliche Durchsetzungsmechanismen, machen? Diese, aber auch jene, die das in ihren Anzeigen zugesagt und im Übrigen erklärt haben, was sie nicht wollen, nehmen wir beim Wort. Auch wir sind ja für Konsens und Freiwilligkeit, vorausgesetzt, dass sich auch die Verwerter an ihre Ankündigungen und Zusagen halten. Dies liegt ja nicht nur im Interesse der Urheber, sondern auch im Interesse der gemischten Kulturwirtschaft, die diese Bundesregierung wie keine vor ihr unterstützt, wie unser Einsatz für die Buchpreisbindung und Schutzregelungen für mittelständische Verlage deutlich zeigen. Wir werden genau beobachten, was sich bei den gemeinsamen Vergütungsregelungen tut. Ich danke dem Kollegen Funke dafür, dass auch er das ausdrücklich unterstrichen hat. Wenn es auf freiwilliger Basis und im Konsens der Beteiligten nicht funktioniert, werden wir weitergehende Regelungen ins Auge fassen. ({17}) Lassen Sie mich am Schluss ganz herzlich danken: Ich danke ausdrücklich den Urheberrechts-Professoren und Experten, die den Anstoß gegeben und die Richtung gewiesen haben. Es war ja kein Zufall, dass CDU/CSU und FDP in ihrer Regierungszeit nichts hinbekommen haben: Abhängigkeit von Interessenverbänden ist in solchen Fällen immer ein Hindernis. Ich bedanke mich bei den Urhebern und Urheberverbänden, die mitgewirkt haben. Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen und Kollegen im gesamten Haus, denen es um die Sache ging und die sich eingeschaltet und mitgearbeitet haben. ({18}) Last but not least bedanke ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz ganz herzlich. ({19}) Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin Sie sitzen hier hinten und haben großen Anteil daran, dass heute ein erfolgreicher Tag für die Urheber, für die Kultur und die Kulturwirtschaft in Deutschland ist. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Novellierung des Urhebervertragsrechts handelt es sich ohne jeden Zweifel um das wichtigste kulturpolitische Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode. Deswegen hat allein die Ankündigung dieser Absicht hohe Erwartungen und - spiegelbildlich - hohe Befürchtungen auf der Seite der Urheber wie auf der Seite der Verwerter ausgelöst. Beide haben im Übrigen einen Anspruch darauf, dass ihre jeweiligen Erwartungen und Besorgnisse ernst genommen werden. Wir haben uns genau in diesem Sinne um die Berücksichtigung der einen wie der anderen Interessen sehr intensiv bemüht. ({0}) Deswegen hätte dieses Gesetzgebungsverfahren noch mehr als die von der Kollegin Vollmer bei der federführenden Justizministerin beobachtete Heiterkeit das Maß an Sorgfalt verdient, das wir mehrfach vermisst haben. ({1}) Die Beratung dieses Gegenstands ist durch ständig wechselnde Textvorlagen, ({2}) die übrigens nicht nur Formulierungsänderungen, sondern auch abrupte Kehrtwendungen in Bezug auf die Regelungsabsicht enthielten, durch Hektik und zum Schluss durch Zeitdruck gekennzeichnet gewesen, ({3}) die dem Rang dieses Themas völlig unangemessen gewesen sind. ({4}) Ich erwarte, dass sich der Bundesrat, der sich mit diesem Thema noch zu befassen hat, den Zeitdruck nicht bieten lassen wird, der die Endphase des Gesetzgebungsverfahrens im Deutschen Bundestag gekennzeichnet hat. Gerade weil es sich um ein herausragendes Thema handelt, muss ich noch einmal sagen: Ein Glanzstück souveräner Regierungskunst war das nicht und leider auch kein Paradebeispiel für solide Gesetzgebung. ({5}) - Sie werden sich ganz gewiss auch ohne meine Ermutigung Ihr strammes Selbstbewusstsein erhalten. Das können wir aber getrost auch bei anderer Gelegenheit weiter vertiefen. Ich lege am Schluss dieses Verfahrens großen Wert darauf, noch einmal festzuhalten, dass Inhalt des Gesetzes und Gesetzgebungsverfahren mit den mehrfach veränderten Texten nicht nur in Bezug auf die Formulierung, sondern auch auf die Regelungsabsicht sowohl bei den Urhebern - den Autoren, den Übersetzern, den Fotografen und Produzenten - wie bei den Verwertern - den Verlagen, den Zeitungen und Zeitschriften - in den verschiedenen Phasen unseres Beratungsprozesses mal hohe Erwartungen, mal tiefe Enttäuschung und kurz vor Ende auch offene Empörung ausgelöst haben. Dieses unzumutbare und wegen der wechselnden Textpassagen schludrige Verfahren hätte bei einer wirklich soliden Behandlung so nicht ablaufen müssen. Wir haben alles uns Mögliche getan. ({6}) - Sie haben den großen Vorteil, an dem Teil des Beratungsverfahrens gar nicht beteiligt gewesen zu sein, den die Kulturpolitiker diesem Gesetzentwurf gewidmet haben. Es wird niemand von Ihren Kollegen ob von der linken oder rechten Seite bestreiten, dass die Behandlung von Anfang bis zum Ende durch das Bemühen gekennzeichnet war, einen solchen durch hohe Sensibilität gekennzeichneten Gegenstand möglichst im Konsens zu regeln. Das ist die reine Wahrheit. ({7}) - Nein, das widerspricht dem Vorwurf ganz und gar nicht. Es ist enttäuschend, dass trotz dieser Absicht das Verfahren leider nicht so solide gewesen ist, wie wir es uns gewünscht hätten. Wir haben mehrfach im Verlauf des Verfahrens deutlich gemacht, dass wir einer solchen Gesetzgebungsabsicht zustimmen, aber wir haben auch die Kriterien deutlich gemacht, die dabei unserer Überzeugung nach eingehalten werden müssen. Es sind mehr als ein halbes Dutzend konkreter Vorschläge, Hinweise und Orientierungen gewesen, die ich nicht mehr im Einzelnen aufführen kann und muss. Für uns stand das Prinzip der Koalitionsfreiheit nicht ernsthaft zur Diskussion, schon gar nicht durch die ursprünglich vorgesehenen Schlichtungsverfahren mit zwangsweiser kollektiver Festsetzung von VergütungsreBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin gelungen. Wir haben großen Wert darauf gelegt, dass hier zwischen freischaffenden Urhebern und in Verlagen angestellten Arbeitnehmern unterschieden wird, die natürlich in ihren Rechtsansprüchen unterschiedlich behandelt werden müssen. Wir haben - sicher alle gemeinsam, wenn auch nicht mit präzise den gleichen Erwartungen - auf eine angemessene Modifizierung des Bestseller-Paragraphen großen Wert gelegt. Wir haben immer sicherstellen wollen, dass Urheber und Verwerter, die unter deutschem Recht kontrahieren, keine Nachteile gegenüber solchen erfahren, die ihre Verträge nach ausländischem Recht abschließen oder es in Zukunft vielleicht tun wollen. Wir haben ebenfalls sicherstellen wollen, dass es keine Schlechterstellung bestimmter Branchen gibt, und zwar nicht, weil man sie dezidiert schlechter stellen will, sondern weil sich für sie aufgrund der Besonderheit der jeweiligen Branchen allgemeine Regelungen in einer diskriminierenden, jedenfalls wirtschaftlich belastenden Weise niederschlagen. Wir - vor allem der Kollege Neumann - haben mehrfach auf die besonderen Probleme in der Filmwirtschaft hingewiesen, die durch diesen Gesetzentwurf an vielen Stellen nur unzureichend berücksichtigt worden sind. Es liegt in der Natur der Rollenverteilung, dass wir unsere Vorstellungen von einem solchen Gesetzentwurf gar nicht in vollem Umfang - das ist wahr - realisieren können. Darauf waren wir geistig vorbereitet. Deswegen ist es nicht weiter überraschend, dass sich eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion aufgrund ihrer Bewertung des Ergebnisses nicht in der Lage sieht, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen; denn Ihr Gesetzentwurf bleibt an der einen oder anderen Stelle hinter dem zurück, was wir für richtig halten und getan hätten. Der Gesetzentwurf in der vom Rechtsausschuss vorgelegten Fassung - er unterscheidet sich substanziell von der Fassung des Vortages -, der heute zur Beschlussfassung ansteht, ist allemal besser als der ursprüngliche Gesetzentwurf ({8}) und näher an der von uns angestrebten, gemeinsam beschworenen, notwendigen Balance zwischen den jeweils legitimen Interessen der Urheber und Verwerter. ({9}) Deshalb und nur deshalb stimmen wir diesem Gesetzentwurf in der jetzt vorliegenden Fassung zu. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon bei der Schaffung des Urheberrechtsgesetzes im Jahre 1965 - dies ist schon öfters hier angesprochen worden - wurde auf die dringende Notwendigkeit eines ergänzenden Urhebervertragsgesetzes hingewiesen. Seit dieser Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben die jeweiligen Bundesregierungen wiederholt ein solches Gesetzgebungsvorhaben nachdrücklich befürwortet. Leider ist es aber bislang weder zur Neugestaltung noch zu einer Ergänzung des Urheberrechts gekommen. Umso erfreuter bin ich natürlich, dass es wieder einmal die jetzige Bundesregierung gewesen ist, die den Anstoß zum vorliegenden Gesetzesvorhaben gegeben und damit einen weiteren Schritt zur Beseitigung des Reformstaus im Bereich der Rechtspolitik getan hat. ({0}) - Kollege Dr. Lammert, das können Sie nun nicht wegdiskutieren, soviel Sie auch wollen: Es ist endlich nicht nur geredet, sondern zum Wohl insbesondere der Urheber auch gehandelt worden. ({1}) Die Kollegen Röttgen und Funke haben in ihren Reden den Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens kritisiert und ich mag das so nicht stehen lassen. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, mir ist in dieser Legislaturperiode im Bereich der Rechtspolitik kein Gesetzgebungsverfahren bekannt, bei dem so häufig und so intensiv insbesondere mit den betroffenen Verbänden diskutiert worden ist. ({3}) Und wer etwas anderes behauptet, sagt hier nicht die Wahrheit. ({4}) Und Herr Kollege Röttgen, wenn Sie bemängeln - auch das haben Sie ja insbesondere im Rechtsausschuss getan -, dass der heute zur Entscheidung stehende Wortlaut der Vorlage kaum noch mit dem so genannten Professorenentwurf übereinstimmt, dann gebe ich Ihnen sogar Recht. ({5}) Nur, meine Damen und Herren, das war auch nie beabsichtigt. Genau deshalb wurde er ja auch als „Professorenentwurf“ bezeichnet und eben nicht als Gesetzentwurf. ({6}) - Herr Kollege Röttgen, was Sie der Justizministerin im Grunde genommen vorwerfen, ({7}) ist nichts anderes, als dass sie im Vorfeld eines Gesetzgebungsverfahrens fünf anerkannte Rechtsexperten damit beauftragt hat, ihre Vorstellungen von einem möglichen Urhebervertragsgesetz zu Papier zu bringen. ({8}) Damit hat sie bereits im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens eine vernünftige Diskussionsgrundlage geschaffen. Wenn Sie das tatsächlich kritisieren wollen, kann ich persönlich damit prima leben. ({9}) Ich würde mir wünschen, dass alle Gesetzgebungsverfahren so vorbildlich vorbereitet werden könnten. ({10}) - Dazu komme ich gleich auch noch. Unter anderem im Rechtsausschuss ist von Ihnen bemängelt worden, man habe die Sachverständigenanhörung durchgeführt, obwohl intern bereits Gesetzesänderungsvorschläge diskutiert worden seien. Das ist doch wirklich nichts Neues. ({11}) Es dient doch nur dem Verfahren, wenn ein Ministerium, eine oder zwei Fraktionen sich ständig darüber Gedanken machen, wie man ein Gesetz weiter verbessern kann und in welchen Bereichen man etwaigen Kritikern entgegenkommen kann. Deswegen kann doch nicht jedesmal ein Gesetzesverfahren unterbrochen werden. Abwarten hätte Stillstand bedeutet. Den hat es im Urhebervertragsrecht nun wirklich lange genug gegeben. ({12}) Kollege Röttgen, Sie haben außerdem kritisiert, dass es im Verfahren so viele Änderungen gegeben habe, dass man - ich gebe das sinngemäß wieder - zuletzt den Überblick verloren habe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Überblick zu keinem Zeitpunkt verloren. Wie das bei Ihnen gewesen ist, mag ich weder beurteilen noch bewerten. ({13}) Richtig ist - da gebe ich Ihnen natürlich Recht -, dass es im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zahlreiche Änderungen gegeben hat. Diese Änderungen waren im Wesentlichen aber nur marginal und hatten sprachliche oder geringfügige materielle Verbesserungen zum Inhalt ({14}) und kamen übrigens zum Teil durch die Anregungen von Ihnen oder von betroffenen Verbänden zustande. Wirklich entscheidende Neuerungen zum ursprünglichen Gesetzentwurf hat es für mich nur an zwei Stellen gegeben: Zum einen haben wir den bereits bestehenden Bestseller-Paragraphen modifiziert ins Gesetz aufgenommen. Zum anderen - das ist schon angesprochen worden stellen wir es den Parteien nun frei, den Einigungsvorschlag der Schlichtungsstelle für eine gemeinsame Vergütungsregel anzunehmen oder nicht. ({15}) Wenn Sie sich das Gesetzgebungsverfahren von Anfang an genau vergegenwärtigen, dann werden Sie zugeben müssen, dass wir damit genau die entscheidenden Kritikpunkte aufgegriffen haben. Insbesondere die Kritik der Verwerter muss eigentlich - auch das ist schon angesprochen worden - völlig in sich zusammenbrechen. Eigentlich kritisieren Sie, Kollege Röttgen, damit, dass wir nicht so borniert sind, uns Vorschlägen, die einigermaßen vernünftig sind, zu verschließen. Wir werden im Grunde genommen also dafür kritisiert, Kritik ernst genommen zu haben. Und auch damit kann ich persönlich leben. ({16}) Persönlich hätte ich es viel schlimmer gefunden, wenn man irgendwelche Gesetze durchpeitscht, ohne auf die Anregungen der betroffenen Kreise in irgendeiner Weise Rücksicht zu nehmen. Bei solch einem Verhalten wäre Ihre Kritik tatsächlich berechtigt gewesen, hier, an dieser Stelle, jedenfalls nicht. ({17}) Ich stimme mit Ihnen auch darin nicht überein, dass wir uns letztendlich nur dem Druck von außen gebeugt haben, Es ist ja schon angesprochen worden: Das von uns gewünschte Ergebnis haben wir weitestgehend, wenn auch mit Abstrichen, erreicht. Die Kulturwirtschaft hat in den letzten Jahren nicht nur aufgrund des digitalen Zeitalters immer mehr Bedeutung erlangt. Insbesondere die Medienunternehmen haben sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Wir als SPD haben es von jeher als gerecht und billig empfunden, wenn die Urheber entsprechend ihrer Leistung an deren finanzieller Verwertung gerecht partizipieren. Ziel des Gesetzentwurfes war es deshalb, Urheber und ausübende Künstler angemessen an der wirtschaftlichen Nutzung ihrer Arbeit zu beteiligen. Genau das haben wir in § 32 des Entwurfs festgeschrieben. Lesen Sie das bitte nach. ({18}) Zudem sollen, um den Urhebern bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche den Weg durch die Instanzen zu erleichtern oder ihn sogar zu vermeiden, so genannte Vergütungsregeln aufgestellt werden, um so als Vergleichsmaßstab einer angemessenen Vergütung zu dienen. Hier hat sich im Grunde genommen nicht viel geändert. Ich gebe Ihnen Recht, dass die Entscheidung der Schlichtungsstelle für die Parteien nicht mehr verbindlich ist; das heißt, die Verwerter brauchen sie nicht annehmen. Aber das Interessante ist: Sie können sich deshalb dem Verfahren nicht mehr entziehen. Am Ende eines jeden Schlichtungsverfahrens steht also zumindest die Entscheidung über eine angemessene Vergütung der Tätigkeit im Raum. Diese Entscheidung wird natürlich nicht folgenlos bleiben. Die Parteien werden hierdurch den Maßstab der angemessenen Vergütung einschätzen können. Ein Gericht wird dies im Streitfall sicherlich berücksichtigen. ({19}) Ich möchte langsam zum Schluss kommen. Ich habe im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sowohl von der CDU/CSU als auch von der FDP immer wieder gehört, dass man die Anliegen der Urheber teile. Von der Union hörte man schon frühzeitig, dass man insoweit allerdings nur punktuellen Handlungsbedarf sehe. Herr Kollege Röttgen, mich hätte es sehr interssiert, nur ein einziges Mal zu hören, wie Ihre Vorschläge zur Lösung der zugestandenen Probleme aussehen. Leider habe ich dazu nie etwas gehört, selbst heute nicht. ({20}) Sie haben immer nur kritisiert. In der Rechtspolitik ist es also so wie in allen anderen Bereichen auch: Es wird nur rumgemäkelt, aber nicht konstruktiv dargelegt, wie man es besser machen könnte. Auf Sie bezogen, Herr Kollege Röttgen: ({21}) Offensichtlich hat sich der Kanzlerkandidatenvirus auf Sie übertragen. ({22}) Anders kann ich Ihre Rede heute überhaupt nicht nachvollziehen. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alleine reicht nicht aus. Der Gesetzentwurf ist schlüssig und wird sein angestrebtes Ziel erreichen. Aus diesem Grunde wird er von uns unterstützt. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich nehme eine persönliche Erklärung des Kollegen Hans-Joachim Otto nach § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern, Drucksache 14/7564. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8058, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der PDS-Fraktion, eines Teils der CDU/CSU-Fraktion und der Mehrheit der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion und einer Gegenstimme aus der FDP-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. ({0}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa- che 14/8079. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der PDS-Frak- tion mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bünd- nisses 90/Die Grünen zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern auf Drucksache 14/6433. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 14/8058, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig an- genommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Kultur und Medien 1) Anlage 4 ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({2}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Jüdisches Museum, Topographie des Terrors, Mahnmal für die ermordeten Juden Europas - Drucksachen 14/4249, 14/7451 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({3}) Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Otto ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere außerordentlich, dass unser Antrag im federführenden Ausschuss für Kultur und Medien mehrheitlich abgelehnt wurde. Ich tue das umso mehr, als nach der Beschlussempfehlung des Ausschusses „über die Gleichwertigkeit der drei Institutionen“, wie sie genannt wurden, „grundsätzliche Einigkeit zwischen den Fraktionen“ besteht. Die dann folgende Begründung ist allerdings sehr dürftig. Als Argument wird angeführt, man würde Gefahr laufen, „den Systembruch der Finanzierungsübernahme von Gedenkstätten durch den Bund ... auszuweiten“. Abgesehen davon, dass ein solcher postulierter Systembruch schon mit der vollständigen Übernahme der Kosten für das Jüdische Museum seitens des Bundes erfolgt wäre, wurde mit dieser Entscheidung eine Chance vertan. Denn was die herausragenden Merkmale der drei Orte sind, ist gar nicht deutlich geworden. Sie liegen nämlich nur wenige hundert Meter voneinander entfernt und sind sowohl authentische Orte - wie die Topographie des Terrors - als auch Orte der Dokumentation und des Gedenkens. Mein Kollege Norbert Lammert hatte bei der Einbringung des Antrags, auf den Tag genau heute vor einem Jahr, gesagt, die drei Orte seien „wie auf einer Perlenschnur aufgereiht“. Warum brauchen die drei Orte, die in einem nicht zu leugnenden inhaltlichen Zusammenhang stehen, jeweils ähnliche Vortragsräume, Ausstellungen, Dokumentationen und Lesesäle? Das ist jedenfalls unter diesem Aspekt nicht nachvollziehbar. Wenn auf der einen Seite das Jüdische Museum und das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als Stätten nationalen Gedenkens gesehen werden - was ja nicht zu bezweifeln ist - und damit die Vollfinanzierung seitens des Bundes begründet wird, dann leuchtet eine entsprechende Ablehnung bei der Topographie des Terrors nicht ein. ({0}) Was auf dem Gelände der Gestapo und des Reichssicherheitshauptamtes passiert ist, ist keine lokale Berliner Geschichte, sondern Kapitel unserer Nationalgeschichte. Die Betonung unseres Antrages liegt aber nicht darauf, für eine Institution - in diesem Falle also die Topographie des Terrors - eine vollständige Finanzierung durch den Bund zu erreichen. Nein, es geht um eine Gesamtkonzeption für diese offensichtlich in einem inhaltlichen Zusammenhang stehenden Orte des Gedenkens. Dieser Vorschlag ist nicht nur gut begründet, sondern auch - das will ich gar nicht verschweigen - im Sinne der Finanzierbarkeit höchst vernünftig. Dass eine Finanzierung vernünftig und für die Bevölkerung nachvollziehbar sein muss, das dürfte außer Zweifel stehen. Die immer wieder aufflackernden Diskussionen über die Kosten, beispielsweise beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas, wie wir sie gerade vor einigen Tagen erlebt haben, sind ein Beleg dafür. Übrigens bin ich in diesem Zusammenhang - dies betone ich, weil ich mich manchmal auch zu anderen Äußerungen veranlasst sehe - dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse dankbar, dass er auf die Vorschläge, die zu einer weiteren Kostenerhöhung geführt hätten, deutlich reagiert hat. ({1}) Ich glaube, das ist eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit im Kuratorium. Aber unsere Forderung nach einer Gesamtkonzeption ist auch eine Forderung nach Kosteneffizienz und Einsparungen an der Stelle, an der es dem Gedenken in der Sache keinen Abbruch täte. In keinem Falle sollten diejenigen, die auch im Zusammenhang mit Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus dafür plädieren, die Finanzierbarkeiten im Auge zu behalten, stigmatisiert werden. Es wäre aus meiner Sicht außerordentlich zu begrüßen, wenn in diesem Hause darüber ebenfalls Einigkeit herrschte. Über das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus und die Opfer der NS-Diktatur darf zum Beispiel nicht außerhalb der Budgetverantwortung dieses Hauses diskutiert werden. Die vollständige Finanzierung des Jüdischen Museums durch den Bund hatte die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen im Ausschuss damit begründet, es handele sich nicht um eine historische Stätte und der finanzielle Aufwand sei groß. Letzteres ist zweifellos richtig, gleichwohl als Begründung für die Ablehnung unseres Antrages in keiner Weise stringent. Das würde, salopp formuliert, bedeuten: Alles, was teuer ist, bezahlt der Bund und das andere bezahlen die Länder. ({2}) Teuer wird auch die Topographie des Terrors. Da brauchen Sie nur einmal Herrn Rürup zu fragen. Er hat übrigens gerade an die Mitglieder des Kuratoriums der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas geschrieben, vor Überschneidungen gewarnt und darauf hingewiesen, dass quasi ein neues Museum ausgestaltet werde, das eigentlich nur als Ort der Information gedacht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms gewesen und sogar von vielen in diesem Hause als nicht notwendig angesehen worden sei. ({3}) - Darüber wird zu reden sein. - Das würde für mich in diesem Zusammenhang zu einer Gesamtkonzeption gehören. Genauso gehört vielleicht zu einer Gesamtkonzeption, dass wir uns noch einmal bewusst machen, was die jetzige Widmung beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die hier ebenfalls umstritten war, bedeutet, wenn wir jetzt anderen Opfergruppen nach und nach ohne Gesamtkonzeption, ohne Wissen, was da eigentlich gebaut werden soll, noch andere Denkmale und Mahnmale versprechen oder versprechen müssen. Eine Diskussion muss auch darüber geführt werden, ob vielleicht sogar die Widmung für dieses Denkmal noch einmal zu überdenken ist. Wenn wir über Orte nationalen Gedenkens wie das Jüdische Museum in Berlin sprechen, geht es mir aber auch um zwei, drei andere Dinge. Wenn wir hier schon die Kosten übernehmen, dann sollten wir uns auch dafür interessieren. ({4}) - Ich war beim Jüdischen Museum. ({5}) Ich bin jetzt beim inhaltlichen Aspekt. Ich bin der Meinung, dass wir, wenn wir schon alles bezahlen, in diesem Hause auch über die Inhalte sprechen dürfen, Herr Otto. Die öffentliche Debatte über Konzeptionen ist gar nicht so unwichtig. Als ich mir das Jüdische Museum nach der Eröffnung angesehen habe, ist mir aufgefallen, dass sich die Darstellung jüdischen Lebens in Berlin und Deutschland - das ist ja der Anspruch der Ausstellung und des gesamten Museums - in hohem Maße auf die Präsentation der bekannten und bedeutenden deutschen Juden konzentriert, abgesehen davon, dass Rosa Luxemburg und Karl Marx nicht vorkommen. Auffallend wenig, eigentlich fast gar nichts sieht man von der großen Masse der so genannten ärmeren Juden, die beispielsweise im Scheunenviertel hier in Berlin lebten. Das finde ich bedauerlich, zumal so einer der interessantesten Aspekte jüdischen Lebens ausgespart bleibt, übrigens auch einer der interessantesten Aspekte jüdischen Lebens in dieser Stadt, nämlich die Begegnung von Ost und West innerhalb der jüdischen Gemeinde, die einerseits in der Oranienburger Straße wieder stark wächst und althergebracht in der Fasanenstraße ihren Sitz hat. Auch das wäre eine spannende Debatte. ({6}) Eine Beschäftigung hiermit wird meines Erachtens vielleicht aus Angst - ich weiß es nicht - davor, dass uns das schaden könnte, vermieden. Ich fände es gut, wenn wir in angemessener Form darüber debattieren könnten. Ohne diesen Aspekt ist übrigens die Dimension des Kulturbruchs, die der Holocaust ja zweifellos für das gesamte jüdische Leben in Deutschland darstellt, nicht abzuschätzen. Bei einem Projekt von nationalgeschichtlicher Dimension, wie eben dem Jüdischen Museum, würde ich mir eine öffentlichere und vielleicht auch kritischere Diskussion wünschen. Ich würde mir auch wünschen, dass dasselbe Bewusstsein, das hier bei unseren Gesprächen über Gedenkstätten von nationalgeschichtlichem Rang zum Ausdruck kommt, auch bezüglich der Gedenkstätten zur Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur vorherrschte. Unsere Fraktion hat ja noch einen weiteren Antrag, nämlich über Berliner Gedenkstätten an die SED-Diktatur mit nationalem Rang zu diskutieren, in den parlamentarischen Prozess eingebracht. Ich hielte es jedenfalls für angemessen, wenn wir bei Diskussionen über die Finanzierung dieser Gedenkstätten zu ähnlich prinzipieller Übereinstimmung kämen wie in Bezug auf die Bedeutung dieser Orte. Natürlich wäre es auch angemessen, wenn diese Gedenkstätten so ausgestattet würden, dass sie ihre Arbeit perspektivisch und verlässlich planen könnten. Dabei denke ich nicht an die jährlichen Betriebskostenzuschüsse - es sind wohl 24 Millionen DM -, die für das Jüdische Museum gezahlt werden. Es geht um ganz andere Dimensionen, nämlich darum, dass auch die Arbeit dieser Gedenkstätten finanziert werden kann. Ich halte es jedenfalls für alarmierend, wenn, wie vor einigen Tagen in einer Studie zu lesen war, immer seltener DDR-Geschichte an deutschen Universitäten gelehrt wird. Es gibt bereits Bundesländer, in denen dieses Kapitel nationaler Geschichte überhaupt nicht mehr vorkommt. Umso mehr müssen wir uns in Bezug auf die zweite deutsche Diktatur, die kommunistische Gewaltherrschaft, um unsere Nationalgeschichte kümmern. Darüber ist im Zusammenhang mit dem anderen Antrag noch ausführlicher zu reden. Klar muss sein, dass Erinnerungskultur in Deutschland nicht so aussehen darf, dass für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft der Bund zuständig ist und Geld dabei eine untergeordnete Rolle spielt, dass sich um die sozialistische und kommunistische Gewaltherrschaft aber die Länder kümmern sollen, wenn sie dann überhaupt wollen, und nicht einmal die nötigsten Geldmittel bereitgestellt werden. ({7}) Diese Gesamtkonzeption, Frau Vollmer, verfolgen wir jedenfalls mit unserem Antrag nicht, auch wenn ich mich manchmal des Eindrucks nicht erwehren kann, als ob die Koalition und die Bundesregierung gerade diesen Anschein erwecken wollen. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Staatsminister Julian Nida-Rümelin.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns in der Einbringungsdebatte ja schon relativ ausführlich über diese Thematik ausgetauscht. Deswegen möchte ich mich heute hier recht kurz fassen und meine Rede auf wenige Bemerkungen beschränken. Die erste Bemerkung ist die, dass wir, wie ich denke, nicht das große Ausmaß von grundsätzlicher kulturpolitischer Gemeinsamkeit, das nach meinem Eindruck in diesem Hause hinsichtlich des sensiblen Themas der Gedenkstättenarbeit und der Erinnerungskultur besteht, verdecken sollten. Ich will versuchen, zwei Aspekte dieser Gemeinsamkeit zu skizzieren. Der erste Aspekt - ich habe das bei der Eröffnung der Holocaust-Ausstellung ausführlicher dargestellt - ist, dass die Auseinandersetzungen mit dem düstersten Kapitel der deutschen Geschichte ganz entgegen dem, was noch Mitte der 90er-Jahre weithin erwartet wurde, insbesondere in den Feuilletons der großen Tageszeitungen, 50 Jahre nach Kriegsende noch nicht zu einem Abschluss gekommen sind. Im Gegenteil: Gerade in den vergangenen Jahren hat die Intensität dieser Auseinandersetzung ganz wesentlich zugenommen und nach meinem Eindruck auch die Offenheit der jüngeren Generation, sich damit auseinander zu setzen. Das ist erfreulich. Da können wir uns ein gutes Zeugnis für die kulturelle Entwicklung in Deutschland ausstellen. Jetzt geht es um die spezifische Frage der Verantwortungsteilung. Ich bin der Auffassung, dass das Gedenkstättenkonzept, das ja ausführlich diskutiert wurde und sehr wohl begründet ist, eine gemeinsame Verantwortung von Kommunen, Ländern und Bund vorsieht, wobei der Bund diejenigen Einrichtungen, die zweifellos von nationalem Rang und nationaler Bedeutung sind, bis zur Hälfte mit fördern kann. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass es ein Irrweg in der Debatte um die Systematisierung der Kulturaufgaben von Bund und Ländern wäre, wenn dieser Bereich ganz dem Bund zugeschrieben würde, ({0}) weil damit die nahe an der Bevölkerung orientierte Arbeit ins Hintertreffen geriete. Wir brauchen die Kommunen und wir brauchen die Länder in der Verantwortung. ({1}) - Genau. Jetzt geht es um eine in meinen Augen pragmatisch zu lösende Frage, spezifisch in Berlin, weil es dort zwei Einrichtungen gibt, die der Bund in seine alleinige Verantwortung übernommen hat: ein großes internationales Museum, das Jüdische Museum für 2 000 Jahre deutsch-jüdischer Geschichte, und das Mahnmal. ({2}) - Es gibt noch weitere. Es gibt zum Beispiel das Haus der Wannsee-Konferenz, das man auch mit einbeziehen kann. Nun gebe ich zu, dass für beides Argumente sprechen. Es sprechen Argumente dafür, diese Einrichtungen in einer Hand zu belassen, und es gibt Argumente dafür, die Topographie des Terrors als eine Gedenkstätte in das allgemeine Gedenkstättenkonzept zu übernehmen. Für beides gibt es pragmatische Argumente. Falsch ist allerdings die Begründung, dass nur dann eine Kooperation möglich ist, wenn der Bund diese Einrichtungen allein trägt. Wenn das so wäre, könnten wir das ganze Gedenkstättenkonzept vergessen. ({3}) Das Konzept setzt ja auf die Kooperation von Kommunen, Ländern und dem Bund. Mein Plädoyer ist, dass wir die Verantwortung übernehmen, die der Bund durch Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker der Fraktionen, auch durch mich, sehr deutlich formuliert hat, nämlich dass wir uns bei der Topographie des Terrors hälftig beteiligen, wenn die Kosten nicht über ein bestimmtes Niveau hinausgehen. 76 Millionen DM hatte ich abgestimmt, auch mit der Berliner Seite, und als Obergrenze genannt. Dafür wurde ich viel kritisiert. Es wurde gefragt: Warum muss man nun gerade da einen finanzpolitischen Rigorismus exekutieren? Ich bin der Meinung, es war gut und für die Debatte offenbar auch hilfreich, dass klar war: Wir müssen uns irgendwann über eine Obergrenze verständigen. Eine Prüfung durch die Bundesbauverwaltung hat ergeben, dass das in diesem Kostenrahmen geht. Wenn im Jahr 2002 vonseiten des Bundes Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen, geht das nur außerplanmäßig. Dafür müssen wir natürlich auch noch bei den Haushaltspolitikern werben. Ich denke, dass das Land Berlin ebenfalls in seiner Verantwortung für diese Einrichtung bleibt. Das war die Basis der bisherigen Beratungen. Deswegen plädiere ich dafür, bei dem zu bleiben und insofern der Beschlussempfehlung des Kulturausschusses zu folgen. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer von Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich an die Diskussion um das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und insbesondere an die Rolle denke, die der damalige CDU-Bürgermeister Diepgen dabei gespielt hat, wundere ich mich darüber, dass sich die CDU jetzt so vehement für die Beteiligung des Bundes am NSDokumentationszentrum einsetzt. ({0}) Dazu hatten Sie ganz offensichtlich schon einmal eine andere Haltung. Damals mussten wir dem Berliner Senat seine Zustimmung mit aller Kraft abringen ({1}) und insbesondere immer wieder gegen Widerstand des damaligen CDU-Bürgermeisters kämpfen. Wir sind ganz Ihrer Meinung, dass der Bundestag an der Fertigstellung aller drei Projekte, also des Jüdischen Museums, das nun fertig ist, der Topographie des Terrors und des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas, worüber es immer noch heftige Diskussionen im Stiftungsrat gibt, ein ganz besonders großes Interesse hat. Wir sind auch daran interessiert, dass diese Projekte zügig und kostengünstig vorangetrieben werden. Das ist alles in unserem Sinne. Jetzt aber fordert die CDU, dass wir die beiden Projekte, die der Bund bereits fördert, um ein drittes erweitern sollen, nämlich um die Topographie des Terrors. Das heißt, dass wir allein die Kosten übernehmen sollen. Sie verschweigen dabei, dass es gerade unser Verdienst war und auch nicht geringe Mühe gekostet und nicht weniger Diskussionen mit dem Finanzminister insbesondere mit Blick auf Sparhaushalte bedurft hat, um alle Gedenkstätten endlich mit der hälftigen Bundesfinanzierung auf eine verlässliche finanzielle Basis bundesweit zu stellen. Der Staatsminister hat schon gesagt, dass es für die hälftige Finanzierung gute Gründe gibt. Da alle Verantwortung tragen, wollen wir, dass sich die Länder und Kommunen in gleicher Weise wie der Bund beteiligen und für ihre Erinnerungsstätten verantwortlich fühlen. Ohne diese Beteiligung würden die Erinnerungsstätten faktisch und psychologisch abgeschoben. Sie wären dann einzig Bundessache. ({2}) Die NS-Verbrechen waren aber nicht nur Staatsverbrechen, sondern waren auch Verbrechen der ganzen Bevölkerung und der Kommunen. Deshalb ist die hälftige Finanzierung genau richtig. ({3}) Sie verlangen nun von uns, dass wir innerhalb dieses Konzepts, das wir durchgesetzt haben und das zu unseren parlamentarischen Verdiensten gehört, einen Systembruch vornehmen und die Topographie des Terrors, die wie die anderen Erinnerungsstätten eine historische Erinnerungsstätte ist, herausnehmen. ({4}) Welche Folge würde das haben? In den nächsten Sitzungen würden wir von Ihnen den Antrag bekommen, auch alle anderen historischen Erinnerungsstätten, wie etwa Buchenwald oder Bergen-Belsen, zu übernehmen, ({5}) weil wir bereits an einer Stelle den Systembruch, auch historische Erinnerungsstätten hälftig zu finanzieren, begangen hätten. Das war der Grund dafür, dass wir gesagt haben: Mit dem Holocaust-Mahnmal und dem Jüdischen Museum ist es etwas anderes, weil es sich hierbei nicht wie bei der Topographie des Terrors um historische Erinnerungsstätten handelt. Natürlich besteht die Notwendigkeit zur konzeptionellen Zusammenarbeit, vor allem weil die Einrichtungen alle räumlich benachbart sind. Dies bezieht sich aber auf die Aufforderung, miteinander zu reden. Genau so ist es gewesen. Herr Nachama war im Stiftungsrat. Wenn ich mich recht erinnere, gab es damals genau darüber Diskussionen, ob wir diese Vertreter der anderen Institutionen mit hineinnehmen sollen. Auch damals haben wir gesagt: Sie gehören wegen der konzeptionellen Nähe zusammen; aber auf der finanziellen Seite und wegen der Notwendigkeit, die Länder und Kommunen an der Finanzierung zu beteiligen, muss man das trennen. Bei diesem guten Grundsatz sollten wir bleiben. Wir sollten auch weiterhin sagen: Es war eines der Gütezeichen dieser Legislaturperiode - denken Sie auch an die Zwangsarbeiterregelung -, dass diese Regierung mit einem unglaublichen Schwergewicht gerade diese Erinnerungsarbeit geleistet hat und sie auch in der Zukunft retten und absichern will. Ihr Antrag, in dem Sie das leere Versprechen abgeben, dass Sie noch viel mehr tun würden, tut nichts zur Sache. Wir werden so weitermachen und dies auch für die Zukunft absichern. Das ist außerordentlich wichtig. Es ist ein Stück der Identität dieses Landes. Dies gilt ebenso für das Versprechen, dass es immer Teil unserer Identität bleiben wird. Danke. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege Hans-Joachim Otto.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch wir Liberalen befürworten natürlich die zügige Fertigstellung des Projektes Topographie des Terrors auf dem PrinzAlbrecht-Gelände. Auch wir hätten uns eine mit dem Land Berlin abgestimmte Gesamtkonzeption der drei an einer Perlenschnur aufgereihten Gedenkstätten gewünscht. Sehr geehrter Kollege Nooke, dennoch können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen, weil wir ihn spätestens seit der Unterzeichnung des Hauptstadtkulturvertrages für überholt und seit dem 20. Dezember vergangenen Jahres sogar für kontraproduktiv halten. ({0}) - Dazu komme ich jetzt. Erstens. Ihr Antrag ist deshalb überholt, weil er, auch wenn Sie, Herr Nooke, das eben bestritten haben, ({1}) erklärtermaßen - ich erinnere mich noch an die Worte von Herrn Dr. Lammert bei der Einbringung des Antrages; ich habe sie nachgelesen - darauf abzielte, im damals noch nicht unterzeichneten Hauptstadtkulturvertrag die Berliner Festspiele durch die Topographie des Terrors zu ersetzen bzw. dort jedenfalls eine neue Regelung vorzusehen. Dafür hätte es übrigens gute Gründe gegeben; darin sind wir uns einig. Zwischenzeitlich sind die Dinge aber darüber hinweggegangen. Der Hauptstadtkulturvertrag wurde inzwischen unterzeichnet. Man darf darauf hinweisen, dass dies auf Berliner Seite auch durch die CDU erfolgt ist. In diesem Hauptstadtkulturvertrag ist die Topographie des Terrors ausdrücklich nicht in die alleinige Trägerschaft des Bundes übernommen worden. Ich erwarte vom Berliner Senat, dass er jetzt endlich einmal wenigstens eine Vereinbarung zur Kulturfinanzierung einhält und nicht schon wieder nach dem Bund ruft, ({2}) der sich ohnehin, wie wir wissen, schon mit 50 Prozent an den Kosten der Topographie des Terrors beteiligt. ({3}) - Lieber Herr Barthel, der Berliner kommt anschließend. Zweitens. Seit dem 20. Dezember 2001 ist Ihr Antrag, Herr Nooke, aber nicht nur überholt, sondern nach unserer Auffassung sogar kontraproduktiv. An diesem Tage haben nämlich die Ministerpräsidenten der Länder den Ausstieg aus der Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angekündigt. Wir dürfen es jetzt nicht auch noch honorieren, dass sich die Ministerpräsidenten ihrer Mitverantwortung für das Erbe Preußens entziehen wollen; ({4}) denn das, meine Damen und Herren, geht nicht zusammen. Es geht nicht, für sich die Kulturhoheit zu beanspruchen und gleichzeitig vom Bund das Geld zu verlangen. Herr Minister Nida-Rümelin, wir brauchen die gerade vor zwei Tagen beschworene Systematisierung der Kultur- und Gedenkstättenförderung. Zur Vorbereitung der jetzt anstehenden Gespräche mit den Ländern schlage ich die Bildung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundestages und der Bundesregierung vor, die umgehend eine möglichst fraktionsübergreifende Beratungsgrundlage für diese Gespräche erarbeiten soll. Bis dahin darf die Verhandlungsposition des Bundes nicht durch weitere einseitige Finanzierungszusagen geschwächt werden, zumal der Bund schon jetzt, wie Michael Naumann sagte, schlappe 500 Millionen DM, also praktisch die Hälfte seiner gesamten Kulturfördermittel, allein in die Bundeshauptstadt fließen lässt. Ganz im Sinne des Föderalismus erwarten wir von allen Bundesländern, also auch, lieber Herr Barthel, von Berlin, dass sie ihre Verantwortung für die Kulturförderung stärker wahrnehmen. ({5}) Hierzu gehört eben auch die Verantwortung für die Fertigstellung der Topographie des Terrors. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Fink.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen gedenken wir erneut der Opfer des Nationalsozialismus. Damit wird dieses Thema wahrscheinlich unmittelbar in Verbindung gebracht und deshalb ist es auf die Tagesordnung gesetzt worden. Nicht selten hatten wir in der Vergangenheit diesbezüglich einen beschämenden Widerspruch zu beklagen: Wir hörten hier - dem Anlass gemäß - würdige Gedenkreden; gleichzeitig leisteten die Regierenden dieser Stadt ein makabres Verzögerungs- und Verweigerungsritual gegenüber den heute in Rede stehenden Gedenkstätten. Hier muss ich Frau Vollmer wirklich Recht geben. Aber seit der ersten Lesung dieses Antrages genau heute vor einem Jahr hat sich manches zum Positiven entwickelt. Das Jüdische Museum ist inzwischen eröffnet, der Bau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas vollzogen. Endlich scheint auch die Dokumentationsstätte Topographie des Terrors auf gutem Wege zu sein. Die Topographie des Terrors ist für mich eine Gedenkstätte sui generis. Sie ist auch durch den einmaligen politischen Hintergrund und vor allen Dingen durch die Architektur, man kann auch sagen, durch das Kunstwerk von Zumthor gegenüber allen anderen Gedenkstätten herausgehoben. Von daher ist es sehr gut, dass der Baustopp in dieser Woche aufgehoben wurde. Zwar steht die formale Zustimmung des Berliner Abgeordnetenhauses noch aus, doch sind politische Ungereimtheiten in Sachen antifaschistischer Gedenkstätten von Berlin eigentlich nicht mehr zu erwarten. Zu vielen der diesbezüglichen Streitereien um Finanzen und Konzeptionen hätte es nicht kommen dürfen und wäre Hans-Joachim Otto ({0}) es auch gar nicht gekommen, wenn die drei Gedenkstätten - hier begrüße ich namens meiner Fraktion die Intention der Antragsteller - von Anfang an als Trias, als Dreiereinheit betrachtet worden wären: sowohl räumlich als auch gedanklich. Folglich wären sie dann einheitlich vom Bund konzipiert, errichtet und auch finanziert worden. Die Antragsteller sagen sinngemäß: Es gibt keinen überzeugenden Grund, dass der Bund einerseits Errichtung und künftigen Unterhalt von Mahnmal und Jüdischem Museum sichert, dies aber andererseits für die Topographie des Terrors offen lässt. Dieser Logik folge ich und vermute, dass sich ihr auch die Vertreter der Regierungskoalition kaum verschließen können. Selbst wenn jetzt und hier eine Mehrheit der ablehnenden Beschlussempfehlung folgt, weil die Regierungsseite, obwohl es nach der Gedenkstättenkonzeption nicht logisch ist, meint, einen Oppositionsantrag aus Prinzip ablehnen zu müssen, so habe ich weder SPD noch Grüne als erklärte oder unerklärte Gegner dieser Berliner Gedenkstätten wahrzunehmen. Ganz im Gegenteil: Ich hoffe und erwarte, dass Wege gefunden werden, die Zukunft dieser drei Gedenkstätten zu sichern. Es geht bei dem Mahnmal um die ermordeten Juden in Europa, beim Jüdischen Museum und der Topographie des Terrors um Erinnerung, Mahnung und Gedenken. Diese drei Topoi mitten in Berlin, auch in geographischer Richtung zusammengefasst, Topoi einer Weitergabe der Geschichte an die nachfolgende Generation sollten wir von diesem Parlament aus auch ökonomisch sichern. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eckhardt Barthel für die SPDFraktion. ({0})

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Herr Nooke, ich habe mir immer vorgenommen, nur zum Thema der Tagesordnung zu reden. Ich werde in diesem Zusammenhang nicht wie Sie über die Konzeption des Jüdischen Museums und darüber, was mir daran gefällt oder nicht gefällt, reden. ({0}) Was ist der Kern unseres Themas? Das lässt sich auf eine wichtige Frage reduzieren: Soll die Topographie des Terrors vom Bund - ({1}) - Ich bedanke mich. Genau das ist der Punkt. Insofern passt vieles, was hier bereits besprochen wurde, nicht zum Thema. ({2}) Aber jeder redet so, wie er kann. Weil das nun wirklich ein ernstes Thema ist, mit dem wir uns schon intensiv befasst haben, ist es durchaus wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es in diesem Haus über die Bewertung der Bedeutung aller drei Stätten absolut keine Differenzen gibt. Es scheint mir wichtig zu sein, dass wir hier keine Hierarchie der einzelnen Stätten aufbauen, sondern dass wir die Bedeutung aller Institutionen, Museen und auch der Gedenkstätten sehen. Man darf nicht sagen: Das eine ist wichtiger als das andere. ({3}) Jetzt sage ich noch einmal: Gerade die Topographie des Terrors hat in der Tat insofern eine Eigenart, als es hier um den Ort der Täter geht. Ich glaube, das unterstreicht schon die Bedeutung und unsere Verpflichtung, sie zu gestalten. Bei der Forderung der Einbeziehung der Topographie des Terrors in die Bundesfinanzierung erfolgt häufig der Hinweis, dass sie in der räumlichen Nähe der beiden anderen Stätten liegt. Diese räumliche Nähe ist nicht zu bestreiten. Ich würde das übrigens sogar noch ergänzen. Es ist nicht nur die räumliche Nähe der drei Institutionen, ({4}) sondern zum Beispiel auch die Nähe des Mahnmals zum Bereich der Politik, dieses Parlaments, oder die Nähe der Topographie des Terrors zum Potsdamer Platz als dem Ort des Kommerzes. Ich halte auch dieses Beziehungsgeflecht zu anderen Orten durchaus für wichtig. Die Gleichwertigkeit ist bereits dargestellt worden. Zwingt diese aber auch zur gleichartigen Finanzierung? Ich möchte auch daran erinnern, dass es nur deshalb zur Übernahme des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas durch den Bund gekommen ist, weil eine andere Finanzierung der Errichtung nicht möglich war. Wenn wir ehrlich sind, haben wir es dadurch bekommen. Insofern hat es auch hier ursprünglich einen anderen Vorlauf gegeben. Es ist vielleicht müßig, noch einmal an das zu erinnern, was bereits gesagt wurde, nämlich dass es in der Tat hierbei Systemunterschiede gibt. Wir haben eine Gedenkstättenkonzeption, die akzeptiert wird und viel Unterstützung gefunden hat. Das ist auch ein Ergebnis unserer Arbeit in dieser Legislaturperiode. Das möchte ich nicht vergessen wissen. Dies haben wir geschafft. Warum - das frage ich ganz simpel - sollen wir zwar die Topographie des Terrors aus dieser Konzeption herausnehmen, aber beispielsweise - um nur in Berlin zu bleiben - die Wannsee-Villa darin belassen? Dies müsste mir einmal jemand erklären. Das kann nicht allein mit dem Argument der Perlenschnur oder der räumlichen Nähe erklärt werden, sondern es muss inhaltlich begründet werden. Dann würde das Ergebnis erzielt, das Herr Otto - für meine Begriffe nicht sehr fein - immer wieder darstellt: Alles geht wieder nach Berlin. Wenn man eine Unterstützung des Landes Berlin durch die Übernahme durch den Bund erreichen möchte, möchte ich mich an dieser Diskussion nicht beteiligen. Dass ich sie möchte, ist klar, aber ich möchte gern, dass sie systematisch und nachvollziehbar ist, weil sie sonst keine Unterstützung findet. Dies wäre der falsche Ansatz, weil wir dann aus der Systematik herausfallen würden, unabhängig von der bereits erwähnten Frage, was ein authentischer Ort ist. Bei den beiden anderen handelt es sich nicht um authentische Orte, aber die Topographie des Terrors ist ebenso wie die Wannsee-Villa ein authentischer Ort. Es gibt noch mehrere Bereiche. In der Frage, was mit der zweiten Diktatur ist, gebe ich Ihnen Recht, Herr Nooke. Dies ist richtig. Deshalb werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen, wie wir es schon in der ersten Begründung dazu angekündigt haben. Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung zur Finanzierung der Topographie des Terrors machen. Ich möchte mich lobend dazu äußern, dass der Staatsminister für Kultur in den Verhandlungen mit Berlin eine Regelung gefunden hat, nach der sich der Bund zwar mit der Hälfte der Kosten beteiligt, aber nur, wenn die getroffenen Vereinbarungen auch eingehalten werden. ({5}) Ich halte diese Regelung für gut. Die in dem Antrag formulierten Befürchtungen, die Kosten würden sich nach oben entwickeln, ({6}) diese auch von Ihnen, Herr Lammert, formulierte Besorgnis, hat Ihnen Herr Nida-Rümelin sicherlich genommen. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 14/7451 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Jüdisches Museum, Topographie des Terrors, Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4249 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS angenommen. Ich rufe die Zusatzpunkte 9 und 10 auf: ZP 9 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für die Erhaltung, die Modernisierung und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung ({0}) - Drucksachen 14/7024, 14/7086 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) - Drucksache 14/8059 Berichterstattung: Abgeordneter Volker Jung ({3}) ZP 10 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung und zum Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung ({4}) - Drucksache 14/2693 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) - Drucksache 14/8048 Berichterstattung: Abgeordneter Walter Hirche Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Der erste Redner ist der Kollege Volker Jung für die Fraktion der SDP.

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf lösen wir eine der wichtigsten energiepolitischen Zusagen der rot-grünen Regierungskoalition ein, im Rahmen unseres Klimaschutzprogramms durch Erhaltung, Modernisierung und Ausbau der Kraft-WärmeKopplung einen wesentlichen Beitrag zur CO2-Reduzierung zu leisten. ({0}) - Das muss an der Technik liegen. Vielleicht lässt sich das etwas nachsteuern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Einen kleinen Moment, liege Kolleginnen und Kollegen! Dieses Problem ist schon gestern aufgetaucht. An seiner Lösung wird gearbeitet. Aber im Moment kann man nichts machen, denn die Anlage ist schon auf Maximum eingestellt. Es tut mir Leid. Die Kolleginnen und Kollegen sollten sich deshalb so gut wie möglich disziplinieren und die Rednerinnen und Redner sollten so laut wie möglich reden.

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schönen Dank, Frau Präsidentin. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf flankieren wir die Selbstverpflichtung der deutschen Industrie, insbesondere der Elektrizitätswirtschaft, in der sie sich auf den Zubau von den KWK-Anlagen festgelegt hat, die sich auch unter den derzeitigen Marktbedingungen rechnen. Eckhardt Barthel ({0}) Das sind die Anlagen, die rund um die Uhr Strom und Wärme erzeugen. Im Konsens und mit Unterstützung des Gesetzgebers sollen allerdings die KWK-Anlagen, die unter den gegebenen Marktbedingungen nicht wirtschaftlich arbeiten können, in ihrem Bestand geschützt und modernisiert werden. Das sind vor allen Dingen die Anlagen, die in der Fernwärmeversorgung eingesetzt werden. Über Sinn und Bedeutung des Klimaschutzes gibt es zwischen der Wirtschaft und der Politik keinen Zweifel. Einen solchen kann es nach den jüngsten Dokumenten der Energie-Enquete des Bundestages und des Nachhaltigkeitsrates der Bundesregierung auch nicht mehr geben. Wir wollen unter den veränderten Bedingungen der Liberalisierung des Energieversorgungsmarktes die Fortschritte im Klimaschutz mit Investitionsimpulsen für Wachstum und Beschäftigung in unserem Land verbinden. Nicht Substanzverzehr durch Preiskämpfe und Konzentrationswellen, sondern technische Innovation und Modernisierung sind unsere Devise. ({1}) Deshalb setzen wir klare Investitionssignale für einen modernen Kraftwerkspark, für eine dezentrale Energieerzeugung sowie für heimische Wertschöpfung und Beschäftigung. Dieser Markteingriff hat sich als notwendig erwiesen, weil der Wettbewerb auf dem Strommarkt, insbesondere der starke Preisverfall, kontraproduktive Ergebnisse für den Klimaschutz zeitigt: Billiger Strom zwingt dazu, KWK-Anlagen stillzulegen und den Wärmebedarf von Haushalten und Industrie durch zusätzliche Verbrennungsprozesse zu decken. Strom kann uns nach der Liberalisierung allerdings auch teuer zu stehen kommen. Dass die Preise nämlich auch kräftig steigen können, zeigten die jüngsten Ausschläge an der Leipziger Strombörse, wo die Presse im Dezember des vergangenen Jahres in der Spitze fast 1 000 Euro pro Megawattstunde betrugen. Das ist das Zwanzigfache des normalen Preises. Ähnlich wie bei dem unseligen kalifornischen Beispiel werden die Ursachen dafür im spekulativen Marktgebaren großer Stromanbieter gesehen. Wir werden uns diesen Vorgang noch sehr genau ansehen müssen. Mittlerweile sind auch auf der Großhandelsstufe die Strompreise wieder gestiegen. Das ist ein eindeutiges Signal für Knappheit. Die großen Energieversorger fahren ihre Kapazitäten zurück. Mittel- und langfristig sollen höhere Preise im Markt durchgesetzt werden. Investitionen Dritter werden dabei leicht als störend empfunden. Wenn wir dieser Entwicklung tatenlos zusehen würden, dann wären auch bei uns kalifornische Verhältnisse nicht mehr ganz auszuschließen; denn dort gab es keine Anreize, sondern nur Hindernisse für Neuinvestitionen. Die Substanz wurde verzehrt und nicht gemehrt. So weit dürfen wir es bei uns nicht kommen lassen. ({2}) Wir haben aber den Markteingriff auf das unverzichtbare Maß reduziert. In einem langen und mühevollen Prozess sind die wichtigsten Parameter dieses Eingriffs zwischen Energiewirtschaft und Politik vereinbart worden. Dass am Ende einige Wünsche offen geblieben sind - das gilt im Übrigen für beide Seiten -, kann bei solchen Prozessen nicht überraschen. Es liegt in der Natur von Kompromissen, dass zugunsten des gemeinsam Erreichbaren Zugeständnisse gemacht werden müssen. Es liegt in der Natur von Gesetzen, dass sie das gemeinsam Erreichbare festhalten und im Interesse der Allgemeinheit regeln. ({3}) Zu dem Gesetzentwurf selbst haben wir nach der Stellungnahme des Bundesrates und vor allem nach der Sachverständigenanhörung des Wirtschaftsausschusses eine Reihe von Änderungsvorschlägen gemacht, die das Gesetz praxistauglich und wirksamer machen sollen. Zu den wesentlichen Punkten gehören: die Aufnahme der CO2Minderungsziele von 10 Millionen Tonnen bis zum Jahre 2005 und von mindestens 20 Millionen Tonnen bis zum Jahre 2010 sowie das Vorziehen der Zwischenüberprüfung auf das Jahr 2004, um rechtzeitig zum Stichtag 2005 die Wirksamkeit des Gesetzes überprüfen und gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen für eine zusätzliche Förderung der KWK ergreifen zu können, damit das Minderungsziel im Jahre 2010 erreicht werden kann. ({4}) Weitere Punkte sind: die Anhebung der Fördersätze für modernisierte Anlagen - das ist der eigentliche Kernpunkt der Änderungsvorschläge - im Zeitkorridor bis 2010, um bei den langen Vorlaufzeiten von drei bis vier Jahren auch tatsächlich das notwendige Investitionsvolumen zu mobilisieren, sowie eine Verbesserung der Förderung kleiner KWK-Anlagen, die bereits heute die Energieeffizienz von Brennstoffzellenanlagen übertreffen. Daneben muss es eine Präzisierung der Kostenwälzung geben, mit der wir sicherstellen, dass sowohl die Privathaushalte als auch die stromintensiven Industriekunden, die in einem internationalen Standortwettbewerb stehen, nicht über Gebühr belastet werden. In diesem Zusammenhang haben wir auch die besondere Situation des schienengebundenen Verkehrs berücksichtigt, da wir diesen umweltfreundlichen Verkehrsträger unterstützen und nicht belasten wollen. Insgesamt möchte ich feststellen: Der Gesetzgeber hat seine Hausaufgaben gemacht. Jetzt erwarten wir, dass die Wirtschaft ihren Teil der Vereinbarung einlöst. Sie ist aufgefordert, die Vereinbarung nun endgültig zu unterzeichnen und umzusetzen, was sie der Bundesregierung fest zugesagt hat. ({5}) Spätestens zur gesetzlich fixierten Zwischenüberprüfung im Jahr 2004 wird Kassensturz gemacht. Dann wird sich zeigen, was diese neuartige Kombination aus Selbstverpflichtung und gesetzlicher Förderung wert ist. Ich möchte diese Gelegenheit auch dazu nutzen, darauf hinzuweisen, dass dieses KWK-Gesetz in einer guten und langen Tradition der deutschen Energiepolitik steht. Es waren die von uns geführten Bundesregierungen, die aus Volker Jung ({6}) den beiden Ölpreiskrisen in den 70er-Jahren die richtige Schlussfolgerung gezogen haben, dass Versorgungssicherheit und Verbraucherschutz weder den internationalen Erdölkartellen noch den multinationalen Konzernen überlassen werden dürfen. Wir haben damals große Anstrengungen zur Verbesserung der Energieeffizienz unternommen, zu denen insbesondere auch der Fernwärmeausbau und die KraftWärme-Kopplung zählten. Bundes- und Landesprogramme wurden aufgelegt und Fernwärmevorranggebiete ausgewiesen. Das sind die Grundlagen und Traditionen der Kraft-Wärme-Kopplung in der öffentlichen Versorgung. Hier haben Politik und kommunale Wirtschaft gemeinsam einen ganz erheblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit und zum Umweltschutz geleistet. Auch angesichts der stürmischen Übernahmen und Fusionen auf dem deutschen Energiemarkt gilt es, die ordnungs- und industriepolitische Balance zu halten. Es ist sicher nicht falsch - wie gesagt worden ist -, dass auf den internationalen Energiemärkten auch deutsche Unternehmen als Global Player auftreten sollen. Die Alternative hierzu wäre das Modell von Energie Baden-Württemberg, nämlich der Ausverkauf an ausländische Staatsmonopole in diesem Fall an die Electricité de France. Dabei sollte aber auch nicht aus den Augen verloren werden, dass unsere mittelständischen und pluralistischen Versorgungsstrukturen einen eigenen Wert besitzen, der sich nicht in Börsenkursen ausdrücken lässt. ({7}) Dieser Wert liegt in ihrem Beitrag zu einem funktionierenden Wettbewerb. Denn Wettbewerb setzt Wettbewerber auch auf der Erzeugungsstufe voraus, die mehr anzubieten haben als den Weiterverkauf des bezogenen Stroms. Die jüngsten Preisbewegungen sind ein schlagender Beweis dafür. Schließlich setzt ein funktionierender Markt bei Strom und Gas stabile Leitungsnetze voraus, die bei uns noch nicht in Mitleidenschaft gezogen sind. Netze müssen bis in den letzten Winkel der Republik die gleichen Qualitätsstandards und technischen Ansprüche erfüllen. Anbieter und Kunden müssen gleichermaßen zu transparenten Bedingungen und fairen Preisen bedient werden, ({8}) jedenfalls dann, wenn unter Wettbewerb mehr verstanden werden soll als nur der Preiskampf um lukrative Sondervertragskunden in Ballungsgebieten, vor allem dann, wenn die nach wie vor geltende Versorgungsgarantie für Tarifkunden nicht unter die Räder kommen soll. ({9}) Ich halte die Frage, ob der viel bemühte Shareholdervalue das alleinige oder zentrale Kriterium in unserer Energieversorgung werden soll, deshalb für in höchstem Maße erörterungsbedürftig. ({10}) Es ist nicht mehr zu übersehen, dass die Investitionen in die Netze seit der Liberalisierung bedenklich abnehmen und die Erzeugungskapazitäten erheblich zurückgefahren werden. Der Shareholdervalue wird mit empfindlichen Einbußen nicht nur bei der Beschäftigung, sondern auch bei der Substanz der Anlagen und der Versorgungssicherheit erkauft. ({11}) Ich frage mich, ob in der Energiewirtschaft Konzerne das Leitbild sein sollen, denen bei Konjunkturschwierigkeiten selten mehr einfällt als Massenentlassungen und deren internationale Steuerplanung dazu führt, dass zwar munter Dividenden, jedoch nur spärlich Steuern fließen. ({12}) Ich bin deshalb davon überzeugt: Dieses Gesetz ist ein Stück aktiver Standort- und Energiestrukturpolitik für eine effiziente, verbrauchernahe und umweltverträgliche Energieversorgung. Das sind die wichtigsten Elemente unserer Energiepolitik und dafür werden wir uns weiter einsetzen. Schönen Dank. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Herr Kollege Hartmut Schauerte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind am Endpunkt einer unglaublich hektischen, unglaublich schlecht koordinierten und verzettelten Beratung angekommen. ({0}) Vielleicht ist es gerade deswegen wichtig, auch vonseiten der CDU/CSU noch einmal einige Grundsätze deutlich zu machen, bevor wir in die Bewertung einsteigen. Wir sind uneingeschränkt für eine effiziente, intelligente und wirkungsvolle CO2-Reduzierung; schließlich haben wir an den Entscheidungen auch auf internationaler Ebene von Anfang an maßgeblichen Anteil gehabt. ({1}) Wir sind der Meinung, dass Kraft-Wärme-Kopplung ein vernünftiger Beitrag dazu sein kann. Wissenschaftlich kann man sich lediglich noch darüber unterhalten, wie viel drin ist; sie ist aber ein wichtiger Beitrag. Das muss wärmegeführt sein und dann ist das sinnvoll. Wir haben nur den Eindruck, dass dieses Gesetz die Chancen, die darin liegen, nicht nutzt und das, was betrieben wird, erheblich verteuert, was die Effizienz verringert. Volker Jung ({2}) Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu dem damit ja dann hoffentlich beerdigten unglücklichen Vorschaltgesetz machen. Ein so unglückliches Gesetz ({3}) haben wir im Deutschen Bundestag wohl lange nicht mehr gehabt. Es wird höchste Zeit, dass es beseitigt wird. Es war von Anfang an verfassungswidrig. Es war nicht zielführend. Es war eine Vergeudung von Steuermitteln. ({4}) - Aber eine gelungene Abzockerei. - Wir stellen jetzt fest, dass 55 Prozent der Milliarden, die ausgegeben worden sind, an drei große kommunale Unternehmen gegangen sind. Allein die BEWAG hat 255 Millionen bekommen. Eine Lizenz zum Gelddrucken! ({5}) Das Geld ist ausgegeben worden, ohne dass etwas Vernünftiges damit gemacht worden ist. ({6}) Das war ein erbarmungsloser Griff in die Taschen der Steuerzahler zugunsten einiger weniger, die unter dem besonderen Schutz der sozialdemokratischen Stadtwerkefraktion gestanden haben. ({7}) Genau da ist das gelandet. ({8}) Eigentlich ist das, was Sie mit dem Gesetz gemacht haben, schadenersatzpflichtig. Bei dieser Art von Gesetzgebung müssen wir Sie fragen, wie weit Sie die Klientelpolitik noch treiben wollen. ({9}) Der Gesetzgeber erklärt, es gebe ein Problem, um das sich andere kümmern sollten, er selber habe keine Meinung. Ist das Gesetz dann verabschiedet, wird der Minister sagen, dass er von dem ganzen Thema nie etwas gehalten habe; er sei schon mit dem Vorschaltgesetz nicht einverstanden gewesen und sei auch mit diesem Gesetz nicht zufrieden. Da aber das Parlament die Rechtsvorschriften mit Dritten auskungele, solle es auch zusehen, was daraus wird. Am Ende wird jeder die Vaterschaft für dieses Gesetz ablehnen, wenn es in der Wirklichkeit gescheitert sein wird. ({10}) - Auch die Mutterschaft wird dann abgelehnt werden, Frau Hustedt. Diese eigenartige Form der Gesetzgebung ist aber normal, wenn man alle Ziele gleichzeitig verfolgen will: Man will CO2 einsparen, man will die Technologie fördern, man will die Arbeitsplätze schützen. Aber da geht es schon los: welche Arbeitsplätze? Die in den neuen Technologien, die in den alten Strukturen oder diejenigen, die entstehen könnten, wenn unsere Energiepolitik für günstige Energiekosten in Deutschland sorgte? Bei dieser Interessenverflechtung streitet der eine Arbeitsplatz gegen den anderen. Dasselbe gilt für die Besitzstandswahrung: Welche Besitzstände wollen Sie wahren, die der Anbieter der alten Technologien oder die der Anbieter neuer Technologien? ({11}) - Nein, nein. ({12}) - Das ist ein schöner Begriff. Der Wirtschaftsminister hat das Vorschaltgesetz „Pennerprämie“ genannt. ({13}) - Das ist die Beschreibung des Ergebnisses Ihrer Politik. Das tut weh, Frau Hustedt. ({14}) Es kam uns teuer zu stehen und ist vor allem nicht zielführend gewesen. Wir haben festzustellen, dass wir in der Energiepolitik mittlerweile an Grenzen stoßen, wenn es um die Frage geht, wie sehr sich die Energiepreise steuerlich noch erhöhen lassen. Der Staat ist beim Benzin mit 70 Prozent dabei, ({15}) beim Strom mit 40 Prozent. Ich erkläre hier, dass die permanente Verteuerung von Energie in Deutschland zu schwerem Schaden bei Beschäftigung und Wachstum führt. ({16}) Wir können Sie nur auffordern, diesen Weg nicht weiter zu beschreiten; denn damit belasten Sie die deutsche Produktion und den deutschen Export und begünstigen den internationalen Wettbewerb gegen uns. Die immer höher werdenden Energiepreise stellen eine gefährliche Entwicklung dar. Nach wie vor gibt es eine Privilegierung öffentlicher Betreiber, die nicht in Ordnung ist. Auch ist eine Bemessungskategorie eingeführt worden, die nicht passt. Bei Ausnahmen stellen Sie im Hinblick auf Großunternehmen auf den Umsatz ab. Alle Fachleute haben Ihnen gesagt, dass das keinen Sinn mache. Man kann einen riesigen Umsatz haben, wenn man sehr viel einkauft. Daher legt man in solchen Fällen die Bruttowertschöpfung zugrunde. Des Weiteren ist festzustellen, dass all das, was Sie so hektisch verändern wollen, am Ende nicht passt. Der Bundesrat hat Ihnen deswegen ja gerade eine Ohrfeige verpasst und eine Verkürzung der Fristen nicht bewilligt. Das Gesetz wird also nicht zum geplanten Zeitpunkt in Kraft treten können. Damit dürften auch Termine für Investitionen durcheinander geraten. Sie können es einfach nicht. Welche neuen Technologien wollen Sie fördern? Vor der Brennstoffzelle zucken Sie immer ein bisschen zurück. Eine wirkliche Priorisierung von modernen Technologien vermeiden Sie, indem Sie ihnen sofort alte Technologien an die Seite stellen. Bei diesen Fragen sind Sie nur noch lobbygesteuert. ({17}) Wer Recht bekommt, hängt davon ab, welcher Produzent und welcher Verband als Letzter mit Ihnen geredet hat. Versuchen Sie doch bitte, wieder ordnungspolitisch einwandfrei an solche Fragen heranzugehen. Marktorientierte Regelungen werden durch staatliche Regulierungen ersetzt. Wie oft wollen Sie denn den Minister mittels Verordnungen in den Prozess eingreifen lassen? Wie wollen Sie denn die von Ihnen immer wieder beschworene Investitionssicherheit herstellen? Sie drohen stündlich mit Veränderungen auf dem Verordnungswege und sprechen die Ermächtigung aus, je nach Konjunkturverlauf permanent in langfristig angelegte Investitions- und Energiestrukturentscheidungen einzugreifen. Das ist eine unerträgliche Situation. Wir können einem solchen Gesetz nicht zustimmen. Zu unseren Grundsätzen habe ich bereits etwas gesagt. Kehren wir zurück zu ehrlichen Finanzierungen! Wenn wir technologische Veränderungen wollen, sind Haushaltslösungen das richtige Wort und nicht der Weg über Preisgestaltungen. Diese verschönern zwar Ihre Statistik, weil der Staatsanteil nicht steigt - die Lösung erfolgt nämlich über den Preis -, es hätte aber eine Finanzierung über den Haushalt stattfinden müssen. Das ist einer unserer gravierenden Vorwürfe gegen diesen falsch gestrickten Ansatz, den Sie wieder einmal vorbringen. Wir befürchten, dass mit diesem Gesetz die ökologischen Ziele nicht erreicht werden, dass es ökonomisch sehr teuer ist und mit ihm Fehlsteuerungen organisiert werden, über die wir uns eines Tages verwundert die Augen reiben werden. ({18}) Herzlichen Dank. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schauerte, wenn etwas nicht hektisch war, dann war das dieser Gesetzgebungsprozess. Wir haben Monate, fast Jahre diskutiert, und zwar in einem öffentlichen Prozess in aller Breite und Tiefe mit den gesellschaftlichen Gruppen. Auch Sie hätten sich jederzeit einklinken können. Deshalb kann ich nur sagen: Hektisch war es nun wirklich nicht. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Hustedt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weiß, jetzt kommt die Frage nach der Endphase und der Tischvorlage. Stellen Sie Ihre Frage, sonst geht das von meiner Redezeit ab!

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können Sie mir zustimmen, dass man unter Hektik nicht unbedingt die Kürze oder Länge der Zeit verstehen muss? Kann man nicht unter Hektik auch ein ewiges, unerträgliches Hin und Her verstehen?

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es war ein schwieriger Diskussionsprozess; das habe ich ja auch gesagt. Das hatte damit zu tun, dass es starke gesellschaftliche Kräfte gab, die dagegen waren. Es gab aber auch genauso starke Kräfte, die dafür waren. Dann ist es ein normaler gesellschaftlicher Prozess - er hat sehr viel mit Demokratie zu tun -, ({0}) dass man sich auf die Suche nach Kompromissen begibt. ({1}) Das, was uns hier vorliegt, ist ein echter, ein fairer Kompromiss. Es ist eine ausgewogene Mischung. Wir betreiben hier Klimaschutz, berücksichtigen aber auch andere Denkweisen. ({2}) Weil die Debatte so lang und intensiv war, möchte ich am Anfang der SPD-Fraktion ganz ausdrücklich für die gemeinsame Arbeit danken, die wir geleistet haben. Daneben möchte ich der Gewerkschaft Verdi, die sich besonders für zukunftsfähige Arbeitsplätze engagiert hat, danken. ({3}) Ich bin froh, Herr Schauerte, dass Sie zumindest sagen, dass die Förderung von KWK etwas Sinnvolles ist. Die FDP ist gegen alles, gegen erneuerbare Energien, gegen den Klimaschutz usw. ({4}) In den alten Enquete-Kommissionen wurde berechtigterweise gesagt: KWK ist notwendig. Auch im Klimaschutzprogramm von Frau Merkel war die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung enthalten. Die EU-Kommission sagt: Die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist neben der Förderung der erneuerbaren Energien etwas absolut Sinnvolles, das für den Klimaschutz substanziell wichtig ist. ({5}) Wenn Strom erzeugt wird, entsteht Wärme. Es geht darum, diese Wärme sinnvoll, zum Beispiel zum Heizen von Wohnungen, einzusetzen. Das ist effiziente Ausnutzung. Wenn man schon fossile Energieträger einsetzt, dürfen sie nicht verschwendet werden. Nun kann man in der Tat über das Modell streiten. Aber ich frage: Wer hat das Zertifikatsmodell verhindert? Das wäre ein noch wesentlich marktgängigeres Modell gewesen, bei dem sich derjenige, der den KWK-Strom am billigsten anbietet, mit hohen Marktanteilen durchgesetzt hätte. Ich habe damals, als die Industrie - Eon und andere Stromkonzerne - gegen das Zertifikatsmodell massiv mobil gemacht hat, durchaus vermisst, Herr Schauerte und Herr Hirche, dass Sie sich auf unsere Seite gestellt und für den Zertifikatshandel stark gemacht hätten. Das haben Sie nicht getan. Sie haben auch jetzt wieder kein Instrument genannt, mit dem Sie die KWK fördern wollen. Ich glaube, das Bonusmodell ist nicht das schlechteste. Sie haben beim Stromeinspeisungsgesetz ein ähnliches Modell für die Förderung der erneuerbaren Energien gewählt, also kann das Instrument nicht so des Teufels sein, wie Sie es hier darstellen. ({6}) Ihren Vorwurf der Klientelpolitik weise ich massiv zurück. Es geht bei diesem Gesetz um ökologische Modernisierung und um sonst gar nichts. ({7}) Wenn wir uns einer Lobby verpflichtet fühlen sollten, dann sollten das unsere Kinder und Kindeskinder sein, deren Lebensgrundlage wir bewahren wollen. ({8}) Wir müssen das Wärmepotenzial veralteter Fernwärmeanlagen - es besteht die Gefahr, dass an ihrer Stelle Heizwerke entstehen -, die sowieso früher oder später vom Netz gehen müssen, nutzen, um damit Strom zu erzeugen. Wir wollen diese Anlagen durch modernste Anlagen ersetzen. Ein sinnvoller Vergleichsmaßstab ist dabei natürlich ein neues Erdgas-GED-Kraftwerk. Das Mindestinvestitionsvolumen für ein solches Kraftwerk liegt bei 25 Millionen Euro bzw. 50 Millionen DM. Das heißt, wir erreichen in den nächsten Jahren ein Investitionsvolumen von 4 bis 5 Milliarden DM. ({9}) Angesichts einer derzeit eher langsamen Wirtschaftsentwicklung lässt sich das durchaus sehen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung bis 50 kW - diese Erhöhung ist etwas Besonderes - und bis 2 MW. Aber auch die Brennstoffzelle spielt eine Rolle. Herr Schauerte, ich verstehe Sie nicht: Wir haben dafür gesorgt, dass in der Forschung ein Schwerpunkt auf die Förderung der Brennstoffzelle gelegt wird. Die Brennstoffzelle soll mit 5 Cent pro Kilowattstunde explizit gefördert werden. Ich erhoffe mir, dass Deutschland als erstes Land in diese neue, moderne Technologie investiert, damit - ähnlich wie bei den erneuerbaren Energien - Deutschland zum Schaufenster für die Welt wird und in Deutschland eine Branche mit zukunftsfähigen Arbeitsplätzen aufgebaut wird. ({10}) Die Eigenstromerzeugung der Industrie ist kein Teil des Gesetzes. Die Industrie selbst hat gesagt: Wir werden die notwendigen Investitionen tätigen; wir brauchen dafür keinen Zuschuss. Herr Schauerte, Herr Hirche, die Industrie sagt: Die Investitionen rechnen sich, auch ohne dass man uns einen Zuschuss gibt. Möchten Sie vor diesem Hintergrund der Industrie trotzdem Zuschüsse gewähren? Es ist vielmehr besser, die Industrie erst einmal allein machen zu lassen. ({11}) Es kann gut sein, dass sich in den nächsten Jahren moderne Anlagen in der Industrie aufgrund des Atomausstiegs und normaler Alterungsprozesse - Neuinvestition steht gegen Neuinvestition - rechnen. Wir werden in einem Monitoring überprüfen, ob das stattfindet oder nicht. Wenn das nicht der Fall ist, dann werden wir in der Tat nachbessern müssen und der Industrie einen zusätzlichen Anreiz schaffen, in diese Anlagen zu investieren. ({12}) Ich möchte eine letzte Bemerkung zu den Kosten und zu den Belastungen machen. Die Kosten sind deutlich geringer, als im Vorschaltgesetz kalkuliert. Durch unseren Vorschlag werden die Kosten also verringert. Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz und das Kraft-WärmeKopplungsgesetz kommt auf den Bürger eine Belastung in Höhe von insgesamt ungefähr 0,2 Cent pro Kilowattstunde zu. ({13}) Ich frage Sie wirklich: Sind uns diese 0,2 Cent die Zukunft unserer Kinder nicht wert? Man bedenke, dass wir eine Zukunftsbranche aufbauen können, die tatsächlich zukunftsfähige Arbeitsplätze schafft. ({14}) Wenn Sie in diesem Zusammenhang noch die Ökosteuer dazurechnen - sie hat einen viel größeren Anteil -, dann kann ich Sie nur an Herrn Stoiber verweisen. Herr Stoiber ist ziemlich schnell zurückgerudert, nachdem er angekündigt hatte, die Ökosteuer zurückzunehmen. ({15}) Warum? - Weil er genau weiß, dass er dann die Rentenversicherungsbeiträge anheben müsste. Das will er nicht. Schauen Sie also auf Herrn Stoiber! Herr Stoiber hat deutlich gesagt, dass auch er die Ökosteuer beibehalten will. Nur, weitere Schritte will er nicht. ({16}) Dieses Gesetz ist glasklar ein ökologisches Gesetz. Es dient der Förderung der erneuerbaren Energien und - zusammen mit der Energieeinsparverordnung - der Energieeinsparung durch Altbausanierung. Die rot-grüne Koalition hat damit insgesamt eine Energiewende eingeleitet, die uns auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Energiewirtschaft wirklich ein Stückchen vorangebracht hat. Darauf können wir zusammen stolz sein. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Walter Hirche für die FDP-Fraktion.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir hatten in dieser Woche schon mehrfach die Möglichkeit, über das Demokratieverständnis in diesem Hause zu reden. Ich darf festhalten: Die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses haben am Mittwoch dieser Woche zu Beginn der Sitzung eine Tischvorlage bekommen. Kollege Jung hat, in durchaus freundlichen Worten - das will ich unterstreichen -, gesagt, dass das die Vorstellungen der Koalition seien, über die sie schon ausgiebig diskutiert hätten; sie sähen sich außerstande, in dieser Sitzung noch etwas zu ändern, obwohl die Vorstellungen, die von der FDP und der PDS vorgelegt worden seien, durchaus bedenkenswert seien. Weiter hat er erklärt, dass es nun einmal die Natur eines Kompromisses sei, dass man nicht alles aufnehmen könne; dem stimme ich noch zu. Aber einen so genannten gesellschaftlichen Prozess, wie ihn Frau Hustedt beschrieben hat, außerhalb des Parlaments und an einem Teil des Parlaments vorbei ablaufen zu lassen ruiniert die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen, ganz gleich, wer in der Regierung und wer in der Opposition ist. ({0}) Ich habe deshalb die dringende Bitte: Sie haben doch sowieso die Mehrheit und können Ihre Vorstellungen durchsetzen. Aber beachten Sie doch wenigstens im Verfahren, dass die anderen Fraktionen das gleiche Recht haben wie die Interessenverbände, in diesen Dialog einbezogen zu werden. Das ist die Grundlage von Demokratie. ({1}) Eine zweite Bemerkung. Frau Hustedt, ich denke, dass ganze Haus ist sich darin einig, dass Ziele, wie sie zum Beispiel der Ministerrat der Europäischen Union beschlossen hat - ich nenne hier zum Beispiel die Verdopplung des Anteils der erneuerbaren Energien oder die Ausweitung des Anteils der Kraft-Wärme-Kopplung -, in bestimmten Zeiträumen verwirklicht und unterstützt werden müssen. Es besteht aber keine Einigkeit darüber, dass die Ziele mit dem ökonomischsten der zur Verfügung stehenden Mittel erreicht werden müssen. Es muss für unsere Volkswirtschaft so preiswert wie möglich sein. Der Weg, wie Sie das regeln - ob über Steuern oder Abgaben - belastet die Volkswirtschaft und steht in direktem Zusammenhang mit der Zahl der Arbeitslosen, die wir im Augenblick in Deutschland haben. ({2}) Deswegen sind wir der Meinung, dass es richtig ist - ich spreche für die KWK -, darüber nachzudenken, mit welcher Maßnahme man eine Tonne CO2 zu den geringstmöglichen Kosten vermeiden kann. Wenn das Klimaziel an oberster Stelle steht, dann darf ich nicht danach fragen, wie ich das Geld an die Kommunen geben kann, sondern muss danach fragen, wer in unserer Volkswirtschaft dies mit KWK zu den geringsten Belastungskosten am schnellsten verwirklichen kann. Genau diese Gruppe der KWK-Verwender, die Industrie, schließen Sie aus. Sie akzeptieren zwar, dass dort billiger produziert wird, sagen aber einfach, dass diese Produzenten, weil sie das billiger machen, kein Geld vom Staat brauchen. Sie geben bewusst Geld an eine Stelle, wo es unrentabler verwendet wird und wo es die Volkswirtschaft insgesamt mehr kostet. Hierzu möchte ich noch einen weiteren Punkt ansprechen. Ich greife ihn auf, weil Kollege Nooke hier angegriffen worden ist, er sei auf Ostdeutschland fixiert. Frau Kollegin Pieper aus Sachsen-Anhalt sitzt hier im Raum; deswegen kann ich konkret darauf eingehen. Es geht um Leuna. Wir haben einen Antrag eingebracht, dass die Industrieparks in Ostdeutschland, die man mit den allgemeinen öffentlichen Netzen in Westdeutschland vergleichen kann, die Strom erzeugen und KWK-Anlagen betreiben, die aus der unterschiedlichen Wirtschaftssituation in Ostdeutschland heraus entstanden sind, in die Förderung einbezogen werden. Das hat man verweigert. Das ist ein Schlag gegen den wirtschaftlichen Aufbau von Ostdeutschland. ({3}) Ich kann es - das muss ich zugeben - nicht mehr hören, wenn am Mittwoch dieser Woche Bundestagspräsident Thierse sagt, wirtschaftlich müssten die Weichen im Osten neu gestellt werden. ({4}) Wir aber kriegen hier ein Gesetz nach dem anderen vorgelegt, in dem die SPD und die Grünen die Möglichkeiten, Ostdeutschland zu fördern, ausschlagen, ja Ostdeutschland sogar im Stich lassen. Das finde ich, auch abseits der klimapolitischen Diskussion, nicht in Ordnung. Wer Leuna hängen lässt, der handelt falsch. ({5}) Ich darf Ihnen ausdrücklich sagen: Wenn bei Ihnen das Interesse für das Klima an oberster Stelle stünde, dann würden Sie - ich wiederhole das - nicht die Frage nach Industrie oder Kommunen stellen, sondern würden diejenigen fördern, die mit dem geringstmöglichen Einsatz das beste Ergebnis erreichen. Deswegen ist das, was Sie hier konstruieren, falsch. Es ist ein reines Subventionsgesetz in eine Richtung. Das ist nicht in Ordnung. Das ist ein Gesetz mit einer erheblichen Schwäche. Ich glaube nicht, dass es richtig war - Herr Jung hat begründet, warum das so gemacht worden ist -, im Laufe der Beratungen außerhalb des Ausschusses die Vergütungen pro Kilowattstunde einfach zu erhöhen, nur - das haben Sie eingeräumt - weil der Topf, den man dafür bereitgestellt hat, in der Zeit, die zur Verfügung steht, sonst nicht geleert werden könnte. ({6}) Sie hätten nur industrielle Anlagen mit hineinnehmen müssen. Dann wären die Klimaziele übererfüllt worden. Ich füge noch etwas hinzu. Ich bin im Gegensatz zu dem, was Frau Hustedt gesagt hat - sie weiß das ganz genau -, der Meinung, dass wir mit diesem Gesetz auch die Möglichkeit der Förderung des Neubaus von KWK-Anlagen in bescheidenem Umfang hätten eröffnen können, ohne dass der Deckel vom Topf geflogen wäre. Wir haben auch diesen Antrag in den Wirtschaftsausschuss eingebracht. Auch dieser Antrag auf Förderung neuer Anlagen zur KWK ist vom Tisch gewischt worden. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass es in diesem Zusammenhang kein Interesse an Klimapolitik und Ökologie gegeben hat. Vielmehr hat man sich an kommunalen Interessen ausgerichtet. In gewisser Hinsicht kann ich das sogar verstehen. Wir haben heute Morgen eine Debatte über die katastrophale Finanzlage der Kommunen gehabt. Diese ist unbestritten. ({7}) Aber dann muss man nach Möglichkeiten suchen, die Finanzausstattung der Kommunen vom System her zu verändern und nicht mit Gesetzen, die eigentlich dem Klima und der besseren Nutzung der KWK in Deutschland dienen sollten. Es ist unbestritten, dass wir das wollen. Sie machen es aber mit den falschen Instrumenten unter Vergeudung von Steuergeldern, statt das optimal auszurichten und an die Arbeitsplätze und die Volkswirtschaft zu denken. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann eine Sache sehr unterschiedlich sehen. Als Frau Hustedt und Herr Jung sagten, sie hätten mit diesem Gesetz die Energiewende eingeleitet, war mir eher so, als hätten wir sie zu Grabe getragen. Für mich ist schon bemerkenswert, dass bei der Beratung über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung kein Redner der Bundesregierung hier etwas dazu sagt. In anderen Fällen liegen wortgleiche Gesetzentwürfe vor. Heute ist das nicht so; heute sprechen nur die Parlamentarier. ({0}) Noch etwas ist für mich bemerkenswert. Nur weil Herr Kollege Hirche darauf verwiesen hat, dass FDP und PDS Vorschläge unterbreitet haben, wurde sofort durch den Raum gerufen: neue Koalition! Ich denke, der größte Fehler, den wir machen, ist, dass wir den Absender betrachten, der etwas vorschlägt, ({1}) und nicht die Wirkung, die man erreichen könnte, wenn man sich mit dem Inhalt auseinander setzen würde. ({2}) Ich will ganz kurz etwas zu den Entstehungszeiträumen sagen. Nach dem Regierungswechsel passierte faktisch nichts, bis Zehntausende Stadtwerker auf die Straßen gingen, weil sie Angst um ihre Arbeitsplätze hatten. Dann wurde ganz schnell ein Schutzgesetz für einen wichtigen, aber kleinen Teil des KWK-Sektors verabschiedet. Das war strukturpolitisch durchaus ehrenwert, aber umweltpolitisch fatal. Weil Sie aber damals schon die Korrektur dieses Mangels im Gesetzentwurf verankerten, stimmten wir zu. Tatsächlich fand sich für ein Jahr - bis hin zu verbindlichen Kabinettsbeschlüssen - das richtungsweisende Konzept eines Zertifikatshandelsmodells auf der Grundlage einer langsam steigenden Quote auf der politischen Agenda. Dieses Konzept werden Sie allerdings heute mit der Ablehnung des PDS-Gesetzentwurfes beerdigen. Insofern stimmt es auch nicht, wenn auf dem Deckblatt des Gesetztentwurfs steht: „Alternativen: Keine“. Es hat schon welche gegeben; aber wir haben uns nicht darüber verständigen können. Dieses Konzept wäre nicht nur ungleich wettbewerbskonformer und auch für die Stromverbraucher preiswerter als die jetzt fixierte starre Bonusregelung; vor allem würde Deutschland mit ihr Vorreiter in der EU werden und könnte dort die Ausgestaltung des so genannten „emission trading“ zur Umsetzung des KiotoVertrages offensiv betreiben. Dieser Emissionshandel auf Zertifikatsbasis kommt. Aber in welcher Form er kommt, kann von Berlin aus nur ungleich schwerer beeinflusst werden, weil wir keine Referenzen vorzuweisen haben. Dass dies so ist - damit komme ich wieder auf den Lauf der Dinge zurück -, haben wir einem gegenüber Regierungs- und Parlamentsbeschlüssen aufmüpfigen Wirtschaftsminister und einem einknickenden Umweltminister zu verdanken. Im letzten Jahr haben Sie nun an einem nicht nur aus meiner Sicht schwerfälligen, bürokratischen Modell gebastelt, bei dem nicht Umweltentlastung und der Zuwachs an zukunftsfähigen Arbeitsplätzen im Mittelpunkt stehen, sondern allein die Wünsche und Profitvorstellungen von vier Strommonopolisten und einem Stadtwerkekartell. Ich gestehe Kollegin Hustedt und Kollegen Jung zu - das will ich hier ausdrücklich sagen; man konnte in der Öffentlichkeit verfolgen, dass es in der Auseinandersetzung Schwierigkeiten gegeben hat, die wir auch nicht kleinreden wollen -, dass sie mit ihren Änderungen die ärgsten Auswüchse des KWK-Verhinderungsgesetzentwurfes aus dem Hause Müller abgeschnitten haben. Deshalb ist unser heutiger Änderungsantrag auch nicht mehr der gleiche wie der vom Mittwoch. Wir reagieren sehr wohl auf Ihre Vorschläge. Es geht im Grundsatz - das erkennen wir an - auch um Emissionenreduktion. Spätestens ab 2006 wird der Weg wieder frei für andere gesetzliche Instrumente, wenn sie dann erforderlich sein sollten. Das befürchten wir; denn nach wie vor verzichten Sie mit Ihrem Gesetz weitgehend auf die Erschließung neuer KWK-Potenziale, Sie gefährden sogar den Erhalt bestehender industrieller Anlagen. Herr Kollege Hirche hat darauf Bezug genommen. In unserem Antrag steht, dass man sie unterstützen sollte. Aber es gibt noch eine Neuheit, die ich ansprechen möchte. Ich meine § 12 des Gesetzes, nach dem das Gesetz von Ministerien - ich zitiere - „unter Mitwirkung von Verbänden der deutschen Wirtschaft und Energiewirtschaft“ überprüft wird. Ich glaube, es ist einmalig, dass wir schon im Gesetzestext - nicht in der Begründung festlegen, dass Verbände und Wirtschaft an der Überprüfung des Gesetzes beteiligt sind. Kollege Nooke ist schon weg. Er weiß Bescheid über die „führende Rolle“; ich auch. ({3}) Aber dass das so unverblümt in ein Gesetz hineingeschrieben wird, halte ich für eine Novität. ({4}) Abschließend möchte ich sagen: Sie mögen mit dieser Änderung vielleicht ehrlicherweise öffentlich machen, wie dieses Gesetz entstanden ist, aber diese vorsätzliche Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie kann man so nicht durchgehen lassen. Wir bieten mit unserem ausführlichen Änderungsantrag eine Chance, das anders zu machen, auch wenn dadurch vielleicht nur eine zweitbeste Lösung herbeigeführt wird. Das von Ihnen bisher Betriebene können wir aber auf keinen Fall unterstützen. Danke schön. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Monika Ganseforth für die SPD-Fraktion.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich bin eine überzeugte Anhängerin der Demokratie. Die heutige Debatte zeigt, wie wichtig es ist, dass aus einer Regierung eine Opposition und aus einer Opposition eine Regierung wird, damit man einmal die andere Seite kennen lernt. ({0}) Was ich heute von der rechten Seite, also denen, die vorher die Regierung gestellt haben, an Verfahrenskritik gehört habe, fand ich richtig gut; denn wir haben lange genug unter der Arroganz gelitten, mit der Sie vorgegangen sind. Es gibt natürlich Prozesse, die man durchlaufen muss und die wir jetzt kennen lernen. Wir wissen nun, dass manches nicht so idealtypisch läuft, wie es laufen sollte. Die Demokratie gibt den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit, diese beiden Rollen zu vergeben. Ich hoffe, dass Sie noch sehr lange in Ihrer jetzigen Rolle sind, in der Sie sich über unsere Verfahrensschritte beschweren können. ({1}) Wir haben gestern in diesem Hause über fünf Anträge zur Klimapolitik debattiert. Dabei ging es um die Ratifizierung des Kioto-Protokolls. Eine Forderung des ganzen Hauses war, dass die Einhaltung des nationalen Klimaschutzzieles gelingt. Dabei bestand großes Einvernehmen, wie es schon Tradition hatte, als wir noch in der Opposition waren. Bei der Klimapolitik waren wir uns immer einig. Deutschland steht in der Pflicht, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 um 25 Prozent, bezogen auf das Jahr 1990, zu reduzieren. Das hat der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Jahr 1992 auf der Rio-Konferenz vor der Weltöffentlichkeit versprochen und in Berlin wiederholt. Als wir an die Regierung kamen, haben wir festgestellt, dass wir, wenn wir so weitermachen, wie Sie es vorbereitet haben, das Ziel grandios verfehlen. Es muss also noch viel getan werden. ({2}) In diesem Zusammenhang verabschieden wir heute ein weiteres Kernstück der Klimapolitik zur Erreichung dieRolf Kutzmutz ses anspruchsvollen Reduktionszieles, nämlich das KWK-Gesetz. Dabei geht es nicht um Klientelpolitik, sondern darum, das zugesagte Klimaschutzziel zu erreichen. Klimaschutz kann ohne Kraft-Wärme-Kopplung nicht erfolgreich sein. Normalerweise werden bei der Stromerzeugung deutlich weniger als 50 Prozent der eingesetzten Primärenergie genutzt. Wenn man die Wärme aber auskoppelt und nutzt, kann man den Wirkungsgrad ungefähr verdoppeln. Man kann also eine wesentlich größere Effizienz und damit eine CO2-Reduktion erreichen. Um einem Vorurteil abzuhelfen, will ich noch einmal sagen: Kraft-Wärme-Kopplung muss nicht auf dem Energieträger Gas basieren, Wärme kann auch aus Kohlekraftwerken ausgekoppelt werden. So haben wir in meiner Heimatstadt Hannover ein Steinkohlekraftwerk mit einer Kraft-Wärme-Kopplungsanlage, was damals gegen den massiven Widerstand der zentralen Energieanbieter durchgesetzt worden ist. ({3}) Kraft-Wärme-Kopplung muss also nicht unbedingt auf dem Energieträger Gas basieren; eine mit Gas betriebene Anlage ist natürlich effizienter, aber im Prinzip handelt es sich um eine Verbesserung des Wirkungsgrades durch eine bessere Ausnutzung der eingesetzten Energie. Auf jeden Fall verlangen aber Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen eine räumliche Nähe zu den Wärmeabnehmern. Insofern handelt es sich um eine dezentrale Energieversorgung, die auf einer anspruchsvollen Technik basiert und Arbeitsplätze vor Ort schafft. Damit steht diese Energieform natürlich in Konkurrenz zu importiertem oder in Großkraftwerken erzeugtem Strom. Natürlich gibt es Grenzen für diese Technik, weil der Wärmebedarf begrenzt ist. Bei uns kommen etwa 12 Prozent des Stroms aus Anlagen mit Wärmeauskopplung. Daran, dass es in anderen Ländern, zum Beispiel in Finnland, Dänemark, Österreich oder auch in Holland eine deutlich höhere Ausnutzung, nämlich das Zwei- oder Dreifache unserer Ausnutzung gibt, sieht man, dass wir noch lange nicht an der Grenze sind ({4}) und dass Kraft-Wärme-Kopplung wesentlich stärker genutzt werden könnte, auch um Klimaschutzziele zu erfüllen. ({5}) Leider sieht die Realität unter den Bedingungen des liberalisierten Strommarktes anders aus: Vorübergehend sind die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen unökonomisch geworden. Bei einem Neubau sind Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen durchaus genauso ökonomisch wie andere Anlagen; zurzeit aber, da Strom nur noch zu kurzfristigen Grenzkosten angeboten wird, besteht ein enormer Druck auf Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Wir haben mit dem Kraft-Wärme-Kopplungs-Vorschaltgesetz versucht, dem vorzubeugen. Es ist allerdings richtig, dass der Zubau stagniert und Anlagen bereits stillgelegt wurden. Dabei sind diese durchaus ökonomisch. Es geht darum, die Zeit zu überbrücken, bis die Energiepreise wieder ein realistisches Niveau erreicht haben und nicht nur die Grenzkosten abdecken. Aus Klimaschutzgründen, aber auch wegen der Arbeitsplätze, die mit dieser Technologie verbunden sind, müssen wir dafür sorgen, dass beim Abbau der Überkapazitäten die Kraft-Wärme-Kopplung nicht unter die Räder kommt. Darum geht es; das haben aber auf der rechten Seite des Hauses viele nicht begriffen. Es geht nicht um Steuermittel, mit denen irgendwo subventioniert wird, sondern darum, die Zeit zu überbrücken, bis der Verdrängungswettbewerb auf dem Strommarkt ausgestanden ist. Deswegen haben wir eine degressive und zeitlich begrenzte Förderung für modernisierte und für bestehende effiziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen vorgesehen. Das ist ein neues Instrument; Sie haben nie mit degressiven Zuwendungen gearbeitet. Ich verstehe nicht, wie Herr Hirche oder Herr Schauerte von Steuersubvention sprechen können. Hier werden keine Steuergelder eingesetzt. Das würde Europa auch nicht akzeptieren; das wäre nicht zulässig. ({6}) - Sie haben von Steuern gesprochen; darüber habe ich mich auch gewundert. ({7}) Wir wollen aber nicht nur den Bestand schützen, sondern auch den Zubau kleiner, dezentraler Kraft-WärmeKopplungsanlagen mit weniger als 50 kW elektrischer Leistung fördern. Kleine Blockheizkraftwerke, die bis zum 31. Dezember 2005 in Dauerbetrieb genommen werden, werden in den ersten zehn Jahren pro eingespeister Kilowattstunde einen Zuschlag von 5,11 Cent bekommen. Das ermöglicht diesen Anlagen den Durchbruch auf dem Markt. Dabei darf man nicht vergessen, dass die kleinen BHKWs überwiegend den Strom selber nutzen: Aber der überschüssige Strom, der eingespeist wird, wird über zehn Jahre mit 5,11 Cent unterstützt. Ich hoffe, dass daraufhin nun der Durchbruch gelingt und in vielen Kellern von Mehrfamilienhäusern und anderen Objekten kleine Blockheizkraftwerke installiert werden. Diese sichern Arbeitsplätze und erzeugen effiziente Energie. Außerdem ist die Weiterentwicklung dieser Technologie für den Standort Deutschland ganz wichtig. ({8}) Sie werden wahrscheinlich mit unserem Gesetz so umgehen, wie wir es von Ihrer Seite gewöhnt sind: Sie behaupten, Sie wollten eine nachhaltige Versorgung und Klimaschutz, aber immer, wenn es konkret wird, finden Sie durchsichtige Argumente und sind mit den Maßnahmen nicht einverstanden. Natürlich sind Wünsche offen geblieben. Natürlich könnte man das eine oder andere auch anders machen. Aber kein Gesetz ist vollkommen, auch dieses nicht. Und das dient Ihnen als Vorwand, es abzulehnen. ({9}) Das war beim Erneuerbare-Energien-Gesetz so, das war bei der Ökosteuer so, das war bei der Energieeinsparverordnung so, das war beim KWK-Vorschaltgesetz so und das wird auch beim Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, das wir heute verabschieden, so sein. Sagen Sie doch nicht, wenn wir das eine oder andere noch annähmen oder änderten, würden Sie zustimmen. Sie wollen gar nicht zustimmen. ({10}) Die Menschen haben es satt, dass Sie nur kritisieren, dass Sie aber niemals sagen, was Sie wollen, ({11}) wie Sie eine nachhaltige Energiepolitik gestalten wollen, wie Ihre Klimaschutzstrategie aussieht. Das sagen Sie nicht, Sie kritisieren nur. Wir können uns jedenfalls mit unseren Maßnahmen zum Klimaschutz sehen lassen. Heute gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Schönen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Kurt-Dieter Grill für die CDU/CSU-Fraktion.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will gleich sagen: Der Kollege Walter Hirche hat zwar von Steuersubventionen gesprochen, aber er hat die Verbraucher gemeint. Wir haben begriffen, Frau Kollegin Ganseforth, dass Sie wirklich keine Steuern einsetzen, sondern dass Sie den Verbraucher mit zusätzlichen Abgaben belasten. Damit ist das Ganze richtig gestellt. Das Zweite ist eine Bemerkung zum Thema Demokratie. Sie haben uns das Ganze am Mittwoch um 8.43 Uhr vorgelegt und in den Ausschüssen erklärt, das sei wegen des Zieles zu vertreten. ({0}) Am gleichen Tag hat der Bundesrat mit den Stimmen der SPD-regierten Länder wegen der vollkommen überhasteten Beratung der Vorlagen die Fristverkürzung auf den 1. Februar verweigert. Nun wird das Gesetz doch später fertig. Der Bundesrat hat uns in unserer Kritik am Verfahren, die wir am Mittwoch vorgebracht haben, eigentlich bestätigt. Die Kollegin Hustedt hat hier vorgetragen, wir wollten keine Förderung. Ich glaube, wir müssen uns einmal darüber unterhalten, dass die Frage der Förderung das eine ist. Was wir hier massiv kritisieren, ist - das ist das andere - der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ist die Art und Weise, die Sie gewählt haben. Ich sage Ihnen, da Sie gestern hier so großartig über den Zertifikatshandel gesprochen haben: Der von Ihnen eingeschlagene Weg führt zur Blockade des Zertifikatshandels, weil Sie das Gesetz so langfristig angelegt haben, dass der Zertifikatshandel nicht noch oben drauf passt. Damit schaffen Sie mittel- und langfristig ein Problem. ({1}) Der Kollege Jung hat eine Reihe von Dingen vorgetragen, von denen ich nur zwei aufgreifen will. Sie haben gesagt: Die Erzeugungskapazitäten gehen zurück. - Das hat mit dieser Frage überhaupt nichts zu tun. ({2}) Das alles hat auch überhaupt nichts mit Versorgungssicherheit zu tun. Sie waren doch diejenigen, die die Monopolstrukturen mit ihren Überkapazitäten kritisiert haben. Jetzt wird abgebaut und das ist auch wieder falsch. Was ist denn richtig? Sie haben weiter von Ballungsgebieten und ländlichen Räumen gesprochen. Auch diese Begriffe passen auf dieses Gesetz überhaupt nicht. Ich komme auf einen Punkt in diesem Zusammenhang zurück. Der Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, stimmt mit den Grundsätzen der Energiepolitik, die die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage dargelegt hat, auch nicht im Ansatz überein. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sehen, so denke ich, die Marktwirtschaft als Grundprinzip des Wettbewerbs bei Strom und Gas. Investitionslenkung durch den Staat passt nicht für eine Energiewirtschaft, die sich unter europäischen Wettbewerbsbedingungen bewähren muss. Staatsferne und langfristig Subventionsfreiheit der Energiewirtschaft in Deutschland sind die Ziele, die von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU postuliert worden sind. Sie entfernen sich mit jedem Gesetz, das Sie zur Energiewirtschaft vorlegen, von genau diesen Zielen, weil Sie im Prinzip an die Stelle der Monopole eine staatsinterventionistische Politik setzen. ({3}) Ich denke, dass das für das KWK-Gesetz an vielen Stellen beweisbar ist. Ich möchte dazu einige Bemerkungen machen. Ich muss aber noch eines vorweg sagen: Herr Kollege Kutzmutz, haben Sie hier auf 10 000 von Stadtwerkern oder Stadtwerken hingewiesen? ({4}) - Ah ja. - Diesbezüglich möchte ich erstens darauf hinweisen, dass es in Deutschland etwa 950 Stadtwerke gibt, von denen aber nur etwa 50 eine erkleckliche Eigenerzeugungskapazität aufweisen. Insofern, Herr Kollege Jung, reden wir hier über ein Subventionsgesetz für einen Teil der Kommunen. Der übrige Teil - wie ich das aus meinem Land kenne - schreibt Stromeinkäufe aus, um möglichst niedrige Preise zu haben. Das sind Kommunen, die nicht in einem Ballungsgebiet, sondern im ländlichen Raum liegen. Diese müssen genau das bezahlen, was Sie in das Gesetz hineinschreiben. Bei der Einbringung des Gesetzes haben Sie selber gesagt: Wir schonen den einen Teil der Wirtschaft und verteilen die Kosten auf die anderen. - Diese „anderen“ sind aber eben die Kommunen, die keine Eigenerzeugung haben und daher von Ihrem Gesetz nicht profitieren können. ({5}) Zweitens. Der KWK-Anteil liegt im Osten bei 30 Prozent und im Westen bei 6 Prozent. Sie lassen diese 30 Prozent im Osten aus, denn diese werden von Ihrem Gesetz nicht erfasst, da sie allesamt nach 1990 neu gebaut worden sind. Der Osten finanziert also den Westen. Das beste Beispiel dafür ist Infra-Leuna. Sie sollten sich schämen, dass Sie ein solches Gesetz auf den Weg bringen! ({6}) Man kann nicht nur die Kraft-Wärme-Kopplung sehen, sondern muss auch den Zusammenhang zwischen Ökosteuer, Stromsteuer, KWK und EEG sehen. In der wirtschaftspolitischen Debatte beklagen Sie sich über den Schwund an Kaufkraft. Gleichzeitig stehen Sie in der Nähe der Gewerkschaften mit hohen Lohnforderungen. Aber an dieser Stelle sorgen Sie - wenn man alles zusammennimmt - in einer extremen Art und Weise für die Abschöpfung von Kaufkraft, was Sie auf der anderen Seite als wesentliche Ursache für die zurzeit schlechte wirtschaftliche Situation beklagen. Sie selber schöpfen Kaufkraft ab und nutzen den Verbraucher aus. Einige Bemerkungen zu dem, was Frau Hustedt vorhin über die Industrie gesagt hat: Ich habe eine Reihe von Gesprächen geführt. Es waren sicherlich andere Gespräche als die, die Sie geführt haben. Angesichts dessen, was mir die Industrieunternehmen zum KWK-Gesetz gesagt haben, ist die Klage nichts anderes gewesen als das, was Sie als Begründung für Ihr kommunalorientiertes Gesetz vorlegen. Anlagen sind stillgelegt worden. Das wissen Sie doch auch. Ignorieren Sie dies doch nicht. ({7}) In der Industrie sind KWK-Anlagen stillgelegt worden und Sie haben dafür keinen Finger gerührt, weil Sie wussten, dass das Ganze dann wirklich nicht mehr bezahlbar wäre und die strukturelle Schwäche Ihres Gesetzentwurfes mehr als deutlich werden würde. ({8}) Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, dass Sie über Forschung, Technik und Innovation reden. 50-kW-Anlagen können Sie demnächst bei OBI kaufen. Das ist doch nichts Neues. Im Grunde genommen machen Sie mit der Förderung dieser 50-kW-Anlagen die Brennstoffzellenentwicklung kaputt. ({9}) Das ist ein Widerspruch in Ihrem Gesetzentwurf. Es gibt aber noch mehr. ({10}) - Ja, so ist das, wenn man grüne Politik macht. Ich sage noch einmal: Mit dem Vorschaltgesetz haben Sie 1 bis 2 Millionen Tonnen CO2 mehr produziert. Sie werden Ihre Ziele hinsichtlich der Verringerung der CO2Emissionen vielleicht durch die Stilllegung von Kernkraftwerken erreichen, welches bisher Ihre einzige Tat im Hinblick auf eine emissionsarme Stromproduktion ist. ({11}) Wenn ich alles zusammennehme, die Ausnahmeregelung und die Verbürokratisierung von Energiepolitik, die mit diesem Gesetz einhergehen, kann ich nur sagen: Ich halte den nordrhein-westfälischen Bauminister Vesper von den Grünen für ein besonderes Schmankerl. Dieser hat es nämlich unter Hinweis auf die nicht verantwortbare Strompreiserhöhung durch EEG und KWK abgelehnt, diese Strompreiserhöhung zu bezahlen, weil es das Land Nordrhein-Westfalen viel zu teuer kommt. Recht hat der Junge. Er leidet unter Ihrer Politik. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Jung das Wort.

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von den Rednern der Opposition ist viel Falsches gesagt worden. Das kann ich jetzt nicht mehr aufarbeiten. Mindestens einen Vorwurf darf man aber nicht hier im Raum stehen lassen, nämlich den, dass wir die Kraft-Wärme-Kopplung in den neuen Bundesländern diskriminieren und die Anlagen dort, wie es Herr Grill eben zum Ausdruck gebracht hat, im Regen stehen lassen. ({0}) Wir differenzieren zwischen den Anlagentypen. Einerseits gibt es Anlagen, die vor 1990 gebaut worden sind - diese befinden sich in erster Linie im Westen und erhalten eine Förderung bis zum Jahre 2004 -, und andererseits solche, die sich in den neuen Bundesländern befinden. An denen ist im Übrigen momentan nichts zu modernisieren, weil sie auf dem neuesten Stand sind. Diese werden bis zum Jahre 2009, und zwar mit vergleichbaren Sätzen, gefördert. Das heißt, wir haben genau diesen Punkt im Augenmerk. Wir finden dort eine saubere Lösung, die auch alle Betreiber begrüßen. Insofern muss das hier Gesagte aus der Welt geräumt werden. Danke. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung, Herr Kollege Grill, bitte.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Jung, ich bleibe bei meiner Auffassung und meiner Analyse dieses Gesetzentwurfes. ({0}) - Dass Ihnen das nicht passt, kann ja sein. Sie werden mir aber nicht verbieten können, eine eigene Analyse vorzunehmen. Wenn Sie sich heute nicht für das schämen, was Sie bei Infra-Leuna getan haben, tun Sie mir schlicht und einfach Leid. Sie haben in dieser Frage gegen den Osten gehandelt. Ende der Durchsage! ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Kraft-WärmeKopplungsgesetzes in der Ausschussfassung, Drucksachen 14/7024, 14/7086 und 14/8059. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen werden. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 14/8080? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion, FDP-Fraktion und PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion, FDP-Fraktion und PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Sicherung und zum Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung, Drucksache 14/2693. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/8048, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die dritte Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Dr. Maria Böhmer, Horst Seehofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Anwendung von Gentests in Medizin und Versicherungen - Drucksache 14/6640 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kollegin Katherina Reiche für die CDU/CSU-Fraktion. - Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die den Saal jetzt verlassen müssen, dies relativ schnell zu tun, damit die erste Rednerin die entsprechende Aufmerksamkeit erhalten kann.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Herausforderungen, vor die uns die moderne Biomedizin stellt, gehört auch der Umgang mit genetischen Daten. Die Erforschung des menschlichen Genoms hat in den letzten Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts und die daraus resultierende Entwicklung von Gentests können zu beachtlichen Fortschritten im Bereich der Diagnose, der Prävention und der Therapie genetisch bedingter Krankheiten führen. Schon heute lassen sich Krankheiten vor dem Auftreten klinischer Symptome sowie entsprechende Veranlagungen feststellen. Diese Besonderheit genetischer Untersuchungen eröffnet im Vergleich zu anderen Analysen die Möglichkeit der präsymptomatischen Medizin. Während nach einer Studie des Instituts „Hamburger Forschungsschwerpunkt“ 1996 bundesweit 150 000 Analysen auf biochemischer Basis vorgenommen wurden, waren es zwei Jahre später bereits 300 000. Immer mehr Testangebote kommen auf den Markt. Bald wird der Genchip Realität sein. Bei diesen verschiedenen Testmöglichkeiten unterscheiden wir diagnostische und prädiktive Gentests. Während die Untersuchung mittels eines diagnostischen Gentests der Bestätigung einer bestehenden Diagnose dient, verstehen wir unter einem prädiktiven Test eine vorhersagende Untersuchung auf das Vorliegen einer Erbgutveränderung. Das heißt, bei einem prädiktiven Gentest wird ein Gesunder darauf untersucht, ob er die VeranVolker Jung ({0}) lagung für eine bestimmte Erkrankung trägt und mit welcher Wahrscheinlichkeit er erkranken könnte. Unser Antrag bezieht sich im Folgenden auf die Problematik der prädiktiven Tests. Wir zweifeln in keiner Weise die neue Qualitätsstufe der modernen medizinischen Analysetechnik mittels diagnostischer Tests an. Prädiktive Tests sind jedoch von zwei Seiten zu betrachten. Sie bringen auf der einen Seite eine Fülle neuer Diagnosemöglichkeiten. Diese führen zu einem genaueren Verständnis und damit zu einer genaueren Kenntnis von Krankheit und Fehlentwicklung. Sie ermöglichen eine Verbesserung von Krankheitsprävention im Sinne einer Verhütung oder Verzögerung des Krankheitsausbruchs. Selbst bei Erberkrankungen oder Entwicklungsstörungen, deren Auftreten durch vorbeugende medizinische Behandlung nicht verhindert werden kann, bzw. für solche, die nicht behebbar sind und für die es noch keine Therapien gibt, eröffnet eine verbesserte prädiktive genetische Diagnostik betroffenen Personen bzw. Familien die Möglichkeit, bei Ausschluss oder bei Nachweis einer schwerwiegenden Störung Entscheidungen über die zukünftige Lebens- und Familienplanung zu treffen. Zudem wird es mithilfe von prädiktiven Gentests möglich sein, die Medikamentenverträglichkeit zu verbessern. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass wir uns als CDU/CSUFraktion auch mit dem Thema Pharmakogenetik bereits auseinander gesetzt haben. Aber genetische Untersuchungen werfen auf der anderen Seite gewichtige soziale und ethische Fragen auf. Das Wissen um seine gesundheitliche Zukunft kann einen Menschen stark belasten. Es ist schwer, mit einer negativen Diagnose umzugehen, wenn man die medizinische Tragweite nicht überblickt. Dies gilt insbesondere dann, wenn man das Testergebnis nicht einschätzen kann und qualifizierte ärztliche und psychologische Betreuung nicht in Anspruch genommen wird. Es ist zwar schon heute möglich, Gentests über das Internet zu beziehen. Jedoch hilft der Test als solcher nicht im Umgang mit der Auswertung der Ergebnisse, die es dann zu analysieren gilt. Genetische Untersuchungen bergen auch die Gefahr einer zunehmenden Abtreibung von Föten infolge der Feststellung von genetischen Anomalien mittels pränataler Diagnostik. In der Arbeitswelt betreffen die Vorbehalte insbesondere die Gefahr der Aushöhlung des objektiven Arbeitschutzes und die Gefahren einer Arbeitnehmerselektion bzw. -diskriminierung. So fragte beispielsweise ein Vertreter der ÖTV 1997 etwas provokant, ob es durch genetische Untersuchungen bald dazu kommen werde, olympiareife Belegschaften zusammenzustellen. Auch in der Versicherungswirtschaft stellt sich die Frage, ob Versicherungsinteressenten bei Vorlage eines Gentests noch in den Genuss einer normalen Versicherungsprämie kommen werden. Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen, dass niemand wegen seiner genetischen Disposition Nachteile beim Abschluss von Versicherungen erfahren muss. ({1}) Wir möchten vielmehr sicherstellen, dass die Möglichkeiten der Gentechnik dem Einzelnen zugute kommen, jedoch nicht durch Dritte zu seinem Nachteil missbraucht werden. Hierbei bedarf es der Orientierung am „informed consent“, das heißt dem Recht eines jeden Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung, der Respektierung des Gleichheitsgrundsatzes, der Vertraulichkeit, der Schweigepflicht, der Freiwilligkeit und einer umfassenden Aufklärung der Probanden durch qualifizierte Fachärzte. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Achtung der Würde und des Gefühls derjenigen Menschen Priorität, die von einer genetisch bedingten Erkrankung oder Disposition betroffen sind. Das Parlament ist deshalb aufgerufen, beim Umgang mit Gendaten Leitplanken zu setzen und die Entwicklung in gewünschte Bahnen zu lenken. Der Deutsche Bundestag als Gesetzgebungsorgan ist auch in dieser Frage aufgefordert, alle Entscheidungen zur Bio- und Gentechnik selbst zu treffen. ({2}) Im Gegensatz zu Deutschland existieren bereits in vielen europäischen Ländern spezifische Regelungen zur Anwendung von Gentests. Ich erinnere hier an unsere österreichischen Nachbarn. Dennoch muss man konstatieren, dass es in Europa keinen einheitlichen Umgang mit Gendaten gibt. Frankreich, Belgien, Österreich, Luxemburg und Norwegen haben die Nutzung von Gendaten zu Versicherungszwecken verboten. Das Parlament in Großbritannien hat jedoch erlaubt, den Test zur Feststellung der tödlichen Krankheit Chorea Huntington anzuerkennen und von Patienten einen entsprechenden Test zu verlangen. Mittlerweile gibt es im Inselstaat Anträge auf die Anerkennung weiterer Gentests, die zugelassen werden sollen. Seit Jahren wird auch hier darüber diskutiert, möglicherweise relevante genetische Informationen für die Abschätzung und Minimierung von Risiken zu verwenden. Die CDU/CSU-Fraktion legt Ihnen deshalb heute als erste Fraktion in diesem Hause einen Antrag zur Anwendung von Gentests in Medizin und Versicherungen vor, der einen Leitfaden für weitere gesetzliche Regelungen bilden soll. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass man den gläsernen Menschen verhindern will, sondern es ist jetzt notwendig, rechtliche Schritte einzuleiten. ({3}) Ohne Sie provozieren zu wollen, möchte ich Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, daran erinnern, dass Sie laut Ihrer Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 1998 die Bürgerinnen und Bürger vor einer möglichen Diskriminierung schützen wollen. Das ist völlig richtig und das unterstützen wir auch. In der Koalitionsvereinbarung heißt es: Wir werden den Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor genetischer Diskriminierung insbesondere im Bereich der Kranken- und Lebensversicherung gewährleisten. Dann mal los. ({4}) Schon die 62. Datenschutzkonferenz des Bundes und der Länder im Oktober vergangenen Jahres forderte den Deutschen Bundestag auf, genetische Untersuchungen am Menschen gesetzlich zu regeln. Wir sind dieser Aufforderung nachgekommen und haben in unserem Antrag einen umfangreichen Maßnahmenkatalog zum Schutz vor Missbrauch von Gendaten aufgestellt. Damit möchten wir sicherstellen, dass humangenetische Untersuchungen weder unmittelbar noch mittelbar erzwungen werden dürfen. Das Recht auf Nichtwissen von genetischen Daten schließt ein, dass weder Krankenversicherungen noch Lebensversicherungen vor dem Abschluss sowie während der Dauer eines Vertrages die Durchführung eines Gentests verlangen oder verwerten dürfen. ({5}) Jedem Menschen muss es freigestellt bleiben, ob und welchen Tests er sich unterzieht. Ebenso muss die Gefahr ausgeschlossen werden, dass Nutzer aus Angst vor einer möglichen Diskriminierung auf die Durchführung eines vom Arzt veranlassten medizinisch indizierten Gentests verzichten bzw. einen solchen anonym und ohne ärztliche Beratung vornehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal unterstreichen, dass Gentests und die entsprechende Beratung in die Hand von Fachärzten gehören und nur durch sie bzw. von entsprechend zugelassenen und qualifizierten Stellen durchgeführt werden dürfen. ({6}) Mittlerweile werden von den genetischen Laboren in Deutschland circa 200 bis 300 Gentests angeboten. Dem stehen allerdings nur 160 ausgebildete Fachärzte gegenüber. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik geht von einem bundesweiten Bedarf von mittelfristig 400 Fachärzten aus. Wir wollen auch, dass prädiktive Gentests im Rahmen von medizinischen Eignungsuntersuchungen weder vor dem Abschluss eines Arbeitsvertrages noch während der Dauer eines bestehenden Arbeitsverhältnisses verlangt, angenommen oder in irgendeiner Form verwertet werden dürfen. Eine Ausnahme könnte für die Fälle gelten, in denen mithilfe von prädiktiven Tests der Ausbruch einer Krankheit prognostiziert wird, durch die der Arbeitnehmer schlagartig funktionsunfähig wird und der plötzliche Ausfall am vorgesehenen Arbeitsplatz eine Gefährdung Dritter bedeuten würde. Grundsätzlich sind jedoch Regelungen notwendig, die die Freiwilligkeit und Vertraulichkeit von Gentests garantieren und dem Schutz der Arbeitnehmer dienen. ({7}) Unser Antrag berücksichtigt zudem die Forderung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Joachim Jacob, unerlaubte Gentests unter Strafe zu stellen. Die Bundesregierung ist nun aufgefordert, auf der Grundlage dieser Eckpunkte einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen. Vielen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg für die SPD-Fraktion.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, dass sich die CDU/CSU-Fraktion Gedanken gemacht hat und ein Papier in den Deutschen Bundestag einbringt, in dem sie uns ihre Vorstellungen darlegt. ({0}) Aber die CDU/CSU-Fraktion ist nicht die erste Fraktion, die sich Gedanken macht, Frau Reiche. ({1}) Das ganze Haus hat sich bereits zu diesem Thema Gedanken gemacht. Sie wissen, dass es eine Enquete-Kommission gibt, in der alle Fraktionen mitarbeiten, und dass das Thema des Schutzes von genetischen Daten eines der wichtigsten Themen ist, das in der Kommission behandelt wird. Die Enquete-Kommission hat kürzlich ihren Teilbericht zu diesem Thema beschlossen. Er wird noch vor der Sommerpause hier debattiert werden. Er liegt derzeit als Material vor und ich habe mit Freude festgestellt, dass Sie diesen Bericht als Steinbruch für Ihre Vorlage benutzt haben. Darin gibt es wenig Widersprüche. Allerdings haben Sie die einzelnen Punkte und Ergebnisse bisher unvollständig eingearbeitet. Das kann man noch besser machen. Das wollen wir auch. ({2}) Ich finde es schön, dass wir vom ganzen Hause Rückenwind bekommen; denn wir müssen ein Gentestgesetz auf den Weg bringen. Wir sollten uns bemühen, zumindest die Dinge, die wir noch schaffen können, in Angriff zu nehmen. Die Themen „Gendaten“ und „Schutz von Gendaten“ sind sehr umfangreich. Heute diskutieren wir nur über einen Teilbereich, nämlich den der medizinischen Daten. Schon hier gibt es unterschiedliche Anwendungsbereiche. Im Bereich der Reproduktionsmedizin müssen die offenen Fragen der Präimplantationsdiagnostik - das haben wir neulich in der Anhörung schon getan - mit den Fragen der Gentests verknüpft werden. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es inzwischen Gentests gibt, mit deren Hilfe sich im Rahmen eines einzigen Laboreinsatzes viele Tausend genetische Unterschiede beim Menschen feststellen lassen. Wir haben auf Island eine Halle voll mit Maschinen gesehen, mit denen versucht wird, das Genom der Isländer zu analysieren. Mit einem Mikrochip können 6 000 bis 8 000 unterschiedliche Merkmale automatisiert ausgewertet werden. Solche Tests kann man natürlich auch bei Embryonen durchführen, bevor sie eingepflanzt werden. Das zeigt die Brisanz dieses Themas. Was sind eigentlich genetische Daten? Genetische Daten sind Aussagen über körperliche Unterschiede von Menschen. Damit ist eine neue Nacktheit entdeckt worden; denn die genetischen Daten liefern viel tiefer gehende Aussagen über einen Menschen als zum Beispiel ein Foto. Bedenken Sie, wie hoch schon - und zwar zu Recht - die rechtlichen Hürden für die Veröffentlichung von Fotos sind und wie sehr das Recht am eigenen Foto geschützt ist! Die genetischen Daten sind noch viel schützenswerter, weil es sich um intime Daten handelt, die nicht nur für die Person, die genetisch untersucht worden ist, wichtig sind. Vielmehr lassen diese Daten auch eine Beurteilung der Eltern und der Kinder dieser Person zu; denn diese Daten sind vererbbar. Daher sind genetische Daten besonders schützenswert. All das müssen wir bei einer gesetzlichen Regelung berücksichtigen. Es stellen sich in diesem Zusammenhang aber folgende Fragen: Muss eine gesetzliche Regelung den medizinischen Bereich, die Humangenetik bzw. die Neonatologie, umfassen oder reicht eine entsprechende Regelung für den Versicherungs- und Arbeitsbereich? Sie sehen, wie vielfältig die Fragen sind. Das Ressort Arbeit und Soziales, in dessen Zuständigkeitsbereich der Arbeitsschutz fällt, muss die im Zusammenhang mit der Gentechnik erworbenen Kenntnisse in die bestehenden Regelungen einarbeiten. Das ist ein eigenes großes Arbeitsgebiet. Im Bereich der medizinischen Diagnostik muss bei der Marktzulassung von Tests darauf geachtet werden, dass die Kriterien, die es bereits für bestehende medizinische Tests gibt, entsprechend angepasst werden. Wir brauchen Gremien, die entscheiden, ob es sich um einen rezeptpflichtigen Test, der nur vom Arzt durchgeführt werden darf, oder ob es sich um einen Test handelt, der nur von ganz speziellen und auf ihre Qualifikation hin geprüften Instituten in Einzelfällen durchgeführt werden darf, unter welchen Bedingungen Tests durchgeführt werden dürfen und welche Beratungsmaßnahmen getroffen werden müssen. Es müssen also allein im medizinischen Bereich sehr viele Abgrenzungen vorgenommen werden. Wir haben schon oft über die Bedeutung von genetischen Daten im Zusammenhang mit der inneren Sicherheit diskutiert. Auch hier geht die Entwicklung weiter. Möglicherweise muss gesetzlich nachgebessert werden, um den Schutz der genetischen Daten sicherzustellen. Mein kleiner Aufriss ist nicht vollständig. Der Bericht der Enquete-Kommission ist vollständig und bietet eine gute Übersicht. Wenn der Bericht diesem Hause vorliegt, werden wir über das Thema der genetischen Daten und ihres Schutzes erneut debattieren. Ich denke, dass sich das ganze Haus der Problematik und seiner Verantwortung bewusst ist. Wir werden noch in diesem Jahr versuchen - das kann ich zumindest für meine Fraktion versprechen; es gibt aber auch entsprechende Signale aus der Regierung -, Vorarbeiten im Bereich des BMG - es hat bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt - und des Justizministeriums - hier geht es vor allen Dingen um das Versicherungswesen - zu leisten, die in einen Gesetzentwurf münden werden. Ob ein solcher Gesetzentwurf noch in diesem Jahr vorgelegt werden kann, hängt davon ab, wie schnell wir das Ganze gemeinsam über die parlamentarischen Hürden bringen. Ich bedanke mich jedenfalls bei allen Fraktionen für die Wachsamkeit und für den Kooperationswillen, der deutlich zu erkennen ist. Vielen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Detlef Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal meiner Freude Ausdruck geben, dass ich vor einem rein weiblichen Präsidium reden darf. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen für die Art und Weise, wie wir hier im Parlament miteinander umgehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Solange wir hier oben keine Gentests über uns ergehen lassen müssen, ist das in Ordnung. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir sind uns einig, Frau Präsidentin, dass wir an dieser Stelle enge Grenzen ziehen wollen. Nach dem 11. September ist vieles in unserem Land anders geworden. Auch der Datenschutz ist in eine Schieflage geraten. In seinen Sicherheitspaketen hat Innenminister Schily vom Schutz persönlicher Daten in manchem Bereich mehr preisgegeben, als uns lieb war. Datenschutz darf aber nicht zur Verfügungsmasse aktueller politischer Tagesereignisse werden, welche Dimensionen sie auch haben mögen. ({0}) Das gilt für die uns geläufigen Datenerhebungen, Herr Tauss. Das gilt aber noch viel mehr für genetische Daten. ({1}) Sie müssen mit noch größerer Sensibilität behandelt werden. In diesem Punkt sind wir uns alle einig. Deshalb ist es richtig, dass wir uns heute auf der Grundlage des CDU/CSU-Antrages mit diesem Zukunftsthema befassen. Das individuelle genetische Profil, das zum Beispiel durch DNA-Chips entwickelt werden kann, kann zu einem persönlichen Schicksal werden. Kollege Wodarg hat schon auf die Familienbezüge und auf die Probleme hingewiesen, die daraus entstehen können. Wir müssen also die Frage beantworten, wie wir Stigmatisierung, unter Umständen sogar Diskriminierung, aufgrund bestimmter individueller genetischer Risiken vermeiden können und wie wir auf der anderen Seite dafür sorgen können, die Pharmakogenomik und individuelle genetische Diagnostik zu einem Konzept neuartiger, auf das persönliche Profil des Patienten zugeschnittener, verbesserter Arzneimitteltherapie zu verbinden. Ob dazu ein Gentechnikgesetz, wie von der Union gefordert, der richtige Lösungsweg ist, möchte ich heute nicht abschließend bewerten. Zudem stellt sich die Frage, wie tief greifend es sein müsste. Die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnik“ hatte vor einigen Jahren davon noch Abstand genommen. Zahlreiche von Bundesregierung und Landesregierungen eingesetzte Kommissionen haben die Herstellung von Rahmenbedingungen zur Gewährleistung individueller, informierter und autonomer Entscheidungen für oder gegen die Durchführung genetischer Diagnostik betont. Für die FDP ist vor allem eines wichtig - das kommt im vorliegenden Antrag nicht so deutlich zum Ausdruck, wie wir das für wünschenswert halten, Frau Kollegin Reiche -: Für die Durchführung jeder Art von Gentests muss die Beratung unabdingbare Voraussetzung sein. Ergebnisse solcher Gentests können, wie vorher schon einmal betont, schicksalhaft sein. Deswegen muss jeder Bürger vor der Einwilligung über die möglichen Implikationen und gegebenenfalls schwierigen Situtationen nach einem Gentest gründlich aufgeklärt sein. ({2}) Das Recht auf Nichtwissen ist ein hohes Gut, das wir nicht antasten dürfen. Deshalb begrüßen wir auch die Selbstverpflichtung der Versicherungswirtschaft, zunächst bis zum Jahr 2006 die Finger von jeglicher Art von Gentests zu lassen. Das ist ein gutes Beispiel; die Arbeitgeber sollten diesem Beispiel folgen. Dann haben wir genug Zeit, die rasante Entwicklung der Gentechnik in Ruhe zu verfolgen und einzuschätzen. Ob ein Gentechnikgesetz nach dem Muster Österreichs oder der Schweiz erarbeitet werden soll, wird sich dann noch zeigen. Dieser Gesetzentwurf muss sicher viele Elemente aus Ihrem vorliegenden Antrag enthalten, Frau Kollegin Reiche. Für die FDP sollen - noch einmal zusammengefasst - unter anderem folgende Prinzipien neben der herausragenden Bedeutung der Beratung zur Geltung kommen: Die Nutzung von Gendiagnostik sollte auf medizinische Zwecke beschränkt sein. Auf jeden Fall sollte der Arztvorbehalt bzw. eine fachärztliche Qualifikation gewährleistet sein. Aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt sich, dass die Weitergabe der Daten nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Einzelnen erfolgen darf. Außerdem muss die Qualitätssicherung von Beratung und Diagnose durch staatliche Zulassung der Einrichtungen sichergestellt sein. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen, was die Diskussion der ethischen Fragen betrifft, die wir in der nächsten Woche in diesem Hause debattieren. Ich halte es für nicht in Ordnung, dass in verschiedenen Gremien die gleichen Fragen diskutiert werden. Außerhalb des Parlamentes geschieht dies im Nationalen Ethikrat, der vom Bundeskanzler einberufen worden ist. Wir als Deutscher Bundestag sollten darauf achten, dass die ethischen Fragen, die die Bevölkerung betreffen, hier im Bundestag diskutiert, beraten und entschieden werden und dass keine Nebengremien wie der Nationale Ethikrat die Diskussion bestimmen, die wir im Parlament anders führen würden. Danke. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Herr Kollege Parr, ich will nicht sagen, dass sich mein Beitrag nun erübrigt hat - wahrlich nicht -, aber in der Tat gehe ich mit Ihren Ausführungen im Wesentlichen konform. Die Tatsache, dass es neue diagnostische Möglichkeiten gibt, die die genetische Beschaffenheit eines Menschen entschlüsseln, bedeutet nicht, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland gänzlich neue gesetzliche Rahmensetzungen brauchen, um den Schutz vor Diskriminierung und um eine sachgerechte medizinische Anwendung zu gewährleisten. Dennoch bin ich der Auffassung, dass es richtig und wichtig ist, uns im Parlament intensiv damit zu befassen, insbesondere deshalb, um der Bevölkerung die Sicherheit zu geben, dass wir alles tun, um Missbrauchspotenziale zu vermeiden. Welche Kriterien sind dafür wichtig? Am meisten beschäftigt die Menschen die Sorge, dass das Wissen, das im Rahmen der medizinischen Diagnostik erworben wird, an Versicherungen oder Arbeitgeber weitergegeben werden könnte und sie aufgrund dieses Wissens dann Diskriminierungen ausgesetzt sind. Wenn wir als Gesetzgeber uns in der Frage des Regelungsbedarfs orientieren, dann kommen wir zu der Tatsache, dass das Diskriminierungsverbot im Grundgesetz steht. Es ist also sehr wichtig, dass wir auf Folgendes hinweisen: Selbst genetisch bedingte Behinderungen dürfen im Versicherungsrecht kein Kriterium sein, das zu Benachteiligungen führt. Das ist grundlegend. ({0}) Das sind Orientierungen, die den Arbeitgebern bekannt sind. Ich als Frau möchte betonen: Wir haben eine gute Rechtssicherheit erreicht in der Hinsicht, dass von Arbeitgebern die Überprüfung der Frage, ob eine Schwangerschaft vorliegt, nicht verlangt werden darf. Nicht anders sollte es sich mit Gentests verhalten. Es gilt also, das neue Problem in den hochrangigen Schutz einzureihen, den wir in vergleichbaren Fragen schon haben. Man muss nicht immer alles neu machen; unter Umständen muss man es allerdings vervollkommnen. Sehr wichtig ist - das wird oft vergessen -, dass die gesetzliche Krankenversicherung für die Patienten den maximalen Schutz bietet, den ein Versicherungssystem überhaupt geben kann, weil es völlig irrelevant ist, welche genetisch bedingte oder nach prädiktiven Tests zu erwartende Erkrankung eintritt. Durch das Sachleistungsprinzip und den Ausschluss von Versicherungspolicen als Grundlage der Versicherung ist eine Diskriminierung innerhalb der GKV für die Versicherungsgeber nicht nur finanziell völlig unattraktiv; sie ist auch von der Sache her nicht möglich. Daher ist dort, wo 90 Prozent der Bevölkerung versichert sind, der größte Schutz vorhanden. ({1}) An diesem Schutzniveau müssen sich auch die privaten Krankenversicherungsträger orientieren, um keine Benachteiligung von privat Versicherten zu realisieren. Bei der privaten Versicherungswirtschaft - sie hat sich einer Selbstverpflichtung unterworfen; das würde ich niemals als Freikauf von nötig werdenden Gesetzen betrachten ({2}) erstaunt mich - das ist eigentlich mehr ein logisches, ein intellektuelles Problem -, dass man überhaupt auf die Idee kommt, es könnte sinnvoll sein, durch ein Screening oder durch die Offenbarung der genetischen Disposition eines Menschen Kenntnisse zu erlangen. Die Tatsache, dass Menschen um ihre genetische Disposition wissen, ändert ja nichts daran, dass die Krankheit eintritt; sie träte auch ein, wenn sie nicht um diese Disposition wüssten. An dem Versicherungsumfang und dem Eintritt des Versicherungsfalls ändert sich also nichts. Was ist nun das ökonomische Interesse privater Versicherungsträger, wenn sie doch Diskriminierung und Benachteiligung von genetischer Andersartigkeit ausschließen wollen? Wie wollen sie die Versicherungspolice anders berechnen, ohne diskriminierend zu sein? ({3}) Die Tatsache, dass Menschen genetisch verschieden sind und dass irgendwann eine Krankheit eintritt, ändert sich doch nicht dadurch, dass man die genetische Disposition kennt. Interessant ist das Wissen dann, wenn nach solchen prädiktiven Tests für die betreffende Person Primär- oder Sekundärprävention im Hinblick auf den Eintritt der Krankheit hilfreich ist. Gerade dies verweist darauf, dass wir Gentests ausschließlich im Rahmen des ärztlichen Behandlungsauftrages zulassen dürfen. Nur dort ist die Verschwiegenheit gewahrt, nur dort kann der „informed consent“ überhaupt hergestellt werden und nur dort ist ein Regelwerk vorhanden, um die iatrogenen Schäden zu begrenzen und zu vermeiden, die durch eine unsachgerechte Diagnostik bei der Patientin bzw. beim Patienten ausgelöst werden. Niemals dürfen Gentests frei verkäufliche Waren sein. Niemals darf man Gentests zu einem weiteren Marktsegment im ärztlichen Sektor machen. Denn aussagekräftige Gentests offenbaren nicht nur die genetische Disposition der getesteten Person, sondern greifen zugleich tief in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der genetisch Verwandten ein. Wegen dieses Selbstbestimmungsrechtes kommt es gerade bei der Gendiagnostik unausweichlich zu einem Grundrechtekonflikt unter genetisch verwandten Menschen. Ihr Recht auf Wissen müssen wir als Gesetzgeber genauso wahren wie ihr Recht auf Nichtwissen. Dies alles - damit möchte ich schließen - lässt sich nach meinem Dafürhalten im bestehenden Regelwerk des Gesundheitswesens am besten sachgerecht unterbringen. Daher bin ich sehr daran interessiert, dass wir in dieser Legislaturperiode mithilfe der Enquete-Kommission zu einem Gesetzgebungsverfahren kommen. Verfolgt man die von mir eben verfolgte Intention, dürften bei der Schaffung neuer rechtlicher Vorschriften die Probleme im Arbeits- und Versicherungsrecht eher als die Probleme im medizinischen Bereich vernachlässigt werden können. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Angela Marquardt für die PDS-Fraktion.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kurz nach der Bekanntgabe der so genannten Humangenomentschlüsselung im Sommer 2000 überschlugen sich die Presseerklärungen und es hieß, Rot-Grün werde Gentests von Versicherungen verbieten. Auch Frau Ministerin Bulmahn ließ sich damals mit dem Satz zitieren, die Politik könne nicht zulassen, dass Menschen aufgrund von Erbanlagen benachteiligt würden. Ich habe jetzt zur Kenntnis genommen, dass es vor der Sommerpause hierzu eine Vorlage bzw. Diskussionen geben soll. Bisher ist aber nichts passiert, obwohl es Diskussionsgrundlagen aus dem Büro für Technikfolgenabschätzung gibt und der Ethikbeirat ebenso wie die Enquete-Kommission hierfür Diskussionsgrundlagen geliefert haben. Insofern halte ich den Vorstoß der CDU/CSU und auch das Anliegen des vorliegenden Antrags für richtig. Ich teile die Auffassung, dass Gentests grundsätzlich an die Zustimmung des Betroffenen zu binden seien und dass deren Einsatz sowie die Verwendung ihrer Ergebnisse in bestimmten Bereichen auszuschließen seien. Wer die Diskriminierung von Menschen verhindern will, darf keine Lücken lassen. ({0}) Daher bin ich der Überzeugung, dass in der Arbeitswelt und bei Versicherungen Gentests umfassend verboten werden müssen. Eine Selbstverpflichtung halte ich in diesem Bereich für nicht ausreichend. Hierauf hat Frau Knoche zu Recht hingewiesen. ({1}) So richtig der Grundsatz ist, dass es eine freiwillige Zustimmung zu Gentests geben muss, wird dies allein die flächendeckende Ausbreitung von Gentests nicht verhindern. Letztlich wird dadurch auch keine Diskriminierung verhindert. Zu erinnern ist hier an die Durchsetzung der pränatalen Diagnostik seit den 70er-Jahren. Auch sie war freiwillig, stellte eine Sonderleistung dar und war anfangs auf so genannte Risikofrauen beschränkt. Heute ist sie im Grunde genommen eine Regelleistung geworden: ein nahezu flächendeckendes Screening mit einer strukturell eugenischen Folgewirkung. Dennoch erklärt die Humangenetik, sie habe damit nichts zu tun, und macht die individuellen Wünsche von Frauen oder Paaren verantwortlich. Der Humangenetik die Hoheit über Beratung und Durchführung genetischer Tests zu überlassen ist falsch. Nach meinem Dafürhalten müsste ein wirklich unabhängiges Beratungsnetz aufgebaut werden; denn es bleibt das grundlegende Problem der medizinischen Genetik, dass sie sich ihre eigene Nachfrage schafft. Durch die so genannte Entdeckung immer neuer Genkorrelationen mit bestimmten Erkrankungen oder Behinderungen gelten immer mehr Menschen als Risikopersonen. Dies wird einen Andrang auf Gentests auslösen. Es gibt unzählige Gene, die gerade mit Krebserkrankungen in Verbindung gebracht werden. Hier, glaube ich, offenbaren sich auch die Gefahren der Chip-Technologie: Sie wird nicht nur zu einer Datenflut führen, sondern auch das Aufspüren kleinster Auffälligkeiten begünstigen. Damit werden unzählige neue Risikogruppen geschaffen und das sollte nicht unser Anliegen sein. ({2}) Um eine sinnvolle Diskussion zum Thema Gentests zu führen, muss es erstens einen Stopp der massiven Förderung der Entwicklung von Gendiagnostik über den Haushalt des BMBF geben und sollten wir zweitens ein Moratorium für Gentests durchsetzen; denn nur so kann man in meinen Augen die unkontrollierte Dynamik des Diagnostikmarktes anhalten. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6640 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt, Petra Bierwirth, Hubertus Heil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nachhaltige Wasserwirtschaft in Deutschland - Drucksache 14/7177 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Die Kolleginnen und Kollegen Ulla Burchardt, Marlene Rupprecht, Max Straubinger, Winfried Hermann, Walter Hirche sowie Eva Bulling-Schröter ha- ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich höre Zustimmung im ganzen Saal. Deshalb kommen wir gleich zur Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7177 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hierzu gibt es keinen Widerspruch im Saal. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 23: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Horst Friedrich ({2}), Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Übergangsregelung für das neue Führerschein- recht - Drucksachen 14/2370, 14/5558 - Berichterstattung: Abgeordnete Rita Streb-Hesse Die Kolleginnen und Kollegen Rita Streb-Hesse, Wolfgang Börnsen, Helmut Wilhelm, Horst Friedrich so- wie Winfried Wolf haben ihre Reden ebenfalls zu Proto- koll gegeben.2) - Auch hier stelle ich Freude im gesamten Haus fest. Wir kommen deshalb jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen auf Drucksache 14/5558 zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Übergangsregelung für das neue Führerscheinrecht“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2370 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Heidi Lippmann, Carsten Hübner, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak - Drucksachen 14/4709, 14/5716 - Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Moosbauer Karl Lamers Rita Grießhaber Ulrich Irmer 1) Anlage 5 2) Anlage 6 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die Aussprache ist eröffnet. Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann den Unmut darüber verstehen, am Freitag noch Debatten führen zu müssen, aber ich bitte zu akzeptieren, dass es immer die kleinen Fraktionen trifft, wenn die Reden am Nachmittag zu Protokoll gegeben werden. Aber ich halte es nicht für den Sinn parlamentarischer Debatten, wenn sich der Umgang miteinander auf das Austauschen schriftlicher Noten beschränkt, ({0}) und deswegen rede ich zu diesem Punkt. Ich wusste, dass die meisten Reden zu Protokoll gegeben werden, aber ich meine, zu Fragen der Demokratie muss man mindestens einen Satz sagen. Wir sollten uns darüber klar werden, dass man die Frage der Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak natürlich unter Berücksichtigung der Umfeldbedingungen debattieren muss: die Explosion von Gewalt und Gegengewalt im Nahen Osten, die brüchige Grenze zwischen Bürgerkrieg und Krieg, die beständige Drohung der USA, möglicherweise eine Militäraktion, einen Krieg gegen den Irak zu führen. Heute war erneut in der Presse zu lesen, dass sich Präsident Bush einen Krieg gegen den Irak als eine mögliche Option offen hält. Das muss man vor dem Hintergrund der Massierung von Truppen in der Region - dazu gehört auch die Stationierung deutscher ABC-Spürpanzer in Kuwait - sehen. All das macht die Region zu einem Pulverfass. Gerade deshalb muss man jetzt über Deeskalation, Stabilität und Humanität reden. Humanität bleibt unser Anliegen. ({1}) Ich möchte uns die eigentlichen Ziele der Sanktionen in Erinnerung rufen - auch wenn ich sie nie geteilt und immer für falsch gehalten habe, glaube ich, dass es gut ist, sich an diesen Zielen zu messen -: Durch die Sanktionen sollte verhindert werden, dass der Irak erneut eine militärische Stärke erreicht; es sollte verhindert werden, dass er andere bedrohen kann; es sollte verhindert werden, dass er Zugang zu Massenvernichtungswaffen bekommt; es sollte erreicht werden, dass die kuwaitischen Gefangenen - die 600 Verschleppten - freigelassen werden und dass der Irak akzeptiert, dass die Souveränität Kuwaits nicht infrage gestellt werden darf. Indirekt - das war aber nie Gegenstand der Resolution haben viele gehofft - auch ich habe diese Hoffnung -, dass die blutige Unterdrückung des irakischen Volkes durch Saddam Hussein beendet werden kann und dass dort ein Machtwechsel möglich wird. Deswegen meine Feststellung: Die Sanktionen haben genau diese Ziele nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie waren kontraproduktiv. ({2}) Man kann heute feststellen - das behauptet jeder -, dass der Irak militärisch nicht schwächer geworden ist. Ich frage mich immer wieder - diese Fragen werden wir beantworten müssen -: Warum greifen alle Sanktionen gegen die zivile Bevölkerung? Warum ist es nicht möglich, den Zustrom von Waffen in solche Länder endgültig zu unterbinden? ({3}) Wer hat ein Interesse daran, mit solchen Ländern Waffenhandel zu betreiben? Der Einfluss des Hussein-Regimes ist durch die Sanktionen nicht kleiner geworden, durch die Nahostauseinandersetzung erst recht nicht. Man kann sagen, dass Saddam Hussein - auch in den arabischen Ländern - noch nie so viel Einfluss wie heute hatte. Die Inspekteure der Vereinten Nationen sind noch nicht einmal ins Land gekommen, um zu überprüfen, ob Massenvernichtungswaffen vorhanden sind oder produziert wurden. Dazu möchte ich anmerken, dass es nicht gerade hilfreich ist, dass die USA diese Situation zum Anlass nimmt, um einen möglichen Krieg zu führen, sich aber gleichzeitig bei der Auseinandersetzung über das Zusatzprotokoll der Biowaffenkonvention weigert, internationale Inspekteure ins eigene Land zu lassen. Das ist doch nicht glaubwürdig. Auch das haben wir den USA zu sagen. ({4}) Da wir gerade beim Thema Glaubwürdigkeit sind, möchte ich anmerken, dass mir einmal jemand erklären sollte, warum die USA gerade in diesen Tagen die finanzielle Unterstützung für die irakische Opposition eingestellt haben. Wenn man einen nicht militärischen Machtwechsel anstrebt, passt das doch nicht zusammen. Alles in allem hat unter den Sanktionen nur die zivile Bevölkerung im Irak gelitten: 500 000 bis 600 000 Kinder sind an den Folgen des Embargos gestorben; die Arbeitslosigkeit beträgt mittlerweile 60 bis 75 Prozent; die Einkommen sind um zwei Drittel zurückgegangen; das Bildungswesen ist fast zusammengebrochen. Deswegen lauten unsere Forderungen: Alle nicht militärischen Sanktionen - die Sanktionen gegen das Militär möchte ich sogar verstärkt wissen - müssen aufgehoben werden; die tatsächlich demokratische Opposition im Irak muss unterstützt werden; politischer Druck muss entwickelt werden; die deutschen Panzer dürfen jetzt nicht in Kuwait stationiert werden. Eine solche Stationierung kann international nur als ein Einverständnis mit einem möglichen Krieg gegen den Irak verstanden werden, in den wir uns nicht hineinziehen lassen dürfen. Wir müssen vielmehr heraus. Es müssen sofort Korrekturen vorgenommen werden. ({5}) Deshalb lautet meine Bitte und Forderung an die Bundesregierung, endlich verbindlich zu erklären, dass man sich nicht an militärischen Aktionen, an einem Krieg der USA gegen den Irak beteiligen wird. Ich möchte, dass das hier verbindlich erklärt wird, damit die USA das zur Kenntnis nehmen. Vizepräsidentin Petra Bläss Auch wenn jetzt Freitagnachmittag ist: Ihnen das vorzutragen war es mir wert. Das ist die Begründung zu unserem Antrag. Herzlichen Dank, dass Sie es sich zumindest angehört haben. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Da die Kollegen Christoph Moosbauer, Joachim Hörster, Rita Grießhaber und Ulrich Irmer ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, schließe ich die Aussprache.1) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/5716 zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4709 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf, der zugleich der letzte Tagesordnungspunkt der heutigen Debatte ist: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Veröffentlichungen über einen Einsatz eines V-Mannes im NPD-Vorstand Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke für die PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über einen der größten Skandale in der Geschichte der Republik. ({0}) Die PDS hat diese Aktuelle Stunde beantragt, Herr Schily, damit Sie diesen Skandal restlos aufklären und alle Karten auf den Tisch legen. Dem Verfassungsgericht in Karlsruhe ist im Verbotsverfahren gegen die NPD verschmutztes Material vorgelegt worden. Einer der 14 geladenen Zeugen, der in der Anklageschrift an vielen Stellen mit agressiven antisemitischen Äußerungen zitiert wird, ist als Spitzel des Verfassungsschutzes enttarnt. Der innen- und außenpolitische Schaden, der entstanden ist, ist enorm. Das Verbotsverfahren wird politisch und juristisch zurückgeworfen. Die Neonazis frohlocken und feiern. Alle Gegner des NPD-Verbots fühlen sich, wie man schon jetzt den Medien entnehmen kann, ermutigt. Sie glauben, dass ein NPD-Verbot nun gar nicht mehr gefordert wird. Die Opfer der Neonazis, Flüchtlinge, Migranten, Antifaschisten und Antirassisten, sind vor den Kopf geschlagen. Statt schnellstens für Aufklärung zu sorgen, sorgen die Innenminister Schily, Beckstein und Behrens für Schlagzeilen, wer der eigentlich Schuldige ist. Es kann doch überhaupt keine Frage sein: Natürlich trägt Innenminister Schily als oberster „Schirmherr“ die Hauptverantwortung für den entstandenen Schaden. ({1}) Das entlastet die Innenminister Beckstein und Behrens allerdings nicht. Auch sie hängen mit drin. Allein die Tatsache, dass der V-Mann Frenz 36 Jahre lang nicht nur für den Verfassungsschutz in NRW gespitzelt hat, sondern die NPD von Anfang an faktisch mit aufgebaut hat, ist unglaublich. ({2}) Dass V-Leute des Verfassungsschutzes in der NPD mitmischen, ja sogar in deren Bundesvorstand sitzen, während dieselbe Partei eine Unzahl von Gewalttaten gegen Flüchtlinge, Migranten und andere Menschen plant, propagiert und durchführt, ohne dass die Sicherheitsbehörden das verhindert haben, ist ungeheuerlich. Dass man jetzt dem Gericht in Karlsruhe einfach mitteilt, dieser Mann sei 1995 „abgeschaltet“ worden, wie von einigen vorgeschlagen wird, löst das Problem unseres Erachtens nicht. Es sind doch ganz andere, grundsätzliche Fragen aufgeworfen worden, die geklärt werden müssen. Wolfgang Frenz hat nicht nur den VS informiert, er hat als Ziehkind des Verfassungsschutzes die NPD mit begründet, sie über Jahrzehnte hinweg maßgeblich mit aufgebaut. Nach Brandenburg und Thüringen steht damit erneut der von uns schon immer kritisierte V-Leute-Einsatz im Bereich des Rechtsextremismus zur Debatte. Die Ausführungen zum agressiven Antisemitismus der NPD in den Verbotsanträgen von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung beziehen sich maßgeblich auf die Aussagen von Wolfgang Frenz und Horst Mahler. Deren Ausführungen sind für die Anklage derart wichtig, dass man jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Natürlich ist der Vorwurf des agressiven Antisemitismus der NPD auch ohne die Zitate von Herrn Frenz vollauf berechtigt und begründet; ({3}) aber die Anklageschriften müssen jetzt grundlegend überprüft und überarbeitet werden, vor allen Dingen dahin gehend, ob sich weitere V-Leute hinter den Zeugen verbergen. Die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern sowie die Innenminister, die diesen unglaublichen Vorgang zu verantworten haben, über den wir hier diskutieren, haben den Rechtsextremismus seit Jahren bagatellisiert. Es ist kein Wunder, dass jetzt in der Öffentlichkeit darüber spekuliert wird, wie hoch die Zahl der V-Leute innerhalb der NPD wohl sein mag. Diese Fragen sind, wie gesagt, vollauf berechtigt. Die Zeitung „Die Welt“ hat das gestern mit einer Karikatur auf den Punkt gebracht. Darin werden Schröder und Schily vom Karlsruher Gericht per Telefon gefragt, wer denn nun eigentlich verboten werden solle: die NPD oder der Verfassungsschutz? ({4}) 1) Anlage 7 Die Innenminister und der Verfassungsschutzleiter beteuern, es gebe keine weiteren Spitzel auf der Liste der nach Karlsruhe geladenen Zeugen. Wir wissen aber, dass seit Jahren viele Spitzel vom Verfassungsschutz in die NPD eingeschleust wurden. Das muss genauestens auf den Tisch. Das Gericht in Karlsruhe, wir selbst, aber vor allem die Öffentlichkeit haben ein Recht darauf, dass dieser Skandal von Innenminister Schily, aber auch von den Länderinnenministern restlos aufgeklärt wird. Wir sind nicht bereit, jetzt irgendwelche Schnellschüsse mitzumachen. Schon gar nicht sind wir bereit, vorschnell irgendwelche Entschuldigungen und Beschönigungen hinzunehmen. Es gibt mehrere Vorschläge, die im Raum stehen, zum Beispiel den Einsatz eines Sonderermittlers bzw. die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Wir in der PDS-Fraktion werden alle Möglichkeiten unterstützen, die Aufklärung bringen und vor allen Dingen dienlich sind, um das Verbot der NPD weiter zu betreiben. Denn die NPD ist eine antisemitische, aggressive, hetzerische, gewalttätige, verfassungsfeindliche Partei, die verboten gehört.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Jelpke, jetzt muss ich Sie an die Redezeit erinnern.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zu meinem letzten Satz. - Das sind wir den über 100 Opfern, die durch rechte Gewalt ums Leben gekommen sind, den Opfern von Mölln, Solingen, Rostock und Hoyerswerda, den vielen Verletzten und insbesondere natürlich auch der Öffentlichkeit in Deutschland und international schuldig. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht der Kollege Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es sind noch 239 Tage bis zur Bundestagswahl. Da neigt die politische Rhetorik zur Dramatisierung und zur Skandalisierung. Insofern verstehe ich das, was die Kollegin eben vorgetragen hat. Als Norddeutscher habe ich eine etwas ruhigere Gangart und auch eine etwas sachlichere Herangehensweise gelernt. Vor allem möchte ich als Berichterstatter für das NPD-Verbot zum Kern zurückführen, worüber heute debattiert wird und was unser gemeinsames wichtigstes Ziel ist: nämlich dass es zu einem NPD-Verbotsverfahren kommt und dass diese Partei so schnell wie möglich verboten wird. ({0}) Dies muss im Kern unserer Bemühungen stehen. Darüber sollten wir, nachdem der Pulverdampf der letzten zwei Tage etwas verflogen ist, in ruhigerer Art reden. Als Berichterstatter will ich drei Bemerkungen machen, die mit dem Verfahrensstand zu tun haben. Punkt eins. Es ist von Kommunikationsdefiziten und -lücken zwischen Berlin und Karlsruhe die Rede gewesen. Die Schuld ist - aus meiner Sicht ziemlich einseitig an Berlin gegeben worden, an einen Beamten, der telefoniert hat. Ich habe das Ganze einmal zurückverfolgt und die Vermerke dazu aus Karlsruhe, die inzwischen vorliegen, gelesen. Ich sage in aller Zurückhaltung und Bescheidenheit ohne jede Gerichtsschelte: Da gab es auf zwei Seiten ein Kommunikationsdefizit oder eine ungewöhnliche Kommunikation; denn auch von der anderen Seite ist zum Telefon gegriffen worden, wo der schriftliche Verkehr nahe gelegen hätte. Das Verfassungsgericht hat nunmehr am 23. Januar schriftlich dazu aufgefordert, zu dem ganzen Vorgang Stellung zu nehmen. Das heißt, wir sind jetzt im ordentlichen Verfahren. Nunmehr geht das seinen geregelten Gang. ({1}) Ich als Jurist kann nur in aller Zurückhaltung feststellen: Das Gericht hat den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht. Es hat nämlich Termine zur mündlichen Verhandlung ausgesetzt und erst nachher beschlossen, den Sachverhalt in der üblichen und ordentlichen Form aufzuklären. Das möge jeder beurteilen, wie er will. Es ist aber vielleicht der Wahrheitsfindung dienlich, zu wissen, wie der Hergang war. Punkt zwei. Die Anträge aller drei Verfassungsorgane - liebe Kolleginnen und Kollegen, aller drei! - stützen sich durchgängig auf Material, das mit der Eigenschaft eines Herrn Frenz als V-Mann nichts, absolut nichts zu tun hat. Es wird lediglich auf Schriften dieses Herrn Frenz Bezug genommen. Keiner der drei Antragsteller hat Herrn Frenz als Zeugen oder als Auskunftsperson benannt. Das war eine zulässige, aber alleinige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Alle Fragen, die mit V-Leuten und mit diesem Verfahren zu tun haben, werden jetzt - das sage ich Ihnen zu - in aller Ruhe und aller Vertrauenswürdigkeit zwischen den drei Antragstellern, den Prozessbevollmächtigten und dem Gericht erörtert. So wird es zu Lösungen kommen, die dem Verfahren dienen. Punkt drei. Für den Bundestag stelle ich fest: Unsere Antragsschrift, die Sie, wie ich annehme, alle gelesen haben, stützt sich entscheidend darauf, dass es eine Wesensverwandschaft der NPD zur NSDAP gibt, und zwar in Programmatik, Strategie, Rhetorik, Traditionspflege und anderen Elementen. Der Beweis dafür ist im Prinzip gerade in unserer Antragsschrift durch öffentlich zugängliche Quellen und Belege geführt worden. An der Stichhaltigkeit der Argumentation, dass diese Partei verfassungswidrig ist, hat sich nichts geändert. ({2}) Das werden alle drei Antragsteller durch ihre Prozessbevollmächtigten in den nächsten drei Tagen durch eine Stellungnahme, wie sie das Gericht jetzt angefordert hat, auf dem dafür vorgesehenen schriftlichen Wege kommunizieren. Das geht jetzt seinen ordentlichen Gang. In diesem Sinne hoffe ich auf Versachlichung und darauf, dass auch die Diskussion im Bundestag über das NPD-Verbot jetzt in geordneten Bahnen verläuft. Wir alle müssen Interesse daran haben, dass das Verfahren gegen die NPD beginnt - und zwar bald -, und dass es zum Verbot dieser rechtsextremistischen, gewaltbereiten Partei führt. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Erwin Marschewski für die Fraktion der CDU/CSU.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat des Deutschen Richterbundes: Mit Gerichten spielt man nicht. Es ist der fatale Eindruck entstanden, dass die Exekutive - also das Bundesinnenministerium versucht hat, mit Tricks, mit unlauteren Mitteln, mit Halbwahrheiten, mit Verschweigen entscheidender Tatsachen das höchste deutsche Gericht ... zu manipulieren. ({0}) - Ich zitiere nur, Herr Kollege. Es ist nicht Aufgabe des DRB, Konsequenzen zu fordern oder zu bewerten, wer für diese „Schlamperei“ politisch verantwortlich ist. Der Richterbund hat Recht: Dies ist eine ungeheure Schlamperei, ({1}) und das in einem Verbotsverfahren, das einmalig ist, weil der Bundestag, die Bundesregierung und der Bundesrat, drei Verfassungsorgane, es gemeinsam betreiben. Die NPD muss verboten werden, weil sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen will, weil sie rassistisch ist, in jeder Hinsicht unappetitlich. Deswegen darf der Verbotsantrag nicht scheitern, ({2}) weil dies sonst den Extremisten nützt und uns Demokraten schadet. Uns schadet auch, was Sie zu verantworten haben, Herr Bundesinnenminister: Warum ist das Bundesverfassungsgericht nicht informiert worden, obwohl die Karlsruher Richter sich mit Ihrem Ministerium in Verbindung gesetzt haben? Ihre Antwort im Innenausschuss war eine Gerichtsschelte; Ihnen sei kein rechtliches Gehört gewährt worden. Das ist objektiv falsch. Ein Weiteres war unrichtig, Herr Minister: Erst als es eng wurde, gestanden Sie ein, dass der Kreis der Informanten aus mehreren Personen bestand, vor allem aus Ihrem Intimus, Herrn Staatssekretär Claus Henning Schapper. Sie haben erklärt, Sie hätten ihm eine Rüge erteilt. Eine bloße Rüge, Herr Minister, für die größte Blamage, wie der „Tagesspiegel“ schreibt, für diese schallende Ohrfeige? Ich zitiere Michael Möller: Wieder einmal verschlimmert ein Politiker einen an sich schon gravierenden Fall durch sein eigenes Krisenmanagement, versucht, sich mit Tarnen und Täuschen aus der Affäre zu ziehen. Das offenbart ein erschreckend laxes Verhältnis des Juristen und Innenministers Otto Schily gegenüber dem höchsten deutschen Gericht ausgerechnet in einem Verfahren, bei dem die Fundamente der Verfassung ohnehin auf eine harte Probe gestellt werden. Ich wiederhole meine Bewertung im Innenausschuss, Herr Minister: Diese Rügen reichen nicht aus. Sie, Herr Bundesinnenminister, tragen die volle Verantwortung für das, was in Ihrem Hause passiert ist. Wer die volle Verantwortung trägt, der muss andere Konsequenzen ziehen. ({3}) Eines ist doch eigenartig: Alle wussten es, Herr Bundesinnenminister, nur Sie nicht. ({4}) - Fünf Tage nicht! Ich zitiere zum Schluss wieder Michael Möller: Es ist fast schon tragisch, dass ein so geradliniger Mann wie Otto Schily, der als Innenminister den Rechtsstaat zu verkörpern schien, sich am Ende seiner politischen Laufbahn ({5}) - ich zitiere, meine Damen und Herren, Herrn Möller ({6}) auf eine derart unwürdige Weise verbiegen muss - in wessen Interesse auch immer. Er rettet damit nichts. Er macht die Sache nur noch schlimmer. ({7}) Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, sage ich als langjähriger Parlamentarier und alter Kämpfer - gerade weil Sie, anstatt ernsthaft zu sein, so hämisch dazwischenrufen: Ich bin nun wirklich nicht froh über die entstandene Situation. Wir alle sollten darüber nicht froh sein. Meine Fraktion ist dies jedenfalls nicht. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Cem Özdemir.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kein Zweifel, der Anlass der heutigen Debatte ist außerordentlich unerfreulich und ärgerlich. Es kann aber auch kein Zweifel darüber bestehen, dass dem Innenminister keinerlei Versäumnis vorzuwerfen ist. Er hat im Ausschuss stundenlang Auskunft gegeben und anschließend vor der Bundespressekonferenz alle Fragen beantwortet, die im Zusammenhang mit diesem Ereignis gestellt worden sind. Ich bin mir sicher, er wird auch weiterhin für Auskünfte im Innenausschuss zur Verfügung stehen, wenn dieses gewünscht wird, und auch konstruktiv mit dem parlamentarischen Kontrollgremium, dem Deutschen Bundestag, zusammenarbeiten. Deshalb kann ich für meine Fraktion sagen, dass diesem Innenminister im Zusammenhang mit diesem Ereignis keine Vorwürfe zu machen sind. ({0}) Meine Damen und Herren, wir sollten jetzt den Blick nach vorne richten und uns gemeinsam daran erinnern, was eigentlich unsere Aufgabe ist. Die Aufgabe aller Fraktionen - ich sage das bewusst - muss jetzt sein, denn der Deutsche Bundestag ist Verfahrensbeteiligter, alles dazu beizutragen, dass das Verfahren selbst nicht beschädigt wird. ({1}) Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Verfahren erfolgreich zu Ende geführt wird. Dafür tragen wir alle miteinander Verantwortung im Sinne dieser Gesellschaft und dieser Demokratie. ({2}) Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch daran erinnern, was der Anlass für dieses Verbotsverfahren war, das hier mit großer Mehrheit angestrengt wurde. Ich weiß, dass die FDP damals aus demokratietheoretischen Erwägungen dagegen war. ({3}) Sie war seinerzeit ja nicht deshalb dagegen, weil sie der Meinung gewesen wäre, dass die NPD nicht gefährlich sei, sondern deswegen, weil sie der Meinung war, dass ein Verbot nicht das adäquate Mittel sei. Trotzdem glaube ich, dass auch die FDP mit uns gemeinsam in der Verantwortung steht und überlegen wird, wie wir dafür sorgen können, dass die NPD nachher nicht als feixender Sieger aus dieser Sache hervorgeht. ({4}) Ich will hier auch noch einmal ganz klar sagen: Nationalsozialismus ist keine Gesinnung, sondern ein Verbrechen und muss so behandelt werden. Darum war es richtig, dass wir dieses Verbotsverfahren angestrengt haben. ({5}) Ich wundere mich schon ein wenig darüber, geschätzte Kollegin Pau, dass Sie in einer Presseerklärung, die von dpa zitiert wird, etwas zugespitzt formuliert gesagt haben, dass die NPD erst durch den Einsatz von Verbindungsleuten, so genannten V-Leuten, hochgezüchtet worden ist. Ich zitiere: Man baut erst einen auf, der an der Gründung der NPD beteiligt war und viele Jahre ihre Strukturen und Inhalte mitgeprägt hat, und will ihn dann als Kronzeugen aufrufen. Das heißt, man will das Feuer mit Benzin löschen. Ich kann mich über die Äußerung, über diesen Vorwurf nur wundern. Das ist nicht nur unsinnig, Frau Kollegin, sondern auch falsch: Erstens. Dieser Zeuge, der hier herangezogen wurde, ({6}) hat - das belegt ein Blick auf den Kalender - das Buch, das in dem Verbotsantrag zitiert wird, erst drei Jahre nach Beendigung der Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen geschrieben. ({7}) Man kann also auch mit viel Fantasie dieses Buch, dieses schlimme Machwerk, nun wirklich nicht dem Landesamt für Verfassungsschutz in die Schuhe schieben. ({8}) Zweitens. Die Kritik ist in dieser Form auch deshalb ärgerlich, weil Sie, ohne es zu wollen, sich quasi auf der Bank des Verteidigers Mahler wiederfinden - dort, wo niemand aus diesem Haus hingehört. Wir sollten, glaube ich, alle miteinander aufpassen, dass wir nicht das Geschäft von Herrn Mahler erledigen. Das ist nicht die Aufgabe von uns Parlamentariern. ({9}) Drittens möchte ich bei dieser Gelegenheit auch einmal erklären, was überhaupt ein V-Mann ist. Ich habe das Gefühl, dass völlig aus dem Blickwinkel geraten ist, was ein V-Mann ist. Ein V-Mann ist eben nicht ein Agent provocateur, ein V-Mann ist nicht ein Beamter des deutschen Staates, weder eines Landes noch des Bundes. Das weiß die PDS vielleicht nicht. ({10}) - Stimmt, Sie haben Recht, eigentlich müssten sie es wissen. Ich korrigiere mich. Das ist wichtig für das Protokoll. Ein V-Mann ist jemand, der aus der Organisation kommt und der dann angezapft wird. In diesem Fall wurde, Gott sei Dank, abgeschaltet, weil man gesehen hat, was das für einer ist. Dieser V-Mann bestätigt ja durch seine eigenen Angaben, dass er das Geld für seine Organisation benutzt hat, was er für einer ist. Man kann also wirklich nicht sagen, dass er in irgendeiner Weise ein Produkt des Staates gewesen ist. Aber eines müssen wir nach diesem Zwischenfall mit Sicherheit tun: Ich glaube, dass die Richtlinien zum Einsatz von V-Leuten auf den Prüfstand gehören. Einer der wichtigsten Grundsätze im Einsatz von V-Leuten - das weiß jeder, der sich fünf Minuten mit Verfassungsschutz beschäftigt hat - ist: V-Leute dürfen nie in Führungspositionen oder gar in Vorständen von Organisationen sein. Gegen diesen Grundsatz wurde hier verstoßen. Darum muss der ganze Bereich auf den Prüfstand. Für meine Fraktion will ich noch einmal deutlich machen, meine Damen und Herren: Der Verbotsantrag ist gut begründet. Er ist nach wie vor gerechtfertigt. Diese Partei ist wesensgleich mit der NSDAP. Sie ist antisemitisch, sie ist rassistisch, sie ist menschenverachtend. ({11}) Sie hat im demokratischen Spektrum keinen Platz. Lassen Sie mich zum Schluss, weil meine Redezeit abgelaufen ist, noch einmal darauf hinweisen: Wir müssen uns, wenn sich die Situation beruhigt hat - bei anderer Gelegenheit, das betone ich -, zusammensetzen und gemeinsam überlegen: Was heißt das für die Geheimdienste? Wie können wir die begonnene Kontrolle der Geheimdienste, die in dieser Legislaturperiode ja besser geworden ist, noch weiter verbessern? Herzlichen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht Herr Kollege Dr. Edzard Schmidt-Jortzig für die Fraktion der FDP.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Komplex, über den wir heute unsere Aktuelle Stunde veranstalten, hat weiß Gott ganz unterschiedliche Facetten. Ich will nur einige aufzählen, wobei gleich die erste Frage „Was wusste wann der Minister?“ fast schon zur Nebensache geworden ist. ({0}) Das Übrige ist von Bedeutung. Was ist im Bundesministerium des Innern in Bezug auf die einschlägigen Informationen alles schief gelaufen? Welche verfassungsprozessualen Fehleinschätzungen sind auf den zuständigen Fachebenen vorgekommen? Ist das Vertrauensverhältnis zwischen den obersten Verfassungsorganen, also Bundesverfassungsgericht einerseits und Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat als Antragsteller andererseits, beschädigt worden? Welchen Schaden, welche Erfolgsbeeinträchtigung hat das konkrete Parteiverbotsverfahren genommen? Was bedeutet das Geschehen für den Kampf gegen den organisierten Rechtsextremismus, welche Windfall Profits also hat man der NPD beschert? Wie weit darf die nachrichtendienstliche Infiltrierung verfassungsfeindlicher Organisationen gehen, das heißt, wo verläuft die Grenze zwischen gebotener Nutzung von Abwehrmöglichkeiten und inakzeptabler sachlicher Einbindung oder Mitwirkung? Wegen der Kürze der Zeit kann ich nur einen Querschnitt verschiedener Aspekte versuchen. Wir werden uns ja in der Tat noch länger damit beschäftigen. Meine Witterung sagt mir ohnehin: Die Dramatisierung hat noch nicht ihr Ende gefunden. ({1}) Ich will - mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin - mit einem Zitat anfangen: Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die Bundesregierung das bisherige Verfahren in einer der Bedeutung der Sache nicht angemessenen Art und Weise betrieben hat. Statt wie ursprünglich angekündigt zunächst sorgfältig die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder zusammengetragenen Informationen auszuwerten und anschließend eine rechtliche und politische Beurteilung abzugeben, hat sich die Bundesregierung ohne Not frühzeitig öffentlich auf ein Verbotsverfahren festgelegt. Ebenso hält es der Deutsche Bundestag für einen unangemessenen Umgang zwischen Verfassungsorganen, den Eindruck zu erwecken, als ließe sich das Bundesverfassungsgericht von der Zahl der Antragsteller statt ausschließlich von der Substanz des Verbotsantrages beeindrucken. Wenn irgendetwas in diesem Verfahren schief geht, wäre die entsprechende Medienwirkung, so heißt es weiter, für die NPD eine erhebliche Propaganda, was sich jetzt bereits ansatzweise zeigt. ({2}) Meine Damen und Herren, diese Passagen stammen aus dem Antrag der FDP-Fraktion vom 6. Dezember 2000, mit dem wir begründet haben, warum wir diese Form des Parteiverbotsantrages nicht unterstützen können. Leider hat sich unsere Skepsis vollauf bestätigt. Zwei Zwischenfeststellungen kann man meines Erachtens schon jetzt treffen: Erstens. Die Bekämpfung des organisierten wie vor allem des gesellschaftlich-strukturell bei uns vorhandenen Rechtsextremismus ist eine zu ernste Sache, als dass sie zum Gegenstand eines routinemäßigen oder symbolpolitischen Aktionismus gemacht werden darf. ({3}) Zweitens. Das hochsensible Instrument eines Parteiverbotsverfahrens mit all seinen verfassungsrechtlichen, verfassungspolitischen und konkret innenpolitischen - auch hier sind etliche Folgen zu bedenken - Untiefen darf nur ganz vorsichtig, sehr ernsthaft und in vollem Bewusstsein aller Konsequenzen in Anspruch genommen werden. Die Bundesregierung hat es nach Auffassung der FDP offensichtlich an dieser Sorgfalt mangeln lassen. ({4}) Das schwierige Verfahren wurde seitens des betreuenden Ministeriums zu leichthändig betrieben. Die notwendige Involvierung der Nachrichtendienste in das Geschehen wurde nicht kritisch genug behandelt und gesteuert und das empfindliche konstitutionelle Vertrauensverhältnis zwischen den Verfassungsorganen hat nur unzureichende Beachtung gefunden. Das ist noch sanft ausgedrückt, denn was jetzt als Kritik aus der Bundesregierung an dem Bundesverfassungsgericht geübt wird, ist in der Sache, aber auch im Stil völlig unangemessen. ({5}) Ein Übergehen zur Tagesordnung kann jedenfalls noch nicht erfolgen. Hier wird noch intensiv nachzuarbeiten sein, insbesondere wenn sich die Dinge noch dramatisieren sollten. Wie wir der entsprechenden Presseerklärung des Vorsitzenden gestern entnehmen können, hat das Parlamentarische Kontrollgremium nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande gebracht, um einen Sonderermittler - richtig hätte man sagen müssen: nachrichtendienstlichen Gutachter - einzusetzen. Daher ist zu überlegen, ob nicht das Parlament oder die Regierung einen solchen Sonderbeauftragten einsetzt. Man könnte an eine parlamentarische Debatte - Sondersitzung - denken, bei der auch die betreffenden Landesinnenminister hier Rede und Antwort stehen. Man kann natürlich auch über einen Untersuchungsausschuss nachdenken. Ich hoffe, wir werden nicht zu diesem schlimmsten und härtesten Mittel greifen müssen. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Edathy für die SPD-Fraktion.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, der ansonsten von mir als sachlicher Kollege sehr geschätzte Parlamentarier Schmidt-Jortzig hat zu Recht davon gesprochen, dass hier ein Vorgang dramatisiert wird. Ich plädiere deshalb an dieser Stelle dafür, bei der Diskussion über den gegenwärtigen Stand des NPD-Verbotsverfahrens die Verhältnismäßigkeit im Auge zu haben und sich klarzumachen, dass wir uns jetzt nicht über Gebühr mit einem Neben-, einem Randaspekt eines Themas zu beschäftigen haben, das uns alle als Demokraten umtreiben muss. Ich möchte dafür plädieren, dass wir das gemeinsame Ziel, ein NPD-Verbot zu erreichen, als Bestandteil einer Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Rechtsextremismus nicht aus den Augen verlieren und auch - das richtet sich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - nicht der Versuchung unterliegen, möglicherweise aus parteitaktischen Gründen dieses für unsere Demokratie wichtige Vorhaben unnötig klein zu reden oder sogar in Misskredit zu bringen. ({0}) Das Verbot der NPD, wenn es denn erreicht wird, ist kein leichtes Unterfangen. In Art. 21 Abs. 2 GG ist klar geregelt: Über die Verfassungswidrigkeit und damit über das Verbot einer Partei entscheidet in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik das Bundesverfassungsgericht. Deswegen haben wir im letzten Jahr auch nicht eine Debatte gehabt, in der wir leichtfertig entschieden haben: Wir sind der Überzeugung, die NPD gehört verboten, weil die Beweislast, die Fülle des Materials, das uns vorliegt, überwältigend ist. Insofern empfinde ich es als sehr ärgerlich, dass sozusagen ein kleines Element in der Beweiskette, das die Beweisfolge und die Fülle des Materials, das wir haben, überhaupt nicht infrage stellt, jetzt Gegenstand einer Debatte ist, in der sich die NPD von der Sache her völlig zu Unrecht den Anschein gibt, sie sei ungerecht behandelt worden. Das ist das Ärgerlichste am gesamten Vorgang. ({1}) In der Tat ist Kritik zu äußern. Diese Kritik ist im Innenausschuss auch geäußert worden. Es wurde darauf hingewiesen, dass es einen Fehler gegeben hat. Gleichzeitig ist klar, dass ein persönliches Versagen des Ministers nicht vorliegt. Was also spricht dagegen, das zu akzeptieren und hinzunehmen, anstatt hier Scheindebatten zu führen? ({2}) Ich glaube, dass wir uns darauf verständigen sollten, in der Debatte sachbezogen zu diskutieren. Bei einigen Rednern der Debatte habe ich den Eindruck bekommen, dass es weniger um die Sache als vielmehr darum geht, einen sehr erfolgreichen Minister in Misskredit zu bringen. Ich kann Ihnen versichern, dass der Bundesinnenminister nicht nur den Rückhalt und die Zustimmung der Koalitionsfraktionen, sondern auch, und zwar völlig zu Recht, eine breite Anerkennung in der deutschen Bevölkerung genießt. ({3}) Das werden Sie auch nicht dadurch in Abrede stellen können, indem Sie darauf hinweisen, dass hier ein Verfahrensfehler gemacht worden ist. Einen Aspekt will ich noch besonders betonen, weil ich glaube, dass in der Debatte einiges vermengt wird; das richtet sich in einem besonders starken Maße an die PDS, es richtet sich aber auch an andere, die in der öffentlichen Diskussion das Wort ergriffen haben. Man muss in einer Demokratie, die sich dazu bekennt, die Feinde der Demokratie bekämpfen zu dürfen, doch selbstverständlich dazu in der Lage sein, sich Informationen über Bestrebungen, die verfassungsfeindlich sind, zu verschaffen. Dafür gibt es zum Beispiel das Bundesverfassungsschutzgesetz und analoge Regelungen in den Ländern, in denen es heißt, dass auch V-Leute eingesetzt werden können, um an Informationen zu gelangen. Dies muss natürlich unter der Auflage geschehen, dass sie nicht selbst - gewissermaßen im Auftrag des Staates - aktiv werden dürfen. Es darf also nur das Wissen dieser Leute abgeschöpft werden. In dem konkreten Fall muss man sich vor Augen halten, dass sich das Landesamt für Verfassungsschutz von Nordrhein-Westfalen in diesem Sinne vorbildlich und richtig verhielt, indem es, nachdem es gemerkt hat, dass Herr Frenz eine problematische Entwicklung einnahm, nach 1995 nicht weiter auf seine Informationsdienste zurückgegriffen hat. Die Äußerungen von Herrn Frenz jedoch, die als Beweise in das Verfahren und in die Antragsschriften für ein NPD-Verbot eingeführt wurden, stammen aus dem Jahre 1998. ({4}) Wenn man in die Details geht, stellt sich in der Sache heraus, dass hier unverhältnismäßig diskutiert wird. Sie können sicher sein, dass wir die Fragen, die noch im Raum stehen oder sich noch ergeben sollten, im Innenausschuss klären. Wir sollten dann wieder darauf zurückkommen, uns über das Thema Bekämpfung des Rechtsextremismus Gedanken zu machen, anstatt Kleinkariertheit zur Schau zu stellen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben aus den skandalösen Vorgängen der letzten Tage einiges lernen müssen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Bundesminister des Innern. Wenn das Bundesinnenministerium in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht über V-Mann-Aktivitäten informiert wird, dann heißt das noch lange nicht, dass auch der Bundesinnenminister informiert ist. Wenn das Bundesverfassungsgericht das Bundesinnenministerium in einem bedeutenden Verfahren um eine Stellungnahme bittet, ({0}) dann heißt das noch lange nicht, dass auch der Bundesinnenminister um eine solche Stellungnahme gebeten worden ist, und gibt ihm das Recht gegenüber dem Bundesverfassungsgericht Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend zu machen. ({1}) Wenn der Bundesinnenminister definitiv ausschließt, dass weitere V-Leute in diesem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Rolle spielen könnten, dann heißt das noch lange nicht, dass nicht zeitgleich ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklären kann, man könne dieses gerade nicht ausschließen; auch weitere V-Leute könnten beteiligt sein. So arbeitet ein ordentlich geführtes Ministerium nicht. Das könnte ein organisiertes Chaos sein. Das ist es aber im Bundesinnenministerium nicht, sondern hier agiert ein Feldherr ohne Truppen. ({2}) Die Schuld, Herr Bundesinnenminister, liegt natürlich immer bei den anderen. Erst ist es ein Abteilungsleiter, dann sind es zwei Abteilungsleiter, danach ein Staatssekretär der SPD. Schuld sind natürlich auch die Landesinnenminister, besonders der aus Bayern. Schuld sind die Verfassungsschützer, das Bundesverfassungsgericht, die Opposition und die Presse. Das ist doch alles absurd. Das ist ebenso absurd wie die Forderung - die insbesondere aus den Reihen der Grünen kommt - nach einer Reform des Verfassungsschutzes. Damit das ganz klar ist: Nicht beim Verfassungsschutz ist der Fehler passiert. ({3}) Das Bundesinnenministerium weiß seit dem Sommer des vergangenen Jahres Bescheid. Also ist doch der Fehler einzig und allein im Bundesinnenministerium passiert. ({4}) Insofern brauchen wir keine Reform beim Verfassungsschutz, sondern wir brauchen eine Reform im Bundesinnenministerium, und zwar eine Reform ganz an der Spitze, sozusagen eine Spitzenreform im Bundesinnenministerium. ({5}) Es reicht, Herr Bundesinnenminister, was an Schaden angerichtet worden ist. Dieser Schaden ist ein schwerwiegender. Sie haben es zu verantworten, dass ein bedeutendes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in dem auch der Deutsche Bundestag Antragsteller ist, im Prinzip auf ein Jahr - das ist das Mindeste, was man sagen muss - durch Schlamperei in Ihrem Ministerium unmöglich geworden ist. Der Kollege Schmidt-Jortzig hat zu Recht den politischen Schaden angesprochen. Wenn heute in verschiedenen Zeitungen zu lesen ist „Die NPD ist in Siegeslaune“, dann darf das niemanden in diesem Hause froh stimmen. Auch dafür tragen Sie, Herr Bundesinnenminister, die politische Verantwortung. Ein schlimmer Schaden ist - das muss man leider sagen - zwischen Verfassungsorganen angerichtet worden. Es handelt sich nicht um einen x-beliebigen Strafprozess, wo Otto Schily als Rechtsanwalt auftritt, sondern es geht um ein Verfahren, an dem Verfassungsorgane beteiligt sind. Zwischen diesen Verfassungsorganen haben Sie einen Vertrauensschaden angerichtet, der schlimm ist. Das ist nicht durch den Vorgang als solchen, sondern durch Ihr Verhalten in den letzten Tagen eingetreten. ({6}) Im Übrigen waren es nicht wir, die CDU/CSU, die noch vor der Innenausschusssitzung, bevor die Fakten überhaupt auf dem Tisch lagen, von einem Skandal geredet haben. Herr Kollege Edathy, so viel möchte ich Ihnen zum Thema Dramatik sagen. Nicht wir waren es, die gefordert haben, dass Köpfe rollen müssten. Das waren Kollegen aus den Reihen der Grünen. Auch haben nicht wir das Wort vom „wilden Erstaunen“ in die Welt gesetzt. Das war eine Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesinnenministeriums. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen. ({7}) - Kollege Marschewski, vielleicht können Sie mir gelegentlich erklären, was „wildes Erstaunen“ ist. Der Bundesinnenminister war dazu bisher nicht in der Lage. Nein, es gibt keinen Grund, unnötig dramatisch zu werden. Aber ich glaube, jeder hier spürt: Es droht weiterer Schaden. Im Augenblick läuft über die Agenturen und in den Medien die Meldung, es seien weitere V-Leute im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betroffen und beteiligt. Man kann spüren, dass die ganze Geschichte eine noch ungünstigere Wendung nehmen wird. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Bundesinnenminister: Reden Sie nicht nur von politischer Verantwortung, sondern nehmen Sie diese auch wahr. Ziehen Sie die notwendigen politischen Konsequenzen, um weiteren Schaden abzuwenden. Besten Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Erarbeitung der NPD-Verbotsanträge ist ein gravierender Fehler gemacht worden. Das steht ganz außer Frage. Mit diesem Fehler ist aber - das will ich nach der Diskussion der letzten Tage noch einmal ganz eindeutig klarstellen - das eigentliche Anliegen, um das es geht, keineswegs hinfällig geworden. ({0}) Der Verbotsantrag enthält einige Zitate aus den Schriften eines ehemaligen V-Manns des Verfassungsschutzes. Aber selbst wenn wir diese Zitate nicht zugrunde legen, enthält die Begründung mehr als genug stichhaltige Argumente, mit denen die neonazistische Weltanschauung der NPD und ihre aggressiv-kämpferische Vorgehensweise belegt werden. ({1}) Diese Partei nutzt seit Jahren die Privilegien und den Schutz des Parteiengesetzes für eine intensive Förderung der und die Zusammenarbeit mit der militanten NeonaziSzene. Viele Aktivisten der in den 90er-Jahren verbotenen Organisationen haben dort ein neues Betätigungsfeld gefunden. Dem können wir nicht tatenlos zusehen. ({2}) Mit dem NPD-Verbot allein sind die Probleme rechtsextremer Propaganda und Gewalt sicherlich nicht zu lösen. ({3}) Dazu muss weit mehr unternommen werden, vor allem im zivilen Bereich. Die Maßnahmen, die Regierung und Bundestag ergriffen haben - zum Beispiel das CivitasProgramm, die Akzentsetzung in der politischen Bildung oder das Bündnis für Demokratie und Toleranz -, sind erste und erfolgreiche Schritte in die richtige Richtung. Die NPD-Verbotsanträge von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sind also nur eine Maßnahme unter anderen; aber sie sind eine notwendige Maßnahme. Der Bundesinnenminister hat am Mittwoch die in seinem Hause begangenen Fehler in dankenswerter Offenheit eingestanden. Er hat sie bedauert und die von ihm gezogenen Konsequenzen dargestellt. Dazu gehört eine erneute Überprüfung der Belege und der Beweise des Verbotsantrags. Das ist aktuell das Wichtigste; denn unser aller Anliegen ist doch wohl, das Verfahren wieder in Gang zu setzen und den möglichen Schaden in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus zu begrenzen. Darum geht es doch. ({4}) Dass die Aussagen eines ehemaligen V-Mannes eines Verfassungsschutzamtes als Beleg angegeben sind, ist ein gravierender Fehler. Aber er kann doch die Gesamtargumentation nicht diskreditieren. ({5}) Neben menschlichem Versagen tritt hierbei aber auch ein strukturelles Problem zutage, das einer Lösung bedarf. Das sehe ich anders, als Herr Strobl es eben dargestellt hat. Auch weil ein strukturelles Problem besteht, würden etwaige Rücktritte oder Entlassungen einzelner Beteiligter nicht weiterführen. Das Problem besteht doch darin: Thomas Strobl ({6}) Wenn wir die Verteidigung der Demokratie gegen den Rechtsextremismus einem Geheimdienst überlassen, so ist zu sagen, dass er als „Geheim-Dienst“ eben nicht die Transparenz und Offenheit hat und haben kann, die einer solchen demokratischen Auseinandersetzung angemessen wäre. ({7}) - Jetzt hören Sie mir doch erst einmal zu. Wir brauchen eine demokratische Auseinandersetzung, die offen und transparent erfolgt. ({8}) Der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und den Experten liegen unglaublich viele Informationen und Argumente gegen die NPD, in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit der NPD und den Rechtsextremismus vor. Diese müssen wir nutzen und uns in der demokratischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung nutzbar machen. ({9}) Der aktuelle Fall ist nicht der erste V-Mann-Skandal, sondern ein Glied in einer langen Kette. Wie schon in vorherigen Fällen besteht der Verdacht, dass mit dieser Ermittlungsmethode eine neonazistische Organisation mitfinanziert worden ist. Ich erinnere an die Thüringer V-Mann-Skandale, bei denen der begründete Verdacht bestand, dass Organisationen über V-Leute gesteuert wurden, und an Fälle, in denen V-Leute in Straftaten verwickelt worden sind. Im NPD-Verbotsverfahren ist nun eine öffentlich zugängliche Quelle - nämlich eine Buchpublikation, die jedem zugänglich ist - diskreditiert worden, nur weil sie von einem ehemaligen V-Mann stammt. Hier muss die Frage erlaubt sein, inwieweit solche Vorgehensweisen der Demokratie nutzen oder ihr auch Schaden zufügen können. Verschiedene Institutionen und Fachleute fordern deshalb seit langem, die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus einer transparenten und öffentlichen Stelle zu übertragen. Dort könnten unter Beteiligung von Wissenschaft und Fachleuten Ergebnisse und Analysen zusammengeführt, die Öffentlichkeit informiert und auch Strategien erarbeitet werden. Ich meine, dass die Verteidigung einer starken und selbstbewussten Demokratie nicht im Geheimen stattfinden darf, sondern sie muss offen und öffentlich erfolgen. Probleme, wie wir Sie heute besprechen müssen, könnten so vermieden werden. Das sind Fragen, mit denen wir uns in Konsequenz aus den gemachten Fehlern befassen sollten. Die Skandale um V-Leute und Verfassungsschutzämter betreffen nicht nur die jetzige Bundesregierung, sondern etliche Landesämter und auch die Vorgängerregierung. Zum parteipolitischen Streit - das sage ich deutlich - eignet sich dieses Thema nicht. Wir brauchen sachliche Antworten. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen. ({0}) Dem Aufstand der Anständigen folgte das Versagen der Zuständigen. Dabei denke ich auch an alle, die sich täglich vor Ort gegen den Rechtsextremismus engagieren. Egal ob es um Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Kirchenleute, die Fernsehfrau, Antifaschisten oder Asyl Suchende geht - sie alle trifft der Hohn der NPD besonders und dafür tragen Sie, Herr Minister, die Verantwortung. ({1}) Auslöser der aktuellen Kontroverse sind Ungereimtheiten im Zusammenhang mit einem V-Mann aus Nordrhein-Westfalen. Ob es wirklich nur um einen geht, wie vom Bundesinnenminister zumindest noch Mitte der Woche behauptet wurde, oder ob noch andere im Spiel sind, gehört zu den ungeklärten Fragen. Ich möchte Ihnen, Herr Innenminister, weiterhelfen, indem ich Sie an Folgendes erinnere: Im Frühjahr 2001 hat die PDS-Fraktion eine Kleine Anfrage gestellt. Wir wollten damals wissen, ob der Antrag auf Verbot der NPD dadurch gefährdet sein könne, dass V-Leute als Zeugen herangezogen worden sind. Sie haben empört geantwortet, es sei nicht Angelegenheit der Bundesregierung, die Arbeit der Landesämter für Verfassungsschutz zu bewerten. Wir hatten für diese Frage ganz triftige Gründe; denn damals war gerade ein V-Mann in Thüringen aufgeflogen, der ebenfalls im Doppeldienst stand: Er war stellvertretender Landesvorsitzender der NPD und arbeitete für das Landesamt für Verfassungsschutz. Davor - Sie erinnern sich sicherlich - gab es in Brandenburg den Fall „Piato“. Auch er war NPD-Mitglied und V-Mann. „Erkenntnisse aus dieser Quelle“ - gemeint ist Piato -„ sind in den NPD-Verbotsantrag der Bundesregierung eingeflossen.“ Dieser Satz stammt nicht von mir. Er ist auch keine Vermutung. Ich habe den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg zitiert, der dies am 15. November 2000 zu Protokoll gab. Herr Minister, Sie hätten also die Arbeit der Landesämter für Verfassungsschutz überhaupt nicht bewerten müssen. Es hätte gereicht, wenn Sie zur Kenntnis genommen hätten, was Ministerpräsident Stolpe gesagt hat. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie erneut und ganz direkt: Können Sie ausschließen, dass Aussagen folgender Personen in den Verbotsantrag eingeflossen sind: Tino Brandt aus Thüringen, Michael G. aus Mecklenburg-Vorpommern, Michael Meier aus Mecklenburg-Vorpommern und Erwin Kemna aus Nordrhein-Westfalen? ({2}) Können Sie, Herr Minister, nachvollziehen, dass vor diesem Hintergrund meine Fraktion ein ernstes Problem hat, und zwar nicht mit Ihnen - das könnten wir beide sicherlich verschmerzen -, sondern als Mitantragsteller beim NPD-Verbot? Eine nun offen liegende Schwachstelle ist übrigens für alle Antragsteller, egal welcher Fraktion sie angehören: Wir sind in der V-Mann-Frage auf Ihre Auskünfte angewiesen. Aber die Aussagen, die Sie machen, sind fragwürdig, arrogant - zu dem Ergebnis komme ich, wenn ich mir das, was in dieser Woche abgelaufen ist, vor Augen führe - und in der Summe wahrscheinlich noch immer falsch, also noch nicht vertrauenswürdig. ({3}) Die Lösung kann nicht eine Auskunftssperre sein, die Sie - das habe ich vorhin einer Tickermeldung entnommen über Ihr Ministerium verhängt haben. Ich fordere Sie im Namen meiner Fraktion auf, das Parlament endlich ernst zu nehmen und zur Sache Stellung zu nehmen. In diesem Zusammenhang empfehle ich Ihnen, Herr Minister, auch einmal Ihre Wortwahl zu überprüfen. Ich habe in dieser Woche von Ihnen oft gehört: „Ich habe mein Haus befragt“, „Ich habe mein Haus gerügt“ und „Ich habe mein Haus überprüft“. Sie sind nicht als Hausmeister, sondern als Minister bestellt. ({4}) Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, der ebenfalls eine Rolle spielt. Kollege Özdemir, ich stelle tatsächlich das Instrument V-Mann generell infrage. Denn nach allen Erfahrungen - die gibt es reichlich - bleibt unter dem Strich festzuhalten: V-Leute sind nicht nur gekaufte Zeugen, sondern zugleich auch bezahlte Täter. ({5}) Vor diesem Hintergrund ist es schizophren, Kollege Marschewski, dass Sie sich in den Beratungen des Innenausschusses und sonst wo über die jetzige Affäre empört aufplustern, während Ihre Kollegen in dieser Woche im Rechtsausschuss mehr Kompetenzen für V-Leute fordern. Mich hat ein wenig verwundert - ein persönliches Wort, Kollege Özdemir; vielleicht können Sie das auch dem Kollegen Werner Schulz mitteilen, dessen Rede ich gestern hörte -, dass ausgerechnet Vertreter der ehemaligen Bürgerrechtspartei Bündnis 90/Die Grünen jetzt auf einmal beginnen, das Instrument V-Mann zum Allheilmittel für den Schutz der Bürgerrechte hochzureden. Danke schön. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Rüdiger Veit für die SPDFraktion.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich ein wenig mit den Beiträgen meiner Vorredner auseinander setzen. ({0}) Kollege Schmidt-Jortzig, Sie haben zu Beginn der Debatte zu Recht gesagt, man solle den jetzigen Vorgang nicht zum Anlass nehmen, die Dinge zu dramatisieren. Ich wäre noch glücklicher gewesen, wenn Sie zum Ende Ihres Beitrages nicht gesagt hätten, dass sich ein Untersuchungsausschuss oder ein Sonderbeauftragter dieses Vorgangs womöglich annehmen müsse, ({1}) eines Vorgangs, den wir im Grunde schon jetzt vollständig überblicken und bewerten können. ({2}) Frau Jelpke spricht davon, es handele sich dabei um einen der größten Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik. Herr Marschewski trägt unter Bezugnahme auf Zitate hier vor, der Bundesinnenminister sei im Begriff gewesen, die Situation zu verschlimmern; er habe getarnt und getäuscht. Mit Krokodilstränen in den Augen spricht er von einer fast tragischen Situation für diesen guten Innenminister - Sie wollten wohl damit sagen, dass er das auch in den Augen der CDU ist - und er spricht davon, dass er nicht froh über diese Entwicklung sei. Herr Strobl spricht davon, das sei Chaos, persönliche Schuld und ein Fehler des Bundesinnenministers; man brauche eine Reform an der Spitze des Hauses. Frau Pau spricht schließlich davon, Herr Schily persönlich trage am Ende die Verantwortung für den Hohn der NPD. Angesichts dieser Äußerungen muss ich sagen, dass das unangemessene Übertreibungen sind, ({3}) sodass wir uns nicht wundern dürfen, dass die Bevölkerung draußen eigentlich gar nicht weiß, über was wir hier reden. ({4}) Der Sachverhalt, um dem es geht, findet sich in dem Aktenvermerk des Berichterstatters des Bundesverfassungsgerichtes, Herrn Richter Jentsch - übrigens war er einmal CDU-Oberbürgermeister in Wiesbaden und Justizminister in Thüringen -, am Schluss: Ich habe Herrn Sch. - gemeint ist Herr Ministerialdirektor Dr. Schnapauff heute empfohlen, diese Information - also die Information über das Vorlegen einer entsprechenden Aussagegenehmigung zu den Gerichtsakten anzuzeigen. Einige von uns sind ja einmal als Juristen tätig gewesen und wissen, was das heißt. Wenn ein Richter eine Empfehlung ausspricht, dann heißt das nicht unbedingt, dass - ({5}) - Nein, natürlich nicht das rote Licht, Herr Strobl. Bei Ihnen passiert das schon gar nicht. ({6}) Wenn man eine Empfehlung bekommt, dann kann man kaum damit rechnen - das ist möglicherweise keine unangemessene Reaktion gewesen -, dass das Bundesverfassungsgericht sofort und ohne noch einmal nachzufragen erst recht, ohne bei den drei anderen Prozessbevollmächtigten nachzufragen - die Termine aufhebt. ({7}) Das ist schon ein überraschender Umgang mit dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs. ({8}) Ich komme zu dem Telefongespräch vom Mittwoch letzter Woche. Beide kennen sich, wie gesagt wird, aus Studienzeiten. Sie führen ein privat-dienstliches Gespräch. Mir hat noch keiner erklärt, was das bedeutet. Ich habe nichts dagegen, wenn sich Studienfreunde privat unterhalten. Ich habe auch nichts dagegen, wenn sie dienstliche Dinge besprechen. Wie muss dieses privat-dienstliche Gespräch aus der Sicht des Gesprächspartners aus dem Innenministerium zu verstehen sein, wenn das in einer derart verbindlichen Form geschieht? ({9}) Man würde wohl kaum vermuten, dass das Verfassungsgericht die Termine sofort aufhebt und erst einen Tag später das macht, was richtigerweise hätte sofort geschehen müssen, nämlich die Prozessbevollmächtigten von allen drei Antragstellern um eine schriftliche Darstellung zu bitten. Meine Damen und Herren, noch einmal: Der Schaden ist innenpolitisch wie außenpolitisch groß. Das beklagen wir alle. Gelernte Juristen - ich spreche da Herrn Strobl und Herrn Marschewski an - sollten sehr wohl wissen, dass im Bereich des Zivilrechts und des Strafrechts in Bezug auf die Beurteilung der persönlichen Verantwortung nicht der Schaden der Maßstab ist, sondern die Frage, wer den Schaden verursacht und verschuldet hat. ({10}) Vor diesem Hintergrund sehe ich nicht, an welcher Stelle der Innenminister selbst auch nur im Geringsten eine unmittelbare Mitverantwortung für diesen Schaden trägt. ({11}) Sie verhalten sich als Juristen so, als wären wir im Bereich des Straßenverkehrsrechts. Dort gibt es die Gefährdungshaftung und die Halterhaftung. Ein Minister - egal, welcher Couleur - kann doch nicht für seine Staatssekretäre und für andere Beamte 24 Stunden am Tag persönliche Verantwortung dafür tragen, was sie tun oder unterlassen. Dann bräuchte er diese Spitzenbeamten nicht. Ich weise daher noch einmal ausdrücklich zurück, dass hier eine persönliche oder auch nur eine politische Verantwortung vorliegt, der die Spitze des BMI nicht gerecht geworden ist. ({12}) Dementsprechend sollten wir uns alle einmal überlegen, ob der angerichtete Schaden durch die Art und Weise, wie wir damit auch hier im Parlament umgehen, nicht noch einmal ganz erheblich vergrößert wird. Bevor Sie hier weiter skandalisieren oder dramatisieren, überlegen Sie sich bitte alle - da wäre ich Ihnen sehr verbunden -, wem Sie in Wahrheit damit schaden und wem Sie in Wahrheit damit nützen. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Herr Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Schaden - da gibt es überhaupt keine Diskussion - ist wirklich groß. Herr Kollege Veit, Sie haben offensichtlich lange nicht mehr im anwaltlichen Bereich gearbeitet; sonst hätten Sie die Differenzierung, die Sie hier versucht haben, nicht vorgenommen. Frau Kollegin Jelpke, es ist keine Krise der Verfassungsschützer und der V-Leute - der Herr Kollege Strobl hat es mit Recht gesagt -, sondern es ist eine politische Krise und sonst gar nichts. Wir können den Verfassungsschutz abschaffen, wenn Sie die Arbeit der V-Leute quasi auf Dauer so beschränken, wie das hier etwa von der Frau Buntenbach formuliert worden ist. Es kann doch gar nicht anders sein: Ein freier Staat braucht Informationen aus dem Bereich des Extremismus; ({0}) wenn er sie braucht, dann muss er natürlich auch handeln. Eines lasse ich Ihnen nicht durchgehen, Herr Kollege Bürsch. Sie haben hier davon gesprochen, ein Beamter habe Fehler gemacht. ({1}) Da kann man ja nur hüsteln. Das war auch der Eindruck, den uns der Minister im Innenausschuss eingangs vermitteln wollte. ({2}) Ich bin da ganz vorsichtig; ich werde erst das Protokoll lesen. Das musste er dann revidieren. Der Beamte, von dem die Rede war und der scharf gerügt worden war, ({3}) hat das gemacht, was jeder normale Beamte macht. Er ist zum Staatssekretär gegangen und hat das vorgetragen. Da kann man dem Beamten überhaupt nichts mehr vorwerfen; denn die weiteren Verhandlungen liegen dann beim Staatssekretär. ({4}) - Wir kommen gleich noch darauf zu sprechen. Anschließend wird unter drei Verfassungsorganen oder deren Vertretern - Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag - verhandelt. Pikanterweise, Herr Bürsch, haben Sie als Berichterstatter und habe auch ich nichts von diesem Sonntagsgespräch der Prozessvertreter erfahren. Das ist - ich merke das nur an - eine weitere Besonderheit dieser Geschichte. ({5}) Der Staatssekretär wusste: Anschließend, am 19./20., werden die Verfassungsorgane gemeinsam beraten - ich will jetzt keinen Vergleich wagen -, wie sie weiter vorgehen. Diesen drei Verfassungsorganen wird die Information vorenthalten, dass es eine Anforderung des Gerichts, wenn auch nur telefonisch, und ein Gespräch gab. ({6}) Das ist ein Umgang miteinander, wie wir ihn zuletzt beim Spiel auf dem Schulhof gehabt haben: ({7}) Wir foppen und führen die anderen hinters Licht. Der Anwalt schreibt dann, es sei - gegen sein Votum entschieden worden, dies dem Bundesverfassungsgericht nicht mitzuteilen und die Information erst in der Verhandlung zu geben. ({8}) Ich kann mich wirklich nur noch wundern. Da wird gehandelt, als habe man es mit irgendwelchen nachgeordneten Behörden zu tun, die so einen gottverdammten Murks liefern. ({9}) - Entschuldigen Sie! Es ist doch absoluter Murks, wenn gesagt wird: Die lassen wir jetzt ein bisschen doof. Das war der 19./20.! Diskutieren Sie einmal Samstag/Sonntag! Ich weiß ja nicht, wie lange; das alles müssen wir noch klären. Samstag/Sonntag wird also diskutiert und beschlossen: Wir halten auch das Bundesverfassungsgericht ein bisschen tumb, zumindest was den Schriftverkehr angeht; das können wir dann immer noch mündlich vortragen. Meine Damen und Herren, es kommt noch eines hinzu. Ich sitze vier Stunden im Innenausschuss. Anschließend gehe ich in mein Büro, schalte den Fernseher an und sehe den bewundernswerten Innenminister, wie er aus sich herauspresst, dass er jetzt etwas Neues weiß. Er sagt, er wisse neuerdings, dass das seinem Haus schon viel früher bekannt gewesen sei; da habe einer etwas in den Panzerschrank eingesperrt. Ich weiß es nur aus dem Fernsehen, nicht als Mitglied aus dem Innenausschuss. Eine weitere Pikanterie, über die ich mich nur wundern kann! Auch das Wissen um das An-der-Nase-Herumführen der anderen Verfassungsorgane habe ich nicht als Mitglied dieses Parlaments in einem Ausschuss erlangt. Dass wir die meisten Dinge der Presse entnehmen müssen, ist auch pikant. Herr Innenminister, jetzt reicht es wirklich. Lassen Sie also, wie man im Volksmund so schön sagt, die Hose herunter ({10}) - bitte nicht im Plenum - und sagen Sie endlich, was geschehen ist, damit wir beurteilen können, wo Fehler gemacht wurden. Aber kommen Sie uns nicht damit, dass Sie kleine Beamte kritisieren und über V-Leute diskutieren, während in Wirklichkeit vermutlich der Staatssekretär die Schräubchen gedreht hat. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Sache NPD waren wir hier im Hause vor gar nicht so langer Zeit weitgehend einer Meinung. ({0}) Wir waren gemeinsam der Auffassung, dass die NPD eine Partei ist, die aggressiv verfassungsfeindlich agiert und nach unserer Überzeugung vom Bundesverfassungsgericht verboten werden sollte. ({1}) Eine Partei, die FDP, war aus zu respektierenden Gründen der Auffassung, dass die Auseinandersetzung ausschließlich politisch zu führen ist. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, waren Sie, Herr Schmidt-Jortzig, persönlich wiederum anderer Auffassung. ({2}) - Dann nehme ich das zurück; ich hatte das falsch in Erinnerung. Jedenfalls respektiere ich die Auffassung der FDP. Wir sind auch für die politische Auseinandersetzung, Herr Schmidt-Jortzig. Das ist ja kein Entweder-oder, sondern eher ein Sowohl-als-auch. Wir wollen aber, dass diese Partei, wenn es das Bundesverfassungsgericht für richtig hält, verboten wird. Wir sind der Überzeugung, dass das Beweismaterial erdrückend ist und dass es insofern auf diesen Herrn Frenz nicht ankommt. Auf diese drei, vier Zitate kommt es wirklich nicht an. ({3}) - Ich halte das, was Sie gesagt haben, Herr Zeitlmann, für eine Selbstverständlichkeit und unterstreiche das. Hier stimme ich Herrn Özdemir und anderen ausdrücklich nicht zu. Ich habe dem Bundesamt für Verfassungsschutz und den Landesämtern für Verfassungsschutz keinen Vorwurf zu machen. Deren Mitarbeiter haben unsere Anerkennung und unseren Respekt verdient; denn sie machen eine ordentliche Arbeit. ({4}) Ich habe bislang keinen Fehler erkennen können. Ich sage ein Weiteres, Herr Zeitlmann: Sie haben Recht: Wir brauchen Informanten in diesen Organisationen. In manchen Organisationen haben wir leider überhaupt keine oder zu wenige. Hätten wir im Umfeld von Herrn Atta einen Informanten gehabt, hätten wir möglicherweise tausendfachen Mord verhindern können. ({5}) - Herr Zeitlmann und Herr Strobl, wir haben als Verfassungsorgan Bundestag gemeinsam diesen Antrag gestellt. Wenn Schaden entstanden ist, ist das Ihr Schaden genauso wie mein Schaden; es ist unser aller Schaden. Deswegen haben wir heute hier auch eine gemeinsame Verantwortung. Fehler müssen markiert werden, Verantwortung muss übernommen werden. Es sind scharfe Rügen ausgesprochen worden. Herr Strobl, Sie haben Konsequenzen verlangt, aber nicht gesagt, welche. ({6}) Der Bundesinnenminister hat die Verantwortung übernommen. Wir werden am kommenden Mittwoch im Innenausschuss mit dem Bundesinnenminister die Diskussion fortsetzen. Selbstverständlich haben wir alle einen Anspruch darauf, zu erfahren, was Sache ist. Aber ich möchte bitte keinen Aktionismus, keine hektischen, gleichsam irrationalen Debatten über einen Nebenpunkt. Herr Frenz ist ein Nebenpunkt. Der Hauptpunkt ist die verbotswürdige NPD. ({7}) Hier darf man sich doch von der Sache nicht ablenken lassen. ({8}) Herr Schmidt-Jortzig, bei allem Respekt: Ich bin nicht Mitglied des parlamentarischen Kontrollgremiums. Ich rate nicht zu einem Sonderermittler, sondern dazu, dass wir als Abgeordnete unsere Verantwortung wahrnehmen. Ich lasse mir zuarbeiten; aber meine Entscheidungen treffe ich selber. Herr Ströbele, Herr Marschewski, machen Sie bitte Ihre Arbeit im parlamenarischen Kontrollgremium, wie wir es im Innenausschuss auch tun! ({9}) Ich habe großes Vertrauen in Ihr Engagement. ({10}) - Reden Sie doch nicht wild durch die Gegend, Herr Zeitlmann! Stellen Sie den Antrag! Ihre Fraktion hat das Recht, das zu tun. Spitzen Sie nicht nur den Mund, sondern pfeifen Sie! Das ist ein Punkt, der mich ausgesprochen ärgerlich macht. ({11}) Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Aber jetzt, da ein Fehler entstanden ist, der zugegebenermaßen zum Teil groteske Elemente hat - die privat-dienstlichen Gespräche sind sehr seltsam -, ({12}) bricht der Konsens auseinander und es wird wieder Parteipolitik gemacht. ({13}) Das ist zu kleine Münze, Herr Zeitlmann. Das ist ein bisschen billig. ({14}) Aufklärung muss sein, das Verfahren muss auf die Spur zurück. ({15}) Wir machen uns doch lächerlich, wenn wir über einen Fehler nicht einen Tag, nicht zwei Tage, sondern 24 Tage hintereinander reden. ({16}) Die Bevölkerung erwartet von uns nicht, dass wir eine Sache zerreden. ({17}) Wir stehen vor der Aufgabe, die Angelegenheit zurück auf die Schiene zu bringen, und zwar so bald wie möglich. Wir sollten uns nicht mit uns selber beschäftigen, sondern mit der Sache. Das heißt, wir müssen uns alle zusammensetzen, auch mit denjenigen, die damals gegen das Verfahren waren - Sie, Herr Schmidt-Jortzig, waren immer dabei -, und schauen, dass das Gericht anständig informiert und verlorene Zeit wieder aufgeholt wird. Das ist der Weg der Vernunft. Sie haben Gelegenheit, sich einzubringen. Herzlichen Dank. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Bundesinnenminister Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist sehr zu bedauern, dass im NPD-Verbotsverfahren durch die Aufhebung der Termine zur mündlichen Verhandlung eine Verfahrenssituation entstanden ist, die möglicherweise zu erheblichen Verzögerungen führen kann. Zu bedauern ist ebenso, dass zu dieser Verfahrenssituation Fehler in meinem Haus beigetragen haben. Die Verstimmung, die im Bundesverfassungsgericht eingetreten ist, ist verständlich. Ich wiederhole daher an dieser Stelle ausdrücklich, dass ich das Bundesverfassungsgericht um Entschuldigung bitte, weil der Bitte um eine schriftliche Stellungnahme zu dem Sachverhalt, den ein Abteilungsleiter meines Hauses telefonisch einem Mitglied des Senats des Bundesverfassungsgerichts mitgeteilt hatte, nicht entsprochen wurde, auch wenn es nur eine Empfehlung war. In der Zwischenzeit hat sich die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts an die Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller gewandt und die Bitte erneuert, zu den zwischen dem Herrn Bundesverfassungsrichter Jentsch und einem Abteilungsleiter meines Hauses geführten Telefongesprächen Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahme wird dem Bundesverfassungsgericht in den nächsten Tagen eingereicht werden. Der Sachverhalt, der Gegenstand der Telefongespräche eines Abteilungsleiters meines Hauses mit Herrn Bundesverfassungsrichter Jentsch war, ist der folgende: In den Antragsbegründungen der Antragsteller, auch der Bundesregierung - ich verantworte die Antragsbegründung der Bundesregierung -, wird unter anderem auf Auslassungen eines NPD-Mitglieds verwiesen, die in einem von diesem verfassten und im Jahre 1998 veröffentlichten Buch enthalten sind. Diese Person war in früheren Jahren Informant - ich betone: nicht Mitarbeiter - des Landesamtes für Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen. Diese Informationsverbindung wurde jedoch bereits im Jahre 1995 abgebrochen. Die Gründe dafür ergeben sich aus der Stellungnahme des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen. Die Quelleneigenschaft der betreffenden Person ist den Prozessbevollmächtigten der Antragsteller leider erst am vergangenen Wochenende bekannt gegeben worden. Unverständlicherweise ist auch den Prozessbevollmächtigten und den Vertretern der Antragsteller in der Wochenendsitzung nicht mitgeteilt worden, dass ein Abteilungsleiter meines Hauses die Quelleneigenschaft der betreffenden Person Herrn Bundesverfassungsrichter Jentsch in einem Telefongespräch offen gelegt hat. Er hat das übrigens aus eigenem Antrieb getan, ohne vorher meinen Staatssekretär zu befragen. Ebenso wenig sind bedauerlicherweise die Prozessbevollmächtigten und die Vertreter der Antragsteller in der Wochenendsitzung darüber informiert worden, dass das Bundesverfassungsgericht eine schriftliche Stellungnahme zu dem Sachverhalt angefordert hat. Leider bin auch ich über den gesamten Sachverhalt erst am vergangenen Dienstag zusammen mit der Mitteilung über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Terminaufhebung unterrichtet worden. ({0}) Auch Herr Beckstein hat von diesem Sachverhalt erst am Dienstag erfahren. ({1}) Ich habe daraufhin veranlasst, dass sämtliche Geschehensabläufe sorgfältig aufgearbeitet werden. Ich habe diesen Auftrag einem hochrangigen Mitarbeiter meines Hauses übertragen. ({2}) Die Beweistauglichkeit der Auslassungen des NPDMitglieds Frenz in dem in den Antragsschriften zitierten Buch, das zum Beweis der Verfassungsfeindlichkeit der NPD herangezogen worden ist, wird nicht dadurch infrage gestellt, dass Frenz früher als Informant des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes gedient hat. ({3}) Abgesehen davon, dass die Informationsverbindung zu Frenz schon vor Jahren beendet worden ist, sind seine Auslassungen ausschließlich von ihm selbst zu verantworten. Er war nicht Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Er ist vom Verfassungsschutz auch nicht in irgendeiner Weise dahin gehend beeinflusst worden, entsprechende Äußerungen zu machen. Lediglich für die Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit mag es Bedeutung haben, ob er zu einem früheren Zeitpunkt dem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz Informationen geliefert hat. Im Übrigen ist nach meiner Kenntnis allein der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen befugt, die frühere Quelleneigenschaft des NPD-Mitglieds Frenz offen zu legen. In diesem Sinne hat sich Staatssekretär Schapper an den nordrhein-westfälischen Staatssekretär Riotte gewandt, nachdem ihm das Telefongespräch zwischen dem Abteilungsleiter und Herrn Jentsch bekannt geworden ist. Außerdem haben eine Reihe von Verfahrensbeteiligten die Auffassung vertreten, dass eine Offenlegung der Quelleneigenschaft nicht erforderlich sei, weil seine Informantentätigkeit im Jahre 1995 abgebrochen worden sei. Diese Auffassung hat sich eine Reihe von Vertretern zu Eigen gemacht. Wer da von Manipulation spricht, der müsste diejenigen tadeln, die gesagt haben, eine Offenlegung dieser Quelle sei nicht erforderlich. ({4}) Lassen Sie mich einige grundsätzliche Bemerkungen anschließen, die sich durchaus mit einigen Ausführungen von Herrn Kollegen Wiefelspütz, aber auch mit solchen aus der Opposition in Übereinstimmung befinden. Es bedarf der scharfen Unterscheidung zwischen Mitarbeitern des Verfassungsschutzes, die unter bestimmten Umständen eine Erkundungsaufgabe übernehmen, auf der einen Seite und Informanten, die nicht Mitarbeiter des Verfassungsschutzes sind, auf der anderen Seite. Wenn sich Mitglieder einer verfassungsfeindlichen Partei öffentlich in einer Weise äußern, die die verfassungsfeindliche Haltung der Gesamtpartei belegt, sind diese Äußerungen nicht schon deshalb irrelevant, weil sie aus unterschiedlichen Motivationen Informationen an den Verfassungsschutz weitergeben. Nur dann, wenn die entsprechenden Äußerungen vom Verfassungsschutz gesteuert oder in sonstiger Weise beeinflusst worden sind, scheiden sie als Beweismittel aus. ({5}) Es sollte gemeinsame Überzeugung bleiben, dass die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder für ihre Arbeit auf ergiebige Informationsquellen angewiesen sind. ({6}) Wer das bezweifelt, erweist der Sicherheit in unserem Staat einen Bärendienst. Solche Informationsverbindungen herzustellen und Quellen zu erschließen ist eine außergewöhnlich schwierige, zum Teil auch gefahrvolle Aufgabe. Dass sich die Beamtinnen und Beamten des Verfassungsschutzes dieser schwierigen und zum Teil gefahrvollen Aufgabe annehmen, verdient keine hämische Kritik, sondern unser aller Achtung und Anerkennung. ({7}) Die Erschließung und Nutzung von Quellen seitens des Verfassungsschutzes ist nur möglich, wenn das der absoluten Geheimhaltung unterliegt. Würde dieser Grundsatz infrage gestellt, würde die gesamte Arbeit des Verfassungsschutzes infrage gestellt. Aus diesem Grunde ist seitens der Innenminister des Bundes und der Länder stets hervorgehoben worden, dass beim Umgang mit den Quellen mit äußerster Sorgfalt vorgegangen und bei der Abfassung der Antragschriften Konflikte vermieden werden müssen. Deshalb habe ich die Liste der Personen, die vom Bundesverfassungsgericht zur mündlichen Verhandlung geladen wurden, nochmals überprüfen lassen. Leider ist die Geheimhaltung der Quellen immer mit dem nahezu unvermeidbaren Risiko verbunden, dass die Quellen durch den Informanten selbst oder durch Dritte offen gelegt werden können. Fehler, die in meinem Hause gemacht wurden und für die ich die Verantwortung trage, beschönige ich nicht. Doch betone ich, dass der Abteilungsleiter, der für die Telefonate mit dem Bundesverfassungsgericht verantwortlich zeichnet, eine integre Persönlichkeit ist, die in redlicher Absicht gehandelt hat. Vorzuwerfen ist ihm jedoch, dass er nicht alle Beteiligten informiert und auch das Bundesverfassungsgericht nicht über den vollständigen Sachverhalt aufgeklärt hat. Dafür hat er sich ausdrücklich entschuldigt. Ich habe die Entschuldigung angenommen. Von weiteren personellen Konsequenzen habe ich abgesehen, weil es sich um einen langjährigen führenden Mitarbeiter meines Hauses handelt, der sich um das Wohl unseres Landes, gerade in der Innenpolitik, große Verdienste erworben hat. Gleiches gilt für andere Mitarbeiter meines Hauses, denen ebenfalls Fehler unterlaufen sind. ({8}) Der Abteilungsleiter hat zu verantworten, dass der Sachverhalt auf einem ungewöhnlichen Kommunikationsweg offen gelegt wurde. Aber wo liegt Ihr Vorwurf? Liegt der Vorwurf darin, dass Ihrer Meinung nach der Weg der Offenlegung nicht richtig war, oder darin, dass nicht offen gelegt worden ist? Wenn Sie vorwerfen, dass nicht offen gelegt wurde, dann müssen Sie alle tadeln, die der Meinung waren, dass eine Offenlegung unterbleiben oder erst in mündlicher Form während der Verhandlung stattfinden sollte. Wie es ausgesehen hätte, wenn dieser Sachverhalt in der mündlichen Verhandlung bekannt geworden worden wäre, kann sich jeder in seiner Phantasie ausmalen. Die Fehler, die zu beklagen sind, werden nach meiner festen Überzeugung nicht dazu führen, dass das Verbotsverfahren scheitert. Die Aussagen des NPD-Mitglieds Frenz in seinem Buch haben für die Beweisführung nur eine untergeordnete Bedeutung; sie sind keine tragende Wand in der Architektur der Antragsbegründung. Ich habe in den letzten Tagen eine Reihe von Anklagen vernommen, die gegen mein Haus und mich persönlich gerichtet waren. Sie stammen sicherlich ausnahmslos von Personen, die in ihrem Leben noch nie einen Fehler begangen haben oder in deren Verantwortungsbereich noch nie ein Fehler vorgekommen ist. ({9}) Bei aller gebotenen Kritik an den Fehlern sollten die Proportionen nicht aus den Augen verloren werden. ({10}) Bei der NPD handelt es sich um eine eindeutig antisemitische, antidemokratische und verfassungsfeindliche Partei. Dafür gibt es eine überreichliche Zahl von Belegen, nicht zuletzt in Zusammenhang mit den Ereignissen am 11. September des vergangenen Jahres. Wer um eines vermeintlichen politischen Vorteils willen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von dem verfassungsfeindlichen Treiben der NPD auf die Sachverhalte verlagert, die heute im Wesentlichen Gegenstand der Aktuellen Stunde sind, muss sich fragen, ob das der gesamtpolitischen Verantwortung entspricht. ({11}) Es ist die Aufgabe aller demokratischen Kräfte in diesem Land, auch Ihre, Herr Marschewski, dem verfassungsfeindlichen Treiben der NPD ein Ende zu machen ({12}) und das Verbotsverfahren zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Ich für meine Person bin entschlossen, dazu meinen Beitrag zu leisten. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer Tagesordnung angekommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 30. Januar 2002, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.